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]]> Französische Weitherzigkeit, von C. D. . . . 17, 77
—
n einer großen demokratischen Versanmnlung vor den National¬
wahlen hörte ich einmal einen jungen leidenschaftlichen Vertreter
des Bolschewismus als Debatteredner. Er sagte, man spreche
immer von den Gewalttaten, und Greueln der Bolschewisten und
werde ihrer großen Idee nicht gerecht. Dies sei die Idee der
Gerechtigkeit. Sie verkläre und rechtfertige alle Taten der
Bolschewisten. Es müßte gelingen, die Idee der Gerechtigkeit zu einer
Wirklichkeit in dieser bis jetzt so ungerechten Welt zu machen. Die
Gerechtigkeit sei es wert, auch mit Feuer und Schwiert erzwungen zu werden,
wenn es nicht anders gehe. Und wer einmal von der Idee der Gerechtigkeit
leidenschaftlich erfüllt sei, dem mache es nichts aus, in ihrem Dienste auch über
Leichen zu schreiten.
Daß die Praxis des Bolschewismus wirklich nach diesem Rezept verfährt,
bemerken wir ja. Sie scheut selbst vor offener Verbrüderung mit dem gemeinen
Verbrechertum nicht zurück. Wem ideologische Besessenheit noch nicht völlig daS
Gewissen und die kühle Überlegung geraubt hat, der muß sich sagen, daß auf
diesem Wege alles andere eher als die Idee der Gerechtigkeit auf Erden ver¬
wirklicht wird. Doch finde ich: wenn der Bolschewismus glaubt, nur durch
rücksichtslose Zerstörung, durch anarchistisches und verbrecherisches Niederreißen
der alten Gesellschaft fein Ziel erveichen zu können, so liegt dieser Handlungs¬
weise sicherlich ein dumpfes Bewußtsein davon zugrunde, wie ungeheuer schwierig
das Unterfangen ist, die Idee der Gerechtigkeit in der Welt verwirklichen zu
wollen. Vielleicht erfassen die Bolschewisten und Spartakisten diese Schwierig¬
keit instinktmäßig klarer wie die Sozialdemokraten, die den schönen Glauben auf¬
bringen, die Welt gerecht machen zu können, ohne sie dabei zu zerschlagen. Die
Berge sind gewaltig, die dieser Glaube versetzen möchte.
Der Gedanke, eine gerechte Staatsordnung zu schaffen, ist ja auch das
Ideal aller Demokraten. Es hat sich aber gezeigt, daß Gerechtigkeit im öffent¬
lichen Leben durch bloße politische Einrichtungen nicht geschaffen werden kann.
Es müssen auch schwerwiegende Voraussetzungen wirtschaftlicher, technischer und
sittlicher Art erfüllt sein. Daß die wahre Demokratie wirtschaftliche Voraus¬
setzungen hat, erkennen die heutigen Sozialdemokraten klar genug. Das wußte
auch schon Rousseau, während es der bürgerliche Radikalismus'des 19. Jahr¬
hunderts nicht wahr haben wollte. Rousseau wollte den Kleinbetrieb und das
kleine Privateigentum erhalten. Kein Bürger sollte! einen wesentlich größeren
Besitz haben als sein Nachbar, aber jeder sein Eigen. Im Jahre 1762, als der
„Contrat social" erschien, konnte man noch hoffen, sich einem solchen Ideal an¬
zunähern. Seit aber die moderne Industrialisierung eingesetzt hat, seit man auf
Großbetrieb und weitverzweigte Arbeitsteilung, auf komplizierte Maschinen und
riesige Kapitalien nicht mehr verzichten kann, ohne den ganzen ungeheuren wirt¬
schaftlichen Fortschritt eines Jahrhunderts preiszugeben, ist die Zusammensetzung
des Volkes aus lauter gleichen kleinen Besitzern undenkbar. Läßt man aber die
Ansammlung großen überlegenen Reichtums in den Händen einzelner zu, dann
ist wieder die Demokratie eine Unmöglichkeit, da die wirtschaftliche Macht die
großen Kapialisten stets aus der lallgemeinen gleichen Masse der Bürger heraus¬
heben muß. Darum ist auf «der jetzt erreichten Stufe des Großbetriebes und der
Avbeitstcilung der Sozialismus die Konsequenz des demokratischen Gedankens.
Wenn es nicht angeht, den Kapitalbesitz annähernd gleichmäßig unter die Bürger
auszuteilen, dann muß man, wenn man am demokratischen Ideal festhält, ihn
überhaupt allen privaten Händen entziehen und die ganze Produktion des Volkes
der Gesamtheit übertragen. Dann wird jeder Bürger, der überhaupt an der
Produktion teilnimmt, auch der industrielle und kommerzielle Unternehmer oder
der Leiter eines Rittergutes Angestellter der Gesamtheit. Alle schroffen und der
demokratischen Gleichheit abträglichen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen ihm
und den übrigen Bürgern, besonders denen, die unter seiner Leitung arbeiten,
alle Möglichkeiten, politischen Gegnern die Futterkrippe höher zu hängen, können
sehr stark eingeschränkt oder verhindert werden. Die größte volkswirtschaftliche
Schattenseite der sozialistischen Wirtschaftsordnung ist der zu befürchtende Rück¬
gang der Produktion, wenn der Anreiz, reich werden zu können, wegfällt und dazu
die Bureaütratifierung der produktiven Arbeit. Aber davon soll hier nicht die Rede
sein. Man Wird soviel zugeben können, daß im Zeitalter des Großbetriebes und
der Arbeitsteilung nur der Sozialismus der wirtschaftlichen Gleichheit der ein¬
zelnen Bürger einigermaßen näher bringt, und daß ohne wirtschaftliche Gleich¬
heit auch die politische fragwürdig ist. Darum ist heute der Sozialismus die
Konsequenz des demokratischen Ideals. Bei der praktischen Ausführung kann es
natürlich dahingestellt bleiben, ob man wirklich alle Wirtschaftszweige soziali¬
sieren muß. Es kann ja ganz gut sein, daß auf einzelnen Produktionsgebieten
ein privater Klein- oder Mittelbesitz auch jetzt noch herrscht, der die demokratische
Gleichheit der Volksgenossen genügend verbürgt: zum Beispiel unter Bauern
oder Handwerkern. Der Sozialismus ist, recht verstanden, kein Selbstzweck, son¬
dern nur Mittel zum Zweck, nämlich zur Demokratie, zur Abschaffung der
schroffen Unterschiede zwischen arm und reich. Es kommt nicht darcinf an, er¬
klärt Gustaf Steffen („Das Problem der Demokratie", S. 39) gegenüber den
svzwlde^vcratischen Radikalen, daß unter allen Umständen alles sozialisiert
wird, sondern daß die Armut so gründlich wie möglich aus der Welt geschafft
wird. Steffen nennt das sozialpolitischen Radikalismus im Gegensatz zum sozia¬
listischen Radikalismus.
Selbst wenn es uns aber gelungen wäre, die nötige wirtschaftliche Gleich¬
heit der Bürger als Boraussetzung der Demokratie zu "schaffen, so erhebt sich
weiter die Frage, wie es nun möglich sein soll, die Volksherrschaft technisch zu
organisieren. Der moderne Nationalstaat eines so großen Volkes, wie es unser
deutsches ist, ist ja viel zu groß, als daß es je möglich sein könnte, die Bürger
irgendwo alle zusammenzuholen und sie über die Staatsangelegenheiten ent¬
scheiden zu lassen. Rousseau hat daraus den Schluß gezogen, daß der Großstaat
eben für die Demokratie ungeeignet sei, und daß die freien Bürger sich deswegen
lieber in kleinen Kantonen politisch organisieren möchten, wie es ihm aus seiner
Heimat Genf vertraut war. Aber die Großstaaten bestehen nun einmal und haben
im Zeitalter der Weltwirtschaft und Weltpolitik und des Nationalismus keine Ver¬
anlassung, sich um der demokratischen Forderung willen in kleine Kantone aufzu¬
lösen. Darum haben schon die Demokraten der französischen Revolution -zum
Repräsentativsystem gegriffen, obwohl ihr Meister Rousseau dieses Auskunfts¬
mittel ausdrücklich ablehnt. Hier werden die Rechte des Volkes von einer Volks¬
vertretung wahrgenommen. So ist das Vorbild der demokratischen Praxis von
den großen Musterstaaten England, Amerika und Frankreich geschaffen worden,
und 'so haben es die übrigen Staaten nachgebildet. Aber die Schäden liegen auf
der Hand. In allen diesen Staaten sieht 'man, daß die Volksvertretung oft gar
nicht den wahren Volkswillen ausführt, daß sie einen eigenen Willen betätigt,
Cliquenwirtschaft treibt und womöglich gar das Volk betrügt. Das Volk hat nur
am Wahltag ein Mitbestimmungsrecht, dessen Wert durch Korruption und Wahl-
schwindel auch noch stark beeinträchtigt wird. Sobald die Volksvertretung da ist,
hat das Volk nichts mehr zu sagen. Auf die tatsächliche Gesetzgebung und Verwaltung
hat es jedenfalls gar keinen Einfluß. Da sagt nun Gustaf Steffen im Gegensatz zu
Rousseau, es sei auch gar nicht Prinzip der Demokratie, daß sich das Volk wirklich
selber regiere. Das sei völlig unmöglich. „In einem modernen Arbeitsteilungs¬
und Großindustriestaate mit vielen Dutzend Millionen freier Einwohner ist das
Experimentieren mit unmittelbarem Regierungsdemokratismus nicht einmal
denkbar" (a. a. O. S. 80). „Demokratie" sei gar nicht Selbstregierung des
Volkes, sondern das Ums Rousseau „Volkssouveränität" nennt, d. h. das Recht
jeder Gruppe und Person im Volke zur Geltung zu kommen. Steffen definiert:
„Demokratie ist die direkte und indirekte Beteiligung aller mündigen Männer
und Frauen an aller politischen und wirtschaftlichen Machtausübung innerhalb
der Gesellschaft -— jedoch nrcht als Selbstzweck, sondern ganz und gar dem all¬
gemeinen Besten untergeordnet." (S. 87.) Die Demokratie kennt keine Regie¬
rung ohne Zustimmung der Regierten, heißt es an anderer Stelle. (S. 81.)
Mir scheint aber, als sei in den praktisch verwirklichten Demokratien der Gro߬
staaten die Beteiligung der meisten Männer und Frauen lediglich indirekt und
als sei ihr Einfluß aus die direkten Regenten oft in einem Maße geringfügig,
daß ein wahres Zerrbild der Demokratie entsteht. Der Wille der gewählten
Funktionäre ist oft sehr wenig „dem allgemeinen Besten untergeordnet", Wohl
noch viel weniger, als das schon Rousseau befürchtete. Steffen erkennt die
Schwierigkeiten Wohl und erörtert deshalb die Korrekturen, die man am Neprä-
sentativsvstem anbringen kann, um die Volksvertreter zu veranlassen, auch wirk¬
lich nach dem Willen des Volkes zu handeln. Er verwirft das imperative Man¬
dat, das Referendum und die Initiative (Recht jedes Volksgenossen, eigene Ge¬
setzesanträge zu stellen) als untauglich. Er rechnet auf ein persönliches Ver¬
trauensverhältnis zwischen Wähler und Gewähltem (das aber gerade bei der be¬
sonders demokratischen Verhältniswahl selten möglich sein wird) und empfiehlt
Nachprüfung der Gesetze durch Volkslabstimmung nach angemessener Probezeit
und einen Senat mit Aufschubrechten in der Gesetzgebung.
Zu einem ganz anderen Standpunkte gelangt demgegenüber eine Broschüre
deS Schweizers Fick, ^) die sich auch besonders mit "den technischen Voraus¬
setzungen der Demokratie befaßt. Der Verfasser läßt keineswegs das Repräsen¬
tativsystem als Form der Demokratie gelten, sondern er macht sogar einen grund¬
sätzlichen Unterschied zwischen Nepräsentativstaaten und Demokratien. Die
repräsentative Verfassung sei keine Demokratie; sie entspreche vielmehr dem, was
im bekannten Versasfungsschema des Aristoteles (Monarchie, Aristokratie, Demo¬
kratie) als Aristokratie bezeichnet werde (S. 18). Artikel 6 der schweizerischen
Bundesverfassung stellt ausdrücklich Demokratie Und Repräsentativverfassung in
Gegensatz, und Fick sagt: „Parlamentarismus ist nicht Demokratie, sondern
Gegensatz zur Demokratie" (S. 29). Das Parlament solle nur vorberaten, das
Volk entscheiden. Fick erläutert seine Lehre sehr wirkungsvoll an der Verfassung
des .Kantons Zürich und führt die Grundsätze seiner unparlamentarischen „deut¬
schen" Demokratie bis auf die Germania des Tacitus zurück. Im Gegensatz zu
Steffen sieht er das Wesen der Demokratie nicht in der bloßen Volkssouveränität,
sondern in der wirklichen Volksentscheidnng über die Gesetze, die die repräsenta¬
tive Versammlung nur vorzubereiten hat. Referendum und Initiative, die
Steffen verwirft, werden hier als unbedingt notwendig gefordert. Fick ist auch
der Meinung, daß diese Volksentscheidnng keineswegs bloß in kleinen Kantonen
möglich sei. „Heute — zurzeit der höchsten Blüte der Verkehrstechnik, steht nichts
mehr im Wege,, den Grundsatz der reinen Demokratie auch in Groß- und Welt¬
staaten durchzuführen." (S. 26.)
Ob da freilich nicht Fick die Schweizer Möglichkeiten allzu rasch verall¬
gemeinert? Zweifellos scheint er mir gegenüber dem Repräsentativsystem den
reineren Begriff von Demokratie zu haben. Aber es dürfte nach wie vor sehr
schwierig sein, die schwerfällige blinde Masse eines Großstaatsvolkes zum eigene»
Gesetzgeber zu machen. Man könnte daran denken, diese Masse erst berufsstän¬
disch zu organisieren, damit jeder zunächst über die Fragen urteilen lernt, von
denen er wirklich was verstehen kann. Aber es ist bekannt, daß dies sehr leicht
zu einer Kasten- und Interessenpolitik führen müßte, die noch schlimmer ist als
die Politik der jetzigen Parteien und Cliquen. Da kommt nun ein Vorschlag von
Felix Weltsch, der die Masse ans anderem Wege zur politischen Selbstbestimmung
fähig machen möchte. °) Das Volk soll hier nicht in berussständische Kasten ge¬
gliedert werden, sondern jeder Bürger soll ganz frei mit allen denen zu einer
Gruppe zusammentreten, die in irgendeiner Beziehung seine Gesinnungsgenossen
sind. Er darf mehreren derartigen Vereinen — „Einzelgruppen" nennt sie der
Verfasser — angehören, aber nicht beliebig vielen, sondern etwa fünf, zum Beispiel
für Katholizismus, Kapitalismus, Antisemitismus, Freihandel und Denkmal¬
pflege. Jeder wird sich die Gruppen heraussuchen, deren Sache ihm besonders
am Herzen liegt, und wird Bestrebungen, die ihm weniger wichtig sind, nicht
unterstützen. Ja, es ist möglich, daß er alle fünf Stimmen einer einzigen Gruppe
widmet. Auf diese Art „wird erreicht, daß jeder gleichsam bereits in seinem
Innern eine Majoritätsentscheidung fällt, und daß die Ziele, welche zum politi¬
schen Wettkampf miteinander antreten, auch wirklich die dem einzelnen wichtig¬
sten sind" (a. a. O. S. 21). Innerhalb der Einzelgruppe darf jeder Staats¬
bürger Anträge stellen und hat gleiches Stimmrecht. Beschlüsse einer Einzel¬
gruppe gehen als Anträge an eine „Mittelgruppe", die aus Abgeordneten solcher
Einzelgruppen besteht, die etwas Gemeinsames in ihrem Programm haben.
Beschlusse der Mittelgruppen wiederum gehen als Anträge an die „Fachparla¬
mente", die aus Abgeordneten der Mittelgruppen bestehen. Es gibt drei Fach¬
parlamente: eins für kulturelle, eins für wirtschaftliche Interessen, eins für
Staatsnotwendigkeiten (Finanzen, Heerwesen, innere und auswärtige Politik).
Von je drei Abgeordneten einer Mittelgruppe muß einer ins Parlament der
Staatsnotwendigkeiten; die beiden anderen können beliebig verteilt werden. Die
Beschlüsse eines Fachparlaments gelten aus den Gebieten, wofür sie zuständig,
sind, als Volks befchlüfse. Für den Wahl- und Abstimmungsmodus macht
Weltsch noch besondere Vorschläge, die alle den Zweck haben, brutale Majori¬
sterungen eines Bürgers oder einer Gruppe zu verhindern. Denkt man sich das
System ausgeführt, fo würde in der Tat das Volk eine vollständig organisierte
politische Masse sein, in der der Wille jedes einzelnen an einer Stelle zum Aus¬
druck käme, die seiner Urteilsfähigkeit und seinen Interessen völlig angepaßt
wäre, und in der dieser Wille zweckdienlich weitergeleitet würde in immer
größere Kreise der Gesamtheit. Aber freilich ist das System ziemlich kompliziert
und setzt zu große Reife bei der Masse voraus. Es dürfte Millionen von Staats¬
bürgern geben, die nicht urteilsfähig genug sind, die für sie passenden Einzel¬
gruppen herauszufinden, oder die zu denkfaul sind, um Lust zu haben, sich über¬
haupt irgendwo anzuschließen, oder die selbst dann, wenn sie angeschlossen sind,
ihre Bequemlichkeit zu sehr lieben, als daß sie gewillt wären, eine Meinung in
der Gruppe zu äußern und zu vertreten. Das Berufs- und Geldsackinteresse
veranlaßt die Leute ja zum Zusammenschluß, aber die „Einzelgruppe" soll ja eben
nicht durch Berufs- und Geldsackinteressen, sondern durch freie Überzeugung' zusammengehalten werden. Schon jetzt gehen viele Wähler nicht einmal an dein
einen Wahltag zur Urne. Wieviel schwerer wird es da sein, dauerndes Interesse
für die Mitarbeit auch nur in einer dieser „Einzelgruppen" zu erzielen. Beteiligt
sich die große Masse aber nicht an den Einzelgruppen, dann ist es wieder nicht
gelungen, den wahren Volkswillen zur Äußerung zu bringen. Dann betätigt sich
Wiederum nur eine Minderheit politisch, und auch Weltschs „organische Demo¬
kratie" läuft aus eine Aristokratie hinaus.
Alle diese technischen Schwierigkeiten, wie es möglich sein soll, den wirk¬
lichen Volkswillen zur Geltung zu bringen, wären sofort beseitigt, wenn der
Staat lauter Bürger von der nötigen sittlichen Reise und von wahrem politischen
Interesse hätte. Die wichtigsten Voraussetzungen der Demokratie sind allezeit
sittlicher Natur gewesen. Eine Demokratie kann nur bestehen, wenn ihre Bürger
wahrhaft demokratisch gesinnt sind. In einem kleinen Büchlein über „Deutsche
Demokratie" zählt Charmatz svhr hübsch die Grundsätze auf, mit deren
Beobachtung jede Volksherrschaft stehe und falle/) Erstens müsse sich der Zweck
der staatlichen Gemeinschaft mit dem allgemeinen Besten decken. Zweitens müsse
der einzelne bei dem geringsten notwendigen Maß von Einschränkung das höchste
mögliche Maß von bürgerlichen Rechten genießen. Drittens dürfe die Staats-
«utorität der Volksautorität nicht feindlich gegenüberstehen. Und viertens müsse
der Mehrheitswille auf die Minderheit schonende Rücksicht nehmen. Wie es aber
möglich sein soll, Demokraten von solcher Gesinnung zu erzeugen, daß sie alle
diese Grundsätze achten, darüber schweigt sich Charmatz aus.' Offenbar ist er
Optimist genug, sie dem deutschen Volke zuzutrauen. Wir stehen hier bei der
schwierigsten und wichtigsten Voraussetzung der Demokratie.
"
„Demokratie und Unduldsamkeit, sagt Steffen (S. 105), „Demokratie und
rücksichtslose Herrschsucht schließen einander aus. Demokratie und soziale Un¬
wissenheit, Demokratie und soziale Voreingenommenheit, Demokratie und blinde
soziale Parteilichkeit sind miteinander unvereinbar." Es gibt nun zweierlei Art,
wie man sich die Beseitigung der undemokratischen Gesinnung der Menschen vor¬
stellen kann. Man kann nach dem materialistischen Prinzip glauben, diese Un¬
tugenden seien das Erzeugnis des Milieus, der Unterdrückung und Beengtheit,
in der die Menschen bisher leben mußten. So reden Zum Beispiel die Lobhudler
des Proletariats. Die Untugenden, die der Proletarier jetzt zeigt, sind nach An¬
sicht dieser Leute nur die Folge der elenden Zustände, unter denen er unter der
bisherigen Klassenherrschaft vegetieren mußte. Ist erst einmal durch die Revolu¬
tion der Bann gebrochen, ist der Proletarier zur Freiheit und Herrschaft be¬
rufen, dann wird er ganz von selber unter Anleitung seiner genialen Führer
sehr bald in allen demokratischen Tugenden leuchten. Aus solchen Gedanken-
gängen folgern radikale Sozialisten und Spartakisten die Theorie von der Dikta¬
tur des Proletariats als Übergang zu der allgemeinen Gleichheit und Freiheit
«lller Manschen. Die Klassenherrschaft des Proletariats soll nach dieser Lehre
vermöge der Solidarität und hervorragenden Einsicht der Arbeiterklasse zur Herr¬
schaft der demokratischen Tugenden unter den Menschen überleiten.
ES ist kein Zweifel, daß diese Lehre ein Wahn ist bei denen, die daran
glauben, eine gewissenlose Demagogie bei denen, die mit ihr bewußt dem Pöbel
schmeicheln. ?s<zos,tur int-ra umros c-t c-xtra! Das Bürgertum und die bisher
herrschenden Schichten bestanden gewiß nicht aus Engeln, aber die sozialdemo¬
kratischen Arbeiter sind ebenso gewiß nicht besser und werden nicht tugendhafter
werden, wenn sie zur Herrschaft kommen und ihren Dünkel Pflegen können. Die
sittlichen Qualitäten der Menschen heben sich durchaus nicht automatisch, wenn
die äußere Lebensstellung verbessert wird. Vielmehr kann der plötzlich zur Macht
Gerufene sittlich noch stärker versagen, als der im äußeren Leben Gedruckte.
Demokratische Tugend kommt nicht dadurch zur Herrschaft, daß man bisher be¬
herrschte Massen statt der oberen Schichten zur Macht beruft, sondern nur da¬
durch, daß man in mühevoller Arbeit allen Menschen eine Gesinnung anerzieht,
in der sie mehr Liebe zueinander und mehr Ehrfurcht vor der Menschenwürde
des andern betätigen. Eine solche Gesinnung wird nicht die Solidarität der
Arbeiterklasse erzeugen, — weil sie ihre Kraft zu sehr aus dem nackten Klassen-
vgoismus zieht, — sondern nur das Christentum, von dem die heutigen sozial¬
demokratischen Machthaber leider Menig wissen wollen.
Ich fürchte sehr, daß der Krieg, der jetzt zwischen Staat und Kirche droht,
vor allem dem Staat und dem demokratischen Gedanken schweren Schaden bringen
wird. Denn ich glaube, ohne die Kirche «wird es schwer sollen, die inneren Be¬
dingungen in der Gesinnung der Menschen zu schaffen, die ein demokratisches Ge¬
meinschaftsleben ermöglichen. Nicht als ob ich leugnen wollte, daß auch außer¬
halb der Kirchen idealistisches Handeln gedeihen könne. Auch unter den Sozia¬
listen und Materialisten gibt es vorzügliche Menschen. Ob diese Welt¬
anschauungen sich aber eignen, auch der breiten Masse die Forderung idealisti¬
schen Handelns so als Gewissensmacht erscheinen zu lassen, daß sie wirkt oder bei
leder selbstsüchtigen Tat doch wenigstens das böse Gewissen die Hoffnung auf
Besserung nicht, ganz vag erscheinen laßt, das darf man füglich bezweifeln. Man
mag die Schattenseiten der kirchlichen Erziehung noch ^so sehr hervorheben, eine
solche erschütternde Verwahrlosung des staatsbürgerlichen Pflichtgefühls hat sie
nicht zur Folge gehabt wie die sozialistische Agitation. Denn diese ist es, die
unterstützt von der Verrohung durch den Krieg, den spartakistischen Terror er¬
zeugt hat. Der sozialdemokratische Glaube, wie^ihn die Masse versteht, ist viel zu
materialistisch und klassenegoistlsch, als daß von ihm eine Erziehung zu demo¬
kratischen Tugenden zu erwarten wäre. Die Klassensolidarität der Arbeiter er¬
zieht nicht zu staatsbürgerlichen Solidaritätsgefühl, sondern eher von ihm weg.
Das ist der Punkt, wo sich auch sozialdemokratische Führer den bedenklichsten
Täuschungen. über ihre eigenen Leute hingeben. Jene Ahnung zum wenigsten
von praktischem Idealismus, wie sie in demokratischen Gemeinwesen auch die
Masse braucht, wird man ohne Christentum nicht erzeugen. Freilich wird man
sagen: was soll das Christentum helfen, da es ja eben keinen Einfluß mehr auf die
Masse hat? Was die katholische Kirche anlangt, ist das zum mindesten nicht
richtig. Ein äußeres Zeichen dafür ist, daß die Macht des Zentrums im katholi¬
schen Volke auch Mährend der Revolution nicht erschüttert worden ist. Eine
dankenswerte Sammlung innerer Zeugnisse sür die Festigkeit der christlichen
Weltanschauung in weiten katholischen Volkskreisen liegt vor in drei Bänden
Feldpostbriefen, die Professor Pfeilsch ihter in München herausgegeben hat.')
Für diesen Volksteil braucht man noch keine allzu große Sorge zu haben. Die
evangelische .Kirche aber muß eben noch einmal mit aller Anspannung um den
Boden kämpfen, den sie im Volke verloren hat. Unter gebildeten Protestanten
gibt es jetzt leider nur wenige, die sich Rechenschaft zu geben vermögen, wie sehr
die Erhaltung -des christlichen Glaubens im Volke und seine strammere Organi¬
sierung Bedingung anch für die vaterländischen und demokratischen Hoffnungen
ist, die wir noch haben können. Möchte diese Einsicht bald reifen!
le revolutionäre Erhebung vom 9. November vorigen IcchreS war
zunächst aus rein politischen Antrieben hervorgegangen und i»
ihren Anfängen auf d?e Lösung schwieriger wirtschaftlicher
Probleme uicht unmittelbar gerichtet. Sie mußte aber schon
ihres proletarischen Ursprungs wegen alsbald auf das wirtschaft¬
liche und sozialpolitische Gebiet übergreifen. Waren doch in den
Bestrebungen der sozialdemokratischen Partei von jeher politische und wirtschaft¬
liche Zielpunkte eng mit einander verbunden. Man betrieb den Ausbau der
gewerkschaftlichen Organisationen, um den politischen Forderungen größeren
Nachdruck zu geben, und suchte anderseits die Massen in der politischen Bewegung
auf dem Alarmfuß zu halten, um wirtschaftliche Fortschritte durchzusetzen. Die
Machthaber der provisorischen Regierung betonten auch in ihren Kundgebungen,
daß sie ihren sozialistischen Überzeugungen treu bleiben und die Wege zum
Sozialismus unbeirrt beschreiten würden. An Beweisen ihres guten Willens,
den Arbeitermassen außer der politischen Freiheit eine Erweiterung ihrer
politischen Rechte und eine Erleichterung ihrer Arbeitspflichten zuzuwenden,
ließen sie es nicht fehlen. Die Verordnungen über die Koalitionsfreiheit, die
Rechtsgeltung der Tarifverträge und die Einführung des Achtstundentags, von
anderen sozialpolitischen Maßnahmen abgesehen, können hierzu genannt werden.
Im übrigen hatten die Führer der neuerstandenen sozialistischen Republik alle
Hände voll zu tun, sich ihrer Haut zu wehren und den schwankenden Boden ihrer
politischen Existenz zu festigen. Inmitten der sturmgepeitschten Wogen, die
infolge des revolutionären Umsturzes die politischen Verhältnisse in ganz
Deutschland furchtbar aufwühlten, wäre es frevelhaft gewesen, gleichzeitig auch
die Schwerkranke Volkswirtschaft in den Strudel hereinzuziehen.' Die an keine
Verantwortung gebundenen radikalen Elemente freilich wollten die sozialistische
Wirtschaft womöglich durch diktatorische Gewalt ohne weiteres einführen. Ihrem
Mißfallen begegnete sogar die Niedersetzung einer Sozialisierungskommission,
die die Möglichkeiten und Bedingungen einer grundlegenden Umwandlung der
bisherigen Wirtschaftsverfassung im Sinne des Sozialismus prüfen und begut¬
achten sollte.
Daß eine Kommission von urteilsfähigen Männern mit der Aufgabe
betraut wurde, zunächst einmal Ziele und Methoden der Sozialisierung klar¬
zustellen, war Wohl das geringste Erfordernis, ehe die Gesetzgebungsmaschine in
Bewegung gesetzt wurde. Das Schlagwort von der Sozialisierung war zwar in
aller 'Munde, über seine Wesenheit aber bestanden die krausesten Vorstellungen.
So war es vor der Revolution und nach ihrem Eintritt bis auf den heutigen
Tag. Am bequemsten haben es diejenigen, denen Marx unverändert als der
große Prophet gilt, dessen durch die tatsächliche Entwicklung hundertfach
»6 ttbsurSuin geführten Lehrsätze wie eine wirtfchaftsgeschichtliche Offenbarung
angesehen werden. Für diese Leute gipfelt die „Sozialrsierung" auch heute noch
in dem für die Sozialdemokratie maßgebenden Erfurter Programm, dessen ein¬
schlägige Sätze hier in Erinnerung gebracht werden müssen:
„Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an
Produktionsmitteln — Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe,
Werkzeuge, Maschinen und Verkehrsmittel — in gesellschaftliches Eigentum und
die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die
Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und
die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher
ausgebeuteten Klaffen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu
einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Ver¬
vollkommnung werde."
'
Dieses Paradepferd der Sozialdemokratie ist der Sprößling eines wirklich¬
keitsfremden und wirtschaftsfeindlichen Doktrinarismus. Wollte man ihn zum
Vorspann für die Sozialisterung benutzen, so würde die Volkswirtschaft ehestens
in einen klaftertiefen Sumpf versinken. Von den einsichtigeren Köpfen in der
sozialdemokratischen Partei ist das schon lange vor dem Kriege unumwunden
zugegeben und eine dementsprechende Programmrevision verlangt worden. Nach
dem Kriege muß eine sofortige umstürzt'erische Aktion gemäß dem Erfurter
Manifest erst recht als ein unverzeihliches Attentat auf die Produktion erscheinen.
Angesichts der im höchsten Maße zerrütteten und erschöpften Volkswirtschaft ist
es die dringlichste Pflicht der Nation, ihre ganze Tatkraft einzusetzen, um auf¬
zubauen, was auseinandergefallen, und aufzurichten, was zu Boden geworfen.
Die heilsamen Wirkungen dieser Anspannung werden aber aufgehoben, wenn an
den fundamentalen Voraussetzungen der wirtschaftlichen Betätigung willkürlich
gerüttelt wird. Und letzteres geschieht durch die zwangsweise Durchführung der
Sozialisierungsthese des Parteiprogramms, ohne dem verantwortlichen Handeln
die konkreten Verhältnisse zugrunde zu legen. Wenn jemals, so muh hier do.5
Wort gelten: erst wägen, dann wagen! Es gehört nicht hierher, ein Bild von
ver grauenvollen Verelendung des deutschen Wirtschaftslebens zu entwerfen;
was wir täglich vor uns sehen und an unserem Leibe peinlichst erfahren, wirkt
als eine erschütternde Predigt, die Soziallsierungsangelegenheit nicht zu einer
verhängnisvollen wirtschaftlichen Umwälzung zuzuspitzen, weil sozialistische
Theoretiker sie zu einem Dogmensatz ausgeprägt haben. Von der Regierungs¬
bank in der Nationalversammlung zu Weimar ist das eindrucksvolle Wort vom
ruchlosen Optimismus, ins Volk hinausgerufen worden, ein Wort, dazu berufen,
den verblendeten Sozialisierungssanatikern das Gewissen zu schärfen, damit sie
nicht in trotziger Verrennung der Gegenwartsnöte nach den Sternen einer einst¬
mals vielleicht erreichbaren Zukunftsentwicklung greifen. Der Allgemeinheit
erwüchse unabsehbarer Schaden, wenn am Anfang einer verständig eingeleiteten
,Mememwirtschaft" eine Katastrophenneigung Platz griffe.
Im vorigen Artikelist bereits darauf hingewiesen worden, daß das gegen¬
wärtig im Brennpunkt der wirtschaftlichen Interessen befindliche Sozialisierungs-
problem während des Krieges vorwiegend Objekt akademischer Behandlung war.
Der bis zum Übermaß aufgebaute Kriegssozialismus fußte allerdings aus
gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen, war aber doch nur ein dünner Aufguß auf
den Sozialismus im Vergleich zu dem starken Extrakt, mit dem das sozialdemo¬
kratische Parteiprogramm die sozialistische Wirtschaft durchtränken wollte. Selbst
sie Gruppe der Genossen, die im kriegswirtschastlichen Sozialismus die
verheißungsvoller Anfänge einer grundsätzlichen Abwendung vom Individual-
rinzip begrüßte, gab zu, daß diese Spielart der Sozialisierung überwiegend
ürgerliche Prägung hatte. Denn wenngleich ein Wall von Zwangsvorschriften
die Ungebundenheit der freien Wirtschaft einengte, so behaupteten die
kapitalistischen Kräfte doch nach wie vor ihre Vorherrschaft über Produktion und
Güterumlauf. Immerhin schätzten die Genossen es als einen Fortschritt, daß
wenigstens durch den verwässerten Sozialismus „aus zahllosen Köpfen das fest¬
gefrorene Vorurteil gegen den Sozialismus weggeschmolzen würde".
Aber auch von einem ernsthaften praktischen Standpunkt konnte der
„Vergesellschaftung" nicht völlig ausgewichen werden. Je höher die Auf¬
wendungen für die Kriegführung anwuchsen, desto größer mußte die Sorge
werden, wie Staaten und Gemeinden die ungeheuern Kriegslasten in Zukunft
abzutragen imstande sein würden. Damit trat die Einführung von Neichs-
monopolen in den Kreis der Erwägungen. Aus fiskalischen Gründen mußte die
Umwandlung von privatwirtschaftlichen Betrieben in staatliche ins Auge gefaßt
werden. Daß die Sozialdemokratie früher den Staatssozialismus nicht als voll¬
wertigen Zweig vom Baume des Sozialismus, wie sie ihn auffaßte, gelten ließ,
dürfte bekannt fein. Man hat allmählich in dieser Beziehung umgelernt und die
Verstaatlichung als eine brauchbare Vorstufe für die radikale Depossedierung des
Privatkapitals willkommen geheißen. Es ist einleuchtend, daß der „Staats¬
kapitalismus" für den Sozialismus tüchtige Vorarbeit leistet, indem er die
privaten Betriebe enteignet und die staatliche Monopolwirtschaft der parlamen¬
tarischen Kontrolle unterstellt. Eine Sozialisierung in dieser Richtung erschien
daher dem sozialdemokratischen Schrifttum vor dem Kriege als eine zweckmäßige
Minenlegung, um die kapitalistische Produktionsweise abzuhauen.
Die Verstaatlichung war unverkennbar bereits ein wesentliches Stück der
allgemeinen Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Sie' wendete den
Kapitalbesitzern durch die Ablösungsrenten zwar große finanzielle Vorteile zu,
nahm ihnen aber ihre Betriebe aus der Hand. Diesen Fortschritt konnten mithin
auch übereifrige Genossen, die Willens waren, aufs ganze zu gehen, als vorläufig
allein erreichbare Abschlagszahlung sich gefallen lassen. Aber selbst für die
fiskalischen Verstaatlichungspläne war die Zeit im Kriege noch nicht reif; sie
standen in engem Zusammenhange mit der Gesamtheit der Finanzfragen, deren
Lösung vom Ausgang des Krieges abhängig war.
Als der Waffenstillstand geschlossen und die politische Umwälzung in Szene
gesetzt war, hatte die Demobilmachung vor dem Sozialisierungsthema den Vor¬
rang. Die Unterbringung der in überstürzter Hast aus dem Felde zurück¬
strömenden Truppen und Versorgung der namentlich in den Großstädten sich
ansammelnden Scharen von Arbeitslosen verursachten ernste Schwierigkeiten.
Ungleich wichtiger als die soziale Neuordnung der Wirtschaftsformen war das
Ingangsetzen der Betriebe, um dem müßigen Herumlungern der beschäftigungs¬
losen und teilweise verwilderten Elemente zu steuern. Daß das baldigst geschehe,
war zugleich eine Lebensfrage für die Allgemeinheit. Denn die Wiederaufnahme
der produktwen Arbeit war die erste und wichtigste Vorbedingung sür die Rück¬
kehr zu normalen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die fast flehentlichen
Mahnungen aller amtlichen Stellen an die Arbeiter, die reichlich angebotene
Arbeitsgelegenheit anzunehmen, stießen leider gar zu häufig auf passiven Wider¬
stand bei den Arbeitsunlustigen, denen die Revolutionspsychose die Neigung zum
Faulenzen eingeflößt hatte. Das Wort des Reichspräsidenten Ebert fand wenig
Veherzigung: „Arbeit ist die Religion des Sozialismus!" Die in den Arbeiter¬
und Soldatenräten verankerte wirtschaftliche Demokratie war inzwischen zu einer
selbstherrlichen Macht emporgewachsen, die auf die politische Neichsleitung einen
neigenden Druck ausübte. In dem erbitterten Ringen der Rechtssozialisten mit
den radikalen Gruppen zu ihrer Linken stand bei letzteren die Forderung einer
unverzüglichen und durchgreifenden Sozialisierung an erster Stelle. Die
ungestümen Wirtschciftsrefvrmer der Unabhängigen hatten während der
sozialistischen Übergangszeit mit der Zusicherung sich halbwegs beruhigen lassen,
daß der durch Volkswahlen legitimierte Gesetzgebungsapparat alsbald in ihrem
«Sinne arbeiten werde. Nachdem nun die Nationalversammlung zusammen¬
getreten war, verlangten sie die restlose Einlösung des Sozialisierungsvcrsprechens.
'
Das der Naiioualoersammlm g vorgelegn Piogianun des Reichsmuunenums
nahm zur Sozialisierungsfrage in folgendem Satze Stellung: „Wirtschaftszweige,
die nach ihrer Art und ihrem Entwicklungsstände einen privat-monopolistischen
Charakter angenommen haben, sind der öffentlichen Kontrolle zu unterstellen.
Soweit sie sich zur einheitlichen Regelung durch die Gesamtheit eignen, insbe¬
sondere Bergwerke und Erzeugung von Energie, und dadurch zur einheitlichen
Regelung durch die Gesamtheit iSozialisierung) reif geworden sind, sind sie in
öffentliche oder gemischt-wirtschaftliche Bewirtschaftung oder auf Reich, Staat, Ge-
meindeverbände oder Gemeinde zu übernehmen." Die Vorbehalte in dieser pro¬
grammatischen Erklärung sind leicht erkennbar. Von einer unmittelbaren Anlehnung
an das Erfurter Parteiprogramm wird abgesehen. Der Umwandlung von kapita¬
listischen Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum werden enge Schranken
gezogen und „die einheitliche Regelung der reifg« wordenen Betriebe durch die Ge¬
samtheit" wird an die Stelle der sozialistischen Warenproduktion gesetzt. Einer
Sozialisierung, die die Ausnützung der Privatmonopole, falls die Objekte sich
dazu eignen, auf eine staatlich-organisierte Gemeinschaft überträgt, haben auch die
im Kabinett Scheidemnnn vertretenen beiden bürgerlichen Parteien znciestimmt.
Bei der vorsichtigen Abfassung dieses ministeriellen Sozialisierungszieles war
offenbar der Leitgedanke maßgebend, daß die notleidende Volkswirtschaft mit
bedenklichen Experimenten verschont werden und durch die Neuordnung allen Volks¬
klassen gedient sein müßte. Die Sozialisierung sollte im Zeichen der Gemein¬
nützigkeit, nicht zugunsten einer einzelnen Berufsklasse, also etwa der beteiligten
Arbeiterschaft, erfolgen Dieser Standpunkt trug auch den Anschauungen der
besten Theoretiker der Sozialdemokratie, wie Ed. Bernstein und Kautsky. Rechnung.
Bernstein Katte in seinen Betrachtungen über die Aussichten des SozialismuZ
schon vor 20 Jahren darauf hingewiesen, daß die Verantwortung für die Pro¬
duktion unmöglich in die Hände der Massen gelegt werden dürfe; nur die staat¬
liche Bureaukratie gemeinsam mit den demokratisierten Selbstverwaltungsorganen
wären imstande, die Schwierigkeiten der öffentlichen Bewirtschaftung zu überwinden.
Im übrigen wünscht Bernstein, daß störende Eingriffe in die organische Entwicklung
der Volkswirtschaft möglichst unterblieben, denn man müsse sich vorhalten, daß der
Prozeß der Sozialisierung sich nicht befehlsmäßig vollziehen lasse. Ebenso will
Karl Kcrutsty die Produktivität der Volkswirtschaft nicht behelligt sehen, obgleich
er grundsätzlich dafür eintritt, Sämtliches Großgrundeigenlum an Bergwerken und
großen Gütern, sowie sämtlichen städtischen Grundbesitz zu staatlichem Eigentum
>^egen Entschädigung zu erklären.
Die Urteile Bernsteins und KautskyS sind schon deshalb beachtenswert,
weil beide zu den dem Marxismus ergebenen Unabhängigen gehören, trotzdem
aber die dogmatischen Lehrsätze des großen Meisters für das gegenwärtige Ent-
Wicklungsstadium der deutscheu Wirtschaft als nicht verbindlich erachten. Beide
sind der Überzeugung, daß das unorganisch-brutale Eingreifen in das Wirtschafts¬
leben nur schädlich wirken könne, was Bernstein, den Unterstaatssekrelär im Ncichs-
schatzamt, zu der Forderung veranlaßte, „daß die Volkswirtschaft so wenig wie
möglich iii ihrem Gange gestört werde, das heißt, daß die Bedingungen ersüllt
werden, uuter denen das moderne, so weit verzweigte und feingcäderle Volks-
winschciflliche Leben gesund funktionieren könne". Die zur Regierung berufenen
sozialdemokraiischen Führer pflichteten dieser Auffassung zweifellos bei und hatten
demgemäß im Kompromiß mit ihren bürgerlichen Ministerkollegen dem Soziali-
sierungsvotum jene zurückhaltende und vieldeutige Fassung gegeben. So können
die Meinungen weit voneinander abweichen, wann ein Industriezweig oder be¬
stimmte Großbetriebe als „sozialisierungsreif" anzusehen wären. Die überaus
wichtige Frage blieb ungeklärt, wurde nur um so verworrener, je mehr Autori¬
täten zu ihr sich äußerten. Dem (inzwischen wieder beseitigten) Finanzminister
Simon erschien eine lange Reihe von Industrien, so die chemische Industrie,
Waffenindustrie, Ziegeleien usw., geeignete Objekiv für eine Verstaatlichung zu
sein, er schob aber zugleich als Schntzwand vor, daß unter den gegebenen Ver¬
hältnissen die Versuchung zum Experimentieren abzuweisen sei. Ferner verriet
der (jetzt gestürzte) Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts Dr. August Müller
eine nicht mißverständliche Abneigung überhaupt gegen die Sozialisierung. Diese
habe nicht nur den Sicind der eigenen Wirtschaft, sondern auch die Beziehungen
zur Weltwirtschaft sorgsam zu beachten. Es sei unsinnig, als Einzelstaat das
Sozilllisierungsbanner zu ergreifen, während die Welt ringsum die Nachfolge ver¬
weigere. Das wäre aber zurzeit die Sachlage. Im jetzigen Zeitmoment dürfe
man nicht den Theoretikern zu Gefallen unausgereifte Ideen in Teilen umsetzen.
Ähnliche abwehrende Urteile gegen eine übereilte Sozialisierung seitens
angesehener sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker ließen sich eine ganze Reihe
amühren. Wen es interessiert, mag unter diesem Gesichtspunkt die auf reviuonistischem
Boden stehenden „sozialistischen Monatshefte" durchblättern. Die Meinungen
stimmten im wesentlichen darin überein, daß allem zuvor die Ergiebigkeit der
menschlichen Arbeit in Deutschland gefördert werden müsse, ehe die Verpflanzung
sozialistischer Grundsätze auf das Wirtschaftsleben zugelassen werden dürfe. Kurz
und nüchtern formuliert beispielsweise Julius Kaliski diese Überzeugung in dem
Satze, daß die Sozialisierung gegenwärtig nur dem einen Ziele zustreben dürfe:
der Steigerung der Produktivität. Beachtenswert erscheint uns ferner im Hinblick
auf die Stellungnahme der Negierung zur Regelung der Kohlenwirlschaft eine
Auslassung des bekannten Führers der Bergarbeiter, Otto Hu6, der außerdem
gemeinsam mit Kautsky der Neichskommission für Sozialisierung angehört. Er
unterstreicht besonders die-Bedenken gegen eine Verstaatlichung der Produktions¬
mittel, ehe wir über die Verpflichtungen, die uns von der Entente auferlegt
werden, sollen, genau unterrichtet wären. In Bezug auf diesen Punkt schreibt er:
„Gibt es bei uns vernunftbegabte Menschen, die der Überzeugung sind, die Be¬
auftragten des Ententeimpercilismus bei den Friedensverhandlungen würden die
Durchführung des proletarischen Sozialismus begünstigen? Das hieße die intev-
nationale Solidarität des Privatkapitalismus völlig verkennen." Er warnt
weiterhin vor der unlösbaren Aufgabe, die Arbeitsbeschaffung für Millionen
Menschen einer sozialistischen Jndustricleitung zuzumuten, und zwar zu einer
.Zeit, wo nicht wenige Großunternehmer geneigt sind, die Verantwortung für die
gewaltige Betriebsumschichtung und Arbeitsbeschaffung auf andere Schultern ab¬
zuladen. „Wer die grvßindustriellen Verhältnisse nicht lediglich theoretisch, sondern
aus der Praxis kennt, der weiß, daß der Sozialismus eine unabsehbare Nieder¬
lage erleiden würde, wenn wir uns zetzt die Verantwortung für total umwälzende
Eingriffe in die komplizierte Verfassung unserer industriellen Produktionsverhältnisse
aufhalsen würden/' Der Sozialismus müsse sich hüten, die Rolle eines Konknrs-
verwalters in der deutschen Volkswirtschaft zu übernehmen. Der Genosse Huc
bar hiermit natürlich seinen Glauben an die Segnungen der sozialistischen Wirt-
schaft für die Menschheit nicht abschwören wollen, möchte aber die Heilswirkungen
des Sozialismus nicht an einer völlig verwüsteten Volkswirtschaft erproben. Man
darf wohl annehmen, daß er wie viele andere Genossen infolge des Verlaufs der
Dinge auf dem innerpolitischen Kampffelde in raschem Wechsel anderen Sinnes
geworden ist.
In den ersten Monaten^ dieses Jahres folgten bürgerliche und soziale
Demokraten in Sachen der Vergesellschaftung von wirtschaftlichen Großbetrieben
ungefähr derselben Fahrtrichtung. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, daß
zur Wiederaufrichtung der Volkswirtschaft alle als zweckmäßig erkannten Mittel
anzuwenden wären. Daß die Produktions- und Absatzverhältnisse durch die
Nutzbarmachung von gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen in vielen Beziehungen
verbessert werden könnten, war zu einleuchtend, um durch die Berufung auf die
Vorteile individueller Wirtschaftsfreiheit widerlegt zu werden. Auf dem abge¬
grenzten Boden der Gemeinwirtschaft ließen sich selbst weitgehende Reformen der
nationalen Wirtschaftsweise verwirklichen, ohne in das fast uferlose Fahrwasser
sozialistischer Träumereien einzulenken. Auch die Mehrheitssozialisten schienen
vorläufig nicht geneigt, unter dem Drucke der Gegenwartssorgen sür einen
Wirtschaftssozialismus sich einzusetzen, bei dem eine, ganze Anzahl unbekannter
Größen in Rechnung kam.
Der revolutionäre Sturmwind war inzwischen zum Orkan angewachsen
und hatte die Geister des Sozialismus zu wilder Leidenschaftlichkeit und unge¬
stümem Begehren hingerissen. Die von gewissenlosen Vvlksdemagogen ange-
stachelien Arbeitermassen wollten mit den politischen „Errungenschaften" der
Revolution sich nichl zufriedengeben und drängten mit unheimlicher Gewalt auf
die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen MachtausprüÄc. Die Lohnbewegung hatte
ihren Gipfelpunkt erreicht, verbürgte aber den Arbeitern nicht einen dauernden
Anteil am Produktion<?ertrage. Im Zeichen des Sozialismus und im Kampfe
gegen den Kapitalismus sollte dem Faktor Arbeit unverweilt zum mindesten die
volle Gleichberechtigung neben den kapitalistischen Kräften erstritten werden..
„Sozialisierung" wurde das Losungswort für diese Bestrebungen der von radikalen
Trieben erfüllten Arbeiter und die zusammenfassende Formel sür den wirtschaft¬
lichen Inhalt des sozialdemokratischen Parteiprogramms. Was bezweckt wurde,
legte der Parteitag der Unabhängigen in folgender Entschließung fest:
„Die Vergesellschaftung der kapitalistischen Unternehmungen ist sofort zu
beginnen, Sie ist unverzüglich durchzuführen auf den Gebieten des Bergbaues
und der Energicerzeugung, der kvnzetnricrten Eisen- und Stahlprodultion sowie
anderer hochentwickelter Industrien und des Bank- und Versicherungswesens;
Großgrundbesitz und Forsten sind sofort in gesellschaftliches Eigentum überzu¬
führen. In den Städten ist das private Eigentum an Grund und Boden in
Gemeindeeigentum überzuführen. Ausreichende Wohnungen sind von der
Gemeinde auf eigene Rechnung herzustellen."
Das in diesen Forderungen aufgefahrene schwere Geschütz, war keine bloße
Drohung, die von den verantwortlichen Negierungshäuptern mit der gleichen Ent¬
schiedenheit abgefertigt werden konnte wie etwa die kommunistischen Verstiegen-
Heiten der.Spartakisten. Die Werbetrommel der Unabhängigen hatte Hundert-
tausende von Arbeitern angelockt, die über das ihres Erachtens allzu laue und
zögernde Verhalten der polnischen Steuerleute zu den wirtschaftlichen Interessen
der Arbeiter unwillig und aufrührerischen Handlungen zugeneigt waren. Diese
anschwellenden Scharen von Grollenden und Machtbegierigen hatten in den
Arbciterräten eine starke und rücksichtslose Vertretung, die die Aufgaben von Sto߬
trupps der wirtschaftlichen Demokratie ausgezeichnet wahrnahm. Das „Räte-
system" zu einem Parlament der Arbeit auszugestalten und mit der Exekution in
allen Angelegenheiten zu betrauen, die den Vormarsch der Sozialisierung fördern
konnten, galt den radikalisierten Arbeitern als das Gebot der Stunde. Die Ge¬
nossen auf dem Kutschbock des Reichswagens aber mußten es an sich selbst er-
fahren, dasz es leichter ist, Revolution zu machen als die zur Mitwirkung auf¬
gerufenen Elemente in den vorgeschriebenen Bahnen festzuhalten. Sie mußten
sich denen gegenüber nachgiebig erweisen, die keinen Aufschub in der Sozialisierung
dulden wollten und nicht davor zurückschreckten, zu den äußersten Kraftmitteln zu
greifen, um dos zu erzwingen, was sie als ihr wohlverdientes soziales Recht an¬
sahen. Die bis dahin zur Zurückhaltung mahnenden Bedenken waren ja auch
schließlich nicht solche sachlichen Gegensatzes, sondern richteten sich vorwiegend
gegen das Tempo der Realisierung. Die Sozialisten zur Rechten wie zur Linken
standen in ihren Überzeugungen auf demselben Boden und strebten nach demselben
Endziel: die Aufrichtung der sozialistischen Wirtschaft. Ihre Wege schieden sich
nach realpolitischen Erwägungen, und diese waren bedingt durch das Maß der
Verantwortung für Fehlgriffe und deren Folgen.
Von der NeichSregierung wurden der Nationalversammlung am 4. März
zwei Sozialisierungsvorlagen zur schleunigsten Beratung unterbreitet, eine all¬
gemeine grundsätzliche, die vom Recht der Arbeit, dem Schutz der Arbeitskraft
und dem Gedanken der Gcmeinwirtschaft handelt, und einen besonderen Gesetz¬
entwurf über die Regelung der Kohlenwirtschaft. Die im Nahmengesetz für die
Sozialisierung aufgestellten Wegweiser geben nur in zwei Richtungen Auskunft,
leider nur allzu knappe. (Wir gehen nachstehend immer von dem Wortlaut der
Gesetze aus, wie er aus den Beschlüssen der Nationalversammlung hervorgegangen
ist). Erstens also: Das Reich soll befugt sein, im Wege der Gesetzgebung gegen
angemessene Entschädigung geeignete wirtschaftliche Unternehmungen, insbesondere
solche zur Gewinnung von Bodenschätzen, in Gemeinwirtschaft überzuführen, so¬
wie im Falle dringenden Bedürfnisses die Herstellung und Verteilung wirtschaft¬
licher Güter gemeinwirtschaftlich zu regeln. Und zweitens: Die Leitung der Ge¬
meinwirtschaft erfolgt unter Aufsicht des Reichs durch Selbstverwaltungsorgane.
Auf zwei Entsteinen soll hiernach die Methode der Sozialisierung beruhen:
Gemeinwirtschaft und Selbstverwaltung. Erstere bedeutet die Übernahme von
bisher privatwirtschaftlich betriebenen Unternehmungen auf eine öffentlich-rechtliche
Gemeinschaft (Reich, Staaten, Gemeinden). Das sozialwirtschaftliche Prinzip
leitet an sich noch keine Wirtschaftsrevolution ein. Entscheidend ist die praktische
Anwendung, die ihm gegeben wird. Mit ihm könnte in der Tat, wie ein sozial-
demokratischer Abgeordneter das offizielle Bekenntnis zur Gemeinwirtschaft aus¬
legte, ein Tor geöffnet werden, durch das das ganze Erfurter Programm ein¬
marschiert. Gegen eine solche verhängnisvolle Entwicklung sind aber einige Tor¬
riegel dem Gesetz eingefügt, wie die bedingte Ermächtigung, die Vergesellschaftung
nur auf gesetzgeberischen Wege in Angriff zu nehmen, und nur, sofern die be¬
treffenden Unternehmungen als „geeignet" erscheinen, sowie unter der Verpflichtung,
die privaten Vorbesitzer angemessen zu entschädigen. Die Ausdehnung ferner der
Gemeinwirtschaft auf die Produktion und den Absatz von wirtschaftlichen Gütern
findet ihre Grenze im Nachweis dringenden Bedürfnisses, worüber selbstverständ¬
lich gleichfalls die gesetzgebende Volksvertretung zu befinden haben würde.
Durch die Übertragung der gemeinwirtschaftlichen Leitung an Selbst¬
verwaltungskörper wird alsdann den beteiligten berufsständischen Orgcmisaiioncn
wenigstens ein teilweiser Einfluß auf das Geschäftsgebaren eingeräumt, also ein
Mittelweg eingeschlagen, der einerseits eine Vorherrschaft der privatkapitalistischen
Organisationen ausschließt, andererseits aber auch die Verfügungsrechte der bureau¬
kratischen Aussichts- und Anordnungsorgane einschränkt. Welche Art von Gesell-
schaftsgebilden aus den allgemeinen Richtlinien herzuleiten wären, wird nicht näher
angedeutet, offenbar in der Absicht, die organisatorischen Matznahmen von Fall
zu Fall den praktischen Bedürfnissen anzupassen So bleibt die Frage beispiels¬
weise offen, ob die monopolistische Zusammenfassung jedesmal für einen ganzen
Erwerbszweig und einheiilich für das ganze Reichsgebiet erfolgen oder ob daneben
privaten Unternehmungen grundsätzlich die EMenzberechnung zugestanden werden
soll. Das im Sozialisierungsgesetz niedergelegte Prinzip soll auf die möglichste
Steigerung der Wirtschaftlichkeit hinwirken, ob aber der prakiische Erfolg den
Erwartungen der Wirtschaflsreformer entsprechen wird, ist allerdings sehr fraglich.
Daher ist der temperamentvolle Widerspruch der rechtsstehenden Parteien in der
Nationalversammlung gegen ein Gesetz begreiflich, das einer Kriegserklärung an
die überlieferten und in Zeiten des Aufblühens unserer Volkswirtschaft bewährten
Wirtschaftsformen ähnlich sieht, ohne den wirtschaftlichen Fortschritt verbürgen
zu können.
Für die praktische Gestaltung der Sozialisierungspläne bietet das Gesetz
über die Regelung der Kohlenwirtschaft einige Anhaltspunkte. In ihm wird im
wesentlichen bestimmt, daß die Kohlenproduzenten bezirksweise zu Verbänden und
diese zu einem Gesamtverband zusammengeschlossen werden. Den Verbänden liegt
die Regrlung von Fmderung, Selbstverbrauch und Absatz unter Aufsicht eines zu
errichtenden Neichscvhlenrais ob, dem die Direktiven von einem durch die Re¬
gierung einberufenen Sachverständigenrat sür die Kohlen wirtschaft erteilt werden.
In den beratenden und leitenden Zentralorganen sollen Arbeitgeber, Arbeitnehmer,
auch Regierungsdelegierte und Kohlenverbraucher zu Worte kommen. — Nach
dem zum Gesetz erhobenen Organisationsentwurf wird die privatwirtschaftliche
Initiative also nicht ausgeschaltet, jedoch einer so weitgehenden Einschnürung
unterworfen, daß für die Bewegungsfreiheit des Unternehmers schwerlich noch
viel Raum übrigbleiben dürfte. Jedenfalls geht mit diesem Bewirtschaftungs-
system die Hauptlast der Verantwortung für das Gedeihen der deutschen Kohlen¬
industrie auf eine Gemeinschaft über, auf deren Betätigung in wirklich gemein¬
nützigen Sinne, wozu auch die Schonung der privatkapitalistischen Interessen
gehört, man keine grotze Hoffnungen bauen darf.
Zur besseren Jllustrierung des Sozialisierungswillens empfiehlt es sich,
die Vorschläge kennen zu lernen, die von der amtlich niedergesetzten, beratenden
Sozialisierungskommission zur Reglementierung der Kohlenwirtschaft gemacht
wurden. Der vom Regierungsentwurs abweichende Kommissionsbericht bietet
ein drastisches Beispiel, wie unsicher und uneinig das Gelehrtenkonzil in seinen
Auffassungen über Ziele und Methoden der Sozialisierung ist. Die Kommission
war sich freilich darüber einig, daß ein staatliches Eingreifen in die Verhältnisse
der Kohlenindustrie und des Kohlenabsatzes unter allen Umständen geboten sei,
weil das bestehende Privatmonopol „mit dem Wesen des modernen Staates,
nicht nur des sozialistischen, unvereinbar ist". Das ist — mit Verlaub! — ein
Gemeinplatz, mit dessen Hilfe auch gemeinschädliche Neuerungen sich begründen
ließen, denn welche Art von Wirtschaftselementen macht das Wesen des moder¬
nen Staates aus? Ebensowenig stichhaltig ist das psychologische Motiv, daß das
Beharren ans der kapitalistischen Produktion von der Arbeiterschaft als eine un¬
erträgliche Zumutung empfunden werden müsse. In den Köpfen der Arbeiter¬
massen hat sich nun einmal, nach Meinung der Kommrssionsmehrheit, die Idee,
wenngleich „in verschrobenen Formen", festgesetzt, daß es mit der Vorherrschaft
des Privatkapitals für alle Zeiten vorüber sein müsse. Wenn aber diese Vor¬
aussetzungen zuträfen, so folge aus ihnen ohne weiteres die Notwendigkeit der.
Sozialisierung. Wie dieselbe aber zu veranlagen wäre, darüber sind die Herren
«in grünen Tisch der Kommission nicht einig geworden.
Die Mehrheit der Sozialisierungskommission verwirft die einfache Ver¬
staatlichung des Bergbaus, denn der Staatsbetrieb habe sich als unwirtschaftlich
erwiesen und der Staatskapitalismus könnte aus dem Regen unter die Traufe
führen. Es sei daher zweckmäßiger, ohne Winkelzüge sich auf den Boden des
sozialistischen Prinzips zu stellen. Die Wünsche der Arbeiter aber gingen dahin,
die Betriebe durchgreifend zu dewokratisieren, das Kapital als gebietende Macht
auszuschalten und die Wirtschaftssähigteit auf die schaffenden Persönlichkeiten
auszudehnen. Das soll wie folgt geschehen: der gesamte deutsche .Kohlenbergbau
wird zu einem einheitlichen leistungsfähigen .Wirtschaftskörper umgeformt. Die
privaten Unternehmungen ebenso wie die des Staates gehen in das Eigentum
des Wirtschaftskörpers über. Es entsteht eine große gemeinwirtschaftliche Kohlen¬
organisation, deren Geschäfte durch Arbeiterschaft, 'Betriebsleitungen und die
Allgemeinheit geführt werden. 'Sie erwartet von ihrem Vorschläge, „daß der
Initiative, der Leistung und der Arbeitsfreudigkeit aller in dem Betriebe Tätigen
der weiteste Spielraum gegeben wird". Vor allem rechnet sie mit der „inneren
Anteilnahme des letzten Arbeiters am Erfolg des gemeinsamen Werkes". Die
„deutsche Kohlengemeinschaft", das leitende Wirtschaftsinstrument, dem auch
Verbraucher angehören sollen, würde demnach ein gemischt-wirtschaftliches Unter¬
nehmen darstellen, dessen Spitze sich gegen das Privatkapital richtet und insofern
dem Sozialismus dienstbar ist, an dessen .Fähigkeiten aber, die Kohlenwirtschaft
auf eine höhere Stufe der Entwicklung emporzuheben, man füglich zweifeln rann.
Um auch der Demokratie zu ihrem Rechte zu verhelfen, wird von der Kommission
ein weitläufiger Aufbau von Arbeitervertretungen innerhalb der Bergbaubetriebe
vorgeschlagen, doch sollen die Löhne nach den individuellen Leistungen bestimmt
werden. — Diese Grundzüge würden dem alten Wirtschaftssystem zwar einen
kräftigen Stoß versetzen, zur Sozialisierung aber Neuerungen.empfehlen, die
weder der Allgemeinheit Vorteile, noch den Sozialisten Erfüllung ihres Begehrens
in Aussicht stellen können. Der Abstand dieses Mehrheitsvotums von dem
zustande gekommenen Reichskohlengesetz prägt sich im Übergang des Privatbesitzes
an die Gemeinschaft laus.
Einer weit größeren Anpassung an die konkreten Verhältnisse hat die
Kommissionsminderheit sich befleißigt. Ihr ist in der Hauptsache auch der
Gesetzentwurf der Reichsregierung gefolgt. Die Minderheit verzichtet auf die
Erwerbung aller Kohlenbergwerke, zumal das eine riesenhafte Entschädigungs¬
summe erfordern würde, und legt das Hauptgewicht auf eine einheitliche Gesamt¬
organisation, in der die Arbeiter und Angestellten der Werke, der Staat und die
Abnehmer einen entscheidenden Einfluß erhalten sollen. Dieses Sondergutachten
betont, daß man die Initiative des Privatkapitalisten aus dem Bergbau nicht
ausschalten dürfe, um so weniger als die Technik gerade gegenwärtig in einer so
bedeutsamen Umgestaltung begriffen sei, daß nur zwingende Gründe es recht¬
fertigen könnten, den unentbehrlichen Unternehmungsgeist der freien Unter¬
nehmer zu unterbinden.
In der Nationalversammlung sind die Sozialisierungsgesetze einem kurze«,
aber heftigen Kreuzfeuer von Verteidigern und Angreifern ausgesetzt gewesen.
Man wird es verstehen können, daß ihnen von einem Redner der unabhängigen
Sozialdemokratie Halbheit und Hohlheit vorgeworfen wurde. Die unter dem
Titel der Gemeinwirtschaft sich einführende amtliche Sozialisierung läßt eben die
heißen Wünsche der marxistischen Schwärmer nach umgehender Aufrichtung einer
Wirtschaftsordnung im Sinne des konununistischen Manifestes vorerst unerfüllt.
Die kapitalistische Produktion in der Kohlenindustrie wird vom Gesetzgeber
einigermaßen schonend angefaßt, um eines der stärksten Fundamente unseres
Wirtschaftsblühens nicht willkürlich zu zertrümmern. Der bereitgestellte Kontroll¬
apparat wird aber, wie zu befürchten, die Zügel seiner Vollmachten strammer
anziehen als mit keiner normalen Entwicklung verträglich ist. Die allgemeinen
Grundzüge des Mantelgesetzes deuten zur Genüge an, wohin die Reise gehen soll.
Bon berufenster Seite find die Gesetze als Meilensteine bezeichnet worden; diese
liegen in der Richtung zu den Endzielen der sozialen Revolution. Die Auslegung
der Regierung, daß die Sozialisierung nichts anderes als eine gemeinwirtschaftliche
Regelung für solche Fälle darstelle, die dazu „geeignet" erscheinen, könnte
beruhigend wirken, wenn wir die Gewißheit hätten, daß die Entscheidung jedes¬
mal nur nach eingehender Beratung mit sachverständigen Autoritäten erfolgt.
Die Gutachten der Sozialisierungskommission sind für eine Stellungnahme
schlechterdings nicht ausreichend, weil sie von einem Geist akademischer Konstruk¬
tionen erfüllt sind und daher den realen Erfordernissen nicht hinreichend gerecht
werden. Wir meinen, daß bei der gesetzgeberischen Regelung der Kohlenwirtschaft
die Männer, die diesen Industriezweig bisher zu einer glänzenden Entwicklung
gebracht haben, nicht in solchem Maße zur Mitwirkung herangezogen worden
sind, wie es erwünscht fein muß, um zu verhüten, daß dem Produktionsprozeß
aus der Organisation Hemmschuhe erwachsen. Vielleicht aber ist es nicht zu spät,
den Möglichkeiten einer Beeinträchtigung vorzubeugen, denn die Wirkungen der
im Gesetz skizzierten Richtlinien werden hauptsächlich von den Ausführungs»
bestimmungen adh äugen.
Der Sozialismus marschiert! Die Datsache steht fest, Genugtuung über
sie aber kann man nur dann empfinden, wenn die Gemeinnützigkeit durch sie
zweifellos gefördert wird. Daß in dieser Beziehung sehr ernste Bedenken ob¬
walten, haben die eindrucksvoller Darlegungen von Gegnern der Sozialisierungs-
gesetze in der Weimarer Nationalversammlung bekräftigt. Auch am Regierungs-
tische wird mancher Zweifel aufgestiegen sein. Nachdenklich muß man gestimmt
werden, wenn der Neichsminister Wisset in der Sitzung vom 7. März aussprach,
daß er nicht wisse, „ob der Sturm (der sozialistischen Ideen) die weiten Lande
befruchten und den Boden für reicheres und schöneres Wachstum vorbereiten,
oder ob er unsere Heimat in ein Trümmerfeld verwandeln wird, in dessen Chaos
jedwedes menschenwürdige Leben unmöglich wird". Als „Kind des Sozialismus"
ist die Sozialisierung in die Welt gesetzt worden, mögen wir es nie bereuen,
diesem Geschöpf einer von wilden Gärungen durchwehten Zeit zum Leben
verholfen zu haben.
n meinem Tagebuche blätternd finde ich folgende Stelle: „Besuch
K. q,N'd v. B., Nachrichten von Offensive in Italien. Hypo
tscheu, was nach Friedensschluß eintreten wurde. K. erzählt von
MMvM D verändertem Bild öffentlichen Lebens in Deutschland, Hochkomme»
MWM^UM der „«r-^ulo", Passive Resistenz unter Urlaubern und in Etappe.
«l^lBMW Zunehmende Unehrlichkeit, Unterschlagungen, Verwilderung,
diesige Volksteile haben freiwillige, regelmäßige Arbeit vollkommen verlernt.
Niederer und mittlererer Beamtenstand wieder ganz neu zu schaffen, Sicherheits¬
dienst wird um vielfaches verstärkt werden müssen.- Genauestes (aber Wahrschein-,
lich unmögliches) Ineinandergreifen von Demobilisation bei dem Rohstoffmangel
erforderlich um Revolten zu vermeiden. Demobilisation bei dem Rohstoffmangel
erst bei ausgedehnter Feldarbeitsinöglichkleit angängig. Bis jetzt auf dem Lande
«ur ungenügend für angemessene Wohnverhältnisse und Siedlungsmöglichkeiten
vorgesorgt. Sehr gefährlich der zunehmende, fast mystische Glaube, daß mit Tag
d«s Miedensschlnsses goldnes Zeitalter anbreche, teils Leichtsinn, teils einzige
Aebenshoffnnng."
^ Diese Stelle stammt nicht etwa aus dem Oktober 1913, sondern aus dem
September 1V17 und wird hier angeführt wahrlich nicht etwa aus kläglichem
Triumphgefühl heraus, „es damals besser gewußt zu haben", sondern lediglich
um zu beweisen, daß der vielseitige Ideen- und Gefühlskomplex, den man jetzt
Bolschewismus nennt, im Keim schon lange vor der Revolution bestanden hat
und als eine unausbleibliche Begleiterscheinung des Krieges aufgefaßt werden
muß. Der Bolschewismus ist keine Theorie, 'die man in alten Büchern und
Manifesten von Marx oder Engel nachschlagen kann, er ist auch alles andere als
eine bloße Nachahmung des russischen Bolschewismus, er ist — darüber wird
man sich nach der jüngsten Bewegung hoffentlich endlich klar sein — keine künst¬
liche, durch ein paar Agitatoren hervorgerufene Hetze, sondern muß betrachtet
werden als die geistige Krankheit eines Volkes, das vier Jahre unter Anspannung
und teilweiser Überspannung seiner physischen und moralischen Kräfte Krieg ge¬
führt und ihn, was die Krisis der Krankheit allerdings beschleunigt und besmr-
ders heftig macht, am Ende verloren hat.
Die beiden Hauptcharakterzüge dieses Krankheitsbildes nun sind unstreitig
allgemeine Arbeitunlust und weitgehende Disziplinlosigkeit. Letztere äußert sich
vor allem in ungemessener Begehrlichkeit, Unzuverlässigkeit, Untreue, Sensations¬
lust, Hang zu Gewalttaten, ständiger dumpfer Gereiztheit, Widerspruchsgeist und
Lust zu tyrannisieren und andrere zu unterdrücken. '
Will man die Krankheit — falls sie heilbar ist! — heilen, so wird mein
Wohl oder übel der Herkunft dieser Symptome nachspüren müssen. Auch dabei
werden wir uns vorteilhaft das sachte und objektive Verfahren des Arztes zum
Muster nehmen, der weder über Kranken noch Krankheit in moralische Ent¬
rüstung verfällt, fondern klare Erkenntnis sucht und ohne Scheu auch vielleicht
unangenehme uno peinliche Dinge zur Sprache bringen muß, wenn sie dazu
dienen, den Zusammenhang aufzuklären.
Was zunächst die allgemeine Arbeitsunlust betrifft, so resultiert sie einmal
gewiß aus der bestehenden Unsicherheit und Ungewißheit aller Verhältnisse. So¬
dann aber auch aus der Gewöhnung des Krieges. Der Heimgekehrte hat die Ge¬
wohnheit angenommen, Dienst zu tun. Dieser Dienst wär je nach Lage der
Dinge anstrengend, gefährlich, aufreibend, anspruchsvoll, aber er war Dienst und
unterschied sich, insofern es sich um Frontdienst handelte, von dem, was man
„Arbeit" zu nennen gewohnt war, durch Ungewöhnlichkeit, Unregelmäßigkeit,
ständige Veränderung, zeitweises Aussetzen und das absolut stereotype
des dabei erzielten Gewinns und sozusagen Einkommens. Ob man
in Gefahr gewesen war oder nicht, ob man am Tage sechzig Zentner
Balken geschleppt hatte oder zwei, alle bezogen gleiche' Löhnung,
gleiche Kleidung, gleiche Unterkunft.' Dazu kam die 'Anonymität der
Tätigkeit. Das Blockhaus, das man baute, den Unterstand, den man
verschalte, den Graben, den man aufwarf, bezogen nach zwei Wochen vielleicht
schon andere, und so sehr an manchen Stellen Kameradschaftlichkeit und Arbeits-
trieb das Drückende des Dienstes erleichterten, so unwillig stellte man an anderen
Stellen sest, daß von dem Mehr der eigenen Arbeitsleistung nur der Flaue und
Drückeberger profitierte und daß auch die beste und tüchtigste Arbeit dem Kriegs¬
leben nichts von seiner Beschwerlichkeit zu nehmen vermöchte. Die Folge war,
daß, wo nicht unmittelbare Not, oder den einzelnen ein besonders ungestümes
Arbeitstemverament drängte, die Leute sich, mindestens in der zweiten Hälfte des
Krieges, auf eine möglichst geringe Arbeitsleistung einstellten. Der Etappen-
und Garnisondienst vollends hat unendlich viel Leute verdorben und demorali¬
siert. Es ist nicht nötig, hier im einzelnen auf die Ursachen dieser Erscheinung einzu¬
gehen, jeder, der längere Zeit mit offenen Augen in der Etappe gelebt hat, kennt
sie und die anderen werden sie nur schwer begreifen, weil sie sich nicht in das
Seelenleben des Etappenmannes hineinzuversetzen imstande sind. Nur das sei
hier erörtert, daß, besonders seit dem Erscheinen der gut und reichlich bezahlten
Hilfsdienstpflichtigen und Helferinnen, fast jeder auf dem Standpunkt stand, daß
für die kümmerlichen 53 oder 77 Pfennig Löhnung am Tage so wenig wie mög¬
lich zu leisten gewissermaßen Ehrenpflicht war. Auch hier wurde nicht gearbeitet,
sondern nur Dienst getan, ein Dienst, der unvermeidlicherweise nicht dazu an-
getan war, Geist, Körper und Seele frisch zu erhalten. Dazu kam dann noch
das ständige neiderweckende Vorbild der Offiziere, die schließlich auch nicht mehr
taten als ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür aber alle Vorrechte eines freien,
selbständigen und gutbezahlter Zivilmenschen genossen. Ganz gleichgültig, ob
diese Ansicht zu Recht oder Unrecht bestand, genug, d a ß sie bestand und die kin¬
dische Wut auf Epauletten und Kokarden ist auf diese Stimmung zurückzuführen.
Dazu kam dann in der Front wie in der Etappe die bei so langer .Kriegs¬
dauer und zunehmender Knappheit unvermeidliche Lockerung der Disziplin. Ge¬
horcht, wurde vielfach nur dem Buchstaben nach, und was der Soldat nicht bekam
oder nicht bekommen konnte, fing er an, sich selbständig zu „besorgen". Es ist
auch kein Geheimnis mehr, daß mancher Vorstoß an der Front nur ein Kampf
um die Lebensmittel im feindlichen Graben war und daß bei der Offensive auf
Amiens zu mehrere Regimenter nur deshalb nicht vorwärts kamen, weil sie die
Weinvorräte der feindlichen Etappe zu hastig nutzten.'
Endlich bei vielen das vollkommen Abenteuerliche und teilweise Phan¬
tastische der Existenz, vier Jahre nur auf Gewalttat, List, Kühnheit, Gewandt¬
heit gestellt zu fein, auf die Lust am Augenblick, ohne Rast, in der Fremde, Leben
voll Gefahr, voll Überraschungen, Unerwartetem, Unerhörten! Hat man wirk¬
lich geglaubt, der Mensch, der durch Belgien raste, in Rußland überwinterte,
durch den Wardar watete, in Bukarest einzog, nach Saloniki hinüuerspähte, Riga
eroberte, würde eines Tages aus Kommando wieder ohne weiteres ein braves
bürgerliches Leben anfangen wollen, ja auch nur können? Der Mensch, der
überall Herr und Eroberer war, dem Belgier schön taten, vor dem polnische
Juden dienerten, den Rumänenmädchen umschäterten, den die Bundesbrüder zu
Hilfe riefen, würde wieder ohne weiteres in die Enge eines Diener- oder An¬
gestelltenlebens zurückkriechen? Hat sich wirklich jemand ernsthaft vorgestellt, all
diese Leute würden eines Tages mit Gesang aus dem Kriege zurückkommen, um
tags darauf wieder an ihre Arbeit zurückzukehren? Vier Jahre, vier Kriegs-
jahre sind eine lange Zeit und es gibt wenig Menschen, deren Charakter nicht
irgendwie durch sie verändert worden wäre. Alle sind sie mehr oder weniger
und jeder nach seiner Art und seinen Schicksalen Berufssoldaten geworden und
die gewaltsame und plötzliche Umstellung kann naturgemäß nicht ohne heftiges
Schwanken vor sich gehen.
Und dann nach all den Müh- und Drangsalen, Sorgen und Ängsten, Ge¬
fahren und Hoffnungen die fürchterlichste Enttäuschung: die Gewißheit,' daß nun-
alles, alles umsonst gewesen ist. Und was finden die Zurückgekehrten in der Hei¬
mat, die ihnen so oft als Symbol der Hoffnung galt? Eine durch Hunger zer¬
mürbte Familie, die ihnen fremd geworden ist, in den Großstädten die traurig¬
sten Wohnverhültnisse mit Sorgen vor Mietssteigerungen und Kündigungen,
alles schlechter, enger, kleiner, knapper geworden als vor dem Kriege, alle Sorge,
alle Schinderei drückender geworden, Ersparnisse ausgezehrt oder bedroht, Exi¬
stenz in Frage gestellt, und wofür das alles? Alles, alles umsonst und kein Aus¬
weg sichtbar, dazu Grimm, daß das Unglück doch noch nicht ganz allgemein zu
sein scheint, Gerüchte über Kapitalflucht ins Ausland, über Eigennutz und Un¬
fähigkeiten. Und man wundert sich, wenn diese Leute die Verzweiflung packt?
Es kann nie die Rede davon sein, diese Verzweiflung oder gar ihre Äußerungen
ju rechtfertigen. Aber wie kann man sich darüber Wundern? Seit August 1913
mindestens war sie vorauszusehen.
Diese Leute können auch nicht mehr gehorchen, weil sie den Glauben an die
Autorität verloren haben. Jahrelang haben sie sich allem, was Achselstücke oder
Gehrock trug, unterworfen, und doch wurde der Krieg verloren. Dann machte
Man die Erfahrung, daß ganze Stäbe vor ein paar Entschlossenen bedingungslos
kapitulierten, daß aber die Entschlossenen auch nichts Besseres schafften. „Also
Ma Teufel doch mit allem, was befehlen will, befehlen ist Unsinn! Kein Mensch
kann mehr etwas ändern". So argumentiert der primitive Verstand, und ist es
gar so erstaunlich, daß er so argumentiert? Wieviele Bürger benehmen sich bei
gewöhnlichen Verkehrslappalien würdiger?
Und nun Warten diese Leute auf das Unerhörte, auf das Wunder, das sie
retten kann. Das Wunder aber kommt nicht. Keine Hand rührt sich. Die
Nationalversammlung tut sich -groß in Parteigezänk, in Anklagen herüber und
hinüber, die nichts mehr ändern, in Hu-Rufen und ostentativem Lachen, die Ne¬
gierung fleht, verantwortet sich, proklamiert, theoretisiert, nur keine Tat. Keine
Sozialisierung, keine Heimstätten, keine Wuchergesetze. Statt dessen Verfassungs¬
entwürfe, Debatten über Heeresreformen und Landesfarben. Keine Idee, kein
Ideal, nichts, kein Ausweg. Es ist dem Arbeiter völlig gleichgültig, ob sein
Staat Preußen oder Hannover heißt, -schließlich gleichgültig, ob andere schwere
Steuern zahlen müssen, er selbst will leben können, gut leben können, würdig
leben können, der Krieg soll sich gelohnt haben. Aber was da in der National¬
versammlung vor sich geht, das ist Herrengezänk.
Und in dies Chaos der Verzweiflung, des gänzlichen Verratenseins fallen
ein paar Schlagworte wie Sozialisierung, Kommunismus und — Bolschewis¬
mus. In jeder Zeit-ungsspalte ist davon die Rede. Vom Bolschewismus reden
immer zwei von drei Plataeer. Hier ist das Unerhörte Bild geworden, das
Grausige, Gewalttätige, Zerstörende, Sinnlose, Berauschende, Unerhörte, das
straflose Wüten, Mord, Brand, Blut, Rauch, Weltuntergang. Dazu die
Atmosphäre, die die Tagespresse schafft. Sechs Getötete auf der Chausseestraße
(was waren sechs Tote im Kriege!) nennt man um der Sensation willen ein
„Blutbad", jeder neue Streik geschäftstüchtig mit fetter Überschrift aufgemacht
wie eine Heldentat, Straßenschlächten geschildert wie homerische Kämpfe, und die
durch die Niederlage benommenen, unterernährten Hirne über demoralisierten
Mägen sollten nicht in einen Taumel des Wahnsinns geraten?
Endlich die Erwerbsgier besonders der Reklamierten. Es war gewiß ein
Unglück, daß die Durchführung des Hindenburg-Programms nur bei unerhörten
Löhnen gewährleistet werden konnte, gewiß ein Unglück, daß diese Löhne nicht
wenigstens in Naturalien oder Material oder Möglichkeit von Landerwerb oder
dergleichen ausgezahlt werden konnten^ es widersprach doch aber der Erfahrung des
alltäglichen Lebens, daß einmal angenommene Lebenshaltung sich ohne Schwierig¬
keiten wieder zurückschrauben lassen würde. Niemand läßt sich seine Lebens-
gewohnheiten ohne Kampf nehmen, und die Begehrlichkeit der Massen, die man
rief, wird man sobald nicht wieder los werden. Die Arbeiter haben recht Wohl
gemerkt, daß es im Kriege nicht auf eine Handvoll Intellektueller ankam, Wohl
aber auf jeden Handgriff mehr eines Arbeiters, und sie tun das, was jeder Kauf-
mann vor und — im Kriege tat, sie nutzen die Konjunktur aus. Gewiß sehr ver¬
werflich. Aber ein Volk, das so viele Kriegsgewinnler gesehen hat, daß deren
Besteuerung fast als die einzig mögliche Rettung vom Staatsbankerott erscheint,
sollte das Verwundern über solche Verwerflichkeiten allmählich verlernt haben.
Wo ist die Rettung aus dieser unheilbar scheinenden Lage? Die Losung
muß heißen: Arbeiten und nicht politisieren. Ringe nicht die Hände über die
Schlechtigkeiten der Spartakisten, fondern gebt der Masse, statt Moraltraktätchen
führende Ideen. Begeisternde Ideen. Verstand ist etwas Individuelles, Ver¬
nunft etwas für Philosophen, Massen haben Gefühle. Schafft Taten, die aufs
Gefühl wirken, streitet nicht um Vorrechte, fondern schafft Beispiele, die mit¬
reißen, zirkelt nicht Kompetenzen ab und erwägt Verd>:enstmöglichkeiten, sondern
handelt um der Sache willen. Millionen haben sich ins Unvermeidliche fügen
müssen, warum sollen nicht auch einmal Hunderttausende sich fügen müssen, auch
wo's ohne grobe Ungerechtigkeiten nicht abgeht? Pocht nicht auf Rechte, wo alle
nur gleiches Unglück zu tragen haben. Kam die Negierung bereits im Dezember
mit den Zugeständnissen heraus, die sie sich jetzt hat abringen lassen, viel Unheil
wäre vermieden worden. Es mag durchaus sein, daß dem schwere und gewichtige
Bedenken gegenüberstanden (und ganz -gewiß auch noch gegenüber stehen!), aber
es hätte Begeisterung geschaffen, und die haben wir jetzt nötiger als alles, nötiger
noch als Lebensmittel. Schafft so viel Begeisterung, daß keine Agitation mehr
dagegen auf kann. Aber vertrödelt nicht die Zeit mit Prinzipienerwägung.
Wie man mit gutem Willen leicht ersehen kann, ist das Vorstehende nicht
geschrieben, um den Bolschewismus zu rechtfertigen oder zu entschuldigen,
sondern um ihn erkennen zu lehren. Denn nur wenn man sich über das
Elmentarc der Bewegung, die auch mit dem letzten Berliner Aufstand noch
lange nicht endgültig niedergeworfen sein wird, klar geworden ist, wird man es
vermeiden, ihr mit Hausmittelchen beikommen zu wollen, wo es einer
methodischen Kur bedarf. Die Notlage der Regierung foll keineswegs verkannt
werden, und ebensowenig die Schwierigkeit, die für viele darin liegt, um- oder
hinzuzulernen und die endgültigen praktischen Konsequenzen aus dem verlorenen
Kriege zu ziehen, aber je entschlossener und klarsichtiger das geschieht, desto rascher
werden — nicht vielleicht wir -—aber Deutschland die Krisis überwunden haben.
Und kein Kokettieren mehr mit Bürgerstreiks und dergleichen. Das hieße
die Berechtigung der Arbeiterstreiks, die ganze niederträchtige Methode, die in
ihnen liegt, anerkennen. Und was wird geschehen, wenn der Bürgerstreik wirk¬
lich durchgeführt wird? Beim übernächsten Bolschewistenaufstand wird der
streikende Bürger erschlagen werden, und da er in der Minderzahl ist, wird das
Ende — Rußland sein. Wehe den Unbelehrbaren!
osen und Westpreußen find im Sinne des Wilsonschen Punktes 13
niemals unzweifelhaft polnisches Land gewesen. Im Gegenteil:
NW^'^W Westpreußen verdankt alles, was die Gegenwart aus der
UjM^MH Vergangenheit übernommen hat, was es an historischen
Erinnerungen und Schätzen besitzt, dein Deutschtum: und auch in
Posen ist es in aller Geschichte das Deutschtum gewesen, das die
Provinz wirtschaftlich und kulturell vorwärts gebracht hat. Schon der erste
selbständige Posener Fürst, Mieszko der Dritte (1142—1202), zog zur Hebung
der Landeskultur deutsche Zisterziensermönche aus der Nähe Kölns ins Land; das
dreizehnte Jahrhundert sah dann in breitem Strom deutsche Bauern und Bürger
nach Posen hineinfinden. Von den polnischen Fürsten, namentlich Wladislaus
Ldonicz, Przemisl dem Ersten, Boleslaus dem Frommen und Przemisl dem
Zweiten (1202—1296) herbeigerufen und unter Leitung der Kirche, besonders des
Zisterzienserordens, kamen die deutschen Bauern schurenweise nach Posen gezogen:
sie brachten die technischen Kenntnisse und die Arbeitskraft mit, die zum Aus¬
trocknen der Sümpfe und zum Roben der-Wälder gehörten; sie waren doppelt so
leistungsfähig wie der Polnische Bauer. Wenn das Landmaß, nach dem das
Land an die deutschen Kolonisten vergeben wurde, die deutsche Hufe, zu 30, die
-Polnische nur zu 15 Morgen gerechnet wurde, so bedeutete das nichts anderes,
als daß die deutsche Landwirtschaft mit ihren besseren Geräten und der größeren
Erfahrung des Bauern zur selben Zeit das Doppelte leistete als die slawische. Wie
'gewaltig diese Kolonistcnzüge waren, beweisen am besten die zahlreichen Städte,
die die polnischen Fürsten mit ihnen gründen konnten. Nach schlesischen Muster
wurden diese Städte nach bestimmtem Schema angelegt und ebenso wie übrigens
viele Bauernsiedluttgen mit deutscheu: Rechte bewidmet. Damals entstanden die
Kolonialstadt Gnesen neben der alten Landeshauptstadt als erste deutsche
Kolonialstadt (vor 1243), ferner Powidz, Meseritz, Kostschin, Hohensalza, die
Kolonialstadt Posen (auf dem linken Wartheuser, 1253), Fraustadt, Sabrina,
etwas später Nogasen, Sander, Gosthn usw. Überall richteten sich die deutschen
Bürger dieser Städte nach -deutscher Sitte ein: sie wählten Bürgermeister und
Rat für die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten; die Rechtsprechung führte
ein Schöffenkollegium unter Vorsitz des Erbvogts; die Vertretung der Bürger¬
schaft übernahmen die Ältesten der Innungen, die sich überall sofort bildeten.
Auch deutsche Juden kamen mit den christlichen Kolonisten in die Provinz; sie
lockte der Handelsverkehr, der jetzt erst aufblühte; fast in jeder Stadt gab es eine
besondere Straße, die Jüdenstraße, für sie.
Gleichzeitig ging die Kolonisation Westpreußens vor sich. Hier hatte sich
die polnische Herrschaft seit dem ersten Viertel des zwölften Jahrhunderts auf das
Herzogtum Pommern (das bis an die Weichselmündnng reichte) erstreckt; diese
Herrschaft über einen Teil der Ostseeküste war jedoch nicht von langer Dauer.
1181 ging Pommern westlich der Persante den Polen verloren und 1227 auch
das östliche Pommern mit Pomerellen. Kurz vorher (1225) hatte der polnische
Herzog Konrad von Masovien den Deutschen Ritterorden zu Hilfe gegen die
heidnischen Preußen gerufen; damit kam der Machtfaktor nach Westpreußen, der
den Landen an der unteren Weichsel am tiefsten feinen Charakter aufgeprägt hat;
noch heute ist Westpreußen das alte Ordensland. Mit dem deutscheu Ritter kam
auch nach hier der deutsche Bauer und Bürger; eine große Reihe deutscher
Bauerndörfer ist heute noch in der Provinz als Ordensgründungen nachweisbar;
und an deutschen Städten entstanden gleich in den ersten zehn Jahren nach
Ankunft des Ordens Kulm (1231), Thorn (1232), Marienwerder (1233) und
Elbing (1237). Sie alle haben ihren deutschen Charakter dem äußeren Stadtbilde
nach, aber auch nach der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung bis zum
heutigen Tage bewahrt. '
Die Geschichte des deutschen Ordens braucht hier nicht weiter verfolgt zu
werden; es ist bekannt, daß er im Thorner Frieden (1466) den größten Teil der
heutigen Provinz Westpreußen an Polen abtrat. Hundert Jahre (bis 1569)
blieb das Land nur durch Personalunion mit Polen verbunden; dann wurde die
preußische Verfassung gewaltsam umgestoßen und Westpreußen staatsrechtlich
mit Polen vereinigt. Es ist bis 1772 in dieser Verbindung geblieben. Natur¬
gemäß hat in dieser Zeit das vorher überwiegend deutsche Land einen sehr viel
stärkeren polnischen Einschlag erhalten. Aber eins muß betont werden: diese
Zeit der polnischem Herrschaft ist für die blühenden Gemeinwesen an der unteren
Weichsel eine Zeit absoluten Niedergangs. Danzig erlebt allerdings um die
Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts seine Blüte; aber Danzig
hatte sich immer seine selbständige Stellung bewahrt; es war in seiner inneren
Verfassung und Zusammensetzung ja niemals auch nur eine Spur polnisch und
verdankte seine Blüte nicht etwa der Zugehörigkeit zum polnischen Reich, sondern,
wenn man so sagen darf, der damaligen weltwirtschaftlichen Konjunktur. Für
alle übrigen ^Städte aber und das ganze Land bedeutete die Zugehörigkeit zu
Polen die Verkümmerung; mit den: Ende des sechzehnten Jahrhunderts begann
für das polnische Volk überhaupt die Periode des materiellen und moralischen
Niedergangs, die bis zu den Teilungen gedauert hat. An diesem Niedergang hat
Westpreußen seinen vollen Anteil genommen; als Friedrich der Große 1772 daS
Land übernahm, war es buchstäblich in Schmutz und Elend verkommen.
In Posen beginnt der Niedergang des Deutschtums schon früher, wenn¬
gleich es im vierzehnten Jahrhundert, namentlich unter Kasimir dem Großen
(1333—70), der unter anderem Bromberg gründete, eine Nachblüte erlebte. DaS
fünfzehnte Jahrhundert aber brachte die Austragung des Gegensatzes zwischen
Polen und dem Orden. Hand in Hand damit spitzten sich die Gegensatze zwischen
den deutschen Städten im Lande und dem polnischen Adel immer mehr zu; die
Selbstverwaltungsrechte der- Städte wurden eingeschränkt und die königlichen
oder grundherrlichen Rechte wuchsen; trotz günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse
begann das deutsche Bürgertum der Polonisierung zu unterliegen. Sie machte
im sechzehnten Jahrhundert große Fortschritte. Nur im Westen der Provinz, wo
auch die Einwanderungen 'nicht ganz aufhörten, hat sich das Deutschtum
behauptet; Städte wie Fraustadt und Meseritz haben den deutschen Charakter
ihrer Bevölkerung auch damals nicht verloren. Sehr ungünstig wurde aber
bereits überall die Lage des deutscheu Bauern; die freiheitlichen Einrichtungen
des deutschen Rechts verschwanden im fünfzehnten Jahrhundert unter der länd¬
lichen Bevölkerung völlig, überall sank sie zur völligen Unfreiheit herab. So
wäre das Deutschtum in Posen, abgesehen von dem immer deutsch gewesenen
West- und Südgürtel, Wohl untergegangen, wenn nicht im sechzehnten und
namentlich im' siebzehnten Jahrhundert, unter Wladislaus dem Vierten
(1632—48), eine zweite deutsche Einwanderung eingesetzt hätte. Die Not des
Dreißigjährigen Krieges und religiöse Wirren trieben die Ansiedler nach Polen,
wo damals günstige Existenzbedingungen lockten. So wanderten Tausende und
Abertausende von deutschen Städtern aus Schlesien in die posenschen Städte des
Südens und Westens, die dadurch sämtlich großen Bevölkerungszuwachs
erfuhren. Während seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Städte¬
gründungen seltener wurden, entstand jetzt wieder eine Reihe von Städten, zum
Beispiel Nawitsch, Schwersenz, Grätz, Schlichtingsheim, Unruhstadt usw.; sür
ihren Aufbau und ihre Verfassung war das mittelalterliche Beispiel maßgebend.
Wieder war diese Einwanderung des städtischen Elements von einer Kolonisation
des Landes durch den deutschen Bauern begleitet. Sie kamen hauptsächlich aus
Brandenburg und ebenfalls aus Schlesien, daneben aber auch aus dem Osten
von Preußen her. Besiedelt wurde zunächst das Netzetal und die Kreise Brom¬
berg und Hohensalza; in dieser Gegend waren es neben den Einwanderern aus
Brandenburg auch holländische Kolonisten, die im sechzehnten Jahrhundert die
Danziger Werber besiedelt hatten und dann die Weichsel aufwärts vorgedrungen
waren, überall mit den Erfahrungen, die sie aus ihrer Heimat mitbrachten, die
Flußniederungen urbar machend. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts
breiteten sie sich dann auch im Norden der heutigen Provinz Posen aus. Diese
Einwanderungen erklären es, daß, wie wir noch sehen werden, das Deutschtum
und der deutsche Besitz an Grund und Boden gerade an Weichsel und Netze so
stark sind. Übrigens beschränkte sich diese deutsche Einwanderung keineswegs auf
die Flußtäler und den Netzedistrikt; namentlich un siebzehnten Jahrhundert voll¬
zog sich aus Schlesien eine große bäuerliche Einwanderung in den Süden und
die Mitte des Landes. Bis tief ins siebzehnte Jahrhundert hinein hat diese Ein¬
wanderung gedauert. Den Polen entging es nicht, daß fast alles, was an bürger¬
licher und bäuerlicher Betriebsamkeit im Lande vorhanden war, nicht der
Polnischen, sondern der deutschen Bevölkerung angehörte; der Posener Woiwode
Stephan Garczynski sprach das 1751 offen aus. Trotzdem hatten die Deutschen
und die Juden, die auch in der zweiten Kolonisationsperiode wieder mit ihnen
zusammen ius Land gekommen waren, keinen leichten Stand; die Protestanten
wurden völlig entrechtet und aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet, ja in
Thorn kam es durch den polnischen Fanatismus zum Blutvergießen. Auch die
Juden hatten unter zahlreichen Blutprozessen und Justizmorden (so in Gnesen
1722, 1738, Posen 1736) schwer zu leiden. Aber das Deutschtum ist doch nicht
wieder, wie nach der ersten Einwanderung, im Polentum aufgegangen; es hat
sich namentlich auch auf dem Platten Lande behauptet; als Posen preußisch
wurde, waren nicht weniger als allein vierhundert deutsche sogenannte Holländer
Dörfer vorhanden (die freilich nicht alle von Holländern, sondern zum Teil von
anderen deutschen Ansiedlern gegründet sind). So sind die beiden Provinzen durch
den Gang der Geschichte zweisprachig geworden, doch so, daß in Westpreußen und
im Netzedistrikt das Deutschtum dominiert; wir werden Noch sehen, wie sich dieser
historisch gewordene national gemischte Charakter des Landes in den neuesten
Volkszählungsdaten wiederspiegelt.
1772 ist Westpreußen und der Netzedistrikt, 1793 der südliche, größere Teil
der Provinz Posen preußisch geworden. Der Anstoß zu den Teilungen ist von
Katharina der Zweiten ausgegangen; Preußen konnte nicht ganz Polen in
russische Hände fallen lassen. Aber es brauchte Westpreußen als Verbindung
Zwischen seinen mittleren Kerngebieten und Ostpreußen; es hatte auch durchaus
ekn inneres Unrecht auf dieses alte deutsche Land. Und es brauchte Posen zur
Verbindung zwischen Ost- und Westpreußen und Schlesien; dazu gehörten
geographisch das Warthegebiet und Brandenburg eng zusammen; es ist
bezeichnend, daß schon am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts ein Piasten-
Herzog, Wladislaus von Oppeln, den Gedanken hatte, die Wartheebene zu
Brandenburg zu schlagen. Seit hundert bis hundertfünfzig Jahren sind Posen
und Westpreußen nun deutsch. Was der preußische Staat in dieser Zeit für die
beiden Provinzen geleistet hat, läßt sich kaum in wenig Worten sagen; von
Friedrich dem Großen an, der sich in jeder Weise bemühte, Westpreußen bald¬
möglichst auf >das Niveau der übrigen preußischen Provinzen zu heben, ist es vor
allem die Arbeit des Staates und des deutschen Beamtentums gewesen, die die
beiden Provinzen aus tiefer Armut und Verkommenheit zur heutigen Blüte
gebracht hat. Für das polnische Volk ist diese Arbeit von großem Segen gewesen;
ihm ist dadurch von Preußen geschaffen worden, was es aus eigener Kraft nie
entwickelt hat Und zum Beispiel in Galizien bis hente nicht besitzt: ein selbständiger
lebensfähiger Bauernstand und ein städtisches Bürgertum. Wenn trotzdem das
Polentum sich mit seinem Schicksal, das es doch durch eigene große historische
Versäumnisse heraufbeschworen hat, nicht ausgesöhnt hat, so liegt die Schuld nicht
am Deutschtum, das überhaupt in seiner Geschichte einen Nationalhaß gegen das
polnische Volk nicht kennt, und auch nicht am preußischen Staat. Er hat dem
Polentum oft genug, 1815 sowohl wie auch nach den Aufständen von 1830, 1846
und 1848, die Hand zur Versöhnung entgegengestreckt. Die Schuld liegt vielmehr
am Polentum, in dem immer trotz allem, was es dem Deutschtum verdankt, eine
scharfe Abneigung gegen die Deutschen lebendig war; schon die erste deutsche
Kolonisationsepoche löste bei den Polen eine deutschfeindliche Gegenbewegung
aus, deren Führer der damalige Erzbischof von Gnesen, Jakob Swinka
(1283—1313), war. Und serner hat das preußische Polentum nie ein Hehl
daraus gemacht, daß es sein Bestreben sei, sich wieder von Preußen loszulösen.
Dagegen hat sich der preußische Staat zur Wehr gesetzt, und, wie man auch über
seine Maßnahmen im einzelnen denken mag, das Recht dazu wird ihm niemand
absprechen können. Er hatte dazu ein um so größeres Recht, als er 1815 von den
ehemals polnischen Gebietsteilen nur soviel behalten hatte, als unbedingt nötig
war, um die Verbindung Mischen Schlesien und Preußen zu sichern. Den
Zusammenhang dieser Gebiete aber mit dem Deutschen Reiche zu wahren, war
um so mehr seine Pflicht, als in ihnen eine deutsche Bevölkerung wohnt, die im
ganzen dem Polentum an Zahl gewachsen, an Grundbesitz, an' wirtschaftlicher,
finanzieller und kultureller Bedeutung ihm aber überlegen ist.
Verstaatlichung der Krankenhilfe. In
einer Zeit, wo Millionen Menschen vom
Sozialismus alles Heil der Welt erwarten,
kann es nicht überraschen, wenn auch der
Ruf nach Verstaatlichung der Krankenhilfe,
ein alter Programmpunkt der Sozialdemo¬
kratie, wieder von neuem erschallt. „Während
der heutige Staat", so lautet die Begründung
des Erfurter Programms durch Kautsky, „den
Geistlichen besoldet, weil dieser ein Arzt der
Seele ist, hat er sich noch nicht dazu bereit
gefunden, den für das Wohlergehen des
Menschen so wichtigen Arzt des Leibes zum
Staatsdiener zu machen. Die Gesundheits¬
pflege ist eine so hervorragende gesellschaft¬
liche Aufgabe, daß die weiigehendsten Ma߬
regeln in diesem Betracht nur zu billigen
sind." Nebenbei sei erwähnt, daß die Bezug¬
nahme auf den Geistlichen insofern nicht ganz
zutrifft, als einer der ersten Negierungsatte
des Sozialismus der Versuch der Trennung
von Staat und Kirche, d. h. die Entfernung
des Geistlichen aus dem Staat! dienst war.
Für die gesamte Krankenhilfe dagegen
verlangen bereits jetzt die Unser im Streit
eine Verstaatlichung; und es erscheint nicht
ausgeschlossen, daß man bald versuchen wird,
die Theorie in die Praxis umzusetzen. Nach
dem Erfurter Programm soll die ärztliche
Hilfe vollkommen unentgeltlich sein; die
Ärzte werden sestbesoldete Beamte, die vom
Staat angestellt werden und daher auch vom
Staat an beliebige Stellen versetzt werden
können. Der Arzt würde danach seine fest¬
gesetzte Arbeitszeit haben. Er würde sich nicht
wie jetzt Tag und Nacht um seine Kranken
Plagen müssen. Außerhalb der „Bureau¬
stunden" würde ein Wachidienst ihn entlasten.
Gruße Institute würden eingerichtet, in denen
ritte Spezialitäten vertreten wären und in denen
die ambulanten Kranken nach dem Stande
der modernen Wissenschaft behandelt werden
sollten. Die Besuche in den Wohnungen der
Kranken sollen möglichst wegfallen. Bett¬
lägerige Kranke würden in die Krankenhäuser
aufgenommen und dort gleichwie die ambu¬
lanten auf Kosten des Staates behandelt.
Das ist ungefähr das Proqramm der
Verstaatlichung der Krankenhilfe, die bestimmt
sein soll, eine ungeahnte Blüte der Volks-
gesundheit zu erzeugen.
Eine grundsätzliche Frage müssen wir bei
der Diskussion borwegnehmen: Der Aus¬
gongspunkt der ganzen sozialistischen Idee ist
die angeblich fortschreitende Proletarisierung
der Arbeitermassen durch eine Verstaatlichung
der Produkiioiismittel zu beseitigen. Ver¬
staatlichung ist also nur Mittel zum Zwecke
(der Abschaffung der Kapitalismus).
Bei der Verstaatlichung der Krankenhilfe
bezweckt man erstens soziale Fürsorge für das
Proletariat (durch unentgeltliche Krankenhilfe),
zweitens Hebung der Volksgesundheit.
Winde diese Absicht erreicht werden?
Es ist zweifelhaft, ob materiell die Ar¬
beiter bei einer Sozialisierung besser dastehen
werden als jetzt. Allerdings würden die
Kosten für Arzt, Arznei, Krankenhaus usw.
ganz aus dem Steuersäckel der Allgemeinheit
bestritten werden. Bei der heutigen Kranken¬
kassengesetzgebung bezahlt zwar formell der
Arbeiter zwei Drittel der Krnnkenkassenbei-
träge, der Arbeitgeber ein Drittel. In der
Praxis aber kann man sagen, daß (durch
Anpassung der Lohnverhältnisse) die Arbeit¬
geber zum mindesten den größten Teil der
Kosten tragen. Für das Proletariat würde
es sich also nur um eine Verschiebung der
Kostenfrage, wahrscheinlich sogar, infolge des
ungleich kostspieligeren Beamtenapparates, um
eine ganz wesentliche Verteuerung handeln.
Der zweite Grund zur Sozialisierung,
die Vervollkommnung der Gesundheitspflege,
dürfte noch weniger stichhaltig sein. Ein
großer Teil der Krankenpflege ist bereits in
den Kranken'assen halb und halb verstaatlicht.
Daß nun eine weitere Verstaatlichung, d. h.
Verbeamtung des Nrztestandes wirklich im
Interesse der Volksgesundheit liegen sollte,
darf sehr bezweifelt werden. Wird z. B. bei
großen Epidemien, wie die letzte Grippe¬
epidemie, wo Anforderungen zwölf-, vierzehn-
und mehrstündiger Arbeitszeit an die Arzte
gestellt wurden, der beamtete Arzt wirklich
mehr leisten als der freie? Wird das Persön¬
liche Interesse am einzelnen, an der Familie
des Kranken, beim Beamten größer sein als
jetzt? Gewiß, durch die Kassengesetzgebung ist
dieses außerordentlich bedeutsame Moment
herabgemindert worden,. am meisten beim
sogenannten fixierten Ärztesystem (beznksweise
mit Fixum angestellte Arzte), das allgemein als
das schlechteste gilt. Sollen wir diesen Übel¬
stand nun weiter verschlimmern oder sollten
wir nicht vielmehr Wege einzuschlagen suchen,
die das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt
und Kranken zu verbessern suchen, das sub¬
jektive Moment wieder mehr zur Geltung
bringen?
Zusammenfassend ist also zu sagen, daß
die grosse sozialethische Idee des Sozialismus,
die Beseitigung der Ausbeutung für unseren
Fall vollkommen außer Betracht bleibt. Nur
das Bestreben schematisch alles zu sozialisieren,
erklärt die Ausnahme in das Programm.
Vom rein materiellen Standpunkte aus
könnte ein relativ großer Teil der Arzte mit
der Verstaatlichung ganz zufrieden sein. Ist
es doch ein ganz erheblicher Prozentsatz, der
mit schtveren Sorgen kämpft und sich heute
im aufreibenden Kampf ums tägliche Brot
abmühen muß, dem ein sorgenloses Leben in
Aussicht gestellt wird. Trotzdem eine, abge¬
sehen von wenigen sozialdemokratischen Ärzten,
so gut wie einstimmige Ablehnung des Pro¬
jekts in der Ärzteschaft, auch unter denjenigen,
die materiell wesentlich besser gestellt sein
würden. Warum? — Es handelt sich hier
um die grundsätzliche Frage der besten Art
der Sorge für die Volksgesundheit, um die
Auffassung des ganzen ärztlichen Berufs, der
nach der Meisten Ansicht nur in der Freiheit
gedeihen kann. Es gibt Wohl kaum einen
Beruf, der sich weniger in ein Schema zwän¬
gen läßt, als der ärztliche. Soll es etwa
ein Vorteil für den Kranken sein, wenn er
nicht den Arzt seines Vertrauens wählerv
kann, sondern sich zu dem ihm zugewiesenen
Bezirksarzt begeben muß? Denn von dem
beamteten Arzt mit festgesetzten Bureaustunden,
dem die Kranken seiner Tüchtigkeit wegen
zuströmen sollten, wird man nicht erwarten
können, daß er sich bis spät in die Nacht
abmüht. Nach Ablauf seiner Arbeitszeit wird
er die Praxis dem übergeben, der an seiner
Stelle den „Dienst" übernimmt. Das per¬
sönliche Interesse, das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient wird auf diese
Weise gewaltsam ertötet, das menschliche im
ärztlichen Beruf untergraben werden. Weiter:
der Staat ist genötigt sparsam, zum mindesten
in Anlehnung an einen bestimmten Etat zu
wirtschaften. Die strenge Ökonomie der jetzigen
Kassenrezeptur, die Kontrolle aller teuren
Medikamente, kostspieligen Methoden würde
von der Kassenpraxis auf die gesamte Praxis
übertragen werden. Dies kann aber keines¬
wegs ini Interesse der Volksgesundheit sein.
Im Gegenteil ist es doch wünschenswert, die
weitherzigste, ja schrankenlose Auffassung in
der Aufbringung von Heilmitteln zu fördern.
Wenn wir überhaupt die ärztliche Praxis
verstaatlichen, müssen wir auch die Wohl¬
habenden, die es ja vorläufig auch im weit¬
gehend sozialisierten Staat geben wird, in
diese Verstaatlichung hineinbeziehen; denn,
beschränkten wir uns nur auf die ärmeren
und mittleren Kreise, so würden wir dazu
beitragen, die sozialen Gegensätze, die zu mil¬
dern unsere vornehmste Aufgabe ist, zu ver¬
schärfen. Es würde dann Arzte einerseits
für Wohlhabende, andererseits solche (beam¬
tete) für die übrige Bevölkerung geben. Wie
kommt auch die Gesamiheit dazu, den Wohl¬
habenden Arzt und Krankenhaus ohne Ent¬
gelt zu verschaffen? Die Bedenken türmen
sich aber haushoch, wenn wir die Landpraxis
betrachten. Der beschäftigte Landarzt, der
Tag und Nacht für seine Kranken unterwegs
ist, wird als Beamter zweifellos eine bequemere
Berufsauffassung haben, wenn er sich mit
seinem gleich oder höher bezahlten Kollegen
in der Schreibstube mit streng begrenzter
Arbeitszeit vergleicht.
Überhaupt ist das vollkommen regellose
der ärztlichen Tätigkeit etwas, das sich schwer
in ein Beamtentum einfügen läßt. Wir haben
jetzt erst im Kriege gesehen, wie tausende von
Ärzten Wochen- und monatelang müßig da¬
saßen, während andere an anderen Stellen
sich überarbeiteten. Im Frieden sind ja nun
allerdings die Verhältnisse nicht so unregel¬
mäßig, wie im Kriege, immerhin aber doch
so veränderlich, daß eine sehr große Anzahl
von Ärzten vom Staat besoldet werden müßte,
die in der Regel nichts oder wenig zu tun
haben, aber für den Fall der Not (Epidemien,
Krieg) vorhanden sein müßte. An die Kosten
auch nur zu denken, müßte jedem Finanz-
Politiker Schwlndelgefühle erregen. —
Eine Verstaatlichung wäre eine Prämie
auf die Mittelmäßigkeit, eine Lahmlegung
aller treibenden Kräfte für den Fortschritt
der Wissenschaft. Der materielle Erfolg einer
großen Praxis wird nun einmal einen An¬
reiz zu erhöhter Tätigkeit für viele geben;
das zu leugnen bedeutet nicht Idealismus,
sondern weltfremde Theorie.
Die sozialistische Idee ist in ein entschei¬
dendes Stadium getreten. Wenige Wochen
haben genügt, um uns das Versagen des
ganzen Prinzips darzutun, uns die Vorzüge
des Individualismus wieder in helleres Licht
zu rücken.
Möglich, daß man jetzt versuchen wird,
damit doch wenigstens etwas geschieht, auf
dem im Verhältnis zur wirtschaftlichen Ge¬
samtheit relativ kleinem Gebiet der Kranken¬
hilfe Experimente anzustellen.
Diejenigen, die Verständnis für den Wert
freier Berufe, freier Menschen überhaupt
haben, werden versuchen, es zu verhindern.
Vielleicht aber müssen die Menschen erst aus
dem Mißerfolg, dem Versagen der Idee ler¬
nen; vielleicht müssen wir auch hier durch
ein Stadium offensichtlichen Bankerotts hin¬
durch, um zu vervollkoinmneteren, sozialeren
Formen des Individualismus zu gelangen.
Die leidende Menschheit dürfte aber in
unserem Falle die Kosten des Experiments
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
er Verlust des Krieges und die Revolution Hot zu einer Um¬
wertung oller Werte geführt. Auch Bismarcks Heldengestalt ist
hiervon nicht verschont geblieben. Er, der bisher als einer der
größten Staatenbrldner oller Zeiten galt, wird jetzt in Minister¬
reden und amtlichen Denkschriften als politischer Stümper geschil¬
dert, der Pfuschwerk geliefert habe. Es wird ihm zum Vorwurf
gemacht, daß er das Teutsche Reich unter Ausschluß von Osterreich als einen
Bund der Fürsten und freien Städte uuter preußischer Hegemonie, nicht als
Bolksstcmt, gegründet auf die freie Selbstbestimmung der ganzen Nation, errichtet
habe. Seine Behandlung der elsaß-lothringischen und noÄdschleswigschen Frage
-wird als verfehlt «bezeichnet. Es iwird vollständige Abwendung von der Bismarck-
schen Machtpolitik gefordert. Diese neue Bewertung Bismarcks kommt zum Bei¬
spiel, in einer Unterredung zum Ausdruck, die Ministerpräsident Scheidemann
kürzlich einem Mitarbeiter der „B. Z. am Mittag" (Nummer vom 12. Februar)
gewährt hat. Ferner findet sie sich in der Denkschrift des Neichsministers Preuß
zum vorläufigen Entwurf der Reichsverfassung. Auch die Rede von Professor
Herrner in ver Hochschule für Musik in Berlin am 17. November v. Is. (ab¬
gedruckt in der Flugschrift „Großdeutschland oder Kleindeutschland?") ist hier zu
erwähnen. Wesentlich höher als diese Ausführungen steht die bereits vor der
Revolution veröffentlichte Studie des konservativen Politikers Dr. Grcibowsky
„Geist und Politik" im „Neuen Deutschland" vom 1. August 1918.
Wenn Scheidemann behauptet, die besten Geister der klassischen Periode
unserer Politik seien für ein Großdeutschland auf breiter demokratischer Basis ge¬
wesen, so übersieht er, daß die Frankfurter Nationalversammlung, indem sie am
^8. März 1849 mit 299 Stimmen bei 248 Stimmenthaltungen den König
Friedrich Wilhelm den Vierten von Preußen zum erblichen Kaiser der Deutschen
vählie, sich für ein Kleindeutschland mit monarchischer Spitze und unter preußi-
cher Hegemonie entschied, das mit Osterveich ein enges völkerrechtliches Bündnis
schließen sollte. Also genau das, was Bismarck 1866, 1870/71 und 1879 ge¬
schaffen hat. Bismarck steht also gar nicht in schroffem Gegensatz zu den Ge¬
danken von 1848, wie Scheidemann glauben machen will; er hat vielmehr voll¬
endet, was im Jahre 1848 die Mehrheit des deutschen Volkes erstrebt hat. So
"npfanden es auch die alten Demokraten der Revolutionszeit, wie der Brief
Milz Reuters vom 4. September 1866 beweist, in dem er Bismarck dafür dankt,
M er die Träume seiner Jugend und die Hoffnungen des gereiften Alters zur
Eßbaren und im Sonnenschein glänzenden Wahrheit verwirklicht habe. Ein
'Gegensatz besteht nur insofern, als die Demokraten von 1848 glaubten, auf fried-
Uche Weise erreichen zu können, was, wie Bismarcks Scharfsinn erkannte, nur
°urch „Blut und Eisen" zu gewinnen -war. Im Hauptpunkte, dem Ausschluß
Osterrei6)S, stimiinte man überein. Und in der Tat war, solange Deutsch österreich
mit den slawischen Gebieten und Ungarn ein Reich bildete, das eine eigene, den
deutschen Interessen oft widersprechende Politik trieb, ein deutscher National¬
staat nur ohne Osterreich denkbar. Jetzt ist durch den Zerfall der österreichisch-
ungarischen Monarchie glücklicherweise das größte Hindernis für den Anschluß
Teutschösterreichs an das Deutsche Reich weggefallen. Es ist unverständlich, Wie
Scheidemann das übersehen konnte.
Der Vorwurf, das; Bismarck das Deutsche Reich als Qbrigkeitsstaat und
nicht als Volksstaat begründet habe, ist ebenso unberechtigt. Im Jahre 1866
war das ganze deutsche Volk gegen den Bruderkrieg mit Osterreich, der doch, wie
die Erfahrungen des Jahres 1848 gezeigt hatten, das unvermeidliche Mittel zur
Einigung Deutschlands war. Wie hätte da Bismarck seine Politik im Ein¬
vernehmen mit dem preußischen Abgeordnetenhause oder einem deutscheu
Parlament machen können? Im übrigen scheinen Scheidemann und Preuß nicht
zu wissen, daß Bismarck im April 1866 tatsächlich ein Bundesparlament mit
allgemeinem Wahlrecht vorgeschlagen hat, daß aber der Hohn bes ganzen Volkes
dem „Reaktionär" antwortete. Wenn Bismarck die militärische' Überlegenheit
Preußens 1866 und die Volksstimmung 1870 dazu benutzt hätte, um Deutschland
unter stärkerer Beschneidung der Rechte der Einzelstaaten einheitlicher zu gestalten,
so hätte er bei den Dynastien und den dynastisch gesinnten Bolksterlen der
kleineren Staaten viel unnötige Erbitterung erregt, die er vermeiden wollte.
Bismarck war eben ein viel behutsamerer und vorsichtigerer Politiker als unsere
heutigen Demokraten wie Scheidemann und Preuß. Daß es 1877 nicht zum
Eintritt Bennigscns und seiner Freunde in die Negierung kam, wodurch eine Art
Übergang zum parlamentarischen System vollzogen worden wäre, mag uns
heute als Unglück erscheinen. Aber das wäre beim alten Kaiser nicht durch¬
zusetzen gewesen, und man kann auch dem Manne, der 1862 an die Spitze des
Staates getreten war, um Preußen vor dem Parlamentarismus zu bewahren,
keinen Vorwurf daraus machen, daß er 1877 der Einführung des parlamen¬
tarischen Regiments nicht die Hand bieten wollte. Als treuer Diener seines
Königs konnte Bismarck eine solche Minderung der Machtvollkommenheit der
Krone nicht in Kauf nehmen. Wäre er aber nicht dieser treue Diener gewesen,
dann hätte er nicht der Einiger Deutschlands werden können. Hier zeigt sich
eben die historische Bedingtheit dieser gewaltigen Erscheinung. Kann man also
Bismarck selbst billigerweise nicht einen Vorwurf aus seinem mangelnden
Entgegenkommen gegen die Demokratie machen, so liegt hier eine schwere Ver¬
säumnis seiner Nachfolger -vor. Sie, die von den historischen Bindungen
Bismarcks frei waren, hätten durch rechtzeitige und gründliche Reform des
preußischen Landtags- und Gemeindewahlvechtes und die Aufnahme von
Parlamentariern in die Regierung die gefährliche Spannung zwischen der
monarchischen Gewalt und der immer stärker anwachsenden demokratischen
Strömung zu mildern suchen müssen. Hier wäre Abweichung von den Bismarck¬
schen Methoden mehr im Geiste echt Bismarckscher Politik gewesen als starres
Festhalten. Insbesondere ist es unser Unglück gewesen, daß Bismarcks Nach¬
folger zu der modernen Arbeiterbewegung nicht das richtige Verhältnis zu finden
wußten. Sie hätten erkennen müssen, daß mit patriarchalischer Fürsorge allein,
mit Arbciterversicherung und Arbeiterschutzgesetzgebung, dieser Bewegung nicht
beizukommen war, daß man die Sozialdemokratie vielmehr zur positiven Mit¬
arbeit in Staat und Gemeinde heranziehen mußte, wenn man sie aus einer
revolutionären in eine Reformpartei umwandeln wollte.
Ich will auf die elsaß-lothringische, polnische und dänische Frage nicht ein¬
gehen, da dies den Rahmen meines Aufsatzes sprengen würde. Dagegen möchte
ich Bismarcks auswärtiger Politik nach 1871 und der auswärtigen Politik von
Bismarcks Nachfolgern noch einige Betrachtungen widmen.
Haben wir der Bismarckschen Machtpolitik unser Unglück zuzuschreiben?
Eine Bejahung dieser Frage ist schon aus dem Grunde unmöglich, weil die Poli¬
tik der Nachfolger Bismarcks sich wesentlich von der Bismarckschen Politik unter-
scheidet. Das ist schon oft ldargelegt -worden. ^) Bismarck ging in seiner Politik
nach 1871 von der Ansicht aus, das; Deutschland „saturiert" sei. Nur zögernd
ist er an den Erwerb von Kolonien herangetreten und deren Verwaltung durch
kaufmännische Gesellschaften, denen der Staat lediglich seinen Schutz lieh, war
sein Ideal.") Die Politik Wilhelms des Zweiten war im Gegensatz hierzu eine
Expansionspolitik, eine Politik des „größeren Deutschlands". Von 1895 bis zum
Ausbruch des Krieges war diese Politik lediglich aus Pflege unserer überseeischen
Beziehungen, Schutz unseres Handels durch eine starke Flotte, Vergrößerung und
Ausbau unseres Kolonialreiches gerichtet (Weltpolitik). Erst während des
-Krieges ist der Gedanke der kontinentalen Expansion (Angliederung des Balti¬
kums und Litauens) aufgetaucht. Trotz ihres expansiven Charakters war jedoch
die Politik Wilhelms des Zweiten im Gegensatz zu derjenigen der anderen Welt¬
mächte durchaus friedfertig.
Lag nun der Fehler unserer auswärtigen Politik darin, das; wir Bismarcks
Ansicht von Deutschlands „Saturiertheit" ausgegeben haben? Sicherlich nicht.
Vielmehr war der Übergang Deutschlands zu einer expansiven Politik eine
Naturnotivendigkeit; falsch waren nur die Methoden unserer Politik.
Bismarck wußte Wohl, daß wir infolge unserer geographischen Lage stets
von der Gefahr einer übermächtigen Koalition bedroht sind. Er suchte daher
durch ein kunstvolles Bündnissystem Deutschland nach allen Seiten zu sichern
und das revanchelüsterne Frankreich zu isolieren. Mit Osterreich und Italien
schloß er den Dreibund, mit Rußland und Rumänien einen Rückversicherungs-
d ertrag; aber auch den Engländern hat er sich anzunähern versucht. Schon in
den Jahren 1.875 bis 1878 fanden Verhandlungen statt, 1879 wünschte Bismarck
eine Ergänzung des Dreibundes durch den Anschluß Englands, und nur der
Sturz von Veaconsfield durch Gladstone brachte den Plan zum Scheiter«. Trotz¬
dem gab Bismarck seine Bemühungen nicht aus, wie sein Bries vom 22. No¬
vember 1887 an Lord Salisbury beweist. °) Bismarck wußte Wohl, daß wir auf
die Bundes treue Italiens nur rechnen konnten, solange wir England zum
Freunde hatten.") Wenn das A und O Bismarcks nach seiner Entlassung die
Rückkehr zu Nußland war, so wäre es falsch, hieraus den Schluß zu ziehen, daß
er «in Bündnis mit England abgelehnt hatte. Hammann hat nachgewiesen, das;
Bismarcks Ermahnungen viel mehr an den Erlebnissen der sechziger und sich-
!»iger Jahre des vorigen Jahrhunderts als an denen der letzten zehn'Jahre seiner
Amtstätigkeit hafteten. °)
Es fragt sich nun, ob nicht Bismarcks Nachfolger insofern einen schweren
Fehler begangen haben, als sie das Bismarcksche Bündnissystem durch Nicht-
berlängerung des Nückversicherungsvertrages mit Nußland und Lockerung des
^ündnisses mit Italien verfallen ließen, ohne die sich ihnen bietende Gelegen¬
heit zu anderen Bündnissen (England) zu benutzen. Vielleicht hat Hoetzsch recht,
wenn er sagt, der Bülows Zeit charakterisierende Grundsatz, nach allen Seiten
Unbedingt freie Hand zu behalten, mußte, wenn sich die Gegensätze unversöhnbar
verschärften, zu einer Isolierung Deutschlands führen.") Gewiß lag die Mög¬
lichkeit' vor, daß Deutschland, wenn es eine feste Anlehnung nach Westen oder
Osten suchte, in Abhängigkeit von der betreffenden Macht geriet, aber die Gefahr
der Isolierung war doch noch größer. Und wenn man gegen das Bündnis mit
England die Gefahr des kriegerischen Zusammenstoßes mit Nußland angeführt
hat, 5) so hat uns die Erfahrung gezeigt, daß unsere Politik der „freien Hand" die
Kriegsgefahr erst recht yeraufboschworeu hat. Den Grund für den verhängnis¬
vollen Entschluß, jede Bindung England oder Rußland gegenüber abzulehnen, er¬
blickt Hammann darin, daß der einflußreichste Mann des Auswärtigen Amtes,
Geheimrat Holstein, in der von Bismarck als Wahnsinn bezeichneten Vorstellung
lebte, der Antagonismus zwischen diesen beiden Mächten sei eine unabänderliche
Tatsache.") Der Irrglaube Holsteins ist umso unverständlicher, als der englisch--
Ministerpräsident Salisbnrh bereits in seinen Reden vom 15. August und
19. November 1896 den Nüssen Konstantinopel -angeboten und als Ch-amberlain
im Januar 1901 ganz offen erklärt hat, England werde, wenn sich der Anschluß
an bey Dreibund als unmöglich erweise, ein Zusammengehen mit dem Zwei¬
bund, selbst uuter schweren Opfern, ins Auge fasten müssen.") Statt in Bünd¬
nissen, glaubte unsere Negierung allzu einseitig in einer immer weiteren Ver¬
stärkung der Rüstung die''beste Sicherung Deutschlands zu finden; nur zu oft
mußten Wehrvorlagen die Fehler der Diplomaten ausgleichen. Das ist das Be¬
rechtigte in den Angriffen auf den Militarismus. Die Sorge für ein großes
und tüchtiges Heer war richtig; aber der Glaube, uns allein auf unser Heer ver¬
lassen und der Bundesgenossen entraten zu können, war falsch.
Entschieden 'wir uns für Aufgabe der Politik der fr-eien Hand, so lag es am
nächsten, die -englischen Bündnisangebote anzunehmen.Wenn die letzten Ver¬
handlungen über ein Bündnis auch erst in der Zeit vom Januar bis Mai 1901,
also nach den beiden deutschen Flottengesetzen vom 24. März 1893 Und 12. Juni
1900 stattfanden, -woraus man den Schluß ziehen könnte, daß unser Flottenbau
kein Hindernis der -deutsch-englischen Annäherung war, so spricht doch vieles
dafür, daß die deutsch-englische Freundschaft nur Bestand haben konnte, wenn
wir auf den Bau unserer Schlachtflotte verzichteten. Aber war dieser nicht über¬
haupt, wie Delbrück meint, ein Fehler? Unsere Flotte war gerade groß genug,
um uns die tödliche Feindschaft Englands zuzuziehen, aber nicht groß genug, mu
uns vor der Aushungerung zu bewahren. Der Grundgedanke unserer Politik,
daß zum Schutze unseres Handels ello Flotte genügen werde, welche die Feinde
aus Furcht vor allzu große» Verlusten nicht anzugreifen wagen würden, hat sich
als falsch erwiesen; wir hätten hierzu eine Flotte haben müssen, die uns ermög¬
licht hätte, den Feind anzugreifen und zu schlagen. Bülow selbst hat einmal an
>Hammann geschrieben, wenn wir bei unseren -Flottenrüstun-gen den Nachdruck
mehr auf die Defensive (Unterseeboote, Minen, Küstenbefestigungen) legen
würden, fiele der Hauptgrund der -Spannung mit England weg, und vielleicht
wäre es auch für unsere eigene militärische Sicherheit besser.") Leider ist nicht
nach diesen Worten gehandelt worden. Während Heer und Flotte Vernünftiger¬
weise im Dienste der Politik stehen müssen, stand, wie Bülow selbst zugibt, um¬
gekehrt unsere Politik im Dienste des Flottenbaues. Wie Frankreichs Beispiel
zeigt, hätte die Anlehnung an England durchaus nicht den Verzicht ans eine Fort¬
führung unserer Kolonialpolitik zu bedeuten brauchen. Auch in der Türkei wäre
eine Abgrenzung der Arbeitsgebiete möglich gewesen. Hat doch Salisbury be-
Veith 1895 dem ^Deutschen Kaiser eine Teilung der Türkei angeboten.Hätte»
wir durch eine viel großzügigere innere Kolonisation die Abwanderung nach den
Städten eingedämmt und die treibhausartige Entwicklung der Exportindustrie
verlangsamt, so wäre das für unser Volk durchaus kein Unglück gewesen.
Wenn endlich gegen das deutsch-englische Bündnis die Volksstimmung an¬
geführt wird, so ^t darauf zu erwidern, daß diese Volksstimmung durch das
Krüger-Telegramm genährt worden ist, und das; die Regierung, weil sie eine eng¬
landfeindliche Stimmung für die Durchsetzung ihrer Flottenpiäne gut gebrauchen
konnte, diese nicht mit der nötigen Entschiedenheit' bekämpft hat. Unter Be¬
nutzung der alten liberalen Sympathien für England hätte es sonst nicht schwer
fallen können, die Volksstimmung umzuwerfen. Leider haben wir nicht bloß die
englischen Bündnisangebme abgelehnt, mir haben sogar dreimal eine Verständigung
mit England über Marokko zurückgewiesen. (1893, Januar und August 1901)
Erstrebten wir umgekehrt eine Anlehnung an Nußland, so mußten wir
darauf verzichten, als Schutzherren der Türkei aufzutreten.^) Wir mußten eiuen
Ausgleich zwischen den russischen und österreichischen Balkaninteressen anstreben,
vielleicht in der Weise, daß Osterreich den maßgebenden Einfluß im Westen mit
Saloniki. Rußland den im Osten mit Konstantinopel erhielt. Hat nicht Bismarck
gesagt, Deutschland habe geradezu eine Interesse daran, daß sich Rußland in
Konstantinopel festsetze?^) Nachdem die mit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten
0894) einsetzende ostasiatische Politik Rußlands, die übrigens niemals populär
gewesen ist, 1905 zusammengebrochen war, mußten wir damit rechnen, daß Ru߬
land sich den Balkanfragen wieder mit erhöhter Tatkraft zuwenden werde, und
wenn wir dann unsere Hand über die Türkei hielten, so trieben wir Rußland
geradezu in die Arme Englands, das nach der entscheidenden Wendung der Jahre
1902/1903 die Türkei dem Gedanken einer deutsch-feindlichen Koalition zu opfern
bereit war. siegte in der russischen Regierung der auf die Zertrümmerung
Österreich-Ungarns gerichtete Panslavismus. so konnte allerdings auch die vor¬
sichtigste Politik Deutschland nicht vor dem Zusammenstoße mit dem Osten be¬
wahren. Um so sorgiältiger hätten wir daher unsere Beziehungen zu England
Wegen müssen. In Wirklichkeit taten wir das verkehrteste, was überhaupt mög¬
lich war. Wir schufen gleichzeitig gegen England und Rußland neue Reibungs¬
flüchen. Aus der Politik der „zwei Eisen im Feuer" wurde eine Politik „zwischen
Äwei Stühlen."
Aber nicht nur die Ziele unserer auswärtigen Politik waren zum Teil falsch,
unsere Politik war auch zu inkonsequent. Nachdem wir durch NichtVerlängerung
»es RückVersicherungsvertrages, den Umschwung in der Polenpolitik und den
Helgoland-Sansibar-Vertrag eine scharfe Wendung von Rußland nach England
gemacht hatten, verscherztcn wir die neu gewonnene Freundschaft wieder durch
unseren Einspruch gegen den Versuch Englands, mittelst eines Stückes des Kongo-
Uaates eine Verbindung zwischen seinen Kolonien im Nord-Osten und Süden
Afrikas herzustellen, durch unser Zusammengehen mit Rußland und Frankreich
gegen England und Japan in Osiosien. durch den törichten Bluff des Krüger-
«'ii'grammes, durch den Bau der Schlachtflottte und die Zurückweisung englischer
^nnäherringsversuche. Die dauernde Freundschaft Rußlands gewannen wir aber
trotzdem nicht wieder zurück. So halfen wir selbst die feindliche Koalition zu-
ilwttnenschmieden.
Vergleicht man unsere Politik vor und nach 1890 miteinander, so erkennt
wem„ wieviel vorsichtiger Bismarck war, als die Politiker des Zeitalters Wilhelms
Zweiten. Die Vorstellung von dem Kürassier, der mit brutaler Gewalt
gearbeitet habe, ist völlig falsch. Richtig ist die Feststellung von GrabowIly. daß'
Bismarcks Politik der Systematik entbehrte. Grabowsky glaubt das daraus zurück¬
führen zu müssen, daß in Bismarcks Seele die ethisch-religiöse und die politische
Welt unverbunden nebeneinander standen. Doch fehlte den großen Zielen der
Bismarckschen Politik (der Einigung Deutschlands, seiner Sicherung gegen Angriffe
und seiner Beteiligung am Kolonialbesitz) nicht die ethische Verechtigung. Ebenso¬
wenig kann man die friedliche Expansionspolitik Wilhelms des Zweiten moralisch
verurteilen. Selbst ein so scharfer Gegner der Altdeutschen wie Erzberger betont
in seiner Schrift über den Völkerbund, daß Deutschland bei der Verteilung der
Welt zu kurz gekommen sei. Er weist nach, das; vor dem Krieg zehn Engländer über
7V- Quadratkilometer, zehn Portugiesen über 3 Quadratkilometer, zehn Belgier
und Franzosen über 2V? Quadratkilometer, dagegen zehn Deutsche nur, über
0,3 Quadratkilometer Kolonialland verfügten, so daß die Engländer sünfund-
zwanzigmal, die Portugiesen zehnmal und die Franzosen achtmal so gut gestellt
waren wie die Deutschen.^» Es ist sonderbar, daß diejenige Partei, welche die
Besitzungleichheit im bürgerlichen Leben so scharf bekämpft, die Sozialdemokratie,
die Besitznngleichheit zwischen den Völkern so ruhig hinnimmt, ja jeden Versuch
zur Beseitigung dieses Zustandes als „fluchwürdigen Imperialismus" brandmarkt.
Das ist doch höchst unlogisch. Unsere Machtpolitik diente tatsächlich der Gerech¬
tigkeit. Sie war unanfechtbar in dem Ziele des „größeren Deutschland", aber
falsch in ihren Mitteln. Auch im Frieden von Brest-Litowsk haben wir den
Nüssen keine russische Erde weggenommen, während uns die Feinde uralt deutsches
Land rauben wollen, wir haben nur von den Russen unterjochte Fremdvölker
befreit. Die Entgegensetzung von Imperialismus und Idealismus, die Ebert in
seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung vorgenommen hat, ist also
durchaus unberechtigt.
Nicht Bismarck, sondern Goethe, nicht Potsdam, fond^.n Weimar sind jetzt
beliebte Schlagworte. Sie sind wohl auch bei der Wahl des Ortes für die
Nationalversammlung nicht ohne Einfluß geblieben. Ich bin der Ansicht, daß
wir gar keinen Grund haben, jetzt Bismarck zu verleugnen. Wir brauchen beide,
Bismarck und Goethe, und noch ein dritter Großer mag uns jetzt leuchtendes'
Vorbild, sein: der Freiherr vom ^dem. Vielleicht das Furchtbarste, was uns die
letzten Monate gebracht haben, ist die Zerreißung aller historischen Zusammen¬
hänge, die brutale und sinnlose Vernichtung unendlicher Gefühle der Ehrfurcht
und Liebe, die sich an die alten Einrichtungen hefteten. Um so mehr müssen wir
bestrebt sein, in unseren Nachkommen das Verständnis und die Bewunderung für
die großen Männer unserer Vergangenheit zu wecken und zu störten.
as bisherige Deutsche Reich Bismnrckscher Prägung ist Wohl eine
nationale Daseinsform, doch im Grunde genommen keine natio¬
nale Leistung gewesen. Zwar das alte Reich aus der mittelalter¬
lichen Zeit war in seiner Idee ebenfalls nicht national, sondern
universell-theokratisch begründet. Aber als geschichtliche Leistung
ging «s nichtsdestoweniger aus der Dumpfheit spontaner Kräfte,
eins der Schöpsertat'unbewußt selbständiger Energien im Volke der Deutschen
hervor, so daß die persönliche Verkörperung jener universell-theokratische« ^dee
zum ewigen Sinnbild des nationalen Kraft- und Gemeiuschastsgedankens wurde,
von heiligen Dämpfen umwittert: der Kaiser.
Mit seinem Zerfall hatte das alte Deutsche Reich in den deutschen Landen
eine vielfältige Anzahl dynastisch zusammengehaltener Territorialstaaten zurück¬
gelassen. Da es eben diese territorialen Sondergewalten und dynastischen Eigen¬
bestrebungen gewesen waren, die Jahrhunderte lang im Innern des Reichs-
gefüges gewühlt hatten, um es endlich zu sprengen, so mußte es eine geschichtliche
Notwendigkeit sein, daß der wiedergeborene, volkstümlich eigenmächtige Selbst¬
schöpfungsdrang der Nation sich in einem bewußten und gewollten Gegensatz zu
den bestehenden dynastischen Staatswesen befand. So lag das Verhältnis der
deutschen Einheitsbewegung um 1848. Und es ist nun das Seltsame, daß
dennoch die neue deutsche Reichseinheit sich nicht aus der Wirkung von Kollektiv¬
kräften des nationalen Willens ergab, sondern daß sie das Werk eines einzelnen
Mannes war, eines Mannes, dessen Staatsgefühl hauptsächlich im „Royalis-
mus", wie er selber gern sagte, seinen Grund hatte: in der Monarchie, die er
vorfand, Ä. h. im dynastischen Staat. In den fünfziger und sechziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts ist die „deutsche Sache" für Bismarck ein sehr wichtiger
Teilbezirk, wahrscheinlich der wichtigste, aber immerhin doch nur ein Teilbezirk
der preußischen auswärtigen Politik gewesen und nichts anderes. Er hat in
dieser Hinsicht das Wort von Preußens „Beziehungen zum deutschen und außer¬
deutschen Auslande" gebraucht. °) Die Frage der deutschen Einheit war für ihn
in demselben Augenblick zu einer Lebensfrage seiner Politik geworden, da er er¬
kannte, daß sie sich am einfachsten lösen ließ durch eine entsprechende Macht-
erweiteruug Preußens, die sie sozusagen indirekt aufhob. Die Gewalt der
preußischen Krone sollte mittelbar das kleindeutsche Gesamtgebiet und das Ge-
santtvolk umfassen. Freilich war er nicht unbedeutend genug, um den ethischen
Wert, den die alte Volksbewegung für sein Ziel haben mußte, zu übersehen oder
außer acht zu lassen. Er kam ihr entgegen und nahm sie bereitwillig auf. Er
hob sie teilweise in seine eigenen Bestrebungen hinein, um sie gleichzeitig un¬
schädlich zu machen. Aber er hat sie nicht bloß benutzt. 'Denn er ist ein Mann
von ehrlicher Gesinnung und patriotischen: Gewissen gewesen, der aufrichtig
daran gearbeitet hat, zwischen dem Monarchismus und dem nationalen Gedanken
eine Synthese zustande zu bringen, d. h. letzten Endes: zwischen den beiden
Kräften des Kollektivbewußtseins in der Nation mit ihrem Ideal eines Bolks-
kcn'sertums und 'dem dynastischen Herrschaftsprinzip über Untertanen und Terri¬
torien, — Kräften, die ihrem Ursprünge nach ein Gegensatz waren. Und aus
jeden Fall sollte immer der überlieferte Rechtszustcind der monarchischen „Autori¬
tät" den Vorrang haben und das Entscheidende sein, und nicht etwa „die Barri¬
kade." Das Produkt dieser Staatskunst war naturgemäß nicht eine Schöpfung
der selbsttätigen Kräfte in der Nation, die von innen nach außen ihre Form ge¬
staltet, um sich in ihr darzustellen, sondern es war mehr eine oberhalb geschehende
Zusammenfügung dynastischer Machtflächen unter der Kuppel einer dynastischen
Vormacht. Darum könnte man sagen, in .seiner Struktur sei das bisherige
Deutsche Reich eine vorwiegend dynastisch geartete Leistung gewesen. Daß es
sich so verhielt, trat unter Wilhelm dem Zweiten ganz besonders in die Er¬
scheinung.
Bismarck hatte gewissermaßen in dem Skelett des Neichsgefüges eine Lücke
für das Rückgrat gelassen, die nur er ausfüllen konnte. Nach seinem Abgang
stand die Lücke leer. Die nachfolgenden .Kanzler versagten und mußten ver¬
sagen; denn die von der .neuen Tradition ihnen auferlegte Pflicht war zu schwer
für Männer, die keine Genies waren. Und der Reichstag ist neben Bismarck und
unter dem Druck der genialen Stärke dieses großen Einzelnen nicht fähig ge¬
wesen, sich zu entwickeln und die von ihm getragene volkstümliche Kraft des er¬
neuerten Kaisertums wirklich wachsen zu lassen. So blieb zunächst nur das
Gesetz mit seinen behördlichen Umständlichkeiten, es blieben nur die verfassungs-
mäßige Anlage und ihre im Bundesrat ausgedrückte dynastische Basis. Nun
wollte der junge Kaiser in die Lücke einspringen. Es ist zweifellos, daß er den
besten Willen gehabt hat, den Kaisergedanken ganz zu ergreifen und in der Rein¬
heit seiner nationalen Idee zu verwirklichen. Es wäre seine Aufgabe gewesen,
das Selbstschöpferische an Volksenergie, das in diesem Gedanken enthalten ist, sich
anzueignen, um es zu entbinden, mit Lebendigkeit anzufüllen und über die
dynastischen Geltungen der höfischen Überlieferung und der geschriebenen Reichs¬
verfassung zu heben. Aber er gelangte nicht zu dieser Erkenntnis. Am Ende ist
es gleichgültig, woran es lag, daß es so kam, ob mehr an einer verfassungsmäßig¬
legitim vorherbestimmten Befangenheit in dynastischer Denkweise oder mehr an
den höfischen Antrieben seines Temperaments: jedenfalls kam es fo, daß er die
nationale, in der geschichtlich gewordenen Selbsttätigkeit des Volkstums wur¬
zelnde Geltung der kaiserlichen Gewalt mit einer rein dynastischen Gewalt immer
wieder verwechselt hat. Beides schob sich" ihm ineinander, und das letztere
Moment behielt für ihn, den überbewußten Inhaber erblicher Kronen, fort¬
während das Übergewicht und verzehrte das aridere. Anstatt das alte Volks¬
kaisertum von neuem zu schaffe», schuf er nun erst recht ein dynastisches Kaiser¬
tum. Er schuf es so sehr, daß seine Regierungsart deu Eindruck erweckte, als ob
sie die höchste Zuspitzung der dynastisch gehaltenen Staatsidee, den Absolutismus,
wieder heraufbringen solle. Dieser dynastisch bewußte Charakter bestimmte die
Politik unter seiner Regierung nach innen und außen. Selbst die See- und
Weltpolitik, die er zum größeren Ruhme des Reiches ins Werk gesetzt hat, war
in ihren letzten'Motiven eine Aufführung dynastischen Glanzes.' Wilhelm der
Zweite trieb Übersee- und Kolonialpolitik nach denselben Gesichtspunkten, wie
die alten Portugiesischen und spanischen Könige des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts Kolonialpolitik getrieben hatten. Sie blieb keine organische, aus
innerer Notwendigkeit geschiehende Entfaltung, sondern er wollte hastig und bei
zeder nur möglichen Gelegenheit eine pomphafte Macht in die weiten Welten hin¬
aussetzen.
Ais es offenkundig 'wurde, daß diese Macht sich mit ihren militärischen
Mitteln übernommen hatte, fühlte das Volk sich mißbraucht. Es wehrte sich,
keineswegs gegen das Kaisertum an und' für sich, dessen innerliche Bedeutung
der Kern der Nation nicht im geringsten anzutasten gedachte, sondern gegen die
dynastische Zurichtung der kaiserlichen Gewialt. Man wollte überhaupt die
dynastisch geartete Schichtung der ganzen NeichsaNlage abschaffen. Das Schwer- -
gewicht in den wägenden Kräften der Reichsfouveränität und Neichseinheit sollte
sich verschieben auf die Mittelpunktsenergie der Nation und in das Volk selbst
hineinverlegt werden, indem es sich verfassungsrechtlich im Reichstage festsetzte,
in der gegebenen Darstellungsform dieses Volkes. Dies bezweckte vermutlich der
echtere Sinn im geschichtlichen Willen der sogenannten Parlamentarisierung
während der kurzen Ära des Prinzen Max von Baden, die eigentlich schon ein«
innere Umwälzung war und eine friedliche Revolution.
Aber bevor diese friedliche Umwälzung noch richtig fertig sein konnte, fuhr
die Klafsenrevolution der Novembertage -in sie hinein, -wodurch' auch jene erst zur
wirklichen „Revolution" wurde. Der glühende Fieberatem der revolutionären
Stimmung fegte hinauf bis in die mittleren Lagerungen der bürgerlich genann¬
ten Volksklassen und wirbelte sie durcheinander. Viele von ihnen empfanden
das Aufflackern einer unklaren Freude, weil sie das dunkle Gefühl hatten, daß
sie nun all den Plunder, der vom Wiener Kongreß, vom Neichsdeputationshaupt -
Schlusz von 1803 und vom Westfälischen Frieden von 1643 her noch übrig ge¬
blieben war, mit einem Male los werden konnten. Und in der Tat, die dynastisch-
territorialen Gebilde, deren -Gestänge das Leben der Nation seit Jahrhunderten
umklammert hielten, fielen -wie tote Gehäuse von dem zuckenden Leibe herunter.
Der Körper des Volkslebens bäumte sich und -warf sie ab.
Im praktischen Verlauf wurde aber die politisch-nationale Umwälzung von
der sozialen Klassenrevolution in brutaler Weise hinweggeschnellt oder z-um
weMg-
sten daran gehindert, sich ab- und aufzuwickeln und mit ruhiger Folge¬
richtigkeit zu dein zu werde», >was man eine organi-sche Evolution nennt. Woher
-bezog die Klassenrevolution diese «breite Kraft und Gewalt, so das; sie die andere
umstieß? Die innere Plötzlichkeit des ganz Unmittelbaren und unwiderstehlich
, Nottvendigeil hat ihr gefehlt. Sie «war kein -geistiger Aufstand und kein seelischer
Aufruhr voll schwerfälliger Inbrunst, wie zum Beispiel die religiöse Reformation
unseres Volkes im sechzehnten Jahrhundert. Ihr revolutionäres Prinzip be¬
richt« bloß auf der theoretisch aufgespeicherten Entwicklungs- und Machtbegier
eines Standes. Wahrscheinlich ist der Antrieb in diesem Prinzip vor einigen
Jahrzehnten sogar viel lebensvoller gewesen, als in der jüngeren Vergangenheit.
Er hatte inzwischen seine erste Heftigkeit -verloren, und das Prinzip'selbst war
zu einem Lehrbegriff geworden, der sich in verschiedene Theorien spaltete, so daß
man in Büchern und mit Worten darüber herumstritt, .was nun eigentlich
„Revolution" sei. Und es ist vorderhand nicht zu begreifen, aus welchem
Grunde sie gerade in dem Zeitpunkt, als sie ausbrach, zur Wirklichkeit werden
mußte. Denn es verhält sich keinesfalls so, wie es der Bolschewik Sobelsohn,
genannt Nadel', immer darzustellen Pflegt: daß der Druck der Diktatur des Kapi¬
tals auf das Proletariat infolge des .Krieges so unerträglich geworden sei, daß
das Proletariat durch die hiermit eingetretene Entwicklungskonstellation einfach
gezwungen worden wäre, sich gu empören -und dagegen seine eigene Diktatur auf¬
zustellen als ein notwendiges Durchgangsstad-inen für höhere Lebensformen-der
MenschheitSgemeinschaft. Wir wissen -aber, daß bei uns in Deutschland die „Dikta¬
tur" des Kapitals eher die Lebenshaltung des Standes der Industriearbeiter nach
oben hob und daß dieser im 'Vergleich zu anderen Ständen während des Krieges
durchaus nicht unter schweren ivirtschaftlichen Lasten zu leiden hatte. Wie kam
es, das; er sich trotzdem empörte? Kurz gesagt: die Erklärung geht am- besten
daraus hervor, daß sich die Revolution als Militärrevolte vollzog. In Fehlern
der Heeresorganisation und vornehmlich des Heeresersatzes lagen die hebenden
Kräfte.
In den langen Jahrzehnten vor dein Kriege ist es stets eine große Für¬
sorge der Heeresverwaltung gewesen, keine sozi-aldemokratische Propaganda in die
Armee eindringen zu lassen.' Nur so konnte die Kaiserliche Regierung die Armee
«ach ihrem aus dem Preußentum entstandenen Charakter voll in der Hand be¬
halten. Dieser Grundsatz wurde- mitten im .Kriege durch das System der Land¬
sturmrekrutierung ohne Übergang unmöglich gemacht und beseitigt, und dem An¬
schein nach war 'man sich dessen an den leitenden Stellen in seiner ganzen Be¬
deutung nicht leinmal bewußt. Unmengen von älteren Leuten, die -seit langem
innert-ich selbständig fühlende Berufsangehörige, parteipolitisch erfahrene Staats¬
bürger und zu einem sehr wesentlichen Teile organisierte Sozialdemokraten
waren, hat man in das Heer.eingestellt -und zu Rekruten gemacht. Damit wurde
gleichsam die Armee von. selber sozialdeniokratisiert. Mährend man vordem die
Einflüsse dieser Bewegung vom Heere sorgfältig fernhalten konnte, hat man jetzt
ihre Anhängerschaft' durch eine einzige Maßregel in das Heer hineinversetzt.
Oder von der anderen Seite gesehen: Man hat die besten Altersreihen unter den
Wählermassen der sozialdenwrratischcn Partei zu Soldaten ausgebildet und ihnen
Waffen gegeben. Auf jeden Fall wurde so für die sozialdemokratisch-e Partei eine
Armee geschaffen oder -ihr die Armee überhaupt ausgeliefert.
Hierzu trat noch etwas mehr Äußerliches. Diese klassenbewußten und
parteistolzen Familienväter mit ihrem großstädtischen Dünkel wurden nach einer
Methode ausgebildet und in Zucht gehalten, deren sozialpshchische Voraus¬
setzungen in der ganzen Erziehungsmanier mit ihren Ujplungen ins auf die
sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgt werden müssen und die,
indem es so ist, anfänglich auf den frischen Nachwuchs des Platten Landes be¬
rechnet gewesen sind. Die Landsturmmannschaften wurden so behandelt und
konnten bei allein guten Willen der Vorgesetzten nach den unverrückbaren Grund¬
sätzen des Reglements auch nur so behandelt werden, als ob sie ländliche Jung
linge ini Alter von ungefähr 20 Jahren wären. Aus diesem Mißverhältnis er¬
gaben sich ethische Reibungen, die eben deshalb, weil sie im Innern verhalten
blieben, umso erbitternder wirkten. Gewiß erging es älteren und meinetwegen
auch gebildeteren Landsturmleuten, die keine Sozialdemokraten waren, genau so.
Aber das hat das Gefährliche der ganzen Lage noch eher verschärft. Denn die
inneren Reibungen waren dort nicht geringer, und die heimlich ge¬
züchtete Widerwilligkeit in der Erbitterung fraß um sich und pflanzte sich fort.
Durch die kläglichen Löhnungsverhältnisse und das Familienunterstützungssystein
für die Angehörigen fühlte sich ohnehin die Masse des älteren Landsturms gewalt¬
sam proletarisiert. Es entstand in den Gemütern ein empfänglicher Boden für
die sozialistische Werbung, Das ging Jahre hindurch, und die Männer von
Offiziersrang hatten meistens keine Ahnung davon, Sie können auch kaum eine
Vorstellung davon haben, welche seelische Pein beispielsweise die Leute in ge¬
setzteren Jahren aus geistigen Berufen, die ein halbes Menschenleben am Schreib¬
tisch hinter sich hatten und zuweilen mit wirklich jungen Rekrntenjahrgängen in
dieselben Formationen gerieten, im Mannschaftsstande mit seiner künstlichen De¬
klassierung, ganz abgesehen von den dienstlichen Anforderungen, oft durchmachen
mußten. Es mag nicht selten vorgekommen sein, daß die Charakterschwachen
unter ihnen, und sei es auch nur vorübergehend, den geschickten Einflüsterungen
von .Kameraden erlagen. Bei Leuten kleinbürgerlicher Schichten mit „sozial
gehobenen" Lebensgewohnheiten von Zuhause gelang das natürlich viel leichter.
Denn sie empfanden nur das Drückende und waren nicht imstande, eine gesetzliche
nötigten darin zu verstehen. Das Wahlergebnis zur Nationalversammlung in
den altpreußischen Provinzen des Ostens hat es an einem durchschlagenden Bei¬
spiel deutlich gewacht, wie stark die sozialdemokratische Wählerschaft während der
Kriegsjahre selbst unter der bäuerlichen Bevölkerung gewachsen sein muß.
Mit einem Heere aus solchem Ersatz kann man wohl einen großen, aber
keinen langen Krieg führen. Denn zweierlei ergibt sich daraus. Die Zahl der
sozialdemokralisch gesonnener oder beeinflußten Mannschaften nahm überhand, und
dieser sozialistischen Masse in der Armee wurden aus den Kreisen verstörter, zer¬
mürbter oder hysterisch veranlagter Intellektueller geistige Fähigkeiten zugeführt,
die sie vorher nicht in demselben Maße besaß. Damit waren die inneren Vor-
bedingungen einer Umkehrung der tatsächlichen Macht in der HeereLangehörigkeit
schon gegeben. Die Mängel im Gefolge der langen Dauer des Krieges: die
Schwächen des, Osfiziersersatzes und im Zusammenhange damit die zum Teil
immer falscher werdende Behandlung der Leute, eine Materialisierung und innere
Verwahrlosung des Herrengefühls in den Etappen und, wieder im Zusammen¬
hange damit und mit der wirtschaftlichen Not des Landes, die. unzureichende und
schlechte Verpflegung, — alle diese Mängel halfen nur nach, nur die vorhandene
Disposition zur Meuterstimmung in die sichtbare Erscheinung zu heben. Was zu
verderben noch übrig geblieben war, verdarb dann der jüngste Rekrutenjahrgang
1918, mit dem die bekannte, vom Kriege herbeigeführte erzieherische Entartung
des großstädtischen Nachwuchses zu einer verhängnisvollen militärischen Unbrauch-
barkeit wurde.
Diese Durchsetzung des Heeres mit unwilligen und aufrührerischen Instinkten
und den Lockungen sozialistischer Gedanken, diese ganze Bewaffnung sozialdemo¬
kratisch geschulter Massen mußte für das revolutionäre Prinzip im Paricidogma
eines Tages ein starker Anreiz sein, die leibhaftige Revolution zu versuchen. Es
wäre im höchsten Grade merkwürdig gewesen, wenn diejenigen unter den sozial¬
demokratischen Führern oder Parteigruppen, die unverbrüchlich daran festhielten,
den revolutionären Gedanken handgreiflich zu nehmen, diese so überaus günstige,
einmalige und nie wiederkehrende Gelegenheit hätten ungenutzt vorbeigehen lassen.
Richt die N,!rvenzerrüttung deS Heimatvolkes unter dem Eindruck der amerikanischen
Propaganda, verkehrter Handhabungen des Zivildienstpflichtgesetzes und endlich
der hereinbrechenden Niederlage, vielleicht nicht einmal der Hunger war daK Ent¬
scheidende für den Ausbruch der Revolution, sondern das Entscheidende war, daß
sie ?eit langem, seit Monaten und wahrscheinlich seit Jahren, im Heere vorbereitet
und organisiert worden ist und dort überhaupt mgunisiert werden konnte. Es
steht einstweilen offen, ob dies mit Wissen und Willen der Leiter des Mehrheits¬
sozialismus geschah oder ob diese Männer nur im letzten Augenblick der Bewegung
nachgaben und mittaten, um ihre für das Gesamtdasein der Nation lebensgefähr-
liche Stoßkraft auffangen und abschwächen zu könne». Immerhin: die Klassen¬
revolution fand nicht statt als elementare Willenshandlung der ausschlaggebenden
Kräfte im VoMgcmzen, sondern sie fand nnr deshalb statt, weil es für die erfolg¬
reiche Anwendung ihres früher entstandenen und theoretisch aufbewahrten P-inzips
eine unwiderbringliche Gelegenheit gab. Deshalb ging sie auch nicht mit einem
rauschenden Brausen voller Urgewalt vor sich, sondern in den unerquicklichen
Formen eines halb schleichenden und halb theatralischen Versehwörerlums, und
ihr Losbruch und ihr Ergebnis trafen miteinander überein als „fertige Tatsache."
Ihre wirkliche Ursache war nicht ein innerer Grund aus der Notwendigkeit von
Entwicklungsgesetzen heraus, sondern diese Ursache kam nur aus einem äußeren,
mit dem Kriegsheer gegebenen und durch den Krieg vermittelten, sozusagen von
der Außenpolitik des N ichs hervorgerufenen Anlaß. Sie war eine Gelegenheits¬
revolution, für die der Erfolg sprach.
Weil es aber so liegt und dieser Revolution die innere geschichtliche Not¬
wendigkeit abgeht, darum fehlt ihr auch eine eigentümlich;:, selbständige Idee.
Sie ist, wenn man es auf eine Formel bringen will, aus einer negativen Er¬
scheinung des militärischen Lebens hervorgegangen. Somit war ihre erste Idee,
unter der sie in ihren Anfängen auftrat, nnlitänsch gerichtet und negativ. Sie
lautete nur gegen und nicht für etwas, nämlich gegen das System des „impeiia-
listischen Militarismus". Das konnte aber höchstens ein Schlagwort sein und
keine Idee. Denn soweit'in. der Redensart vom «System bis Milimrismus etwas
Wahres steckt, handelt es sich — neben bloßen Organisationsfehlern — um die
Übertragung militärischer Lebensformen auf nichtmililcirische Lebenserscheinungen,
d. y. es handelt sich um sogenannte Auswüchse, zu deren Beseitigung keine Revo¬
lution nötig war. Und der Imperialismus ist überhaupt kein „System", sondern
ein staatliches Entwicklungsstadium, das dem Wesen der fortwährenden Geschichte
einwohnt und sich nie aus der Welt schaffen läßt. Er ist ein überzeitliches Gesetz,
dessen Geltung immer wiederkehrt und mit „Eroberungssucht" an sich nichts zu
tun hat. Der einfache Mensch begreift dergleichen nicht und vergißt es, sobald
er die unmittelbaren Anforderungen an sein Dasein nicht mehr verspürt. Des¬
wegen brachte die vermeintliche Idee „gegen" den militaristischen Imperialismus
keine dauernde Lebens- und Wirkungskraft auf, und sie konnte von vornherein,
da sie sich bloß verneinend verhält, keine schaffende Bedeutung aufbringen.
Nachträglich, als das Ergebnis und der Erfolg der Revolution bereits klar
vor aller Augen lagen, besann sich ihre soziale Klassenbewegung auf den Wort¬
laut des Erfurter Programms. Man dürfte hier vielleicht einwarfen, sie habe es
nur nicht vorher enthüllt. Aber Tatsache bleibt doch, daß diese Parteilehre auf
die lebendige Treibkraft des revolutionären Vorgangs und die Beschaffenheit seiner
aktuellen Bedingungen und Entstehungsnrsachcn nicht in einer ausschlaggebend
bestimmenden Weise gewirkt hat. Eben erst nachträglich wurde das längst historisch
gewordene Erfurter Programm wieder eingesetzt und als Ziel und „Idee"
aufgestellt. Das hat zu bedeuten: die Klassenrevolution entnahm ihre
revolutionäre Idee der Geschichte; ihr geistiges Bewußtsein wurde historisch
orientiert. Allerdings konnte es kaum anders zugehen, da gerade die revo¬
lutionäre Willensabsicht in der Klassenbewegung bereits etwas Historisches,
ein von der Geschichte aufbewahrtes Moment war. Aber nun kommt
das eigentlich Interessante: dieses historische Orientiertsein übertrug sich auf die
Politisch-nationale' Richtung, die sich im Flusse einer gewalilosen Verfassungs¬
umwälzung befand, mit derselben Schnelligkeit, mit der sich der revolutionäre
Bewegungscharakter auf sie übertrug. Die politisch-nationale Richtung in der
Revolution vergaß mit einem Male die Anforderungen der Gegenwart; sie holt«
ebenfalls schleunigst aus der Geschichte, und zwar aus einer weit älteren Ver¬
gangenheit, ihre besondere Idee hervor, den alten groszdeutschen Gedanken von
1848 mit der bürgerlichen Republik, und ihre parteipolitischer .Kernbestandteile,
die bis vor kurzem noch ihre königlich preußische Kaisertreue beteuert hatten, ver¬
blüfften plötzlich durch die Gewandtheit, mit der sie die alte Demokratenfahne der
Märzbarrikaden, frisch gebürstet, schön abgestäubt und ausgemottet, zu schwenken
verstanden.
Die deutsche Revolution ist nicht ideenlos. Doch entsprechend dem Zwiespalt
in ihrer Gesinnung hat sie eine Vielheit statt einer, die durch die Kraft ihrer
Einzigartigkeit das gesetzlos gewordene Geschehen zur Zielgewißheit hinzwingen
könnte. Und es fällt ihr sehr schwer, an eine schöpferische, neues staatliches Leben
gebärende Macht ihres Wesens glauben zu lassen, da ihr Jdeenbewusztsein durch
seine Abhängigkeit von politischen Begriffsbildungen aus der gewesenen Geschichte
keine innere Freiheit hat und nicht selbsttätig ist.
me besondere Betrachtung für Erfassung des territorialen Auf¬
baues von DeuMchöhmen verlangt die Frage der deutschen
Sprachinseln. Die logische Folge eines demokratisch durchgeführten
Naltionalitätenprinzips, wie «s der Völkerbund bringen soll, wäre
für die Sprachinseln volle Zubilligung und Sicherung des Selbst-
bestiiniuungsrechts. Anerkennung einer geheiligten Herrschaft über
die Heimat, eitles Hoheitsrechts über den völkischen Boden hätte die Errichtung
selbständiger Enklaven zu verbürgen. .Keine Gründe politiischer, wirtschaftlicher
oder militärischer Natur sollten nach den Regeln der Demokratie und des Selbst-
bestimmuugsrechts, die ein Friedensvertrag nach dem Geiste Wilsons zu achten
hat, Territorialprinzip zum Falle bringen können. Gerade aber die jungen
Nationalstaaten, die auf den Trümmern des alten Österreich-Ungarn entstehen,
sträuben sich, solche Beschränkungen der Souveränität, wie sie nach jenen Grund¬
sätzen eine Sprachinsel unter «fremder Gebietshoheit verlangen darf, ihrerseits
anzuerkennen. Sie empfinden eine derartige Enklave als lästigen Fremdkörper,
der ihre durch historiische Grenzen umschriebene Herrschaft beeinträchtigt und
ihnen die.Macht entzieht, das „«widerfahrene Unrecht" an dem Boden wieder gut
Zu machen, der nach ihrer Auffassung — ohne Achtung wohlerworbener fremder
Rechte — ursprünglich ihrem Bolle gegeben war. So kann es geschehen, datz den
deutschböhmischen Sprachinseln keine Enklavestellung, sondern lediglich völkische'
Gebietsiorperschaft im Rahmen von Bezirken, Kreisen oder Gemeinden und
somit nur nationale Selbstverwaltung zugebilligt wird.
Es heißt, der .Völkerbundesvertrag wird für die Sprachinseln besondere
Bestimmungen treffen. Von welcher Volkszahl diese nationalen territorialen
Befugnisse abhängig gemacht werden, ist äußerst unsicher; sowohl die Abgrenzung
nach oben, wie solche nach unten wird noch Gegenstand lebhafter Auseinander-
setzungen bilden. In Wien selbst kamen leider schon Bedenklichkeiten zutage (so
in der Sitzung der Nationalversammlung vom 14. November 191L), ob eine
Enklavebildung der deutschen Sprachinseln im tschecho-hio walischen Staate unter
Anschluß derselben an Oesterreich überhaupt ausführbar sein dürfte. Wie auch
die Entscheidung fällt, für größere Sprachinseln mit territorial leidlich durch¬
führbarer Abrundung muß vor dem Friedenskongreß das Selbstbestinunungsrecht
mit allen Folgerungen als Forderung aufrecht erhalten bleiben. Dem Friedens¬
kongreß und dem Völkerbundsvertrage mag im Falle der Ablehnung das Odium
zufallen, daß es — dem Nationalprinzip zuwider — Teile eines Volkes gegen
seinen Willen unter fremde Oberherrschaft zwingt. Daß für die meisten deutsch¬
böhmischen Sprachinseln geographische Lage und Älngliederungsverhältnisse
besonderer und verschiedener Natur sind, sollen nachstehende Bietrachtungen
darlegen.
Auf flüchtigem Blick erscheint es eine kaum zu bewältigende Aufgabe, den
inmitten fremden Volkstums gelegenen völkischen Gemeinschaften gesicherten
staatlichen Anschluß an ihre Volksgenossen zu schaffen. Doch die Durchführung,
sorgfältig umgrenzter Enklaven, die zu, ihrem nationalen Schutze unter deutsch-
böhmische Gebietshoheit zu stellen wären, gehört nicht zu den Unmöglichkeiten,
wenn es sich nicht um gar zu kleine und abgelegene, völlig in der fremden Volks¬
masse verlorene Siedlu'ngsherde handelt.
Räumlich von: Hauptlande getrennte kleinere Landesteile find bei einigem,
vvganisatorifchen Geschick Wohl mit einem mehr oder minder fern gelegenen
Staate in wohlgefügten. Verbände zu erhalten. Das lehrt ein Blick auf die
Rheinpfalz oder Hohenzollern, mehr noch auf — über weite Räume versprengte —
thüringische, oldenburgische, waldecksche und andere kleinstaatliche Gebietsteile.
Die Kleinstaaterei, die in ihren den Gesamtstaat lähmenden Miniaturformen
durch den neuen deutschen republikanischen Staatenverband ohne Zweifel weg¬
gefegt wird, baut.man heute sicher nicht gern an anderen Stellen wieder aus.
'Für Deutschböhmen aber steht die Bewahrung deutschen Volkstums im Spiele
und regiert keine historische Reminiszenz oder ein dynastisches Wohl. So spricht
Nichts gegen den technisch durchführbaren Wog, dem Verwaltnngsappcirate des
Mutterlandes versprengte Volksteile anzufügen, alles für die Notwendigkeit, für
gangbare Mittel des Anschlusses nichts unversucht zu lassen. Gerade da in der
Darbietung einer wohlgefügten Verbindung mit der völkischen geistigen Nähr¬
quelle die richtige Abwehr gegen Auf-Säugung gefährdeter isolierter Punkte zu
suchen ist, wird es Aufgabe der führenden Politischen Kreise sein müssen, jene
Sprachinseln unter keinen Umständen politisch aufzugeben und somit der
Tschechisicrung zu überlassen.
Die Reichstagswahlordnung von 1907 und die Kreiseinteilnng von 191ö
hatten auch die deutschböhmischen Enklaven territorial fest umgrenzt und an die
nächstgelegenen deutscheu Bezirke für die Wahlen und Aufgaben der Verwaltungs-
geschüfte anzugliedern gewußt. So war im Südosten Stecken, der nördliche Teil
der Iglauer Sprachinseln, gleich der von Neubistritz, mit dein östlichen Wahlkreise
des schmalen, aber zusammenhängenden deutschen Siedlungsbandes Neuern—
Grätzer (als Bezirk 126) verbunden, während im Nordosten Nokitnitz mit dem
Landeskroner Streifen Verknüpfung gefunden hatte.
Wir haben im einzelnen bei Deutschböhmen folgende Sprachinseln ins
Auge zu fassen. Beginnen wir im Süden, so liegt zunächst die schwächste vor
uns: die der zwölf- deutschen Gemeinden von Budweis. Ursprünglich rein,
deutsch, sind sie von tschechischen Schwärmen mehr und mehr überzogen worden,.
so das; in ihnen heute Tschechen (4081) und Deutsche (4108) <in Zahl gleich stehen.
Diese nicht unbedeutende haMreisartig um Budweis sich legenden' Gemeinden
wie Rudolstadt und andere 'würden sich ohne unnatürlichen Zwang dem nur
zehn jkilometer ivcstlich entfernten geschlossenen deutschen Besitzstande anfügen.
Das; die Tschechen bei ihrer stark in diesen Dörfern angewachsenen Zahl die einer
solchen Lösung günstige Abstimmung zu beeinflussen "vermögen, liegt aus der
Hand, so das; nicht grundlos neutrale Aussicht der Plebiszitvorgänge herbei¬
gewünscht wird.
Tschechischen Angriffen weniger ausgesetzt ist die halbinselartig in
tschechisches Gebiet ragende deutsche Zone von Neubistritz. Dreißig Kilometer
Luftlinie trennen es von den letzten Gemeinden des südwestböhmischen ab¬
geschlossenen deutschen Volksstreiseus. Da südlich eine Rückendeckung in dem
Deutschen Niederösterreich gegeben ist, vermag der Neubistritzer Bezirk genügende
völkische - Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Seine Verknüpfungen mit Nieder¬
österreich, als dessen Anhängsel es praktisch mehr zu werten ist, denn als Teil
Deutschböhmens, wurde von den Bewohnern bereits selbst zum Wunsch erhoben.
.Das klar zu umgrenzende Iglauer Revier ist eine geschlossene Fläche von
398 .Kilometer, auf der 78 deutsche Siedlungen stehen. Es handelt sich um alt¬
eingesessene Bauern, die im zwölften -und "dreizehnten Jahrhundert durch zu¬
gewanderte .deutsche Bergleute und später -auch durch deutsche Kaufleute verstärkt
wurden. Es wohnen hier 4!) 198 Deutsche, denen nur 5173 Tschechen gegenüber
stehen, die fast allein in der Stadt Iglau sitzen. Mitten durch das Iglauer
Gebiet läuft die Grenze der ehemaligen Kronländer Böhmen und Mähren.. Die
deutschen Dörfer gruppieren sich um eine autonome Stadt (Iglau) und zwei
Marktflecken (Stannern und Stecken). Geistige wie materielle Kultur: ein Wohl-
entwickeltes Schulwesen, mannige -Einrichtungen «für Bildung und Wohlfahrt,
vor allem aber eine von waldreichern Hügelland begünstigte Land- und Fort-
Wirtschaft, desgleichen eine blühende Industrie, an deren Spitze Tuch- und Wirk¬
waren stehen, lassen uns diese Nachkommen deutscher Bauern und Bürger als
einen Volkssplitter schätzen, dessen 'Vernichtung mit allen Kräften abgewehrt
Werden nutz. Sie nahmen beherzt ihr Selbstbestimmungsrecht schon am
3. November 1918 in Anspruch und erhoben feierlich die' Forderung ihres
Anschlusses an Deutschösterreich, dessen Grenzen ihm «us der Route Iglau—Zuaim
in nur 1^ Stunden erreichbar sind. Den deutschböhmischen Kreis Stecken des
Iglauer Bezirkes von -dem gegebenen natürlichen Zusammenhange zu lösen und
als Sonderstück Deutschböhmens aus Gründen historischer Zugehörigkeit auf¬
zubauen, wäre keine glückliche territoriale Regelung.
Auch der fest umrahmte Schönhengstler «Sprach-gau, den wir im Osten
Böhmens in Augenschein zu nehmen haben, darf als Sprachinsel gelten. Dies
nachdem die Verbindung mit deU Volksgenossen un Osten gegen Deutschschlesien
durch das Vordringen der Tschechen ins obere Marchtal zwischen Hohenstadt und
Aussee zerriß, auch die Verbindung nach Norden mit dem Grulicher Gebiet durch
tschechisches Vordringen seit der Hussitenzeit mehr und mehr lahm gelegt wurde.
Die Dinge liegen ähnlich wie beim Iglauer Gebiet, indem wir ebenfalls einen
böhmischen und einen mährischen Teil finden; auch hat die Bevölkerung dieser
Böhmen bisher angehörigen Striche (deutscher Gerichtsbezirk Lcmdskron und die
deutschen Gemeinden der tschechischen Gerichtsbezirke Wildeuschwert, Leitomischl
und PolitschLa) sich, wie die Iglauer dies taten, zusammen mit allen Volks¬
genossen des Schönhengstlergaus durch öffentliche Meinungsabgabe dem nächst¬
liegenden größeren geschlossenen deutschen Sprachgebieten angelehnt. Diese
erscheinen heute geeint als eine Provinz Deutschösterreichs mit der Bezeichnung
„Sudetenland"; außer den von Böhmen zugeschlagener deutschen Sprachherden
setzt sich dies Sudetenland in der Hauptsache aus dem nördlichen Deutschmähren
und aus Deütschschlesien zusammen und birgt die ansehnliche Zahl von
642 810 Deutschen (94.3 Prozent) neben nur 25 048 Tschechen (3.7 Prozent).
Der ganze Schönhengstler Sprachgau stellt hierzu fast ein Sechstel der Bevölkerung
(105 343 Deutsche und 3307 Tschechen). Die sonstigen kleinen isoliert gelegenen
deutschen Sprachinseln, so Deutschbrodvk (5253 Deutsche und 26 Tschechen), einige
Dörfer bei Pardubitz an der Oberelbe und andere kommen lediglich als Austausch¬
objekte gegen in ähnlicher Lage befindliche tschechische Siedlungen in Betracht.
Im Zusammenhange mit diesem Schönhengstler Gaue wäre noch des
deutschen Gebietsstreisens Nordostböhmens zu gedenken, der mit den Mittel¬
punkten Grund und Rokitnitz (beides deutsche Gerichtsbezirke) am Südfluß des
Adlergebirges sich erstreckt. Von dem breiteren Rande deutscher Siedlung in
Nordostböhmen, den der Riefengebirgsgaue, ist derselbe durch tschechisches, hier
(nördlich von Nachod) die preußisch-sah lesische Grenze berührendes Volkstum aus
zwanzig Kilometer geschieden, auch nach -Süden durch eine tschechische Welle aus
der Strecke Seuftenberg—^Hohenstadt von dem Schönhengstler deutschen Volks-
gediete getrennt. Er wird eine Teilnahme an dem politischen Eigenleben eines
Teutschböhmen in engerem Sinne in Erkenntnis der geographischen Lage also
ebenso für überflüssig erachten wie die Schönhengstler Iglauer und Neubistritzer
Gaue. Mit den Deutschösterreichern hat er auf seiner schmalen Ostflanke
(25 bis 39 Kilometer) Berührung, gravitiert also nach dem neuen „Sudeten- -
lande": Wie der Riesengebirgsgau lehnt dieses Gebiet in seiner breiten Nord¬
front sich an das ihm stammverwandte schlesische Volk an und erfährt durch die
Neissetalbahn von Deutschland her reiche wirtschaftliche und kulturelle
Berührungen. >
Was für ein Deutschböhmen keinesfalls zu retten ist und außerhalb
desselben den Kampf um sein deutsches Volkstum aus eigener Kraft auszufechten
haben wird, das sind außer den kleinen Volksinseln die Deutschen der größeren
Städte Tschechischböhmens: Prag (37 406), Pilsen (10 036 neben 69 882 Tschechen)
und Budweis (16 903 neben 27 309 Tschechen). Nur Vereinbarungen über gegen¬
seitig zu verbürgender Schutz der völkischen Minoritäten, die im Interesse beider
Völker liegen müssen, vermögen diese auf schwerem Posten stehenden Deutschen
künftig zu stärken. Eine autonome Gesetzgebung nach Art der kürzlich erlassenen
ungarischen, dessen Paragraph 3 den Deutschen in innerer Verwaltung, Rechts¬
pflege, Unterrichts-, Kultur- und Kirchenangelegenheiten freie Verfügung läßt,
wäre zur Wahrung der Volksrechte aller in den thes echoslowakischen Stcmts-
derband tretenden Deutschen ein unbedingtes Erfordernis.
mener deutlicher geht aus den dürftigen Auszügen über die Ver-
Handlungen der Pariser Friedenskonferenz i>ervor, daß die Luft
» im Verhandlungssaal mit Elektrizität geladen ist, daß die Kon-
U pille sich von Woche zu Woche häufen. Italiens Drohung vom
21. März, sich ganz von den Verhandlungen zurückzuziehen und
die .Konferenz zu sprengen, wenn nicht eine bestimmte Forderung
wegen Fiumes bewilligt würde, beleuchtete die Lage wie ein greller Blitz. Seit¬
her sind weitere sehr bemerkenswerte Anzeichen hinzugekommen. Bevor die
Konferenz begann, versprach Wilson Öffentlichkeit der Verhandlungen, wie sie
Anfang 1918 in Brest-Litowsk tatsächlich durchgeführt worden war. Statt dessen
tagen die Entente-Staatsmänner seit Mitte Januar in Paris hinter ängstlich
verschlossenen Türen, so daß die Geheimniskrämerei schon den Spott der neu¬
tralen Presse hervorgerufen hat. Die einzige Ursache hierfür ist natürlich in
der mangelnden Einigkeit zu suchen, von der die Welt draußen nichts erfahren
M. Um Z4 Februar hat man zwar den „Völkerbund" aus der Taufe gehoben,
t>er das Zeitalter der ewigen Harmonie der Menschheit einleiten sollte, aber
selbst in der kleinen Aktiengesellschaft der Kriegsgewinncr, die heute allein den
Völkerbund bildet, muß es um diese Harmonie mehr als merkwürdig bestellt sein,
wenn man sich die Bedeutung der jüngsten Maßnahmen vergegenwärtigt. Die
schon zehnmal durchgesiebten Informationen für die Presse sind neuerdings ganz
eingestellt worden, die Vertreter der vier europäische» Hauptmächte tagen jetzt
im engeren geschlossenen Kreis und haben die Delegierten der kleineren ver¬
bündeten Staaten aus den Sitzungen zunächst hinauskomplimentiert — alles
immer mit der Begründung, es seien noch zu viel Indiskretionen in die Öffent¬
lichkeit gesickert. Das läßt lies blicken! Beim Waschen der schmutzigen Wüsche
scheint es mehr als lebhaft zuzugehen. Man erfährt zwar immer nur von Gegen ¬
Sätzen, die zwischen Wilson und' Clllmenceau bestehen, den Männern, die tatsäch¬
lich die politischen Gegenpole der Konferenz darstellen. Daß aber auch sonst noch '
allerhand Reibungen bestehen müssen, erkennt man, wenn man die Plänkeleien
der feindlichen Presse bezüglich gewisser Probleme etwas genauer verfolgt.
Versuchen wir nun einmal, von dem Rattenkönig der Konfliktstoffe uns ein
Bild zu machen, indem wir einige Offenheiten der Entente-Presse aus den letzten
Monaten belauschen. Ausdrücklich sei bemerkt, daß es sich dabei nur um eine
kleine, beliebig zu vermehrende Auswahl von Äußerungen handelt:
„Die Kommission hat als Grundlage ihrer Arbeiten die von England vor¬
geschlagene Formel (wegen der Kriegsentschädigungen) angenommen, das heißt
Frankreich und Belgien sind den egoistischen Absichten der britischen Regierung
geopfert worden. Selbstverständlich hat dieser Beschluß den denkbar peinlichsten
Eindruck in unserem Lande hervorgerufen, obgleich man nicht gleich folgern soll,
daß die englische Formel in ihrer ganzen Brutalität zugelassen sem wird.
Immerhin bleibt es ein starkes Stück, daß das Vorrecht von Schuldforderungen,
das durch Verwüstungen und Plünderungen des Feindes begründet ist, bestritten
werden konnte" („Nouvelliste", 18. Februar 1919).
„Unter dem Vorwand einer internationalen Organisation richten sich die
Engländer als Herren am Bosporus ein. Lassen >wir uns durch diesen Vorwand
nicht dumm machen. . . Wahrheit ist, daß mir einem waghalsigen Versuch, die
Türkei verschwinden zu lassen und den Beschlüssen der Friedenskonferenz vorzu¬
greifen, gegenüberstehen" („Libre Parole", 23. Januar).
„Wenn man alle Ursache hatte, das was Zar Alexander als Schlüssel seines
Hauses bezeichnete (das heißt Konstantinopel), nicht den Russen auszuliefern, so
sprechen noch stärkere Gründe dafür, daß dieser Schlüssel sich nicht in andere
Hände verlieren darf" („Temps", 21. Januar).
„Wir treten im Namen Syriens den gesamten Handel des Südens an
England ab, indem wir es sich in Halfa einrichten lassen, während wir auch den
Handel des Nordens dem fremden Wettbewerb ausliefern, da wir den Freihafen
Alexandrette jedem Ankömmling öffnen. . . Man braucht nicht mehr, um das
Land durch Halfa und ZMa England tributpflichtig zu machen" (Charles Alibert
in „Action franyaise").
Aus den Verhandlungen der Pariser Kammer vom. 11., 13. und
14. Februar: „Die Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens wird durch die
englische Besatzung besonders erschwert. Die Engländer geben die von ihnen
belegten Fabriken nicht frei" (Senator Debierre). „Die englischen Tommys sind
große Kinder, sogar <zu5g.mes tsrrilüo8, die mehr oder minder marodieren,
besonders seitdem die Disziplin nachläßt. . . Sie verbrennen die Möbel und die
Fußböden, in Carvin und Arras ist es das gleich«. . . Die Abneigung (um es
milde auszudrücken) ist groß" (Senator Bondenort).
(Notabene: Das heikelste aller englisch-französischen Problem, die Calais-
Frage, hat neuerdings überhaupt noch niemand wieder anzuschneiden gewagt!)
„Das englische Volk trat in den Krieg, weil dies im Interesse unsres Landes
lag. Die englische Regierung aber erklärte den Krieg, weil dies im Interesse
ihres Landes (!) lag. Während das englische Volk unsre Flüchtlinge wie eigne
Kinder behandelte, trachtete die Regierung danach, unsre Industrie in ihr Land
zu überführen. Unsre Glasindustrie B. ist bereits teilweise in England ein¬
gebürgert, und das (britische) Ministerium will mit allen Mitteln verhindern,
das; unsre Diamantarbeiter nach Antwerpen zurückkehren. . . Wir dürfen nicht
vergessen, daß diejenigen Länder, die im Kriege unsre Bundesgenossen waren, im
Frieden unsre Konkurrenten sind" („Stein uit Belgiiz", 31. Januar).
„England verkauft uus gern so viel Meter Stoffe, wie es entbehren kann,
sendet uns aber kein Kilo Wolle oder Baumwolle, damit unsre Spinnereien und
Webereien arbeiten können" („Gazette de Bruxelles").
„Die Deutschen sind glücklicherweise fort; Mir erhielten dafür sehr viele
Poltus und Tommys, Schotten mit nackten Beinen und Filz-Amerikaner und —
»lau vernimmt aufatmend, daß sie bald wieder abreisen werden, denn die öffent¬
liche Sittlichkeit ist nicht besser geworden, und wir haben durch ihre Anwesenheit
nicht viel mehr als einige peinliche Stvaßenfzenen gewonnen" (Belgischer Bericht
im „Nieuwe Notterdamsche Courant", 6. Februar).
„Die guten Leute, die glaubten, daß alles besser würde, wenn nur erst die
Deutschen Belgien geräumt hätten, sind aufs tiefste enttäuscht. Sie hofften, daß
das Leben billiger werden würde. . . Die Rohstoffe sind unauffindbar, die
Transporte kostspielig und schwierig, und das versprochene Glück verschwindet im
Nebel" („Belge JndSpendant", 7. Januar).
Sie sind zahlreicher als alle andren und betreffen ziemlich jeden einzelnen
Punkt der Verhandlungen. Hier sei nur festgestellt, daß auch die privaten
Beziehungen zwischen Franzosen und Amerikanern wenig nach dem neuen
Völkerbund schmecken:
„Die amerikanischen Soldaten sind über die Art, wie sie in Frankreich
übervorteilt werden,, sehr erregt. Es herrscht bei ihnen die Ansicht vor, daß sie
gerupft werden, und viele von ihnen stellen, sehr zu Ungunsten Frankreichs, die
Erpressungen, deren Opfer sie find, der liberalen Behandlung gegenüber, die
ihnen in der Rheinzone von feiten der „Hunnen" zuteil wird. . Die amerika-
urschen Soldaten sind angesichts der Tatsache, daß sie für Frankreich kämpften,
Alt Recht erstaunt und verärgert durch die Wahrnehmung, daß der feindliche
Kaufmann anständig, der alliierte Kaufmann oft nicht einmal ehrlich ist"
(„New York Herald", 3. Februar).
„In der „New York World" schreibt Ralph Pulitzer einen bemerkens¬
werten Artikel, daß das amerikanische Besatzungsheer in Deutschland das deutsche
sympathisch findet und das französische Volk im Vergleich mit jenem wenig
günstig beurteilt. Dieser Eindruck war bei den amerikanischen Soldaten sehr
Park. Man hatte Pulitzer gefragt, warum man den amerikanischen Soldaten
>w den Vereinigten Staaten nicht gesagt hätte, gegen wen sie abgesandt worden
waren'" („Nieuwe Rotterdamsche Courant", 4. Februar).
^ Annahme einer Resolution des Repräsentantenhauses des amerikanischen
Kongresses auf Antrag des Abgeordneten Carey, vom 28. April 1917:
>, ,,Da die Alliierten wiederholt erklärt haben, daß sie für die Freiheit und
^Abhängigkeit der kleinen Nationen kämpfen, da die Vereinigten Staaten jetzt mit
^M gleichen Endziel in den Krieg eingetreten und die B u re nre p ub l i k e n in
1,/^frika hon Großbritannien annektiert worden sind, wodurch ihre Nationalität
1i ° Demokratie vernichtet wurde, beschließt das Repräsentantenhaus der- A., daß die Vertreter der U. S. A. bei den Friedensverhandlungen hier-
durch angewiesen werden, ihren Einfluß für die Wiederherstellung der Buren¬
republiken geltend zu machen."
Annahme einer Resolution des Repräsentantenhauses des amerikanischen
Kongresses auf Antrag des Abgeordneten Gattagher, von Anfang Februar 1919:
„Die bevollmächtigten Vertreter der U. S. A. zur Verstiiller Friedens¬
konferenz werden hiermit dringend ersucht, die Ansprüche Irlands aus
Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Sinne Wilsons warm zu
befürworten."
„In voriger Woche hat das amerikanische Haus der Gemeinen dem vom
Ausschuß für auswärtige Beziehungen gegebenen Bericht zugunsten der Selbst¬
bestimmung Irlands bei der Friedenskonferenz beigestimmt. Unter gewöhnlichen
Umständen mag man das eine Einmischung in unsre Privatangelegenheiten
nennen" („Common Sense", 15. Februar 1919).
„Wenig Mitleid erwecken bei uns die heftigen Klagen amerikanischer
Senatoren, die behaupten, Großbritannien -wolle durch solche Maßnahmen
(Einfuhrbeschränkungen) das amerikanische Ausfuhrgeschäft schädigen. Senator
Lewis warnt uns, den Geist von 1812 zu erwecken, und Senator Weeks jammert
über den angeblichen Versuch, den englisthen Handel auf Kosten des amerikanischen
aufzubauen" („Birmingham Post", 7. Februar).
„Vertrauliche Dokumente, die sich im Besitz der Negierung befinden, zeigen,
daß Großbritannien zu Methoden greift, welche in unserem Lande, das doch
Großbritannien den Krieg gewinnen half, schwer verstanden werden. Sorgfältige
Erhebungen, die von Regierungsvertretern angestellt wurden, ergeben die folgen¬
den Tatsachen: 1. Britische Schiffe verlassen den Hafen von New Aork lieber mit
halber Ladung oder in Ballast, als daß sie amerikanische Erzeugnisse
befördern (!).... 3. Von New Aork geht seit mehreren Monaten eine üble
Pr op aganda geg en d le amerikanischen Handelsschiffe aus,
die vom amerikanischen Schiffahrtsamt gebaut, sind und unter seiner Kontrolle
stehen. Diese Propaganda sucht zu beweisen, daß die genannten Schiffe „Blech¬
dampfer" seien, obwohl jedes Schiff vor der Abnahme durch Lloyds besichtigt
worden ist. Daniels, der hier im Lande als Wilsons Sprachrohr in Fragen der
Kriegs- und Handelsmarine angesehen wird, ist in den letzten Tagen Gegenstand
von Angriffen mehrerer britischer Journalisten gewesen" („New Dort American",
11. Februar).
„Der bolschewistische Konsul Mac Lear sagt einen großen Krieg zwischen
Amerika und England voraus, der aus wirtsch astlichen Gründen in fünf Jahren
ausbrechen dürfte" („Morning Post", 25. Januar).
„Es ist selbstverständlich, daß Amerika nicht gegen die Mittelmächte rüstet,
sondern gegen seine jetzigen Verbündeten England und Japan" („Göteborgs
Aftonbladet", 21. November 1918).
„Die Beunruhigung muß in England verfängliche Fortschritte gemacht
haben. . . Wird man, wenn die „deutsche Gefahr" beschworen ist, die „amerika¬
nische Gefahr" heraufkommen sehen? . . . Aus einen Pergleich mit England ist
nicht zu rechnen. Es fehlte nur noch, daß uns im Anschluß an den Weltkrieg ein
englisch-amerikanischer Krieg um die Herrschaft der Meere auferlegt würde"
(„Feuille", Genf, 29. August 1918).
„Die internationale Verwaltung (der deutschen Kolonien) durch den
Völkerbund wird nur zu bald einer rein britischen das Feld räumen müssen. . .
Der Vorschlag Englands ist nichts als eitel Spiegelfechterei und unter der Maske
der Selbstlosigkeit nur darauf berechnet, bei der Verteilung den Gleichgewichts¬
faktor auszuschalten" („Perseveranza", 23. Januar).
„Die geplanten Mandate des Völkerbunds sind eine Maskerade, die die
Einverleibung verhüllen soll" (Tittoni in der italienischen Kammer, 11. März).
Zu allen diesen lehrreichen Kundgebungen rechne man noch die äußerst
scharfen Konflikte, in die Italien mit den Südslawen verwickelt ist, und die so
bedeutend sind, daß man schon fast von einem neuen Kriegszustand sprechen kaun.
Diese Differenzen bestehen auch zwischen Italien, Frankreich und England, da
Italien wie der Jude Shylock auf seinem Pfund Fleisch beharrt, das in diesem
Falle das Londoner Abkommen vom 26. April 1915 ist. Frankreich und England
aber wollen zugunsten der.Südslawen von diesem Abkommen- nichts mehr wissen.
Die Folge ist eine überaus gereizte Stimmung der imperialistischen Kreise in
Italien gegen Frankreich, mit dem man sowohl über die Frage der östlichen
Adria wie über den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland grundverschiedenen
Meinung ist. Während in Italien selbst die revolutionäre Arbeiterschaft scharf
Front macht gegen alle imperialistischen und kapitalistischen Pläne im eignen
Lande, läßt die Regierung es über die Fiume-Frage fast zur Sprengung des
Kongresses kommen. Dazu ist Italien auch wegen der geplanten Lösung der
syrischen Frage sehr unzufrieden mit Frankreich und England, und liegt um
Kleinasien, den Dodekanes und den Epirus mit Griechenland im Konflikt. Nur
kurz sei erwähnt, daß auch zwischen Japan einerseits, den Vereinigten Staaten,
Australien und Neuseeland andrerseits recht scharfe Gegensätze über eine ganze
Reihe von Fragen bestehen, um zu erkennen, welche wundervollen Fortschritte die
Harmonie der ganzen Welt seit der Begründung des Völkerbundes gemacht hat.
Auf der Friedenskonferenz sind in bislang die allerbedenklichsten Streit¬
fragen, wie Irland, Burenftaaten, Ägypten, Konstantinopel, Calais, Freiheit der
Meere usw. überhaupt noch nicht zur >Sprache gekommen. Schon bei Erörterung
der harmloseren Probleme aber hat sich eine „Einigkeit" ergeben, die am
charakteristischsten ,wohl von der englischen Zeitschrift „Statist" geschildert wurde,
als sie am 8. Februar schrieb:
„So weit sich die Konferenz bis jetzt abgespielt hat, stellt sie nichts weniger
als einen Erfolg dar. Wir empfinden, daß wir in vielen Punkten nachgegeben
haben, die uns wirklich recht sehr gegen den Strich gingen. . ,. Frankreich
wiederum ist keineswegs mit der Auffassung bezüglich des Rheines zufrieden.
Vielleicht ist es überempfindlich. . . Frankreich ist enttäuscht und peinlich berührt,
weil seine eignen Verbündeten ihm gegenüber Argwohn hegen. . . Zu alledem
kommt dann noch eine starke Erregung der Serben und Kroaten einerseits, der
Polen andrerseits. Für deu Augenblick werden sie in Schranken gehalten. Aber
jeden Augenblick können sie die Schranken durchbrechen. . . Soweit wir urteilen
können, hat es die Konferenz bisher niemandem recht gemacht."
Diese interessante Übersicht wird ergänzt durch leine Auslassung der
„Times" vom 23. Januar über die kolonialen Differenzen:
„Deutsch-Ostafrika wird wahrscheinlich an Großbritannien als Beauf¬
tragten des Völkerbundes übergeben werden. Freilich sind hier auch die Ansprüche
Belgiens zu berücksichtigen. Über Kamerun und Togo gibt es fast (!) nur eine
Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England. . . Die Zukunft der
Inseln des Stillen Ozeans macht Schwierigkeiten. Nach dein englisch-japanischen
Vertrag sollte der Äquator die Südgrenze des japanischen Machtbereichs darstellen.
Dies würde den Japanern den Besitz der Marschall-Jnseln und der Karolinen
lassen. Die Australier sind aber mit einer solchen Annäherung der Japaner an
ihr Gebiet keineswegs zufrieden. Sie fragen, warum die Japaner den Besitz
jener Inselgruppen anstreben, die wirtschaftlich fast wertlos sind, aber strategisch
eine erhebliche Bedeutung haben."
Die Bilanz von zweieinhalb Monaten Friedenskonferenz ist also trotz der
Gründung des Wilsonschen Völkerbundes, über den die lieben Bundesgenossen arg
boshafte Glossen machen, allgemeine Enttäuschung, Unzufriedenheit, Unsicherheit
»ut Unfriede. Wilsons in der letzten Märzwoche ausgesprochene Drohung, die
Friedenskonferenz in ein neutrales Land zu verlegen, wenn Frankreich von seinen
Überspanntheiten nicht lassen will, beleuchtete die Situationen nicht minder grell
als Italiens Drohung mit der Boykottierung der ganzen Konferenz. Wohin
werden wir da erst ein Vierteljahr später geraten, wenn die wirklich ernsten und
drohenden Konfliktstoffe inzwischen wohl oder übel am Beratungstisch zum
Vorschein gekommen sind?
M^t?
^MWAR
U>Wß
WGM^or langen Jahren hat einmal ein witziger Kritiker gesagt, er wette
darauf, der Verfasser von Auerbachs Dorfgeschichten' trage eine
Perücke. Darüber belehrt, daß der Autor eine wohlausgesprochene
Glatze zur Schau trage, erwiderte er: „Dann ist's sicher eine
falsche I"
GoDie gesammelten Schriften Rathenaus drängen mir die Über¬
zeugung auf, daß der Autor Junggeselle ist, nicht Weib noch Kind hat. Ich wette.
Bitte sehrl Man hat Schopenhauers Junggesellentum mit seiner Philosophie
in Beziehung gesetzt, weshalb soll dies nicht auch Rathen an sich geschehen lassen?
Sollte Rathenau nicht wie Schiller eine Lotte oder wie Varnhagen van Ense eine
Rahel haben? Einfach ausgeschlossen! Ich wette.
Der Junggeselle kennt das Leben nur halb. Des Daseins stärkste Erhebungen
und Hemmungen erfährt er nicht im Innern und nicht am Äußern. En versagt
dem Gemeinwesen die Hauptpflicht des Bürgers, eine Familie zu gründen. Es
fehlt ihm an Ergänzung. Er verliert Maßstäbe, und für vieles, das rein menschlich
ist, gewinnt er kein Verständnis.
Alle Probleme dieser Erde hat Rathenau gestreift und einige mehr, nur
dieses nicht. Irgendwo hat er Malthus' Lehre verrucht genannt. „Das Wort
ist wie im Meer ein Pfad, doch tiefe Wegspur läßt die Tat!" Geistiger Führer
der Nation dürfte nur ein Mann sein, der mindestens drei Kinder sein nennt.
Vielleicht kommt es einmal so weit, daß man einen Geheimbten Rat, so in Zukunft
diese interessante Spezies nicht ausstirbt, einen wüsten Streber nennt, weil er
neun Kinder erzeugt hat.
Auch folgendes ist deutlich erkennbar: der Weg seiner Gedanken führt nicht
aus dem Kopf durch die Hand aufs Papier, sondern über die Zunge zum Steno¬
graphen, Maschinenschreibe?, Diktaphon.
Die technischen Fortschritte der Gedankenübertragung verwässern unsere
Literatur bös. Was leise rieseln sollte, wird oratorisch zu Bächen angeschwellt.
Der Redner lebt sich aus und berauscht sich am Klang seiner Worte. Das Stau¬
wehr ist geöffnet, mag es dahinströmen von 10 Uhr bis Mittag und von 5 bis
7 Uhr abends. Sind es nicht Worte, so doch wenigstens Wörter. In den Atem¬
pausen regt der bewundernde Augenaufschlag des Schreibers zu neuem Aufschwung
an, und es plätschert weiter.
Auch im öffentlichen Dienst und im Geschäftsleben dieselbe Verdünnung.
Es ist so bequem, sich nicht konzentrieren zu müssen. Man nimmt sich keine Zeit
mehr zur Kürze. Die Kurzschrift wird langatmig. Phrase und Schwulst stellen
sich ein.
So diktiert auch unser Philosoph seine tiefgründigen Gedanken mit einem
Aufwand unnötiger Kraftentfaltung, den er als Verehrer Taylors und oberster
Einsteller unserer Wirtschaft zu verwerfen der erste sein müßte. Er bedarf ein¬
hundertsieben Worte, die genau eine halbe Buchseite füllen, um den folgenden
Gedanken auszudrücken: Tradition ist als Trägheitsmoment berechtigt zur Er¬
haltung einer labilen Gemeinschaft; ihr zum Altersstillstand führendes Überwuchern
kann nur durch Idealismus und Schwungkraft verhütet werden.
Aufs lebhafteste erinnert Rathenaus oratorisches Schrifttum an die Künste
jener Improvisatoren seligen Angedenkens, die noch vor vierzig Jahren die Vor-
tragssäle zum Schaudern unsicher machten, sich aus allen Ecken des Saales Worte
wie Aurora, Maikäfer, Seelenfrieden, Piefte, Heringssalat, Nihilismus als Rosinen
aufs Podium in den wohlvorbereiteten Teig schleudern ließen, um dann das
Schnellgebäck als hochpoetisches, gedankenreiches, formvollendetes Sonett, gepriesen
von der gesamten Tagespresse, dem vor Entzücken wiehernden Publiko an den
brettreichen Kopf zu werfen.
Auch eine andere Erinnerung wird wach an den längst verschollenen Stamm¬
tisch, allwo ein rühriges Mitglied der jetzo von Rathenau mit Vertilgung bedrohten
kundschaftbesuchenden Gilde, von vorschmeckenden Freunden den Tischgenossen als
Redegewaltiger gerühmt, nach Aufziehen des Räderwerkes je nach Wunsch und
Begehr über Seidenraupenzucht, Monroedoktrin, Arabische Kultur, Naffael, Proyi-
bitivzölle, Prager Frieden oder Schinken, Abfuhr und Kanalisation gedanken¬
schwere Vorträge hielt. solare Polyhistoren geboten über einen erstaunlichen
Wortschatz und verstanden es, ihre Hörer durch tiefe Sprüche zu fesseln, etwa so:
„Die Schritte der Menschheit sind nicht bezeichnet durch die ausgebrannten Schlacken
negativer Wahrheit, sondern durch die Monumente des schönen organischen Irr¬
tums, der in der Tiefe seiner Notwendigkeit lebendige Wahrheit birgt" oder „Des
Lebens Unverstand mit Wehmut zu genießen, ist Tugend und Begriff".
Im Hange zum Geistigen klettert der mindestens zweiseelige Rathenau zu
den Schultern Gerhards empor, im Drange zum Wirklichen rankt er sich an Emil
dem Vater hinauf. Als ob er nicht Mannes genug wäre, auf eigenen Füßen zu
stehen! Pietät in Ehren! Doch zur Widmung an Gerhart bringt die Grabrede
auf den Vater einen zweiten falschen Ton in die Symphonie. Diese Rede hätte
nicht gehalten werden und, wenn gehalten, nicht in die Schriften aufgenommen
werden dürfen. Der Sohn mag des Vaters Andenken im stillen Herzen ehren,
nicht aber in der Trauerversammlung mit tönenden Worten. Denn er ist der
Hauptleidtragende und geistige Erbe, dem das Lob des Vaters, selbst aus
berufensten Munde, die Scham der Seele verletzen müßte, ihm, der als Opfer¬
tier der Konvention geduldig stillzuhalten hat. Statt dessen aus Sohnesmund
ein mit ciceronianischen Floskeln ausgestatteter, wohlgeründeter, in breiten
Schwaden dahinrauschender, mit Jesus beginnender und mit Moses endender, in
prtesterliche Segnung ausklingender schmalziger Sermon. Ach, unter dem ärmlich
kurzen Philosophenmüntelchen kommt bei jedem Schritt das goldbordierte weich¬
gefütterte Wams des Herrn Präsidenten zum Vorschein, dem sein königliches Schloß
nur Wert hatte, wenn es „Königlich" blieb. Vsniws vanitatum vauitAs! Die
vom Autor unterdrückten „Impressionen" und „Reflexionen" hätten höheres An¬
recht darauf gehabt, an dem Neigen teilzunehmen als diese eitle Grabrede und
die wieder aufgetischte abgeschmackte, abstoßende, hölzerne, humorlose Erzählung
von der Resurrection Company, die uns zeigt, wie heilende Rathenau den VanKec-
äooclls zu singen versteht."
Rathenau widmet sein Buch „Zur Kritik der Zeit, das die gesammelten
Schriften eröffnet. Dir, Gerhart, dem Dichter unseres Zeitalters. Es mag manchen
urteilsfähigen Kopf unter uns geben, der den Dichter etwas weniger hoch ein¬
schätzt. Was Rathenau in dieser snobbischen Widmung von Ausführlichkeit und
„Überredungskunst des dialektischen Beweises" spricht, die beide seinen: Buche
fehlten, kann er dies ernsthaft denen ins Gesicht sagen, die sich im Schweiße des
Angesichts durch das Gestrüpp Nathenauischer Dialektik und Rhetorik hindurch¬
arbeiten und den Weizen aus der Spreu suchen? Diese Bescheidenheit ist ein
schlechter Witz des Autors, vielleicht der einzige gute Witz, Witz überhaupt, in dem
einförmig unaufhaltsam dahin quellenden, gluckernden, plätschernden Strom üppiger
Beredsamkeit. Hauptmann und Rathenau haben ein gemeinsames: sie sind zu¬
weilen stärker als die deutsche Sprache. Sie sündigen. Wie Gerhart sündigt, davon ein
einziges Beispiel. Wir beugen das gute deutsche Grundzahlwort „zwei" im Hoch¬
deutschen schon lange nicht mehr., In der Heimat Hebels geschieht es wohl noch und
mutet uns herzlich an. „Der arme Heinrich" spielt im Schwarzwald, da soll alter-
tümelnde Beugung Zeit- und Ortfarbe geben. Aber wie? Hauptmann sagt „zween
Jahre", „zween Opferkerzen", „zween Gestirne", „zwei Nächte". Da lachen die
Quartaner der deutschen Gymnasien und die Hühner auf den Bauernhöfen um
Lörrach. Sie wissen: es heißt „zwei Jahre", „zwo Opserkerzen", „zwei Gestirne",
»zwo Nächte". Wie unus, una, unum und cluv, cluae, ano beugt sich zween
Jünger, zwo Frauen, zwei Kinder. Anders ist falsch und doppelt falsch, wenn
Hauptmann zwischen „zween Jahren" und „zwei Jahren" willkürlich abwechselt.
Übelste Sprachspreitzerei, die der dramatischen Ballade Hauptmanns Gepräge
gibt und feinerem Empfinden das ganze Werk verleidet. Verstimmte Saiten
begleiten die Widmung an den Dichter und tönen durch die Schriften Rathenaus.
„Lassen Sie sich ein Schälchen des duftenden Trankes der Levante gefallen!" so
boten in der guten alten Zeit die Hausfrauen Gustav Freytags den Gästen eine
Tasse Kaffee an. Solche preziöfe Umschreibungen mögen noch vor dreißig Jahren
erträglich gewesen sein, heute sind sie es nur im Lichte der Literaturgeschichte;
dieser aber gehört Rathenau noch nicht an.
Stammtischtöner, Festredner, Heilsarmeesendlinge, Hohepriester, Propheten
tragen ihren Schwulst und Glanz in Rathenaus Schriften zusammen. „Steigen
wir hinab in die Schächte unseres unberührbaren innersten Bewußtseins, so finden
wir die dunklen Tiefen nicht leer; wir kehren heim mit der Gewißheit des Unend¬
lichen, der Gottseite der Schöpfung, mit der Verkündung des Berufes unserer
Seele, unserer überintellektualen Mächte und mit dem Geheimnis des Seelen¬
reiches", — „daß alles irdische Handeln und Zielen in dem einen Sinne seine
Rechtfertigung findet, in der Entsalttmg der Seele und ihres Reiches", — „die
schwere Erkenntnis, daß wir nicht zum Glücke streben, sondern zur Erfüllung, daß
wir nicht um unserwillen leben, sondern um des Gottes willen". — „Wage es,
ihn (den heißen Drang der Seele) und nicht das erdachte Absolute zur temporären
Achse unseres Erlebens zu erwählen, so gewinnt das Dasein seinen Sinn zurück".
— „Der Mensch selber, ungeläutert durch Fall, Bewußtheit und Aufstieg, bleibt
im Seelsnhaften ungeboren". —
Das schwirrt und blubbert und blaggert so von Seele. Verkündung,
Erfüllung, Erlösung, innerm Erleben. Gotiesreich, Schöpferkraft, daß mir für die
Verstandeskräfte der Direktion einer Gesellschaft bang wird, der der Herr Präsident
die Aufschüttung einer Dividende von 25°/» und die Verteilung eines Borns
von 20°/o in adäquaten Stil gebietet.
Neben dem Schwulst zahlreiche sprachliche Nachlässigkeiten und Gewaltsam¬
keiten. Statt „betäuben" sagt Rathenau „tauben" („taube die Ohren"); „starren"
braucht er als transitivum im Sinne von „zur Erstarrung bringen" („die Kälte
des Elends starrt alle Keime"); statt „geistig" sagt er „geistlich" („die heiligen
Quellen geistlicher Erhebung"); für „Verschiedenartigkeit" setzt er „Vieldeutigkeit".
Der Feldgraue führt nicht Handgranaten sondern „Wurfgeschosse" (Schälchen des
duftenden Trankes der Levante). Was mag „Wirkung der Meereskettung" sein?
Dies ist nur auf gewundenen Wegen zu ermitteln. „Vergangenheit" klingt dem
Rhetor zu trivial; daher spricht er vom „Reiche der GeWesenheit". In der feier¬
lichen Stunde des Abschiedes wendet er sich nicht an die Jugend sondern an die
Jugend er sich (turial: an Euere Exzellenz ich mich). Dem falschen Pathos wird
der Sinn geopfert: „Dem Feinde ziemt uns ins Auge zu blicken". Wem ziemt,
was zu tun? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. „Es ist Zeit, daß die Kleinen
und Geringen reden, bevor die Steine und die Gräber ihren Mund auftun. Und
da ich unter den Geringen ein Geringster bin, so will auch ich meine Stimme
erheben, so schwach sie ist". Wer kann diese Bescheidenheit eines Mannes für
echt halten, dem nach seinem eigenen Zeugnis „die bewußte Schöpfung einer
neuen Wirtschaftsordnung" gelungen ist, „die nicht vergehen kann und alle
künftigen Wirtschaftsreformen in ihrem Schoße trägt"? Und dies alles, wie
Rathenau in chinesischer Selbstverkleinerung hinzufügt, „durch das geringe Werk¬
zeug meines Kopfes". Also sprach Wulther und unterschätzte sich und uns, seine
Leser, denn in jeder Perspektive werden wir der Kürze seines Mäntelchens gewahr. -
Sollte ich dem Schriftsteller unserer Zeit mit schneidender.Kritik nicht bitter
Unrecht tun? Klebe ich nicht an der Oberfläche statt in der Tiefe zu schürfen?
In des Wesens Kern einzudringen? Zeugen nicht zahlreiche Auflagen von Be¬
deutung und Bedeutsamkeit des epochalen Autors? Ist es recht, anständig und
geschmackvoll, als hinkender Thersites polternd hinter dem hohen Agamemnon
herzulaufen?
Gemachl Ich bin noch nicht zu Ende. Nachdem menschliches — allzu¬
menschliches abgetan ist, wünsche ich auch den Vorzügen des Schriftstellers gerecht
zu werden, den ich für eine hervorragende, die markanteste Erscheinung unserer
Zeit halte, für eine Intelligenz, der unter uns Lebenden in Deutschland ein Gegen¬
bild kaum zur Seite gestellt werden kann.
Der Erfolg seiner Schriften kann mir nicht imponieren. Wir kennen ja
unsere lieben „Leser" und ihre Bibliotheken. Gelaufe — doch auch gelesen?
Daran liegt's. Wer wird nicht einen Klopstock loben usw. Raihenau ist Mode
für gewisse große Kreise, vielleicht heute schon die Mode von gestern. Mein Tadel
galt dem Pranger mit Worten, dem.Klingeln mit Wörtern, dem in verstiegener
Romantik reale Ziele umnebelnden Asthetentum, der hemmungslos ins Kraut
schießenden betäubenden Beredsamkeit.
Doch Rathenau kann es auch anders, ganz anders. Es klingt wie ein
Wunder, ist aber keines. Rathenau als Jndustriegewaltiger, Bankmann, Organi¬
sator, Ingenieur, Naturwissenschaftler, Realpolitiker, Volkswirt. Soziologe, Philan-
throp, Philosoph, Ethiker, Ästhet/ Dichter — welche Seite seines Daseins , wird zum
Vorschein kommen, welches Metall oder welche Legierung wird er einschmelzen,
wenn ihn in glücklich-unglückseliger Stunde geheimnisvolle Kraft zum Schöpfen
zwingt, oder wenn er sich kühlen Herzens daran begibt, zu bearbeiten, was ihm
ins Haus geschafft wurde, Wachs zu kneten oder Siein zu beHauen, geschäftsmäßig,
mit mehr oder weniger innerm Anteil? Wer den holden Wahnsinn deS Schaffens
an sich selber erfahren hat, der kennt diese Unterschiede und ihre Auswirkung.
Der weiß auch, daß oft ein einziger Satz, dem Hirn eingebrannt in einsamer
Nacht oder in wogender Versammlung, mit mathematischer Schärfe oder mit
Blüten und Ranken eingeformt und obenan gestellt, bestimmend sein kann für
Gestaltung, Ausdruck und Inhalt bis zum letzten Schlußpunkt. Und da dem
Künstler niemals mehr dieselbe Stimmung gedeiht, so mutet ihn schon bald nach
Vollendung sein eigenes Werk fremd an; nach Jahren betrachtet er es vielleicht
mit lächelndem Mißbehagen wie Goethe feinen Elpenor, Rathenau seine Impres¬
sionen und Reflexionen.
Geschöpftes und Emporgepumptes I Daran liegt's. Rathenau ist ein Former
und Seher, ein Dichter. Er unterliegt dem Gesetz: für Gedanken von innerer
Notwendigkeit findet er straffen, manchmal lessingischen Ausdruck; wo der elementare
Drang, die tiefste Überzeugung fehlt, da schöngeistert, schönredet, schwulstet er, da
wird er ein Opfer der Proteusnatur, die Geburt, Erziehung und Leben seinem
überschwellender Können und Wollen zugeteilt haben. Da kann er einem Größeren
nachsprechen: „ich schleppe noch so vieles mit, das ich nicht loswerden und kaum
verarbeiten kann. Indessen bleibt mir nichts übrig als aus diesem Strom mein
Kcchrzeug so gut zu lenken als es nur gehen will." Schiller sagt irgendwo, daß
die Reinheit des Silbenmaßes zu einer sinnlichen Darstellung der innern Not¬
wendigkeit des Gedankens diene, während eine Lizenz gegen das Silbenmaß eine
gewisse Willkürlichkeit fühlbar mache. Ob dies Kunstgesetz von damals heute noch
Geltung hat, mag dahin gestellt bleiben; für Prosa gilt als ewige Regel, daß
.Klarheit und Prägnanz glaubhaft wirkt, rhetorischer Schwall unglaubhaft, so unglaub-
haft wie die Verteidigungsreden jenes vor einigen Jahrzehnten bekannten Berliner
Rechtsanwaltes, der seine stärksten Register nur ziehen konnte, wenn ihm die
Schuld des Klienten offenbar war.
Unvergleichlich in seiner Einfachheit und Überzeugungskraft ist der kurze
Aufsatz „Schule und Bildung". Besser kann man das „Lehren" nicht charakte¬
risieren als mit den Worten Rathenaus; es bestand (und besteht heute noch) aus
drei Teilen: 1. dem, was man durchnehmen nannte, 2. dem, was der Schüler
für sich zu Hause zu besorgen hatte, 3. dem Überhören und Kontrollieren. Der
Aufsatz „Geschäftliche Lehren" enthält Goldkörner. Die Leitsätze sind geradezu
klassisch. So zum Beispiel: Verlange, daß jeder deiner Leute einen Stellvertreter,
keiner einen Adjutanten halte. — Bei Streitigkeiten deiner Leute haben beide
Unrecht. — Der Mann, den du an die Spitze eines Geschäftes stellst, mag sein,
was er will, Jurist oder Techniker: bewährt er sich, so ist er Kaufmann. — Ein
Direktor, der konstruiert, ist unbrauchbar; als Direktor sicher, meist auch als
Konstrukteur. — Wer sich beklagt, daß er zuviel zu tun hat, beweist, daß er nicht
organisieren kann; wer dagegen zuwenig menn hat, beweist, daß er überflüssig ist.
Am echtesten ist Rathenau da, wo er sich eine Larve vorbindet, in dem
Aufsatz „Zur Physiologie der Geschäfte"., Wie Goethe als Tasso und Antonio,
als Clavigo und Carlos sich selbst manifestierte, so erscheint Rathenau als> Neffe
und Onkel. Der Negierungsassessor Dr. F. W. Schulze von der Müh! gibt Auf¬
zeichnungen seines verstorbenen Oheims, des russischen Etatsrates Nikolaus von
der Mühe heraus, nicht ohne zum Ausdruck zu bringen, daß er, aus den Vor¬
aussetzungen seines Berufes, sich mit einer Anzahl der Theoreme nicht zu identi¬
fizieren vermöge. Im Jahre 1901, als die kleine Schrift zum erstenmale ver¬
öffentlicht wurde, hat Rathenau die Zeit noch nicht für gekommen erachtet, seine
Gedanken mit dem eigenen Namen zu decken. Und um sich doppelt zu salvieren,
wandte er den in der Literatur nicht selten geübten Trick des doppelten Pseudonyms
an. Sicherlich mit erhöhender Wirkung auf den Leser. Noch eine andere Beziehung
kommt zum Vorschein: der Etatsrat ist nicht nur Walther, er ist auch der auf
den Sohn überstrahlende Emil Rathenau. Die Kralle des alten und die des
jungen Löwen: Die Tüchtigen, Fähigsten und Gewissenhaftesten sollen auch die
Begüterten sein. — Es gibt nichts Betrübenderes als die Erkenntnis, daß wir
der Plutokratie rettungslos verfallen sind. — Große Vermögen entstehen weder
durch Spiel uoch durch Arbeit, soudern durch tausend und tausend unfreiwillige
Hände, ti dem Fronherrn Goldhaufen türmen. — Bedürfnisse erkennen und,
Bedürfnisse schaffen, ist das Geheimnis alles wirtschaftlichen Handelns. — Alles,
was wir can dem Blick auf ein bestimmtes Ziel beginnen, Roman, Bild, Arie
Diner, ist ein Geschäft.
Diese kleine Blütenlese der Prägnanz des Geschäftsmannes und Ingenieurs
im Gegensatze zu dem Wortgetöse, das der Rhetor und Philosoph glaubt erheben
zu müssen. Mit den Schriften Rathenaus im ganzen, namentlich mit seinen Wirt-
schaftslchren sich auseinanderzusetzen, die durch ihre erquickende Einseitigkeit den
Autor uns menschlich näher bringen, das überlasse ich anderen. Es ist hierin
schon genug geschehen. Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt--
Mit kostbaren Gütern und Mittelwaren, sperrenden und dichten durchein¬
ander, von hohen und geringen spezifischen Gewichten,' ist Rathenaus Schiff be¬
frachtet und schwimmt auf der mangelhaft verstanden Ladung. Zum Unsegen
wird Universalität, die in die Arena hinabsteigt, Ewigkeits-, Menschheits- und
Tagesfragen zu lösen, zu allem ihren Senf zu geben. Wie sagt doch von der
Musk-Rathenau? „Gefährlich ist allgemeine Bildung; ich kenne nur wenige, die
über den Schatz ihrer Kenntnisse nicht gestrauchelt sind."
Nichts ist Rathenaus ringenden, zum Lichte empordrängenden Geiste ver¬
sagt geblieben. Blut, Erziehung, Vorbild, Verkehr, Macht, Reichtum, Weltbürger¬
tum, jüdische und germanische Kultur wirken in diesem weisen Zweckmenschen
zusammen und formten aus dem Manne der exakten Wissenschaften einen Romantiker
und Eklektiker, aus dem wir nicht klug werden können, weil wir, ebensowenig wie
er selber, Gefäße genug haben, die Fülle seines Reichtums an Gedanken Wahr¬
Znnius.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
me spätere Zeit' wird den Weltkrieg nicht mehr als Ursache der
heutigen Verhältnisse und Wirkungen betrachten, sondern erkennen,
^W^^WU daß der Krieg nur eines der Ergebnisse der Zeit war, in welcher wir
Ä ^W^^M«^^"' diese Zeit mil der falsch und ungesund auchcl'autem
unbedingt früher oder später zu einer gewaltsamen Lösung
bestehenden Verhältnisse führen mußte. Die lange Dauer des
Krieges hat lediglich bewirkt, daß die Umwälzung mit rasender Geschwindigkeit
und damit mit neuen Störungen, Zertrümmerungen und Schmerzen über uns
hereingebrochen ist.
Es handelt sich mithin bei den Zsitfragen wie Bolschewismus, Sozialisierung
und Machtstreben der Massen nicht um russische oder deutsche Angelegenheiten,
sondern um Weltströmungen, welche alle Länder durcheilen werden. Bei den
Siegern des Weltkrieges haben die alten Regierungen noch die Macht in Händen.
Wir sehen wohl schon das Zucken des Massenwillens, können aber noch nicht
überblicken, wann auch dort die Welle der neuen Zeit den Wall der alten Macht
durchbiechen wird. Je nach der wirtschaftlichen Lage, je nachdem ein Land mehr
oder weniger mechanisiert ist, wird auch die Stärke der Bewegung eine verschiedene
sein. Bei einem vorwiegend agrarischen Lande ist es zum Beispiel möglich, daß
die Umformung zur neuen Zeit ohne äußere Erschütterungen langsam vor
sich gehe.
Die tiefe Erschütterung, das furchtbare Beben, welche die Völker der Erde
ergriffen hat, ist also nicht durch den Krieg hervorgerufen und hat mithin kaum
Politischen Ursachen. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Lage aber, in der wir
uns befinden, noch schrecklicher und gefährlicher. Kein Völkerbund, kein von der
Entente ausgeklügelter Frieden kann hier Ruhe und Ordnung schaffen, wenn nicht
die Ursachen unseres Leides erkennt, und die Maßnahmen zur Besserung der Lage
und zur Umkehr vom falschen Wege, die Grundlagen zum Völkerbünde bilden.
Bis jetzt haben jedoch alle Regierungen — auch die sozialistische deutsche macht
davon keine Ausnahme — nur politische Vorschläge für den Völkerbund gemacht,
und das Feldgeschrei auf allen Seiten lautet: „Wiederaufrichtung unserer Wirt¬
schaft". Nichts ist verderblicher als dieser Ruf. Solange wir nicht erkennen,
warum das Unheil über uns hereinbrach, und solange wir, nach der Erkenntnis,
uns nicht zu dem schmerzvollen Entschluß durchringen, von der alten Wirtschaft
SU weichen, solange werden wir keine Ruhe aus der Erde haben.
Betrachtet man kühl, ohne Leidenschaft, aber auch ohne Mitleid mit sich
selbst die Lage, so muß man zu dem Ergebnis kommen: die Menschen seien in
den letzten Jahrzehnten mit BImdheit geschlagen gewesen, daß sie nicht sahen,
wohin sie trieben. Die Entwicklung erscheint einem dann so klar, so folgerichtig,
daß es nur Wunder nimmt, daß sich nicht vorher genügend gewichtige Stimmen
erhoben, um rechtzeitig zur Wandlung zu raten. Es erscheint nach dieser Be¬
trachtung auch nickt mehr als Zufall oder als eine Verhöhnung des «Schicksals,
das; gerade Deutschland das Unglück treffen mußte, und daß Nußland das Land
war, welches den Bolschewismus gebar.
Mit der Erfindung der Kraftmaschine wuchs die Industrie über unsere
Macht hinaus. Die Zusammenballung der Menschen in das Abhängigkeits- und
Hörigkeitsverhältnis nahm immer schneller zu. Sie griff über auf Gebiete, aus
welchen dies nicht notwendig war. Bankgewerbe, Kaufhäuser, Brauereien wurden
Großbetriebe, welche immer mehr selbständige Existenzen vernichteten und zu An¬
gestellten stempelten. Im Verwaltungsdienst das gleiche, zwei kleine Schulen
wurden zu einer großen vereinigt, Verwaltungen zusammengelegt und immer
mehr wurden die Bureauleiter nur noch Vorarbeiter unter dem Druck einer
rissigen Organisation.
Die Marxisten jubelten I Die Welt wird reif für den Zukunftsstaat, bald
wird die Frucht der darbenden Menschheit, dem Proletariat zufallen----
Marx hatte von seinen Verhältnissen aus geurteilt. Die Entwicklung, welche die
Industrie und Wirtschaft fünfzig Jahre später nehmen würde, konnte er nicht
ahnen. Seine Nachfolger haben den Fehler begangen, daß sie seine Lehre als
Evangelium aufnahmen, aber nicht nut der veränderten Zeit den neuen Verhält¬
nissen anpaßten.
Marx war der Ansicht, daß, wenn der Unternehmergewinn dem Arbeiter
zufalle, statt dem Kapital, und wenn der Arbeiter die Arbeit leiste im Gefühl, daß es
für ihn selbst sei, daß dann die Zeit der Gerechtigkeit, des menschenwürdigen
Daseins, sowie der Glückseligkeit des Volkes gekommen sei. Marx war gegen jeden
gewaltsamen Umsturz. Der Augenblick der Reise mußte nach ihm kommen, wenn
alle Wirtschaft so vergesellschaftet sei, daß es nur noch der Entfernung der
kapitalistischen Führer bedürfe, um das Proletariat in seine Rechte einzusetzen.
Je schneller also die Vertrustung und Vergemeinschaftung der Wirtschaft kam,
desto schneller kam die Reife. Schon vor dem Kriege ballten sich die Machtmittel
der Arbeiter zusammen, offen trat man der alten Gesellschaft gegenüber und der
Krieg war vielleicht nur ein — mehr unbewußtes —Hilfsmittel der alten Macht,
um den Umsturz zu verhindern. Es kam anders, der Weltkrieg hat den Damm
gebrochen. Die Massensehnsucht überflutet die Wirtschaft, und vergeblich scheinen
wir nach Rettung aus.---
Der große Führer der Massen hat in seinen Thesen zwei große und grund¬
legende Fehler begangen. Auf den einen, der hier nicht weiter verfolgt werden
soll, hat Professor Franz Oppenheimer in seinen Schriften hingewiesen. Marx
hat die Verhältnisse der Landwirtschaft vollkommen falsch beurteilt. Den anderen
Fehler konnte er nicht sehen, denn keinem Menschen ist es gegeben, die Entwicklung
auf ein halbes oder ganzes Jahrhundert im Voraus zu schauen. Seine Nachfolger
haben den weit schlimmeren Fehler begangen, seine Lehre als etwas unumstößlich
Gegebenes aufzufassen und nicht der Zeitenfolge gemäß auszubauen, zu erweitern
und anzupassen.
Es ist vollkommen verkehrt, daß es nur der Abführung des Unternchmer-
gcwinnes an die Arbeiter bedarf, und der Kontrolle der Werkstätten durch den
Staat, um die soziale Frage zu lösen, den Proletarierstaat aufzurichten und der
Erde den Frieden wieder zu schenken. Der Unternehmergewinn auf die Masse
oder den Staat verteilt ist ein nichts. Selbst die Arbeiterführer, sind hierüber in
ganz falschen Illusionen verfangen. Auch das Schlagwort, daß der Ertrag der
Arbeit dem Arbeiter gehören müsse, ist nicht viel mehr als ein schönes und
wirkungsvolles Schlagwort. Tatsächlich hat der Arbeiter auch jetzt schon 90 bis
95 Prozent des Ertrages erhalten, und nur die Multiplikation mit soviel Tausend
Arbeitern ließ für den Unternehmer und das .Kapital diese Rieseugewinne ent¬
stehen. Also die 5—10 Prozent mehr machen den Arbeiter nicht glücklich.
Außerdem, der soziale Staat will auch leben, und noch mehr leisten als der alte..
Wenn man nun das Kapital zerstört, welches bisher den größten Teil der Staats¬
kosten zahlte, so werden die Staatseinnahmen künftig aus den sozialisierten Staats¬
betrieben und aus den Steuern der Arbeiter genommen werden müssen. Also
an Stelle des Arbeitgebers Kapital tritt der neue Herr, der Staat. Vieles wird
sich bessern; der Aufstieg wird freier werden, aber das, wonach das Volk sich sehnt,
seine Freiheit und sein Glück, werden auf diesem Wege nicht kommen.
Der Gedanke nach dem vollen Arbeitsertrag und dem Proletarierstaat hätte
noch nicht den Bolschewismus erzeugen können und müssen, und doch durchdringt
der Gedanke die ganze Welt. Wenn auch noch an vielen Stellen kaum merkbar,
mehr oder weniger stark, mit dem Ort angepaßten Abänderungen taucht er an
allen Ecken auf. Es muß doch mithin in unserer Zeit etwas liegen, was diesen
Gedanken an allen Stellen emporschießen läßt, nachdem er in Nußland geboren
ist. Man darf sich auch durch die furchtbaren, grausamen und verderblichen Aus¬
wirkungen der Bewegung, vor allein in Rußland, nicht davon abhalten lassen,
nach dem ideellen Kern zu forschen. Es ist der Wunsch nach Freiheit und nach
Selbstbestimmung. Der Mensch will nicht mehr als Werkzeug einer unsichtbaren
Macht befohlen werden, nach einer bestimmten Stelle zu gehen, dort acht bis
zwölf Stunden lang immer dieselbe vorgeschriebene — vielleicht verhaßte — Arbeit
zu tun, und keinen Ausweg zu sehen, um wenigstens den Lebensabend nach eigenem
Bestimmen zubringen zu können.
Man betrachte die Zeit vor dein Kriege, und sehe selbst von den Arbeitern
als solchen ab. Wo man hinkam, sei es zu einer Behörde, zu einer Fabrik, zu
einem Kaufhaus, zu sonst einem großen Unternehmen, überall tiefste Unzufrieden¬
heit, Verbitterung und dumpfer Widerwille gegen das Gefühl der Abhängigkeit.
Jeder schimpfte auf sein Amt, sein Bureau, seinen Dienst, seine Arbeit, betritelte
abfällig seine Vorgesetzten, sah die Fehler der Einrichtung und bäumte sich in
dumpfer Ohnmacht gegen den Gedanken, daß er den Zustand nicht ändern und
bessern könne. Dies war nicht nur in Deutschland so, sondern auch im Auslande.
Je höher die Bildung der Menge stieg, desto größer wurde der Druck durch Ab¬
hängigkeit und die Unzufriedenheit. Dies alles kann doch also nicht durch Zufall
entstanden sein, auch kann nicht alles an den Einrichtungen falsch und verkehrt
gewesen sein, denn auch die, welche die Anordnungen trafen waren meist durch
die Schule der Massen gewandert.
Hier war ein neues Gesetz der Wirtschaft entstanden! Hier liegt die Er¬
klärung, weshalb gerade ein großer Teil gebildeter und geistig hochstehender auf
dem linkesten Flügel steht. Statt einzudämmen und einzulenken haben wir den
Geschwindschritt der Masseuversklavung der Welt erhöht. Staat und Wirtschaft,
Kapital und Industrie arbeiteten auf immer größere Zusammenballung der Menge,
auf Unterdrückung des freien Mannes, da angeblich hierdurch die menschliche
Entwicklung gefördert werde. Es ist der Drang nach freier Bestimmung, nach
selbstgewählten und von äußerem Zwange freien Lebens, der die Welt durchbraust.
Die Lohnforderungen des Augenblicks sind Nebenerscheinungen. Der freie Mann
kehrt sich nicht so sehr an den Acht stundentag, und ist mit geringerem Einkommen
zufrieden. Man biete einer Menge von Arbeitern und Angestellten ein freies,
selbständiges, aber mühevolleres und weniger ertragreiches Dasein, und von 100
werden mindestens 80 zugreifen.
Auch der neue soziale Staat hat noch nicht erkannt, daß dies die wahre
Triebfeder ist, und daß die Marxsche Lehre nach dieser Richtung ausgebaut werden
wuß, Alle die Versuche uach Verstaatlichung und isozialisierung, welche jetzt
gemacht werden, — und mit denen man sich aufhält, statt am Aufbau zu arbeiten —
Müssen nur zu neuen Scherben führen. Wenn nicht die zwingende Notwendigkeit
bestände höhere Staatseinnahmen zu schaffen, sollte man mit der Zusammen¬
hang Betriebe auch im Staate besser abhauen, als noch mehr Herdenmenschen
schliffen. Auch die Verhältnisse in den Beamtenräten lassen erkennen, daß hier
^ne tiefere seelische Triebfeder vorhanden ist. Firmen und Anstalten, bei denen
das Verhältnis zwischen Leitung und Angestellten immer vorbildlich war, haben
in den letzten Wochen erfahren müssen, wie plötzlich ein tiefer Riß und eine weite
Kluft Direktion und Beamte voneinander trennte. Oft ohne jede Rücksicht auf
die Möglichkeit der Ausführung sind nicht nur von den Arbeitern, sondern auch
von den Angestellten Forderungen aufgestellt worden, die eine vollkommene Ver¬
wirrung der Begriffe und Verkennung der Lage bekunden. Auch die alten Beamten,
auf welche die Direktion glaubte sich unbedingt verlassen zu können, haben sich durch¬
weg der Bewegung angeschlossen. Wenn also eine Bewegung so elementare Ge¬
walt und solche Verbreitung annimmt, so muß ihr auch ein tieferer Kern inne
wohnen. Der augenblickliche Entschuldung? launet allein kann die Triebfeder
nicht sein.
Die Ursachen der Katastrophe der Zeit ist der Raub der Freiheit der Menge.
Beschleunige und verschärft wurde der Zustand durch die Sucht des Kapitals nach
rascher Vermehrung. Man betrachte einmal, von hoher Warte, die Wirtschaft der
Well vor dem Kriege, und man muß zu dem Ergebnis kommen, daß die Menschen
von Wahnsinn besessen waren. Mit fieberhafter Hast wurden immer neue Jn-
dustri n aus dem Boden gestampft. Schoß eine solche über den Bedarf hinaus,
so zerbrach man sich den Kopf, wie der Verbrauch erhöht werden könne, nur
damit neue Mengen von Waren erzeugt, und neue Massen in die Fabriken ge¬
zwungen werben konnten. Die einzelnen Staaten erkannten als höchste Forderung
die Förderung von Industrie und Handel. Zölle und Gesetze wurden nur hieraus
zugeschnitten, ein wildes Rennen um Absatzgebiete und Weltmarkt begann. Immer
schneller und fieberhafter wurde das Tempo, und wo aliis nicht half die Mi߬
geburt am Leben zu halten, da wurde sie mit Prämien künstlich gestützt. Während
uns Boden zur Ernährung unseres Volkes fehlte, mußten wir 20 Mark auf den
Zentner Zucker Prämien zahlen, nur damit England für den halben Preis das
Nahrungsmittel erhalte.
Amerika wirft seine Jndustneprodukte zu Preisen auf den Weltmarkt, die
oft ein Bruchteil von dem sind, was das eigene Land dafür bezahlt. Japan
führt seine Seide zu verlustbringenden Preisen aus, um den eigenen Bedarf in
Baumwolle zu decken, welche es vom Auslande beziehen muß. Durch die Welt
tönt der Schrei nach „eigener Industrie", reine Agrarländer wie Ungarn und
Nußland vernichien den Frieden des Volkes, indem sie mit Gewalt, durch Zölle,
Prämien und Vorrechte die eigene Mechanik ins Land rufen. Alle Lander
posaunen ihre Jahresberichte hinaus, und rühmen sich der Fortschritte in Industrie,
Handel, Ausfuhr und Umsatz. Schiffahrtslinien werden staatlich gestützt, nur damit
der Austausch der Waren immer schneller vor sich geht.
An Japan sieht man deutlich, was das Feldgeschrei nach Industrie, Aus¬
fuhr und aktiver Handelsbilanz in kürzester Zeit auszurichten vermag. Vor
50 Jahren noch von der Außenwelt abgeschlossen, genügte das Land sich selbst.
Durch die Beglückung der Amerikaner geöffnet, setzt sofort das Hasten nach west¬
licher „Kultur" ein. Mit unbezähmbaren Ehrgeiz riß man alle „Errungenschaften"
der Neuzeit an sich. Gewiß: man hat heut Armee, Flotte, starken Handel,
Kolonien und Macht. Aber, daß die Masse des Volkes dadurch friedlicher und
glücklicher geworden wäre, wird niemand behaupten. In kaum einem Lande wird
ein sblcher Raubbau am Volke getrieben. Sollte die bolschewistische Welle bis
zum Lande der aufgehenden Sonne gelangen, die Folgen würden dort besonders
verderblich sein.
Aber heißt es, wir brauchten unsere Ausfuhr, um die Einfuhr zu bezahlen.
Dies wird bestritten! Die Ausfuhr in Deutschland ist in Wechselwirkung mit der
Einfuhr gestiegen und umgekehrt. Wäre es nicht richtiger gewesen, auf Mittel
zur Senkung der Einfuhr zu sinnen, als eine ungesunde und verderbliche Ausfuhr
hochzup eil scheu? Schließlich, was für das eine Land Zwang war, brauchte vom
anderen nicht als Sport betrieben zu werden und für die Vereinigten Staaten
z. B. ist die Ausfuhr von Jndustrieerzeugnissen nur Sport. Das ganze Land
kann gut ohne eine solche leben. Allerdings hätten wir in Deutschland dann wahr¬
scheinlich unsere Ausfuhr an Menschen aufrecht erhalten müssen. Wenn die Mög-
lichkeit bestanden hätte, durch rechtzeitige Ausfuhr von Menschen unsere Überan¬
strengungen nach Weltmarkt zu mindern und damit den Neid der anderen und
den Weltkrieg zu vermeiden, wohl jeder würde dann heute die Frage beantworten,
daß es besser gewesen wäre, das Ventil nach der Menschenausfuhr hin zu öffnen,
und die Auswanderung zu leiten, ohne sie zu fördern. Das Versäumte werden
wir nunmehr in erschrecklichem Maße nachholen müssen, nur mit dem Unterschiede,
daß man früher den deutschen Auswanderer gern nahm, während es jetzt schwer
halten wird, eine geeignete Gegend für ihn zu finden.
Die vorstehenden Betrachtungen geben den Schlüssel,, warum sich die
Spannung zuerst im Weltkriege löste, warum alles über Deutschland herfiel und
warum mit dem Kriege die Bewegung nicht beendet ist, sondern vielleicht erst
begonnen haben wird.
Die Siedehitze, bis Zu der das Weltwirtlchaftstempo getrieben war, das
Ringen des gegenseitigen Kapitals und der völkischen Industrien, führten zum
Versuch der gewaltsamen Lösung. Natürlich fiel man über den her, der durch
Arbeitsamkeit, Fleiß. Intelligenz und Arbeitsnvtwendigkeit der Gefährlichste erschien,
und das war Deuischlcmd. Darum verband sich auch die ganze Erde gegen uns,
da jeder glaubte, nach Niederwerfung Deutschlands den Druck im eigenen Lands
nach außen ablassen zu können. Die „Unbeliebtheit der Deutschen", die „Un¬
fähigkeit unserer Diplomatie" und ähnliche Ursachen, nach denen wir grübeln,
haben im Grunde genommen wohl nur wenig Einfluß gehabt.
In Rußland war das alte System am schlimmsten, die Macht und
Auswüchse des Kapitals am rohesten. und die Knechtung der Massen am stärksten
vorhanden. Da nun dort der Zusammenbruch zuerst kam, entstand derBolschewismus.
In einem kultivierterem Lande hätte die Bewegung wohl andere Formen ange¬
nommen, aber der Kern ist überall vorhanden, und in der Art und in dem Schritt,
wie sich die Spannung des Krieges löst, folgt die Bewegung über die anderen
Länder nach. Deutschland kam an zweiter Stelle. Der Schritt der Zeit geht
weiter I
Wer hätte noch vor drei Monaten zu sagen gewagt, daß die Bewegung
bei unserem gebildeten, ruhigen und überlegender Volke solche Formen annehmen
könne, und das; sich akademisch geschulte Leute an die Spitze stellen würden.
Hieraus läßt sich doch nur der eine Schluß ziehen, daß etwas von den Freihrits-
ttednnken in allen im Beruf bedrückten Menschen ruht, und daß nur das Fehlen
-des richtigen Weges, und die Angst vor der Wiederaufrichtung der alten Wirt¬
schaft zu den verzweifelten Schritten treibt. Von der Bewegung als solcher muß
wan natürlich die Nebenerscheinungen scheiden. Natürlich hat sich das Verbrecher¬
tum es nicht entgeh?» lassen, sich sofort anzuschließen, denn nach „persönlicher
Freiheit" drängen diese Gestalten alle. Trotzdem nun aber das Überwuchern des
Berbrechertumes die anständigen Elemente zurückschrecken sollte, nimmt die Be¬
wegung nicht ab. sondern auch im Auslande sogar noch zu.
^ Die Erkenntnis ist bitter und hart, aber nur Klarheit kann Linderung der
Leiden bringen.
Nicht Politik, nicht Lauterburger, nicht Selbstbestimmung der Völker, nicht
Fehler einzelner Personen sind die Ursachen des Zusammenbruchcs, sondern die
Mechanisierung unserer Wirtschaft, und die Aufhebung der freien Berufe und
Menschen. Eine Besserung und Umwandlung zum Guten bringt daher nicht der
Völkerbund, nicht die Sozialisierung, sondern nur, wenn es gelingt, den Menschen
wieder frei zu machen.
Dies aber wäre das Todesurteil unserer Industrie, — der Industrie I —
Mit zwingender Notwendigkeit führt vorstehender Gedankengang dahin, daß die
unter der Mithilfe des internationalen Kapitals frei schaltende Industrie die
Schuld am Zusammenbruch der Wirtschaftsordnung trägt. Sollen wir nun alles
Erschlagen, sollen wir. die Fabriken abreißen und sollen wir zum Zustand unserer
Vorväter zurückkehren? Keineswegs! denn dies wäre unmöglich. Aber es muß
erkannt werden, daß Industrie nicht Selbstzweck ist, sondern ein Hilfsmittel, und
zwar ein gefährliches, welches behütet werden muß wie Dynamik. Auf jeden
Fall dürfen wir nicht daran gehen zu versuchen, unseren Handel und die Ausfuhr in
alter Weise aufzurichten, sondern, nachdem der augenblickliche Überschuß an Arbeit
suchenden Menschen in Landwirtschaft und durch 'Auswanderung untergebracht ist,
müssen alle Bestrebungen auf das eine Ziel gerichtet sein, möglichst viel freie
Berufs, Handwerker, Leiter, Vorstände, Direktoren zu schaffen. Der nach Maß
gemachte Stiefel des, früheren Schuhmachermeisters saß meist besser, und kostete
kaum mehr als Fabrikarbeit, denn bei dieser wird die billigere Herstellung durch
den Konkurrenzkampf in luxuriösen Verkaufsstellen wieder aufgehoben. Also für
den Käufer kaum ein Vorteil, vielleicht etwas mehr Beq-uemlichkeit, aber eine
Menge freier Leute wurden zu Arbeitern und Angestellten. Solche Industrien
sollte man hindern. Dasselbe gilt vom Kaufhaus, vom Qberrestaurant, vom
Hotelpalast und ähnlichem. Es ist weiter abwegig, zu glauben, daß immer weiter¬
getriebene Vergrößerung, Verbilligung bedeute. Von einer gewissen Größe an
wird für jede Fabrik der Höhepunkt och Wirkungsgrades erreicht. Von da ab
sinkt das Ergebnis durch das Überwuchern der allgemeinen Unkosten und Neben»
Spesen. Die Zusammenballung zu Uberbetrieben geschah nnr durch den Antrieb
des Kapitals, und der Vorteil derselben liegt nur in der Übermacht des Geldes.
Die hohen Preise, welche zum Gulden bleiben werden, haben zur ruckweisen
Entwertung des Kapitals und des Geldes in 'allen Ländern der Erde geführt.
In keinem Lande wird man sich den Forderungen des sozialen Staates, die
Macht des Kapitals zu hemmen, entziehen können, also wird es leichter sein, das
Bestreben zu stützen, Unternehmungen nicht bis über die Grenze des besten
Wirkungsgrades wachsen zu lassen.
Der Versuch muß dahin gehen, Zusammenballungen aller Art in einzelne
Bestandteile aufzulösen, soweit dies ökonomisch zulässig ist. Dies gilt ebenso von
der Anhäufung der Menschen in den Großstädten, von Verwaltungsbezirken, von
Universitäten, Schulen und ähnlichen Einrichtungen- Der Rektor einer Einzel¬
schule mag nicht mehr Gehalt beziehen, wie er als Oberlehrer einer Doppelschule
bezogen hat, und doch wird er in seiner neuen Stellung zufriedener sein, außer¬
dem mehr und besser arbeiten als vorher.
Nicht trennen kann man solche Unternehmungen, welche dem öffentlichen
Leben und dem Verkehr dienen: Eisenbahn. Post, Telegraph, Straßenbahnen usw.
Aber schon die Kanalschiffahrt wird und kann von einzelnen Unternehmern be¬
trieben werden.
In seinen „Richtlinien für ein sozialistisches Aktions-Programm" führt Karl
Kautsky aus, daß der Klassenkampf durch Sozialisierung beseitigt werden müsse.
Diese Nachbeter Marxscher Gedanken sehen also auch nicht den Kern der Sache.
Das „Kapital" und die „Kapitalisten" im sozialistischen Sinne haben vor dem
Kriege in Deutschland ein Einkommen von 10—15 Milliarden Mark gehabt.
Verteilt man selbst diesen ganzen Betrag auf das „Volk", so kommen auf jeden
140—200 Mark mehr, also ein Nichts. Die Lohnerhöhungen, welche sich die
Arbeiter selbst bewilligt haben, betragen zurzeit schon 15—20 Milliarden, also
mehr als das ganze Kapital im Jahre verdient hat. Man muß wirklich glauben,
daß keiner der sozialistischen Theoretiker jemals die Rechnung auf das Exempel
gemacht habe, um festzustellen, was denn das Volk gewinnt, wenn es alle Pro¬
duktionsmittel in die Hand nimmt.
Selbst wenn alles in Deutschland sozialisiert und vergemeinschaftet ist, wird
sich an dem Einkommen und der Lebenshaltung sowie den Arbeitsbedingungen
der Massen kaum etwas ändern. Glauben die sozialistischen Idealisten nun
wirklich, daß das Volk bei dem gleichen Massenzwang in Fabriken glücklich und
zufrieden sein wird, wenn es das Gefühl hat, für den Staat zu arbeiten? Jeder
Arbeiter, wenn er die Schlagwörter vom sozialen Staate hört, stellt sich darunter
vor, daß er in irgendeiner Weise frei sein wird. Die „Freiheit" spielt in allen
Reden und Schriften die größte Rolle. Eine Umwandlung in den sozialistischen
Staat ohne die Freiheit wird daher keine Ruhe im Lande bringen. Man wird,
Wie dies bereits geschieht, die Führer als Verräter hinstellen, und wird einen
neuen linken Flügel bilden. Warum richten die Arbeiter in Rußland den Arbeiter-
stand nicht aus, warum haben die Führer die Gewalt über die Massen verloren?
und müssen immer den Wünschen der Unvernünftigen nachgeben? Weil dort die
Gegenwirkung gegen den Zwang am schärfsten auftritt, und wie ein in Arbeit
Übermüdeter erst einmal alles hinwirft und ruhen, nur ruhen will, so wollen die
Massen erst einmal das Leben ohne Zwang kosten. Nur wenn die bitterste Not
oder äußere Macht sie zwingt, werden die Arbeiter Rußlands zur Vernunft
kommen. Dort in der ungebildeten Menge arbeitet lediglich das dumpfe Gefühl.
Bei unserem hochgebildeten Volke muß und wird aber die Überlegung mitsprechen,
und es muß möglich sein, durch Aufklärung dahin zu wirken, daß eine Wirtschafts¬
ordnung, welche hundert Jahre zu ihren; Aufbau gebraucht hat, nicht in einem
Monat umgemodelt werden kann.
Hierzu gehört aber einmal die Erkennung der Ursache des Unglücks — und
dies ist die Zusammenballung Tausender in zwangläufiger, vorgeschriebener Arbeit —
und außerdem der feierliche und ernste Wille, alle Kräfte einzusetzen, um uns alle
aus dem Verderben zu reiten. Mit der ruhigen und schrittweisen Durchführung
des Programmes der Sozialdemokratischen Partei kann man einverstanden sein,
im Laufe der Zeit werden sich die Wege fil den, welche uns heute noch dunkel
erscheinen. Aber vor einem muß eindringlich gewarnt werden, und das ist der
Glaube an das Allheilmittel der Sozialisierung. Der Sklave des Kapitals und
der Industrie hat nicht darum Jahrzehnte um Freiheit gekämpft, um nunmehr
Sklave des Staates und der eigenen Organisation zu werden. Wenn die Mehrheit
des Volkes wieder zu freien Bürgern gewandelt ist und nicht als Angestellte acht
Stunden abfröhnen muß, dann erst wird der Zukunftsstaat erreicht sein. Freie
Betätigung jedem, der sich frei betätigen will, das muß das Losungswort der
Zukunft sein!--
Im Anfang dieser Betrachtung war davon ausgegangen worden, daß es
sich um eine Bewegung aller Völker handelt, und nicht um einen örtlichen
deutschen oder europäischen Zustand. Das Heilmittel kann daher nicht von uns
allein ausgehen, sondern nur, wenn alle betroffenen Völker gemeinsam Schritte
ersinnen, dem Übel zu steuern, ist die Rückkehr zu geordneten Zuständen bald zu
erwarten. Leider ist man auf der Gegenseite noch immer in dem Wahn befangen,
und Gewalt den Strom eindämmen zu können. Nichts zeigt die Kurzsichtigkeit
der französischen Regierung besser, als der Versuch, den Achtstundentag in den
besetzten Gebieten wieder aufzuheben. Es wird Aufgabe des Völkerbundes, der
in irgendeiner Form doch kommen wird, sein, auf Mittel zu sinnen, den Urspiung
des Meis — den wilden Konkurrenzkampf der Völker zu beseitigen. Theoretisch
wäre also jede Ausfuhr, welche Dinge betrifft, die das einführende Land selbst
erzeugen kaun, zu verwerfen. Brasilien hat ein Monopol für Kaffee, Indien für
Acis, die Vereinigten Staaten für Baumwolle, Getreide und Erdöl, Japan und
Ehina für Seide usw. Diese Produkte können in den empfangenden Ländern
w'ehe, oder nur ungenügend erzeugt werden. Eine solche Ausfuhr ist also berechtigt
und geboten. Wenn wir aber Wollwaren nach England, und dieses Kohlen nach
Deutschland ausführen, so heißt dies nur den Konkurrenzkampf erhöhen, den
Daseinskampf vieler verschärfen, nur um dem Kapital an einer günstig gelegenen
Stelle Vorteil zu verschaffen. Die Nähmaschinen der Singer Ey., die Kassen
der Cash Register Cy. und die landwirtschaftlichen Maschinen der Harvester Ey.
tonnen ebensogut und vorteilhaft in Deutschland. England oder Frankreich
hergestellt werden. Es ist nur die Organisation des amerikanischen Kapitals,
Welches diesen Firmen fast Welkmonopvl verschafft hat. Man denke nur dies eine
^eispiel gut durch, um die Unsinnigkeit des Systems zu erkennen. Weil ameri-
Ansche Kapitalisten höheren Umsatz' erzielen wollen, müssen wir von drüben die
Maschinen beziehen; und um diesen Einkauf bezahlen zu können, müssen sound-
wviele Deutsche als Arbeiter in die Fabriken wandern und in angestrengtester
Arbeit „konkurrenzfähig" Gegenstände herstellen, mit deren Ausfuhr wir wieder
ein anderes Land von seiner ruhigen und zufriedenen Arbeit aufstören.
Um im Völkerbund Richtlinien für die Behandlung solcher Fragen
finden zu können, wird es notwendig sein, daß die Staaten Aus- und Einfuhr
nicht mehr frei vor sich gehen lassen, sondern Schranken auferlegen. Es müßte
ein Gesetz der Verteilung gefunden werden, nach welchem Erzeugnisse nicht über
eine bestimmte Entfernung hinaus verkauft werden dürfen, da sonst eine näher
liegende Stätte der Herstellung geschädigt wird. Es ist dies nicht so schwierig
wie es aussieht. Schon jetzt versorgen die Kohlen- und Stahlwerksverbändo von
.den nächstgelegenen Erzeugungsstellen aus, um Transporte zu vermeiden und die
Unkosten zu senken. Dies kann natürlich auch im Weltwirischaftsgetriebe vor sich
gehen. Umsomehr lassen sich solche Bestimmungen durchführen und überwachen,
wenn die Weltfrachten nach einem gemeinsamen Schlüssel im Völkerbunde fest¬
gelegt werden. Allein durch die Frachtraten kann man eine Ausfuhr von.englischen
Kohlen nach Deutschland verhindern, und ähnliches.
Brasilien kann z. B. für Millionen Kaffee ausführen. In diese Ausfuhr
teilen sich die Länder. Deutschland soll z. B. ein Fünftel für sich benötigen.
Wenn dann Deutschland auch ein Fünftel von der Einfuhr Brasiliens zugesprochen
wird, oder uns gestattet wird, für ein Fünftel Mark an Fertigwaren auszu¬
führen, so ist der Frieden in der Welt und die Deckung der Einkäufe erreicht,
wenn nach diesem Grundsatz allgemein verfahren wird.
Als die Fabriken größer wurden, kamen örtliche Zusammenschlüsse, dann
vereinigten sich die Industrien eines Landes, und schon vor dem Krieg haben wir
die Votläufer dafür gehabt, internationale Regelung herbeizuführen, um das
Konkurrenzrennen nicht zur verderblichen Preisdrückerei werden zu lassen. Es sei
nur an die gemeinsamen Anleihen für China erinnert, und an die Vereinigungen
zum Wettbewerb um die Vertehrscinlagen von Wien und Konstantinopel. Also
der Gedanke eines weltwirtschaftlichen Zusammenschlusses ist nicht so fernliegend,
als es im 'ersten Augenblick scheinen mag.
Die Lage soll hier nur angedeutet werden, nicht aber Vorschläge gemacht,
welche Maßnahmsn von den Staaten ergriffen werden müßten, um dem Ziele
des Ausgleiches der Kräfte und der Befreiung der Massen näher zu kommen.
Es bleibt anderen Überlegungen und den Forschungen der Fachleute vorbehalten,
durch das verschlungene Dickicht dieser Fragen, Wirkungen und Verknüpfungen
einen Weg zum Lichte zu bahnen.
Gezeigt sollte nur werden, daß im Grunds genommen nur eine Ursache für
den Zusammenbruch vorhanden ist, die Bedrückung des Menschen. An diesem
wichtigsten Eckstein müssen wir die Hebel ansetzen, um das durch das Erdbeben
zerstörte Haus wieder aufzurichten und aufzubauen.
Es ist seltsam, geht man den Zeitfragen bis auf den Grund, so ist letzten
Endes die Technik mit der Einführung der Kraftmaschinen und Schnellverkehrs¬
mittel die einzige Ursache des Zusammenbruches, denn auch daS Uberkapiial,
welches schließlich herrschend war, ist erst durch den Wertzuwachs, den die Industrie
schuf, und die Zusammenfassung, welche diese gestattete, gebildet worden. Mehr
oder weniger offen hat die Technik das Wirtschaftsleben beherrscht, geformt und
vorgeschrieben, und seltsam genug, trotzdem war der Ingenieur beinahe in allen
Staaten von der Leitung des Staates ausgeschlossen, es war ihm meist nicht be-
schieden, den Betrieben, die er schuf,, vorzustehen. Es soll damit nicht behauptet
werden, daß der Techniker die Zeit erkannt, die Gefahr gesehen und das Unglück
gebannt hätte. Im Gegenteil führen die Wege eines Taylor noch mehr zur
Mechanisierung und nicht zur Befreiung des Menschen. Aber in manchem hätte
der Techniker besser gewirtschaftet als der reine Beamte oder Jurist der Ver¬
waltungen. Die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die Berührung
mit den Arbeitern und der Einblick in das Getriebe des werktätigen Lebens
machen den Ingenieur zum sozial denkenden Menschen, der für die berech-
tigem und vernünftigen Forderungen der Sozialdemokratie volles Verständnis
hat. Es gibt keinen Werkleiter, der nicht aus Liebe zum Beruf und aus
Erziehung zur Pflicht darauf bedacht gewesen wäre, das Los der Arbeiter zu
bessern, soweit es die wirtschaftlichen Verhältnisse und der Widerstand der oft recht
unvernünftigen Arbeiter zuließen.
Wenn die Technik der schuldige Teil ist, so hat sie auch die Ehrenpflicht,
alles daran zu setzen, um zu bessern und aufzubauen. Man gebe den Ingenieuren
freie Bahn, um endlich entsprechend dem Einflüsse der Technik an den Geschicken
des Reiches mitzuarbeiten. Vielleicht wird dann doch eine spätereLeit als richtig
empfinden
le, folgenden Zeilen enthalten im wesentlichen eine Jnhalts-
VWM WW-H -Wiedergabe einer im März—April 191 verfaßten Broschüre des
MM i Führers der russischen Bolschewisten, Lenin: „Die nächsten Aus-
ter Sowjetmacht", Verlag der Kouniulnistischen Bibliothek,
U^Ä^W Berlin 1919. (65 Seiten und Anhang.)
—
Es sei ausdrücklich festgestellt und darin beruht der Wert
der Darstellung -—, daß alles verwertete Material ausschließlich dieser Schrift
Lenins entnommen ist, so daß der Vorwurf keiner parteipolitischer Schwarz-
' Malerei von vornherein entfällt. Zur Kontrolle für den Leser sind die Seiten¬
zahlen des Buches stets angeführt. Eigene Zusätze des 'Verfassers dieser Zeilen
finden sich nur in dem Teil der nachfolgenden Besprechung, wo die Reformen
Lenins wiedergegeben werden. Sie sind als Zusätze ohne weiteres kenntlich.
Inwieweit die Erfüllung der ersten Ausgabe geglückt ist, soll und kann
hier nicht untersucht werden. Die Nachrichten, die aus Nußland zu uns dringen,
sind meist im Sinne der einen oder der anderen Partei tendenziös gefärbt; ein
klares Bild zu bekommen, ist unmöglich. Hierüber wird uns hoffentlich die
"tternationale sozialistische Studienkommission, ernannt vom Sozialistenkongreß
w Bern, in nicht all ulanger Zeit objektiven Ausschluß geben können. Hervor¬
zuheben ist, daß Lenin selbst die Aufgabe als in ihren Hauptzügen gelöst (S. 0),
wenn auch bei weitem noch nicht vollendet bezeichnet.
. Auch die zweite Ausgabe, nämlich den Widerstand der Ausbeuter zu unter¬
drücken, ist noch „keineswegs bis zu Ende erschöpft". (S. 6/7.)
Es hat sich als undurchführbar herausgestellt, den Ausbeutern mit einem
Male ihre Reichtümer, die Vorzüge ihrer Organisiertheit und ihres Wissens zu
nehmen. (S. 37.) Wohl ist die Bourgeoisie besiegt, aber sie ist nicht vernichtet,
I« nicht einmal bis zu Ende niedergeworfen. (S. 10.)
Trotz alledem steht jetzt im Vordergrunde die Notwendigkeit, an die dritte
Aufgabe heranzutreten, die Verwaltung Rußlands zu organisieren. (S. 7.) Diese
Aufgabe ist es, welche die Eigenart des gegenwärtigen Momentes kennzeichnet,
und welche die im einzelnen notwendig gewordenen Maßregeln zu recht¬
fertigen hat.
Worin besteht nun die Organisation der Verwaltung? Welches sind in
dieser Beziehung die. nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, welchen Zielen nutz
sie zustreben?
Als die erste konkrete Aufgabe erscheint die strengste Rechnungslegung und
.Kontrolle der Produktion und der Verteilung der Produkte. (S. 6.) Nur unter
der Bedingung, daß diese grundlegende Aufgabe gelöst ist, können die weiteren
Probleme erfolgreich in Angriff genommen werden, nämlich „die Nationali¬
sierung der Banken, die Monopolisierung des Außenhandels, die staatliche
Kontrolle des Geldverkehrs, die Einführung einer vom proletarischen Stand¬
punkt genügenden Vermögens- und Einkommensteuer, die Einführung der
Arbeitspflicht". (S. 20.)
Eine weitere Aufgabe ist die Erhöhung der Produktivität der Arbeit und
endlich die tatsächliche Durchführung einer Vergesellschaftung der Pro¬
duktion. (S. 6.)
Diese Aufgaben, zusammengefaßt unter dem Begriff der Organisierung der
Verwaltung Rußlands, stehen nicht in dem Sinne an dritter Stelle hinter den
Aufgaben, die Mehrheit zu überzeugen und den Widerstand der Ausbeuter zu
brechen, daß man mit der Verwaltung Zeit gehabt hätte bis zur endgültigen
Erledigung der beiden ersten Aufgaben. (S. 12.) Vielmehr verschiebt sich jetzt
lediglich das Schwergewicht zugunsten der Verwaltung. Der Übergang zum
Sozialismus ist bereits längst begonnen worden, aber Entscheidendes ist in dieser
Hinsicht noch nicht verwirklicht. (S. 11.)
Zunächst ist eine Rechnungslegung und Kontrolle in den Wirtschafts¬
zweigen, die der Bourgeoisie fortgenommen sind, noch nicht erzielt. Dekrete sind
zwar erlassen, aber im Leben nicht durchgeführt. (S. 20.)
Die Staatsmonopole als Vorbereitung der Monopolisierung des Außeib-
hcmdels sind nicht genügend gefestigt und nicht in Ordnung. (S. 21.) Eine gesetz¬
mäßige Vermögens- und Einkommensteuer, wie überhaupt Steuern sind nicht
durchgeführt. Statt dessen ersolgt eine Erhebung von Kontributionen von der
Bourgeoisie. (S. 20/21.) Die Arbeitspflicht ist 'erst verspätet eingeführt, aber
nicht durchgeführt. (S. 22.)
Die Aufgabe, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, ist noch nicht
gelöst. (S. 27/23.) Endlich ist auch die Vergesellschaftung der Produktion noch
nicht durchgeführt. (Vgl. S. 37.)
Alle diese Mängel, welche, ich betone dies ausdrücklich noch einmal, Leni«
selbst zugibt und welche nicht von Parteigegnern erfunden sind, diese Mängel
haben sich während der praktischen Durchführung der Organisation im
bolschewistischen Sinne herausgestellt. Die Gründe hierfür sind nach Lenin
folgende:
Der Mangel an einer brauchbaren und den Sozialismus fördernde«
Rechnungslegung und Kontrolle der Produktion und der Verteilung der Produkt«
hat seinen Grund darin, daß es den Eroberern der politischen Macht a»
Erfahrung fehlte. (S. 14.) Verwaltung ist eine Kunst, die dem Menschen nicht
angeboren ist, sondern die er mittels der Erfahrung erlernen muß. (S. 14.)
Hinzu kommt, daß es bislang den neuen Machthabern nicht gelungen war, die
Fachleute der in Frage kommenden Wirtfchafts- und Betriebszweige in den
Dienst der Sache zu stellen. Diese Fachleute, infolge der bisherigen Form de?
öffentlichen Lebens dem bürgerlichen Lager entstammend, haben Sabotage
getrieben und Widerstand geleistet. (S. 14/15.)
Daß die Arbeitsproduktivität noch nicht erhöht worden ist, hat mehrere
Gründe. Einmal ist die Ausbeutung der natürlichen Reichtümer des Landes
noch nicht mit den neuesten Hilfsmitteln der Technik in Angriff genomine«
worden. (S. 28.) Ein weiterer Umstand, der die Produktivität niederhält, ist 5«r
Mangel -an Kultur und Bildung der großen Bevölkerungsmafse. (S. 23.) End¬
lich kommt hinzu ein Mangel an Disziplin der Werktätigen, der Mangel an
Verständnis für die Arbeit und dadurch hervorgerufen ein Mangel an Intensität
derselben. (S. 23.)
Daß die Vergesellschaftung der Produktion noch nicht durchgeführt ist, liegt
daran, daß das Bollwerk, gegen das die Bolschewisten mit erbarmungsloser Wut
und radikalsten Ungestüm mit Hilfe der roten Garden (S. 13) angelaufen find,
Wohl hier und da mehr oder weniger stark beschädigt, aber doch noch nicht
bezwungen ist: Der Kapitalismus. (S. 10, S. 37.) Diese Wirtschaftsform im
ersten Anlauf zu besiegen, hat sich ganz einfach als unmöglich erwiesen. Den
tieferen Gründen dafür hier nachzuspüren, liegt um so weniger Anlaß vor, als
Lenin selbst sich mit der Feststellung der Tatsache begnügt.
Alle diese Mängel haben, soweit ihnen seelisches zugrunde liegt, eine
gemeinsame Basis: Die Psychologie des Entfesselten. Ein nie gesehener wilder
Druck ist plötzlich .von den Massen gewichen. (S. 29.) Jeder atmet ans, richtet
sich empor und reißt die nächsten Güter des Lebens, die die Ausbeuter und Unter¬
drücker ihm versagt hatten, an sich. (S. 45.) Das Chaos des so entfesselten
Bürgerkrieges wird vermehrt dadurch, daß sich alle Elemente der Auflösung der
alten Gesellschaft: Verbrechertum, Bestechungsunwesen, -Spekulationen, ja jede
Art von Scheußlichkeit zeigen. (S. 37/38.)
Alle diese Mängel, deren Vorhandensein und deren Grundlagen damit
aufgedeckt find, müssen behoben werden, und im Heilen dieser Mängel bestehen
die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht. Mit welchen Mitteln dies geschieht, sei
nunmehr eingehend und in kritischer Stellungnahme beleuchtet.
Die erste Maßnahme, die vor allem anderen steht und deren Bedeutung
und Zweckmäßigkeit Lenin mit besonderer Schärfe hervorhebt, ist die sofortige
Einstellung der Offensive gegen das Kapital. Lenin sagt, man dürfe die Aufgabe
des gegebenen Momentes nicht durch die einfache Formel definieren: . Die
Offensive gegen das Kapital ist fortzusetzen. „Abgesehen davon, daß das Kapital
zweifellos von uns nicht niedergerungen ist, und daß es unbedingt notwendig
ist, die Offensive gegen diesen Feind der Arbeitenden fortzusetzen, wäre diese
Definition ungenau, nicht konkret und sie würde die Berücksichtigung der Eigen¬
art des gegebenen Momentes nicht enthalten, indem im Interesse des Erfolges
der weiteren Offensive die sofortige „Einstellung" der Offensive geboten
ist." (S. 11.)
Offenbar soll also die Einstellung der gewaltsamen Expropriation der
Expropriateure eine vorläufige Maßnahme sein, diktiert von der Notwendigkeit
des Augenblicks. Bezeichnend ist, daß Lenin die Rechtfertigung dieser besonderen
Maßregel den Gesetzen der Kriegskunst entlehnt. Wie ein siegreiches Heer
gezwungen ist, seinen Vormarsch nach einer bestimmten Zeit einzustellen, um
Kräfte zu sammeln, seine Vorräte an Kriegsmitteln zu erhöhen, neue Reserven
hevanznbringen, so müsse auch zum Zwecke des endgültigen Sieges die Offensive
Segen das Kapital in einem gegebenen Moment eingestellt werden. (S. 12.)
Dieser Vergleich ist nun aber vor allem schon deshalb falsch und irre¬
führend — ganz abgesehen von seiner Anfechtbarkeit in strategischer Hinsicht —
,^eil im Krieg Gewalt gegen Gewalt steht, zur Kampf der «oder Garden gegen
das Kapital aber Gewalt gegen Geist. Das Kapital als solches ist ein totes Ding,
bem erst menschlicher Geist, menschliche Unternehmungslust, menschliche
Organisation Leben einhaucht. Richtet sich also der Kampf gegen das Kapital,
?o richtet er sich gleichzeitig gegen den menschlichen Geist. Diesen Fundamental¬
satz haben die Unentwegten unter den Sozmlisten kaum gesehen, ein Kommunist
Med ihn erst, wenn er sich den von ihm geschaffenen Tatsachen gegenübersieht,
^leim kann in dem einmal aufgenommenen Kampf gegen das Kapital nicht ein¬
fach eine Feuerpause eintreten lassen, um dann mit verdoppelter Wucht darüber
herzufallen, wenn man gleichzeitig eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität
fielen will, wie dies der ausgesprochene Zweck der Einstellung der Offensive
nach Lenin sein soll. (S. 11.) Droht dem Unternehmer in absehbarer Zeit die
gewaltsame Expropriation, dann sabotiert er sein Unternehmen. Man mag das
beklagen, die Tatsachen aber sind da' und mit ihnen muß man als praktischer
Politiker rechnen. Falls ich nnn Lenin recht verstehe, so hat er dies auch sehr
Wohl erkannt. Wenn er die Einstellung der Offensive gegen das Kapital trotzdem
als vorübergehende Maßnahme darstellt, so scheint mir dies nur eine taktische
Maßregel, mit Hilfe deren er seinen Rückzug von dem eigentlichen Angriffsziele
verschleiern will. Ich leite diese meine, Ansicht daraus 'her, daß Lenin diesen
Punkt seiner Neformmaßnahmeu so überaus umständlich und vorsichtig
begründet. (S. 10/13.) Außerdem aber wird die Darstellung seiner weiteren
Neformmaßnahmen zeigen, > daß Lenin nunmehr, nachdem er' die ihm bis zu
seinem Regierungsantritt mangelnde praktische Erfahrung ergänzt hat, sich
ourchaus nicht scheut, Dogmen preiszugeben, die jeden theoretischen Kommunisten
unantastbare Heiligtümer sind.
Der Kampf gegen das Kapital wird also — jedenfalls sicher „fürs erste" —
eingestellt.
Es s-olgt nun der Aufbau des Wirtschaftslebens, der Organisation der
Rechnungslegung und Kontrolle, der Produktion und der Verteilung der
Produkte. Der Mangel an Erfolg, der sich ans diese»! Gebiete gezeigt hat, soll
nun dadurch behoben werden, daß die besten Fachleute und die größten
Organisatoren zur Arbeit herangezogen .werden. (S. 16.) Dies kann geschehen
„entweder auf alte Art und Weise, auf bürgerliche Art (d. h. für hohe Bezahlung)
oder auf neue Weife, auf proletarische Art (d. h. durch Schaffung von Verhältnissen
der allgemeinen Rechnungslegung und Kontrolle, die unvermeidlich und von
selbst die Fachleute einordnen und einstellen würden)".
Wie dies letztere in der Praxis aussehen soll, verrät Lenin nicht, Vermut¬
lich weiß er selbst es auch gar nicht. Jedenfalls sagt er: „Wir mußten jetzt zu dem
alten bürgerlichen Mittel greifen und auf eine sehr hohe Bezahlung der „Dienst¬
leistungen" der größten unter den bürgerlichen Fachleuten eingehen." Dieser
Schritt ist eingestandenermaßen „ein Schritt nach rückwärts", eine Aufgabe des
kommunistischen Prinzips „einer Gleichstellung der Gehälter mit der -Entlohnung
eines Durchschnittarbeiters". (S. 16.)
Es sei dies ein Tribut für die eigene Rückständigkeit des Proletariats, und
an letzterem liege es, diesen Tribut so bald als möglich überflüssig zu machen
durch Selbstorganisation und Selbstdisziplin. (S. 19.)
Neben der Organisation der allgemeinen Rechnungslegung und Kontrolle
steht das Erfordernis, „die strengste allgemeine allumfassende Rechnungslegung
und Kontrolle des Getreides und der Erfassung des Getreides (nachher auch aller
anderen notwendigen Erzeugnisse) einzurichten. (-S. 25.) Zu diesem Zweck ist
nun ein Dekret erlassen worden, das zur Grundlage dieser Rechnungslegung und
Kontrolle sich der bürgerlichen Genossenschaften und der Arbeitergenossenschaften,
die auf bürgerlichem Standpunkt verharren, bedient. (S. 25.) Hierbei waren
Kompromisse in mehrfacher Richtung zu schließen. Vertreter der Organisationen
(also auch Angehörige der Bourgeoisie) hatten bei Beratung des Dekretes
beschließende Stimme (S. 25), der Grundsatz des unentgeltlichen'Eintritts in die
Genossenschaft und das ^Prinzip des Zusammenschlusses der Bevölkerung einer
Ortschaft in eine einzige Genossenschaft ist aufgehoben. (S. 25.) Ja, die
Bourgeoisie stellt in gewissem Umfange anch Mitglieder der Aufsichtsrate der
Genossenschaften. (S.'26.) , Alle diese'Grundsätze stellen bereits eine derartige
Abweichung vom kommunistischen Standpunkt dar, daß man sich schon jetzt fragt,
U'las eigentlich vom Kommunismus in der Praxis noch besteht. Die Frage wird
sich noch stärker aufdrängen, wenn man die weiteren „Reformen" Lenins
kennen lernt.
Daß Lenin die Einführung gesetzmäßiger Steuern sowie die Durch¬
führung der Arbeitspflicht für notwendig erachtet, ist bereits erwähnt worden.
Bezüglich der Durchführung der Arbeitspflicht, die natürlich bei den Reichen zu
beginnen hat (S. 22), muß aber darauf geachtet werden, daß sie „mit großer
Allmählichkeit und Bedachtsamkeit" durchgeführt wird lau Hand der praktischen
Erfahrungen. (S. 22.)
Zur Hebung der Arbeitsproduktivität sind folgende Mittel anzuwenden:
Zunächst ist erforderlich die „Sicherung der materiellen Grundlage der
Großindnstrie", also die Sicherstellung der benötigten Rohstoffe. Dies Problem
ist für Rußland zum größten Teil eine Frage der Transportorganisation, weil
Rußland alle notwendigen Rohstoffe im Überfluß in: eigenen Lande hat. Lenin
kann mit Recht hierübler mit wenigen Worten hinweggehen.' Es kann für ihn
geniigen, die Forderung' der materiellen Sicherstellung der Großindustrie auf¬
gestellt zu haben. — Von unseren Nachbetern des Bolschewismus — dies nebenbei
bemerkt — wird allerdings dies Problem mit derselben Leichtigkeit behandelt, mit
welcher Berechtigung aber soll und kann hier nicht näher berührt werden. Einige,
denen bei ihrer Gottähnlichkeit doch etwas bange wird und die fürchten, von einem
auch nur einigermaßen geweckten Fabriklehrling auf die grenzenlose Ober¬
flächlichkeit hinsichtlich der Behandlung weltwirtschaftlicher Probleme aufmerksam
gemacht zu werden, helfen sich mit einem inhaltsreichen Begriff: „Welt¬
revolution,"
Ein zweites Mittel zur Hebung der Arbeitsproduktivität ist die Hebung der
Masse in bezug auf Kultur und Bildung. Dies geschieht — so sagt Lenin — jetzt
dank der Sowjet-Organisation.'
Es ist interessant, an diesem Punkte die Jdeenverwandtschaft des Bolsche¬
wismus mit dem französischen «Syndikalismus festzustellen, dieser sozialistischen
Lehre, die ihren Niederbruch bereits im Jahre 1871 erlebt hat. Der Syndikalis¬
mus sieht in den Gewerkschaften die Vorschule für die Arbeiter, in der diese alle
die Kenntnisse erwerben sollen, die sie befähigen, die Leitung der Produktion den
Händen der Unternehmer zu entreißen und selbst Leiter und Organisatoren zu
werden. Genau den entsprechenden Gedankengang finden wir nun im Bolsche¬
wismus wieder, der sich damit — und bei weitem nicht damit allein — als Sohn
des Syndikalismus ausweist.
Kritisch ist dazu zu bemerke», daß eine politische Organisation, wie der
Sowjet sie darstellt, leine Stelle ist, an der man den Produktionsprozeß studieren
kann, zumal seine Angehörigen Proletarier, also nach dem Eingeständnis Lenins
selbst, Nicht-Sachverständige sind.
Weitere Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsproduktivität find 1. die
Hebung der Disziplin der Werktätigen, 2. Steigerung der Intensität der Arbeit
und bessere Organisation der letzteren. Eine Intensitätssteigerung soll erreicht
werden durch Anwendung des — Akkordlohns, also eines Lohnsystems, dessen
Beseitigung bisher sogar die strenggläubige Sozialdemokratie verlangt hat unter
dem Schlagwort „Akkordlohn—Mordlohn". Der Kommunismus, basierend auf
dein Gedanken der Gleichheit aller Menschen — ein Gedanke, der richtig und
segensreich wird in dem Augenblick, in dem man sich die Frage vorlegt und
beantwortet: Worin sind alle Menschen gleich? — der Kommunismus zieht dies
kapitalistische „Ausbeutungsmittel" heran. Er muß es, denn Fleiß, Begabung,
Zähigkeit, Kraft, Wissen sind nicht bei allen Menschen gleich, und man muß nach
Mitteln suchen, um im Interesse der Gesamtheit, des Sozialismus diese Fähig¬
keiten zu fördern und zu steigern. Dieser Satz, zu dessen Erkenntnis nur der
Wille gehört, das Leben so zu fehlen, ore es ist, ist für die .Kommunisten eine
Neuentdeckung.
Ein weiteres Mittel zur Steigerung der Intensität der Arbeit ist die An¬
passung des Arbeitsverdienstes entsprechend den Endsummen der Produktions-
ausbeute. (S. 29/30.) Die Forderung des Arbeiters auf gesichertes Einkommen'
wird kurzerhand über Bord geworfen — im Interesse des Arbeiters (Diktatur
bes Proletariats).
Ein letztes Mittel besteht in der Anwendung des Wettbewerbs. Durch die
Presse sollen die Erfolge der Muster-Kommunen bekannt gemacht werden, die
Ursachen ihres Erfolges, die Methoden ihrer Wirtschaft. (S. 33.) Die hervor»
ragenden Kommunen find zu belohnen durch „Verkürzung einer bestimmten Zeit
des Arbeitstages, durch Erhöhung des Verdienstes, durch Überlassung einer
größeren Quantität an kulturellen oder ästhetischen Gütern und Werten usw."
(S. 33.) Hier .also noch einmal eine Durchbrechung des gleichmäßigen Ein¬
kommens. (Die Schwächen dieses Systems, das anscheinend das Patentrecht und
den Schutz des Urhebers von Gebrauchsmustern abschaffen -will und damit
lähmend auf die Erfindungsfreudigkeit einwirken muß, feien hier nur angedeutet.)
Die Organisation der Arbeit soll vervollkommnet werden, durch An¬
wendung dessen, „-was an Wissenschaftlichem, und Fortschrittlichem im Taylor-
System "vorhanden ist". (S. 29.) Der Kommunismus, eine Lehre, die sich rühmt,
vor allen anderen bestrebt zu fein, die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit
zu Pflegen und in die Tat umzusetzen, stellt in ihren Dienst ein System, das das
gerade Gegenteil dieser Achtung zu seiner Grundlage hat. Das Taylor-System,
die letzte, verfeinertste und für den Arbeiter verderblichste Blüte des amerika¬
nischen Kapitalismus, macht den Menschen zu einem fast leblosen, beliebig ersetz¬
baren Rad im Getriebe eines Niesenuhrwerks, zehrt in nie geahnter Weise an
seinem Lebensmark und macht ihn zu verbrauchten Altmaterial in einer Lebens¬
epoche, in der der Mann nach Naturgesetz in der Blüte seiner Jahre stehen sollte.
Aber der Kommunist scheut nicht vor diesem Mittel zurück, indem er wähnt, der
Werktätige würde sich auch in diese Knochenmühle einspannen lassen zum Ruhme
des Kommunismus. Ahnen denn diese weltfernen Ideologen nicht, daß Zwang
stets Zwang bleibt und als solcher empfunden werden muß, ganz gleich, in wessen
Namen er ausgeübt wird? Glauben sie .wirklich, die Idee des Kommunismus
könne es rechtfertigen, daß die Grundlage alles menschlichen Glückes, die rein-
körperliche Gesundheit, zerschmettert wird? Steigerung der Produktivkraft hat
nur Sinn, wenn die Produkte eine kaufkräftige und kaüffreudige Abnehmcrschaft
finden, ist laber das Proletariat — und unter seiner Diktatur und zu seinem
Vorteil geschieht doch das alles —-.ist aber das Proletariat gesundheitlich ver¬
nichtet, dann hat eine Steigerung der Produktion gar keinen Sinn.
Es ist bereits erwähnt worden, daß neben der Erhöhung der Intensität der
Arbeit und der Verbesserung ihrer Organisation auch die Disziplin der Werk¬
tätigen einer Förderung bedarf. „Jede maschinelle Großindustrie . . . (erfordert)
die bedingungslose und strengste Einheit des Willens" (S. 43) und diese Einheit
des Willens kann gesichert werden" durch „Unterordnung des Willens von
Tausenden unter dem Willen eines einzigen", durch „widerspruchslose Unter¬
ordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeits¬
prozesses." (S. 44.) Der „Meetingdemokratismus der arbeitenden Massen" darf
sich nur außerhalb der Arbeitszeit betätigen, nicht während derselben. (S. 47/48.)
Die Aufgabe der kommunistischen Partei besteht jetzt darin, die Masse auf den
sicheren Weg, „auf dem Weg der Arbeitsdisziplin, auf den Weg der Über¬
einstimmung von Meetings-Beschlüssen über die Arbeitsbedingungen mit den
Aufgaben der unweigerlichen Unterordnung unter den Willen des Sowjet-
Leiters, eines Diktators, während der Arbeit zu'führen". (S. 46.)
Auf diese Stelle kann nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden. Es soll
und muß nach Lenins Worten „Übereinstimmung" erzielt werden zwischen den
Beschlüssen der Arbeiterversammlungen und den Aufgaben der Unterordnung
unter den Betriebsleiter. Da der Betriebsleiter aber nur ein Sachverständiger
sein wird, wie man auf Grund dies an anderer Stelle bereits Ausgeführten
vermuten darf, der Sachverständige aber in Fragen des Betriebes ausschlaggebend
sein muß und soll, so ist ohne weiteres einzusehen, welch klägliche Rolle die
Arbeiterversammlungen noch zu spielen haben. Sie haben ihre Beschlüsse in
„Übereinstimmung" 'mit den Anordnungen des Produktionsleiters zu bringen,
das heißt, sie haben zu parileren. Besonders interessant wird dies alles durch die
bereits berührte Notwendigkeit, zu Leitern des Arbeitsprozesses bürgerliche Fach¬
leute zu machen, praktisch also doch Wohl die früheren Unternehmer.
Die Unterordnung selbst aber wird.gewährleistet — dies ist nach Lenin ein
Zeichen der Eigenheiten der Übergangszeiten vom Kapitalismus zum Sozialis-
mus — durch Anwendung von Zwang, „und in der Weise, daß die Losung der
Diktatur des Proletariats nicht durch die Praxis eines breiartigen Zustandes
der proletarischen Macht beschmutzt wird". (S. 31.) Jeder, der' die Arbeits¬
disziplin in einem beliebigen Wirtschaftsbetriebe übertritt, ist „vors Gericht zu
stellen und erbarmungslos zu bestrafen". (S. 40.) Wo also unter dem kapita¬
listischen Sieg im« einfach Entlassung, oft nicht einmal dies, erfolgte, und der
Arbeiter sich ohne weiteres nach anderweiter Arbeit umsehen konnte, tritt hier
gerichtliche Bestrafung ein.
Wir sind am Ende der Wiedergabe und Kritik der Leninschen Schrift. Ein
Grauen überkommt den wirklichen Sozialisten, den Menschen, dem Ziel und
Zweck seines politischen Strebens ein glückliches, freies, frohes Menschengeschlecht
ist, bei dem Gedanken daran, was der Bolschewismus vernichtet hat, um schließlich
doch zu der Erkenntnis zu kommen, daß er an das Vorhandene anknüpfen muß,
daß sich ein Paradies nicht laus der Erde stampfen läßt, daß die Revolution Wohl
Politische Ausdrucksformen des Staatsgedankens mit einem Schlage zu ändern
vermag, daß aber das Leben innerhalb dieser Form organisch wachsen muß. Daß
Lenin praktisch seine Umkehr vollzogen hat, und zwar ganz in der Art von Leuten,
die aus Unkenntnis des realen Lebens von einem Extrem zum andern schwanken,
daß er leine Diktatur des Proletariats durchgeführt hat, bei der das Proletariat
nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Diktatur ist, das hat Wohl die Darstellung
seiner Neformmaßnahmen zur Genüge bewiesen. Gewiß, sie sollen Übergangs-
wgeln' sein. Wie lange aber soll der Übergang dauern? Lenin sagt: zehn und
vielleicht noch mehr Jahre. (S. 50.) Diese Zahl ist sicherlich viel zu niedrig
gegriffen. Zu dieser Erkenntnis, zu der Erkenntnis also, daß nicht Revolution,
sondern nur Evolution auf wirtschaftlichem Gebiete .möglich ist, wird Lenin
sicherlich noch kommen, falls ihn nicht vorher der Zorn des in seinen Zukunfts-
träumen betrogenen, in seiner sogenannten Freiheit geknechteten, verarmten und
verwahrlosten Proletariats hinwegfegt.
NWFM^SS eit dem denisch-französischen Kriege von-1870/71, den Krönungs-
tageu des italienischen Nationalstaates, sind die neuitalienischen
^M^^^5a Bestrebungen auf dem Balkan, in der Adria, Nordafrika und dein
s^Xs^V»Orient neben den traditionellen irredentistischen Zielen immer
unverhüllier zutage getreten. Das Trentino und Trieft waren die
nationalen Forderungen des neuen Italien, nach der Adria, dem
Balkan, Nordafrika und Kleinasien gingen die Wünsche derer, die eine Wieder¬
geburt des römischen Weltreiches von dem italienischen Nationalismus der Gegen¬
wart erhofften. Gewiß mögen die italienisch! n Aspirationen auf Welschtirol vom
Standpunkt des Nationalilntenprmzips ihre Rechtfertigung haben und einer nickt
winter überzeugenden Beweisführung mag es gelingen, ein historisches Recht der
Erben des römischen Imperiums ans Erneuerung zu konstruieren. Alle Berufung
"uf Rechte, die die Geschichte verliehen, ist politisch aber nur dann zwingend und
gültig, wenn jenen historischen Imponderabilien kongruente völkische Energien
wirksam sind, wenn die fiktive Erbschaft auch durch eigene Kraft erworben werden
kann, um sie zu besitzen.
Das amtliche Italien und besonders sein markantester Vertreter seit Cavour,
Francesco Crispi, hat denn auch in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten und
dem folgenden Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts dem neuen italienischen
Imperialismus gegenüber in kühler, abwartender Reserve gestanden Crispi war
Poliiiker genug, um zu erkennen, daß seine ursprünglichen, auf dem Voden der
revolmioi arm Jrredenta entstandenen Pinne gegen Österreich-Ungarn unzulänglich
waren, weil ihm nicht ein Mittel, das zu ihrer Durchführung notwendig gewesen
wäre, zur Disposition stand. In der berühmt gewordenen Unterredung mit
Bismarck in Gastein (17. September 1877) hatte Crispi, die Cauoursche Taktik
befolgend, nochmals den ernstlichen Versvch, gemacht, mit ausländischer Rücken-,
deckung Italien aus Kosen: des südtirvliichen Besitzes der Habsburgischen Monarchie
zu vergrößern. Nach seinen eigenen Memoiren hatte der russisch türkische Krieg
von 1877/78, der Österreich eine Erweiterung seines Mittelmeerbesitzes zu bringen
schien, eine Situation geschaffen, an der Italien nicht uninteressiert bleiben konnte.
„Wir Italiener können auf alle Fälle an der Lösung der Orientfrage kein so
geringes Interesse nehmen wie Sie. . . . Geschieht es aber, daß Rußland, um sich
der Freundschaft Österreichs zu versichern, diesem Bosnien und die Herzegowina
anbietet, so kann Italien nicht erlauben, daß Österreich diese Länder besetzt. Sie
wissen, im Jahre 1L66 blieb Italien ohne Grenzen nach den Ostalpen, und wenn
Osterreich neue Provinzen erhielte, die es im Adriatiscken Meere verstärkNn, bliebe
unser Land wie in eine Zwangsjacke eingeengt, und so oft es dem Nachbarreiche
gefiele, einer Invasion ausgesetzt." Crispi wollte von einer ihm durch Berlin
und London garantierten Kompensation in Albanien oder Tunis nichts wissen,
er hatte damals lediglich das eine Ziel im Auge, den italienischen Nationalstaat
durch die Sicherung seiner Ostgrenzen gegen Osterreich auszubauen. Er war in
jenen Tagen noch zu sehr Irredentist und als solcher von einer Doktrin beherrscht,
die ihm verwehrte, aus den europäischen Ereignissen realpolitischen Gewinn
zu ernten.
Crispi hatte vor allem erkannt, daß ein deutsch-italienisches Freundschafts¬
verhältnis im Interesse der italienischen Nation liege. Er hatte nun erfahren,
daß Bismarck nie einem deuisch-italienischen Bundesverhältnis zustimme, das die
Spitze gegen Osterreich nehme, indem es die Politik der italienischen Jrredenta
decke. Aus dieser Sachlage hat Crispi die Konsequenz gezogen. Sein ganzes
politisches Kämpfen läuft seit dem Jahre 1877 darauf hinaus, den Weg noch
Berlin über Wien zu nehmen, mit anderen Worten: um die deutsche Freu, dschast
zu gewinnen, das irrcdentistische Ziel der Erlösung des Trentinos und Triests
preiszugeben. Das war eine große politische Tat, die erfolgt war auf Grund
der restlosen Erkenntnis der Realitäten im politischen Geschehen. Das unterscheidet
Criepi von'den späteren italienischen Imperialisten, die niemals weder auf das
Trentino noch auf Albanien, weder auf die Henschaft in der Adria noch auf die
Festsetzung in Nordafrika Verzicht leisteten. Bis freilich dieser Entschluß Cnspis
in die Tat umgesetzt werden konnte, bedürfte es noch harter Kämpfe geaen den
politischen Doktrinarismus der Jrredentisten, die eher noch einige ihrer Provinzen
an Frankreich abgetreten hätten, als daß sie sich mit dem österreichischen Erzfeind
verbündeten. Dieses italienische Beispiel liefert einen schlagenden Beweis für die
maßlose Gefährlichkeit jener politischen Theoretiker, die durch die Anerkennung
eines Dogmas die Politik eines Staates auf irgendeine vorgefaßte Richtung fest¬
legen wollen, und die durch die grenzenlose Verfänglichkeit ihrer primitiven Be¬
weisführungen, wie der bei den jüngsten Theoretikern des italienischen Nationalismus
stets wiederkehrenden: daß die Ehre der Nation die Zerstückelung einer
anderen erfordere und daß der Krieg eine Lebensnotmendigkeit für
die Volksgemeinschaft sei, den gewichtigsten Anteil an der Verhetzung
der Völker und an der ungeheuren Blutschuld der Gegenwart für sich
in Anspruch nehmen können. Cavour und Crispi haben wie Bismarck
diese Demagogen des Nationalismus völlig abgelehnt, weil sie nicht eine krank¬
hafte Verengung, sondern eine ethische Vertiefung des Nationalgeistes erstrebten.
Infolge solcher rationalistischer Voreingenommenheiten gelang Crispi erst
die offene Annäherung an Deutschland und das ihm verbündete Österreich durch
die Zuspitzung des italienisch-französischen Verhältnisses, als Frankreich, ohne
die älteren italienischen Ansprüche zu beachten, von Tunis Besitz ergriff. Die
akute Wandlung der Volksstimmung gegen Frankreich, das durch keinen noch so
lauten italienischen Schmerzensschrei berührt wurde, hatte CriSpi ausgenutzt, um
den Dreibund abzuschließen, der die nationale Fortentwicklung Italiens für die
nächsten Jahre gewährleistete. Zur See hatte England dem italienischen Drei¬
bundsgenossen die unerläßliche Rückendeckung geliehen, um Italien gegen Frank¬
reichs Mittelmcerposition zu stärken.
Unter dem Strom dieser politischen Geschehnisse quoll dennoch ungeschwächt
der alte Haß gegen Österreich. Die Jrredentisten hatten überhaupt nur kurze
Zeit geschwiegen und ihre Agitation für den Erwerb des Trentinos hatte kaum
einen Augenblick stillgestanden. Die Imperialisten als die Verfechter der Idee
des römischen Weltreiches gewannen mit dem wachsenden wirtschaftlichen Auf¬
schwung des Landes gerade in Kreisen der italienischen Gesellschaft stark an
Boden. Die Schule der Realpolitiker, der Crispi und später vor allen Dingen
ti San Giuliani angehörte, und die der Hauptsache nach das amtliche Italien
bis zum Ausbruch des Weltkrieges repräsentierte, lehnte die irredentistischen Ziele
ab, da diese dem Geiste des Dreibundes widersprachen, verfocht aber im übrigen
immer die Ansicht, daß Italien nur in der englischen Freundschaft die Krönung
der Dreibundspolitik erblicke. Die Abänderungen, die der Dreibundvertrag aus
italienische Anträge hin erfuhr, beweisen zur Genüge, daß das amtliche Italien
als Ersatz für den Verzicht auf das irredentistische Programm gewillt, war, zu¬
nächst durch die Fixierung eines kolonialpolitischen Programms mit Zustimmung
der Vertragsmächte und Englands, eine imperialistische Bahn zu beschreiten.
Mancini, der offen zugestand, daß die zu verwerfende irredentistische Agitation
»den Untergang der österreichischen Monarchie" wolle, begründete in der Kammer
als Minister des Äußeren die Notwendigkeit der italienischen Mittelmeer- und
Kolonialpolitik mit den Worten: „Vor dreißig Jahren schon, als Italien noch
ein schöner Traum war, und mir in Piemont gestaltet war, meinen Überzeu¬
gungen freien Ausdruck zu verleihen, da lehrte ich von der Kanzel herab, daß
Italien nach Erringung seiner Einheit sein ganzes Streben auf Gründung von
Kolonien werde richten müssen, daß das Mittelländische Meer für Italien voll¬
ständig ein italienischer See werden müsse." Die Ausbreitung im Mittelmeer
ivar in den ersten Jahren nach Abschluß des Dreibundvertrages tatsächlich die
Sehnsucht der italienischen Machtpolitiker. In diesen Jahren gingen denn auch
Massciua, Eryträa und ein Stück des Somalilandes in italienischen Besitz über,
bis die schmähliche Niederlage bei Ätna (1896) diesen italienischen Plänen ein
Ende bereitete und bis im Jahre 1893 die franzosenfeindliche Politik Italiens
wieder auf dem Zustand loyaler Gegenseitigkeit zurückgeführt war.
Der fieberhaften Tätigkeit der Kreise, die unaufhörlich den Haß gegen
Österreich schürten, war es gelungen, die italienischen Staatsmänner von der
-Notwendigkeit eines freundschaftlichen Verhältnisses zur lateinischen Schwesternation
Zu überzeugen. Seit Crispis Sturz bemühte sich das amtliche Italien, einerseits
durch das Festhalten am Dreibunde auf dem Balkan diplomatische Vorteile zu
Dringen, andererseits aber nicht nur die Freundschaft Englands zu erhalten,
wildem auch die Frankreichs zu gewinnen. Ludo Hartmann zieht daraus die
Lud formulierte Folgerung: „So lange der Gegensatz zwischen den beiden euro¬
päischen Mächtegruppen latent war, konnte Italien unzweifelhaft aus ihm fried-
Wen Vorteil ziehen; als aber durch die aggressive Einkreisungspolitik König
Eduards sich die Gegensätze zuspitzten und je mehr die italienischen Regierungen
Su»n Ersatz für frühere Enttäuschungen sich selbst imperialistische Ziele setzten, desto
Mr mußte auch Italien in den großen Strudel hineingezogen werden. Als
5? die italienische Negierung auf der Konferenz von Algeciras in der Marokko-
tnse auf die Seite der Westmächte stellte und sich von ihnen Zusagen für ihre
eigenen Pläne im Mittelmeer geben ließ, konnte kein geistreiches Wort über die
Erlaubtheit von .Extratouren' darüber hinweghelfen, daß sich Italien trotz Fest¬
halten am Dreibund seine politische Bewegungsfreiheit vorbehielt.^)" Die Ver¬
ständigung der Mittelmeermächte England, Frankreich und Italien war auf der
Marokkokonferenz besiegelt worden, Italien hatte sein Ziel erreicht und der Mittel¬
meergegensatz zu Frankreich war trotz der Erinnerung an die Wegnahme von
Tunis bald verwischt. Visconti Venosta, der damalige Leiter der äußeren Politik
Italiens, war, um den Ruf nach Neuland und Machierweiterung zu beantworten,
mit Frankreich bindende Verpflichtungen eingegangen, die den Italienern als
Dank für die Unterstützung der französischen Marokkopolitik den Besitz von Tri¬
polis verbürgten.
Die dem wirtschaftlichen Fortschritt der großen Mächte angepaßten Schlag¬
worte: Weltmacht, Seegeltung, Weltpolitik fanden ausgerechnet bei den Italienern,
die kaum eine Vorbedingung dazu erfüllen konnten, den größten Widerhall. Nicht
nur die Presse und ein großer Teil der öffentlichen Meinung, sondern auch In¬
tellektuelle, Künstler und Dichter berauschten sich an dem imperialistischen Gedanken,
der, in die Tat umgesetzt, das größere Italien schaffen sollte.
Crispi hatte bekanntermaßen die irredentistische Agitation durchaus ver¬
worfen, aus praktisch-politischen Erwägungen heraus, da er in dem durch seine
Bemühungen zustande gekommenen Dreibund ein Element der Vorbeugung und
nicht der Herausforderung verkörpert wissen wollte. Nur so werden uns seine
scharfen Worte gegen die Jrredentapolitik Italiens ganz verständlich, die sich in
seinen „Memoiren" finden.
So kategorisch Crispi aus rein realpolitischer Erkenntnis die Ansicht verfocht,
daß die Jrredentisten eine Gefahr für Gegenwart und Zukunft der Nation bildeten,
so durchschlagend brach sich dennoch in seinem weitgespannten nationalpolitischen
Wollen der Gedanke der italienischen Weltmacht Bahn, Scudero belegt dies in
einer seiner politischen Publikationen^) mit Crispis eigenen Worten: „Heute festigt
sich Italien und schreitet voran. Hört die Stimmen, die sich in unseren Kolonien
erheben; sie jubilieren; Italien! tönt es vom Ufer des Mittelmeeres, und
schallt es von den fernsten Ozeanen zurück. Tausende von Kindern unseres und
fremden Stammes lernen heute in den verschiedensten Ländern, in den von uns
erneuerten Schulen, in unserer Sprache dies weltliche, arbeitsame und friedliche
Italien segnen, das die Sklawen befreit und die Glaubensbekenntnisse achtet.
Morgen, wenn sie Männer sind, werden sie ebenso viele Werkzeuge unseres
nationalen Reichtums sein. Wir müßten also größenwahnsinnig oder politisch
sehr kurzsichtig sein, aber auf diese Art es zu sein, würden uns weder Mazzini
noch Victor Emanuel noch Garibaldi noch Cavour gestatten; denn diese haben
nie daran gedacht, Italien zur politischen Unfruchtbarkeit zu verdammen. Nur
wenn wir uns an ihrer Größe begeistern, können wir erreichen, daß der italienische
Bürger wieder den anderen Völkern sein ,Liois romanus sum' entgegenrufen
kann." Crispi übersieht, wie alle späteren Propheten des italienischen Imperialis¬
mus, daß Italien das, was es bisher geworden war, großenteils der ihm be¬
sonders günstigen Mächtegruppierung Europas zu verdanken hatte, daß das
italienische Volk und der italienische Staat im Innern noch viel zu unfertig
waren, um im großen Welttheater anzutun.
Hinzu kommt noch der Umstand, daß seit der Wende des Jahrhunderts die
italienische Agitation für eine expansive Balkanpolitik an Raum gewann. Eine
Festsetzung Italiens auf dem Balkan konnte nur an der Ostküste der Adria in
Albanien erfolgen. Daher die Bestrebungen, das albanische Gebiet wirtschaftlich
und kulturell mit italienischem Einfluß zu durchdringen. Trotz des im Jahre
1897 erzielten Abkommens, das die unverletzliche Autonomie Albaniens verbriefte,
ließ die italienische Presse keinen Zweifel darüber, daß man bei sich bietender
Gelegenheit durch Annexion albanischer Gebietsteile den „ststug quo" auf dem
Balkan zu ändern gewillt war. Die Vorherrschaft in der Adria, die Österreichs
Großmachtinteressen beschneiden mußte, wurde immer lauter und ohne ans Wider¬
spruch zu stoßen verkündet. Die Regierung spielte mit verdeckten Karten, sie hatte
nicht die Stärke, sich zu ihren wahren Absichten offen zu bekennen, so daß man
mit Charles Loiseau°) sagen kann, sie habe es verstanden, die Zustimmung der
meisten europäischen Kabinette zu ihrer Balkanpolitik zu erzielen. Die Verein¬
barung von San Rossore (Oktober 1912), die den Süden Albaniens in eine
iialienische Interessensphäre umwandelte, erweist jedoch zur Evidenz, daß man
sich auch im Lager der dreibnndfrcundlichen Regierung veranlaßt fühlte, an den
Gedanken des größeren Italien weitgehendste Konzessionen zu machen.
Das größere Italien war eben eine Utopie, da der italienische Nationalstaat
>n machtpolitischer Hinsicht zu hilflos war. Schon die ganze irredentistische
Bewegung hatte nur äußerliches Gepräge getragen, daß das nationale Band, das
die Welschtirolische Geschichte mit Habs'burg verknüpfte, noch dadurch an Inner¬
lichkeit gewonnen hatte, daß gerade die italienische Kultur in Osterreich eine
außerordentlich günstige Aufnahme gefunden hat.'
Das Mißverhältnis der imperialistisch-italienischen Forderungen zu ihrer
tatsächlichen inneren Berechtigung hat nun um die Wende des Jahrhunderts stündig
an Ausdehnung gewonnen, die schließlich so weit um sich griff, daß die Ansprüche
der an sich getrennten Bewegungen der Jrredenta und des großitalienischen Jm-
Perialismns zusammenwuchsen. Die Tätigkeit der neugegründeten irredentistischen
Schul- und Turnvereine und die unerhörte Wirksamkeit der nationalistischen Presse,
Literatur und Kunst trugen wesentlich dazu bei, den neuen Gedanken des größeren
Italien mit der alten irredentistischen Strömung zu verschmelzen, und die Geistesver¬
fassung des italienischenVolkes im Sinne derEinheit beider Bewegungen zu beinflussen.
Als die praktisch-politische Forderung dieser Strömung entwickelte sich der
einheitliche Anspruch der Italiener auf die Herrschaft in der Adria und Albanien
einerseits und der Eroberungsplan von Tunesien und Abessynien andererseits.
Dieser italienische Imperialismus, der sich nicht einmal auf die Bedürfnisse einer
hochentwickelten kapitalistischen Wirtschaft berufen kann, ist rein ideologisches Macht¬
streben. Er steht in schärfsten Widerspruch zu dem alten Ideal der italienischen
Demokratie: dem Recht der Selbstbestimmung der Nationalitäten, dadurch daß er
Anspruch auf Jstrien und Dcilmatien erstrebt, Gebiete mit überwiegender slawischer
Mehrheit. Das nationale Prinzip wird mit Haut und Haar preisgegeben und
es ist bitterste Ironie, wenn der Russe Rnssanoff glauben möchte, „Italien
habe aus dem Grunde Österreich den Krieg erklärt, weil Osterreich nicht gestatten
wollte, daß Italien um seiner nationalen Interessen willen die erheblich zahl¬
reichere slawische Bevölkerung des Landes unterdrücke.""
Mit dem Literatengeschrei nach dem „Größeren Italien wurde das italienische
Boll unaufhörlich gespeist, und es hat herzlich wenig getan, den scharfen Geschmack
dieser. Kost auf seine ursächlichen Bestandteile hin zu prüfen. Wohl wurde gerade
letzt wieder in einigen bemerkenswerten Publikationen der Nachweis zu führen
versucht, daß die große Masse der Italiener den imperialistischen Gedanken der
italienischen Weltmacht, der nicht wie der anderer europäischer Staaten aus
ewem wirtschaftlichen Erpansivgeist heraus geboren ist, alle Zeit negiert hätte, daß
vielmehr bis zum Eintritt in den Weltkrieg der kleinen imperialistischen Minderheit
«ne starke nichtimperialistische Mehrheit von Italienern gegenübergestanden hätte
und daß es den ersteren erst im Verlaufe des österreichisch-italienischen
Sieges gelungen sei, mit der Kriegserklärung an Deutschland den Gedanken der
italienischen Weltmacht zum beherrschenden Postulat des amtlichen Italiens und
der überwiegenden Mehrheit des Volkes zu erheben. Mir scheint diese Hypothese
nur bedingt'Geltung zu haben. Richtig an ihr ist wohl, daß das offizielle Italien
i" stark isolierter Lage erst zögernd und dann schrittweise, den theatralischen
Heroismus der alten und jungen imperialistischen Ästheten nicht verleugnend, in
der Ideenwelt des modernen Großitalienertums aufgegangen ist. Gesiegt hatte
aber die imperialistische Minderheit durch die nahezu restlose Beherrschung der
öffentlichen Meinung schon einige Jahre vorher, seit den Tagen des tripolita-
nischen Feldzuges.
Gestützt wird diese Ansicht durch die unverhüllte Art, in der die Minorität
ihren wahren Gefühlen Ausdruck verlieh. Ein mir befreundeter deutscher Maler,
der lange Jahre in Oberitalien lebte, wurde in einem Gespräch mit einem
italienischen Advokaten und Leiter eines Automobilkonsumvereins nach den deut¬
schen Aspirationen auf die Weltherrschaft befragt. Als er dem Italiener ant¬
wortete, daß die Masse des Volkes wie alle klar und ruhig denkenden Politiker
in Deutschland nicht an solchen Plänen teil hätte, wurde ihm gesagt, er könne
ruhig reinen Wein einschenken. Sie, die Italiener, handelten auch nicht anders
als die Deutschen, wenn sie nur könnten.
n der mehr als unglücklichen Zeit, als das Kultusministerium
zwischen Konrad Hänisch und Adolf Hoffmann geteilt war und
diesem zur Seite der „Spartakuspädagoge" Gustav Wynecken stand,
^erblickte einer der am meisten angefeindeten Erlasse „an die Schüler
und Schülerinnen der höheren Schulen Preußens" das Licht der
^ Welt. Ohne irgendwelche Anknüpfung an bereits Dagewesenes
„fuhrwerkte" er sozusagen in die Organisation der höheren Lehranstalten hinein
und bescherte ihnen Schulgemeinden und Schülerräte, ohne auch nur den Vorsuch
zu machen, diese organisch in' den Betrieb einzugliedern.
Es kam dazu, daß die Kollegien bei dieser Gelegenheit in echt Wyneckenscher
Art angerempelt wurden und daß die gesamte Schülerschaft gerade durch den
Wortlaut des Erlasses in ein Mißtrauen gegen ihre Erzieher hineingetrieben wurde,
das nicht dazu beitragen konnte, ein besseres Verhältnis zwischen den beiden
Faktoren anzubahnen. Und sicherlich — das kann man heut offen aussprechen —
ist die Anbahnung solchen Verhältnisses auch nicht die Absicht Wyneckens gewesen!
er hat entsprechend seiner sattsam bekannten Sinnesart vielmehr durch den Erlaß
einen Keil auch an den Stellen zwischen Lehrer und Schüler treiben wollen, wo
Vertrauen und freudige Gemeinschaft Platz gegriffen hatten. So war die Erregung,
die sich der Oberlehrer bemächtigte, als der Erlaß bekannt wurde, durchaus
berechtigt. Ein Glück nur, daß Wynecken wenige Wochen darauf schon aus dem
Ministerium ausschied und so eine objektive Betrachtung möglich wurde, die sich
weniger mit dem beschäftigen muß, was nach Wyneckens Wunsch aus der Ver¬
ordnung entspringen sollte, als mit dem, was nun die Oberlehrerschaft aus ihm
machen wollte. Inzwischen sah sich das Ministerium durch die hochgehenden
Wogen der Empörung auch in Elternkreisen gezwungen, für die Schulen, die noch
nicht die beiden Einrichtungen übernommen hatten, neue Normen aufzustellen, die
viel behutsamer ausfielen. Die öffentliche Meinung, einmal aufgeregt, ist aber
nicht fo leicht zur Ruhe zu bringen. Die Erlasse über den Religionsunterricht
und die Trennung von Kirche und Staat taten das Ihrige dazu, die Vorstellung
zu verbreiten, das Ministerium wolle das Unterste zu oberst kehren. Bis in die
letzte Zeit hinein dauerten die Proteste und Kundgebungen auch gegen den Schul-
gemeinoeorlaß, die zum Teil nun auch politische Färbung annahmen, da die
rechtsstehenden Parteien sich des Stoffes zu bemächtigen begannen. Das rief
dann wieder eine aus sozialistischen Boden stehende Arbeitsgemeinschaft auf den
Plan, die in ungeschicktester Weise sich an sämtliche Schülerräte wandte und sie
für ihre Ideale zu begeistern versuchte — kurz: durch alle diese Streitigkeiten ist
der eigentliche Boden des Erlasses fast unkenntlich geworden, so daß es sich
wirklich verlohnt, einmal zu versuchen, das Wesentliche herauszuschälen und sich
mit ihm sine ira et stuclic» auseinanderzusetzen.
"
„Eine erste Möglichkeit soll der Jugend eröffnet werden, „aus innerer
Wahrhaftigkeit und unter eigener Verantwortung an der Gestaltung ihres Lebens
mitzuwirken". Echt radikal-idealistischI Aber doch wie alles Idealistische mit
einer gewissen Berechtigung gesagt! — Wenn heut die Jugend vom zwanzigsten
Jahr aufwärts bereits reif genug erscheint, die Vertreter des Volkes, die dessen
Geschicke lenken sollen, mitzuwählen, so muß die Forderung erhoben werden, daß
diese Jugend bis dahin politisch mündig geworden ist. Dazu aber bedarf es
entschieden einer nicht parteipolitischer Schulung bereits in der höheren Schule,
denn diese wird von vielen erst mit dem neunzehnten Jahre verlassen. Es wird
viele geben, die den Eintritt des aktiven Wahlrechts für zu früh angesetzt halten.
Aber wenn einmal dieser Zustand praktisch eingetreten ist, so ist eine Zurück-
schraubung in die früheren Verhältnisse kaum mehr möglich. Zudem aber würde,
selbst wenn der überaus unwahrscheinliche Fall einer Heraufsetzung des Wahlalters
einträte, der leitende Gedanke des Erlasses bestehen bleiben, daß er nämlich die
Jugend zu innerer Wahrhaftigkeit und eigener Verantwortung für ihr Leben
erziehen will. Und daß dieser Gedanke etwas Bestechendes hat, ja daß er —
von jeder politischen Richtung aus gesehen — geradezu etwas Zwingendes besitzt,
wird niemand leugnen, wenn er auch seine Durchsetzung für schwer, vielleicht für
unmöglich halten wird.
Aber wie? Gibt es nicht in England und Amerika, in Schweden, Nor¬
wegen und der Schweiz längst eine Jugend, die ein viel entwickelteres Gemein-
schaftsgefühl als die unsrige hat? Beklage man nicht bei uns von der äußersten
Rechten bis zur entschiedensten Linken die Abwesenheit solchen Gemeinschafls-
gefühls in unserem Volk? Und wie denkt man sich seine Entwicklung, wenn man
nicht bei der Jugend anfangen will? Sehen wir doch schon heut, daß sich die
Parteien auf die Jugend stürzen, um — weit über das hinaus, was der Erlaß
will, ja geradezu im Gegensatz zu ihm — sie für ihre Zwecke zu gewinnen!
Liegt darin nicht das Eingeständnis, daß bei der Jugend begonnen werden muß,
wenn man die Früchte der Erziehung im entwickelten Alter ernten will?
Sehen wir nun zu, wie sich das Ministerium diese Erziehung denkt. Zu-
nächst verlangt es nicht etwa gegen den Willen der Schülerschaft die Einführung
einer „Schulgemeinde", sondern es überläßt diese dein frei zu bekundenden und
deshalb in geheimer Abstimmung vorzunehmenden Beschluß einer ersten Ver-
sammlung. Damit wird der Jugend ein Vertrauen entgegengebracht, das gewiß
bei den Pruner angebracht ist, während bei den übrigen Klassen — bekanntlich
besteht die Schulgemeinde aus den Obertertianern bis zu den Oberprimanern —
eine Selbständigkeit des Urteils vorausgesetzt wird, die sicher nicht vorhanden ist.
Immerhin war es interessant zu sehen, daß von Anfang an fast die gesamte
Schülerschaft für die Einführung der Neueinrichtungen war. Von außen her ist
dann aus sie ein Einfluß ausgeübt worden, der den Umschlag bewirkte. Daß
dies nicht im Sinne des Erlasses ist. liegt auf der Hand. Jede Bevormundung
und Beeinflussung sollte vermieden werden, die Jugend sich ganz aus sich selbst
entschließen. Nun liegt gewiß in ihrem Wesen — übrigens im allgemein-mensch¬
lichen ebenfalls — eine gewisse Neugier. Aber ist es denn gerechtfertigt, eme
Sache, deren Berechtigung man überhaupt noch nicht geprüft hat, ohne weitere--
abzulehnen? Ziemt sich das für die Jugend, ziemt es sich für das Alter?
Das Ministerium wies nun der Kompetenz der Schulgemeinde, die „zunächst
noch nicht" gesetzgebend sein sollte — solche Gesetzgebung hätte von Anfang an
überhaupt als für alle Zukunft ausgeschlossen bezeichnet werden müssen - „An-
gelegenheiten des Schullebens, der Disziplin, der Ordnuna usw." zu, eine Zu-
sammenstellung, die also alles umfaßt, was man überhaupt hineinnehmen will.
Ob hier eine Ungeschicklichkeit oder der Wunsch des „Vaters des Erlasses" vorliegt,
allmählich wirklich den Schülern Einfluß auf die „Absetzung der Lehrer" — wie
es später in der Presse ausgedrückt wurde — zu geben, brauchen wir nicht zu
untersuchen, da wir es nur mit den Grundgedanken des Erlasses zu tun haben.
Wie wir heut diese Dinge auffassen und wie sie vernünftigerweise nur aufgefaßt
werden können, geht aus der Zielsetzung für die Schulgemeinde hervor. Diese
aber, die ich oben bereits angedeutet habe, kann nur in einer Erziehung zum
Gemeinschaftsleben liegen. Alles, was nur im entferntesten hiermit zu tun hat,
gehört zur Kompetenz der Schulgemeinde, d. h., damit ich nicht falsch verstanden
werde, zu den Gegenständen der Beratung in ihr. Ich rechne in erster Linie
also Maßnahmen der Selbstverwaltung hier hinein. Die Schüler sollen ein
lebendiges Gefühl dafür erhalten, daß sie in der Schule nicht allein stehen, sondern
Glieder eines Ganzen sind, für dessen Leben sie verantwortlich sind. Deshalb
sollen,bestimmte Ordnungsmaßnahmen den Lehrern abgenommen und den Schülern
gegeben werden. Sie sollen die Aufsicht über ihre jüngeren Mitschüler in den
Pausen und auf dem Hofe übernehmen, sie sollen die Schulbibliotheken unter sich
haben, sie sollen auf Ruhe und Ordnung in den Versammlungen sehen — kurz:
sie sollen zum Gefühl der Verantwortung für „ihre" Schule erzogen werden. Alle
diese Fragen werden nicht allein Anträge und Vorschläge und damit auch
Erörterungen nach sich ziehen, sondern auch bestimmte Anordnungen von feiten
der älteren Schüler nötig machen, die von der Gesamtheit gebilligt werden müssen.
Feste und Ausflüge müssen vorher in den Versammlungen besprochen werden,
wenn später alles klappen soll.
Es gibt andere Gebiete, auf denen ein Gemeinschaftsgefühl erwachsen kann:
beispielsweise durch die gemeinsame Arbeit an einer Zeitung, deren Plan vorgelegt,
deren Inangriffnahme von einer einzusetzenden Kommission vorgenommen werden
kann. Es kann zur Gründung von Vereinen angeregt werden, die in der Ver¬
sammlung als gemeinsame Angelegenheit aller besprochen werden. Es muß, wenn
dies alles ins Leben gerufen ist, darüber wieder berichtet werden. Es können
aber auch Fälle aus dem sehnlicher, die weittragende Bedeutung für die Gesamt¬
heit haben, besprochen werden; ich persönlich würde nicht davor zurückscheuen, auch
einmal einen die sämtlichen Oberklassen berührenden Disziplinarfall grundsätzlich
erörtern zu lassen — allerdings gehört hier eil: besonderer Takt des Vorsitzenden
dazu, die Erörterung in richtigen Grenzen zu halten und ebenso eine besonders
wohlwollende Gesinnung des Lehrerkollegiums, das überhaupt der Überzeugung
huldigen muß, baß diese Jünglinge, die ich von Untersekunda ab in die Schul¬
gemeinde zugelassen wissen möchte, es nicht so bös meinen wie ihre Worte bis¬
weilen klingen, andrerseits aber, daß an ihrer Autorität auch dann nicht ein
Tüttelchen verloren geht, wenn die Schüler einmal so reden, wie es ihnen frisch
von der Leber weggeht. Sie müssen eben bedenken, daß bisweilen nur zwei
Monate später der Schüler Student ist und dann sowieso der Schulzucht ent¬
wachsen seine Bemerkungen macht — um so bösartiger, je mehr er vorher geduckt
worden ist. Wir haben während des Krieges oft genng über unser „serviles"
Volk die Nase gerümpft — woher soll denn die durchaus nötige Nockensteifheit
kommen, wenn gereifte Männer schon eine furchtsame Opposition als ein Verbrechen
gegen die Disziplin ansehen?
Nein — darin hat das Ministerium recht: es soll ein neuer Geist des Ver¬
trauens zwischen Lehrern und Schülern Platz greifen! Es ist eine alte WeiZheit.
daß die Schule nur ein Abbild der Kräfte gibt, die im ganzen Volk lebendig
sind. Herrscht draußen eine gesunde, gesetzmäßige, selbstgewollte und selbstver¬
antwortete Freiheit, so darf nicht in der Schule eine Autorität regieren, die auf
dem Besitz der Stellung, nicht aber auf der Persönlichkeit sich aufbaut. Lehren
heißt seine ganze Persönlichkeit einsetzen — nur dann folgen auch die Schüler:
alle Zimperlichkeit erscheint ihnen lächerlich, aber was nützt es, wenn sie scheinbar
sich ducken, um hinter dem Rücken des „verehrten" Lehrers sich über ihn lustig
zu machen? Mit wirklichen: Verirauen vereint sich sehr gut Sirenge in der
Forderung der Pflichterfüllung, ja sie ist das notwendige Korrelat dazu, und gerade
die Schulgemeindeversammlungen sollen das Ihrige dazu beitragen, den ringen
Leuten zu zeigen, daß es nicht Rechte sind, die das höhere Alter gibt, sondern
Pflichten gegen die Gesamtheit und sich selber. Insofern bringt die Schulgememde
genau das, was wir früher unter staatsbürgerlichen Unterricht verstanden. Früher
haben wir geglaubt, ihn zu erteilen, wenn wir unsere Schüler mit den Einrich¬
tungen unseres Staates bekannt machten (und das ist gewiß an seinem ^eile
auch richtig) — heute fast das Ministerium die Sache aber entschieden richtiger
an, indem es den Schülern Gelegenheit gibt, ihr Interesse an der Gemeinschaft
zu betätigen, der sie einstweilen angehören, bis sie in die große des Staates
treten, für die sie die Schule vorbereitet haben soll.
Wenn aber nun der Stoff ausgeht? Wenn all' die schönen Dinge erörtert
sind und nichts, aber anch nichts geschieht, das irgendwie die Gemeinschaft der
Schüler interessieren kann? Nun — zunächst ist das nicht sehr wahrscheinlich.
Dann aber könnten Vorträge der älteren Schüler einsetzen — allerdings Vortrage,
die sich eben mit der Grundidee der Schulgcmeinde befassen, also das Thema der
Gemeinschaft in irgendeiner Weise in Anknüpfung an bestimmte Verhältnisse
behandeln. Es gibt im Unterricht genug Gelegenheiten, bei einzelnen Ereignissen
oder beim Hinweis ans die Privatlektüre auf solche Fragen hinzuweisen und sie
dann von den Schülern behandeln zu lassen. Natürlich muß es hier heißen:
"Freiwillige port" Aber ich glaube nicht, daß dieser Appell jemals vergeblich
sein wird — wenn die Lehrer nicht selber versagen. An solche Themata mußte
sich eine Erörterung anschließen, die die Nutzanwendungen auf die eigene Gemein-
schcift zieht. Es braucht nicht ein Bericht über amerikanische oder englische Selbst¬
verwaltungsverhältnisse in Schulen zu sein, um die es sich hier handeln muß,
eS können philosophisch gerichtete Themata sein, die Grundgedanken Hchtescher
Neben, das Gemeinschaftsgefühl der ersten Christen, Stellen aus römischen Klassikern
über die Durchsetzung des römischen Staatsgedankens usw.
Es muß strengstens darauf gesehen werden, daß parteipolitische Gesichts¬
punkte der Debatte fernbleiben. Natürlich wird es nicht vermieden werden können,
daß die Gegenwart mit in die Erörterung gezogen wird, aber hier kann nur
referiert, nicht kritisiert werden. Dazu ist der Vorsitzende da. An ihm hangt
überhaupt alles. Er muß dafür sorgen, daß die Versammlungen den nötigen
Stoff haben, daß die Debatten nicht zu lange ausgedehnt werden, daß die Meinung
sämtlicher Schüler unbevormundet zum Ausdruck kommt, daß aber keine Person-
ltthen Anwürfe erfolgen kurz: er muß die politische Schulung der Schüler in
leine Hand nehmen und sie so vorbereiten für eine Zeit, in der ste dann frei und
'urch Schlagworte unbeeinflußt ihre Partei selbst erwählen können. Denn darin
'ehe ich den letzten und vielleicht wichtigsten Nutzen, den die Schulgememoe für
unsere höheren Schulen haben kann: eine Schärfung des Verstandes sur Wichtiges
und Unwichtiges, für echte und falsche Reden, für Schlagworte und stichhaltige
Gründe, erworben durch eigenes Reden und Hören der anderen. Die kurze Zeit,
tue dem einzelnen in den Versammlungen zur Verfügung steht, wird einen heil-
samen Zwang auf ihn ausüben, seine Gedanken scharf zusammenzufassen-, alles
das wird eine vorzügliche Vorbereitung für das künftige Leben im Staat sur den
Schüler sein.
Die Grundgedanken des Erlasses - nur das ist der Zweck der vorliegen-
den Zeilen, nachzuweisen — sind gesund. Es wäre richtiger gewesen, sie sich all¬
mählich ausreisen zu lassen, statt Lehrer und Schüler mit ihnen gewissermaßen
?u überfallen. Das zeigt sich am besten bei den ..Schülerräten", an denen ledig-
uch der Name neu ist und übelwollender Kritik reichliche Nahrung gibt. Ver¬
trauensleute der einzelnen Klassen hat es schon nach der letzten Dienstanweisung
gegeben; sie konnten aus der Wahl der Mitschüler in den oberen Klassen hervor-
gehen. Der Erlaß redet jetzt von dem in der Schulgemeinde gewählten „Schüler-
rat", der praktisch genau dasselbe ist, denn es wird natürlich der Schulgemeinde
nicht einfallen, andere als die der betreffenden Klasse genehmen Vertrauensleute
zu ernennen. Lediglich die korpvrative Vertretung der sämtlichen Oberklassen ist
etwas Neues und — herzlich Unpraktisches, denn es wird sicher jede Klasse zu¬
nächst vorziehen, mit ihrem Klassenleiter durch den Vertrauensmann zu verhandeln,
als sofort den Direktor zu bemühen. Um diese Neueinrichtung braucht sich niemand
aufzuregen und tiefsinnige Parallelen zu den „Räten" draußen im Reich zu
ziehen — die alten braven Vertrauensleute haben ihre Pflicht genau so getan,
wo sie wirkliche Vertrauensleute ihrer Mitschüler waren, wie diese neumodischen
Schülerräte mit dem ominösen Namen.
Aber sowie man von diesen Ungeschicklichkeiten absieht, liegt der gute Kern
des Ganzen zu Tage. Es wäre jammerschade, wenn eine verärgerte Oberlehrer¬
schaft ihn unter der, wie zugegeben werden soll, sehr „rauhen" Schale nicht ent¬
deckte und den unleugbaren Fortschritt zur Ausgestaltung der Schülerselbstver¬
waltung nicht gern und freudig mitmachte; es wäre aber noch trauriger, wenn
eine parteipolitisch beeinflußte Schüler- und Elternschaft sich dem Erlaß auf die
Dauer widersetzte und seine Ausführung unmöglich machte.
Eltzlmcher, Paul, Die Presse als Werkzeug der auswärtigen Politik. Jena,
Eugen Diederichs. 1918. — Politisches Leben. Schriften zum Ausbau eines
Volksstaates. (162 S.)
Ein wichtiges und gewichtiges Buch, voller Wahrheiten, Anklagen, Vorschlägen
und Hoffnungen. Was jedem aufmerksamen Zeitungsleser schon jahrelang vor
dem Kriege klar war und was jetzt noch nach den erhebenden und demütigender
Ereignissen zu Recht besteht, ist, daß die deutsche Presse es nicht verstanden hat,
im Selbstbewußtsein ihrer Großmachtstellung dem Auslande immer wieder einzu¬
hämmern, waS der Deutsche geleistet hat und leisten wird. Gerade da unser Volk
sich im Ethos seiner Schuldlosigkeit verlor und die Regierungsorgane, besonders
unsere Auslandsvertreter, sich nicht in den Kreis der führenden und fordernden
Staatsmänner einpaßten, hätte die öffentliche Meinung mit ihrem Schwergewicht
als Korrelat eintreten müssen. Der Verfasser zeigt, wie das im Auslande geschehen
ist, und führt den Beweis mit einer Überlegenheit, die die souveräne Beherrschung
des umfangreichen Stoffes zeigt; dabei gibt er wertvolle Hinweise für die Aus¬
gestaltung des Zeitungsdienstes im Inlands, für die Ausgaben des offiziellen
Presseamtes, die Erweiterung des politischen Teils der meisten unserer größeren
Blätter, die sich leicht in parteipolitischer Kontroversen und in Kirchturminteressen
verlieren, schließlich für die Art des Zeitungsverstehens. Er nennt sein Buch selbst
eine Fibel für Zeitungsleute, und wahrlich, sie werden nicht an ihm wie an einer
ephemeren Erscheinung auf dem Kriegsbüchermarkte vorüber gehen können, sondern
Alle» Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Deutsche Allgemeine Zeitung vom 8. d. Mes. gibt eine Unier-
S^W^redung eines ihrer Mitarbeiter mit dem Reichsminister Erzberger
MW^WUj Z über die Regelung der Danziger Angelegenheit wieder. Aus die
Frage, wie es Erzberger gelungen sei, das Verhängnis der Lan-
dung über Danzig von Deutschland abzuwenden, erhielt der Be-
^MA^W^W erstatter eine Antwort, deren Kern Mpp und klar darin besteht:
Die E n t e n t e h a t gegla u de, d e in A u s b r u es des einmütig ge¬
schlossenen VolksWillens Rechnung tragen zu müssen.
Nicht interalliierte MeinuNlgsverschiedenheiten über die Notwendigkeit und
Zweckmäßigkeit -der Landung, nicht Rücksichten auf die allgemeine Notlage, nicht
Besorgnisse vor dem Bolschewismus haben die Franzosen — die treibende Kraft
in der Zuspitzung der polnischen Frage — zu dem Verzicht aus die Landung be¬
zogen, sondern maßgebend war die gewaltige Bewegung im deutschen Volke, die
thom tiefen Eindruck auf die Entente nicht verfehlt hat. Der Reichsminister hat
hinzugefügt, daß dieses der erste Fall sei, in dem die Entente nach Einstellung
der Feindseligkeiten den nationalen Willen des deutschen Volkes geachtet habe.
^ Aus der polnischen Seite ist man anderer Meinung: Der schrankenlose
Imperialismus ihrer Politik macht die Polen blind gegen das selbstverständliche
/^ehe, gegen die ernste Pflicht des deutschen Volkes zur Erhaltung seiner völki¬
schen Einheit, seiner politischen und wirtschaftlichen Existenz. Polnischer Haß
und Verblendung sehen bei uns nur nationalistische Herrschsucht, wo die bittere
Selbsterhaltungspflicht uns treibt, argwöhnt nur Hinterlist und Ränke, wo das
deutsche Volk offen und einmütig seinen Willen zum Ausdruck bringt. In diesen
Gedankengängen bewegt sich der Posener Gonice Wielkopolski vom 5. d. Mes.,
der die Lösung des Danziger Streitpunktes als Frucht deutscher Treibereien und
internationaler Nebenabsichten anspricht. Was kann die Entente dazu bewogen
haben, fragt das Blatt. Frankreichs „guter Absichten" ist die Zeitung sicher —
Frankreich wolle ja auf jeden Fall die Schwächung Deutschlands (Aha!) — aber
England und Amerika? Nur geschäftliche Rücksichten könnten diese Länder ge¬
trieben haben, Danzig den Deutschen zu belassen, um diese besser für ihre eigenen
Gesamtinteressen ausbeuten zu können!
, Das Blatt irrt sich. Unbefangenheit des Urteils müssen wir ihn: versagen.
'';eichsininister Erzberger hat seinen Eindruck aus dem Gang der Verhandlung in
Wag, nicht durch Informationen hinter den Kulissen, sondern aus seiner per¬
sönlichen Unterredung mit dem Marschall Fons gewonnen; wir dürfen an¬
nehmen, daß seine Beurteilung den Kern der Sache trifft.
Das deutsche Volk hat nach einer endlosen Kette von Enttäuschungen ge¬
lernt, den richtigen Maßstab an die Dinge zu legen, es weiß, daß die Lösung der
Ranziger Episode durchaus kein dauernder Erfolg, kein sicherer Posten ist,
den es schon jetzt endgültig für die kommende Schlußabrechnung vortragen konnte
—- das deutsche Volk hat Marten und sich bescheiden gelernt, frommt uns also
nicht, uns über die Wirkung des letzten — und ersten — Spaaer Erfolges — ein
solches ist das Abkommen vom 4. d. Mes. ja fraglos — unbegrenzten Hoffnungen
hinzugeben, fo fördert es jedoch die politische Einsicht unseres Volkes, wenn es
sich zuvörderst' über die Ursachen klare Rechenschaft gibt. Den Schlüssel hierzu
gibt die behandelte Antwort Erzbergers. Aber auch hier liegt eine große Gefahr,
die zu irrigen Annahmen verleiten könnte, zu voreiligen -Folgerungen, die Mi߬
griffe und Enttäuschungen gebären könnten. Die Entente hat sich nicht unserem
Willen gefügt, weil wir ihn einmütig und entschlossen, unbeugsam und drohend
bekundet haben — das wäre eine schiefe Auffassung, die an dem .Kern der Sache
vorbeiginge —sondern weil er b e r echtigt war/ Gehlen wir aber den Dingen
noch tiefer aus den Grund. Unsere Feinde haben nicht allein eingesehen, daß
wir im Recht waren, sondern auch, daß sich das deutsche Woll seines Rechtes be¬
wußt, von seinem Rechte durchdrungen war, desgleichen auch von seiner Pflicht,
nicht weiter zu gehen, als die von ihm angenommenen Richtlinien des Wllfon-
programmes es erforderten.
Hierin liegt der springende Punkt. Es wäre verdammt verfehlt, sich in die
Brust zu werfen und mit dem Gefühl zur Ruhe zu, gehen, wir könnten alles er¬
reichen, wenn wir nur geschlossen unseren Willen zeigten. Bauen wir nicht —
auch das können wir aus der Erklärung Erzbergers ersehen — auf Meinungs¬
verschiedenheiten der Feinde, auf die Wirrungen in der allgemeinen politischen
Lage, vertrauen wir einzig und allein auf unser Recht, vergessen wir dabei aber
nicht, daß unserem Recht die Pflicht die Wage hält, die Verpflichtung, das zu er¬
fülle», was -wir durch Annahme des Wilson-Programms versprochen haben.
Das ist eine recht ernste Sache. Sie ist doppelt ernst für die Bevölkerung
der Ostmark. res »situm! Es geht um unsere Zukunft. Danzig — Brom¬
berg — Posen; leicht schreibt die Feder diese Worte nebeneinander, doch welche
Brücke müssen sich die Gedanken haim. um das. was hinter den drei Raum
steckt, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu begreifen! Gibt die Annahme
der Wilsonschen Punkte uns das Recht, neben Westpreußen auch Posen deutsch
erhalten zu können?
Das deutsche Volk hat umgelernt im Wollen und Handeln: auch die
deutsche Bevölkerung der Ostmark weiß sich jetzt frei von den Sünden der Ver¬
gangenheit, von den Ausgeburten eines überspannten Nationalismus. Nicht
eigennützige Interessen, nicht eine Vormachtstellung auf Kosten der polnischen
Volksgenossen erstreben wir, sondlern Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist aber der
Grundsatz des Wilsouprogrammes. Gerechtigkeit für Polen und Deutsche.
Das ist der Boden, auf dem wir stehe» müssen, den wir nicht verlassen
dürfen, wenn es gilt, unsere Ansprüche vor dem Forum der öffentlichen Mei¬
nung, vor der Friedenskonferenz zu verteidigen. Auch unsere Stimme muß ge¬
hört' werden, das verlangt die Gerechtigkeit, auch -wir dürfen uns der gleichen
Argumente bedienen wie die Polen, das verlangt gleichfalls die Gerechtigkeit.
Der Spruch der Weltgeschichte — die Polen .berufen sich ja mit Vorliebe auf
„historische Gerechtigkeit" — spricht auch zu unseren Gunsten, auch das deutsche
Volk hat Anspruch' auf Berücksichtigung seiner Lebensinteressen ebenso wie die
Polen: und schließlich noch eins, wenn Polen Gebiete mit unzweifelhaft deutscher
Volksmehrheit aus Gründen der Gerechtigkeit und Lebensnotwendigkeit für sich
beanspruchen darf, ist es uns dlemm versagt, das Gleiche bezüglich gemischter
Teile mit polnischer Mehrheit zu verlangen? Ist das eine berechtigt, das andere
hakatistifch?
Wilsons Theorie ist mit Nichten, wie manche meinen, zu gewaltig, um in
die rauhe Wirklichkeit umgesetzt zu werden; es ist unrichtig, daß sie einen starke!!
Kompromiß mit der Forderung praktischer Ausführbarkeit machen mußte, sie läßt
sich verwirklichen — allerdings, sie läßt sich auch .vergewaltigen, wenn nur eine
Partei zu Worte und 'Gehör kommen darf.
Wir rufen nicht: „Kein Anschreit deutschen, kein Fußbreit Poseuscheu
Bodens wird abgetreten!" sondern wir fügen hinzu: „Wenn es der Forderung
des Wilsonprogrammes nach gerechtem Ausgleich widerspricht."
Wir brauchen nicht versagt und pessimistisch zu sein, was uns not tut, ist
Vertrauen auf uns selbst, auf unsere gerechte Suche. Das genügt aber allein
nicht, wir müssen unsere gerechte Sache beweisen und selbst führen. Bon sich
aus werden die Feinde nicht zu der Erkenntnis unseres Rechtes gelangen, das
ist unsere eigenste Sache, unsere eigenste Pflicht, nicht allein .der Regierung, son¬
dern des gesamten Volkes, insbesondere der deutscheu Bevölkerung der ^stnuirt.
Und dann haben wir Aussicht, daß unser Wille noch einmal und dann endgültig
von der Entente beachtet wird.
er Rätegedanke ist eine Erscheinung der historischen Wende. Dem
Nahblick, der auf die empirische Erscheinungsform eingestellt ist,
kann das werdende Rätesystem von der einen Seite' als eine
Zersetzungserscheinung gelten, die dem Zerfall des straff organi¬
sierten sozialen Organismus in lauter kleine und kleinste
Grüppchen Ausdruck gibt. Genau dieselben Erscheinungen können
"der auch als der Durchbruch eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins aufgefaßt
werden, das sich organisch auf die Keimzelle der sozialen seelisch-leiblichen Einzel-
gemeinde aufblaut, um so vou unten her den sozialen Gesamtmechanismus zu
^uiem echten Gesamtorganismus umzuschaffen.
Im Grunde lassen sich beide Sichten miteinander vereinbaren. Den:
Wngeii hoffnungsfreudigen Glauben, der im Rätegedanken das Neue und
Zukünftige ficht, kann es sehr Wohl als Notwendigkeit erscheinen, daß der alte
^esamtbau zerfällt, damit der junge nach seinen eigenen Gesetzen aufgebaut
weiden kann. Immerhin verdient das eine Beachtung: je^es Räiesystem ist in
wfern eine Sekundärerscheinniig, als es eine Gemeiiischaftsgliederililg und deren
Selbstbewußtsein bereits zur Boraussetzung hat. Dem werdenden deutschen
umteshstem ist die technische Durchbildung dadurch so außerordentlich erschwert
worden, daß der Kosmos der neue« Gemeinschaftsgliederung noch selber tief
we dumpfen, chaotischen Vorzustande steckt. Audeierieils brennen uns die
organisatorischen Grundfragen auf den Nägeln. Das Alte ist durch die Welt¬
revolution zertrümmert. Es besteht nicht die Möglichkeit geduldigen Wartens,
und wie das Neue wächst, sondern es muß ohne Verzug gebaut werden, um
ven völligen Ruin unseres Volkes zu verhindern.
Gerade arter dem Gesichtspunkte dieses Dranges in einer cntscheiduugs-
Mveren Stunde muß es als die Kardinalgefahr erkannt werden, daß durch
Schaffung verfehlter Räteovganisationen nicht nur Stilfehler in den Bau des
!^nell Rätesystems kommen, sondern daß das werdende Gemeinschaftsbewilßtsein
eiver irregeleitet, daß falsche, unhaltbare Solidaritäten geschaffen werden, die an
ttniberbrückteil und unüberbrückbaren inneren 'Spannungen über kurz öder
wig zugrunde gehen und damit auch den Überbau dies Räteshstems sprengen
son! - solche Gefahr scheint mir im Verzüge. Sie liegt, um es kurz zu
wgen, in der organisatorischen Zusammenfassung des Bürgertums in den
Aurgerröten, die nicht dem Fortgange, sondern der Erstarrung und Reaktion
Ausdruck geben. Was bedeutet heute'Bürgertum? Praktisch ist'der Begriff des
Ärgers längst in zwei Pole auseinandergetreten. Im Staatsbürger hat er sich
universalistisch ausgeweidet, im Jargon der Literaten sich unter mißgünstigen
und verständnislosen Aspeken ans die Zerrform des Spießers, des Philisters,
des Bourgeois verengert. Bekanntlich sind die Ansätze unseres werdenden Näte-
shstems ziemlich kritiklos laus Rußland übernommen worden. Dort hatte sich die
doktrinäre, marxistische Zweiteilung in Bourgeoisie und Proletariat mit den
bodenständigen sozialen Gliederungen soweit durchdrungen, daß die durch den
Willen der Revolution zur Diktatur berufene Unterschicht sich in Arbeiter,
Bauern und Soldaten differenziert der einheitlichen Oberschicht entgegengestellt
hatte. Trotz dieser scheinbaren Zergliederung und Auswägung blieb dort der
starre marxistische Dualismus zwischen den Oberen und den Unteren ma߬
gebend, eben jene Doppelung, die bei uns der evolutionäre Sozialismus tatsäch¬
lich längst gesprengt hatte. Das russische Zurückgreifen auf diese zugleich
primitive, zugleich brutale Zweiteilung nach Marxischer Lehre bedeutet im
Grunde genommen Reaktion. Eine jede Rätegliederung, die sich davon nicht
lösen kann, bedeutet also gleichermaßen Reaktion. Diese Reaktion kann von unten
getragen sein, wenn sie sich als Diktatur des dreiköpfigen Proletariats in
Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten aufspielt, sie kann aber auch von oben
befördert werden, wenn durch Schaffung von Bürger-, will sagen Bourgcois-
räten, die falsche auf den Klassenkampfgedanken eingestellte Theorie anerkannt
wird. Der gläubige Marxist wirft alles, was nicht Proletariat ist, in den einen
Topf, auf den er das Schildchen „Bourgeoisie" klebt. Seine der sogenannten
materialistischen Geschichtsauffassung entsprungene Massendoppelung sucht er im
Rätesystem zu verankern und zu verewigen. An diesem reaktionären Beginnen
wird das Bürgertum mitschuldig in dem Augenblick, wo es sich als geschlossene
Klasse ebenfalls geschlossen organisiert. Der Vorwarf also, der den Verfechtern
des Bürgerratsgedankens nicht erspart werden bann, lautet: „Ihr treibt
marxistische Reaktion, denn im Kampf für das bürgerliche Klassenbewußtsein
werdet ihr selber zu indirekten Marxisten."
Der soziale Gesamtorganismus ist von horizontalen und vertikalen Gleich¬
artigkeiten durchzogen. Bildung, Vermögenslage, Sitte und Umgangsformen
liefen bislang wenigstens einigermaßen parallel und führten zu einer horizon¬
talen Schichtung der Bevölberungskreise, innerhalb deren die Erscheinung des
sozialen Aufstiegs von Individuen und Familien einen beherrschenden Antrieb
bildete. In diese geschichtete Gesamtmasse der Bevölkerung war eine Gliederung
der nationalen Arbeit eingebaut, die gewisse vertikale Gleichartigkeiten schuf. Die
einzelne Fabrik, die Behörde und andere soziale Arbeitsgemeinschaften durch¬
querten die Horizontalgliederung und verbanden Arbeiter, Ingenieur und
Generaldirektor, Schreiber, Sekretär und Geheimrat zu einer sozialen Arbeits¬
gemeinde, deren Solidarität zwar durch den überkommenen Kastengeist stark in
den Hintergrund geschoben wurde, dennoch aber immer mehr zum Ausdruck
drängte. In der Überwindung dieses Kastengeistes, in der Betonung und
Steigerung dieses vertikalen Gemeinschaftsgefühls liegt die wichtigste Aufgabe
des neuen Nätesystems. Hier allein kann nicht durch leere Proteste und
Theorien, sondern durch organisch soziale Bildung der in seiner Einseitigkeit
falsche, in seiner verhetzenden und zersetzenden Wirkung überaus verwerfliche
Ki'asfengedanke der Orthodoxen um Marx richtiggestellt und seiner sozial ver¬
giftenden Wirkungen entkleidet werden. Woraus also das organisatorische Augen¬
merk zu richten ist, das ist die natürliche Zusammenfassung gleichartiger Arbeits¬
gemeinschaften zu einem in sich abgeschlossenen Näteorganismus, und nur die
Zusammenfassung dieser vertikalen Gliederungen, also etwa der ganzen Industrie,
des ganzen Handels, der ganzen V>erwaltungsbeamtenschaft, der ganzen Lehrer¬
schaft, des ganzen Grundbesitzes usw. kann den festen Grund für einen Obersten
Zentralrat geben, in dem die Nestbestände der alten mittelalterlichen Geburts¬
standsgliederung überwunden und durch eine moderne Bernfsstaudsgiiederung
ersetzt sind. Marx ist in diesem Betracht ebensogut Mittelalter wie Stahl oder
irgend ein Vertreter der starren sozialen Schichtung von ehedem; das Neue muß
entschlossen mit der Reaktion von links wie von rechts aufräumen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Klafsengliederung jeglichen
Rechtes entbehrt. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte das Recht der Gewerk¬
schaften auch weiterhin fortbestehen, sofern diese Klassenorganisationen sich auf
reine Lohnfragen beschränken. In dieses auch im bürgerlichen Lager aus¬
zubauende Gewerkschastssystcm gehören auch die bisherigen horizontalen
Standesovganisationen, die z. B. die Bolksschullehrerschaft von der Oberlehrer¬
schaft und der Professorenfchaft der Hochschulen abtrennen, während natürlich ein
Lehrerrat alle Lehrer zu umfassen hätte, ohne Unterschied .der Schulgattung, in
der sie tätig sind. Eine reinliche Scheidung tut not. Klassenorganisätionen, die
um fortbestehenden Klassenkampfe Lohnregelungen durchzusetzen" haben, werden
auch fernerhin auf horizontaler Solidarität beruhen, wennschon auch hier die
Primitive marxsche Theorie von den zwei Klassen — eine Umformung der
preußisch-reaktionären Aweischichtung von Herr und Knecht, Offizier und Mann,
Gebildeten und Ungebildeten, Gesellschaft und Volk — überwunden werden
Nluß und überwunden werden wird. Streng aber müssen Klassen- und Berufs-
stand von einander 'geschieden werden. Eine Überwindung des vielschichtigen
Klassensystems und seiner gewerkschaftlichen Durchorganisierung bedeutet das
Nätesystem nur insofern, als es diese Organisationen von kulturellen und
übergreifend wirtschaftlichen Ausgaben entlastet. Die Industrie als Gesamtheit
Hai ober gegenüber dem Handel oder der Landwirtschaft wichtige Gemein¬
interessen, die" eine Klassenorganisation nicht pertreten kann, und die das Partei-
Parlament nicht vertreten soll. In diese Lücke tritt das Nätesystem ein und von
diesen Aufgaben her muß dringend davor gewarnt werden, daß durch verfehlte
Rnieorganimtionen falsche Solidaritäten aeschnsfen v^er überll'bee abstürzt
werden. Damit aber ist dem Bürgerratsgedanken das Todesurteil gesprochen.
as Pariser Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten hat einen
Bericht seines Referenten für Polen über die ethnographischen Ver¬
hältnisse als maßgebende Grundlage für die Rückerstattung der
deutsch-polnischen Gebiete an Polen bekannt gegeben. Prüft man
diesen Bericht naher, so ergibt sich, daß sein Inhalt sich keineswegs
mit der Überschrift deckt. Ganz besonders gilt das im Hinblick ans
^le Äufteilungspläne, zu denen dieser Bericht bezüglich der Provinz Westpreußen
^arge. Hier werden an wichtigsten Punkten die ethnographischen Verhältnisse,
"e angeblich die maßgebende Grundlage für die Aufteilung bilden sollen, voll-
!°""nen beiseite geschoben. Statt dessen tritt in den Vordergrund das Bedürfnis
ver französischen Industrie, ihren Handel mit Groß-Polen auf bequemsten Wegen
M eröffnen und auf breiteste Grundlage zu stellen. Was ein solches Interesse
°^ 'ranzösischen Industrie am polnischen Absatzmarkt mit den 14 Punkten Wilsons
U'lo init der maßgebenden Berücksichtigung ethnographischer Grundlage zu tuu
Moen soll, bleibt ein völliges Rätsel.
. Der französische Bericht selbst gibt zu, daß gerade in Westpreußen die Fest¬
legung der polnisch.preußischen Grenze, wenn man sich an das ethnographische
^'lnzip halten will, großen Schwierigkeiten begegne. Er gibt zu, daß die Kreise,
vie an das Meer grenzen, in der Mehrzahl nur eine polnische Minderheit haben,
co?"'ki aber, diese Schwierigkeiten müßten unter allen Umständen „auf eine Weise
um 1 die den Ansprüchen der Polen auf einen freien Zutritt zur Weichsel-
^""dung, auf den Hafen von Danzig und den ganzen Küstenstrich, die sogenannte
^aicyubei günstig ist, einschließlich des Kreises Putzig mit einer polnischen Majo-
^ ^ Prozent, aber auch einschließlich der angrenzenden Kreise KarthauS
uno Neustadt, wiewohl der letztere in Wirklichkeit nur 48 Prozent polnische
Bevölkerung aufweist".
Der beamtete französische Verfasser gibt für seine Aufteilungspläne aus¬
drücklich die folgende Begründung: „Die geographische Lage dieser Kreise ist überall
die, daß jede andere Lösung als die einer einfachen und glatten Rückgabe den
Interessen Polens und seiner wirtschaftlichen Entwicklung nachteilig sein würde,
mit der wir im Hinblick auf den starken Absatz der französischen Industrie auf den
Märkten des Ostens rechnen müssen." Also nicht die ethnographischen Verhältnisse,
sondern der Absatz der französischen Industrie soll letzten Endes ausschlaggebend sein!
Bei der — übrigens durchaus unvollständigen — Aufzählung der einzelnen
Kreise Westpreußens macht der französische Berichterstatter folgende Kreise mit
polnischer Minderheit namhaft: Neustadt 48,7 Prozent, Flatow 26,6 Prozent,
Schlochau 15,2 Prozent, Danzig Stadt 6,0 Prozent, Marienburg 3,0 Prozent,
Deutsch-Krone 1.6 Prozent. Elbing Land 1.0 Prozent, Elbing Stadt 0,4 Prozent,
Danzig Land 0,9 bis 3 Prozent. Großmütig erklärt er dann:
„In der zweiten Kategorie der Kreise mit polnischer Minderheit kann man
"diejenigen namhaft machen, die an Preußen zurückgegeben werden können, ohne
die Interessen Grosz-Polens dadurch zu schädigen (natürlich mit Ausnahme der
Stadt und der Gegend um Danzig), die Kreise Deutsch-Krone, Elbing und Marien¬
burg können an Preußen zurückgegeben werden. Der deutsche Anteil an den
Kreisen von Flatow und Schlochau kann und muß genau begrenzt werden.
Diese Art von Kompensation an Preußen wird durch ihre Billigkeit einen
guten Eindruck macheu', um aber alle Reklamationen und jedes Handeln seitens
der Preußen zu vermeiden, dürften diese Kompensationen nur nach einer starken
militärischen Besetzung aller oben benannten Gebiete erfolgen."
Auch hur also keinerlei Bezugnahme auf die ethnographischen Grundlagen,
sondern nur Rücksichten auf die großpolnischen Interessen, die als identisch mit
den französischen Interessen betrachtet werden. -
Der amtliche französische Berichterstatter bringt es also wirklich übers Herz,
die so gut wie rein deutschen Kreise Marienburg und Elbing und außerdem den
äußersten Südwestzipfel der Provinz, den rein deutschen Kreis Deutsch-Krone, bei
Preußen belassen zu wollenI — Andere Kreise mit 0.9 bis 6 Prozent polnischer
Bevölkerung sollen dagegen schlechtweg zu Polen geschlagen werden. Daß also
auch noch Teilstücke der Kreise Flatow und Schlochau bei Preußen bleiben sollen,
wird sogar als eine „Kompensation" bezeichnet, die angeblich „durch ihre Billigkeit
einen guten Eindruck machen" solle. Diese Kompensation darf nach französischem
Urteil aber auch erst geleistet werden, nachdem eine starke militärische Besetzung
ganz Westpreußens durch die Polen stattgefunden hat, d. h. nachdem den Polen
ergiebige Gelegenheit geblieben ist, das statistische Bild durch die Vertreibung von
Deutschen und die Heranziehung von Polen Weiler zu Polens Gunsten zu färben.
Unberücksichtigt ist bei dieser Statistik übrigens noch, daß die nichtdeutschen Be¬
wohner der nördlichen Kreise Westpreußens links der Weichsel gar keine eigent¬
lichen Polen, sondern Kaschuben sind — Kaschuben, die unter der früheren
polnischen Herrschaft in tiefstem Elend gestanden und die erst unter preußischer
Herrschaft zu wirtschaftlicher Entwicklung gelangt sind.
Auch in diesen Bezirken haben die Polen während der letzien Zeit bereits
das Menschenmögliche getan, indem sie, namentlich in der Umgegend von Danzig,
mit größtem Eifer an den Grundstückserwerb herangegangen sind. Insbesondere
haben sie versucht, von dem Stützpunkt Zoppot aus, das durch die große Zahl
systematisch herangezogener polnischer Badegäste polemisierenden Einflüssen stark
ausgesetzt ist, Danzig von der Nordwestseite her sozusagen polnisch einzukreisen.
Selbst der französische Statistiker aber muß zugeben, daß ethnographische Gründe
für die Abtretung Westpreußens links der Weichsel an Polen in keiner Weise
geltend gemacht werden können; wo es sich um die großpolnischen Interessen
handelt, ist aber die französische Auffassung ungemein weitherzig — verspricht
Polen doch, Preußen auseinanderzureißen und ein treuer Bundesgenosse Frank¬
on den seltsamen Blumen, die aus dem verwilderten deutschen
Acker sprossen, ist die Wendenbewegung Wohl der seltsamsten und
unerfreulichsten eine. Man hat ihr gegenüber von Reichsseite
zunächst die Politik angewandt, sie zu ignorieren, dann, sie ins
Lächerliche zu ziehen, wozu sie in der Tat herausfordert, und erst
als diese beiden Verfahveusarten die Bewegung nicht niederzuhalten
vermochten, ging man dazu über, sie sachlich zu werten und ihr mit sachlichen
Gründen entgegenzutreten. Im gegenwärtigen Zeitpunkt liegt besonderer Anlaß,
sich mit der Wendensrage zu beschäftigen, insofern vor, als die Bewegung aus
einem Kulminatim:spürte angekommen zu sein scheint. Eine programmatische
Kundgebung des wendischen Nationalausschusses hat vor kurzem dessen Ziele
klar umschrieben-, an Einzelforderungen waren da unter anderen diese genannt:
Vereinigung aller Ober- und Niederlausitzer Wenden zu einem selbständigen
Staate/in dem alle Beamten vom Fürsten oder Präsidenten bis herunter zum
Polizeidiener wendisch als Muttersprache sprechen müssen; Berufung eines
wendischen Parlaments, Einführung der wendischen Sprache bei Post, Eisenbahn,
Gericht und allen anderen Behörden, Aufstellung eines wendischen Volksheeres,
Einrichtung wendischer Schulen und Seminare. Das klingt gewiß sehr ver¬
messen aber nicht nnidecil, erweckt es doch den Anschein, als bildeten kulturelle
Bestrebungen die Quintessenz der Bewegung. Solcher Verschleierung gegenüber
ist es angebracht, die wahren Untergrunde der wendischen Wünsche mit Rück¬
sichtslosigkeit aufzudecken und uns wie der Entente ins rechte Licht zu rücken:
^imo illas IlVOl'iruao! .
„Barth ist aus Paris zurück. Er bringt gute Botschaft mit." Unter
solcher Verheißung sandte der Wendische Nationalausschuß seine Einladungsfcug-
blätter ins Land. „Er spricht am Sonnabend in den Sälen des Hotels „Zur
Krone" in Bautzen über die wendischen Angelegenheiten. Wende» und Wen¬
dinnen von Stadt und Land sind dazu freundlichst eingeladen." Auch mir trug
der Zufall dieses in wendischer Sprache verfaßte Flugblatt auf den Tisch. Ich
traf spät in der Nacht in Bautzen ein und konnte an einem kleinen privaten
Vorspiel: stundenlangen Suchen nach einem Quartier in den überfüllten Hotels,
erkennen, wie sehr Barths Einladung „gezogen" hatte.
Die Versammlung fand om nächsten Morgen statt. An die dreitausend
Wenden, fast ausschließlich Bauern laus der Umgebung von Bautzen, füllten den
harmlos mit patriotischen Fähnchen geschmückten Saal, in dem über die Abkehr
von schwarz-weiß-rot und grün-weiß verhandelt werden sollte. Man sah eckige,
rissige Bauer«- und runde Frauengesichter; ziemlich viel Mädchen waren in
Tracht mit schwarzer Haube und bestickten Seiden streifen unter dein Kinn. Und
Barth berichtete. Wie er nach Paris und zurück gekommen ist, nachdem die
deutsche Negierung ihm den Paß verweigert hatte, das verriet er nicht. Hat er
da etwas zu verbergen? Hat er sich des Reiseweges durch die Luft bedient, oder
hat ihn sein Freund Mcisaryk von Prag aus uach Paris fahren lassen?
Dreitausend Wenden und Wendinnen spitzen die Ohren, zu hören, was
er ans Paris an neuer Botschaft mitbringt. Der kleine Mann mit dem starken
schwarzen Schnurrbart im gelben Slawengesicht spricht wendisch. Er ist ein
guter Redner, der zu packen versteht: völlig frei spricht er, und starke, sichere
Gestikulationen unterstreichen seine Worte. Es ist klar, das; ehrgeizige Gedanken
im Schädel dieses Bailernsprößlings, der Politiker -wurde, rumoren: in das alte
Bnutzencr Schloß, die Ortensburg, als Staatsoberhaupt einzuziehen, ist ihm
letztes Sehnsuchtsziel seiner wendischen Selbständigkeitspropaganda. stach einer
anderen Version soll der bisherige Bcmtzener Stadtverordneteiworsteher Dr. Her-
manu zum wendischen Staatspräsidenten ausersehen sein, doch würde Wohl auch
in diesem Falle Barth die ausschlaggebende Rolle spielen. Er hält nach dein,
was er bei der Pariser Konferenz von den Entente-Bevollmächtigten gehört hat,
die Aussichten seiner Sache für günstig. Man habe ihm zugesichert, so meldet er
der Versammlung, daß den Lausitzer Wenden ihr berechtigter nationaler An¬
spruch auf Selbständigkeit erfüllt werden solle. Es sei den Wenden das Recht
zugestanden worden, eigene Vertreter zur Friedenskonferenz zu entsenden; damit
sei schon dokumentiert, daß die wendische Frage nicht als deutsche innerpolitische
Angelegenheit, sondern als internationale angesehen werde. Die kürzliche Meldung
eines Prager Blattes, daß die Ententestaaten und besonders England den wendi¬
schen Wünschen ablehnend gegenüberstanden, bezeichnet er als falsch und ganz
aus der Lust gegriffen. Man erfährt nicht, mit welchen Ententegöttern zweiten
oder dritten Grades er verhandelt hat, aber er weiß zu erzählen, daß Wilson die
von jenen gemachten Zusagen durch einen Handschlag bekräftigt habe. Auch die
gesamte Presse der Ententeländer trete rückhaltlos für seine Forderungen ein.
Dann kommt für einen Augenblick der Pferdefuß der wendischen Selbständig¬
keitswünsche zum Vorschein: allgemeines Bravo antwortet ihm auf die Eröff¬
nung, daß einer selbständigen Wendet kein Anteil an der Kriegsentschädigung
auferlegt werden solle. Es betrübt und ernüchtert, zu erkennen, wie hinter einer
idealistischen Maske Wünsche fo realer Art lauern, die allein Ausgangspunkt der
Bewegung und Quelle ihrer werbenden Kraft sind. Wir werden darauf noch
zurückkommen.
Für die wendischen Kriegsgefangenen will Barth bereits Ausuahmc-
oergünstigungen erzielt haben; er hofft zuversichtlich, ihre baldige Rückkehr in die
Heimat durchsetzen zu können. Eine selbständige Wendet braucht, wie er weiter
ausführt, für ihre Industrie und Landwirtschaft nichts zu fürchten: die En¬
tente gewähre alle Sicherheiten, daß Gewerbe und Industrie mit Rohmaterial
und Aufträgen ausreichend versorgt und daß den Landwirten dieser fruchtbaren
Gegenden ihre Produkte auch außerhalb der zukünftigen wendischen Landes¬
grenzen abgenommen würden. Letzteres kann er allerdings leicht ver¬
sprechen: das landarme, bevölkerungsreiche Sachsen ist von jeher darauf an¬
gewiesen, Lebensmittel zu nehmen, wo es sie nur irgend bekommen kann; eS
wird in Zukunft noch nilehr auf solches Zusammenraffen angewiesen sein, wenn
die jetzt verschlossenen Tore der Provinz Posen, aus der es die meisten Vorräte
bezog, ihm nicht bald wieder geöffnet werden. Von dem deutschen Sozialismus
jedweder Schattierung will Barth nichts wissen, und zumal Sachsen ist ihm zu
rot geworden; alle Sozialisierungsbeftrebungen, mögen sie auch noch so gemäßigt
und berechtigt sein, flößen ihm Grauen ein (man merkt wieder den Pferde¬
fuß!). Diese Sorge scheint sehr an den Haaren herbeigezogen, denn die Regie¬
rung Gradnauer neigt ans diesem Gebiete ganz und gar nicht zu waghalsigen
Experimenten. Aber er ist so gnädig, zu versprechen, daß die Wenden auch in
Zukunft mit den Deutschen in der Lausitz gute Nachbarschaft halten Wollen. „Es
lebe unser Präsident Barth!" Hat es einer gerufen? Nein, so weit gingen sie
doch nicht, Barth sieht auch einstweilen gar zu wenig präsidentlich aus, selbst
gemessen an den geringen Anforderungen, die man heutzutage nach dieser Rich¬
tung stellt. Aber große Ovationen wurden ihm von seinen Bauern zuteil, wäh¬
rend die Klänge der wendischen Nationalhymne, von dreitausend Stimmen
nicht unschön gesungen, in den Rauch und Dunst unter der Decke emporstiegen
und die schwarz-weiß-roten und grün-weißen Papierfähnchen der Saaldekoration
in leise, zitternde Bewegung brachten. Und man beschloß auf Antrag eines
Niederlausitzers, der Pariser Konferenz ,/Dank und Anerkennung" auszu-
sprechen. (Die wird sich sehr geehrt suhlen!) Womit bewiesen wurde, daß ihr
doch immer noch rechte Deutsche seid, ihr Wenden, mehr als ihr glaubt und eS
wahr haben wollt. So dankt der Hammel den versammelten Raubtieren, die,
ehe sie ihm den Rest geben, sein Vließ verteilen.
Am Hebel der wendischen Bewegung steht der wendische Nationalausschuß
mit Barth, Bryl und Deutschmann an der Spitze. Er versteht in sehr geschickter
Weise die wendische Volksseele zu bearbeiten, wobei ihm zustatten kommt, daß
diese bäuerliche Bevölkerung wenig selbständig denkende kritische Kopfe auszu¬
weisen hat. Wie alle Absonderungsbestrebuugeu, die in der deutschen Not der
letzten Wochen und Monate hervortraten, wurzeln auch die wendischen nicht so
sehr in idealen und kulturellen Wünschen, die freilich geflissentlich betont und
immer wieder hervorgehoben werden, als in solchen sehr realer Art oder, um es
ganz offen zu sagen, in brutal selbstsüchtigen Wirtschaftsinteressen, deren wenig
adore Nacktheit nur mangelhaft durch das dünne Mäntelchen kultureller Beglelt-
orderungcn verhüllt wird. Wenn man die Triebfeder französischen Handelns,
wie Rauptet wird, sehr on in einem „Llisrclie?: !a kenne!" zu ert'linken Hat, so
wird der Richterspruch späterer Zeilen der deutschen Menschheit von heute --
welchen Stammes und welcher Blutmischung sie auch sei — em vielleicht erheb¬
lich mehr gravierendes „Olisrobs- 1a mormais!" nachrufen und und hartem Wort
vermelden', das; ihr der krasseste Mammonismus tiefster Wesenstrieb, teuerster
Götzendienst und letzte Richtschnur alles Handelns war. So auch bei den Wen¬
den, die jetzt auf einmal deshalb nicht mehr Deutsche sein wollen, well ste durch
solche Abkehr von ihrem alten Vaterland den Lasten der Kriegsentschädigung zu
entgehen hoffen. Beklagenswerte Reichsflucht eines ganzen Nolksstammes, dem
sein Hab und Gut teurer ist als sein Deutschtum, an dem er früher selbst me ge¬
zweifelt, geschweige denn gerüttelt hat. Wenn früher einmal wendische Forde¬
rungen geltend gemacht wurden, so handelte es sich dabei stets um Wnniche
kultureller Art, Fragen wie die eines wendischen Sprachunterrichts in den
Schulen oder eines wendischen Gottesdienstes in den Kirchen. Auch dem neu-
deutschen Sozialismus, den sie nicht weniger fürchten als die Kriegselltschadi-
Mng, hoffen die Wenden durch eine Loslösung vom Reiche zu entgehen ^er
wendische Bauer hängt mit allen Fasern an seinem Besitz und sucht ihn sich mit
Zähigkeit zu erhalten. Diese wenig ehrbaren Beweggründe haben sogar deutsch-
stämmige Bewohner der Lausitz veranlaßt, sich der wendischen Bewegung anzu¬
schließen. Die nationalwendische Bewegung hat so etwas von einer allgemeinen
Agrarierbeweciung angenommen, der die neuen politischen Verhaltniste in Reich
und Einzelstaaten ein rotes Tuch sind. Die innerpolitischen Schwierigkeiten der
neuen deutschen Regierung und ihre mangelnden Erfolge der Entente gegenüber
haben diesem neuen Bauernbund seine Agitation erleichtert. Leider hat vie neue
sächsische Regierung den schweren Fehler begangen, die Bildung von Bnnern-
räten, die in der' Wendei unbedingt notwendig waren uno letzt vielleicht aw
Werkzeug gegen Barth und den in seinem Sinne tätigen Natioualausschuß ver¬
wandt werden könnten, zu verhindern und nur Arbeiter- und Soldatenrate anzu¬
erkennen, die in diesem vorwiegend bäuerlichen Gebiet zur Ohnmacht verurteilt
und. Von den Plänen der neuen Negierung hat besonders der auf eine
Trennung von Kirche und Staat hinzielende, mit dem auch in Sachsen vie. und
ungeschickt in der Luft herumgefuchtelt worden ist, fördernd auf die Sache der
wendischen Separatisten eingewirkt. Es ist bei den Wahlen zur National¬
versammlung vorgekommen, daß in rein evangelischen Bezirken der Wendet eine
beträchtliche'Stimnieiizahl auf das Zentruni entfiel, well die Wähler allem von
dieser Partei eine Wahrung des kirchlichen Ansehens erwarteten. Weiter spielen
Seschichtliche Gründe eine Rolle (wenn anch mehr in den programmatischen
Kundgebilngen als in den Köpfen), so die Behauptung, daß Wendet und Lausitz
uraltes slawisches Gebiet seien, ferner die Ansicht, daß die Abdankung des van,es
Wettin, an dem die Wenden stets in Treue gehangen haben sollen, den Anfall
«er wendischen Lande an Böhmen zur Rechtsfolge haben. Gefördert werden solche
auf ihre Richtigkeit Wohl nur an der Hand von historischem Materni aus den
Staatsarchiven nachzuprüfenden Meinungen durch die katholische Geistlichkeit des
Landes, die ihre Ausbildung in Prag zu erhalten pflegt und einen festen Bestano
von Sympathien für Slawen- und Tschecheutum und auf der anderen Seite Mi߬
trauen und Übelwollen gegen alles Deutsche von dort mitbringt. Überhaupt
laufen zahlreiche Fäden <ins den beiden Lcmsttzen ins böhmische Land hinüber:
persönliche Beziehungen zwischen den führenden Köpfen sind sehr in Pflege —
man spricht von naher Bekanntschaft oder gar Freundschaft Barchs, mit dem "sicher
ungleich bedeutenderen Masary! —, und Ehen zwischen Wenden und Tschechen
sollen keine Seltenheit sein.
Die preußische und mehr noch die an erster Linie von den wendischen Los-
lösüugsbestrebungen betroffene sächsische Regierung müssen alles daran setzen,
dem wendischen Vorgehen den Wind aus den Segeln zu nehmen, ehe eine An¬
erkennung des selbständigen Wendenstaates durch die Entente die Absplitterung
dieses Vvlksteiles und der von ihm bewohnten schönen und fruchtbaren Landschaft
besiegelt. Zögernde Vorsichtsmaßregeln sind schon und werden zurzeit noch ge¬
troffen. So fanden gerade während meiner Anwesenheit in Bautzen in Vom
alten Schloß, der Ortensburg, Verhandlungen zwischen sächsischen Negierungs-
vertretern und der wendischen Bevölkerung statt, wobei diese durch Lehrer, Geist¬
liche beider .Konfessionen und Landwirte vertreten war. Die Beratungen endeten
mit der Wahl eines Ausschusses, der die Wünsche der Wenden in Schulsragen
prüfen und weiterbehandeln soll. Aber ich bezweifle, daß mit dem Nachgeben
in Kulturellen Fragen, die, wie früher angedeutet, nur eine Nebenrolle spielen,
den Gefahren, die die Wendenbewegung birgt, begegnet werden kann. Der
Sturmbock Barch will politische Selbständigkeit der Wendet und wird sich durch
alle kulturellen Zugeständnisse nichts davon abhandeln lassen. Sind erst, wie er
zu erreichen hofft, ständige Vertreter der Wenden bei der Friedenskonferenz zu¬
gelassen, so wird der Verlust dieses Landstriches für Deutschland kaum mehr ab¬
wendbar sein (sei es nun, daß Tschechien nach dem abgespaltenen Ländchen greift
oder daß ein selbständiger kleiner Nationalstaat entsteht, der doch bald in tschechi¬
schen Fahrwasser schwimmen wird). Ein Protest des Reiches gegen die Zu¬
lassung würde ungehört verhallen. Nein, bei den -Wenden selbst muß'eine Gegen¬
arbeit einsetzen, die vor politischen Zugeständnissen nicht zurückschreckt. Kein
Zweifel, daß es noch Lösungen >der sehr eckigen und stachligen Frage gibt, die zu
einer Befriedigung der Wenden im Rahmen der 'deutschen Neichszugehörigkeit
sichren. Welcher Weg da der richtigste und gangbarste ist, ob es gilt, sächsische
Landesteile zu Preußen oder preußische zu Sachsen zu schlagen und aus der neuen
Zusammenfassung einen Preußischen Kreis oder eine sächsische Kreishauptmann-
schoft mit vorwiegend wendischer Beamtenschaft oder endlich einen neuen kleinen
Sraat zu schaffen, der aber dem Reiche angehört, das zu ermitteln und heraus¬
zuarbeiten, sollte keine Anstrengung unterlassen werden. Und einer Tatsache sei
der deutsche Beamte dabei eingedenk: die Maulwürfe Barch und Brhl graben
und graben weiter, es ist Gefahr im Verzüge!
Um wieviel Menschen handelt es sich dabei eigentlich? — wird man fragen.
Die Antwort darauf ist zugleich Verneinung der Berechtigung aller wendischen
Selbstän!digkeitswün>sche. Denn es sind höchstens 84 000 Menschen in ganz
Dentschland (Ober- und Niederlausitz), die das Wendische als Muttersprache
haben. Diese verteilen sich ungefähr je zur Hälfte auf Preußen und Sachsen;
die Kreisha-uptmannsch>äst Bautzen mit etwa 40 000 ist am dichtesten mit Wenden
besiedelt. Wenn die Wendenführer eine Biertelmillion Wenden augeben, so ist
das propagandistischer Trug; sie zählen dabei alle möglichen Sachsen und
Preußen mit, die nur irgendwie wendischer Abkunft find/ohne dabei ein Wort
wendisch sprechen zu können. Unter den 209 Landgemeinden des gemeinhin als
Wendet bezeichneten Gebiets haben nicht-weniger als 187 eine der Mehrzahl nach
deutsche Bevölkerung, und unter den übrigen ist kaum ein Dutzend als rein
wendisch anzusprechen. Von einer wirtschaftlichen Selbständigkeit des Wenden¬
landes kann — das verhehlen sich Barth und der Nationalausschuß selbst nicht
vollends keine Rede sein.
So sehen die Fundamente aus, auf denen Barch und Konsorten den
wendischen Nationalstaat errichten wollen!
Seltsame Ironie der Namen: der derzeitige Vorsitzende des von Deutsch¬
land fortstrebenden wendischen Nationalausschusses heißt' Deutschmann (so wie
sich Preuß der Mann nennt, der Preußen zerschlagen will). Unter seinem Vor¬
sitz verlief der große Wendentag mit Barths Bericht in den Bautzencr Kronen¬
sälen äußerlich völlig ruhig. Nur an der Überfüllung der Gasthöfe und an den
auf Straße und Plätzen aufgefahrenen Wagen konnte man erkennen, daß viel
Landvolk in die alte Stadt hereingekommen war. Diese selbst sieht dem Schau¬
spiel des wendischen Buhlens um die Gunst unserer Feinde mit sehr gemischten
Gefühlen zu. Zwar würde Bautzen eine Hauptstadt werden, wenn auch nur eine
Hauptstadt im Oktav- oder Duodezformat. Aber Bautzen ist ganz deutsch-
gesinnt, von den 30 Prozent Wenden, die zu seiner Bevölkerung gehören, merkt
mau nichts, kaum, daß man einige wendische Aufschriften an Laden und Kaffee¬
häusern entdeckt, die sicher uicht der wendischen Bautzener wegen da sind, sondern
eine Konzession an die Landbevölkerung darstellen, und wenn man auf den
Straßen wendisch sprechen hört, so handelt es sich gewiß um Bauern und uicht
um Bürger der Stadt. Zwar eine Straße nennt sich Troskystraße, was schon
beinahe bedrohlich -slawisch und östlich klingt, aber es stellt sich heraus, daß sie
nach einem harmlosen sächsischen General benannt ist. Zwei bürgerliche Blätter
und ein gemäßigt sozialistisches arbeiten den wendischen Loslösungsbestrebungen
entgegen, und die in wendischer Sprache erscheinenden Zeitungen, zwei an der
Zahl, mit wendisch-rationalistischer Tendenz, sollen in der Stadt nur wenig gelesen
werden. Nein, dos gute Bautzen ist deutsch und sächsisch gesinnt, es will von
Barch, Bryl, Deutschmann und ihren Getreuen nicht viel wissen. Es hat kürz¬
lich einen „Ausschuß sachsentreuer Wenden" ins Leben gerufen, dein hoffentlich
seitens der amtlichen Stellen bald die verdiente Unterstützung zuteil werden
wird.....
Es wäre ewig schade um das fruchtbare wendische Land, wenn es fremder
Zunge und fremder Wesensart -Untertan würde. Es wäre mehr noch schade nur
diese schöne alte Stadt.
Ein Kind leert einen Spielzcugkasten voll Häusern, Bäumen und Türmen,
sehr viel Türmen vor allem auf einen grünen Berg aus und schiebt den ganzen
Haufen dicht zusammen und ineinander. So sieht Bautzen aus, so liegt es auf
Ilmer Höhe über dem eilenden Wasser. Feste Mauern, freundlich von der matten
<dinterfarbe der Gartensträucher und Rasenflächen abgelöst, gürten diese aus¬
geleerte Spielzeugschachtel nach der Flußseite hin, halten mit herrischer Geste den
gefährlich wilden Anlauf ihrer Häuser und Türme vor dem Steilabfall des
Ichmalen Tales auf. Ein enggebautes altes Barockschloß mit schönen vielfen-
strigen Giebeln schaut, hoch über dem eingerissenen Grunde, auf einen verträum¬
ten grünen Jnnenhof. Von der anderen Seite her schreiben starke Felsblöcke,
Mau und rostbraun mit eingesprengten Quarzlichtern, dem Wasser seinen ge¬
wundenen Weg vor, und ein Kirchhof mit Steingemäuer »lud gelber Kapelle liegt
.. Höhenwind, den roten Dächern des ragenden Schloßkapitols gegenüber,
^chön ist das alles, malerisch schön und von jener efeuüberrankten romantischen
Decken- und Wehrhaftigkeit, die uns zwar noch aus Uhlcmds Balladen klingt, dem
Deutschen von heute aber in: Alltag seiner völkischen Not wie unter schweren
.vmruwrplatten eingesargt ruht. Jedoch selbst in diesem Bilde nach Spitzweg¬
oder Schwind-Manier hat der Mammonismus steil und feil sein Wahrzeichen
aufgerichtet: unter, wo das Wafs-er über ein steinernes Wehr rauscht, stechen zwei
^ose Fabrikschornsteine wie Dornen ins Auge. Vor dem alten düsteren Mossiv-
llo.z des Rathauses, das an die Mairien französischer .Kleinstädte erinnert, und
auf dem langen, bergan steigenden. Platz zu Füßen des Reichenturmes, der wie
ein verirrter Campanile in den matten Vorfrühlingshimmel Deutschlands ragt,
orne und feilscht der Markttag. Da werden Gemüse und mattschmeckende kleine
suchen angeboten. Man hört deutsche und russische Laute, denn ein großes Ge¬
fangenenlager ist noch in Bautzen, dessen Insassen eine fast unbeschränkte Aus-
geyerlaubnis zu genießen -Schlemm. Außen herum ist bergiges Land, viel mehr
Berge und viel mehr Land, als man zu glauben geneigt war beim Anblick den
Karte, auf der es so ausschaut, als biete die Gegend gar keinen Platz für Wiesen,
Wald und Acker vor lauter dichtgedrängten Siedlungen. Schönes Land, schöne
alte Stadt.....
Eine schmale Fahrbrücke ist über den Talgrund gelegt, die noch unverän¬
dert „Kronprinzenbrücke" heißt. Hier stehst du im leisen Rinnen des Regens und
siehst auf das alte Stadtbild, das Erinnerungen an Coucy-le-Chateau, an
Wimpfen am Neckar, an Heidelberg und an burgundische Burgen .weckt, die dn
lang >vor dem Kriege einmal sahst. Und plötzlich fühlst du beim Anblick dieses
feinen und guten'Stückes Mittelalters, das seine verwinkelten Mauern und
kühnen Türme so malerisch an das eilende Wasser gestellt hat, wie einen schmerz¬
haften Riß den Gedanken, dies alles könnte bei mangelnder Wachsamkeit dein
Deutschtum verloren gehen. Dem Gedanken aber entspringen heiße Auflehnung
und Wunsch und Mahnung an alle, die hier als Wächter stehen und stehen
können: die Wendet ist nur ein kleines unter allen deutschen Landen, aber wahr¬
lich nicht der letzten und schlechtesten eines! Sorgt, daß sie uns erhalten bleibe!.
le großpolnische Propaganda unter den preußischen Masuren setzte
«A^^^W schon vor Jahrzehnten einerseits mit dem Auflauf von deutschem
W und masurischen Grundbesitz namentlich in den nach Westen zu
I gelegenen Kreisen, andererseits mit der völkischen Beeinflussung der
Einwohner ein. Ein polnisch-katholischer Pfarrer mit dem ur-
deutschen Namen Wollschläger — er selbst schreibt ihn Wolszlegier —
gründete in Lyck eine polnische Zeitung, die Gazeta Ludowa mit dem Sonntags¬
blatt Ewcmgelik (d. h. „der Evangelische"), sicherlich aber nicht zu dem Zwecke,
die evangelischen Masuren in ihrem von den Vätern ererbten Glauben zu befestigen.
Der für Preußen-Deutschland unglückliche Ausgang des großen Krieges soll die
Polen auch hinsichtlich Masurens an ihr Ziel bringen. sse strecken dabei ihre
begehrlichen Hände nach Gebieten aus, die niemals einen Teil irgend eines polnischen
Staatswesens gebildet haben und deren Bevölkerung nur noch durch sprachliche
Rückstände an ihre ursprüngliche Herkunft erinnert wird.
Zu Beginn unserer Zeitrechnung saßen am Südufer des baltischen Meeres,
etwa vom fiischen Haff ostwärts, die Aethier, deven Überbleibsel noch im Stamme
der Esthen in die Gegenwart hineinreichen. Das Land südlich von ihnen nahmen
zwischen Weichsel und Memel gotische Stämme (westlich die Burgunden, östlich
die Langobarden) ein, denen sich an der Memel und östlich davon lettische Völker¬
schaften (Litauer) anschlössen. Als Burgunder und Longobarden sich neue Wohn¬
sitze suchten, verbanden sich mit den zurückgebliebenen Germanen die nachdringen¬
den Letten. Aus ihrem Gemisch, befruchtet durch erneute Zuführung gotischen
Blutes aus Skandinavien, entstand das stehlige Pruzzenvolk etwa zwischen Weichsel
und Alle. Jenseits derselben berührte es sich mit den Litauern. Die Süoostecke
des heutigen Ostpreußen bis hin zur Memel bewohnten die stammverwandten
Sudauer, in denen das litauische Element stärker wie das germanische gewesen
zu sein scheint, während an den großen masurischen Seen und am Südabhange
des preußischen Höhenzugs zwischen Pissek und Amuleff die Galinder saßen, deren
germanisch-lettisches Volkstum schon frühzeitig durch Einwanderung einen leichten
polnischen Einschlag erhalten zu haben scheint. Doch zeigen die Gräberfunde aus
galindischer Zeit (u. a. Kullabrücke 191S) auch hier das entschiedene überwiegen
des germanischen Elements.
Polen fand der deutsche Ritterorden zu Beginn seiner preußischen Tätigkeit
nur in dem ihm von Konrad von Masowien zum Eigentum überwiesenen Kulmer-
lcind vor. Das durch das Schwert entvölkerte Preuszenland wurde mit rein
deutschen Kolonisten besetzt. Zum Schutze seiner Siedelungen gegen Polen und
Litauen ließ der Orden die große Wildnis etwa im Zuge der gegenwärtigen
Preußischen Grenze emporwachsen — schwer durchdringliche, sumpfige Waldmassen,
deren innere deutsche Linie im Süden durch die deutschen Burgen Golou, Stras-
burg, Lautenburg, Soltau, Neidenburg, Hohenstein, Ortelsburg, Seehestenburg,
Johcmnisourg und Angerburg festgelegt wurde.
In diese Wildnis wanderten nun — zumal nach der Tannenberger Schlacht
1410 — Polen ein, zunächst wohl aus Masowien, dessen Namen sie in die neue
Heimat hinübertrugen. Der Orden hinderte sie nicht daran, da der deutsche Ein¬
wandererstrom versiegt war. Die Steuerkraft des Landes konnte aber nur durch
weitere .Kolonisation desselben gesteigert werden. So durfte der Bericht über die
Huldigungsreise des Hochmeisters von 1460 bereits polnische Vertreter in Johannis¬
burg, Ortelsburg und Malga vermelden.
Die starke Vermehrung ist von jeher ein charakteristisches Merkmal der
slawischen Völker gewesen. Die Umwandlung des geistlichen Ordensstaates in ein
weltliches Herzogtum ließ die Landesfürsten darauf bedacht sein, zur Vermehrung
ihrer Einnahmen das in Masuren erzeugte Menschenmaterial planmäßig für die
Nutzbarmachung wüster Ländereien heranzuziehen. Ein Dorf nach dem andern
entstand. Die Besiedelung Masurens scheint ihren Höhepunkt in der zweiten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erreicht zu haben, doch noch am Ende des
siebzehnten Jahrhunderts beruft der Große Kurfürst masurische Kolonisten in das
rein deutsche Ordensland, während andererseits masurische Söhne und Töchter,
denen es im Elternhause zu enge wurde, weit in das deutsche Preußenland
hineinzogen und in ihren Arbeits- und Dienststellen in Stadt und Land seßhaft
wurden.
Für die Kennzeichnung der völkischen Eigenart der Masuren ist ausschlag¬
gebend ihr Glaubensbekenntnis. Mit dein Einzug der Reformation in das alt-
Preußische Ordensland wurden auch die Masuren restlos evangelisch. Zu jener
Zeit fanden noch vielfach Wechselbeziehungen zwischen den Masuren und ihren
^ugsburgischen Glaubensverwandten in Polen statt. Diese Wechselbeziehungen
unter auf, als die Gegenreformation die Tore Polens gegen jede nichtkatholische
Strömung gleichsam luftdicht abschloß. Nur einmal noch öffneten sich diese Tore
Masuren zu, als ein kleiner Nest Reformierter um ihres Glaubens willen die
polnische Heimat verließ, um neben Glaubensflüchtlingen aus aller Herren Länder
Aufnahme in Preußen zu finden.
Mit dem Jahre 1525 beginnt das Auswachsen der Masuren zu einem
besonderen Volksstamm. In ihren Vätern hatten sie die polnische Volkssprache
des fünfzehnten Jahrhunderts mitgebracht. In dieser Sprache wurde für sie die
<übel, und zwar mit gotischen Lettern, gedruckt. Diese Bibel mit ihren gotischen
Lettern ist der Sprach- und Schriftschatz der Masuren geworden und geblieben
ins auf den heutigen Tag. Die moderne polnische Schriftsprache dagegen verdankt
ehre Entstehung der Tätigkeit der Jesuitenschulen im gegenreformatorischen Zeit¬
alter. Sie hat unter römisch-lateinischen Einfluß eine Fortbildung von der
^olkssprache zur Kunstsprache erfahren und die Erzeugnisse ihres Schrifttums
°urch sich selbst ^ut die selbstverständliche Anwendung lateinischer Lettern den
Lasuren verschlossen. Dagegen nahmen diese von vornherein an den Kultur-
legnungen der preußischen Volksschule., d. h. seit ihrer planmäßigen örtlichen Aus¬
gestaltung von den Tagen Friedrich Wilhelms des Ersten her teil.
Die polnische Grenze im Rücken, das weite Preußenland vor sich: so ergab
und naturgemäß die Entwicklung des Masuren zum Preußen und Deutschen. Wie
er sein Blut an die Bevölkerung abgab, die ihm Platz einräumte in ihren heimat-
Gefilden, so nahm er umgekehrt mit dem Preußenblut altgermanisches und
lMisthes und in der Folge deutsches Blut in sich auf. Drang der Masur infolge
seiner starken Vermehrung auch sprachlich weit vor, so mußte er andererseits der
überlegenen deutschen Kultur auch sprachlich seinen Tribut leisten. Die Sprache
seiner Väter hat sich,nur noch in den ursprünglichen Ansiedlungsgebieten erhalten,
aber auch dort nur noch als Haussprache mit einem geringen Wortschatze, der
über die notwendigsten Dinge der Alltäglichkeit nicht hinausgeht und ihm nicht
einmal mehr religiöse Erkenntnisbcgriffe vermittelt, geschweige denn ihn dazu
befähigt, seine entwickelten kulturellen und wirtschaftlichen, politischen und sozialen
Ansckauungsbegriffe zu verlautbarcn. Der Masur bis hin zur Mitte des sechsten
Lebensjahrzehnts kann sich gegenwärtig nur der deutschen Sprache als Schrift¬
sprache bedienen.
Darf man in völkischer Hinsicht von einem Alipreußentum reden, so bildet
das Masurentum einen zur Vollständigkeit unerläßlichen Bestandteil des ersteren.
Die Masuren haben als Altpreußen schon unter den Fahnen des Großen Kur¬
fürsten gefochten und die Entwicklung Preußens zum tragenden Unterbau deS
Deutschen Reiches in allen ihren Abschnitten mit Gut und Blut mitgemacht. Sie
würden auch über die Überreste ihrer sprachlichen Eigentümlichkeit längst hinauf¬
gekommen sein, wenn nicht deutsche Gefühlsduselei, politischer Unverstand und
übel verstandene kirchliche Belange sie geflissentlich vor dem gänzlichen Aufgehen
in das Deutschtum bewahrt hätten.
Weshalb sollte man den treuesten Söhnen Ostpreußens ihr sprachliches Erbe
mißgönnen? Deutsche Gelehrte und Altertumsforscher wollten sich ihr masurisches
Vetätigungsgebiet nicht verkümmern lassen. Wozu sollte man serner die Masuren
dem deutschen Liberalismus geradezu in die Arme treiben, indem man sie daran
Gefallen finden ließ, deutsche Zeitungen zu lesen? Politische Klugheit überschüttete
sie und überschüttet sie noch heute mit zweifelhaften Übersetzungen deutscher Auf-
klärungsschriften, anstatt diese selbst der lesebedürftigen, durchaus deutsch geschulten
Bevölkerung in die Hand zu geben. Und schließlich, wozu sollte man die treuen
Bekenner der Kirche der kirchenleerenden Tagesweisheit und ihren verderblichen
Treibereien aussetzen? In der kirchlichen Statistik schnitt Masuren seit alten
Tagen immer gut ab. Sein Ruhm durfte nicht verloren gehen. So entstanden
in den Schreibstuben jene Nachweise, auf die unsere Gegner sich als auf amtliche
berufen, wenn sie die Zuweisung Masurens zu Polen betreiben. Das Recht der
Selbstbestimmung darf aber auch dem Masuren gegenüber nicht unterbunden werden.
Es gestaltet ihm zu verlangen, daß sür seine Zuweisung zu einem nationalen Ver¬
bände nicht die kurzsichtige Kirchturmspolitik seiner vermeintlichen Freunde, noch
die weitsichtige Ausdehmmgspolitik seiner offenbaren Feinde, sondern aLein sein
eigener Wille maßgebend sein darf. Über völkische Bedürfnisse entscheidet im
letzten Grunde doch nicht der Laut der Lippen, sondern der Schlag des Herzens.
Die Aufrollung der masurischen Frage ist von langer Hand vorbereitet —
etwa seit jenen Tagen, da nicht nur die außeroeutsche, sondern auch eine gewisse
großdeutsche Politik alle Hebel in Bewegung setzte, um eine Einigung der deutschen
Stämme und Gaue unter Preußens Führung zu verhindern, und da man den
Plan faßte, zur Unschädlichmachung der Hohenzollern den allprotestantischen Herd
in Preußen durch Einkreisung von Osten und Westen zu erdrücken. Ich meine
die Zeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Tausende und abertausende
Masuren. denen die Heimat zu eng wurde, wanderten in die Jndustriegegenden
des Westens ab. In ihre leer gewordenen Plätze schob eine unsichtbare Hand
neue polnische Einwanderer hinein und polnisches Kapital, zumeist aus preußischem
Boden erworben, begann planmäßig alten deutschen Besiy in Masuren auszulaufen.
Die Absicht war zu deutlich, als daß man sie prcußischerseiis gänzlich hätte über¬
sehen können. Aber die nachbismarckschen Politiker — auch die Polenpolitiker —
haben zum mindesten eine unglückliche Hand gehabt, wenn sie nicht unter unsicht¬
barer Willensbeeinflussung gerade das tun mußten, was vom preußischen Stand¬
punkte aus das Verkehrteste war. Anstatt neue Verwaltungsbezirke mit überwiegend
rein deutschem Charakter zu bilden und diesen gefährdete Teile Masurens zur
völkischen und wirtschaftlichen Aufsaugung zuzuweisen, vereinigte man die Kreise
mit teilweise masmischer Bevölkerung zu einem Regierungsbezirk, dessen Hauptstadt
Man ausgesucht in den nationalpolnisch versetzten Südzipfel des Ermlcmdes, d. h.
in die Herdstätte der nationalpolnischen Propaganda von Ostpreußen verlegte.
So entstand als Wirtschaftspolitik^ Einheit, wie geschaffen für die Bedürfnisse
eines polnischen Imperialismus, der Bezirk Altenstein. Wer über das Weichbild
seiner Hauptstadt auf das glatte Land wandert, findet dort Leute polnischer Zunge.
Folglich muß der Bezirk Altenstein polnisch sein, wenn auch die Polen vor Allen-
steins Toren nur auf dem Wege über die Masuren in geschichtlich nachweisbarer
Zeit und zwar seit 177Z zu der Würde von UrPolen emporgeschraubt sind. Im
^echre l772 fiel nämlich die politische Grenze zwischen dem Gebiete des allen
Herzogtums und dem von Ermland, Was dem deutschen Domkapitel in Frauen¬
berg trotz jahrhundertelanger polnischer Oberhoheit bis dahin gelungen war,
nämlich das Ermland rein deutsch zu erhalten, wurde durch die Wiedervereinigung
der altpreußischen Landesteile zur Unmöglichkeit.
In unserer Zeit, wo die Umwertung politischer und sittlicher Begriffe feil ist
wie Brombeeren, wird vielleicht auch mancher Masure den gleißnerischen Lockungen
^nes polnischen politischen Korotleutums zum Opfer fallen. Wirtschaftliche Rück¬
sichten und Hoffnungen sollen manchmal stärker heilt als völkische Würde und
nationales Pflichtbewußtsein, aber doch nur da, wo das Herz nicht mehr lauter
M- Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung Masurcns, wenn sie nicht schon
durch die Gebärt rein deutsch ist, bekennt sich aber zu dem Worte:
on allen befahrenen Meeren der Erde hat das Mittelländische wie
schon sein Name andeutet, die. Eigenart, daß es bei relativ geringer
Oberfläche die größte Anzahl von Konkurrenten aufweist. Und da
sich der Mittelmeerhcmdel wegen der Natur der nordafrikanischen
Länder vorläufig nur langsam intensiv steigern läßt, infolgedessen
extensive Steigerung angewiesen ist, durch die Schwächung der
gürtet aber augenblicklich Gelegenheit geboten ist, neue äußere Stützpunkte zu
erwerben, so ist um diese östlichen Häfen ein scharfer Konkurrenzkampf entbrannt.
^ , An der Spitze der Mitlelmeermächte steht Frankreich, das durch Tunis und
Algerien die westliche Hälfte des Meeres fast umtmschränkt beherrscht. Der Ring
uohezn völlig geschlossen, wenn die zur Abrundung des nordafrikanischen
Grundbesitzes eifrig betriebene Ausschließung und Besitzergreifung Marokkos auch
unbeschränkten Besitz der Nordküste geführt hätte. Daß Frankreich hier auf
ick? Adelstand Deutschlands stieß, hat es diesem nie verziehen und noch heute
mengt sich durch die französische Presse ein Sagenkranz von angeblich immer noch
Eil n deutschen Intriguen in Marokko. Diese Besorgnis vor dem deutschen
Zufluß macht sich daun auch in der Forderung nach Aufhebung der Algeciras-
n-i r ^ Entinternationalisierung Tangers geltend, ja man suchte Spanien
nel, Europa zurückzudrängen, indem man es mit einem Austausch von Gibraltar
. gen Csntci lockte. Da aber England gegen diesen Plan harthörig blieb und
des? °bendrein Bedenken bekam, das stärkere England nach Marokko zu locken,
dam? - ^ einstweilen unter Benutzung der inneren spanischen Unruhen
den>- ' ^ Registern gegen die deutschfreundliche Partei in Spanien zu Hetzen
"o oc.s Nachbarland mit mir ichwach verhüllten Drohungen zu schrecken. Mit wenig^Mg übrigens, denn der Graf Romanones hat erst kürzlich mit aller Energie
und Deutlichkeit erklären lassen, die Marokkofrage sei eine spanische Lebensfrage.
Ob man es in Frankreich zum äußersten kommen lassen wird, ist nicht deutlich,
wahrscheinlich ist es nicht, denn je greifbarer die natürlichen Gegensätze Englands
zu Frankreich hervortreten, je mehr wird letzteres darangehen müssen, dem Ge¬
danken des Bundes der lateinischen Nationen näherzutreten, mit dem es Italien
gegenüber nach Wochen der Verstimmung gerade jetzt wieder kokettiert und der
ohne Spaniens Beteiligung nie genügend Konsistenz erhalten kann.
Das Übergewicht Frankreichs abzuschwächen, hat Italien seit seinen Vor¬
bereitungen zum Kriege mit der Türkei versucht, der ihm Tripolis und den
einstweiligen Besitz des Dodekanes eintrug Frankreich hat diese Schmälerung
seiner Vorherrschaft dulden müssen, um Italien von den Mittelmächten wegzulocken.
Inzwischen aber ist Italiens Begehren ins Ungeheure gewachsen. Daß es zur
unumschränkten und endgültig gesicherten Beherrschung des adriatischen Meeres so
ziemlich die ganze dalmatinische Küste verlangt, möchte trotz der französischen
Sympathien sür die Südslawen noch hingehen, man wäre in Frankreich zur Aus¬
gabe aller Bedenken bereit, wenn nur Italien dem französischen Plan eines
Donaubundes, gegen den es sich mit allen Kräften aus Furcht vor wirtschaftlicher
Wiedererstarkung der Länder der früheren Donaumonarchie sträubt, oder wenigstens
dein einer Neutralisierung Deutsch-Österreichs, die den von Frankreich als
überaus bedrohlich empfundenen Anschluß an Deuischlcmd verhindern soll, bei¬
stimmen möchte, aber daß Italien auch den Dodekanes und Adalicr, den besten
Hafen zwischen Alexandrette und Smyrna samt Hinterland bis zur Bagdadbchn-
strecke verlangt, erscheint Frankreich für seine Syrien-Pläne nicht ungefährlich. Zum
Glück erstehen Italien scharfe Konkurrenten einerseits in den Südslawen, die
unter keinen Umständen von Fiume lassen wollen, eigentlich aber den Jsonzo als
Grenze fordern, andrerseits in den Griechen, die nicht nur Nordcpirus besetzt
halten und Bulgarien vom ägäischen Meer abdrängen wollen, sondern auch den
Dodekanes und das von italienischen Blättern gleichfalls verlangte Smyrna be¬
anspruchen (mit den gesamten beiden Vilajets Albin und Brusse).
All diese Probleme aber werden ins Unendliche kompliziert durch den schwer¬
wiegenden Umstand, daß das Mittelmeer nicht den Uferstaaten allein gehört,
sondern Englands Seeweg nach Indien bildet. Seit der Eröffnung des Suez¬
kanals ist auch England eine Mittelmeermacht geworden, und seitdem es den
Suezkanal durch Ägypten sicherte und zur Sicherung Ägyptens auch Arabien
brauchte, zwischen Ägypten aber und Indien die gesamte Küste des Indischen
Ozeans an sich zu bringen suchte, war es ganz natürlicherweise genötigt, diesen
Besitz durch eine möglichst unbeschränkte Herrschaft über das östliche Mittelmeer zu
sichern, zu festigen und abzurunden. Daß dieser Plan schon sehr, sehr alt sein
muß, beweist Englands Bestreben, unter allen Umständen Rußland von Konstan-
tinopel fernzuhalten. Eine neue Macht im Mittelmeer, die, im Besitz von
Konstantinopel, alsbald die Balkanstaaten unter ihren Einfluß gebracht haben
würde, und, einmal an ein freies Meer gelangt, unbegrenzter Entwicklung fähig
war und einerseits auf dem Balkan, womöglich mit Einverständnis des verbündeten
Frankreichs auf Kreta und Cypern, andrerseits in Persien fußend ganz Syrien,
Palästina und damit auch Arabien und Ägypten bedroht hätte, konnte unter keinen
Umständen geduldet werden. Als man der Einkreisungspolitik zuliebe Nußland
Konstantinopel zusprechen mußte, forderte man wenigstens, um jederzeit einen Vor¬
wand zum Dreinreden zu ermöglichen, Jnternaiionalisierung der Dardanellen. Jetzt,
da man Rußland einstweilen nicht mehr zu fürchten hat, wird letztere Forderung
aus durchsichtigen Gründen nur von Frankreich erhoben, das auf seinen alten
Einfluß in der türkischen Hauptstadt baut. Aber auch den wissen die Engländer
zurückzudrängen: während die französischen Truppen Odessa räumen mußten und in
äußerst bedrohlicher Lage sind, haben die Engländer in Konstantinopel die Polizei-
gewnlt an sich gerissen und fordern die athenischen Expcmsionislen nicht nur
Thracien für Griechenland, sondern auch das alte Byzanz mit seinen 364 (M
griechischen Bewohnern selbst, so daß die Franzosen jetzt schon wieder gewillt sind,
die viel umstrittene Hauptstadt der jetzt nicht mehr gefährlichen Türkei zu lassen.
Englands Hauptbestrebung aber ist ans Sicherung Ägyptens auch von der
Laubfalle her gerichtet. Der erste Schritt dazu war die gelegentlich der türkischen
Kriegserklärung vollzogene anscheinend endgültige Besetzung Cyperns, der zweite
die 1915 durch Vertrag gesicherte Aufteilung Syriens, der dritte der in aller
Stille glänzend vorbereitete urit vortrefflich durchgeführte Feldzug in Palästina,
der vierte die moralische Unterstützung und kaum versteckte Forderung der zionisti¬
schen Bestrebungen, der fünfte die Gründung des arabischen Hedjasreiches und
die Begünstigung des Panarabismus, die England einen hervorragenden, von
Frankreich als überaus bedrohlich empfundenen Einfluß auf den Islam sichert.
Runsten England dann auf der Friedenskonferenz den Hedjasplau hat fallen
lassen müssen, besteht es doch mit Nachdruck auf dem Besitz der Häfen Palästinas,
das seinerseits des besseren Ansehens Halber internationalisiert werden soll (wobei
der Besitz der Hasen natürlich das Überwiegen des englischen Einflusses sicher¬
stellt) und Schaffung einer Mittelzone zwischen dem französischen Libanonprotektorat
und dem englischen in Mesopotamien. Alexandrette soll Freihafen werden.
Frankreich dagegen, auf jahrhundertelange Tradition und zahlreiche Schul- und
Missionswerke gestützt, wünscht Zusammenschluß und Verselbständigung der syrischen
Nation und beansprucht für sich Biyruth und das Gebiet nördlich davon, wodurch
koch ganz Cilicien unter seinen Einfluß kommen würde. Je nichr Frankreich hier
erreichen wird, desto stärkere Neibungsfläcken werden gegen England geschossen
werden, was wiederum zugunsten einer französisch-italienischen Annäherung sprechen
würde.
Soviel wird aus dieser zusammengedrängten Übersicht schon heute klar:
endgültig gelöst werden können diese Probleme schon wegen der Umiberselivarkeit
der wirtschaftlichen Entwicklung der wetteifernden Staaten auf der Friedens¬
konferenz nicM, namentlich da auch das vielberufene Nationalitälenprinzip in der
Levante selten eine eindeutige Lösung zuläßt. Alle vorläufigen Entscheidungen aber
werden den Keim zu neuen Verwicklungen legen, und wenn auch die französische
Zensur jede Äußerung des Mißmuth gegen den mit Riesenschritten voraneilender
^nentkonknrrenten unterdrückt, auf die Dauer wird sich Frankreich doch vor die
^>ahi gestellt sehen, entweder sein jahrhundertealtes Orientprestige gänzlich ver-
^en zu geben, oder sich nach neuen Bündnissen umzusehen. Schon die lebhafte
Beanspruchung eines Teiles der deutschen Kriegsflotte sür Frankreich und Italien
M
Menenms
. . Ein Buch zu rechter Zeit ist die im Herbst 1918 bei Fischer (Jena) er-
^ueirene 3. Auflage der gekrönten Preisschrift „Vererbung und Auslese" von
^ils. Schallmayer, die in ihrer erweiterten Form den Untertitel
Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst für Rasfe-
YYgleniker, Bevölkerungspolitiker, Anthropologen, Soziologen, Erzieher, Kri-
"en, höhere Verwaltungsbeanlte und politisch interessierte Gebildete aller
Stande" trägt.
. Ein Volk, das im Begriff ist, sich eine neue Staatsverfassung und Gesell-
«^^/bang 6" schaffen, hat die heilige Pflicht, sich über die unerschütterlichen
^unolageir von Staat und Gesellschaft zu unterrichten. Das sind die naturgesetz-
'eyer Entwicklungs- und Lebensbedingungen der Menschen; denn Träger von
^alae und Gesellschaft ist der Mensch, eine Binsenwahrheit, die in ihrem gescim-
den Folgten erst von wenigen Politikern erfaßt worden zu sein scheint. In einem
demokratischen Staate mit allgemeinem gleichen Wahlrecht ist aber eigentlich
jeder Bürger mehr oder minder Politiker.
Angesichts des Umstandes, daß die 2. Auflage des Schallmayerschen
Buches seinerzeit in dieser Wochenschrift (1911 Ur. 23 und 24) durch Prof.
Becher--Münster ü W. in einem „Rassedienst" benannten Aufsatz eine ein¬
gehende und verständnisvolle Würdigung erfahren hat und die Grundgedanken
des Werkes keine Veränderung erlitten haben, könnte es genügen, auf die neue
Auflage aufmerksam zu machen. Die Wichtigkeit und Aktualität des Gegen¬
standes, sowie einige Abweichungen in der Auffassung grundlegender Fragen
zwischen dem derzeitigen und heutigen Berichterstatter rechtfertigen es indessen,
unter ausdrücklichen? Hinweis auf die frühere Besprechung dem Buche einige
Zeilen zu widmen. Die dort gegebene Entwicklung des Gedankenganges, sowie
die Schilderung der sich aus den wissenschaftlichen Grundlagen ergebenden prak¬
tischen Forderungen baun hier nicht wiederholt werden.
Die Lehre vom „Nassedienst" geht ans von der, wie auch Becher hervor¬
hebt, „heute von fast allen Naturforschern als Wohl begründete Theorie anerkann¬
ten" Darwinschen Entwicklungslehre, „die eine Abstammung kompliziert gebau¬
ter, hochstehender Lebewesen von einfacheren, zuletzt ganz einfachen Organismen
annimmt". Sie baut sich auf den Tmsachen der Ver rtiunci mW Auswie auf.
Der Weg, der zur Erreichung des Zieles: Gesundhaltung und Vervollkomm¬
nung der Rasse (bezw. des Volkes als fortzeugende Lebenseinheit) in körperlicher,
geistiger und sittlicher Beziehung, einzuschlagen ist, hängt nnn von der Stellung¬
nahme gegenüber den betreffenden, in jenen Tatsachen enthaltenen biologischen
Problemen ab. Wer mit Lamarck glaubt, daß Uniweltseinflüsse, insonderheit
Übung bezw. Nichtgebrauch eines Organes nicht nur das Erscheinungsbild,
sondern gleichzeitig auch das Erdbild des Menschen gleichsinnig zu ändern ver¬
mögen, wird selbstredend die Vervollkommnung der Nasse durch Schaffung einer
möglichst günstigen Umwelt und Übung wertvoller Anlagen — (auch unsere
geistig-sittlichen Fähigkeiten sind organisch bedingt) —zu erreichen trachten. Wer
dagegen mit Weismann die Möglichkeit der erblichen Übertragung nur von dem
Personaltcil im Laufe des Lebens erworbener Eigenschaften bestreitet, und die
Erbmasse als eine von Geschlecht zu Geschlecht weiter gegebene, also im Gegensatz
zum Erscheinungsbild gewissermaßen unsterbliche und 'willkürlich durch äußere
Einwirkung nicht beeinflußbare Größe betrachtet, wird einen anderen Weg zur
Verbesserung des „organischen Erbgutes" des Volkes wählen müssen. Nur da¬
durch, daß er Sorge trägt, daß sich bei der Fortpflanzung hochwertige
Erbeinheiten von seiten des Vaters und der Mutter vereinigen, wird es
ihm möglich sein, eine sich im Erscheinungs- u n d Erbbilde des Erzeugten aus¬
prägende Steigerung der Anlagen zu erzielen. Mit anderen Worten, ihm bleibt
nichts übrig als die Auslese.
Schallmaher lehnt den Lamarckismus entschieden ab, meines Erachtens
mit Recht; wie Becher meint, ohne genügende Begründung. Ich kann letzterem
Urteil nicht zustimmen. Wenn Becher in den von Sem'on zusammengestellten
Experimentaleraebrn'sser der chi'de'- er Forscher einen Beweis für die allgemein,
aber ungenau, sogenannte „Vererbung erworbener Eigenschaften" sieht, so ist zu
entgegnen, daß es sich dabei nur um eine Scheinvererbung durch Nachwirkung
von Umweltseinflüssen auf das nächste Geschlecht handelt. Das übernächste zeigt
bei höher organisierten Lebewesen die betreffenden Veränderungen schon nicht
mehr, hat sie also nicht ererbt. Bei dem zähen Festhalten einzelner Forscher am
Lamarckismus ist meines Erachtens offenbar der Wunsch der Vater des Ge¬
dankens. Die Möglichkeit, durch Verbesserung der Lebensbedingungen, Vervoll¬
kommnung der Organismen erzielen zu können, hat etwas sehr Verlockendes.
Der Weg ist bequem und man vermeidet, soweit rassenhygienische Bestrebungen
in Betracht komnren, den Zwiespalt zwischen persönlichen und gesellschaftlichen
Interessen einerseits und Rasseintevessen anderseits. Wenn ich Minderwertige
in Vollwertige verwandeln kann durch Änderung der Lsbensumstände, so brauche
ich sie natürlich nicht von der Fortpflanzung lauszuschließen. Auffallend ist mir,
daß die Lamarckisten sich nicht sagen, daß, wenn Übung eines Organs die ent¬
sprechende Erbanlage verbessert, selbst bei nur ganz minimalen Fortschritten von
Geschlecht zu Geschlecht, die Menschheit eine bereits viel höhere Stufe der Voll¬
kommenheit erreicht haben müßte, als sie heute tatsächlich einnimmt. Gewiß,
wir haben in sittlicher Hinsicht große Fortschritte im Laufe der Jahrtausende
gemacht, insonderheit hat die Nächstenliebe unter der Herrschaft des Christen¬
tums eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren: die Kinder werden aber
heute noch mit mehr oder minder ausgesprochener Ichsucht gehöre« und müssen
immer wieder erst zum Altruismus erzogen werden. Überhaupt wird kaum ein
Pädagoge die Behauptung wagen, daß die Erziehung der Jugend, wenn wir von
den technischen Hilfsmitteln absehen, heute leichter ist, als sie vermutlich vor
etlichen tausend Jahren war, was bei der starken Pflege, welche die sozialen
Instinkte mit fortschreitender Kultur erfahren haben, doch der Fall sein müßte,
wenn der Lamarckismus zu Recht bestände. Unsere Fortschritte sind bedingt
durch Steigerung der überlieferungswerte, nicht der Erbwerte.
Die den Lamarckismus bestreitende Weismannsche Lehre von der „Konti¬
nuität des K.imwasmciS", d. t>, der Erbmasse, und dessen Unbel'influßömkeit,
durch die Umwelt hat nun durch die neuere Zell- und Erblichkeitsforschung eine
starke Stütze erhalten. Semons Versuch, zwischen jener ersteren Lehre und dem
Lamarckismus eine Brücke zu schlagen, war geistvoll, ist aber durchaus mißglückt.
Die ausgezeichnete Darstellung der von: Augustinerpater Gregor Mendel in den
sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefundenen, aber unbeachtet ge¬
bliebenen und 1901 von Eorreus, Tschermak und de Nries neu entdeckten Ver-
erbungsregeln — (oder man darf heute dreist sagen Gesetzen) —bildet eine wert¬
volle, dringlich gewordene Bereicherung der 3. Auflage des Schallmayerschen
Buches. Wir dürfen heute sagen, daß alle Vererbung zweieltriger Wesen ein
„Wendeln" ist, d. h. nach den genannten Gesetzen sür Kreuzungen geschieht.
Die Vererbung erfolgt mit zahlenmäßiger Gesetzmäßigkeit, so daß bei weniger zu-
sammengesetzten Lebewesen, z. B. etlichen Pflanzen, der erfahrene Forscher vor¬
hersagen kann, in welchem Zahlenverhältnis die Kreuzungsprodukte Blätter und
Blüten von dieser oder jener Gestalt bezw. dieser oder jener Farbe haben werden.
Beim Menschen liegen die Verhältnisse natürlich viel verwickelter. Wegen der
Fülle der Erbeinheiten, die eine in die Millionen gehende verschiedene Zu-
sammenfügunq gestatten und sich zum Teil gegenseitig bedingen, zumal strenge
Inzucht ausgeschlossen ist, eine Voraussage unmöglich. Menschen nach Mendel-
schen Regeln züchten, das können wir nicht. Trotzdem ist deren Entdeckung für
die praktische Rassenhygiene von großem Wert. Indem diese Regeln das alt-
Wort bestätigen „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", lehren sie die hohe
Bedeutung 'der von Schallmaher schon 1891 geforderten erbbiographischen Per¬
sonalbogen für die Eugenik. Diese Bogen, in welche für jede Person von ihrer
Geburt an gewisse zur Beurteilung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen Erb¬
anlagen dienliche Beobachtungen durch zuständige Personen eingetragen werden
sollen, würden allmählich zu Familienstammbüchern anwachsen, „die nicht nur
über pathologische, sondern auch über andere bemerkenswerte Erbanlagen ver
Borfnhren und ihrer Seitenvevwandten Aufschluß gäben". Damit würde dem
heute noch in weitem Umfang zu Recht bestehenden Einwand, wir können keine
Eheverbote erlassen, denn wir sind außerstande, die Erbanlagen eines Menschen
zu erkennen, der Boden entzogen zu werden. Selbst sog. rezessive, d. h. von
anderen überdeckte, und nur dann, wenn die Erbmasse beider Eltern sie beher¬
bergt, im Kinde in die Erscheinung tretende Anlagen könnten auf Grund solcher
Stammbücher aufgedeckt, und es könnte, sofern es sich um schwere verborgene
Krankheitsanlagen von beiden Seiten, handelt, die geplante Ehe vermieden
werden.
Die Mendelforschung hat die Bedeutung der Auslese für die Rassenhygiene
ins rechte Licht gestellt! eine Bedeutung, die auch von Becher trotz seiner Ver-
tvidigung 'des Lamarckismus anerkannt 'wird, und die nach ihm auch von dem¬
jenigen zuzugeben ist, der die Rolle, welche nach Darwin und Weismann die
Selektion bei der Entstehung der Arten gespielt hat, für gering erachten. Es sei
dies ausdrücklich hervorgehoben angesichts neuerer, von namhafter Seite unter¬
nommener Versuche, den Wert des Auslesegedankens für die Entwicklungs¬
geschichte der Organismen herabzusetzen und im Gefolge davon den „ethischen,
sozialen und politischen Darwinismus" abzuwehren. „Alle Gestalten sind ähn¬
lich, doch keine gleicht der anderen und so deutet der Chor auf ein geheimes
Gesetz." (Goethe.) Dieses Gesetz hat, soweit die Verschiedenheit zwischen Art¬
genossen, Eltern und Kindern und Geschwistern untereinander in Betracht
kommt, der Mendelismus im Verein mit der neuen Zellforschung aufgedeckt.
Was man früher als erbliche Varietät bezeichnete und über dessen Ursächlich¬
keit man sich keine Rechenschaft geben konnte, beruht darauf, daß bei der Reifung
der Geschlechtszellen eines Individuums einige, aber nicht immer die gleichen
Erbeinheiten (Gene) ausgestoßen werden und daß die einzelnen Gene sich ge¬
trennt > vererben und in der mannigfaltigsten Meise miteinander verbinden
können. Änderungen des Erbbildes durch unmittelbare Einwirkung äußerer
Faktoren auf die Erbmasse, sog. Mutationen, scheinen nur in sehr geringem Um¬
fang vorzukommen. Ihre Entstehung bedarf noch der Aufklärung. Beim
Menschen rechnet man dazu die Schädigung der Erbmasse durch sog. Keimgifte,
Alkohol, Nikotin, Blei, Phorsphor, Quecksilber, das Malaria-, Tuberkulosen-
und Syphilisgift und so weiter. In der 2. Auflage erkannte Schallmayer dem
Alkohol noch eine schädigende Einwirkung lauf die Erbmasse zu. Neuerdings
steht er der Frage der Keimgifte zweifelnd gegenüber. Mit Recht betont er, daß
Gifte, welche in die Geschlechtszellen eindringen, deshalb noch nicht die im Zell¬
kern besonders geschützt liegende Erbsubstanz zu erreichen brauchen. Es kann
sich bei der Minderwertigkeit der Alkoholikerkinder sehr Wohl nur um eine
Minderwertigkeit des Erscheinungsbildes, bedingt durch die meist sehr schlechten
Aufzuchtsbedingungen in Trinkerfamilien handeln. Es ist zuzugeben, daß die
Statistiker und Experimente, welche die entartende Wirkung des Alkohols be¬
weisen sollen, durchaus der Nachprüfung bedürfen. Der Kampf gegen den
Alkohol wird dadurch aber nicht berührt. Ganz abgesehen davon, daß er not¬
wendig ist aus individuellen und sozialen Gründen, gereicht er auch der Nasse
zum Vorteil; denn der Alkoholismus übt mittelbar einen >sehr ungünstigen Ein¬
fluß auf den Rasseprozeß aus.
Da, wie wir sahen, die Beeinflussung des Evbbildes durch Umweltsein-
wirkungen, welche das Erscheinungsbild treffen, abgelehnt werden muß, Muta¬
tionen aber nur eine sehr geringe Rolle spielen und insonderheit Mutationen im
Sinne einer Verbesserung der Erbverfassung beim Menschen nicht beobachtet
worden sind, so bleibt, wie schon angedeutet, zur Erreichung des Zieles der
Rassenhhgiene nichts anderes übrig als die Auslese, und zwar die Fortpflan¬
zungsauslese. Die in der Natur herrschende Lebensauslese, die dadurch züchtend
wirkt, daß der Schwache, ehe er zur Fortpflanzung gelangt, hinweggerafft wird,
kann für die Rassenhygiene nicht in Betracht kommen. Denn diese will nicht,
wie ihr das zuweilen unterstellt wird, zur Barbarei zurückkehren, sondern ledig¬
lich Ausgleiche schaffen für die im Wesen unserer .Kultur liegende Gefahr der
Entartung.
Während anfangs die meisten vorwiegend Rassenhygieniker durch Ausschal¬
tung minderwertiger Erdmassen bei der Fortpflanzung die durchschnittliche Erbgüte
der Bevölkerung zu heben trachteten, wird heute von denjenigen, die sich am ein¬
gehendsten mit dem Problem beschäftigt haben, so auch von Schallmayer als
einem der ersten, der Nachdruck auf die größere Fruchtbarkeit der überdurch¬
schnittlich Tüchtigen gelegt. Die Tüchtigen müssen sozusagen die Mindertüchti¬
gen überwuchern. Während in China die geistig und sittlich höher stehenden
Klassen eine größere Kindevzahl haben als die tieferstehenden, hat unsere euro-.
patsche Kultur dahin geführt, 'daß sich das höhere geistig-sittliche Erbgut schwächer
Vermehrt als das geringere. Das Ergebnis dieses Prozesses muß eine sich lang¬
sam vollziehende, heute freilich noch verdeckte Hsravminderung der durchschnitt¬
lichen seelischen Tüchtigkeit des Volkes sein.
Aus diesem Grunde ist praktische Rassenhygiene kein Zukunftsideal, son¬
dern eine dringende Tagesforderung. Die rasseschädigenden Nebenwirkungen
der Kultur müssen durch mu letzterer vereinbare, aus ur> idunmchmt une ,5>>>cht-
barkeit der überdurchschnittlich Tüchtigen hinzielende Maßnahmen ausgeglichen
werden. Dann werden wir unser Volk im Gegensatz zu der Mehrzahl der alten
Kulturvölker vor dem Tode bewahren können. Denn der Völkertod ist kein
natürlicher Alterstod, kein Naturgesetz, wie von soziologischer Seite zuweilen be¬
hauptet wird, sondern nur eine dermeidbare geschichtliche Erscheinung; „die
Mittel des modernen Staates zur Beeinflussung des Nasseprozesses sind.....
mannigfaltig und mächtig und die kulturelle Begabung des deutschen Volkes ist
besonders reich".
Diesen Mitteln widmet Schallmayer in dem 2. Hauptteil seines Werkes
„Ziel und Wege des Rassedienstes" — (der erste behandelt „Die wissenschaft¬
lichen Grundlagen des Rassedienstes") — eine eingehende, gedankenreiche Dar¬
stellung. Rassenhygienische Eheverbote, Sterilisierung, Zwangsasylierung, Be¬
einflussung der Fortpflanzungsallslese durch die Sexualordnung, pures das Er-
ziehungs- und Schulwesen, durch eugenische Auszeichnungen, durch das Straf¬
recht, durch Heilkunde und Personenhygiene, durch Reform einer Verteilung des
Volksleinlonunens, durch die „Wehrsteuer", Beeinflussung -der Gattenwahl, Ver¬
hütung der Keimvergistnngen und so weiter werden einer eingehenden Kritik
unterzogen. Mit Recht wird besonderer Nachdruck auf die ^r^ietiuna zur rassen-
lHgienischen Moral, d. h. auf die Entwicklung sozialer Alllagen im weitesten
Sinne gelegt.
Von besonderem Gegenwartsinteresse sind das Schlußkapitel „Staaten¬
vereinigung in rassenhygienischen Interesse" und die Ausführungen über „die
Auslesewirkungen der Kriege" im 1. Hauptteil.
Ich muß mich mit diesen kurzen Hinweisen begnügen. Nur ein Punkt,
in -welchem ich von dem Verfasser etwas abweiche, sei hier noch kurz berührt.
Schallmayer wirft die Frage auf: „Ist das ,nordische Blut^ zu bevorzugen?"
Sie wird von ihm entschieden verneint. Es ist ihm durcharls beizupflichten, daß
die Gobineausche Theorie von der gewaltigen Überlegenheit der nordischen Rasse
auf schwachen Füßen steht, daß von Reinrasfigkeit bei uns keine Rede sein kann
und daß dieselbe sogar nicht einmal erwünscht ist. Er hat auch darin recht, daß
die Entfachung des Rafsehcisses in Deutschland, namentlich zwischen nordischer
und alpiner Rasse, tief beklagenswert wäre. Er nimmt aber einige „Germanen¬
schwärmer" offenbar viel zu" ernst. Auch entspricht seine Fragestellung nicht den
bei uns in Nordostdeutschland herrschenden Verhältnissen. Es ist dies begreiflich,
da er einem süddeutschen Geschlecht entstammt und den allergrößten Teil seines
Gebens in Süddeutschland.zugebracht hat. Bei uns handelt es sich nicht um die
Frage „Ist das nordische Blut zu bevorzugen?", fondern um diejenige: „Ver¬
dienen die im Volke enthaltenen, im Rückgange begriffenen und durch Zustrom
fremder Rassenelemente von Osten ständig bedrohten spezifisch nordischen Erbein¬
heiten geschützt zu werden?" Eine Frage, die nieines Erachtens zweifellos be¬
lade werden muß. Daß einer Bevorzugung staatlicherseits schwere Bedenken
^ltgegenstcheu, gebe ich zu. Von Staats wegen kann zum Schutze des nordischen
Elementes nichts anderes als eine Erschwerung der Einbürgerung zuwandernder
^assefremdlinge, zu denen außer Semiten auch" die, einige nordische Erbeinheiten
U! sich tragenden Slawen zu rechnen sind, geschehen. Wenn Schallmayer meint,
vie Franzosen seien politisch zu geschult, um dnrch Auswerfung der Rassenfrage
Zwietracht unter sich zu säen, so 'ist zu bedenken, daß die diesbezüglichen Verhält-
urlse in Frankreich gang anders liegen als in Nordostdeutschland, welches die
westwärts gerichtete semitisch-slawische Flut aufzufangen hat. Die geographischen
Verhältnisse sind auch der Grund dafür, daß in England die Judenfrage nicht
entfernt die Rolle spielt wie bei uns. Ich befinde mich darin in Uberein-
Stimmung mit Fritz Lenz, daß die Rassensrage letzten Endes keine Wert-, sondern
eine Gefühlsfrage ist. Aus diesem Grunde kann sie kein Bestandteil der Politik
eines verschiedenrassigen Volkes sein. Aber, wie ich meine Familie, im weiteren
Sinne, auch wenn sie weniger wertvoll ist als manche andere, bevorzuge, wie ich
meine Heimat, auch Menn sie an natürlichen und kulturellen Reizen anderen
Landschaften nachsteht, besonders liebe, so steht mir auch meine Rasse näher, als
jede andere, wenn ich diese noch so hoch einschätze. Dem widerspricht auch nicht
die Tatsache, daß keiner von uns reinrassig ist. Es ist das Gefühl der Zugehörig¬
keit, was hier entscheidet. Dieses Gefühl kann bis zu einem körperlichen Wider¬
willen geigen einzelne, sogar kulturell sehr hochstehlende Nassen gehen. So töricht
und gefährlich das Gebären einzelner Rassefanatiker ist, so berechtigt erscheint
mir bei uns die sich in den Formen des Anstandes und der Würde bewegende
Pflege des Rassegefühles innerhalb der sich raßlich verwandt fühlenden Volks¬
gruppen zu sein.
Soll ich ein Gesamturteil über die neue Auslage des Schallmay ersehen
Buches abgeben, so lautet"es: Der Verfasser selber nennt die Auflage eine „durch¬
wegs umgearbeitete und veränderte". Mit dem gleichen Recht, und mit weit
größerem Recht, als es landläufig geschieht, hätte er sie eine „verbesserte" nennen
können. Die hingebende wiederholte Durcharbeitung des stark gewachsenen
Stoffes hat zu keiner noch besseren Gliederung und einer erfreulichen Geschlossen¬
heit des Ganzen geführt. Große Sorgfalt ist der Darstellung gewidmet. Das
Buch liest sich ausgezeichnet; angesichts des spröden Stoffes keine kleine Leistung.
Einen Wunsch hätte ich sür eine spätere Auslage. Die vorliegende zeichnet sich
zwar im Vergleich zu den vorangegangenen durch ein stark vermehrtes Sach¬
register aus; dasselbe genügt aber immer noch nicht. Denn die Bedeutung des
Buches geht weit über diejenige eines „Grundrisses" hinaus. Durch die Fülle
des darin aufgespeicherten und kritisch verarbeiteten Materials ist es zu einem
äußerst wertvollen Nachschlagewerk geworden. Ein solches verlangt aber ein
noch eingehenderes Sachregister. Ich stehe nicht an, das Schallmayersche Werk in
Hinsicht auf Gewisslenhaftigkelit, Umsicht und Schärfe des Denkens als vorbildlich
zu bezeichnen. Es liefert den schlagenden Beweis, daß die Behauptung des Ver¬
fassers, die Biologie sei hervorragend zur Übung des logischen Denkens geeignet,
„Es ist jede echte Kunst Kunst der Persönlichkeit. Mit dem Unterschiede
freilich, ob innere Regung oder äußere Anregung den letzten Antrieb gegeben
hat." Irgendwo in einer Studie stand das Wort vor kurzem. Keine neue tiefe
Weisheit, aber unwillkürlich drängt sich seine Wahrheit bei der Vertiefung in jeden
neuen Briefband Theodor Storms auf. Storms Kunst ist Kunst der Persönlichkeit,
die auf innerer Regung und äußerer Anregung beruht — das weiß der sehende
Leser längst. Reizvoll jedoch ist es, bei neuer Lektüre Stormscher Lebensäußerungen
immer wieder den tiefen Zusammenhang zwischen Storms Innenleben und seiner
Ausmünzung im Worte zu erfahren. Und es bleibt dabei für jeden Stormverchrer
ein tiefes Erlebnis, mit dem Menschen den Künstler mit allen Menschlichkeiten
höher schätzen, tiefer lieben zu lernen. Gewiß sind so intime Briefe, wie die an
Braut, Frau und Kinder, zu einer Zeit und unter Umständen geschrieben, denen
der Gedanke an die Öffentlichkeit fernlag, in erster Linie Privatmitteilungen eines
liebenden Mannes, eines sorgenden Vaters, aber wie stille verschwiegene Garten-
Winkel sind sie allzeit durchzogen von duftenden Blüten, in denen es wie im
Märchenwalde singt und klingt — nicht nur, daß reale Tatsachen ihre Farbe vom
Künstler erhalten, sondern daß ebenso zwischen ihnen Werkstattarbeit aus der
Dichterschmiede greifbar wird. Storm war eine mitteilsame Natur. Seine Lieben
nutzten an allem teilnehmen, was ihn bewegte. Er war so innig mit ihnen
verwachsen, daß er eins seiner Kinder sein „literarisches Gewissen" nannte. Das
Wort vom „passionierten Vater" war keine Phrase, sondern Erlebnis. Einerseits
die Mitteilungen an die beiden Freunde Brinkmann und Petersen, andererseits
sein Briefwechsel mit Paul Heyse ergänzen das Bild vom Dichter nach der Seite
des öffentlichen Lebens. Geradezu überraschend sind oft die Schlaglichter, die des
Dichters Stellungnahme zu Menschen und Welt der Gegenwart in ihnen auf
seinen Charakter wirft. Da ist Storm ganz der aufrechte starke Mann, den die
Welt so manchmal hinter dein weichen verträumten Poeten nicht Hut sehen wollen
Und der er doch immer in seinein ganzen Lebenswerke gewesen ist.
Die beiden Briesbände an seine über alles geliebte Frau Konstanze umfassen
die Jahre von 1844—1846 und von 1852—1864, die Briefe an seine Kinoer die
Zeit nach dem Tode der Mutter bis 1888, die an die Freunde Brinkmann und
Petersen den Zeitraum von 1850—1887. Mit Paul Heyse hat er von 1854 bis
5» seinem Tode im Briefwechsel gestanden. Die weite Spanne dieser Jahre
schließt neben frohen Tagen schwere Lebenslagen für den Menschen und Künstler
M sich. Wir kennen vieles davon bereits aus den gemütsinnigen Darstellungen
seiner Tochter Gertrud und seiner Freunde und Biographen. Aber wir leben und
neben, sorgen und schaffen, streiten und freuen uns herzlicher mit dem Dichter,
wenn wir mit seinen eigenen Augen und Ohren sehen und hören. Viel Menschliches
steckt zwischen den Zeilen, auch Hart-alltägliches, das den Dichter scharf gepackt
hat. Doch niemand, der das Leben wie Storm liebt, kann sich dem Zauber ent-
Zlehen, der in seinem Bekenntnis liegt: „O das Leben ist sehr nüchtern, wenn
Man selbst nicht das bißchen Poesie hätte, womit mein's ansieht, das ist wie ein
farbiges Brillenglas."
Es bleibt zweifelhaft, ob die einzelne Natur der Persönlichkeit Storms von
der Dichtung oder vom Briefe aus nahekommt, so viel ist bei Storm aber gewiß,
daß zu seiner vollen Würdigung, zum Genießen sowohl wie zum Durchdringen
fernes Lebenswerkes beides gehört: Brief und Dichtung. Darum bedeutet es ein
Verdienst der Herausgeber und der Verleger, die Briefe dem deutschen Volk mit-
geteilt zu haben. Damit hat das Werk des Heidesängers eine überaus wertvolle
Ergänzung erfahren. „Und wimmert auch einmal das Herz, stoß an und laß
es klingen — wir wissen's doch, ein rechtes Herz ist gar nicht umzubringen." So
fang Storm einst im Herbst. Mannhaft und aufrecht hat er sich durch schwere
stunden durchgerungen. Darum weiß er uns und unserm gesamten Volke heute
>" Viel
b K wertvolle Bücher der Kriegszeit rühmlich bekannte Verfasser
behauptet: es ist zunächst unabhängig von dem deutschen Problem als Kom¬
plementärerscheinung unseres technischen Zeitalters, mit seinem Geiste ungehemmter
srner Konkurrenz, seiner Gewinnsucht, Genußsucht und tiefgehenden Verwilderung
r moralischen Lebensformen überhaupt, des Neides und Hasses zwischen Unter-
und Oberschichten desselben Volkes und zwischen den einzelnen Völkern eine Affekt-
menge, ein Haßkapital in der ganzen europäischen Seele aufgespeichert. Dieses
umverselle Haßkapital gewann aber einen gewissen Richtungs- und Neigungs¬
winkel auf die Mittemächte, wodurch der dispositionelle Hintergrund für die
vewndere Form des Deutschenhasses geschaffen wurde. Scheler glaubt die Mög-
uaikeit dieser Einstellung mit einer verschiedenen Druckverteilung begründen zu
<Kirisofern nämlich die erwähnten generellen Faktoren der europäischen
^eytesgeschichte innerhalb der Sphäre der Mittemächte weniger stark und weniger
einförmig, desgleichen weniger früh tätig gewesen seien. Was sind nun für
Scheler die unmittelbaren Ursachen des Deutschenhasses? Eine Reihe von ihnen
beruhen auf sozusagen notwendigen Mißverständnissen unseres Wesens; das ist
der Fall beim Militarismus und der Freiheitsidee. Augenblicklich droht diesen
Gedanken ja im eigenen Volke das gleiche Mißverständnis wie im Auslande, aber
der Tag wird kommen, wo man die Wahrheit der Schelerschen Unterscheidung
zwischen Ge^innungs- und Zweckmilitarismus bei uns wieder besser begreifen wird.
Abwendbare Mißverständnisse sind die falsche Beurteilung des Auslanddeutschen,
das unselige nationale Flagelluntcntum vor, in und nach dem Kriege, endlich die
schädlichen Wirkungen des alldeutschen Schrifttums. Der tragende Orgelpunkt
im Stimmengewirr der Leidenschaften, das von Äderall her an unser Ohr brandet,
ist etwas anderes I Der Deutsche hat die Welt aus ihrem Paradiese vertrieben,
er, der Arbeitsmensch, hat dem bequemen Lebensstil der Nachbarvölker, mochte es
sich nun um russische Kontemplation, englischen Komfort oder französisches
Nentncrtnm handeln, ein Ende gemacht. IIs travaillsnr trop, mit diesen drei
Worten begründete vor dem Kriege ein Franzose den universalen Haß gegen
Deutschland. Das geht auf eine alte deutsche Eigenschaft, die laboriosiws. wie
sie Leibniz nennt, jene Fähigkeit und Neigung zur Arbeit um der Arbeit willen,
einen seelischen Antrieb, der aus letzten Gründen unseres Seins quillt, zu der
ihm eigentümlichen moralischen Kategorie des unendlichen Strebens gehört und
dem Auslande unverständlich, unheimlich erscheint. Neben dem seelischen Motor
ist es das Tempo unserer Arbeit, das Beunruhigung erweckte. Denn es war
ungesund, ließ nicht die nötigen Pausen der Sammlung, Kontemplation, des
Lebensgenusses im höheren Sinne. Man versteckte die Unfähigkeit, „die Pausen
zwischen der Arbeit sinnvoll auszufüllen hinter einer vermeintlichen Pflicht, weiler¬
zuarbeiten." Aber auch jene Aktionsform: Unendlichkeit des Strebens konnte zu
schweren Fehlern führen. Ihr „Gehalt, im ersten Drittel des neunzehnten Jahr¬
hunderts einseitig theoretisch-geistiger Natur, materialisierte sich fast Mit einem
Schlage, mit derselben Maßlosigkeit und ekstatischen Verlorenheit in die Sache
schien dieses Volk jetzt aufzugehen in der Arbeit an seinen politischen, militärischen
und ökonomischen Daseinsgrundlagen". Hier drohte der kategorische Imperativ
des immer strebend Sichbemühens ans eine schiefe Bahn zu geraten. Denn „der
Märtyrer seines ökonomischen Arbeitsimpulses ist nicht erhaben, er ist komisch".
Er ist auch verdächtig und gefährlich, hier führt der Weg zu jenem radikalen
Mißverständnis des Auslandes von unserem angeblichen Welteroberertuml —
Schelers,Gedanken über die Hauptmsache des Deutschenhasses finden heute wohl
Zweifel und Ungläubigkeit. Wir dürfen uns aber angesichts der so gänzlich ver¬
wandeltem Gegenwart über ihre Berechtigung in der Vergangenheit und auch
wieder nach Überwindung dieser ungeheuren postmorbiden Ermattung nicht täuschen.
So gilt denn auch im Deutschland des 9. November seine nntionalpädagogische
Ermahnung: Nicht wiederhassen, und erst recht nicht sich von dem Hasse einer Welt —
in selbstbefleckender Weise — anstecken lassen, wie es leider vielfach üblich ist,
auch nicht aufklären um jeden Preis, sondern „Selbstbeherrschung unserer eigenen
Haßaffekte, unbedingte Festhaltung des unerschöpflichen positiv deutschen
Wesens, ja das feste, glückliche, stolze, aber nicht hochmütige Gläubigseiu an die
Unendlichkeit und Hoheit dieses deutschen Wesens, aber nüchtern kühle Selbstkritik
aller deutschen Erscheinungsformen in den letzten Friedensjahren auf allen Gebieten".
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
is nach der Revolution die Erschütterung des gesamten politischen
Lebens er>f das Parteiwesen übergriff, mußten auch die Rechts¬
parteien in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Mode der neuen
Firmenschilder griff in allen bürgerlichen Parteien um sich, das
Bedürfnis nach taktischer Zusammenfassung war allgemein, und
so schlössen sich die beiden konservativen Parteien in einer neuen
Partei zusammen, die den nationalen Gedanken in den Vordergrund schob, hinter
dein inMeV'Tut die Parteidifferenzen im Augenblick stark zurücktreten mußten.
Das Losungswort zog noch weitere Kreise an sich, so daß in der Tat ein neues
Pi,rteibild entstand, das nicht als eine einfache Fortsetzung des alten Konservati¬
vismus angesprochen werden konnte.
Schon von vornherein machte die Deutschkonservative Partei bei ihrem
Anschluß an die Deutschnationale Volkspartei den Vorbehalt, daß sie ein völliges
Aufgehen vermeiden wolle. Jetzt nach über ein viertel Jahr Deutschnationaler
Volkspartei haben die Konservativen die Tagung des Hauptvorstandes der neuen
Partei zum Anlaß genommen, um jenen Vorbehalt noch einmal zu unterstreichen,
und die Kreuzzeitung bringt einen längeren Osterartikel des Grafen Westarp,
der nicht sowohl von taktischen als von ideellen Gesichtspunkt aus die innere
Selbständigkeit und den Fortbestand des reinen Konservativismus fordert. Man
darf annehmen, daß der bekannte konservative Parteiführer damit nicht sowohl
ein persönliches Bekenntnis ablegen, daß er vielmehr dem Grundempfinden breiter
Kreise seiner engeren FrnkiionSfreunde einen sichtbaren dokumentarischen Ausdruck
geben wollte. Es scheint damit nicht unangebracht, die von konservativer Seite
selber angeschnittene Diskussion aufzunehmen und sich aufs neue die Frage vor¬
zulegen: in welchem Sinne und in welchen: Ausmaße hat der Konservativismus
auch heute noch das Recht aus selbständige Existenz?
Es ist eine durchgängige Erscheinung, daß politische Parteibezeichnungen
Nur unvollkommen den'Jdeenbestcmd decken, der unter ihrer Flagge segelt. Es
ist aber mit einem solchen Auseinanderklaffen von Parteiname und Parteiidee
die Gefahr verknüpft, daß es nicht nur von der gegnerischen Polemik ausgenutzt
wird, sondern daß es darüber hinaus die Partei um diejenige Werbekraft bringt,
die sie haben könnte, wenn schon in ihrem Namen ihr Wille und ihre Wegrichtung
klar zum Ausdruck kämm. Es steht außer jedem Zweifel, daß die polnische
Mentalität, die sich konservativ nennt, nur zu einem Teil durch den Willen zur
E,Haltung des Bestehenden gekennzeichnet ist. Es wäre in der Tat traurig um
eine politische Gruppe bestellt, die in diesem engen Sinns lediglich festhalten
wollte und auf das Weiterführen gänzlich verzichtete. Und selbst ein Partei, die
bloß erhalten wollte, mußte sich über Unterscheidungsmerkmale schlüssig werden,
die es ihr möglich machen, nun auch in jedem einzelnen Falle zwischen dem zu wählen,
was es zu erhalten, und zwischen dem vielen anderen, was es zu überwinden
gilt. Aber der Konservativismus ist nicht nur negative Erhaltungspartei, sondern
es ist mit Recht in den letzten Jahren von einem konservativen Fortschritt ge¬
sprochen worden, und zwar in einem doppelten Sinne. Konservativer Fortschritt:
das bezeichnet einmal das Tempo der Entwicklung, bevorzugt den Rhythmus lang¬
samer Entfaltung vor der überstürzten Hast des Umsturzes. Konservativer Fort¬
schritt: das umgreift aber auch ein Ziel der Entwicklung, bedeutet den Glauben
an den organischen Charakter des Staates und der Gesellschaft, an die unver¬
äußerliche Rolle der Autorität im öffentlichen Leben, an die Geltung und Leistung
der Person, an Schichtung und Stufung des Gesellschaftsbaues, an das sittliche
Gebot der Einordnung des einzelnen in das übergreifende Ganze. Eigenschaften
dieser Art waren es auch zum -großen Teil, die Graf Westcirp in seinem erwähnten
Artikel als unveräußerliches konservatives Erbgut gepriesen hat. Unverständlich
bleibt bloß, warum zu ihrer Aufrechterhaltung das unzulängliche Stichwort des
Konservatioismus gewahrt bleiben soll, das den konkreten Jdeenbestand ebenso
wenig deckt, wie die neue Flagge des Nationalismus. Die ganze Diskusston
nimmt an diesem Punkte eine Wendung ins Taktische, und gerade von der poli¬
tischen Reife der alten konservativen Partei sollte man erwarten können, daß sie
für taktische Gesichtspunkte das nötige Verständnis müßte aufbringen können.
Es ist in der Tat nicht zu leugnen, daß die revolutionäre Zeit, in der wir
lebeir, allerdings dazu verführen könnte, nun gerade die konservative Parole aus¬
zugeben. Denn in einer Zeit, wo altes wankt, wo insbesondere der Bourgeois
um seine Renten, der Geheimrat um seinen Posten, der Bauer um seine Scholle
zittert, kann in der Tat diejenige Partei auf starken Zulauf rechnen, die diesen
viel zu vielen die Rettung ihres Ruhekissens verbürgt. Aber es wird nicht eine
sehr heldenhafte Armee sein, die sich um dieses konservative Banner gerade jetzt
sammelt, es besteht im Gegenteil die Gefahr, daß es eine Auslese der Ängstlicher,
vor allem aber eine Auslese derer wird, denen vor neuen, vor jungen, vor starken
Ideen als solchen bange ist, die sich ängstlich an die Vergangenheit klammern,
und denen daher der Weg zur Zukunft versperrt ist. Also: die Parole glänzt
verführerisch, aber sie führt die Partei nicht weiter, sondern stempelt sie zu dem,
was ihr bisher zu Unrecht nachgesagt wurde: zu einem Horte der Reaktion.
Wer hat denn heute vor allen Dingen Grund, in diesem Sinne „konservativ"
zu sein? Etwa der Landedelmann, der durch die kcipimlistischen Jnteressenver-
slechtungen des bourgeoisen Zeitalters, das hinter uns liegt, seiner urtümlichen
Wesensart entfremdet wurde? Etwa der Beamte, dem von den westlichen Demo¬
kratien her die Gefahr amerikanischer Korruption droh!? Gewiß ist für sie, ist
für das ganze Bürgertum durch die Revolution die bisherige Lebensgrundlage
erschüttert worden. Den Grund, dazu hat aber nicht der Sozialismus gelegt, der
eigentliche Grund ist beim Kapitalismus der demokratischen Bourgeoisie nach west¬
lichem Muster zu suchen. Die Blüte derjenigen Kreise, in denen der konservative
Gedanke, die Idee organischer Gemeinschaftspolitik zu Hause ist, lag nicht in der
letzten Gegenwart, lag vielmehr in jenen Zeiten, als der Kapitalismus noch nicht
das strenge und herbe Pathos altpreußischer Einfachheit aufgebläht und auf eine
gefährliche Weise von innen her gefälscht hatte. Nicht der Fortbestand der alt¬
preußischen Atmosphäre, deren Hauch die Ausführungen des Grafen Westarp
beherrscht, steht heute zur Diskussion, sondern die Frage ist. ob sich der Kapitalis¬
mus in Deutschland behaupten oder ob er durch ein neues System ersetzt werden
soll, daS an Stelle der Zersetzung im Klassenkampf, der Atomisierung im west¬
lichen Demokratismus den neuen Aufbau des Volksgedankens aus der Idee der
Arbeitsgemeinschaft setzen soll.
Die Welt scheidet sich heute in zwei große Lager. Im einen will man be¬
wahren und festhalten, glaubt oder gibt vor zu glauben an die Ideen der Revo-
ludion von 1789, verteidigt den individualistischen Staatsgedanken mit seiner
zerbröckelten Wäblermasse als Volk und seinem mechanischen Parlamentarismus
als Regierungssystem. Unter dieser Flagge hat die Entente gekämpst und unter
Führung des Präsidenten Witsen gesiegt. Das geistige Band dieser Parteien sind
Ideen, in denen sich die Weisheit vergangener Zeiten auskristallisiert hat. Im
andern Lager stehen die Völker, die nicht ihre Vergangenheit verteidigen, sondern
ihre Zukunft suchen. Moeller van den Brück hat für diesen Gegensatz die glück-
liche Formel der alten und der jungen Völker gefunden. Die alten Völker haben
Ideen, die jungen Probleme. Und eben an der Tatsache, ob ein Volk noch
Probleme kennt, ob es noch imstande ist, sich als Anfang statt als Ende zu
sehen, eben daran entscheidet sich seine Fähigkeit, ob es noch jung ist oder doch
wieder jung zu werden vermag. Alte Völker siud konservativ im Sinne der
Reaktion, junge Völker sind revolutionär, wie die Blüte revolutionär ist, wenn
sie die Knospe, wie die Raupe revolutionär ist, wenn sie die Verpuppung sprengt.
Auch das organische Leben kennt seine Revolutionen, auch die gesunde Entlastung
kann nicht immer deu schroffen Bruch vermeiden. Entscheidend ist, ob nur
Schranken gesprengt werden, um neues starkes Leben zu entbinden, oder ob der
Kern selber sich in Fäulnis zersetzt. Konservativismus in jenem Sinne, der von
aller Reaktion weit ab liegt, Konservativismus, den auch die Jugend mitmache,?
kann, Konservativismus im Sinne einer wahrhaft gesunden Politik ist die Fort¬
entwicklung des bestandhaften Alten zu neuer Kraft und Stärke. Hier wird nicht
der hoffnungslose Versuch gemacht. Uberständiges und Todgeweihtes zu kurzfristigem
Fortbestande zu retten, hier herrscht der Mut, selbst liebgewohnte Formen preis¬
zugeben, um dem Wesentlichen die Wiedererstarkung zu gewährleisten.
An diesem Scheidewege stehen heute die Deutschkonservativen. Und alles
hängt an der Entscheidung, ob sie es in den Fingerspitzen haben, daß Liberalis¬
mus und Kapitalismus heute im Begriff sind reaktionär zu werden, daß der
Sozialismus die Idee der Zukunft ist, daß die Ideen der Weltrevolution von uns
nicht niederkartätscht, sondern aufgefangen und in die Bahnen unserer nationalen
Jdeenentwicklung geleitet werden müssen, wenn wir uns überhaupt noch in der
Welt behaupten, wenn wir nicht auch im geistigen Sinne zu Sklaven des nieder¬
gehenden Westens werden wollen. Welche varteitaktischen Forderungen sind damit
an die bisherige konservative Partei gestellt?
In erster Linie muß das alte irreführende Stichwort des Konservativismus
verlassen werden. In welcher Weise die bestehenden Organisationen taktisch ein¬
zugliedern sind, ist eine Frage für sich. Ihre Vergangenheit brauchen sie nicht
zu leugnen, und die bloße Namensänderung ist ein Mummenschanz, der aus der
Aufregung der Nevolutionstage erklärlich ist, im übrigen aber nach seiner politischen
Tragweite nicht überschätzt werden sollte. Ein relatives Recht zu halb selbst-
ständigen Fortbestands behält die Deutschkonservative Fraktion nur dann, wenn
es gelingt, die Deutschnationale Volkspartei zu dem auszugestalten, was sie ihrem
Namen nach für kann und ihrer taktischen Bestimmung nach sein müßte: zur
Blockpartei der größeren Rechten, die nicht nur die beiden konservativen Fraktionen,
sondern auch die nationalUbcrale und die klerikale Rechte mit umfaßt. Eine
Deutschkonservative Fraktion innerhalb einer Deutschnationalen Fraktion neben
einer Deutschen Volkspartei ist hingegen ein Unding. Hier muß endlich ganze
Arbeit gemacht werden.
Eine taktische Frage zweiten Ranges ist es dann, ob die zu schaffende
Blvckparlei der größeren Rechten gut daran tut, den Sammelnamen deutsch-
national beizubehalten, oder ob sie der Linken die taktische Annäherung dadurch
erleichtern kann, daß sie nicht nur wesentliche sozialistische Prvgrcnnmpunkte auf¬
nimmt und sich damit scharf unter Durchbrechung der „bürgerlichen Einheitsfront"
von den kapitalistischen Deutschdemokraien scheidet, sondern daß sie darüber hin¬
aus auch in ihrer Namengebung den Gedanken anklingen läßt, daß es ihr auf
etwas wirklich Neues, nämlich auf die Schaffung und Vertiefung einer echten
Volksgemeinschaft ankommt, die entschlossen ans den alten obrigkeitsstaatlichen
Dualismus verzichtet und die horizontale, grburtsständische Stufung durch ver¬
tikale Umgrenzung neuer Berufsstände ersetzt, Eine solche große Rechtspartei der
organischen Volksgemeinschaft würde dann die Kraft haben, dem von links an¬
gefochtenen westlichen Parlamentarismus ihrerseits von rechts her den Boden zu
entziehen und den neuen revolutionären Verfassungsgedanken des Rätesystems in
eine Richtung zu lenken, wo er nicht dem reaktionären marxistischen Klassenkampf-
gedcmken, sondern einer neuen Idee der nationalen und sozialen Solidarität Aus¬
druck gibt. Wie der Freiherr vom Stein von rechts her die französische, so könnte
diese große Rechtspartei der Volksgemeinschaft die Idee der russischen Revolution
auffangen und damit einen fruchtbaren Gedanken der Weltrevolution, der durch
den Bolschewismus diskreditiert ist, auf deutschem Boden zu Ehren bringen. Nur
eine solche größere Rechte, die in ihren konservativen Bestandteilen mannhafte
und entschlossene ideelle Opfer zu bringen imstande wäre, könnte auch jenen
überaus erfreulichen Elementen des Sozialismus eine Heimat bieten, die gegen-
wmtig von der Mehrheitssozialdemokratie nach rechts hin sozusagen ins Leere
abgedrängt werden, weil ihre Gegnerschaft gegen den westlichen Liberalismus,
die bei Scheidemann und Ebert schon gänzlich verblaßt ist, gerade ihre Sonder¬
stellung innerhalb ihrer Partei bedingt. Es gibt schon heute nicht unbeträchtliche
Kreise unter der sozialistischen und konservativen Jugend, die sich in den Ideen
merkwürdig nahe gekommen sind. Diese Elemente allein können unsere Rechts¬
partei davor bewahren, endgültig aufs tote Geleise geschoben zu werden. Von
ihnen allein auch kann jene starke Initiative von rechts her ausgehen, auf die
wir nun schon so lange mit Schmerzen warten, nachdem wir Jahre hindurch
in allzuweilem Maße nur eine Bremspolitik von rechts her erlebt haben.
Und hier allein ist auch der Punkt zu suchen, wo echtes und unverwüstliches
Preußentum sich dadurch aufs schönste zu seinen besten Überlieferungen bekennen
kann, daß es den Mut hat, auch einmal mit seinen Überlieferungen zu brechen.
Wodurch wir den westlichen Völkern, so unheimlich waren, das war ja das enge
Nebeneinander, in dem Treue zum Überkommenen bei uns mit dem Mute zum
gänzlich Fortschrittlichen standen. Preußen und Preußen-Deutschland ist in der
Welt mindestens im selben Maße als revolutionär wie als konservativ oder
reaktionär empfunden worden. Das Aufkommen des jungen PreußenstaateS im
zerbröckelnder heiligen römischen Reiche, der Einbruch des jungen deutscheu Reichs
in da? erstarrende europäische Staatensystem: beides wurde von der Welt als
Revolution empfunden und ist uns nunmehr mit brutalen Machtmitteln einer
Weltgegenrevolution in diesem Weltkriege heimgezahlt worden. Unser Grundfehler
war, daß romantische Formen der Welt und vor allem uns selber den welt-
revolu'.ionären Charakter jener Entwicklungslinie verbarg, die vom Großen
Kurfürsten über Friedrich den Großen zu Bismarck führte. Gerade wir, die wir
uns o.und heute noch zu dieser Linie bekennen, sollten nicht nur außenpolitisch,
sondern auch von innen heraus die entschlossene Folgerung ziehen, daß der echte
deutsche Konservativismus, mit dem Preußen und Deutschland groß geworden
sind, nur dann Zukunft hat, wenn er sich als das erkennt, was er im verwestlichten
Europa ist: als treibenden Faktor der Weltrevolution.
WWWjährend von radikaler sozialistischer Seite offen die Ersetzung der
^parlamentarischen Demokratie durch eine Näteverfafsung erstrebt
wird, glaubt der größere Teil der Sozialisten eine Art Rätever--
fassung mit dem demokratischen Parlamentarismus vereinbaren zu
können. In letzter Zeit haben sich die Ansichten dieser zweiten
I Gruppe zu näheren Vorschlägen verdichtet, etwa in dem Aufsatz
von Kaliski im sechsten und siebenten Heft der sozialistischen Monatshefte in
einigen Aufsätzen von MehrheitSsozialisten in der Wochenschrift „Der Arbeiterrat"
und zuletzt in dem vom Rätekongreß angenommenen Antrag Cohen-Reuß.
Der vorherrschende Gedanke bei diesen Vorschlägen ist, daß neben das durch
das allgemeine gleiche Wahlrecht auf Grund von territorialen Wahlen zustande
gekommene Parlament eine auf Grund von Berufswahlen gebildete Kammer der
Berufsräte tritt. Der naheliegende Vergleich mit den bisher bekannten Zwei¬
kammersystem ist bei näherer Betrachtung nur ein äußerlicher. Bei den bisherigen
Zweikammersystemen war die erste Kammer, soweit sie auf berufsständischer Grund¬
lage aufgebaut war, ein Ausdruck der Auffassung, daß jeder Beruf seine bestimmte
Bedeutung für den Aufbau des Gesamtstaates und der Gesamtvolkswirtschaft
hatte, wobei diese Bedeutung nicht bestimmt war durch die Anzahl der einem
Beruf angehörigen Verufsgenossen. So sah z. B. ein Entwurf für die Zusammen¬
setzung der preußischen ersten Kammer, der in den Monaten vor der Revolution
den preußischen gesetzgebenden Körperschaften vorlag, eine Vertretung der Arbeiter¬
schaft vor, die in keiner Weise die starke, zahlenmäßige Überlegenheit der Arbeiter¬
schaft zum Ausdruck brachte. Die Kammer der Berufsräte, wie sie aber jetzt voll
sozialdemokraiischer Seite geplant wird, würde sich auf dem Grundsatz aufbauen,
daß jeder Beruf die der Zahl seiner Berufsgenossen entsprechende Anzahl von
Vertretern in die Kammer der Berufsräte entsenden würde. Teilweise wird sogar
nicht an eine Kammer der Berufsräte, sondern lediglich an eine in einen Zentral¬
kongreß zusammengefaßte Vertretung der eigentlichen Arbeiterräte gedacht, so daß
sich ein auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gebildetes Parlament und ein
reines Arbeiicrparlament gegenüberstehen würden. Muß nun auch ein solches
reines Arbeiterparlament schärfsten Widerspruch hervorrufen, so darf man doch
nicht verkennen, daß der praktische Unterschied gegenüber einer Kammer der
Berufsräte, in der alle Berufe nach der Zahl ihrer Verufsgenossen vertreten sind,
nicht allzugroß ist. Denn abgesehen von der starken zahlenmäßigen Überlegenheit
der Arbeiterbevölkerung, fehlt allen anderen Berufen die starke Geschlossenheit der
Aroeiterberufe, Hier sind vielmehr die einzelnen Berufe so mannigfaltig differenziert,
daß vielfach, sollen einzelne Berufe nicht überhaupt unberücksichtigt "bleiben, eine
Zusammenfassung zu Berufsgruppen für die Wahlen zur Kammer der Berufsräto
erforderlich sein wird. Diese starke Differenziertheit der Nichtarbeiterberufe schwächt
nun zunächst bereits die Stoßkraft dieser Berufsgruppen bei der Wahl selbst.
Während die Arbeitergruppen stets in der Lage sein werden, Vertreter verschiedener
Richtungen i» das Parlament zu entsenden, und dadurch alle Berufsgenossen an
der Wahl zu interessieren, wird bei den kleineren Verufsgruppen die Aussichts¬
losigkeit, Kandidaten von stark nuanciertem Standpunkt durchzuringen, die
Beteiligung einmal an der Wahl und auch an den Vorbereitungen zur Wahl
beeinträchtigen, und es wird ferner durch die Notwendigkeit, Kompromisse inner¬
halb der für die Wahl zusammengeschlossenen Gruppen zu schließen, vielfach
verhindert werden, daß stark ausgeprägte Persönlichkeiten in die Kammer der
Berufsräte hineinkommen. Es wird also die Qualität der Vertreter der Nicht¬
arbeiterberufe hinter der Qualität der Arbeitervertreter zurückbleiben.
Das gleiche wird aber in noch stärkerem Maße beim praktischen Arbeiten
in der Berufskammer zum Ausdruck kommen. Während die Arbeitervertreter
stets in der Lage sind, einheitlich aufzutreten, und bei der in ihren Kreisen vor¬
handenen Solidarität Meinungsverschiedenheiten sich innerhalb des Vertreter-
kreiscs leichter werden ausgleichen lassen, laufen bei den Gruppen der Nicht-
arbeitervertrcter Interessen und Ansichten so mannigfaltig durcheinander, und
gehen mit den Interessen der Arbeitervertreter vielfach zusammen, daß wohl nur
in Ausnahmefällen diese Gruppen mit ähnlicher Stoßkraft wie die Gruppen der
Arbeitervertrcter auftreten werden.
Wie ist nun das gemeinsame Arbeiten der Kammer der Berufsräte mit
dem eigentlichen Parlament — ich nenne im folgenden der Kürze halber die
Kammer der BerusSräte zweite Kammer und das auf Grund der allgemeinen
Wahl gebildete Parlament erste Kammer — zu denken? Es scheint zwei Möglich¬
keiten zu geben. Entweder es wird, wie dies bei den bisherigen Zweikammer¬
systemen der Fall war, für das Zustandekommen eines jvden Gesetzes eine Überein¬
stimmung beider Kammern erfordert, oder aber es werden jeder Kammer getrennte Ar¬
beitsgebiete zugewiesen, bei denen der Mehrheitsbeschluß der betreffenden zuständigen
Kammer für das Zustandekommen eines Gesetzes ausreichend ist. Im ersten Falls
entsteht das Problem, wie bei einem Konflikt der beiden Kammern eine Entscheidung
herbeigeführt werden kann; denn es ist klar, daß nur in wenigen Fällen man sich
wird damit beruhigen können, daß bei Nichtzustandekommen einer Übereinstimmung
beider Kammern eine Gesetzgebung über den in Frage stehenden Punkt unter¬
bleibt. Man könnte ja vielleicht für die Etcitgesetzgebung die zweite Kammer
ausschalten oder ihr nur eine beratende Funktion geben. Aber in einer Zeit wie
der heutigen, wo die Probleme, die gelöst werden müssen, drängen, muß auch
für andere Gebiets der Gesetzgebung die Möglichkeit bestehen, Konflikte der beiden
.Kammern positiv zu lösen. Es ist der Vorschlag gemacht worden, in diesem Falle das
Referendum endgültig entscheiden zu lassen. Dieser Weg wäre gangbar, wenn die
politische Geistesverfassung des deutschen Volkes die nötige Majvritätsgläubigkeit
besäße. Tatsächlich ist dies aber nie der Fall gewesen und ist heute weniger der
Fall denn je. Bekanntlich stehen die Sozialdemokraten auf dem Standpunkt,
daß, solange die ökonomischen Abhängigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
bestehen, von einer wahren Demokratie keine Rede sein kann. Gerade dieser
Gedanke sührt ja auf sozialistischer Seite zu der Forderung besonderer Berufs-
kmnmern, da man der Ansicht ist, daß bei den Wahlen zum allgemeinen Parlament
eine Unmenge zwar überlebter und unberechtigter aber doch noch vorhandener
Ideologien politischer und kultureller Art das Zustandekommen eines unbestechlichen
Ergebnisses der wahren — gemeint ist damit die nach Ansicht der betreffenden
Sozialdemokraten als richtig so sein sollenden — Bolksmeinung verhindern könnte.
Man muß aus diesem Grunde mit der Möglichkeit, ja man darf sagen, mit der
Sicherheit rechnen, daß entweder Entscheidungen, die der Ansicht der zweiten
Kammer oder einer starken Gruppe in ihr zuwiderlaufen, auch wenn sie durch ein
Referendum getroffen sind, nicht anerkannt werden, oder daß das Referendum
gar nicht erst abgewartet, sondern sofort der Versuch gemacht wird, durch Aus¬
nützung der wirtschaftlichen Macht, die in der Bernfsvertretung der zweiten .Kammer
zu gewaltiger einheitlicher Stoßkraft zusammengefaßt ist, einen Druck auf Regie¬
rung und erste .Kammer zugunsten der Durchsetzung der eigenen Ziele auszuüben.
Diese Sachlage wird uoch dadurch verschürft, daß, wie wohl ernstlich heute
nur noch von wenigen Seiten bestritten wird, sich das auf Grund der allgemeinen
Wahl zustande gekommene Parlament eines äußerst geringen Grades von Vertrauen,
einer Miß- oder Nichtachtung erfreut, die den Beschlüssen dieser ersten Kammer
ein sehr schwaches Maß von Widerhall in breiteren Kreisen des Volkes verschafft.
Demgegenüber werden die Vertretungen der Berufe mit den durch sie vertretenen
Kreisen in fester, lebendiger Fühlung und Wechselwirkung stehen, so daß in der
zweiten Kammer ein äußerst handliches Instrument zur Beeinflussung und Lenkung
der Volksstimmung und von Volksbewegungen gegeben ist.
Der zweite Weg, die Kompetenzen zwischen den beiden Kammern scharf ab¬
zugrenzen, der ersten Kammer zugunsten der zweiten die rein wirtschaftlichen Auf-
gaben zu nehmen und ihr nur die allgemein politischen und kulturellen Aufgaben
zu lassen, hat bei erster Betrachtung viel Bestechendes. Die Absorbiernng des
eigentlichen Parlaments durch die Beschäftigung mit der Fülle wirtschaftlicher
Probleme würde aufhören und Zeit und Kraft zur Beschäftigung besonders auch
mit den Fragen der auswärtigen Politik frei machen. Die Trennung ist aber
praktisch undurchführbar. Steuerbewillignngs- und Etatrecht der ersten Kammer
nehmen, hie^e ihr das Blut abzapfen, denn hier ist auch beim reinen Parlamen¬
tarismus der Punkt, bei dem Abhängigkeit und Verantwortung der Regierung
gegenüber dem Parlament in erster Linie praktisch werden. Hier nutz jede
Regierung Farbe bekennen und über ihre Tätigkeit Rechenschaft legen, was bei
andern Gesetzen mit einigem Geschick vermieden werden kann. Umgekehrt stehen
aber Steuer- und Ausgabepolitik in so engem Verhältnis zur Wirtschaftspolitik,
daß es der zweiten Kammer gar nicht verwehrt werden kann, sich damit zu be¬
schäftigen. Je mehr Fortschritte staatliche Monopolisierung und Sozialisierung
machen, in um so größere Abhängigkeit kommt die Durchführung kultureller Auf¬
gaben von der Wirtschaftspolitik. Auch die staatliche Rechtspflege, die Gesetzgebung
auf dem Gebiet des bürgerlichen, des Prozeß- und des Strafrechts, sowie die
Verwaltungsorganisation steht mit der staatlichen Wirtschaft in unlöslicher Wechsel¬
wirkung. Es läßt sich kaum ein einziges noch so kleines Sondergebiet finden, auf
dem eine radikale Trennung denkbar wäre.
Die allergrößten Bedenken muß aber die Stellung der Regierung zur zweiten
Kammer erwecken. Das Wesen der parlamentarischen Demokratie besteht darin,
daß die Regierung in schärfster Abhängigkeit vom Parlament steht, ja, daß sie
eigentlich nicht mehr als der Vollzugsausschuß des Parlaments ist. An diesem
Verhältnis kann man nichts ändern, ohne den Parlamentarismus zu begraben.
Was tritt aber ein, wenn die zweite Kammer mit der Amtsführung der Regie-ung
unzufrieden ist? Da es gesetzliche Mittel der Beeinflussung nicht gibt, bleibt wieder
nur der wirtschaftliche Machtkampf. Man könnte vielleicht daran denken, daß
gewisse Nessortminister aus dem Berufsparlament entnommen werden müssen, und
daß bei der Besetzung der Ministerposten die zlveite Kammer gehört werden muß.
Das ändert aber grundsätzlich nichts, da der einzelne Nessortminister immer nur
die vom Gesamtministerium gebilligte Politik treiben kann.
Die besonderen Probleme, die sich aus dem Charakter des deutschen Reichs
als Bundesstaat ergeben, können hier nur gestreift werden. Es ist klar, daß das
Nebeneinanderbestehen von zwei Kammern und einem Reichtrat oder StaatenhauZ
den Konfliktsstoff noch vermehren muß. Es ist der Vorschlag gemacht worden,
die Berufsräte in den Reichsrat einzubauen. Eine Vermischung zweier so
völlig verschiedener Organisationsprinzipien sollte ernsthaft gar nicht zur Diskussion
gestellt werden.
Theoretisch denkbar wäre die Vertretung der Räte in einem StaatenhauS.
Wenn das Prinzip des Staatenhauses darin besteht, an Stelle von Vertretern der
Regierungen durch Parlaments- oder Volkswahlen entsandte Vertreter der Staaten
oder Landschaften zu einer besonderen die Interessen der Gliedstaaten ver¬
tretenden Körperschaft zusammenzufügen, kann man hier an die Möglichkeit denken,
einen Teil dieser Vertreter durch die einzelstaatlichen Kammern der Berufsräte
entsenden zu lassen. Würde nun aber ein anderer Teil der Vertreter aus den
einzelstaatlichen ersten Kammern genommen werden, so würde der oben geschilderte
Konflikt zwischen Räte- und politischem Parlament bereits in das Staatenhaus
verlegt. Gangbarer erscheint deshalb der Weg, das Staatenhaus lediglich aus
Vertretern der einzelstaatlichen Berufsparlamente zu bilden. Damit würde dann
natürlich die Notwendigkeit einer zweiten Kammer-entfallen, da das Staatenhaus
dann d-e zweite Kammer, die Kammer der Berufsräte, wäre. Es wäre damit
immerhin erreicht, daß zu dem Konflikt zwischen erster und zweiter Kammer nicht
auch noch ein Konflikt zwischen Kammer und Rcichsrat hinzuträte. Aussicht auf
Verwirklichung hat dieser Gedanke bei der derzeitigen Zusammensetzung und
Stimmung der einzelstaatlichen Regierungen allerdings kaum. Der Kernpunkt der
Frage nutz sein: welchen Einfluß ein Einbau der Räte in die Reichsverfassung
auf den Zusammenhalt des Reiches haben wird. Und in diesem Punkte bestehen
keine allzugroßen Bedenken. Denn die Anhänger des Rätegedankens in den Glied¬
staaten haben sich im allgemeinen als Verfechter der Neichseinheit erwiesen. Wo
Absonderungsbestrebungen zutage getreten sind, hatten sie ihren Grund in der
Unzufriedenheit mit der zu wenig radikalen Politik der Neichsregierung. Auch in
den Rheinlanden, in denen die Selbständigkeitsbestrebungen noch am ehestens
reaktionären Charakter tragen, wird ein Durchbruch des Nätegedankens im Reich
die reaktionären Tendenzen überwinden können.
Bildet schon die Verkoppelung des Rätegedankens mit dem Parlamentarismus
in der obersten Instanz so viel Reibungsstoff für die Staatsmaschine, daß diese zu
Bruch kommen muß, so gilt das in noch viel stärkerem Matze, wenn auch in den
unteren Zellen des staatlichen Organismus diese Koppelung eintreten soll. Auch
hier ist eine Trennung der wirtschaftlichen von den politischen Aufgaben ein
Unding. Städte, Kreise und Provinzen sind schon heute so stark durch ihnen
gesetzlich zugewiesene Aufgaben belastet, daß der Umfang der Verwirklichung von
Sonderplänen völlig von der Finanzlage abhängt. Das wird sich bei dem starken
Zug nach Ausbau der Selbstverwaltung in Zukunft noch steigern. Schon bislang
waren in den Städten, aber auch in Kreisen und Provinzen — man denke an
die llberlcmdzentralen — die eigenen Betriebe das Rückgrat der Finanzgebarung.
In Zukunft werden die Selbstverwaltungskörper noch viel mehr auf diese Geld-
quelle angewiesen sein, da einmal die staatliche Steuerschraube so stark angezogen
werden wird, daß Zuschlage zur staatlichen Einkommensteuer von 300 bis über
400 Prozent, wie sie bisher vorgekommen sind, sich von selbst verbieten, anderer¬
seits gerade hier Sozialisierungen in größtem Umfang in sicherer Aussicht stehen.
Die größere Unmittelbarkeit des kommunalen Lebens wird aber hier den Wider¬
streit zwischen dem Wunsch der Gesamtheit, möglichst viel aus den Betrieben
herauszuwirtschaften, um die Mittel für kulturelle Pläne aller Art zu gewinnen
oder um die Bedürfnisse der Allgemeinheit billig zu befriedigen, und dem begreif¬
lichen Bestreben der zahlreichen Interessenten, ihren Anteil ein dem Unternehmen
zu vergrößern, noch viel lebhafter werden lassen, als dies in der Reichs- oder
Staatsinstanz der Fall ist, wo die Tragweite gefaßter Beschlüsse den unmittelbar
Betroffenen nicht sofort zum vollen Bewußtsein kommt.
Dazu tritt ein weiteres. Nicht nur das Mißtrauen, daß die lokalen
Parlamente die „wahre" Stimme des Volkes nicht zum Ausdruck bringen, führt
zu dem Wunsch der Schaffung besonderer Räteorganisationen in den unteren
Instanzen, sondern viel mehr noch das Mißtrauen gegen den Geist der Beamten¬
schaft sowohl des Staats wie auch der Selbstverwnltungskörper. Man fürchtet,
daß auch die eigenen Berufsgenossen, wenn sie erst in den Parlamenten der
Selbstv-rwaltungskörper sitzen, die Interessen ihres Standes nicht hinreichend
vertreten. Es fehlen eben bei dem allgemeinen Wahlrecht die starken Verant¬
wortungsverhältnisse, wie sie bei einem berufsständischen Wahlrecht naturgemäß
auch nach der Wahl zwischen Wählern und Gewählten bestehen. Deshalb sollen
die eigenen Berufsvertreter in die Lage gesetzt werden, über die Behörden eine
Kontrolle auszuüben, wie sie nach der Revolution überall den lokalen Arbeiter¬
räten zugestanden werden mutzte und wie sie mehr oder weniger auch noch jetzt
ausgeübt wird. Das führt zu einer doppelten Schwierigkeit. Verantwortlich
können aus den oben für die Reichsinstanz und die Minister angeführten Gründen
die Beamten der Selbstverwaltung nur der ersten Kammer des Selbstverwaltungs¬
körpers sein. Es fehlen also dem Räteparlament die Mittel, die .Kontrolle zu
einem unmittelbaren Einfluß auf die Beamten auszuwerten. Denn das Wesent¬
liche ist ja nicht die formell gesetzmäßige Amtsführung, sondern der rechtlich nicht
faßbare Geist, in dem die Verwaltung geführt wird. Parlamentarische Unter-
suchungsausschüsse dienen zur Verstärkung rechtlich bereits bestehender Verant¬
wortlichkeiten, sie schaffen keine Neibungsmöglichkeiten, sondern sind geeignet,
reibungsloses Zusammenarbeiten zu fördern. Untersuchungsausschüsse der Berufsräte
müssen, da die Möglichkeit zu gesetzmäßigem Einfluß nicht besteht, soweit es sich
nicht um formelle Gesetzwidrigkeiten handelt, gegen die natürlich ordentliche oder
Verwaltungsgerichte angerufen werden können, zu Konflikten zwischen Berufs¬
parlament und Verwaltung führen, die das Berufsparlament zu dem Versuch
drängen werden, eine Lösung durch den wirtschaftlichen Machtkampf herbeizuführen.
Anders liegen die Verhältnisse bei der Kontrolle staatlicher Lokalbehörden
durch die lokalen Berufsparlamente. Der große Vorteil der Nnteverfassung liegt
in dem lebendigen Zusammenhang innerhalb ihres hierarchischen Aufbaus. Der
Kitt der gemeinsamen Berufsinteressen würde diesen Zusammenhang auch gewähr¬
leisten, wenn die Wahlen zu dem Staats- und Neichsräteparlameut innerhalb der
einzelnen Berufe direkt stattfinden würde. Und zwar handelt es sich um eine
Wechselwirkung, bei der der Einfluß der höheren Parlamente auf die niederen
voraussichtlich noch stärker sein würde als der umgekehrte. So würde also die
Kontrolle über die staatlichen Behörden nach von oben einheitlich gegebenen Richt¬
linien erfolgen und nach diesen Richtlinien auch die Beeinflussung der Behörden ver¬
sucht werden. Gegensätze zwischen erster und zweiter Kammer im Reich und Staat
müssen zu Zusammenstößen zwischen nach verschiedenen Grundsätzen arbeitenden
Behörden und lokalen Beruföparlmnenten führen. Umgekehrt verschärft jeder
Konflikt in einer unteren Instanz den Gegensatz in der Zentrale. So entstehen
durch das ganze Reich hindurch zwei unverbundene Organisationen, die schon
entsprechend ihrem gegensätzlichen Organisationsprinzip zu Konflikten neigen und
deren tatsächliche genieinsame Verflechtung ins Staats- und Wirtschaftsleben auf
jeder Stufe zu Gegensätzen führt, die ihrerseits wieder dazu beitragen, den
Gesamtgegenscitz zwischen den beiden Organisationen zu verstärken.
Also keine „Verankerung" der Räte in der Verfassung? Die Entwicklung
ist bereits zu weit fortgeschritten, als daß ein radikales Zurück noch möglich wäre.
Das mindeste, was kommen wird, ist die Anerkennung der Räte als wirtschaftliche
Interessenvertretung mit starker gesetzlicher Privilegierung; Betriebsräte als not¬
wendige Mittler zwischen dem einzelnen Arbeiter oder Angestellten und dem Unter¬
nehmer, Arbeiterkammern als gesetzlich allein zugelassene Vertragspartei für den
Abschluß von Tarifverträgen verbunden etwa und Tarifzwang. Weiter muß der
Gedanke, der zu den Handwerker- und Handelskammern geführt hat, dahin aus¬
gebaut werdeu, daß jeder Beruf seine gesetzlich.geregelte und anerkannte Vertretung
zur Beratung aller Berufsfragen erhält. Die zentrale Zusammenfassung der einen
gleichen Beruf vertretenden Kammern für das Reich läßt sich ebensowenig ver¬
hindern, wie die Fühlungnahme der zentralen .Kanunern miteinander, sei es
zwischen verwandten Berufen zur Beratung gleichlaufender Interessen, sei es
zwischen mehr heterogenen Berufen zum Ausgleich entgegengesetzter Interessen.
Damit werden die Berufskammern aber zu einer wirtschaftlichen Macht, mit der
jede Negierung und jedes Parlament rechnen muß, ob es will oder nicht. Ob
man verfassungsmäßig das Recht der Kammern anerkennt, bei ihre Interessen be¬
rührenden Gesetzentwürfen gehört zu werdeu, ob mau ihnen ein Initiativrecht
verleiht, ob man ihnen schließlich die Möglichkeit verschafft, gegen Beschlüsse des
Pcirlamcuts ein Referendum herbeizuführen, bleibt tatsächlich völlig belanglos.
Vor der Revolution bestand vielleicht die Möglichkeit, dnrch den Ausbau des Ge¬
dankens der rein wirtschaftlichen Kammern einen Ausgleich der wirtschaftliche»
Interessengegensätze herbeizuführen; jetzt ist es dazu zu spät. Man will die Räte,
damit sie die wirtschaftliche Revolution vollenden. Dieser Geist wird auch in den
Nätekammern herrschen, und keine formelle Gesetzesbestimmung wird die Kammern
verhindern, über jeden Parlamentsbeschluß und über jedes Referendum hinweg
ihre wirtschaftliche Macht zur Durchsetzung der eigenen Ziele rücksichtslos auszu¬
nutzen. Ja, man darf sogar annehmen, daß ein verfassungsmäßiger Anteil an der
Gesetzgebung mit dem darin liegenden rechtlichen Zwang zur Verständigung mit
der ersten Kaminer noch eher geeignet ist. Gefühle der Verantwortung zu wecken;
gewisse Hemmungen auszulösen, nicht allzu leichtfertig mit der Ausnützung der
wirtschaftlichen Macht umzuspringen. Aber immer kann es sich doch nur um ein
Hinausschieben des Endkampfes um die politische Macht handeln. Vielleicht
könnte eine kräftige Demokratie, ein Parlament, dessen Parteien in lebendiger
Wechselwirkung mit der Nation ständen, diesen Kampf mit Aussicht auf Erfolg
aufnehmen; ein verkalktes Parlament, daS nicht nur keinen öffentlichen Kredit
mehr besitzt, sondern dessen Leben außerhalb der täglich zusammenschrumpfenden
ParlcMiqucn überhaupt keine Beachtung mehr findet, kann das nicht.
Eine über Parteien und Berufen stehende, Autorität genießende, oberste
Ncichsspitze, ein Monarch oder ein aus allgemeinen direkten Volkswahlen hervor¬
gehender Präsident könnte zwischen demokratischen und Berufsparlament vielleicht
das Gleichgewicht herstellen. Beides haben wir nicht und werden wir nicht haben.
Gewiß braucht auch der freieste Volksstaat staatliche Autoritäten. Da die alten
zerfallen sind, hängt unsere Zukunft davon ab, ob es gelingt von unten herauf
neue zu bilden. Ist überhaupt noch staatenbildende Kraft in unserm Volk, dann
wird diese Aufgabe irgendwie und irgendeinmal auch gelingen. Der Versuch, den
Rätegedanken mit dem demokratischen Parlamentarismus zu verkoppeln, kann den
GcsundungLprozeß nur aufhalten oder zu so schweren Erschütterungen führen,
daß er unmöglich wird.
le Zeiten, da die Frauen ihre Forderungen an die Gesellschaft
bezüglich einer ungehemmten Beteiligung auf mannigfachen Gebieten
des wirtschaftlichen und geistigen Lebens lediglich vom Standpunkt
ihrer Subjektivität dialektisch begründeten, indem sie im Sinne des
Liberalismus auf ihre Menschenrechte hinwiesen, sind längst vorüber.
Tatsachen, mit allen Mitteln wissenschaftlicher Methodik festgestellte
Tatsachen geben nunmehr der Frauenbewegung Grundlage und Zielstrebigkeit.
Dieses objektive Material ist gegeben einerseits in der Entwicklung der wirtschaft¬
lichen und sozialen Lebensvorgänge nach der ihnen immanenten Gesetzlichkeit,
andererseits in der psychischen und physischen Beschaffenheit der Frau. Wenn es
offensichtlich geworden ist, daß die Gesellschaft der Mitarbeit der Frau im weitesten
Umfang bedarf, so kann auch nicht übersehen werden, daß die Frau sich nicht
ohne weiteres in den ursprünglich vom Manne bestimmten und ihm angepaßten
Arbeitsprozeß einfügen läßt. Das Grundproblem der Frauenbewegung lautet
demnach: wie sind der Frau diejenigen Stützen und Sicherungen zu gewähren,
die im Hinblick auf ihre Organisation, insbesondere auf ihre Gattungsfunktionen,
eine ökonomische Nutzung ihrer Arbeitskraft im Interesse der Volksgemeinschaft
und eine kulturelle Förderung derselben ermöglichen? Auf der Grundlage
objektiver Feststellungen über die wirtschaftliche und soziale Lage sowie über die
naturgegebenen Schranken des Weibes ersteht also das eigentliche Arbeitsgebiet
der Frauenbewegung, das in seinen Hauptlinien bevölkerungspolitisch, sozialpolitisch,
insbesondere sozialhygienisch, rechtlich-politisch und kulturpolitisch bestimmt ist.
Bei jeder Frauenfrage kommen alle diese Gesichtspunkte in Betracht, aber in der
Weise, daß je nach der sozialen Schichtung der eine oder der andere in den
Vordergrund tritt. Zum Beispiel lassen die Probleme, die die Fabrikarbeiterin
uns aufgibt, den bevölkerungspolitischen, sozialpolitischen und svzialhygienischen
Gesichtspunkt von besonderer Wichtigkeit erscheinen, während etwa die Berufs-
fragen der akademisch gebildeten Frau im wesentlichen kulturpolitisch zu
beurteilen sind.
Aus den Erfahrungen der letzten Kriegsjahre lassen sich immer nur mit großer
Vorsicht Richtlinien für die Gestaltung des Frauenlebens in der bevorstehenden
Friedenszeit entnehmen. Ungewisser denn je liegen die wirtschaftlichen Ent¬
wicklungsmöglichkeiten Deutschlands vor uns und die Macht, sie im Interesse
einer gesunden völkischen Entfaltung zu beeinflussen, wird oft genug ihre Grenzen
finden. Wurde die Frau schon vor dem Kriegs in der Zwangsläufigkeit der
sozialen Entwicklung in immer steigendem Maße in den Wirtschaftsprozeß ein¬
gezogen, so bewirkte der Krieg, daß neue ungeheuere Massen von Frauen auf dem
Arbeitsmarkt erschienen. Wie groß dieses weibliche Arbeiterheer war und in
welchem Ausmaße es über den Friedensstand emporwuchs, läßt sich leider ziffer¬
müßig nicht feststellen. Ein beträchtlicher Teil der Frauen hat wenig bemerkt von
der Öffentlichkeit und für die Statistik nicht erfaßbar gearbeitet, nämlich dort,
wo sie im Handel und Gewerbe an die Stelle Heerespflichtiger Angehöriger traten
und deren Unternehmungen selbständig fortführten. Es gibt wohl nur ganz
wenige G?biete, auf denen sich die Frauen während des Krieges nicht betätigt
haben. Sie arbeiteten alle unter besonders ungünstigen Verhältnissen, waren sie
doch meistens überlastet, oft durch Beruf und Hauswesen gleichzeitig in Anspruch
genommen, dazu unterernährt und von seelischen Kümmernissen und Sorgen
bedrückt. Nichts wäre verkehrter als etwa ein Verdikt über weibliche Leistungen
auf einen Vergleich zwischen den Kriegsleistungen der Frau und den Friedens¬
leistungen des Mannes zu gründen. Wo ein Vergleich der Frauenarbeit vor
und im Kriege möglich war, hat sich tatsächlich herausgestellt, daß die Arbeits¬
fähigkeit der Frau in den Kriegsjcchrcn beeinträchtigt gewesen ist. Ferner muß
bei der Beurteilung der weiblichen Leistungen berücksichtigt werden, daß viele
arbeitsungewohnte und völlig unausgebildete Frauen zur Arbeit drängten und
daß sie eingestellt werden mußten, weil die Männer fehlten. In der Industrie
ergab sich die Möglichkeit ihrer Verwendung dadurch, daß der Unterhalt eines
Niesenheeres die Herstellung von Massenartikeln erforderte und eine weitgehende
Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Industrien vorgenommen werden konnte.
Wo Grenzen erreicht wurden, entschloß man sich sowohl in der Industrie als
auch in höheren Berufen zu einer kurzfristigen Ausbildung der Frauen, deren
Oberflächlichkeit sich freilich in der Praxis rächen mußte. Die eigentliche Fach¬
ausbildung der Frauen hat auf manchen Arbeitsgebieten während des Krieges
erhebliche Rückschritte gemacht, weil ein sicheres Vorwärtsschreiten in der Zukunft
auf Grund gediegener Vorbereitung der Aussicht auf einen schnell zu erreichenden
lohnenden Verdienst geopfert wurde, ja leider häufig geopfert werden mußte. Wenn
man die zukünftige Gestaltung der Arbeitsverhältnisse der Frauen auf ihre Be¬
währung im Kriege aufbauen will, müssen gerechterweise jene Mißstände in
Rechnung gestellt werden. Aber damit nicht genug. Sehr kritisch muß man sich
den Aussagen der interessierten Kreise, insbesondere der Arbeitgeber gegenüber
Verhalten. Ein anerkennendes Urteil über die Leistungsfähigkeit der Frau ist oft
das Ergebnis einer Berechnung der Rentabilität ihrer Verwendung. Die ungleiche
Entlohnung von Mann und Frau spielt hier eine verhängnisvolle Rolle. Aus
allen diesen Gründen lassen sich vorläufig, da monographische Untersuchungen
noch nicht vorliegen, nur die allgemeinen Grundzüge der Bewährung erkennen,
aus denen vom Standpunkt der Frauenbewegung Forderungen ableitbar sind.
Die körperlich arbeitenden Frauen haben sich während des Krieges nicht
nur in weit größerer Zahl in solchen Gewerben betätigt, in denen sie schon in
Friedenszeiten Verwendung gefunden hatten, sondern sie mußten vielerorts zu¬
greifen, wo früher lediglich männliche Arbeitskräfte beansprucht wurden, so z. B.
in einigen Zweigen der Brauerei, ferner im Baugewerbe, im Bergbau, im Hütten¬
wesen, in der Glasfabrikation usw., wo die im Frieden für sie geltenden
Schutzbestimmungen aufgehoben waren. Nach Oppenheimer') erwiesen sich die
Frauen vom Standpunkt der Produktivität als ungeeignet für alle körperlich sehr
schweren Verrichtungen, z. B. für Transportarbeiter,, ferner für schwere Arbeiten,
die bei sehr hohen Temperaturen ausgeführt werden müssen, auch zeigten sie einen
stärkeren, ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Widerwillen gegen unangenehme
Gerüche und unsaubere Tätigkeiten als die Männer, so das; ihre Verwendbarkeit
in gewissen Zweigen der chemischen Industrie nicht aussichtsreich erscheint. Aus
ähnlichen Gründen wird die Frauenarbeit in der Lederindustrie, wenigstens in
der Gerberei, wo körperlich schwere und schmutzige Verrichtungen erforderlich sind,
nicht sehr günstig beurteilt. Auch hat sich die Eignung der Frau für die Nahrungs¬
und Genutzmittelindustrie als verhältnismäßig gering erwiesen, selbst der weibliche
Bäcker hat sich nicht sehr bewährt. In der Textilindustrie wird die Frauenarbeit
aus demselben Grunde wieder in starkem Matze durch Männerarbeit ersetzt werden.
Dagegen werden in der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, wo die fabrikmäßige
Herstellung die handwerksmäßige immer mehr zurückdrängt, die Leistungen der
Frau als durchaus befriedigend bezeichnet. In der Metall-, Maschinen- und
elektrischen Industrie hat sich die Frau überall dort vor den Männern hervor¬
getan, wo Handgeschicklichkeit und feine Tastempfindlichkeit der Finger in Betracht
kamen, in gröberen Arbeiten erwies sie sich als gleichwertig, doch gibt es auch
hier Verrichtungen, die als Männersache zu betrachten sind. Es steht zu erwarten,
daß die Frauen aus alle den erwähnten Industriezweigen, in die sie eindrangen,
nicht wieder völlig ausscheiden werden. Die Friedenswirtschaft sieht sich aber
einer neu gearteten weiblichen Arbeiterschaft gegenüber: über die niedrigste Stufe
der ungelernten Arbeiterin erhebt sich die geübte und über diese die unter dem
Zwange der Kriegszeit in gewissen Handgriffen und zusammengehörigen Teil¬
arbeiten angelernte Arbeiterin. Die letzteren beiden Gruppen treten in den
Vordergrund gegenüber der ungelernten und der handwerklich ausgebildeten
Arbeiterin — eine Entwicklung, die im Hinblick auf den Rückgang der qualitativen
Höchstleistung der Frau nicht durchaus zu begrüßen ist. Wird einerseits die
Volkswirtschaft für den Wiederaufbau Qualitätsarbeiter bedürfen, so gilt anderer¬
seits zu bedenken, daß gerade eine gediegene sachliche Ausbildung das Mittel ist,
die Frau in ihrem Beruf heimisch werden zu lassen. Wenn die Interesselosigkeit,
Disziplinlosigkeit, Verflündnislosigkeit und mangelnde Ausdauer, über die vielfach
geklagt wird, Unzulänglichkeiten sind, die ihren tiefsten Grund Wohl in der Auf¬
fassung der meisten Frauen haben, daß ihre Berufstätigkeit doch nur ein vorübir-
gehendes Stadium ihres Lebens ist, das mit der Heirat seinen Abschluß finden
wird, so nutz unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse, da die HeiratSaus-
sichten gesunken sind, für viele Frauen eine dauernde Berufstätigkeit ins Auge
gefaßt und mithin die Voraussetzung einer inneren Anteilnahme an der Arbeit
geschaffen werden. Eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft liegt somit
zweifellos in der Beseitigung der Mängel, die der Frauenarbeit anhaften, um
das subjektive Wertgefühl zu erhöhen. Sie wird am besten dadurch gelöst, daß
die obligatorische Fortbildungsschulpflicht für gewerbliche Arbeiterinnen bis zum
achtzehnten Jahre allgemein eingeführt und die handwerksmäßige oder fachgewerb¬
liche Ausbildung gefördert wird. Dann aber ist der Arbeiterin der Weg zu ebnen:
durch Schaffung von Organisationen ist das Zusammengehörigkeitsgefühl zu beleben
und dem Grundsatz, daß für die der Männerarbeit gleichwertige Leistung gleicher
Lohn gezahlt wird, Geltung zu verschaffen, da nnr unter dieser Voraussetzung
die Eignung der Frau für bestimmte Tätigkeiten einwandfreie Berücksichtigung
finden kann; schließlich ist durch den Ausbau der Arbeitsvermittlung der Ausgleich
zwischen Angebot und Nachfrage anzustreben, so daß die vorgebildeten und be¬
währten Kräfte in erster Reihe Verwendung finden. Nur so ist die schlichte Frau
aus dem Volke einerseits zum eigenen Wohlbefinden zu erziehen, andererseits
zum Wohle der Gesamtheit zu nutzen. Es ist ganz selbstverständlich, daß die
Frauenarbeit grundsätzlich nur dort zu dulden ist, wo sozialhygienisch und
bevölkerungspolitisch keine Bedenken gegen sie geltend gemacht werden können.
Im Bergbau, Hüttenwesen und Baugewerbe muß die schon vor dem Kriege
abgeschaffte Frauenarbeit aufs neue verboten werden, im übrigen verdichten sich
die Erfahrungen zu folgenden Forderungen: verstärkter Arbeiterinnenschutz, ins¬
besondere der Wöchnerinnen^), Ausbau der Sozialversicherung und vermehrte
soziale Fürsorge. Letztere hat besonders wichtige Aufgaben zu lösen, wo die Last
deS doppelten Berufs auf Frauenschultern liegt. Niemand, dem das körperliche
und geistige Gedeihen des Volkes am Herzen liegt, wünscht die Betätigung der
Mutter in der Fabrik. Die Möglichkeiten eines kulturellen Aufstiegs des mit
der Hand arbeitenden Volkes hängen in hohem Maße vom Pflichtbewußtsein ab,
das die Frau ihrer Familie gegenüber aufzubringen vermag. Einer verständigen
Volkserziehung sind somit die Wege gewiesen. Sie hat bei der Frau den Hebel
anzusetzen, ihr die ungeheure Verantwortung, die auf ihr als Mittelpunkt der
Familie, als Hüterin des Nachwuchses ruht, vor Augen zu führen und sie mit
Ernst und Nachdruck anzuweisen, wie sie zu pflegen und zu erziehen hat. Es
muß aber auch, wo es irgend angeht, dahin gewirkt werden, daß namentlich
Mütter minderjähriger Kinder in erster Reihe um diesen ihre Pflichten tatsächlich
zu erfüllen imstande sind. Die fürsorgliche Tätigkeit wird dort, wo sie in Anbe¬
tracht der wirtschaftlichen Lage der Frau Aufgaben übernimmt, die in den Händen
der Hausfrau und Mutter liegen sollten, stets dessen eingedenk sein, daß sie Not¬
standsarbeit leistet. Eine einsichtige Sozialpolitik wird die Entlastung der Mutter
von Berufsarbeit fördern und die Maßnahmen der Fürsorge unterstützen, um
über sie hinauszuweisen. Das Los der Jndustriearbeiterin wird auch in Zukunft
nicht beneidenswert sein. In der ganzen industriellen Entwicklung liegt soviel
Unnatur, daß ein gesunder froher Menschenschlag auf dem von ihr bereiteten
Boden nicht gedeihen kann. Im letzten Grunde liegen hier die Wurzeln der
Katastrophe, die den Erdball mehr als vier Jahre lang erschüttert but und deren
Wahnsinn die Menschheit zur Besinnung führen solltet-
Unwillkürlich wendet sich unser Blick dorthin, wo das Leben in einfacheren,
gesünderen Formen abläuft, wo vor allen Dingen auch das Problem des doppelten
Berufs der Frau in so einfacher Weise gelöst werden kann — auf das Land.
Warum mußten wir aber schon seit vielen Jahren vor Ausbruch des Krieges die
Landflucht erleben, die in weitem Ausmaße auch die Frau ergriff, und wie ist sie
zu bannen, ja in ihr Gegenteil zu Verkehren? Hier stehen wir am Schnittpunkt
agrarpolitischer und frauenrechtlerischer Probleme. Wenn die Emanzipation der
Töchter auf dem Lande sich stark geltend machen konnte, so liegt das sicher nicht
lediglich in ihrer Genußsucht begründet, sondern auch in durchaus berechtigten,
von der allgemeinen Entwicklung getragenen Wandlungen der Frauenseele, denen
die ländlichen Verhältnisse nicht angepaßt wurden. Eine eingehende Untersuchung
von Gertrud Dyhrcnfurth'') ergab, daß innerhalb der verschiedenen Gruppen der
auf dein Lande arbeitenden Frauen ganz allgemein Unzulänglichkeiten der Lebens¬
verhältnisse nachweisbar sind, die notwendig unerwünschte Folgeerscheinungen
zeitigen müssen. So wird die Vauernmcigd durch ein Übermaß an Arbeit erdrückt,
die zum Teil, wie etwa die Stallarbeit, sehr unsauber ist und sie abstößt, umso-
mehr, als sie ihre äußere Erscheinung beeinträchtigt und wenn auch nicht schlecht
bezahlt, so doch nicht hoch geschätzt wird. Jugendfreuden werden ihr nicht viel
geboten und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und zum Weiterkommen sieht
sie auf dem Lande nicht. Die Hvfgängerin oder Scharwerkerin ist dadurch vor
ihr begünstigt, daß sie im Schutze des Elternhauses bleibt, aber auch sie strebt
wie die Magd hinaus, weil sie zu wenig Selbständigkeit genießt. Ihr Lohn wird
vom Vater, dem Jnstmann, der verpflichtet ist, dem Arbeitgeber eine Arbeitskraft
zur Verfügung zu stellen, in Empfang genommen. Daß aber das schulentlassene
Mädchen selbständig sparen und verfügen will, ist ihr gewiß nicht zu verargen.
Überdies ist die Arbeitsdauer auch für sie zu reichlich bemessen. Die Tochter des
Kleinbauern ist im Grunde noch schlimmer dran als sie. weil sie die unbezahlte
Magd im Elternhause ist, ohne daß die Vorteile der Sozialgesetzgebung für sie
gelten. Deshalb will sie fort, um sich bei eigenem Verdienst eine eigene Spar¬
kasse anlegen zu können und auch um etwas zu lernen, denn die Mutter auf
dem Lande versteht es meistens ebenso wenig wie die städtische Mutter, die Tochter
systematisch anzulernen, das Nähen vermag sie ihr ost überhaupt nicht beizubnngen
und gerade hiernach steht der Sinn vieler Mädchen. Zudem sehen diese, daß das
Los ihrer Mütter kein beneidenswertes ist und es wird daher nicht zur Richt¬
schnur für ihre Zukunftsträume. Die Kleinbäuerin muß nämlich von allen
Landarbeiterinnen am längsten und am schärfsten arbeiten, sie wird nach der
Niederkunft am wenigsten geschont, ihr bleibt am wenigsten Zeit für die Pflege
des Kindes. Da ersteht denn in der Tochter naturgemäß der Wunsch, in ein
Hauswesen ohne Landwirtschaft zu heiraten, wenn auch nur die Frau eines
abhängigen Lohnarbeiters zu werden. Als solche sind ihre Lebensverhältnisse
nicht ungünstig. Die Gepflogenheit, die Ehefrau durch den Arbeitsvertrag des
Mannes zu binden, tritt immer mehr zurück, wie denn überhaupt der Umfang
der eheweiblichen Lohnarbeit abgenommen hat, freilich unter zeitweiser Verstärkung
der Intensität. Familien ohne Besitz, wie sie sich ja auch vielfach unter
den Taglöhnern finden, fühlen sich aber am wenigsten an die Scholle gefesselt
und so stoßen wir auch hier wieder auf Zugänglichkeit für Anreize zur
Abwanderung in die Stadt. Die Frau macht sich nicht klar, was eine
Übersiedelung in die Stadt für sie bedeutet, daß schon ihre Stellung
als Frau dort eine weniger gesicherte und im Grunde auch niedrigere ist. Als
städtische Frau lebt sie in größerer Abhängigkeit vom Manne, denn sie erhält
nunmehr nach seinem Ermessen ein bestimmtes Haushaltungsgeld, während sie auf
dem Lande die Einnahmen.verwaltet — eine Gepflogenheit, die aus der Zeit der
Naturalwirtschaft stammt. Sie macht sich auch nicht klar, daß in dein Falle, daß
sie mitverdienen muß, ihre außerhäusliche Tätigkeit auf dem Lande lange nicht
so zersetzend auf die Familie wirkt, wie etwa die Fabrikarbeit der Frau in der
Stadt Natürlich geschieht auch auf dem Lande die Lohnarbeit der Frau zum
Nachteil der eigenen Häuslichkeit, zumal wenn Eigenwirtschaft betrieben wird,
aber die JiNeressengemeinschaft der Familie bleibt erhalten, die Mitglieder haben
die gleichen Arbeitspausen und bleiben in den langen, freien Winterabenden bei¬
einander. Wenn sich Beruf und Mutterschaft somit selbst für die Lvhnarbeiterin
auf dem Lande immerhin vereinigen lassen, so erst recht für die Frau, die land¬
wirtschaftliche Arbeit lediglich in eigener Wirtschaft leistet. Eine tüchtige Bauern
kann ihren Hof für ihre Kinder zur „vollkommensten Bildungsstätte der Welt"
gestalten, als die ihn Friedrich Paulsen, der friesische Bauernsohn, einst bezeichnet
hat. Soll nun der, insbesondere auch bei der weiblichen ländlichen Bevölkerung
durchaus unerwünschten Neigung, die angestammte Umgebung zu verlassen, die
nicht nur der Landwirtschaft notwendige .Kräfte entzieht, sondern auch die städtischen
Arbeitsverhältnisse drückt und verwirrt, letzten Endes aber die körperliche und
seelische Volksgesundheit untergräbt, entgegengetreten werden, so muß man sich
entschließen, die ländlichen Verhältnisse im Geiste moderner Kultnrerrungenschaften
zu gestalten und die Frau sowohl in ihrem individuellen Berufsverhültuis als
auch als Mutter so zu fördern, daß sie sür die Bedeutung und Größe ihrer Auf¬
gaben Verständnis gewinnt. Der Fran auf dem Lande fehlte bisher beinahe
alles, worüber der Mann, wenn auch noch nicht in ausreichendem Maße, bereits
verfügte: Ausbildungsmöglichkeiten für ihren Beruf, Eingliederung in den Berufs-
stand, Vertretung ihrer Interessen. Wenn für die Frau derartiges verlangt wird,
so geschieht es nicht um emanzipierter, frauenrechtlerischer Zielsetzungen willen,
sondern um der Emanzipation entgegenzuwirken. Die Fortbildungsschule, die
berufliche Bildung der Frau, wird auch von männlicher Seite gewünscht. Erst
kürzlich hat der während des Krieges als stellvertretender Präsident des Kriegs¬
ernährungsamtes tätige Friedrich Edler von Braun in seinen einleitenden Worten
zu dem von ihm und Professor Dr. H. Date herausgegebenen ausgezeichneten
Werk „Die Arbeitsziele der deutschen Landwirtschaft nach dem Kriege" °) betont,
daß im Kriege trotz aller bewundernswerter Leistungen der Landfrauen ihre un¬
zulängliche Vorbildung sich unliebsam bemerkbar machte. Wenn nun gewiß nicht
die Ausbildung der Frau im Hinblick auf einen möglichen Krieg erfolgen soll, so
ist doch die Bauernwirtschaft auch in Friedenszeiten so sehr auf die ständige Mit¬
arbeit der Frau, ja häusig auch auf selbständige Betriebsleitung seitens der Frau
angewiesen, daß eine berufliche Ausbildung der Frau, insbesondere auch in An¬
betracht der mißlichen Lage der Landwirtschaft nach den schweren Kriegsjahren,
durchaus zweckmäßig erscheint, v. Braun fordert dementsprechend landwirischaft-
liche Berufsschulen, deren Besuch nicht nur der männlichen, sondern auch der
weiblichen Jugend zur Pflicht gemacht werden muß. Man kann hier ferner
neben anderen bereits bestehenden Bildungsmöglichkeiten für die Jugend an eine
Vermehrung der ländlichen Volkshochschulen denken, die in Skandinavien zu hoher
Blüte gelangt sind und bei uns hier und da Eingang gefunden haben. Für die
Ehefrauen kommen kurzfristige Lchrkurse und Vorträge in Betracht. Als Grund¬
lage aller dieser Bildungsgelegenheiten wäre aber für die Kinder eine Ausge¬
staltung der Dorfschule nach Gesichtspunkten zu wünschen, die der ländlichen Um¬
gebung entnommen und geeignet sind, ihnen für die Natur und die Arbeit an ihr
die Augen zu öffnen. Aber damit sind die Forderungen für die weibliche Land¬
bevölkerung nicht erschöpft. Abgesehen davon, daß sie von schwerer, sehr ausge¬
dehnter, unsauberer Arbeit befreit werden sollte, wie dies schon in einigen Ge¬
genden Deutschlands üblich ist, ist sie, soweit sie nicht selbständig ist, in ein festes
Lehr- und Arbeitsverhältnis mit geregelter Beschäftigungszeit zu bringen und
in einer aufsteigenden Reihe von Spiel- und Sportvereinen über Jugend- und
Gehilfinnenvereine bis zu landwirtschaftlichen Hausfrauenvereinen zu organisieren,
um Verufsgesinnung zu wecken. Es liegt auf der Hand, daß ein Zusammen-
schlusz der Hausfrauen, der möglichst weite Kreise umfaßt, einen gewissen Höhe-
Punkt der Entwicklung bedeutet, wenn er in Anlehnung an die landwirtschaftlichen
Vereine erfolgt, denn von hieraus führt der Weg zum genossenschaftlichen Zu¬
sammenschluß und zur Standesvertretung, die ja heute im Nätesystem ihre
Krönung findet. Ist die kulturelle und berusständige Hebung der wewlichen
Landbewohner ein Mittel zur Überwindung der Landflucht, so ist eine psychische
Bindung an die Scholle durch Eigenbesitz ein anderes, noch wirksameres. Neben
Erziehung und Organisation muß demnach die Gelegenheit zum landwirtschaft¬
lichen Eigenbetrieb und zur Betätigung auf eigener Erde gefördert werden. Daß
schließlich auch eine gesunde Wohnungspolitik und Wohlfahrtspflege empfehlens¬
werte Maßnahmen sind, die namentlich auf reife Frauen Eindruck macheu, bedarf
kaum der Erwähnung.
Wie ersichtlich, wird das Heilmittel gegen die verbreitete Unzufriedenheit
wie bei der Jndustriearbeiteriu, so auch bei der Landnrbeiterin in einer vertieften
Auffassung von Beruf und Leben gesucht, aber die notwendige Voraussetzung ist
eine materielle und ideelle Gestaltung des Lebens, die eine freiere Entfaltung der
Persönlichkeit ermöglicht, als sie bisher für den Durchschnitt zu erreichen war.
Beseitigung der Mängel der Frauenarbeit, die im wesentlichen durch unzulängliche
Ausbildung bedingt sind, und der Hemmungen aller Art, mit denen die Frau zu
kämpfen hat, ist auch hier die Forderung, die um so schwerer ins Gewicht fallt,
als die Landwirtschaft der Frau dringend bedarf, und diese auch tatsächlich die
absolut größte Zahl der arbeitenden Frauen aufnimmt.
Die gleiche Forderung kehrt nun wieder, wenn wir den Kreis der mit der
Hand arbeitenden Frauen verlassen und uns den mechanischen Geistesarbeiterinnen
zuwenden, zu denen ein großer Teil der Privatangestellten und Beamtinnen zu
rechnen ist. Die Mechanisierung der Arbeit hat nicht nur die Industrie ergriffen,
sie zieht vielmehr überall in Handel und Wandel immer weitere Kreise, und mit
der Zunahme der Mechanisierung läuft die Verwendung der weiblichen Arbeitskraft
parallel. Bekanntlich können selbst weite Gebiete der wissenschaftlichen Forschung
die mehr oder weniger mechanisch arbeitende Hilfskraft nicht mehr entbehren.
Wir haben deshalb ein großes Heer von Bakteriologinnen, Chemotechniterinnen,
Röntgeliassistentinnen und sonstigen „wissenschaftlichen Hilfsarbeiterinnen", das sich
während des Krieges erheblich vergrößert hat, dessen qualitative Leistungen aber
wohl infolge allzu flüchtiger Ausbildung im großen und ganzen gesunken sind.
Im Handel hat die Mechanisierung der Arbeit durch Verwendung der Schreib¬
maschine und der Kurzschrift und die durch den Großbetrieb ermöglichte Arbeits¬
teilung die Nutzung weiblicher Arbeitskräfte in großem Maßstab bewirkt. Während
des Krieges hat sie noch erheblich zugenommen, doch ist als Neuerung lediglich
die ausgiebige Beanspruchung von Frauen durch die Banken zu verzeichnen. Vor
dem Kriege waren sie dort seltene Erscheinungen. Trotzdem die männlichen Kollegen
ihren Eintritt ungern sahen, werden sie nicht wieder verschwinden, um so weniger
als mit der Einstellung von ordnungsmäßigen weiblichen Banklehrlingen begonnen
worden ist, denen nach dreijähriger Lehrzeit grundsätzlich alle Aufstiegsmöglichkeiten
offen stehen. Ist hierdurch die gediegene Vorbildung als Voraussetzung einer
zweckmäßigen Auswertung der Frauenkraft anerkannt worden, so muß die Forderung
nach einer Reform der Verufsvorbildung und zwar nach gleicher Ausbildung beider
Geschlechter und entsprechendem Aufstieg ganz allgemein für alle Zweige der kauf¬
männischen Berufe erhoben werden, woraus dann die Folgerungen in betreff der
Enilohnung zu ziehen sind. Leider kämpft der Mann gegen die Frauenarbeit als
solche, statt gegen die für die Gesamtheit der Angestellten schädlichen Bedingungen,
unter denen sie erfolgt. Deshalb ist es die Hauptaufgabe der Zukunft, hier
Abhilfe zu schaffen, gegen die etwa sozialhhgienische und fürsorgliche Maßnahmen
der Sachlage gemäß zurücktreten können. Die llberfüllung des kaufmännischen
Berufs ist groß, dennoch werden ihm immer neue Scharen junger Mädchen
zustreben, denn es ist nicht jeder gegeben, sich in einem der sogenannten „weiblichen"
Berufe, als Kindergärtnerin, Hortnerin, Jugendleiterin, Elementarlehrerin, Kranken¬
pflegerin, Sozialbeamtin usw. mit innerer Anieilnahme zu betätigen. Wer aber
keine Neigung zu diesen Berufen hat, soll sie um der hilfsbedürftigen und leidenden
Menschheit willen meiden. An und für sich stößt die Frau hier naturgemäß am
wenigsten auf Hindernisse, wenn schon in bezug auf Ausbildung, soziale Stellung,
Entlohnung u. a. in. berechtigte Ansprüche auf Besserung erhoben werden, ins¬
besondere auch gegen die während der Kriegszeit um des dringenden Bedarfs
willen allzu schnell und demgemäß ungenügend vorgebildeten Kräfte protestiert
wird, deren ungehemmte Betätigung geeignet ist, das Vertrauen des Publikums
zu den Angehörigen dieser wichtigen Berufe zu untergraben.
Es find jedoch nicht jene in den erwähnten und ähnlichen mittleren Berufen
wirkenden mehr oder weniger gebildeten Frauen, die ein soziales Problem unserer
Zeit bedeuten. Für sie handelt es sich zum großen Teil um berufständuche Fragen,
die -freilich mit der Konkurrenz der Geschlechter und damit dem Heiratsproblem in
engem Zusammenhang stehen, aber nicht unmittelbar an die tiefsten Nöte des
Volkslebens greifen. Steht ihre Tätigkeit einerseits unter zum Teil ganz anderen
wirtschaftlichen und sozialen Gesetzen als das der Industriearbeitern und Land-
mbeiterm und ist daher in ihrer Rückwirkung auf die Lebensbedingungen der
Gesamtheit weniger folgenschwer, so erreicht sie anderseits nicht das kulturelle
Gewicht, das dem Wollen und Wirken der in höheren geistigen Berufen arbeitenden
Frauen eigen ist. Deshalb wird erst die höhere Fräuenberufsarbeit wieder zum
bevorzugten Gegenstand der Erörterung von Politikern und Ärzten, aber auch von
Philosophen und Psychologen, kurz von allen, die an der Kulturentwicklung
bewußten Anteil nehmen.
Während des Krieges hat die Zahl der in höheren Berufen tätigen Frauen
in Verfolg der bereits vor dem Kriege bestehenden Tendenz stark zugenommen. °1
Bereits im Jahre 1917 gab es in Deutschland 416 Ärztinnen — gegenwärtig
soll die Zahl 500 erreicht worden sein — von denen 34 Prozent in Städten
unter 100000 Einwohnern tätig waren, ja in den mittleren Städten hat in den
letzten Jahren das stärkste Vordringen der Ärztin stattgefunden, doch ist nicht zu
übersehen, daß sie auch in ganz kleinen Städten und auf dem Lande Fuß faßt.
Eine Ärztin wurde von der Regierung nach Ostpreußen geschickt, wo sie Land¬
praxis ausübt. Neben praktischen Ärztinnen gibt es Spezialärztinnen auf allen
Gebieten. Als Kassenärztinnen sind sie fast überall zugelassen. Auch als Assistenz-
ärztinnen an Universitätskliniken und Krankenhäusern haben sie während des
Krieges in großer Zahl gewirkt, überdies waren Säuglingsheime, Waisenhäuser,
Lungenheilanstalten, hygienische Institute usw. die Stätten ihrer Arbeit zum Teil
in leitender Stellung. Die Zahl der in städtischen Diensten stehenden Schul¬
ärztinnen nimmt langsam zu — es gibt zurzeit deren 25 —, in Berlin war
eine Ärztin als Polizcmrztin tätig.
Der Kreis der Frauen, die den zahnärztlichen Beruf ergreifen, erweitert sich
ebensalls allmählich: 1917 gab es etwa 100 Zahnärztinnen. Wenn sie sich vor-
wiegend in Großstädten niedergelassen haben, so fehlen sie auch nicht in kleinen
Städten unter 10000 Einwohnern. Vereinzelt sind sie in der Schulzahnpflege
beschäftigt.
Eine starke Entwicklung wies vor dem Kriege der Beruf der Oberlehrerin
auf, der sich organisch auf dem bereits fest eingebürgerten Lehrerinberuf aufbaute
und durch Zulassung der seminaristisch gebildeten Lehrerin zum Universität^
studium weiten Kreisen offen stand. Im Kriege erstreckte sich die Tätigkeit der
Oberlehrerin auch auf Knabenschulen. Bereits 1916 waren an preußischen
höheren Knabenschulen 411 weibliche Lehrkräfte eingestellt, davon 90 an den
staatlichen und städtischen Gymnasien und Realgymnasien von Groß-Berlin. In
Bayern waren drei Lehrerinnen Mitglieder der Kgl. Prüfungskommission für das
Abiturientenexcnneu. Der weibliche Schuldirektor ist nicht nur in privaten, sondern
auch in öffentlichen Anstalten zu finden. Eine Oberlehrerin in Leipzig erhielt
vom sächsischen Mltusministerinm den Auftrag, eine Vorlesung in französischer
Sprache und Übungen im neufranzösischen am Romanischen Seminar der
Universität abzuhalten.
Eine beachtenswerte Erweiterung hat während des Krieges das Arbeits¬
gebiet der Juristinnen erfahren. Waren sie vor dem Kriege hauptsächlich volks¬
wirtschaftlich und sozial beschäftigt, so haben sie während desselben auch rein
juristische Stellungen eingenommen. Es arbeiteten Jnristinnen beim Nechts-
anwlllt und Notar, in NechtsauSkunfts- und Rechtsschutzstellen, bei den Kommunal¬
verwaltungen, an Kriegsamtstellen, außerdem in industriellen und kaufmännischen
Betrieben, in Kriegsgesellschaften usw., auch unterrichteten sie an Frauen-, Fort-
bildungs- und privaten Hochschulen. Vier Juristiunen in Berlin, Hamburg,
Cottbus und Bonn haben bei Anwälten die volle Anwaltspraxis einschließlich
Sprechstunde erledigt. Zu beachten ist, daß es der Juristin bis jetzt verwehrt
war, die systematische praktische Ausbildung der männlichen Kollegen zu genießen
und Staatsprüfungen abzulegen. Ihre Leistungen sind daher, wo sie befriedigten,
um so höher zu bewerten.
Sowohl quantitativ als auch qualitativ erweitert hat sich in den letzten
Jahren auch der Wirkungskreis der Nationalokonomin. Neben mannigfacher so¬
zialer Berufstätigkeit und wissenschaftlicher Arbeit haben die Nationalökonominnen
wie die Juristinnen bei Kommunalverwaltungen und staatlichen Behörden, in
Kriegsorganisationen, in der Industrie und bei Banken Verwendung für ihre
Fachkenntnisse gefunden und sind auch vielfach im Lehramt tätig gewesen. Be-
sonders wichtig erscheint, daß die staatlichen und städtischen Behörden ihre
Scheu vor der weiblichen Arbeitskraft in gehobener Stellung überwunden haben,
da somit zu hoffen steht, daß sie nunmehr solche im Dienst bewährte Frauen in
ein festes Beamtenverhältnis bringen werden.
Ein erst sehr wenig von der Frau bearbeitetes Gebiet ist das der Theologie.
Einer Theologin in Heidelberg, die zu den theologischen Prüfungen zugelassen
worden war, ist die Seelsorge in den Frauenkliniken und an den weiblichen Ge¬
fangenen anvertraut worden und auch anderwärts wurde ins Auge gefaßt, theo¬
logisch geschulte weibliche Kräfte besonders in der Fürsorge für die weibliche
Jugend heranzuziehen.
Nicht erheblich ist vorläufig die Zahl der weiblichen Apothekerinnen, Chemi¬
kerinnen und Physikerinnen, immerhin ist auch hier eine Zunahme deutlich er¬
kennbar. Die Nachfrage nach Pharmazeutinnen und Chemikerinnen war während
des Krieges groß. Letztere fanden meistens in der chemischen Industrie An¬
stellungen, doch waren Chemikerinnen auch als Assistentinnen an Universitäts¬
instituten und auch in öffentlichen Untersuchungsämtern tätig. Drei Physikerinnen
waren bei der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie angestellt.
Wenigbekannt dürftees sein, daß es in Deutschland etwa zwanzig Architektinnen
gibt. Schon vor dem Kriege waren drei mit großem Erfolg selbständig
tätig, die übrigen waren in privaten Baubureaus angestellt. Während des
Krieges hat die Militärbehörde sowohl in der Heimat als auch in der Etappe
weibliche Architekten beschäftigt, beim Wiederaufbau Ostpreußens sind drei Archi¬
tektinnen herangezogen worden. (Schluß folgt.)
rotz der guten Eigenschaft«» unseres Beamtentums und trotz der
hohen 'gesellschaftlichen Stellung, die es in unserem Leben ein¬
nahm, läßt sich doch nicht verkennen, daß die Ausbildung zahl¬
reicher Beamtenkategorien nicht den Erfordernissen der Neuzeit
entsprach. Natürlich hat es in allen Beamtenschichten Persönlich¬
keiten gegeben, die über außerordentliches Wissen und umfang¬
reiche Kenntnisse verfügten. Aber das war doch nicht immer die Regel. Viel¬
fach konnte man Beamte finden, die über die einfachsten Politischen Dinge nicht
Bescheid wußten, die nicht imstande waren, die inneren Zusanunenhänge der
politischen Vorgänge zu erfassen, oder die an Bildung sich auf ihr eng begrenztes
Fach beschränkten. Hier muß Abhilfe geschaffen werden! Der Beamte muß,
wenn er die schwierigen Aufgaben, die jetzt an ihn herantreten, befriedigend
erfüllen soll, über ein ganz anderes Wissen verfügen als bisher. Er darf nicht
mehr auf sein Ressort beschränkt sein, sondern er muß wirklich eine gediegene
theoretische Ausbildung haben, die ihn befähigt, über die enge Mauer seines
Handwerks hinauszubluken.
Die bestehenden Mängel der Ausbildung der Beamtenschaft sind unseren
Beamten keineswegs verborgen geblieben. Sie haben es selbst mehr als einmal
mit Bedauern festgestellt, und es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, daß sie selbst
die Hand zur Verbesserung bieten. Denn in Berlin wird jetzt ein - Institut
errichtet, das den vorhandenen Mangel beseitigen soll, eine „VerwaltungS-
Ai'adeinii-7, denn Grundlage die in Berlin bestehende Beamtenorganisation ist.
Die verschiedenen Vereine, die die Interessen der Beamten vertreten, haben sich
nämlich bereit erklärt, laufende Zuschüsse zur Errichtung eines Fortbildungs-
institues zu geben, dessen Aufgabe es sein soll, in enger Anlehnung an die Praxis
das allgemeine Wissen zu vertiefen, und gründliche Kenntnisse für Beruf und
Leben Zu vermitteln. Die neue Verwaltungsakademie darf nicht im Dienste
einer bestimmten Parteirichtung oder Schule stehen, sie will in streng wissen¬
schaftlicher Weise das Wissen der Beamten vervollkommnen, namentlich das
allgemeine Wissen, darüber hinaus aber auch Fachkenntnisse und vor allem
staatsbürgerliche Erziehung. Die wesentlichsten Lehrfächer sind: Staatsbürger¬
kunde, Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik, Statistik, Finanz- und Steuerwesen,
Staats- und Verwaltungsrecht, Handelswissenschast, Kommunalwissenschaft und
Kommunalpolitik. Daneben sollen auch Vorlesungen abgehalten werden über
Berufskunde, Beamtenpolitik, Beamlenrecht, Etats-, Kassen- und Rechnungs¬
wesen und schließlich die so außerordentlich wichtigen fremdsprachlichen Kurse.
Der Gedanke zur Schaffung einer solchen Anstalt kam aus den Beamten¬
kreisen selbst, ihr Vorkämpfer ist selbst ein Beamter, der Geheime expedierende
Sekretär im Reichssifenbaihnamt Walter Pietsch, 'der in unermüdlicher Tätigkeit
die nicht geringen Schwierigkeiten, die sich dem Plane entgegenstellten, beseitigte.
Pietsch war es, der zuerst den Gedanken vertrat, daß ein solches Institut, wenn
es wirklich den Bedürfnissen der Beamtenschaft entsprechen soll, auf der Grund¬
lage der Selbstverwaltung der Beamtenschaft unter Mitwirkung der Reichs-,
Staats- und Gemeindebehörden geschaffen werden soll. Deshalb ist auch nach
langen Verhandlungen beschlossen worden, das neue Institut nicht an eins der
bestehenden Berliner Institute anzugliedern, sondern als selbständige Anstalt zu
errichten. Wie in der Natur der Sache liegt, werden sich aber enge Beziehungen
zur Berliner Universität bilden, was schon daraus hervorgeht, daß ein sehr
erheblicher Teil des Lehrerkollegiums sich aus Dozenten der Berliner Universität
zusammensetzt. Neben diesen berufsmäßigen Lehrern sollen aber auch vor allem
— und darin liegt der besondere Nutzen der Anstalt — Praktiker herangezogen
werden. Wir haben in Deutschland zahlreiche befähigte Verwaltungsbeamte,
die auf ihrem Gebiete sehr erhebliches geleistet haben, und die im Laufe der
Jahre in langer Tätigkeit einen großen Schatz von Wissen gesammelt haben.
Bisher kamen die Kenntnisse dieser Männer nur einem engen Kreise zugute,
denn nur wenige dieser Herren waren akademisch tätig. In Zukunft aber sollen
hervorragende Beamte an der neuen Anstalt als Lehrer mitwirken, ihre
Kenntnisse sollen der Gesamtheit der Beamtenschaft zugute kommen. Schon jetzt
haben sich mehrere dieser Herren erfreulicherweise zur Verfügung gestellt.
Gerade Berlin ist besonders geeignet für ein solches Institut, denn einer¬
seits ist Berlin Sitz sowohl der Zentralbehörden des Reiches als auch von
Preußen, und wird es voraussichtlich nennt bleiben. Infolgedessen ist Berlin
diejenige Stadt im Deutschen Reiche, in der die meisten Beamten ihren Wohnsitz
haben. Aber nicht nur das. Die Beamten in den Zentralbehörden setzen sich,
wie uoch nicht allgemein bekannt ist, aus besonderem auserlesenen Material
zusammen, denn es werden in der Regel nur solche Beamte in die Zentral¬
behörden berufen, die vorher bei einer andern Behörde sich bewährt haben.
Dieses Beamtenmaterial weiter zu bilden, ist eine der wichtigsten Aufgaben der
neuen Einrichtung.
Die Berliner Verwaltungsakademie unterscheidet sich dadurch von ähn¬
lichen Veranstaltungen im Reiche — denen sie im übrigen keine Konkurrenz
machen wird —, daß sie auf die Tätigkeit und Arbeitszeit der Beamten Rücksicht
nimmt. Sie will dem Beamten, der im Berufe steht, nicht ein kostspieliges
Studium aufnötigen, während welcher Zeit er seinen Beruf ausgeben muß, sie
will vielmehr ihm im Anschluß an seine Arbeitstätigkeit ein weiteres Studium
ermöglichen. Eine Unterbrechung des Berufes soll für die Berliner Beamten
nicht eintreten, deshalb werden die Vorlesungsstunden in der Regel so gelegt, daß
sie außerhalb der Dienstzeit liegen. Nur einige wenige Vorlesungen sollen in
den Vormittagsstunden sein, die Hauptzahl der Vorlesungen ist nachmittags und
abends. In der .Hauptsache wird also ans die Berliner Beamtenschaft Rücksicht
genvmm"u werden, darüber hinaus aber kommt die Anstalt auch für die Beamten
des Reiches in Betracht. Hier ist in Aussicht gestellt, daß Beurlaubungen nach
Berlin auf ein Jahr erfolgen, ähnlich, wie es jetzt bereits bei. den Lehrern
geschieht. Diesen Beamten wird alsdann Gelegenheit geboten, in den Vor-
mitwgsstunden das in der VerSvaltungsaKademie Gebotene durch Anhören von
Vorlesungen an der Universität zu ergänzen.'
Die Berwaltnngsakademie wird sich nicht auf Beamtenvereine
beschränken, der Zutritt steht jedem offen, der den erforderlichen Grad sittlicher
und geistiger Reise nachweisen kann, und dessen Borbildung ausreicht, um dem
Gebotenen mit dem nötigen Verständnis zu folgen. Denn zahlreiche Vorlesungen
interessieren ja nicht nur Beamte, fondern darüber hinaus weite Kreise unserer
Bevölkerung, namentlich die Kaufleute, Bankbeamten, Rechtsanwälte und der¬
gleichen. Wer interessiert sich zum Beispiel nicht alles für den geplanten Vor¬
lesungszyklus „Wie liest man einen Etat?". Hier kommen als Hörer nicht nur
die oben erwähnten Kategorien in Betracht, sondern darüber hinaus wird
mancher unter den jungen Parlamentariern und namentlich auch Parlamen¬
tarierinnen dankbar sein, wenn ihm hier die Möglichkeit geboten wird, einen
Einblick in ein Gebiet zu tun, auf dem bisher nur wenige Nichlbeamte bewandert
waren. Ebenso kommt der geplante .Kursus über Steuerwesen für zahlreiche
kaufmmluische Angestellte, namentlich solche von Aktiengesellschaften, in Frage.
Die Leitung der 'Verwaltugsatademie wird die Zulassung weiten Kreisen ohne
Engherzigkeit ermöglichen.
Ein sehr wichtiges Problem ist die Finanzierung. Man hat von vorn¬
herein Wert darauf gelegt, daß die Anstalt mit einem möglichst niedrigen Etat
auskommt, wozu, abgesehen von allem andern, ja auch die jetzige Zeit uns zwingt.
Deshalb ist es zu begrüßen, daß die Unterrichtsverwaltung kostenfrei die Hörsäle
zur Verfügung stellt. Daneben -wird Wert .darauf gelegt, daß die Verwaltung so
billig wie möglich ist. Sämtliche Mitarbeiter von der Direktion bis zu den
Dozenten sind im Nebenamte tätig. Die Haupteinuohmen werden die — im
übrigen sehr mäßig zu haltenden — Hörgebühren sein. Hinzu kommen die regel¬
mäßigen Zuschüsse der Beamtenorganisation in Berlin, die Zuschüsse der
Behörden und die Zinsen eines Stiftungsfonds, den Freunde der Anstalt zur
Verfügung stellen. Von vornherein ist darauf verzichtet worden, etwa ein
eigenes Gebäude oder eine prnnkhnfte Ausstattung zu haben. Es wird nicht
Wert auf das Äußere gelegt, sondern nur auf das, was im Innern geleistet wird.
Die neue Anstalt bildet eine erfreuliche Bereicherung der wissenschaftlichen
Institute, über die Berlin verfügt. Sie entspringt einem'dringenden Bedürfnis
der Neuheit und der Erfolg wird nicht ausbleiben, wenn sie der Forderung
getreu bleibt, der sie entivrechen muß: daß sie stets nur auf allen Gebilden das
Beste leisten muß, daß sie keine halbe Arbeit bringen darf, sondern überall
Qualitätsarbeit.
M.^MA^untere Jahre Verlagsgeschichte bedeuten hundert Jahre Knltur-
I geschichte, wenn der betreffende Verlag seiner vornehmsten, seiner
geistigen Pflicht gegen sein Volk und seine Zeit nachgekommen ist
j und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten seine
^ ideelle Aufgabe nach 'bestem Wissen und Genüssen erfüllt hat. Nur
I wenigen deutschen Verlagen kann man diese Charakteristik geben.
Zu ihnen tritt in diesen Tagen der Leipziger Verlag Fr. Wilh. Grunow. Ein
Bild seines Wirkens gewährt in die geistige, politische, künstlerische Entwicklung
Deutschlands seltene Einblicke, denn dieses festgcgründete Haus ließ und läßt kein
Gebiet deutschen Kulturlebens unberücksichtigt. Dabei war es sein Verdienst, von
Anfang an nicht in eine nur geschäftstüchtige, gegenwarigewcmdte Viclvcrlegerei
zu geraten, sondern von vornherein nur Büchern einer bestimmten Wesensart den
Weg in das Publikum, in die Welt zu bereiten, Diener am deutschen Geiste gemäß
einer festen Überzeugung und Weltanschauung zu sein. Wer zu Büchern dieses
Verlages griff, wer sich'zu seiner Zeitschrift, den „Grenzboten" gesellte, wer heute
zu den Käufern seiner Neuerscheinungen gehört, bekennt sich damit sogleich zu
einer Gemeinde, zu einer Stellungnahme zu der Welt und ihrem Gehalt, für die
Gesundheit aller Seienden und Werdenden hauptentscheidendes Urteil jeder
Wertung bleibt.
Der Verlag Fr. Wilh. Grunow in Leipzig ist keine Gründung der Familie
Grunow unmittelbar. Er ist hervorgegangen aus dem noch heute blühenden
Kommissionsgeschäft Friedr. Ludwig Herbig, dem ein mehr und mehr aufstrebender
Verlag sofort bei seiner Gründung am .1. Mai 1819 angegliedert worden war.
Der Begründer Friedrich Ludwig Eusebius Herbig (1781—1839) legte in
zwanzigjähriger solider Arbeit den Grundstein für den heute hundert Jahre be¬
stehenden Bau. Als er nach einem einsamen Junggesellenleben, dessen Freuden
neben seiner verlegerischen Tätigkeit die nennr und die Jagdliebhaberei gewesen
waren, am 1, April 1839 seinem Schwesterssohne Friedrich Wilhelm Grunow
fein Werk hinterließ, hatte es bereits respektablen Umfang. Leider fehlen alte
Kataloge, Journale, Geschäftspapiere gänzlich. Aber die Reihe Bücher, die die
Verlagsbibliothek noch aus jenen ersten zwanzig Jahren des Bestehens aufweist,
tun doch dar, daß kein Lebensgebiet unberücksichtigt geblieben war.
Das Gesicht des Verlages wurde sofort anders, als der junge Erbe, der
erst nach damaligem sächsischem Gesetze mit 24 Jahren volljährig, ein Jahr
nach dem Tode des Onkels, dessen Lehrling und Hausgenosse er als Sohn eines
Güflener Kaufmanns gewesen war, zum gesetzlichen Inhaber wurde, die Leitung
in die Hand nahm. Wenn auch noch nicht der pommerscher Herkunft entsprechende
Familiencharakter im Geschäft vorherrschend wurde, so kam doch nun durch die
Übernahme der „Grenzboten" und der mit ihnen zusammenhängenden Arbeiten
eine bestimmte Farbe in den Verlag. Fr. Wilh. Grunow, von dem der Verlag
fortan seinen Namen erhielt, indes das ihm auch ferner verbleibende Kommissions¬
geschäft weiter nach Fr. Ludw. Herbig firmierte, wirkte bis an seinen frühen Tod
1877 achtunddreißig Jahre lang in Leipzig: er schuf sich als Verleger wie als
Kommissionär den Ruf eines streng soliden Geschäftsmannes, dem alles Vertrauen
seiner Freunde und Interessenten zulief. Er strebte nicht nach Glanz und äußeren
Ehren; seine Arbeit, der Ruf und die Stellung seiner Firma waren seine Be¬
friedigung, sein Glück, füllten sein Leben aus.
Die ganze Liebe und Sorge des treuen, ernstesten Grundsätzen unerschütterlich
folgenden Mannes gehörten den „Grenzboten". Sie standen vom Tage ihrer
Übernahme an bis zu ihrem Ausscheiden im Jahre 1909 im Mittelpunkte des
Verlages, achtundsechzig Jahre lang. Dank der qualitativ wertvollen Arbeit
des Herausgebers Kurcmda, der, meist aus Reisen in Wien, Berlin, Brüssel,
Paris, Stuttgart unermüdlich tätig, seinen Freund I. Kaufmann als Mit¬
redakteur in Leipzig zur Seite halte, und dank der zähen Tatkraft des Ver¬
legers, der oft als Redakteur und Korrektor einspringen mußte, drang die Zeit¬
schrift bald durch und erzielte besonders in dein Revolutivnsjahre 1848 einen
großen Abonnenienkreis. Vor allem aber: die „Grenzboten" konnten im politischen
Leben Norddeutschlands und Österreichs fortan nicht mehr übersehen werden. Dein
ruhigen, gesetzlichen Fortschritt dienend, nach dein Vorbilde französischer Revuen,
ohne Lückenlosigkeit anzustreben oder zu einer Nezensionsanstalt auszuarten, er¬
warben sie sich schon damals den Ruf wirklicher Sachlichkeit. Dadurch, 'daß
Kurcmda immer mehr den österreichischen Interessen anheimfiel, wurde der Anlaß
gegeben, einen neuen Herausgeber anzunehmen. Er fand sich in Julian Schmidt,
dem nachmals berühmten Literarhistoriker, der sich mit Gustav Freyiag zusammentat.
Beide Schriftsteller machten durch die „Grenzboten", die sie seit Herbst
1843 leiteten, und mit ihnen ihren Weg. Anfangs gingen die „Grenzboten" unter ihnen
zurück. Als sie sich aber infolge preußischen Regierungseinflusses von der Politik ab¬
wandten und besonders nur noch das Gebiet der Literatur, Kunst und .Kulturgeschichte
pflegten, schufen sie sich wieder einen großen Ruf. Julian Schmidt focht in ihnen
seine auf mehr ethische als aesthetische Prinzipien gegründeten Kämpfe gegen das
junge Deutschland für die romantische Schule durch. Seine Aufsätze und Kritiken
erregten Aufsehen. Auch Gustav Freytags Arbeiten, die damals besonders „die
Bilder aus der deutschen Vergangenheit" entwarfen, konnten nicht übersehen werden.
In der Politik hielten die „Grenzboten" sich weiter zu den oppositionellen Alt-
liberalen gegen Bisniarck, auch als an Stelle Julian Schmidts 1865 Dr. Max
Jordan, der spätere Direktor der Nationalgalerie, getreten war. In jenen Jahren
kam infolge Gustav Freytags starrem Festhalten auch am religiösen Liberalismus
eine zeitweise Entfremdung zwischen Verlag und Redaktion auf, denn Fr. Wilh.
Grunow war ein strenggläubiger Mann, dessen Ansichten denen der „Zeitschrift"
widersprachen. Das führte, nach der vorübergehenden redaktionellen Mitarbeit
von Dr. Moritz Busch und Dr. Julius Eckart im Jahre 1870, schließlich zum
Bruch zwischen Gustav Freytag und Fr. Wilh. Grunow. Dieser wurde alleiniger
Inhaber und suchte nun mit dem nationalliberalen Sohne Robert Blums, Dr.
Hans Vlum, die Wochenschrift auf eigene Faust gegen das von Gustav Freytag
bei S. Htrzel sofort gegründete Konkurrenzunternehmen „Im neuen Reich" fort¬
zuführen. Es waren die schwersten Jahre, die die „Grenzboten" und mit ihnen
der Verlag damals bis zum Tode Fr. Wilh. Grunows durchmachten. Gustav
Freytag wollte beiden schon das Ende voraussagen.
Aber Verlag wie Zeitschrift waren zu solid aufgebaut und festgewurzelt, als
daß ein vorübergehender Rückgang sie hätte zu Fall bringen können. Der Buch¬
verlag stand nach wie vor in voller Blüte. Fr. Wilh. Grunow hatte ihn syste¬
matisch ausgebaut für das politisch-historische und belletristische Gebiet.
AIs Fr. Wilhelms 1845 geborener Sohn Johannes Grunow den Verlag
1877 übernahm, war seine Aufgabe der Wiederaufbau der „Grenzboten" und der
Ausbau der Buchabteilung. Mit wahrem Feuereifer machte Johannes Grunow
sich an die Umgestaltung und Hebung der „Grenzboten". Indem er die Leitung
in die Hand nahm — für die nächsten achtundzwanzig Jahre — gab er ihnen
Ziel und Richtung. Er wollte sie zu einem führenden Organ der nationalen
Presse machen, zu einem Organ aller unabhängigen Geister, die etwas eigen Ge¬
dachtes und Erlebtes, Selbständiges und Führendes zu sagen hatten. Das gelang
ihm völlig; sein Freund Dr. G. Wustmaun war ihm dabei vom 1. Januar 1879
un, da Dr. Hans Blum ausschied, ein treuer Redakteur und Mitarbeiter. Die
älteren Leser der „Grenzboten" erinnern sich des Wirkens jenes unvergleichlichen,
mit ungeheurer Arbeitskraft begabten Mannes, der es in seiner Liebe zur deutschen
Sprache sich nicht nehmen ließ, jeden Aufsatz der „Grenzboten", jeden Romcm-
und Novellenband seines Verlages stilistisch durchzuackern, gewiß noch auf die
lebendigste Weise. Denn unvergeßlich war in der Tat sein Weg als „Grenzboten"-
Herausgeber und Verleger."
Der Buchverlag hing nun enger denn je mit den „Grenzboten zusammen.
Was an nationalökonomischen Werken, wie die von Carl Jentsch, darunter dessen
heute in fast fünfzigtausend Exemplaren verbreitete, unübertreffliche „Volkswirtschafts¬
lehre", was ein kulturhistorischen Arbeiten wie von M. Busch, A. Philipp!, O.Kaemmel,
O. E. Schmidt u. u, aus der Sprachwissenschaft — G. Wustmanns berühmte
„Allerhand Sprachdummheiten", E. Meyers „Schöpfung der Sprache", Philippis
„Kunst der Rede" usw. — an Kunstwissenschaft — Rosenbergs große 5wnstgeschichte,
Kretzschmars musikalische Aufsätze u. a. in. hervortrat, was die Politik des Tages
von ihren sozialen Fragen an bis zu den Judenproblemen, Wahlrechtsnöten, was
die Nechlssprechung, Kirche, Schule, Theologie und Philosophie an Bedeutenden
in jenen Kaiserreichjahrcn erscheinen ließen, Johannes Grunows Wirken machte
sich überall bemerkbar, seitdem er mit der Herausgabe von Dr. M. Buschs Charakter¬
bilde „Unser Reichskanzler", „Graf Bisniarck und seine Leute" (1878), „Tagebuch-
blättern" (3 Bände 1899) großes politisch-publizistisches Aufsehen erregt hatte.
Standard-Werke aller Wissensgebiete gingen aus seinem Verlage hervor: In der
Medizin Prof. Dr. Fr. Ahlfelds „Lehrbuch der Geburtshilfe", in der Kunst¬
wissenschaft Paul Eudels „Fälscherkünste", in der Geschichte Eyssenhardt-Winters
„Denkwürdigkeiten Friedrichs des Großen", in der sozialen Bewegung Paul
Goehres Erinnerungen „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche", die
bekannte Sammlung der Dichtungen vom besten Staate „Schlarasfia political",
Wustmanns Sprach- und Kulturgeschichtswcrke, um nur einige zu nennen.
Seine besondere Liebe brachte er der deutschen Dichtung, der „Belletristik", ent¬
gegen. Nicht nur regte er mit seinen Klassikerausgaben in den achtziger Jahren
unter Mithilfe von Dr. A. F. Krais und besonders Adolf Sterns, mit seiner be¬
kannten Otto-Ludwig-Ausgabe von A, Stern und Erich Schmidt einen deutschen
Verlagszweig entscheidend hinsichtlich Bearbeitung und Ausstattung an, sondern
er schuf für die zeitgenössische Dichtung der Gegenwart in seinem Verlage einen
Mittelpunkt gediegendsten, gesunden, anmutigen Schaffens.
Als ihm am 1. April 1906 ein Nierenleiden dahinraffte, hinterließ er nnr einen
eben erst zwanzigjährigen Sohn Wolfgang, der noch keineswegs den Aufgaben des
riesenhaft angewachsenen Verlages genügen konnte. Jobs. Grunows alter Mit-
arbeiter Karl Weißer führte den Verlag weiter, bis der Erbe die Arbeit übernahm:
1909. Damals entschieden Orgcmisations- und Finanzfragen das Schicksal der Ge¬
meinschaft der „Grerizboten" und des Verlages. Das Schwergewicht der Zeitschrift
lag, seit dem 1. Januar 1909 von Georg Cleinow und Dr. Paul Mahn geleitet,
in Berlin, und so siedelte das Blatt denn auch in einen eigenen Verlag nach der
Reichshauptstadt über. Wolfgang Grunow war bemüht, der alten Firma neuen
Glanz und Ruhm zu verleihen. Ein Vorurteil hatte sich durch die modernen
Literaturströmungen, denen Jobs. Grunow ablehnend gegenübergestanden hatte,
gegen den Verlag ausgebreitet: er galt für altmodisch, ja für langweilig. Dies
völlig zu Unrecht bestehende Vorurteil war zu beseitigen! Wolfgang Grunow be¬
ging nicht den Fehler, nun einfach umzuschwenken und der „Moderne" zu folgen:
er hatte bei seinem Vater gesehen, daß nur die Persönlichkeit ausschlaggebend sein
darf in der Wahl der Bücher, die man verlegt. Seine sonnige Natur neigte zum
Humor. Und so war er bemüht, den gediegenen humoristischen Unterhaltungs¬
roman zu pflegen: Fritz Gantzer, Ernst Clausen, Victor Fleischer, Chr. Ratzel,
W. Pocal u. a. traten herzu. Der Krieg machte es Wolfgang Grunow unmöglich,
seine Ideen ins Große zu verwirklichen. Schon am 29. Oktober 1914 erlag der
letzte Verleger aus der Familie Grunow, 29 Jahre alt, seinen bei Aguilcourt am
16. September erhaltenen Verletzungen.
Verwaist stand die Firma da. Ihr hätte das Geschick so manchen alten
Verlages werden können: Auflösung. Aber ein guter Stern waltete über ihr.
Von Wolfgang Grunows Witwe und Söhnchen erwarb ein junger Verleger,
Bernhard Schulze, zu Weihnachten 1914 den Verlag, festen Willens, nach dem
Vorbilde von Jolmnms Grunow den einstigen Ruf des Fr. Wilh. Grunow Ver¬
lages zurückzuerobern, dem Geschäft eine neue kulturelle Wirksamkeit, eine Zukunft
zum Segen des deutschen Volkes und der deutschen Kunst zu bereiten. Den An¬
forderungen der modernen Zeit entsprechend werden die politisch-nationalökonomische
und die belletristische Abteilung weiter ausgebant. modernisiert. In der Politik
herrscht die freiheitlich-nationale Anschauung des jetzigen Inhabers vor. in der
Richtung soll vor allem der gesunde, lebensvolle Roman Hilfe und Verbreitung
finden. Neue Namen im Verlage erwecken Erwartungen, die hoffen lassen
können, daß hier ein zweites Säkulum Kulturarbeit beginnt, ebenso reich und
wertvoll für Deutschlands Seele, wie die vergangenen ersten hundert Jahre Fr.
Wilh. Grunow Verlag.
Harry Vosberg, Hans Michael Elias Obentraut. Roman. Verlag von Eugen
Salzer. Hellbraun. 191». Preis brosch. ti M., geb. 8 M.
Aus uns überkommenen, kargen Angaben über die Persönlichkeit des Hans
Michael Obentraut, der zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts am Oberrhein
unter dein Namen „Der deutsche Michel" bei den Völkerschaften, die damals
deutsches Land verwüsteten, gekannt und gefürchtet war, hat Vosberg den Brenn¬
punkt eines historischen Romans mit allegorischen Unterton gewonnen. Die
Kriegswirren jener Zeit finden ihre Bewertung als Kindheitsphase des deutschen
Volkes, das unter dem Zwang unabänderlicher Gegebenheiten in fortschreitender
Entwicklung sich selbst gleich bleibt und sein Schicksal schmiedet — umlagerten
doch schon vor dreihundert Jahren dieselben Feinde wie heute Deutschlands
Grenzen, selbst der Handelsneid Englands war damals bereits lebendig und die
Zerfahrenheit unserer politischen Zustände, die Machtlosigkeit des Reichs Gewinn
und Zielpunkt unserer Gegner —, Hans Michael Obentraut aber, der deutsche
Michel, der Gott und Satan gleichermaßen im Leibe trägt, erscheint in der Ver¬
quickung von wetterhartem Draufgängertum mit romantischer Treue und Heimat-
liebe als das in hellen, frischen Farben leuchtende Sinnbild der trotz aller Sonder¬
heiten gemeinsamen Art deutschen Wesens. Und diesem deutschen Michel entringt
sich nach sturmbewegten, erfahrungsreicher Jahren der Angstschrei: Die deutsche
Art! Sie frißt uns und unserer Kinder Zukunft! Im Kampf gegen Tilly zu
Tode getroffen, steht ihm vor Augen, daß die inneren Feindschaften uns zugrunde
richten und er weiß nur einen Rat: sie einzustellen — er, der protestantische
Pfälzer, der gegen das Reich gekämpft hat und der doch letzten Endes mit ganzer
Seele am Reiche hing. „Einigkeit! Wie könnten wir dastehen bei Einigkeit in
der Welt!" So klingt die Klage über die Jahrhunderte, und ihr entgegen dringt
das Licht, das sich vom gegenwärtigen Geschehen über Vergangenes breitet.
Vosbergs Schilderung ist übersponnen vom Hauch der Gegenwärtigkeit. Bild auf
Bild des großen Krieges rückt uns kraft der Gleichartigkeit des Erlebens in
greifbare Nähe. In der epischen Dynamik liegt Vosbergs Stärke. Nicht daß
seiner Dichternatur der lyrische Einschlag fehlt, im Gegenteil, er weiß sehr gut
auch jene Töne anzuschlagen, die nur im Bannkreis des subjektiven dem Mutter¬
boden jeder wahren Lyrik, geboren werden. Aber dies ist zartes Gerank um den
festen Stamm seines durchaus aufs Objektive gestellten Wollens — der Dar¬
stellung einer Massenbewegung, die das Schicksal des deutschen Michel trägt. In
der Zeichnung des Helden hätte freilich die Wucht des Symbols einer Völks¬
individualität mit Hilfe einer eindringenden psychologischen Analyse stärker zum
Ausdruck kommen sollen. Immerhin überragt die geistige Erfassung der Gestalt
des Michael Obentrcmt die der anderen Personen, die um ihn gruppiert sind.
Diese sind im Umriß, wenn auch durchaus nicht in Farblosigkeit geschaffen.
"
Vosberg ist den Lesern der „Grenzboten kein Fremder. Schon 1911
brachte diese Zeitschrift sein Drama „Till Eulenspiegel" und seine Ballade „Astrid".
Wer damals am jungen Dichter Gefallen fand, wird seinen Vorstoß auf einem
neuen Gebiet mit Freude begrüßen. Mit reicher Begabung zur künstlerischen
Gestaltung verbindet sich bei ihm die Fähigkeit und der Wille zu gründlichen
Studien auf kulturgeschichtlichem Gebiet. So wirkt er mit der Überzeugungskraft
Alle» Manuskripte« ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt wero-rü dünn.
üugst geriet ich in einen Disput mit einem jungen Studenten. Er
erwies sich, mit Temperament und vielen Worten, als Partei¬
gänger — ja, wessen eigentlich? Nun, sagen wir: der Revolution.
Für die Negierung, für die Nationalversammlung, für die Ver¬
suche, Ordnung ins Chaos zu bringen, und vollends für alles,
was bürgerlich heißt, hatte er nichts als Hohn und Spott, allen¬
falls ein Lächeln des Mitleids. Zuletzt versuchte ich es mit folgendem Einwand:
„Gesetzt, man übertrüge Ihnen von Staats wegen die Sorge für die Arbeits¬
losen. Sie ordnen eine auskömmliche Unterstützung für jeden Feiernden an.
Binnen kurzem stellen Sie fest, daß daraufhin der größte Teil die Annahme von
Arbeit glatt verweigert, weil er es ja, um zu existieren, nicht nötig hat, so daß
zwischen dem steigenden Bedarf an Arbeitern und der steigenden Arbeitslosig¬
keit kein Ausgleich stattfindet. (Das Beispiel ist bekanntlich nicht aus den Fingern
gesogen.) Was würden Sie, als Volksbeauftragter der Arbeitslosenfürsorge, in
dieser Lage tun?"
Mein Partner erwiderte: „Ich würde sagen, man muß sozialisieren."
Ich bemerkte: „Sie würden also gar nichts tun, sondern etwas sagen."
"
Er verbesserte sich: „Ich würde sozialisieren.
Darüber war er nicht hinaufzubringen, und das Gespräch hatte den toten
Punkt erreicht.
Diese Debatte hätte ich mit jedem von euch führen können; sie ist humor¬
volles Symbol eurer Art von Politik.
Worauf kommt es in diesem Augenblick an? Sind wir uns darüber einig,
daß uns eine feindliche Übermacht mit brutalem Griff bei der Kehle gepackt hält?
Daß wir hungern? Daß wir verhungern, wenn es der Übermacht gefällt, unsere
Gurgel nicht loszulassen? Worauf also kommt es an? Zum Beispiel darauf,
daß Kohle gefördert wird. Denn Kohle gehört zu den paar Dingen, die wir
haben und die anderen brauchen, und die sie als Zahlungsmittel von uns er¬
pressen wollen. Sind wir uns darüber wenigstens einig?
Gut. Also müssen die Bergleute arbeiten. Alles andere ist Nebensache.
Dies eine ist die Hauptforderung. Wohlverstanden: Kohle fördern, in den
Schächten sich Plagen ist Lein Zeichen von Kultur, ist kein ethisches Ideal, ist nicht,
was wir unser Ziel nennen. Nicht in diesem .Sinne meine ich es, wenn ich sage,
Kohlenprobuttion sei die Hauptsache. Kohlenproduktion ist bloß Mittel zum
Zweck, Vordergvundinteresse — mit Kant zu reden: ein hypothetischer Imperativ;
nämlich sofern unser Volk leben soll, ist Kohle notwendig. Daß das deutsche
Volk leben soll, darüber freilich müssen »wir uns einig sein, sonst können wir nicht
disputieren. Aber wenn es also leben soll, so ist die Arbeit der Berateute, und
der Eisenbahner, die das Produkt transportieren, und der Handwerker, die die
Waggons reparieren, unbedingt notwendig. Rätesystem? Lohnerhöhungen?
Verkürzte Schichten? In Gottes Namen, wenn die Bergleute dadurch arbeits¬
williger werden; unter gar keinen Umstünden, wenn die Leistungen darüber
zurückgehen!
Auch das mit der Kohlenproduktion ist nur ein Gleichnis. Genau ebenso
verhält es sich mit der Politik überhaupt. Auch in der Politik handelt es sich
nicht um Kultur, Ethik und Ziel, trotz den Aktivisten. Politik bezieht sich aus
Vordergrunds interesser, auf hypothetische Imperative, aus Maschinerie und
Apparat. Alles Wesentliche liegt jenseits oder außerhalb der Politik. Politik
monte nicht das, was >z,u allerletzt nottut, und kann es nicht erledigen; sie vermag
nur das Körperliche, das Äußere, das Zufällige zu arrangieren und einiger¬
maßen im Zaume zu halten, damit das Wertvolle ungestört, aber immer noch
kümmerlich genug, sich entfalten kann. Politik ist daher niemals im letzten
Sinne wertvoll, und ihre Hilfsmittel sind es auch nicht; nicht Parlamente noch
Konstitutionen, noch Wahlen, noch Demokratie, noch Rätesystem; und auch nicht
Revolution.
Mir scheint, das ist es, was ihr nicht begreift. Ihr nehmt das alles zu,
wichtig, ihr haltet für Sinn und Zweck, Mas nur Mittel des Mittels ist. Und
infolgedessen begreift ihr auch das andere, nicht: daß man diese Mittel wollen
muß, daß man den Apparat in Ordnung zu dringen und in Ordnung zu halten
hat, und das; über diese kahle Forderung des -Tages und nüchterne Pflicht¬
erfüllung einem keine hohen Gefühle, keine schönen Gesinnungen, kein revolu¬
tionäres Pathos hinweghelfen.. Schätze ihr Politik -im ganzen zu hoch, so schätzt
ihr die politischen Notwendigkeiten zu gering. Ihr seid, an es -kurz zu sagen, zu
fein, um ganz einfach Politik zu machen, wie ihr euch zu vornehm dünken würdet,
Sie Stellung eines Hotelportiers anzunehmen, um euer Brot zu verdienen. Und
weil ihr euch nicht überwinden könnt, Politik zu treiben, als was sie getrieben
werden muß, nämlich -als die ungeistige -und stimmunglvse Erledigung dessen,
was der Tag fordert, darum versucht ihr, sie mit Geist und Stimmung zu ver¬
mengen und euch mit radikalen Faltenwurf eine Haltung zu geben. Ich nehme
es keinem übel, der sich vom politischen Handwerk rein halten will; aber dann
heißt -es für ihn: Hände weg! In die politische Praxis hinabzusteigen, ist für die
Geistige» und Produktiven Entsagung und Demütigung, wie sie sich haben
demütigen und entsagen müssen, als ihnen der Staat 1914 Gewehr oder Spaten
in die Hand drückte; unter Umständen ist es auch Abfall von ihrer eingeborenen
Aufgabe. Ader mit euren literarischen Negationen helft ihr keinen einzigen
Güterwagen ins Rollen bringen, keinen Acker pflügen und keinen Hunger stillen.
"
Von „Realpolitikern, die ihr bekämpft, -weil ihr „in neuen Abzeichen kein
Heil" seht, lese ich irgendwo in einer programmatischen Rechtfertigung. Bei dieser
Wendung will ich -euch festhalten. Wer hat denn behauptet, daß die neuen
Abzeichen das Heil bringen? Welcher halbwegs disziplinierte Kopf begreift denn
nicht, daß ob die Abzeichen als Achselstücke aus der Schulter oder als streife» am
Arnrel getragen -wenden, gehüpft wie gesprungen ist? Aber eben weil nichts daraus
ankommt, und weil nun einmal eine kompakte Vielheit an Tressen und Schnüren
der alten Zeit Anstoß nimmt, warum soll man ihr den Gefallen nicht tun und
ihrem Kindlichen Eigensinn nicht nachgeben? Jedoch auf etwas anderes kommt
es -an, und das ist's, was ihr mit dieser Wendung -und vielen ähnlichen dis¬
kreditiert: ob es überhaupt militärische Vorgesetzte geben soll oder nicht, und ob
wir also eine bewaffnete Macht haben werden oder nicht. Sich entsetzen vor
vergossenem Bruderblut, sich entrüsten über Ausschreitungen und Roheiten derer,
die im Namen der Ordnung bewaffnet -worden sind, ist furchtbar billig. Wenn
Betriebe sabotiert, Zufuhren unterbunden, Magazine geplündert werden: wollt
ihr, daß man die Schädlinge, sie seien nun Verbrecher oder Phantasie», gewähren
lasse, oder Wollt >ihr es nicht? Wenn ihr es nicht wollt! wenn ihr die Verschärfung
der Not, den wachsenden Hunger, Ruin, Verzweiflung und Chaos begreift und
euch vorzustellen vermögt, so habt auch den Mut, das Mittel zur Bändigung zu
wollen! Borläufig scheint mir, daß jeder Freiwillige sogenannter weister Garden,
der- mit feiner Kompagnie dahin geht, wo Spartakisten hinter Barrikaden
Maschinengewehre verflucht fachgemäß bedienen, mehr Männlichkeit beweist als
ihr, die ihr mit der Feder gegen den Reichswehrminister zu Felde zieht.
Aber der Kapitalismus? Aber die Bourgeoisie? Es ist dasselbe Schau¬
spiel! Wer wäre denn nicht gegen die parasitische Sattheit geschützter Philister?
Wer fühlte sich denn nicht Todfeind jedem Ausbeuter und Bundesgenossen den
Ausgebeuteten? Die Tyrannei des Kapitals wird gebrochen werden, darüber
bedarf es keiner Worte (obwohl einiger darüber, ob der Weg des Erfurter
Programmes der einzige, oder auch mir der rechte ist; und einiger auch darüber,
daß die Menschheit vom Dämon des Kapitalismus ahnungslos überlistet worden,
nicht ihn: von ein Paar Ruchlosen mit hämischer Absichtlichkeit zugeführt worden
ist). Nur das soll man uns nicht 'weiß machen wollen, daß eS der Bürger, als
Bürger, ist, der ausbeutet, der unterdrückt, der schlemmt, der sich fürchtet, der
zusammenrafft, der gemein ist und gemein macht, während ganz im Gegenteil
der Proletarier, als Proletarier, den fleißigen, redlichen, genügsamen, mensch¬
lichen, gerechten und selbstlosen Bruder seiner Brüder verkörpert. Die Fabel von
dein braven Proletariat und der schlimmen Bourgeoisie ist eine demagogische
Phrase, zu taktischen Zwecken in die Massen geworfen und mit endlosen Wieder¬
holungen eingehämmert; sie macht der Geschicklichkeit sozialdemokratischer Führer
ebensoviel Ehre, wie sie die Leichtgläubigkeit des großen Haufens, der sich
geschmeichelt fühlt, an den Pranger stellt. Literaten bürgerlicher Abstammung,
Erziehung und Lebenshaltung sollten sich schämen, sie nachzusprechen. Ich
wenigstens kenne weder den verdorbene!-. Bourgeois, noch den gerechten
Proletarier; sondern was ich erlebt habe, ist die Erbärmlichkeit der Menschen von
oben bis unten, und von Osten bis Westen; und wovon ich glaube, das ist die
Kleinheit und Güte und Weisheit von ein paar ganz seltenen, die scher den Erd¬
ball zerstreut und in den Jahrtausenden verloren sind. Und ihr könnt es
unmöglich anders erfahren haben.
Endlich aber die Schuld Teutsch lands!
Ich bin so wenig kriegsbegcistert gewesen wie nur irgendein Pazifist, von
denen es jetzt plötzlich auf allen Gassen wimmelt. Wer es nicht glaubt, und wem
damit gedient ist,'dem kann ich die Zeugnisse vorweisen. Ich wünschte, daß ich
meine Klinge schlagen dürfte gegen deutsche Imperialisten und Militaristen. Euer
Treiben zwingt mich in die. vertrackte Läge, die Partei der anderen Seite
zu nehmen.
Es sind Fehler gemacht worden bei uns. Heute weiß das jedes Kind, und
es ist leine Kunst mehr, sie anzukreiden, seitdem wir die Folgen zu tragen haben.
Ohne diese Fehler wäre der Krieg zu vermeiden gewesen, aber auch die Katastrophe
dieser Niederlage. Ohne die immer wiederholten und zu Bergen aufgehäuften
Fehler hätte der Krieg, einmal begonnM, zu einem halbwegs glücklichen Ende
flesührt werden können. Und wie anders sähe dann alles aus, mitsamt euren
ötiickwärtüprophezeiungen, daß es so kommen mußte!
Die Schuld Deutschlands! Was läßt sich ans Archiven und mit Dokumenten
beweisen? Daß der Krieg zu verhüten war, wenn an irgendeiner Stelle der
kritischen Tage Deutschland anders gehandelt hätte. Jetzt wissen wir das. Damals,
im Sturz der Ereignisse, in der Verzauberung des allgemeinen Mißtrauens,
unter dem Druck ' aufgespeicherter Leidenschaften, wer übersah damals' den
Zusammenhang? Aber ich mache mich anheischig, genau denselben Beweis für
jede der anderen Mächte mit gleicher Bündigkeit zu führen. Deutschlands Schuld?
Ich und du und Millionen andere, Nur waren nicht schuldig, wir sind in den
Krieg gezogen und haben unsere Haut zu Markte getragen, weil wir unser Vater¬
land bedroht sahen. Zum Teufel mit denen, die sich selbst die Treue nicht halten
können und sich ihrer Aufschwünge schämen. Und wenn es Leute gegeben hat, die,
an entscheidender Stelle, den Krieg mit bewußter Absicht herbeizuführen wagten:
diese Handvoll Desperados sind nicht Deutschland — und es müßte erst noch
bewiesen werden, daß sie nicht recht hatten.
Daß sie nicht recht hatten! Jawohl, so steht es. Denn, meine Herren
Pazifisten und Negativisten, was erleben wir denn jetzt? Macht euch nicht lächer¬
lich mit eurer Schuld Deutschlands! Was die Entente uns Wehrlosen und
Zusammengebrochenen arent, das, genau das ist es, wovor uns unsere Kriegs¬
hetzer gewarnt haben. Was jene sich erlauben an Machtdelirien und Sieger¬
brutalitäten, da sie uns, sechs Monate nach Einstellung der Kämpfe, weiter
hungern lassen, da sie die Gefangenen einbehalten, da sie uns das rollende
Material, Kriegsflotte, Handelsflotte, Heeresgerät abpressen, und das bitterste dem
gefesselten Gegner noch aufsparen, dagegen war das papierene Gezeter unserer
Kriegsfanatiker Spielerei von Kindern. Auch unsere Faust lag brutal auf den
Bevölkerungen der besetzten Gebiete; aber es -war Krieg, es ging auf Tod oder
Leben. Seit dem 9. November ist kein Krieg mehr, und keine Möglichkeit des
Krieges. Wenn ihr euch so entrüstet über Gewaltpolitik, warum nicht über die,
die ihr von unseren Feinden, und die ihr seit sechs Monaten erlebt?
Eines Tages müssen sie Frieden machen, neue Ernten werden reifen, über
Jahr und Tag werden die Arbeiter zu ihrer Pflicht zurückkehren, auch diese Not
wird ein Ende nehmen. Aber was nicht wieder zu gewinnen, was endgültig
verloren bleibt, das ist der Glaube an die Macht des Rechts im Völkerleben. Die
da drüben haben den Krieg verewigt. Die da drüben haben 'gemacht, daß unser
Krieg, wenn er ungerecht war, gerecht geworden ist durch fein Ende. Ich glaube
mit Schopenhauer an die UnVeränderlichkeit des menschlichen Charakters. Ich
glaube noch viel fester an die UnVeränderlichkeit der Volkschavaktere. Was uns
jetzt angetan wird, erträgt kein Volk. spätestens in zehn Jahren sind wir
moralisch bereit zum Nevanchckrieg — mag es auch faktisch .hundert Jahre dauern,
bis wir stark genug sind, aufzustehen. Und ich frage zeden einzelnen von euch:
Wenn du Schmach und Not und Demütigung und Beraubung und Zerstückelung
dieser Tage abwenden könntest dadurch, daß du dich selbst und dein ganz persön¬
liches Glück zum Opfer brachtest, würdest du es tun? Nicht wahr, du
würdest es tun.
Und also sage ich euch, daß ihr besser seid, als ihr euch stellt. Besinnt euch!
Es gehört kein Mut mehr dazu, das zu schelten, was ihr zu Schollen liebt, und das
zu preisen, was ihr zu preisen euch angelegen sein lasset. Diese. Erwägung allein
sollte euch bewegen, fortan mindestens zu schweigen. Und da ist noch etwas,
woran ihr wahrscheinlich nicht gedacht habt: Das Proletariat ist jetzt an der Macht,
und die Entente ist jetzt an der Macht. Wie nannte man es doch ehedem, wenn
die Beflissenen sich vor der Macht beugten? Nicht alle Byzantiner waren Lügner
und Heuchler, nicht alle dienten mit Rückenkrümmen und Speichellecker. Sie
hatten das Glück, daß ihre ehrlichen Überzeugungen nach der Macht wuchsen, wie
Blumen nach der Sonne.
Ein Mann des Geistes sei ein Ritter des Geistes. Ritterlich aber ist es, die
Partei des Schwachen zu nehmen. Deutschland in seinem Glänze war würdig
eurer Feindschaft, eures tödlichen Witzes, eures eifernden Fluches. Von dem am
Boden liegenden Deutschland ist für eure Waffen weder Ruhm noch Ehre
zu holen.
Die Frage der Beteiligung des Papstes an den
Friedenskonferenzen im Spiegel der öffentlichen
Meinung des Auslands
el den Vorbereitungen zu den Friedensverhandlungen ist bisher
auf keiner Seite eine wichtige Frage offiziell berücksichtigt worden,
trotzdem sie früher bereits zu wiederholten Erörterungen Anlaß ge¬
geben hat: Die Frage der Teilnahme des PapstesI Der Ent¬
sendung eines päpstlichen Vertreters zu den Friedenskonferenzen
steht hindernd im Wege die Befürchtung der italienischen Regierung,
die ihr peinliche „Römische Frage", der Anspruch des Oberhauptes der katholischen
Kirche auf Wiederherstellung seiner Souveränität und auf Wiedererlangung eines
beträchtlichen Teiles des Territoriums, das er bis 1870 besessen habe, könne bei der
Gelegenheit wieder aufgerollt werden und eine Italien und seinen Landesinteressen
nicht zusagende Lösung finden/)
Um das zu verhüten, hatte der italienische Außenminister Sidney Sonnino
bei Abschluß des Londoner Geheimabkommens vom 26. April 1916 die Ein-
schiebung des Artikels 15 durchzusetzen gewußt, durch welchen sich Frankreich,
Großbritannien und Nußland verpflichteten:
Italien in seinem Widerstande gegen die Zulassung von Vertretern des
Heiligen Stuhles bei irgendwelchen diplomatischen Schritten über den Friedens¬
schluß oder über die Regelung der mit dem gegenwärtigen Kriege zusammen¬
hängenden Fragen ihren Beistand zu leisten.
Inwieweit und gegebenenfalls ob überhaupt die unterzeichnenden Mächte,
aus deren Zahl Nußland inzwischen so gut wie ausgeschieden ist, sich an diese
ihnen aufgedrängte Vertragsbestimmung halten werden, ist mindestens fraglich.
Von durchaus nicht zu unterschätzenden Werte ist jedenfalls die Stellung
der öffentlichen Meinung, die Stellung der Presse, besonders im nicht deutschen
Auslande, zu jener Frage der Beteiligung des Papstes an der Friedenskonferenz.
Nach dem eben Gesagten würde die erste Voraussetzung für eine derartige
Beteiligung eine Verständigung zwischen Vatikan und Quirinal sein. nachdrücklich
haben auf eine solche bereits am 12. Dezember 1913 die englisch-liberalen „Daily
News" mit der Mitteilung hingedeutet:
Es bestehe aller Grund zu der Annahme, daß die geheimen Verhandlungen
zwischen dem Papst und der italienischen Negierung auf der Grundlage des Ver¬
zichtes des Papstes auf weltliche Macht erfolgreich gewesen sind. Es heißt, daß
die von der italienischen Negierung gemachten Konzessionen mit der territorialen
Unversehrtheit Italiens vereinbar sind, woraus angenommen werden kann, daß
sie nicht die Bildung eines die apostolischen Paläste mit der See verbindenden
Landstreifens — des vielerörterten „Korridors" — in sich schließen. Der Papst habe
Wilson gebeten, von dem vorgeschlagenen Abkommen Kenntnis zu geben.
Das Gerücht über derartige geheime Verhandlungen veranlaßte in jenen
Tagen das Pariser „Journal" zu der Meldung, daß der Papst auf der Friedens¬
konferenz vertreten sein müsse, um dort seinen Verzicht auf seine territorialen
Ansprüche auf Rom aussprechen zu können, wobei er sich nur die Souveränität
über die apostolischen Paläste und über jenen Landstreifen zum Meere vorbehalte;
hinsichtlich des letzten Punktes wohl verstanden ein Gegensatz zu der Meldung
der „Daily News"!
Hatten etwa diese Mitteilungen der beiden angesehenen Presseorgane Londons
und Paris' den Zweck, Wünsche ihrer Regierungen zu Ausdruck zum bringen, daß
dem Papste die Möglichkeit einer Vertretung aus dein Friedenskongreß gewährt
werde? Daß italienische Presseorgane dagegen Widerspruch erheben würden, war
zu erwarten. Die „Perseveranza" vom 13. Dezember verwies auf das „Garantie¬
gesetz" vom 13. Mai 1871, welches das äußerste Entgegenkommen an Zugeständ¬
nissen von selten Italiens gegenüber dem Apostolischen Stuhle darstelle und
seinen Zweck während 47 Jahren vollauf erfüllt habe. Die „Perseveranza" gab
dabei zu bedenken, daß eine extreme antiklerikale Richtung in Italien auf die
Beseitigung des Garantiegesetzes und auf die Unterstellung des Oberhauptes der
katholischen Kirche unter das italienische Landesgesetz hinarbeite. Das Blatt stellte
auch bei der Kurie die Absicht in Abrede, ans ihren Widerspruch in der römischen
Frage zu verzichten, und nahm als sicher an, daß auf dein Friedenskongreß kein
Vertreter des Papstes erscheinen werde.
Während hier die „Perseveranza" eine Aktion des Vatikans auf der Friedens¬
konferenz, die Möglichkeit einer dortigen Teilnahme überhaupt als unwahrscheinlich
darstellte, sah sie sich zwölf Tage, später doch veranlaßt, auf jenen Gegenstand
zurückzukommen und wenigstens ein Zugeständnis zu machen:
Was an dem Gerücht wahres ist, daß der Vatikan auf der Friedenskonferenz
versuchen werde, die römische Frage zu lösen, ist schwer zu sagen. Fest steht
wohl nur, daß unbeschadet der Rechte Italiens, auf dem Friedenskongresse die
juridische Seite der Frage ihre. Regelung finden wird.
Die „Perseveranza" hätte sich zu weit bedeutenderen Zugeständnissen ver¬
stehen dürfen, angesichts eines inzwischen erschienenen Artikels des osfiziösen Re¬
gierungsorgans, des „Giornale d'Italia" vom 17. Dezember, in welchem darge¬
legt wurde, daß die, Verwandlung des Garantiegesetzes in ein Konkordat erwogen
werde. Auch der Vatikan sei dieser auf einen Friedensschluß mit dem Königreich
Italien hinauslaufenden Lösung geneigt. Nur wünsche er gewisse kleine Ände¬
rungen in den ihm zugestandenen Rechten und Befugnissen, darunter eine größere
Freiheit bei der Ernennung der Bischöfe, das Eigentumsrecht an den vatikanischen
Palästen, statt ihrer bloßen Nutznießung, nicht zuletzt eine Modifizierung der ihm
reservierten finanziellen Bezüge, damit sie nicht wie eine Besoldung von selten
Italiens erschienen. Dabei soll sogar die Aufhebung der selbstgewählten Ge-
fangenschcist des Papstes in Erwägung gezogen werden, gemäß dringenden
Wünschen, die in katholischen Kreisen mehr und mehr an Boden gewinnen. Hin¬
gegen gehöre die territoriale Forderung eines Seehafens und des zu ihm reichenden
Korridors in das Reich der Fabel.
Diese Ausführungen des „Giornale d'Italia" und ähnlicher anderer Blätter
hinsichtlich einer Neuorientierung des Vatikans lehnte das Organ des letzteren, der
„Osservatore Romano", in Bausch und Bogen, als phantastisch und nicht ernst zu
nehmen, ab. Das gleiche Schicksal, nur in schärferen Formen, hatte auch die
Anregung jenes Sonnino-Vlattes, die diplomatischen Vertretungen beim Heiligen
Stuhle mit denen beim Quirinal zu vereinigen; um die damals befürchtete Er-
richiung eitler amerikanischen Vertretung beim Vatikan zu hintertreiben, wäre
diesem ein wertvolles Souveränitätsrecht entzogen worden!
Zu weitgehend und augenscheinlich unberechtigt waren die Auslassungen
der „l'Jnformcttion" vom 28. Dezember über einen Verzicht des Heiligen Stuhles,
an der Friedenskonferenz teilzunehmen, der den Zweck habe, den katholischen
Gruppen in Italien völlige Aktionsfreiheit bei ihren politischen Handlungen
zu lassen.
Da ward der Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas,
Woodrow Wilson, bei Papst Benedikt dein Fünfzehnten.am 4. Januar 19 !9 Ereignis.
Daß der angeblich vom Papst gewünschte Besuch, auf Grund der offiziellen Ankündi¬
gung von feiten der amerikanischen Botschaft, im Vatikan mit großer Spannung
erwartet werde, verriet der „Secolo" vom 3. Januar. Denn nach guten Imso»
nativum wolle der Papst ihn benutzen, um einen von ihm entworfenen Lösungs¬
plan für die römische Frage zu erörtern.
Waren diese Informationen wirklich zutreffend, so scheint Benedikt der Fünf¬
zehnte von jenem Vorhaben, vermutlich auf Grund der Vorverhandlungen seines Ab¬
gesandten, Erzbischofs Monsignore Bonaventura Ccretti, mit Wilson in Paris, ab¬
gekommen sein. Denn nach einer Meldung des „Secolo" vom 5. Januar muß jede
Anspielung auf die römische Frage in der am gleichen Tage stattgefundenen Unter¬
redung zwischen dein Papste, dessen italienischer Patriotismus übrigens außer
Frage steht, und dem amerikanischen Präsidenten unterblieben sein.
Das wäre eine Analogie gewesen zu dem ersten Besuche Kaiser Wilhelm des
Zweiten bei Papst Leo dem Dreizehnter am 11. Oktober 1888. Die Berührung
der römischen Frage wurde beim ersten Versuche des Papstes damals durch Graf
Herbert Bismarck hintertrieben, der durch Hineinführung des Prinzen Heinrich das
Gespräch gewaltsam unterbrach.
In bezug auf eine Teilnahme des PaPsteS an den Friedensverhandlungen
dürfte Wilson, falls sie wirklich in jener denkwürdigen Unterredung berührt worden
ist, auf den formalen Einwand hingewiesen haben, das; nur die Vertreter der
kriegführenden Natwnen das Zutrittsrecht zur Konferenz hätten. Nach Meldungen
Pariser Blätter aus jenen Tagen war besagie Bestimmung als Zusatzartikel in
das Londoner Abkommen aufgenommen worden.
Über die hier vorgelegten Nachrichten, vornehmlich der italienischen Presse
aus dem vergangenen Herbst und Winter, in b« zug anf Unterhandlungen zwischen
Vatikan und'italienischer Negierung, wobei letztere erst durch den Direktor des
Kulturfonds, Baron Monti, 'dann durch den Erminister Riedl vertreten worden sei,
äußerte sich am 28. März 1919 das Organ der bayerischen Zentrumspartei, die
„Augsburger Postzeitung" recht absprechend; sie bezeichnete das Ganze als Komödie,
Italiens scheinbares Entgegenkommen gegenüber dem Vatikan als Heuchelei,
lediglich bestimmt, einem schlechten Eindruck bei Wilson vorzubeugen, damit bei
ihm nicht der Papst ein machtvolles Organ für seine Pläne und Wünsche gewinne.
Genau am Tage nach der Abreise des Präsidenten aus Rom seien die Ver¬
handlungen abgebrochen worden und zwar wegen der von Benedikt verlangten
Anerkennung seiner absoluten Souveränität durch den Völkerbund, die Italien
natürlich ablehne; — bekanntlich wolle es in der Römischen Frage keine Sanktio¬
nierung durch fremde Machte dulden! —
Ist die „Augsburger Postzeitung" wirklich so gut unterrichtet, daß sie mit
ihrem Pessimismus, mit ihrem Mißtrauen gegen Italiens Absichten Recht hätte?
Unleugbar haben sehr beachtenswerte Verhandlungen zwischen Vatikan und
Quirinal in den letzten Monaten stattgefunden, die zweifellos die Grundlage zu
weiteren wichtigeren bilden können. Man denke nur an die gerade jetzt immer
schwieriger werdende Position Italiens bei den Friedensverhandlungen! —
In den Vordergrund ist jedenfalls die Teilnahme des Papstes am Völker¬
bund getreten. Bereits am W, Dezember hatte der „Secolo" die derzeitigen
Absichten der vatikanischen Politik. — nach dem Ausbleiben einer Einladung zur
Friedenskonferenz, die der Heilige Stuhl nur in bedingungsloser Form an¬
genommen hätte, — dahin denen zu dürfen geglaubt, daß die Mächte der Entente
zur Übertragung des Schiedsgerichts an den Papst bei internationalen streitig,
leiten im Völkerbund veranlaßt werden sollten; in einer solchen hervorragenden
Stellung hätte er dann, auch ohne Beteiligung am Kongreß, die Möglichkeit die
von ihm gewünschten internationalen Garantien für seine Souveränität zu ver¬
langen, welche ihm Italien bis jetzt im Garantiegesetz nicht gewährt habe. In
den Unterredungen mit Wiljon ist dementsprechend, gemäß den Mitteilungen
der italienisch-kmholischen Trustpresse, schon in der Vorsprechung mit Monsignore
Ceretti die Frage des Völkerbundes, als Ausgangspunkts aller gegenwäriigen
und zukünftigen diplomatischen Verhandlungen des Heiligen Stuhls, als Haupt¬
mittels zur Sicherstellung des zukünftigen Friedens, behandelt worden.
Nicht ein italienisches Blatt, sondern das führende Organ der englischen
Liberalen, die „Daily News", brachte am 17. März die Notiz, daß, nach zuver¬
lässiger Quelle, die Großmächte wahrscheinlich den Beitritt des Papstes zum
Völkerband anregen werden, und, da diese Tatsache die Anerkennung der
Unabhängigkeit des Heiligen Stuhles in sich schlösse, dürfte eine Lösung der
römischen Frage die nötige Folge sein. In Verbindung mit dieser Nachricht
gewänne der kurz zuvor stattgehabte Besuch des Kardinals Amedee, Erzbischofs
von Paris, nach dessen Unterredung mit Clemenceau, beim Pcipst erhöhte Bedeutung.
Dieser Besuch erweckte in diplomatischen Kreisen die Vermutung, es handele sich
um Besprechungen zwecks Wiederaufnahme der früheren Beziehungen zwischen
Frankreich und dem Vatikan in dem alten Umfange, wobei die Form noch un¬
entschieden bliebe, ob durch einen ständigen Gesandten oder durch gelegentliche
Beauftragung eines hohen Prälaten. Daß der letztere Modus von der italienischen
Negierung seit längerer Zeit beobachtet werde, berichtete dabei das „Giorncile
d'Italia". Der Vorschlag dieses offiziösen Organs, dem Papste im Völkerbunde
eine Aufnahme mit nur beratender Stimme zu bewilligen, — wodurch die von
ihm bezweckten Bürgschaften für die Ausübung seiner Souveränitätsrechte natürlich
hinfällig geworden wären — erweckte im Vatikan einen umgehenden Protest. —
Doch kehren wir noch einmal zur Stellung Venedikts des Fünfzehnten gegen¬
über der Friedenskonferenz zurückl Er selbst hat in seiner Weihnachtsansprache an
das Kardinalskolleg (1918) vor allem den Wunsch ausgesprochen, daß über der
Konferenz jener Geist schweben möge, dessen Hüter der Papst ist, und hat die
Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß ihre Beschlüsse nicht allein die Wieder¬
herstellung der Ordnung, sondern auch das Wiederaufblühen der gegenseitigen
Menschen- und Bruderliebe zwischen den Völkern herbeiführen werde. Den ge¬
rechten Beschlüssen des Weltkongresses sichere er die Unterstützung seines Einflusses
auf die Gläubigen zu; sie sollen der Welt einen, wirklichen und dauerhaften
Frieden bringen.
Die Tätigkeit des Papstes werde sich künftighin hauptsächlich folgenden
Gebieten zuwenden: Pflege und Unterricht der Kinder, Schutz und weise Leitung
der Arbeiter, geeignete Beratung und Aufmunterung der wohlhabenden Klassen
über gute Verwendungen von Reichtümern und Macht („Köln. Volkszeitung" vom
31. Dezember 1918).
Die 14 Punkte des Wilsonschen Programms sind, nach einer Genfer Mit¬
teilung vom 1. Januar, des vollen Beifalls Benedikts sicher; im besonderen be¬
stehe der Papst auf vier Punkte: 1. Gewalt müsse dem Rechte weichen; 2. Keine
Nation dürfe von einer anderen unterdrückt werden; 3. Eine allgemeine Ab¬
rüstung müsse stattfinden; 4, Ein internationaler Gerichtshof eingerichtet werden.
Demgemäß proklamierte die „Italia", das Organ der lombardischen Kleri¬
kalen, am Tage nach Wilsons Vatikanbesuch, den Gedanken: Wie heute WUson
am Vorabend des Friedenskongresses bei seinem Besuch in Italien nicht den heiligen
Vater ignoriert, sondern ihm mit seinem Besuch eine Huldigung erwiesen hat,
so darf auch der Papst bei der Ausführung des großen Friedenswerkes nicht
ignoriert werden. Aber — argumentiert das Blatt weiter — des Papstes Be¬
teiligung darf nicht auf eine Vertretung bei der Konferenz beschränkt werden.
Vor allem muß der christliche Gedanke, den der Papst verkörpert, bei der Be¬
gründung der neuen Weltordnung zur Geltung kommen; und an früherer Stelle
betont das Blatt: der Heilige Stuhl habe keine eigenen politischen Vorteile zu
vertreten, er werde seine ganze Aufmerksamkeit der unparteiischen Wahrung der
Grundsätze höchster Gerechtigkeit bei der Neuordnung der Staaten zuwenden und
dementsprechend eine Vorzugsstellung einnehmen. Der Gesichtspunkt des Vatikans
könne nie dahin verdächtigt werden, daß er sich von politischen Vorteilen betei¬
ligter Kreise beeinflussen lasse: Sein Leitgedanke würde die bereits im August
19l7 in der Friedensnote mitgeteilte Losung sein, daß die moralische Kraft des
Rechts an Stelle der materiellen Kraft der Waffen treten muß. Er werde die
allgemeine Abrüstung, die Abschaffung der regulären Dienstpflicht befürworten.
Unter derartigen Voraussetzungen werde die Teilnahme des Papstes an der Friedens¬
konferenz eine Bestätigung und eine Wahrung des Rechts aller bedeuten I
Außerhalb Italiens waren bereits im November 1918 die Kardinäle Gibbons
und Mercier beim Präsidenten Wilson wegen Teilnahme des Papstes an der
Friedenskonferenz durch einen Vertreter, laut Rotterdamer Meldungen, vorstellig
geworden. Eine entschiedene Kundgebung für die Vertretung des Papstes beim
Kongreß kann auch Spanien aufweisen! Dort hat nach dem „Universo Madrid"
vom 11. Februar die Vereinigung der Familienväter und Familienvorstände sich
mit der Bitte an ihre Regierung gewandt, in diesem Sinne ihren Einfluß geltend
zu machen.
Anläßlich des Kongreßbcginns soll der Pariser Erzbischof Kardinal Aiuette
dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, als Vorsitzenden, eine
Denkschrift des Heiligen Stuhls über die Notwendigkeit der Freiheit der katho¬
lischen Kirche und wegen einzelner besonderer Fragen überreichen.
Im übrigen ergibt sich aus den angeführten hauptsächlichsten Presseäuße-
rungen, daß im Auslande die Diskussion über die Teilnahme des Papstes an
der Friedenskonferenz und über ihren moralischen Wert für diese noch lange nicht
abgeschlossen ist! Die Stimmen zu deren Gunsten mehren sich!
Dem eben gekennzeichneten Standpunkt leidenschaftsloser Unparteilichkeit
und christlicher Nächstenliebe Papst Benedikt des Fünfzehnten entspricht jedenfalls
seine Stellung zu einer etwaigen Einladung zur Friedenskonferenz, wie sie Mitte
März sowohl vom „Corriere d'Italia", als auch vom „Osservatore Romano",
den beiden dem Vatikan nächststehenden Organen, präzisiert worden ist. nämlich
eine Einladung nur im Falle eines Vergleichsfriedens anzunehmen; die Vermittler¬
tätigkeit des Papstes sei nicht zu haben bei einem Diktatfriedm! Dieser Entschluß
sei schon zu Anfang des Krieges gesaßt gewesen.
, Demselben Geiste christlicher Nächstenliebe, wie er aus Benedikt des Fünf¬
zehnten Friedenserlassen, aus seiner Fürsorge für die unglücklichen Gefangenen,
besonders für die kriegsuntauglich gewordenen, aus seinen vielen anderen menschen¬
freundlichen Bemühungen während des Weltkrieges hervorgeht, entspringt sein
Eintreten für die besiegten Nationen.
Daß sich, gemäß einem Bescheide, den der Münchener Erzbischof Faulhaber
vom Kardinal-Staatssekretär Gasparrt erhalten hat. Benedikt wegen Aushebung
der Blockierung Deutschlands und ErWirkung von Levcnsmittelsendungen für die
dem Hungertode nahen Nationen an den Präsidenten Wilson, an den französischen
und an den amerikanischen Episkopat, sowie an die englische Regierung gewandt
habe, berichtete schon am 3. Dezember das französische Blatt „Le Journal".
Hingegen wurde, laut „Petit Journal" vom 7. Dezember, die Nachricht, daß der
Papst bei den Verbündeten für eine Milderung der Waffenstillstandsbedingungen
eingetreten sei und die Bischöfe gebeten habe,- ihren Einfluß in diesem Sinne
geltend zu machen, wenigstens von Monsignore Chapon, Bischof von Nizza, in
Abrede gestellt.
Jedenfalls ist die erstgenannte Nachricht zutreffend, und mit Recht hat
am 10. April in Weimar der deutsche Reichsminister des Äußern, Graf Vrockdorff.
Rcintzau, dem Papste, der auch noch in jüngster Zeit seinen Einfluß für eine schleunige
Hilfe gegen die Hungersnot eingesetzt hat, seinen besonderen Dank unter leb¬
haftem Beifall der Nationalversammlung ausgesprochen!
meer den vielen wichtigen Fragen, die die Friedenskonferenz zu
entscheiden haben wird, wird ohne Zweifel die „polnische" eine der
kompliziertesten sein; denn für den Außenstehenden bezw. denjenigen,
der sich nicht jahrelang mit den einschlägigen Verhältnissen befaßt
und diese an Ort und Stelle studiert hat, ist es nicht leicht, sich
ein maßgebendes Urteil zu bilden.
Bei der Schaffung eines Polnischen Staates handelt es sich um ein Problem,
das wohl in seiner Art' ein vollständiges Novum bildet. Handelt es sich doch um
die Wieoererschaffnng eines großen StaatengebildeS, das seit etwa 125 Jahren
aufgehört hat zu existieren. Überdies gehen die Bestrebungen der Polen dahin,
daß ihrem Staate nicht bloß das ehemalige Kongreßpolen mit den angrenzenden
Gebieten, sowie Galizien, sondern auch diejenigen Bezirke zugesprochen werden
sollen, die ebenfalls schon im achtzehnten (!) Jahrhundert preußiich geworden und
mit einer starken deutschen Bevölkerung und mit deutscher Kultur durchsetzt sind.
Wenn dieser Fall eintritt, dann würden sich in dem neuen polnischen Staate
drei ganz heterogene, in ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen Kultur grund¬
verschiedene Länder zusammenfinden. Galizien ist bekanntlich, obwohl dort die
Polen völlige Autonomie hatten, ein in jeder Beziehung sehr schlecht bewirtschaftetes
Gebiet, rückständig und verarmt, trotzdem es mit Bodenschätzen aller Art reichlich
ausgestattet ist. Kongreßpolen, von dessen Verwaltung die Polen seitens der
Russen dauernd und vollständig ausgeschlossen waren, ist von Rußland aus
politischen Gründen, um es wirtschaftlich nicht zu sehr erstarken zu lassen, und
aus strategischen Gründen, welche Nußland veranlaßt haben, in Polen möglichst
wenig Bahnen und Chausseen zu bauen, absichtlich niedergehalten worden. Und
da die wirtschaftliche Kultur Nutzlands bekanntlich an sich schon gegenüber der
europäischen sehr rückständig ist, so kann man sich ungefähr vorstellen, wie grund¬
verschieden die Kultur Kongreßpolens in jeder Beziehung von derjenigen der
Provinz Posen ist. Besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Provinz
Posen vom Preußischen Staate stets eine weitgehende Förderung erfahren hat.
Eine Komplikation erfährt das Problem der Neugründung des Polnischen
Staates in der von den Polen gewünschten Form noch durch die ungeheuer große
Anzahl der dort befindlichen Juden. Die Zahl der Juden war in Kongreßpolen
an und für sich schon eine sehr hohe, wurde aber dadurch noch erheblich ver¬
größert, daß Rußland vor einer Reihe von Jahren sich veranlaßt gesehen hat,
eine weitere große Anzahl russischer Juden (Lilwaken) gewaltsam auf administrativen
Wege aus gewissen russischen Bezirken nach Polen zu dräugen, so daß jetzt die
Zahl der Juden in Kongreßpolen und Galizien auf annähernd etwa drei Mittönen
geschätzt werden kann. Das Hütte an sich nichts zu sagen, wenn diese Juden,
wie in den Mittel- und westeuropäischen Ländern, sich von der Bevölkerung nur
durch die Religion unterscheiden würden. Diese drei Millionen Juden sind aber
nicht bloß von Nußland, sondern auch schon früher von Polen durch gesetzgeberische
Maßregeln und durch in der Praxis ausgeübten Druck sowohl in materieller als
in kultureller Hinsicht zu Parias gestempelt worden. Sie stehen infolgedessen
heute noch auf einem — man könnte sagen — mittelalterlichen Standpunkte.
Ans vorstehendem erhellt, daß Wohl noch niemals, solange die Welt existiert,
ein Volksbestandteil einer Entscheidung von so ungeheuer einschneidender Bedeutung
gegenübergestellt war, wie die Bewohner der Provinz Posen, falls diese Piovinz
ein Be andteil des neuen Polnischen Staates werden würde. Dieser Fall ist
beispielsweise mit demjenigen von Elsaß-Lothringen auch nicht im entferntesten zu
vergleichen. Die Elsaß-Lothringer kämen, wenn ihr Land wieder Frankreich ein¬
verleibt wird, in eine, wenn auch etwas anders geartete, so doch gleich hohe
Kultur. Hier aber würde eine in jeder Beziehung kulturell hochstehende Provinz
von etwa 29000 Quadratkilometern und etwa zwei Millionen Einwohnern mit
einem großen, etwa 400000 Quadratkilometer umfassenden Staate zusammen-
geschmolzen werden, der in bezug auf administrative, wirtschaftliche, soziale und
sonstige Kultur klaftertief unter der Provinz Posen ficht, Wie groß der Unterschied
ist, kann nur derjenige beurteilen, der einmal — besonders zu normaler Zeit,
d. h, vor Beginn des Weltkrieges — von Posen aus über die Grenze gefahren ist.
Während an den meisten anderen Stellen unserer Erde, wenn man über
eine Landesgrenze, ja selbst, wenn man von einem Erdteil nach dem andern fährt,
der Übergang von einer höheren in eine niedrigere Kultur ein allmählicher ist,
glaubt sich derjenige, der von Posen aus nach Russisch.Polen fährt, sobald er die
Grenze überschritten hat, in eine ganz andere Welt versetzt! Das wird selbst
demjenigen sofort klar, der sonst weder gewöhnt noch sähig ist, derartige Dinge
zu beobachten. Posen ist eine agrarische Provinz, die infolge ihrer Zugehörigkeit
zu der hochentwickelten Volkswirtschaft Deutschlands durchweg eine intensive Be¬
wirtschaftung des Bodens ausweist Die Provinz steht in bezug auf Verbrauch
von künstlichen Düngemitteln, also von Kali, Phosphorsäure und Stickstoff mit an
der Spitze aller preußischen Provinzen, und es wird überall dem Boden an
Erträgnissen soviel entlockt, als es nach dem heutigen Stande der landwirtschaft¬
lichen Technik möglich ist. Überschreitet man aber die deutsch-russische Grenze, so
sieht der Kundige sofort, daß es sich dort um eine durchweg extensive Wirtschaftsweise
handelt. Das bedingt auch schon der große Mangel an Eisenbahnen, Chausseen usw.
Dementsprechend verschieden sind auch die Bodenertrögnisse. Wahrend beispiels¬
weise in der Provinz Posen, obwohl die Böden zu einem reichlichen Drittel Sand¬
boden sind, vom Hektar im Jahre 1918 geerntet wurden:
stellen sich diese Zahlen für Polen nach polnischer Angabe (nach der russischen
Statistik stellt sich die Produktion Polens im Vergleich zu der Posens noch
ungünstiger dar) ungefähr wie folgt:
„ Weizen....., 11,3
Analog sind die Unterschiede in der Viehhaltung, in bezug auf das maschinelle
Inventar usw. Ebenso sind die Unterschiede in bezug auf Schulwesen, Hygiene,
soziale Fürsorge geradezu ungeheuere. Für das Schulwesen in der Provinz
Posen hat der preußische Staat seit vielen Jahrzehnten enorme Aufwendungen
gemacht, so daß es in dieser Provinz selbstverständlich ebensowenig wie in anderen
Bezirken Deutschlands Analphabeten gibt. In Polen aber ist ihr Prozentsatz
bekanntlich ein ganz besonders hoher. Auch in hygienischer Beziehung ist für die
Provinz alles geschehen, was nach dem heutigen Stande der Wissenschaft möglich
ist- Hingegen sind in Polen, besonders in den kleinen Städten und auf dem
Lande, kaum embryonale Anfänge davon vorhanden. Gänzlich aber fehlen die
Maßnahmen sozialer Fürsorge (Jnvaliditäts-, Alters-, Krankenversicherung usw.).
Ku-iUm, der Unterschied ist ein so augenfälliger, daß, wie schon oben erwähnt,
felbst der in volkswirtschaftlichen Dingen absolut laienhafte Reisende, sobald er
die Grenze überschreitet, das Gefühl hat, in einer andern Welt zu sein. Hier
Europa — dort Asien! II
Kann es unter solchen Umständen ein Friedenskongreß, auf dem eine aus-
erlesene Schar von Männern über das Schicksal der europäischen Völker zu
entscheiden hat, verantworten, eine in jeder Beziehung so hochstehende Provinz,
Wie sie Posen ist, nur deshalb gewaltsam aus ihrer Kultur herauszureißen und
mit einer weit rückständigeren zu verbinden, weil sie vor 128 Jahren zu dem
jetzt neu zu bildenden polnischen Staate gehört hat und weil drei Fünftel ihrer
Bewohner Polen sind, während zwei Fünftel dem Deutschtum angehören? ES
liegt hier, wie schon oben erwähnt, ein ganz besonderer Fall vor, und darum ist
es schwer, ein analoges Beispiel zu nennen. Man könnte sich allenfalls Beispiele
künstlich konstruieren. Würde wohl, wenn die Grafschaft Suffolk an Serbien
grenzte und die Bewohner von Suffolk zu zwei Fünftel aus Engländern und
drei Fünftel aus Serben beständen, der Friedenskongreß entscheiden, daß Suffolk
dem serbischen Staate einverleibt werden müßte, oder würde es nicht vielmehr
heißen, daß man in einem solchen Fall die Stimmen nicht „zählen", sondern
„wogen" müsse? Und daß es zum Besten der Gesamtbevölkerung der betreffenden
Provinz und auch in weltwirtschaftlicher Beziehung das Richtige ist, in solchem
Falle nicht bloß mit der Anzahl der Menschen zu rechnen, sondern auch Kultur¬
werte aller Art mit einzuschätzen? Es ist wohl kaum anzunehmen, daß, um ein
zweites Beispiel anzuführen, wenn das Departement Dordogne Portugal benachbart
wäre, bei einer Einwohnerschaft, die zu zwei Fünfteln aus Franzosen und drei
Fünfteln aus Portugiesen bestünde, nur deshalb das Departement dem portugiesischen
Staate zugesprochen werden würde. Oder würden die Vereinigten Staaten damit
einverstanden sein, Texas an Mexiko abzutreten, wenn Texas zu ein Fünftel mehr
von den Mexikanern als von Acmkees bewohnt wäre? Hat Preußen, abgesehen
von allen andern Momenten, nicht das wohlbegründete unantastbare Recht aus
eine Provinz, die schon mehr als 125 Jahre zu ihm gehört, die bei ihrer Auf¬
nahme in den preußischen Staat aus verunkrauteten Ackern, Sümpfen und schlecht
gehaltenen Wäldern, elenden Dörfern und Marktflecken bestand, und die unter
einem ungeheueren Aufwand von deutscher Arbeit, deutschem Geiste und von
Milliarden in einen Bezirk verwandelt wurde, dessen blühende Fluren und wohl-
geordnete Gemeinwesen jedem Besucher auffallen? Weshalb soll der deutsche
Staat schlechter gestellt werden, als der geringste Arbeiter, der heute das Recht
für sich beansprucht, den Erfolg seiner Arbeit für sich zu behalten?
Als es in den letzten Tagen des Dezember nach dein mit einem die deutsche
Bevölkerung geradezu versöhnenden Pomp inszenierten Einzuge Paderewskrs in
Posen zu einem Zusammenstoß zwischen Polen und Deutschen gekommen war,
weil die Stadt nicht bloß mit polnischen, sondern auch mit französischen und
amerikanischen Flaggen geschmückt wurde, was die Empfindungen der frisch aus
dem Felde zurückkehrenden deutschen Soldaten naturgemäß verletzte, bemächtigten
sich die Polen bekanntlich der Stadt und des größten Teiles der Provinz Posen.
Sie motivierten dies damit, daß die Deutschen mit der „Schießerei" angefangen
hätten. In Wahrheit — dafür gibt es Dutzende von sicheren Beweisen — hatten
die Polen den Pulses längst und systematisch vorbereitet. Im übrigen versicherten
sie, daß sie mit der Besetzung von Stadt und Provinz Posen der Entscheidung der
Friedenskonferenz nicht „vorgreifen" wollten, daß sie vielmehr die Gewalt nur an sich
genommen hatten, um „Ruhe und Ordnung" zu schaffen, daß aber die Provinz Posen
auf der Friedenskonferenz „sowieso" den Polen zugesprochen werden würde. Das
bloße Auftauchen dieser Möglichkeit allein genügte schon, die deutschen Bewohner
aller Schichten und aller Konfessionen in größte Aufregung zu versetzen und dies,
obwohl vielfach angenommen wird, daß die Lasten der Staatsbürger Polens auch
nicht annähernd so groß sein werden, wie diejenigen, die die Bürger Deutschlands
nach dem Kriege zu tragen haben werden. Die deutschen Einwohner der Provinz
Posen — übrigens auch diejenigen Polens —, die seit Jahrhunderten mit den
Polen zusammenleben, kennen eben die einschlägigen Verhältnisse zu genau, um
nicht zu wissen, daß die Aufrichtung eines polnischen Staates und die Einverleibung
der Provinz Posen in denselben für alle Bewohner — auch für die polnischen —
die nachteiligsten wirtschaftlichen Folgen und für die nichtpolnischen Bürger auch
noch sonstige schwerwiegende Nachteile, um nicht zu sagen Gefahren, mit sich
bringen würde. Denn jeder, der den polnischen Volkscharakter kennt, weiß, daß
es den Polen trotz der unfraglich vorhandenen Intelligenz und Gelehrigkeit an
Organisationstalent mangelt, und gerade diese Eigenschaft ist, wie wohl nicht erst
des näheren begründet zu werden braucht, für die Errichtung eines neuen Staats¬
wesens von allergrößter Wichtigkeit. Hierzu kommt der schwerwiegende Umstand,
daß den Polen jede Erfahrung in der Verwaltungstechnik fehlt. Die staatliche
Verwaltungstechnik ist nun aber heutzutage — im zwanzigsten Jahrhundert und
überdies nach einem viereinhalbjährigen Weltkriege — unsraglich komplizierter
als vor eineinhalb Jahrhunderten, und schon damals reichte die Verwaltungs¬
technik der Polen für die Erhaltung des Staates nicht aus. Deshalb dürfte diese
Frage nicht so leicht zu lösen sein. Dies wiegt um so schwerer, als die Polen
gar nicht daran denken, nichtpolnische Elemente in die Verwaltung zu nehmen.
Schon jetzt, da ihnen die Provinz Posen von der Friedenskonferenz noch gar nicht
zugesprochen ist. da sie sie vielmehr erst seit wenigen Wochen provisorisch verwalten,
hatten sie nichts eiligeres zu tun, als die Deutschen — besonders aber die Juden
— überall aus der Provinzial- und Komnmnalverwaltung herauszudrängen.
Obwohl die Juden einen hervorragenden Anteil an dem Lebensmittelhandel der
Provinz Posen haben, ist weder in das von den Polen geschaffene Haupternährungs¬
amt, noch als Leiter eines der diesem unterstellten Ämter, ein Jude berufen
worden. Der por den Polen eingesetzte neue Oberbürgermeister erklärte, ein
jüdischer Name würde bei der polnischen Bevölkerung den Anschein erwecken, „daß
es da was zu verdienen gäbe" II! Ebenso sind im Kreise Sabrina sämtliche
jüdischen Viehkommissionme ausgeschaltet worden. Diese Beispiele ließen sich noch
vermehren, denn die Polen sind bestrebt, den gesamten VerwaliungSapparat im
„Schnellzugstempo" zu polonisieren, ohne jede Rücksicht auf die 800 000 Deutschen,
von denen — mit dieser Tatsache muß nun einmal gerechnet werden — noch
nicht ein Prozent polnisch spricht! — Man weiß, daß die Deutschen — wenigstens
für die nächsten Jahrzehnte — in der Verwaltung schwer zu entbehren sind, aber
der blinde Fanatismus setzt sich darüber hinweg. Man verzichtet lieber von
vornherein auf eine gute Verwaltung, nur „polnisch" soll sie seinl
Typisch sür die Polen ist auch außer ihrem Mangel an Organisationstalent
eine geradezu kindliche Naivität und Leichtfertigkeit in wirtschaftlichen Dingen, die
sie. wie das jeder Eingeweihte aus unzähligen Beispielen kennt, Unternehmungen
mit unzulänglichen Mitteln und nicht genügender Vorbereitung in Szene setzen
läßt. Hierzu kommt ein Mangel an Ausdauer und eine Abneigung gegen wirklich
intensive Arbeit, wie sie hier im Osten besonders notwendig ist. Deshalb gibt es
unter den Polen selbst sehr viel Elemente, welche trotz des brennenden Wunsches,
wieder einen eigenen polnischen Staat zu haben, den kommenden Dingen mit
großer Skepsis entgegensehen. Natürlich wagen sie es nicht, diese Meinung öffentlich
oder in größerem Kreise zu äußern, tun es vielmehr nur in vertrautester Unter¬
haltung. Diese besonnenen polnischen Elemente wissen eben, daß mau auf die
Dauer' von Patriotismus allein nicht leben kann, daß vielmehr in erster Reihe
die wirtschaftlichen Momente in Betracht gezogen werden müssen. Sie fürchten
aber, daß in dem jetzt zu gründenden polnischen Staate die Verwaltungs- und
Wirtschaftstechnik in jeder Beziehung zu wünschen übrig lassen wird. Besonders
Peinlich ist dieser Gedanke den seit fast eineinhalb Jahrhunderten an die preußische
Verwaltung gewöhnten und durch diese verwöhnten pvsenschen Polen. Die Ver-
waltung war, abgesehen von den ebenso törichten wie intoleranten Ausnahme-
gesehen gegen die Polen, eine vorzügliche und hat die pvsenschen Polen zu einem
von ihnen selbst ungeahnten Wohlstand gebracht. Die radikalen Elemente der
Pvsenschen Polen, welche trotz alledem eine Einverleibung der Provinz Posen in
Polen wünschen, setzen sich vorwiegend zusammen aus den Kreisen des polnischen
Klerus und der Presse, die bei der geringen politischen Reife und der naiven
Gläubigkeit des Volkes einen entscheidenden Einfluß auf die öffentliche Meinung
ausüben, ferner der polnischen Juristen, welche in dem neuen polnischen Staate
mit Recht auf große Karriere hoffen, und den polnischen Kaufleuten und Gewerbe¬
treibenden, die große materielle Vorteile infolge Boykotts der nichtpoluischen
Konkurrenz und auf Grund von Protektionswirtschaft erwarten.
Für die NichtPolen, also die Deutschen aller Schattierungen und aller Kon¬
fessionen, kommen noch andere Momente hinzu, die sie geradezu mit Schrecken an
ein polnisches Regime denken lassen. Sie wissen, daß sie von dem übertriebenen,
unausgereiften Nationalismus der Polen nichts Gutes zu erwarten haben. Kennen
sie doch uur zur gut die Intoleranz oder richtiger gesagt Rigorosität, mit der die
Polen die galizischen Nuthenen behandeln.
Daß der Nationalismus der Polen ein so extravaganter ist, ist ja bis zu
einem gewissen Grade begreiflich, weil er sich über hundert Jahre lang nicht aus¬
leben konnte. Er ist aber nun einmal vorhanden und ist übrigens in dem
Temperament der Polen begründet, wie diese selbst zugeben. Und gerade das
wurde immer von den sogenannten Hakatisten, also von denjenigen Deutschen ins
Feld geführt, die für die Ausnahmegesetze gegen die Polen stimmten und deren
Kreis übrigens bei weitem nicht so groß war, wie es die Polen annehmen, bezw.
wie sie es den andern Völkern geflissentlich glauben machen wollen. Die Befür¬
worter einer schärfen Polenpolitik, die von den besonnenen, weitaus in der Mehr¬
zahl befindlichen deutschen Elementen Posens am allerwenigsten gutgeheißen wurde,
beriefen sich immer wieder auf die durch die Geschichte bestätigls Erfahrung, daß
auch die gerechteste Behandlung der Polen diese niemals zufriedengestellt hat, weil
sie einen unauslöschlichen Haß gegen alles Deutsche hegen. Ein übertriebener
Nationalismus zeitigt bekanntlich immer Haß, und das polnische Sprichwort.-
„?ol<i s^vnd sxviatem I^iemiec: nie doclzue pvlalcovi dratom" (solange die Welt
bestehen wird, wird der Deutsche den Polen kein Bruder sein) beweist, daß der
Deutschenhaß in der polnischen Volksseele seit Jahrhunderten unausrottbar wurzelt.
Selbst jetzt vor der Entscheidung der Friedenskonferenz, wo doch den Polen daran
liegen müßte, die Deutschen möglichst für sich zu gewinnen, haben sie aus dieser
ihrer Gesinnung keinen Hehl gemacht. Sobald sie Stadt und Provinz Posen
in ihren Besitz genommen, das deutsche Militär verjagt und die Behörden besetzt
hallen, haben sie die polnische Sprache rücksichtslos in den Vordergrund gedrängt,
obwohl sie wissen, daß die deutsche Bevölkerung dank der ungeschickten Politik
der Regierung zu 99 Prozent einsprachig ist, während fast sämtliche Polen eben¬
sogut deutsch wie polnisch sprechen. Der deuischsprechende Bewohner der Provinz
Posen ist bei der Erteilung von Reisepässen, sonstigen Erlaubnisscheinen und
tausend anderen Dingen nicht bloß gegenüber den Polen im Nachteil, sondern
auch gegenüber dein — allerdings seltenen — polnischsprechenden Dänischen. Den
Deutschen wird nahegelegt, Eingaben an den obersten polnischen Volksrat in pol¬
nischer Sprache zu verfassen. Ebenso beantwortet der polnische Volksrat die
deutschen Eingaben deutscher Firmen in polnischer Sprache. Wenn das schon jetzt
der Fall ist, wie soll es dann später werden?
Noch trauriger gestaltet sich die Zukunft für die in Stadt und Provinz
Posen lebenden Deutschen jüdischer Konfession, die genau wissen, was ihnen blüht,
wenn die Provinz Posen dem Polnischen Staate zugeschlagen wird. Sie wissen,
daß ihre Gleichberechtigung nur auf dem Papier stehen wird und daß sie in der
Praxis auf der ganzen Linie unter einem brutalen Antisemitismus zu leiden
haben werden, wie ihn nur der Pole, allenfalls noch der Rumäne, zuwege
bringt. Rumänien hat bekanntlich im Jahre 1878 auf dein Berliner Kongreß
die Emanzipation und Gleichberechtigung der Juden feierlich versprochen, und
trotzdem seufzen noch heute die rumänischen Juden uuter schweren Ausnahme¬
gesetzen. So wird es auch hier sein. Die Polen werden auf dem Friedens¬
kongreß alles mögliche in der Beziehung versprechen, aber halten werden sie nichts.
Leider aber scheuen sich die Juden und selbst diejenigen, die für den FM, daß
die Provinz Posen polnisch würde, fest entschlossen sind, ihre Heimat zu verlassen,
wegen der jetzt von den Polen rücksichtslos ausgeübten Gewaltherrschaft ihre
Meinung den maßgebenden Stellen gegenüber offen zu äußern. Und diejenigen
Juden, die ihrer Fortexistenz wegen auf alle Fälle in der Provinz Posen bleiben
müssen, haben erst recht Veranlassung, mit ihrer Meinung zurückzuhalten, weil
sie andernfalls alles Mögliche von den Polen zu befürchten haben. Der Pole ist
nun einmal, mit ganz geringen Ausnahmen, Antisemit. In Russisch-Polen leben
seit Jahrhunderten Polen und Juden zusammen. Die Polen waren die Herren,
die Juden stets die Parias, die dauernd unter Druck gehalten wurden, so das', sie
sich weder wirtschaftlich noch kulturell fortentwickeln konnten. Und da Hochmut
und Stolz eine bekannte Nationaleigenschaft der Polen ist, ist den Polen der
Antisemiiismus in suLLum et sanguinsm übergegangen. Das hat sich bis auf
den heutigen Tag erhalten. Besonders judenseindlich ist der polnische Mittelstand.
Rechtsanwälte, Kaufleute, Gewerbetreibende, Arzte, weil für diese der rührige
jüdische Mittelstand eine unbequeme Konkurrenz ist. Der polnische Antisemitismus
äußert sich in besonders brutaler Form. Hierfür könnten viele tausend Einzel¬
beispiele angeführt werden. Einen besonderen charakteristischen Beweis, der auch
die Eigenart der polnischen Judenfeindschaft grell beleuchtet und die Kampf-
Methoden kennzeichnet, bieten die Warschauer Vorgänge des Jahres 19l2. Damals
wurden zum erstenmal Abgeordnete für die russische Duma gewählt. In Warschau
war neben den national-polnischen Kandidaten stark antisemitischer Färbung ein
sozialistischer aufgestellt, und da die Juden im wohlverstandenen eigenen Interesse
für den Sozialisten stimmten und diesen dadurch zum Siege verhalfen, bemächtigte
sich der Polen ob dieser ganz selbstverständlichen Taktik eine ungeheuere Wut.
Sie beschlossen sofort gegen die Juden ganz Russisch-Polens den wirtschaftlichen
Voykott, um sie durch Hunger zur Verelendung zu bringen und zur Auswanderung
zu zwingen. Und dieser Boykott wurde so systemaiisch und so brutal durchgeführt,
daß jedem, der noch einen Ruhe menschlichen Empfindens hat, das Herz blutete.
Der Boykott ging so weit, das; selbst viele arme jüdische Droschkenführer, deren
ganzes Hab und Gut in einem elenden Pferdchen und gebrechlichen Wagen
bestand, diesen Beruf aufgeben mussten, weil sie keine Fahrgäste mehr bekamen.
Sie versuchten Pferd und'Wagen für wenige Rubel an den Mann zu bringen
und mit ihrer Familie auszuwandern, um dem Hungertode zu entgehen. Selbst¬
verständlich wcröen die Polen, wie schon oben erwähnt, auf der Fuedenskonferenz
beteuern, das? sie gar nicht daran denken, die Juden unter Ausnahmegesetze zu
stellen, daß sie vielmehr bereit sind, ihnen völlige Parität zuzubilligen, aber wer
die Polen kennt und weiß, dasz fast jeder Pole dem Grundsatz huldigt, das? die
Sprache dazu da ist, um die Gedanken zu verbergen, -weiß, was er von diesen
Versprechungen zu halten hat. Der Eingeweihte kennt den unausrottbaren Anti¬
semitismus'der Polen, der das Wort „^1" (Jude) selten anders als in ver¬
ächtlichem Sinne und fast immer im Zusammenhange „?sia Kreil ?^ä« (frei
übersetzt: verfluchter Jude) braucht. Wie schon oben angeführt, sind für jedes
Volk charakteristisch die Sprichworte, die es hat, und deshalb dürfte es
angebracht sein, an dieser Stelle an das polnische Sprichwort zu erinnern:
»Kiecl/ diecia alö -yäa. Klock^ po dient^lo Z!ax unis clups ^et^le." (Bin ich
"l Not, dann geh' ich zum Juden, bin ick über die Not hinweg, dann rutsch mir
den Buckel entlang, verfluchter Jude.) Selten kennzeichnet ein Sprichwort in so
charakteristischer, wenn auch derber Art, die Verhältnisse, wie das hier angeführte.
Der Pole braucht die jüdische Intelligenz und das jüdische Kapital, aber er ist in
seinein übertriebenen, fanatischen Nationalismus so antisemitisch, daß er gegen
seinen eigenen Vorteil blind ist.
Der polnische Jude weiß das sehr genau, und darum konnte man schon
bei Beginn des Weltkrieges tausendfach von ihm den im tiefsten Herzen empfundenen
Wunsch hören: „Wenn wir nicht zu Deutschland kommen können, dann lieber
wieder zu Nußland, aber um Gotteswillen nicht unter polnische Herrschaft. Das
se-nen Leute, die die russische Herrschaft in ihrer ganzen Schwere jahrhundertelang
kennengelernt und gefühlt haben!
In einer noch viel schlimmeren Situation sind die Juden der Provinz
Posen. Diese Juden, die sich von den Deutschen genau so wenig unterscheiden,
wie der moderne englische Jude von dem Engländer, also selbstverständlich nur
als Deutsche jüdischer Konfession bezeichnet werden können, sind in einer gefahr¬
vollen Situation. Sie sind nicht allein wie jeder posensche Deutsche christlicher
Konfession in der fürchterlichen Gefahr, mit einem Lande verbunden zu werden,
das kulturell ungeheuer rückständig ist, vielmehr fürchten sie mit Recht zu einer
Art von Ghetto-Juden herabgedrückt zu werden. Sollen sie doch zu einem Lande
kommen, das die ungeheuere Zahl von zirka drei Millionen Ostjuden beherbergt.
Und dieses Land denkt nicht etwa daran, wie es in einem analogen Falle etwa
England oder Amerika tun würde, die drei Millionen Ostjuden, in denen eine
ungeheuere intellektuelle Kraft steckt, durch nicht bloß auf dem Papier stehende,
sondern auch in der Praxis ausgeübte paruättsche Behandlung möglichst schnell
zu gleichwertigen Staatsbürgern zu machen! Vielmehr haben schon wiederholt
die politischen Führer der Polen in vertrautem Kreise erklärt, daß sie selbst¬
verständlich keine Ausnahmegesetze für die Juden schaffen werden, schon allein
aus dem Grunde nicht, weil das ja die Entente nicht zulassen würde, daß sie
aber durch einen wohlorganisierten Boykott den größten Teil der Juden zwingen
würden, das Land, das 'sie schon seit Jahrhundeiten bewohnen, möglichst schnell
zu verlassen. Und wie systematisch die Polen gerade in bezug auf wirtschaftlichen
Boykott vorgehen, haben sie schon wiederholt bewiesen. Es könnte sein, daß
der eine oder andere die hier gemachten Ausführungen für übertrieben ansieht,
aber daß sie keineswegs übertrieben sind, kann durch die Tatsache erhärtet werden,
daß die bloße Möglichkeit, die Provinz Posen könnte zu Polen kommen, zahlreiche
Deutsche, besonders solche jüdischer Konfession, veranlaßt hat, ihre Grundstücke,
ihre Geschäfte und Handlungshäuser, an deren Verkauf sie sonst nie gedacht haben
würden, schleunigst den Polen zum Kauf anzubieten, damit sie in der Lage sind,
die Provinz Posen schnellstens verlassen zu können. Eine ganze Anzahl Verkäufe
haben bereits stattgefunden, und wegen weiterer Objekte ist malt in Unterhandlung.
Sollte aber der Fall eintreten, daß die Provinz Posen oder ein Teil von ihr zu
Polen kommt, so würden sich diese Verkäufe derartig vermehren, daß man von
einer Flucht der Deutschen, besonders der jüdischen Deutschen, sprechen können
wird. Man hat in eingeweihten Kreisen eben kein Vertrauen zu den Polen,
weder zu ihrer Wirtschaftsweise (weshalb das deutsche Publikum jetzt seine Gelder
von den Sparkassen zurückfordert) noch zu ihrem Rechtsempfinden (siehe Freispruch
der Mörder des Herrn v. HazwNadlitz), noch zu ihrer „Toleranz". Deshalb
steht schon bei vielen deutschen Nechtsanwälten, Ärzten, Kaufleuten, Gewerbe¬
treibenden, Handwerkern der unabänderliche Entschluß fest, die Provinz Posen
für den Fall daß sie polnisch wird, zu verlassen. Das wird natürlich ein ungeheuerer
wirtschaftlicher Schaden für die Provinz Posen sein, denn es handelt sich gerade
um diejenigen Elemente, die in Handel, Industrie, Landwirtschaft, den akademischen
Berufen usw. die erste Rolle spielen und die steuerkräftigsten Elemente sind.
Auch ein großer Teil der deutschen Landwirte ist darunter. Wie oben erwähnt,
sehet: sogar viele polnische Landwirte einer eventuellen Zuteilung der Provinz
Posen zum polnischen Staate mit großer Betrübnis entgegen, denn es ist ihnen
ohne weiteres klar, daß auch die landwirtschaftliche Kultur sofort zurückgehen wird,
wenn die Provinz durch eine Landesgrenze bezw. Zollgrenze vom Deutschen
Reiche abgeschnitten wird. Schon allein der Umstand, daß sie für Getreide, Vieh
usw. billigere Preise haben würden als bisher bezw. ihre deutschen Nachbarn,
daß sie andererseits Düngemittel und Maschinen usw- teurer bezahlen müßten,
verheißt ven Rückgang der landwirtschaftlichen Kultur.
Sollte es unter den hier geschilderten Verhältnissen für die Mitglieder der
Friedenskonferenz nicht ganz indiskutabel sein, die Provinz Posen dem polnischen
Staate zuzusprechen? Will man eine in jeder Hinsicht kulturell hochstehende
Provinz mit einem Staatengebilde verschmelzen, das in seiner ganzen kulturellen
Struktur gegenüber dieser Provinz ungeheuer rückständig ist, und will man da¬
durch zwei Fünftel der Bewohner dieser Provinz — es handelt sich um etwa
8S0 000 Menschen — unglücklich machen? So unglücklich, daß ein nicht geringer
Teil von ihnen den Entschluß fassen würde, die alte Existenz lieber aufzugeben
und sich in alle Winde zu zerstreuen und eine neue, unsichere Existenz zu suchen.
Ja noch mehr. Es würde auch, wie oben erwähnt, ein wesentlicher Teil der
polnischen Bevölkerung im Innern über eine derartige Entscheidung untröstlich sein.
Freilich, die radikalen Elemente verschließen die Augen vor den wirtschaftlichen
Nachteilen, aber auch bei diesen dürfte, wenn erst der Rausch vorüber ist, die
Katzenjammerstimmung nachkommen. Geben doch selbst diese, in bezug auf
Patriotismus fanatischen Polen zu, daß es „zunächst" für die Provinz Posen
einen wirtschaftlichen Rückschritt bedeutet, wenn sie zu Polen kommen sollte. Sie
glauben aber, daß dieser Rückschritt in etwa zwanzig bis dreißig Jähret' eingeholt sein
dürfte. Wenn schon derartige Elemente, die doch nach dieser Richtung natur¬
gemäß Optimisten sind, diesen Zeitraum auf zwanzig bis dreißig Jahre bemessen,
so kann man ungefähr ahnen, wie lang er sich in Wirklichkeit stellen wird. Aber
Realpolitiker sind sich keineswegs im Zweifel darüber, daß die Provinz Posen
überhaupt nicht wieder auf den jetzigen hohen Standpunkt kommen wird. Ebenso
wie es für sie klar ist, daß der politische Staat kein Kulturstaat in westeuropäischem
Sinne werden wird. Mißwirtschaft, Nepotismus, Zank und Streit untereinander
und mit den nichtpolmschen Mitbürgern, sind schon jetzt an der Tagesordnung, und
der wirtschaftliche Fortschritt, der zu immer größerem Wohlstand einer Bevölkerung
führt, würde gehemmt werden. Liegt es aber heute im weltwirtschaftlichen
Interesse, einen mitten in Europa liegenden Bezirk von etwa 29 000 Quadrat-
kilometer mit etwa zwei Millionen Einwohnern in der Kultur um ein Jahrhundert
zurückzuwerfen? Ist es nicht vielmehr, nachdem sich ganz Europa, man könnte
sagen die ganze Welt, viereinhalb Jahre zerfleischt, nachdeut sie Millionen von
Menschen verloren und sich um Milliarden an Werten geschädigt hat. geboten,
den wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt in jeder Beziehung zu fördern, da¬
mit die Schäden des Krieges so schnell wie möglich wett gemacht werden können?
Ebensowenig liegt es im Interesse der Gläubiger Deutschlands, dieses durch
Lvstremiung der Provinz Posen, nachdem es schon durch die Abtrennung Elsaß-
Lothringens eiire ungeheure Schwächung erfährt, noch weiter zu schwächen und
eventuell zahlungsunfähig zu machen. Die Provinz Posen ist ein für das über¬
völkerte deutsche Industrieland überaus wichtiger Faktor, denn sie produziert von
Roggen, Gerste und Kartoffeln js zirka 15 bis 16 Prozent der Gesamternte
Preußens, von der Weizenernte zirka 7 Prozent und von der Haferernte zirka
6 Prozent. Die Provinz ist imstande, durch weitere Besiedelung noch eine an¬
sehnliche Anzahl von Bauern aufzunehmen. Durch Abtrennung der Provinz Posen
würde die polnische Grenze bis auf zirka 180 Kilometer an 'Berlin herangerückt
werden, womit allein schon ein Keim für zukünftige Reibereien geschaffen werden
würde. Die Deutschen haben, wie schon oben erwähnt, während 125 Jahren
durch intensive Arbeit, durch Fleiß und Tüchtigkeit, Posen, das seinerzeit von
Preußen in geradezu eibärmlichem Zustande übernommen wurde, zu einer der
blühendsten Provinzen gemacht. Die polnische Bevölkerung hat daraus ihren
vollen Nutzen gezogen. Die deutschen Landwirte sind ihr zu Lehrmeistern ge¬
worden, und die sogenannte „polnische Wirtschaft" hat fast vollständig aufgehört.
Gibt das nicht ein volles Recht auf den Besitz der Provinz, zumal eine Los¬
trennung derselben für alle Schichten der Bevölkerung — der deutschen sowohl
wie der polnischen — die oben gekennzeichneten wirtschaftlichen Nachteile und un¬
haltbare nationale Zustände zur Folge haben würde?
Die ganze Entwicklung drängt offenbar dahin, daß die akademisch gebildete
Frau immer stärker ins öffentliche Leben eingreift und in Zukunft, auf welchem
Gebiet es auch sei, Verwendung finden wird. Sie hat in schwerer Zeit den
Nachweis ihrer Brauchbarkeit führen können und auch tatsächlich geführt. Die
Tätigkeit der Ärztinnen, Zahnärztinnen, Juristinnen, Architektinnen findet im
Publikum viel Anklang. Die Ärztin ist auch als Assistentin im allgemeinen
hoch bewehrtet worden, desgleichen liegen günstige Urteile über die Chemikerin und
Apothekerin vor. Über die Theologin läßt sich nach den vorliegenden beschränkten
Erfahrungen noch kein Urteil fällen. Falls sie sich bewährt, dürfte sie gerade jetzt,
da die Kirche, zum mindesten die evangelische, um ihrer Selbsterhaltung willen
auf ein regeres Gemeindeleben angewiesen ist, das nur mit Hilfe der Frau zu
erreichen sein wird, sehr bedeutsam werden. Der weiblichen Seelsorge scheint in
weiten Kreisen des Volkes kein Vorurteil entgegen zu stehen.
Den in sozialen Berufen wirkenden Frauen, Juristinnen, Volkswirtschaft-
lerinnen, auch praktisch gut geschulten Kräfte» ohne akademische Vorbildung ist
größte Anerkennung gezollt worden. Sie haben sich in der Gewerbeinspektion,
als Fabrikpflegerinnen, Fürsorgerinnen auf mannigfachen Gebieten bewährt, ins'
besondere haben sie sich im Dienste der Kriegsämter so sehr hervorgetan, daß sie
in leitende Stellungen berufen wurden.?)
Als Lehrerin wird die Frau, obgleich sie in allen Schulgattungen sehr am
erkennungswerte Leistungen auszuweisen hat, seit Jahrzehnten unentbehrlich ge¬
worden ist und es im Kriege ermöglicht hat, daß der Unterricht in den Schulen
im wesentlichen aufrecht erhalten werden konnte, viel mehr angefeindet, als man
für möglich halten sollte. Die Feindschaft geht hier wie auch anderwärts haupt¬
sächlich von den .Kollegen aus und entspringt nicht einwandfreien Motiven. Die
zuständigen Behörden haben durch ihre Maßnahmen im Laufe der letzten Jahre
bewiesen, daß sie der Lehrerin um ihrer Leistungen willen durchaus nicht unfreund¬
lich gesinnt sind. Vor einer „Verweiblichung" der Schule bestand dort keine Furcht,
ebensowenig bei breiten Schichten der Bevölkerung, die sich in der Mädchenerziehung
gern von Frauen beraten und leiten läßt. Daß die mütterliche Art gebildeter
Frauen auch in der Schulerziehung der Knaben einen segensreichen Einfluß aus¬
zuüben vermag, sollte eigentlich selbstverständlich sein in einer Zeit, da die Schule
vom warmen Hauch des Lebens durchweht werden soll und nicht Bücherweisheit,
sondern Charakerbildung die Parole ist.
Die Gesundheit der normalen Frau nimmt durch die Betätigung in höheren
Berufen im allgemeinen keinen Schaden, jedenfalls erscheint es durchaus unzu¬
lässig, ohne eingehende Begründung sozialhhgienische Bedenken zu erheben. Wenn
sogenannte Verüfsschädigungen vorkommen, muß zunächst einmal festgestellt werden,
wo die wahren Ursachen des Versagens liegen. Oft genug wird man sie in der
von Seiten des Mannes erzwungenen Kampfstellung der Frau finden. Daher
ist sowohl aus sozialhygienischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen auch hier
die Beseitigung der zahllosen Hemmnisse anzustreben, die die geistig arbeitende
Frau in ihrem Beruf zu überwinden hat. Um im Wettbewerb bestehen zu
können, muß die Frau zunächst einmal eine tüchtige Ausbildung genossen haben
und diese Forderung muß doch letzten Endes auch um der Sache willen, der sie
dient, erhoben werden Unzulänglichkeit. Dilettantismus dürfen sich unter keinen
Umständen breit machen — jetzt, da unser Volk alle Kräfte anspannen muß, um
aus den: seelischen und materiellen Elend unserer Tage herauszukommen, schon
ganz und gar nicht. Lediglich gediegene Fachkenntnisse vermögen dem VvlkSwohle
zu nützen, aber auch nur sie allein gewähren die Berufsfreudigkeit, die das Ge¬
lingen verbürgt, Es entspricht dein Geist und den Bedürfnissen der Gegenwart,
daß der Frau die Staatsprüfungen und die hierzu notwendigen praktischen Aus¬
bildungsmöglichkeiten in der Rechtswissenschaft und in der Theologie freigegeben
werden.' gleich wie sie den Studentinnen der medizinischen und philosophischen
Fakultät bereits seit Jahren offenstehen. Die natürliche Folge ist die Freigabe
aller akademischen Berufe. Der Einzelpersönlichkeit muß es überlassen bleiben,
ob sie sich auf Grund qualifizierter Leistungen durchzusetzen vermag. Im Staat
und in der Gemeindeverwaltung, insbesondere in der sozialen Arbeit müssen
bewährten Frauen auch leitende Posten übertragen werden, wobei auch Nicht-
akademikerinnen bei zweckmäßiger Vorbildung und praktischer Begabung zu. berück¬
sichtigen sind.
Eine weitere Folge gleicher Ausbildung männlicher und weiblicher Arbeits¬
kräfte ist die Forderung gleicher Entlohnung bei gleichwertiger Leistung. Hier
hat der Staat durch gutes, statt wie bisher durch schlechtes Beispiel voranzugehen.
Die zur Rechtfertigung seiner Praktiken vorgebrachten Argumentationen, die von
den Privaten gern übernommen wurden, sind oft genug nicht stichhaltig, worauf
seitens der Frauen immer wieder hingewiesen wurde. So wird zum Beispiel in
der Besoldung verheirateter und unverheirateter Lehrer kein Unterschied gemacht
und die geringere Bezahlung der Lehrerin damit begründet, daß ja der Mann
Ernährer einer Familie sei. Den Schutz gegen ungerechtfertigte materielle Beein¬
trächtigung und unterbietende Konkurrenz wird die Frau naturgemäß in Organi¬
sationen suchen, zu deren Ausgestaltung neuerdings die geeigneten Handhaben
gegeben sind. Überdies wird sie mittels des ihr nunmehr zustehenden aktiven
und passiven Wahlrechts ihren Einfluß auf die Gesetzgebung geltend machen, wo
diese Härten für die Frau aufweist.
Was auf dem Wege der Gesetzgebung erreicht werden kann, muß ergänzt
werden durch Überwindung des Vorurteils gegen die Frauenarbeit durch einen
Akt der Selbsterziehung sowohl bei Männern als auch bei einer gewissen Gruppe
von Frauen, die- vom Schicksal begünstigt, von den Lebensnotwendigkeiten der
erwerbender! Frau keinen Begriff haben, und sich bemüßigt fühlen, vom sicheren
Hafen aus durch unsachliche Krittelei und Herabwürdigung des eigenen Geschlechts den
schweren Gang durch ein auf persönliche Tüchtigkeit gestelltes Leben zu verbittern.
Der .Kampf der Frauen gegen die Suggestion ihrer tatsächlich unbewiesenen
geistigen Minderwertigkeit hat in ihren Reihen schwere Opfer gefordert und zum
Schaden der Gesamtheit gerade viele wertvolle, kritisch begabte Kräfte lahmgelegt,
indem diese ihre Waffe allzu sehr gegen sich selbst richteten und Ansprüche an
sich stellten, denen auch der Mann nur in seltenen Fällen zu genügen vermag.
Immer wieder wird auf die bevölkerungspolitischen Gefahren der Emanzi¬
pation des Weibes hingewiesen. Die Gründe der Ehelosigkeit zahlreicher Frauen
- - mir ein Drittel ist verheiratet — und des Geburtenrückgangs sind offenbar ganz
wo anders zu suchen als in dein durchaus gesunden Willen der gebildeten Frau,
ein durch ihre persönlichen Leistungen wertvolles und zufriedenes Glied der mensch¬
lichen Gesellschaft zu sein, auch wenn es ihr nicht vergönnt ist, Kinder zu zeugen
und das Glück zukunftsfroyen Wirkens ans den gütigen Händen der Natur ent-
Kegenzunehmen, Es wird von Studentinnen und in wissenschaftlichen Berufen
stehenden Frauen — von den Angehörigen mittlerer Berufe ganz zu schweigen —
ausdrücklich bestritten, daß die geistige Tätigkeit den Wunsch, das Menschentum in
der Gesamtheit seiner natürlichen Anlagen zu entfalten, eindämmt, und wer Ge-
legenden hat, in das Leben dieser Frauen tiefer zu blicken als der Statistiker vom
grünen Tisch, wird an der Wahiheit dieser Behauptung nicht zweifeln. Der
Wunsch nach Beibehaltung des Berufs in der Ehe, sofern er nicht durch Wirt-
fchuflliehen Zwang eingegeben ivird, besteht mit wenigen Ausnahmen wohl nur
bei Wissenschaftlennnen und Künstlerinnen. Der doppelte Beruf ist für diese
Frauen sehr viel weniger schädigend und unzweckmäßig als für die Fabrikarbeiterin.
Schon die in höheren'Berufen wenigstens innerhalb gewisser Grenzen erreichbare
selbständige Gestaltung der Tätigkeit schafft gute Lebensmöglichkeiten für die als
Gcitlin und Mutier' beanspruchte berufstätige Frau. Was eine berufstätige
Frnn als Hausfrau und Mutter leistet, wird stets von der geistigen Geschmeidig¬
keit der Persönlichkeit abhängen. Der Ausschluß vom Beruf um der Ehe willen,
vermag für letztere keinen Gewinn zu gewährleisten; nur um des Berufs willen
kann das Zölibat gefordert werden. Wo aber eine solche Forderung, wie zum
Beispiel für die Lehrerin, besteht, wird ihre Beseitigung erstrebt, zunächst einmal,
weil mütterliche Erfahrung in der Schulerziehung nur erwünscht sein können;
sind aber die Leistungen infolge zu großer Belastung unzulänglich, so kann die
Schule sie ablehnen. ' Ferner wird darauf hingewiesen, daß die Möglichkeiten der
Eheschließung durch die Forderung des Zölibats der Lehrerin verringert werden,
was doch durchaus nicht im Interesse der Gesamtheit liegt. Die Ehefrau ist heut¬
zutage oft genug zum Miierwerb gezwungen. Es erscheint aber in jeder Hinsicht
unökonomisch, Persönlichkeiten, die für die Lehrtätigkeit vorgebildet und geeignet
sind, von ihr auszuschließen und sie eilte anders geartete Beschäftigung suchen zu
lassen. Während des Krieges haben zahlreiche verheiratete Lehrerinnen Ver¬
tretungen in Schulen übernommen und den Beweis erbracht, daß, rein sachlich be¬
trachtet, gegen die Verbindung von Lehrberuf und Ehe nichts einzuwenden ist.
Auf eine Auslese der Tüchtigen kommt alles an. Wo seitens des Staates aus¬
gleichende Gerechtigkeit in Versorgungsfragen geltend gemacht wird, wird jener
Gesichtspunkt allzu leicht aus den Augen verloren.»)
Berufsübung vor der Ehe ist in jedem Falle sehr wünschenswert. Es ist
durchaus nicht notwendig, daß junge Mädchen gebildeter Stände lediglich aus
Betätigungsmöglichkeiteit verwiesen werden, die in den Pflichtenkreis einer Haus¬
frau und Mutter fallen. Es können nicht sämtliche weibliche Individualitäten
über einen Kamm geschoren werden und die Begeisterung junger Mädchen für kleine
Kinder hat mit ihrer Befähigung für den Mutterberuf nichts zu tun. Dieser er¬
schöpft sich ja auch nicht in praktischen Verrichtungen. Wir erleben es tausendfach,
daß „weiblich" erzogene Frauen als Mütter völlig versagen. Sie können zwar
kochen, flicken und Säuglinge wickeln, aber nicht erziehen, weil ihnen die Selbst¬
zucht fehlt. Es ist erstaunlich, wie leichtfertig der Frau die Eignung zum Mutter-
beruf zugesprochen wird und mit wieviel naivem Selbstgefühl die Fran an
die Erziehung ihrer Kinder geht. Die Fran als Typus genommen, verfügt aller-
dings über Gaben, die sie zur Pflegerin und Erzieherin ihrer Kinder empfehlen:
ihre Gefühle sind leicht erregbar und dauerhaft, wodurch die Fähigkeit bedingt ist,
sich in andere Menschen hineinzuversetzen, das eigene Wohlbefinden von dein
anderer abhängig zu machen, ja es anderen zu opfern, aber diese Gaben erschöpfen
ja nicht die Voraussetzungen einer guten Mutier, aus ihnen selbst erwachsen sogar
Gefahren für die Erziehung, sofern die Frau ihre Gefühle nicht zu beherrschen
vermag. Zu einem E-zieher, der sich selbst nicht im Zaum halten kann, hat ein
Kind kein Vertrauen und zollt ihm keinen Respekt. Daher kommt es zunächst
für die Frau nicht auf den Erwerb gewisser, an und für sich natürlich wertvoller
Kenntnisse in der Haushaltung, Säuglings- und Kinderpflege an, zumal für deren
Aneignung kein jahrelanges Studium benötigt wird, sondern auf die Charakter¬
bildung, die ja in der Schule lange nicht vollendet wird, und dazu vermag jede
ernste Arbeit zu dienen, sofern sie zur Selbstbeherrschung, Zielstrebigkeit, Ordnung
und zu guter Zeiteinteilung anleitet und das Gefühl für Pflicht und Verant¬
wortung weckt.
Durch die Berufsarbeit wird das Individuum offensichtlich in hohem Maße
mit der Gesamtheit verleitet und aus dein Erfassen der sozialen Zusammenhänge
erstarkt in der Frau auch das Gefühl für die Pflichten und die Verantwortung,
denen sie ihrem Volke und dem Staat gegenüber als Einzel- und als Gattungs¬
wesen zu genügen hat. Dieses Pflicht- und Verantwortungsgefühl wird durch
die Verleihung des Wahlrechts an die Frauen in jeder Hinsicht unbedingt gehoben.
Darin liegt die weitgreifende ideelle Bedeutung dieser politischen Maßnahme, zu
der das wirtschaftliche Schwergewicht von mehr als zehn Millionen erwerbstätigen
Frauen ohnehin drängte. Wer in den Tagen des Wahlkcnnpses unter den Frauen
Umschau gehalten hat, muß bemerkt haben, daß er von ihnen mit Ernst und
Begeisterung aufgenommen wurde und daß in weitesten Kreisen ein ehrlicher
wägender Wille nach richtiger Entscheidung suchte. Freilich konnte er die politische
Einsicht nicht ohne weiteres ersetzen, aber das politische Selbstgefühl wird auch
fernerhin die Voraussetzung sein, Einsicht zu erstreben und das unverantwortliche,
durchaus nicht harmlose Drauflosreden, das wir im Kriege in so reichem Maße
erlebt haben, einzudämmen. Es wird schließlich auch zum bestimmenden Moment
Praktischer Lebensgestaltung werden.
Wenn die Frauenbewegung durch die Gewährung des politischen Wahlrechts
für die Verwirklichung ihrer Kulturideale eine neue Grundlage gewonnen hat, so
erheben sich naturgemäß mit um so stärkerer Wucht die Stimmen derer, die von
dieser Gestaltung der Dinge einerseits eine Entweiblichung der Frau, andererseits
eine Verweiblichung des Geistes des öffentlichen Lebens befürchten. Was die
Entweiblichung der Frau betrifft, so kann sie als Naturwesen in ihrem tiefsten
Wesen überhaupt nicht umgemodelt, wohl aber durch äußere Umstände in ihren
Strebungen irregeleitet werden. Verhängnisvoll kann ihr daher unsere hohle, auf
seichten Genuß gestellte Zivilisation werden, durch die in der Frauenbewegung
wirksamen Tendenzen, wie sie hier dargestellt wurden, erscheint sie am wenigsten
bedroht. Gefährdet ist aber durch dein Lauf der sozialen und wirtschaftlichen Ent¬
wicklung die uns von unseren Eltern und Großeltern überkommene Lebensform
der Frau. Es hat keinen Zweck, sich darüber zu grämen. Besser ist es, unsere
Begriffe von wahrer Weiblichkeit zu vertiefen. Es gab eine Zeit, die Ideale für
Weib und Mann kannte, wie wir sie brauchen — die Zeit der Romantik. Die
Frau streckte die Hand aus nach des Mannes Art, ohne sich selbst zu verlieren,
und der Mann nahm vom Weibe und blieb doch Mann. „Man muß den
Charakter des Geschlechts keineswegs noch mehr übertreiben, sondern vielmehr
durch starke Gegengewichte zu mildern suchen . . ." „nur sanfte Männlichkeit, nur
selbständige Weiblichkeit ist rechte, wahre und schöne" — so predigte einst Friedrich
Schlegel und fand nichts häßlicher, als überladene Weiblichkeit, und nichts ekel¬
hafter', als übertriebene Männlichkeit. Der „Ganzmensch" leuchtete auf den Wegen
der Romantik. Er mag bei uns den öffentlichen Geist bestimmen. Die Allein¬
herrschaft männlicher Auffassungen im öffentlichen Leben hat keine Zustände zu
schaffen vermocht, deren Verewigung wünschenswert wäre, wir haben im Gegenteil
einen ungeheuren moralischen Bankerott erlebt. Beim Neuaufbau unserer Gesell¬
schaft müssen die im Wesen der Frau verankerten ethischen Eigenschaften, ins¬
besondere ihre altruistischen Anlagen zur gebührenden Geltung kommen, überdies
aber auch ihr Sinn für die Gefälligkeit der Lebensführung und die Formen des
menschlichen Verkehrs. Mit dem Aufstieg des „Tüchtigen" darf nicht der rauhe
Ton des kleinen Mannes, seine völlige Bedürfnislosigkeit in Fragen des Geschmacks
herrschend werden. Wir erleben jetzt täglich die Äußerung uaturhafter Triebe
robuster Selbstbehauptung und Selbstgeltung auf der Straße, im Laden — im
Parlament. Die Verpöbelung darf aber unter keinen Umständen zu einer
dauernden Kennzeichnung unseres Volkes werden. Vermag daher die sich ihrer
Verantwortung bewußte Frau schon durch ihr Wirken in der Kinderstube eine
Saat zu streuen, die im öffentlichen Leben Früchte trägt, so sollte sie selbst im
öffentlichen Leben nur dann hervortreten, wenn sie neben Vorzügen des Gemüts
und der Erziehung über geistige Gaben verfügt, die hohen Anforderungen ge¬
nügen. Gilt diese Forderung für die Inhaberinnen aller leitenden Posten, so erst
recht für die offiziellen Vertreterinnen der deutschen Frauen. Es ist sehr bedenk¬
lich, daß die Aufstellung der Kandidatinnen für die mannigfachen Wahlen dieses
Jahres zum Teil mit ungeheurer Leichtfertigkeit sowohl seitens der Männer als
auch seitens der Frauen erfolgt ist. Es hat sich gerächt, daß die politisch arbei¬
tenden Männer des Bürgertums im großen und ganzen mit der schaffenden Frauen¬
welt sehr geringe Fühlung und infolgedessen gar keinen Maßstab für die
Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Frau hatten. Wir brauchen aber mehr
denn je eine scharfe Auslese unter den Frauen. Nur solche Frauen, die sich auf
einem der Gebiete des praktischen Lebens mit Erfolg betätigen, mit breiten
Schichten der Bevölkerung in Verbindung stehen und die harte Wirklichkeit
kennen — Lehrerinnen, nicht zuletzt Volksschullehrerinnen, Ärztinnen, die nicht so
sehr in der pflegerischen oder medizinisch-wissenschaftlichen, als vielmehr in der
sozialen Komponente ihres Berufs den Schwerpunkt ihres Wirkens sehen,
Hygienikerinnen, Naffenbiologinnen, Juristinnen, Sozialbeamtinnen der ver¬
schiedensten Kategorien, Frauen, die sich in politische und verwaltungstechnische
Probleme hineinzudenken vermögen, die aber auch den Pulsschlag des deutschen
Volkstums fühlen, Frauenpersönlichkeiten mit Hellem Kopf und weitem Herzen
sollen unsere Führerinnen und Vertreterinnen seinl
„Grenzboten" macht Herr Dr. Döllinger den
Vorschlag, ein Vorkaufsrecht des Staates am
Grund und Boden zu dem vor Knegsbeginn
angemessenen Preise einzuführen. Er hält
dies für erforderlich, um den unverdienten
Wertzuwachs um Boden zu verhindern. Die
Zuwachssteuer genüge dazu nicht.
Ich möchte noch weiter gehen und sagen,
mich der Vorschlag des Herrn Dr. Döllinger
genügt dazu nicht. Man wird sich fragen
müssen, wo in der Kette der Wirtschafts¬
beziehungen das bedingende ursächliche Mo¬
ment steckt. Da ist nun das eine klar, daß
weniger der Preis des landwirtschaftlich ge¬
nutzten Bodens den Preis der Erzeugnisse
desselben, als umgekehrt der Preis der Er¬
zeugnisse den Bodenpreis bestimmt. Natürlich
wird zwar der Landwirt seine Erzeugnisse
nicht unter dem Gestehungspreise verkaufen
wollen und wird insofern der Bodenpreis
ein mitbestimmendes Moment sein. Aber er
wird unter Umständen dazu gezwungen wer¬
den, wenn z. B. die Erzeugung über den
Inlandsbedarf steig!, was allerdings Praktisch
nicht zu befürchten ist, oder, wenn billige
AuSlandsware in ausreichender Menge an¬
geboten wird. Für den Preis der Boden¬
erzeugnisse und damit indirekt auch des
Bodens selbst ist Angebot und Nachfrage auf
dem Markt der Erzeugnisse bestimmend. Wir
haben schaudernd miterlebt, daß selbst eine
behördliche Preisregelung in Verbindung mit
behördlicher Verteilung der Lebensmittel
dieses Gesetz von Angebot und Nachfrage
nicht aus der Welt schaffen kann, daß viel¬
mehr trotz Androhung höchster Strafen der
Schleichhandel zu blühen begann und Preise
herbeiführte, wie sie in dieser Höhe im freien
Verkehr kaum erzielt worden wären.
Es verspricht deshalb keinen Erfolg, wenn
man durch Senkung der Güterpreise auf den
Preis der Erzeugnisse einwirken will. Dieser
Erfolg würde nicht erreicht werden und es
würde nicht verhindert werden können, daß
ein Güterschleichhandel einsetzen würde, das
heißt, es würden trotz aller Strafandrohungen
»eben dem offiziellen niedrigen Preise heim¬
lich Vergütungen gewährt werden, welche
voraussichtlich nicht allzuviel hinter dem freien
Preise zurückbleiben würden. Es erscheint
außerdem nicht gerechtfertigt, dem Käufer
eines Gutes (angenommen, er zahle nur den
Preis von 1914) die ganz erheblichen Vor¬
teile zuzuwenden, welche aus dem allgemeinen
Sinken des Geldwertes während der Kriegs¬
zeit, der Steigerung des Preises aller Voden-
erzeugnisse, hervorgehen.
Danach wäre der Hebel bei dem Preise
der Bodenerzeugnisse anzusetzen. Leider steht
es aber nicht in unserer Macht, hier eine
erhebliche Senkung zu erzielen, solange unser
Bedarf an solchen Erzeugnissen nicht im
eigenen Lande gedeckt werden kann und der
Stand unserer Valuta, auch die Höhe der
Frachtkosten, die Preise ausländischer Erzeug¬
nisse gleicher Art, welche etwa eingeführt
werden können, aus einem hohen Stande
erhallen.
Stehen wir nun der Entwicklung ganz
machtlos gegenüber? Ich möchte es nicht
annehmen. Die hohen Preise und Boden-
erzeugnisse haben eine entsprechende Erhöhung
der Bodenrenke, das heißt des Anteiles an
den Einnahmen aus dem Boden, welche dein
Besitzer ohne eigene Aufwendung von Arbeit
und Kapital zufällt, zur Folge gehabt. Die
Kapitalisierung dieser Bodenrenke, welche teil¬
weise im Wege der Spekulation sogar noch
übertrieben wird (in Voraussicht weiterer
Preissteigerung), führt zur Erhöhung der
Bodenpreise. Der Verkäufer läßt sich den
kapitalisierten Betrag der Bodenrenke im
Kaufpreise mit auszahlen. Nimmt man nun
diese Bodenrenke ganz oder teilweise im Wege
der Grundsteuer dem Besitzer ab, so tritt
ganz von selbst die erstrebte Senkung des
BodsnpreiseS ein. Hier ist der Hebel an¬
zusetzen. Daneben kann ein Vorkaufsrecht
zum Preise von 19t 4 bestehen, oder besser
zu dem durch die Selbsteinschätzung zum
Wehrbeitrag von 1913 festgestellten Werte.
Doch ist diese Frage, zu welchem Werte das
Vorkaufsrecht zu gewähren ist, wenigstens
für Preußen nicht mehr von Bedeutung, da
durch die Verordnung vom 23. Dezember 191S
bestimmt ist, daß der durch Schätzung be¬
stimmte gemeine Wert maßgebend ist, jedoch
ohne Berücksichtigung vorübergehender Wert¬
steigerungen, die auf die außerordentlichen
Verhältnisse des Krieges zurückzuführen sind.
Diese Grundsteuer wäre zunächst so zu
gestalten, daß sie der Erhöhung der Boden¬
renke durch die Steigerung der Preise aller
Produkte während des Krieges unter Berück¬
sichtigung der zu erwartenden höheren Auf¬
wendungen an Kapital (Löhnen usw.) ent¬
sprechen würde. Sie wäre veränderlich zu
gestalten, so daß sie den in der nächsten Zu¬
kunft zu erwartenden Schwankungen folgen
könnte. Der Steuersatz könnte vielleicht für
jährliche oder längere Zeiträume von Sach¬
verständigen oder auf deren Vorschlag von
der in Zukunft etwa dein früheren Bundesrat
entsprechenden Behörde festgesetzt werden.
Die leichte Beweglichkeit der Höhe dieser
Steuer ist erforderlich, um den erstrebten
Zweck zu erreichen, die Steigerung der Boden¬
preise zu verhindern, ohne doch die Ge¬
stehungskosten der landwirtsch.isllichen Er¬
zeugnisse dauernd für alle Zukunft zu erhöhen.
Ist die Zeit für den Abbau der Zwangs¬
wirtschaft gekommen, die Deckung des Bedarfs
an Nahrungsmitteln wieder möglich, so wäre
durch Minderung des Steuersatzes der Senkung
der Preise der Erzeugnisse Vorschub zu leisten.
Als Ideal müßt« freilich eine vollständige
Wegsteuerung der Bodenrenke erscheinen. Sie
würde aber, ans einmal eingeführt, ein zu
harter Eingriff in die bestehenden Besitz¬
verhältnisse sein. In Verbindung mit einer
großzügigen Reform des HhPoihekenwesenS,
der Überführung der kündbaren Privat-
hypotheken in unkündbare Tilgungshypotheken
des Staates oder öffentlichrechtlicher Anstalten
und mit Einführung der Verschuldungsgrenze
ließe sich dieses Ideal Wohl ohne Schädigung
der Besitzer erreichen.
Als Maßstab für diese Grundsteuer könnte
grundsätzlich die Selbsteinschätzung zur Wehr¬
steuer von 1913 dienen, wobei jedoch sowohl
dem Steuerpflichtigen als auch der Ein-
schätzungskvmmisflon das Recht zustehen
müßte, im einzelnen Falle eine Abschätzung
durch Sachverständige zu verlangen.
Würde diese Selbsteinschätzung auch dem
staatlichen Vorkaufsrechte zugrunde gelegt und
dem Besitzer Berichtigung seiner Einschätzung
gestattet, so würde damit eine gute Grundlage
zu einer gerechten Einschätzung gegeben sein.
Nordwestlich von Weimar dehnt sich in west¬
östlicher Richtung der etwa 8 Ka lange
Ettersberg aus, dessen höchste Erhebung
486 in hoch ist. Seine herrlichen Waldungen,
die einzigen größeren in der näheren Um¬
gebung der Stadt, sind heute Stantsforflen.
Am westlichen Rande liegt Ort und Schloß
Ettersburg. Der Forst war das Lieblings¬
jagdrevier Karl Augusts, der in jungen
Jahren im Berein mit Goethe hier das edle
Weidwerk Pflegte, wobei es geschah, daß im
Kampf gegen einen anrennenden Eber ein
Freund dem anderen das Leben rettete.
Nachdem 1786 die Herzogin Anna Amalia
nach Niederlsgung der Regentschaft ihren
Witwensitz nach Eitersburg verlegt hat, wurde
Schloß und Wald und Park der Schauplatz
fröhlichen Treibens „mit allerlei Mutwillen
und Tollheiten, fratzenhaften Ständchen,
extemporierten Komödien und theatralischen
Spielen". Herder dehnte seine einsamen
SPaziergäuge gern an den Eitersberg aus,
woran das schöne Plätzchen „Herdersruh"
erinnert. Später, 1800, hat Schiller in
Ettersburg geweilt, um an der Vollendung
seiner Maria Stuart zu arbeiten. Jetzt,
nach der Revolution, hatte die provisorische
Negierung gestattet, daß unbemittelte Ein¬
wohner im Ettersburger Walde gemäß be¬
hördlicher Anweisung unter Aussicht eines
Militärpostens Holz fällen, an Ort und Stelle
zerkleinern und für ihren eigenen Bedarf
fortschaffen durften. Diese Wohltat ist leider
in schlimmer Weise mißbraucht, indem der
Verkauf des so gewonnenen Holzes zu
dörrenden Preisen betrieben wurde und die
von dem Militttrposten erteilte Anweisung
von einzelnen nach Belieben mißachtet wurden,
Es wurde darauflos abgeholzt, so daß
schmerzliche Bestandsverwüstungen in dein
wohlgepflegten Walde entstanden sind. Hoffent¬
lich wird rechtzeitig eingegriffen, damit der
dem Natur- und Kunstfreunde gleich wert¬
volle Wald vor weiterem Schaden geschützt
wird.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
M?KWZW-'N nlere Gegner lehnen es ab, vor einen: unparteiischen Gerichtshof
WAM^W W die Frage zu diskutieren, wer die. Schuld an der furchtbaren
W W-^Ä W Katastrophe trägt, die im Sommer 1914 über die Welt hinein-
M^MZ gebrochen ist. Sie wollen Kläger und Richter zugleich sein, und
mit einer pharisäischen Selbstgerechtigkeit, die helle Empörung bei
Rechtschaffenen erwecken musz, bürden sie alle Schuld den
Deutschen auf. Da ist es doppelt notwendig, immer aufs neue darauf hinzu¬
weisen, wie in Wahrheit die Dinge stehen.
Sie stehen so, daß der Krieg schon lange vor seinem Ausbruch, zum
mindesten bei Rußland und seinen Vcilkcmfreunden, eine festbeschlossene Sache
war. Die zahlreichen Beweise für diese Tatsache sollen hier um einen weiteren
und besonders wichtigen vermehrt werden.'
Herr von Mashow, der im Jahre 1912 als Vertreter des deutschen Heeres
im bulgarischen Hauptquartier den Balkankrieg mitmachte, berichtet: '
Als ich im Oktober 1912 nach Sofia reiste, stieg in Belgrad Herr Spalai-
kovitch in den Zug. Er war damals serbischer Gesandter am bulgarischen Hofe,
und ich kannte ihn bereits seit mehreren Jahren, wußte auch, daß er in den
intimsten Beziehungen zu dem inzwischen verstorbenen russischen Gesandten in
Belgrad Herrn von Hartwig, dem bekannten Vorkämpfer des Panslavismus, stand.
Auch Herr Spalaikovitch war ein fanatischer Gegner der Mittelmächte, und zwar
ein besonders gefährlicher, da er außerordentlich gewandt war und seinen Haß
gegen uns hinter der Maske der persönlichen Liebenswürdigkeit zu verbergen
verstand.
Während der Eisenbahnfahrt nach Sofia entwickelte mir Herr Spalaikovitch
mit erstaunlicher Offenheit die Ziele des unter russischer Patronanz stehenden
Balkanbundes. Die Niederwerfung der Türkei ist, so sagte er, nur der vorbereitende
Akt, durch den Rußlands Vorherrschaft in Südosteuropa gesichert werden soll.
Die Hauptaufgabe ist, die Zertrümmerung der österreichisch-ungarischen Monarchie
und die Befreiung der zu ihr gehörigen slawischen Völker. Ein glühender Haß
sprach aus seinen Äußerungen über Österreich-Ungarn. Er bezeichnete diesen
Staat als reif zum Untergang, und weil sein Untergang unabwendbar sei, müsse
Deutschland sich von diesem lebenden Leichnam trennen und sich Rußland zuwenden.
..Deutschland", so meinte er, „darf nicht das Opfer einer verfehlten Battanpolitik
der Wiener Regierung werden, es darf sich nicht an einem sterbenden Staat
ketten, sondern kluge Voraussicht muß es an die Seite Rußlands führen, auf der
seine Zukunft liegt. Hält Deutschland an Österreich-Ungarn fest, so wird es
wie seinen Verbündeten ins Verderben hineingezogen werden. Und, so fügte
Herr Spalaikovitch ausdrücklich hinzu, auch auf diesen Fall haben wir uns
sorgfältig vorbereitet. Deutschland kann der Macht des politisch geschlossenen
Ostens nicht widerstehen."
Wie Weit in der Tat damals schon die Machinationen Serbiens gediehen
waren, hat inzwischen der Friedjungprozeß bewiesen. Er hat uns tiefe Einblicke
gewährt in das von der serbischen Regierung geduldete kriegshetzerische Treiben
der „Narodna Oobrana", und Herr Spalaikovitch wußte, was ja auch allen
Eingeweihten bekannt war, nämlich daß der Krieg gegen Österreich-Ungarn seit
1908 systematisch vorbereitet worden ist.
Herrn Spalaikovitch waren meine Beziehungen zu unserem damaligen
«Staatssekretär von Kiderlen-Wächter genau bekannt, und er ließ mich nicht darüber
im Zweifel, daß er seine Ausführungen zur Kenntnis des deutschen Staats-
sekretä-s gebracht wissen wollte. In der Tat berichtete ich denn auch sofort nach
meiner Ankunft in Sofia über mein Gespräch mit Spalaikovitch an das Aus¬
wärtige Amt und an den Generalstab.
Der Balkankrieg hat nicht den für Rußland und seine Balkanfreunde
erwünschten Verlauf genommen, denn der Balkanbund, der gegen Österreich-
Ungarn mobil gemacht werden sollte, ging infolge des Abschwcntens Bulgariens
in die Brüche. Diese Tatsuhe verursachte bei den diplomatischen Vertretern
unserer späteren Gegner in Sofia eine tiefe Depression, und ihre Unruhe wuchs,
als wir in der Erkenntnis der Gefahren, die uns vom Osten her drohten, im
Verein mit unseren österreichisch-ungarischen Verbündeten daran gingen, unsere
Wehrkraft zu verstärken. Bulgarien mußten damals schon unsere Gegner end¬
gültig verloren geben, aber alsbald machten sie sich mit allen Kräften an die
Arbeit, um einen Ersatz für das verlorene Bulgarien in Rumänien zu gewinnen.
Bukarest wurde damals neben Belgrad zur südosteuropäischen Zentrale der feind¬
lichen Treibereien gegen uns und unsere Bundesgenossen.
Als ich im November 1913 zum letztenmal dem König Carol an seinem
Schreibtisch gegenübersaß, äußerte er sich sehr besorgt über die Entwicklung der
Dinge, und er gab damals schon seinen Zweifeln darüber Ausdruck, ob er seinen
Verpflichtungen uns gegenüber werde nachkommen können. Das Bündnis mit
uns galt ihm immer noch als die Grundlage seiner Politik, aber er klagte über
den Widerstand seiner Minister, die er so charakterisierte, wie sie es verdienten,
und betonte, daß auch sein Offizierkorps infolge der französisch-russischen Wühl¬
arbeit gegen Deutschland nicht mehr zuverlässig sei. „Wenn ich nicht," so sagte
König Carol, „dem Drängen Rußlands nachgeben und mein Heer Bulgarien in
den Rücken hätte fallen lassen, so wären die Gewehre meiner Soldaten gegen
mich, den Hohenzollern, losgegangen," Es herrschte eben damals schon in
Bukarest die Atmosphäre des Hasses gegen uns. Dieser Haß war von Rußland
und Frankreich entzündet und geschürt worden, und mit dem Tode König Carols
konnte er sich gegen uns entladen. Auch dieser Punkt gehört zu dem Kapitel
von der Vorbereitung des Krieges durch unsere Gegner.
Als ich kurz vor Weihnachten 1913 Sofia verließ, sagte mir König Ferdinand
von Vulganen, der als früherer Teilnehmer am Vastanbunde natürlich über alle
russisch französischen Zettelungen und Machenschaften auf das beste unterrichtet
war, den baldigen Ausbruch des Weltkrieges voraus und bezeichnete diesen Welt¬
krieg ausdrücklich als das Ergebnis der diplomatischen Einkreisung Deutschlands.
Warnend wies er auf die offenbare Unzuverläsiigkeit Italiens und Rumäniens
hin, und auch Belgien werde, so meinte er, seine Neutralität nicht wahren können,
da es sich durch feste Abmachungen an Frankreich gebunden habe.
Sieben Monate später lag der fürchterliche Beweis dafür vor, daß die
Warnungen König Ferdinands nur allzu begründet waren. Im Südosten Europas
geschah die Explosion, für die man den Sprengstoff seit langem zusammen¬
getragen hatte.
le tiefe Überzeugung, daß Deutschland die Unterschrift unter einen
Friedensvertrag. der mit dein Wilsonprogrmnm nicht übereinstimmt,
verweigern müßte, hat sich erst allmählich in amtlichen Kreisen sowie
in der öffentlichen Meinung durchgedrückt. Die inneren Wirren ent¬
zogen diesem Problem nicht allein die wünschenswerte Aufmerksam-
kei't, sondern trübten auch das außenpolitische Verständnis der ma߬
gebenden Faktoren, die sich von Anfang an zu vertrauensselig auf die unfehlbare
Durchsetzbeirkeit der vierzehn Wilimischcn Punkte und ihre leichte und hemmungs¬
lose Verwirklichung verließen. Erst in Verfolg der weiteren Verhandlung, die die
amtlichen und offiziösen Kreise des Auslandes bei den Waffcnstillstandsverhand-
Imigen, den Vorbereitungen zur Friedenskonferenz der Alliierten, bei dieser selbst
und bei allen anderen geeigneten Anlässen der Entwicklung der Friedensfrage an-
gedeihen ließen, fing das allgemeine Nachdenken darüber an, ob das wehrlose
Deutschland nicht in der Verweigerung der Unterschrift das einzige und wirksame
Mittel zum Schutze gegen einen Vernichtungssrieden besäße. Man kann ruhig
sagen, daß bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung diese Argumentation
^ wenn sie auch sozusagen im stillen schon vorher erwogen worden sein mag —
nach außen hin nicht zur öffentlichen Diskussion gestellt wurde. Am 2l. Dezember
v. I, meinte der „Vorwärts", das auftauchende Gerücht über eine drohende
Kriegsentschädigungsfvrderung von feiten Frankreichs leichthin mit der kurzen
Gegenfrage abfertigen zu können, ob Frankreich denn glaube, daß Deutschland
hierzu überhaupt in der Lage seil
Die englische und amerikanische Presse las jedoch schon geraume Zeit tiefer
in dem Innern des deutschen Volkes. Schon bevor die Eröffnung der National¬
versammlung erst die Möglichkeit schuf, einigermaßen verbindliche Regienmgs-
erklärungen vor dein Forum der öffentlichen Weltmeinung abgeben zu können,
schien sich die englische Presse im Klaren zu sein, daß sich in Deutschland
Strömungen Geltung zu verschaffen suchten, die nur einen Frieden auf der un¬
antastbaren Basis der Wilsonschen Prinzipien annehmen wollten. Die Meinung
brach sich daselbst Bahn, daß Deutschland mit den vierzehn Punkten stehen und fallen
wolle, gegebenenfalls „streiken" d. h nicht unterzeichnen würde. Auffiuder dieser
Ideen ut — nach der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" Ur 184 vom April —
der langjährige frühere Wiener Korrespondent des „Daily Telegraph", Dr. Dillon.
Seine anfänglich in dieser Beziehung noch gehegten Zweifel formulierte er später¬
hin in dein Satze: „Meine Anschauung ist die, daß, wenn man die feindlichen
Delegierten vor Bedingungen stellt, die das deutsche Volk schwächer und unfreier
wachen als Montenegro vor dem Kriege, sie mit einer kategorischen Weigerung zu
unterzeichnen, antworten müssen. Sie'werden nach Berlin zurückkehren und mit
Valsivcr Resistenz Schwierigkeit machen."
Auch bei Gelegenheit der Demission des Generals vonMnterfeldt ans der
deutsch^ Waffenstillstandskommission Anfang Februar wollte ein holländischer
Korrespondent der „New-Aork Times" Anzeichen dafür seyen, daß die Deutschen
wie dem Gedanken einer NichtUnterzeichnung spielten.
Innerhalb Deutschlands nahm diese Ausfassung aber greifbare Formen erst
nach Eröffnung der Nationalversammlung an. Den charakteristischen Auftakt gab
me Rede des — damals noch nicht Reichspräsidenten — Vvlksbeauftragten Ebert
vom 6. Februar in der ersten Sitzung, in der es heißt:
„Wir warnen die Gegner, uns nicht zum äußersten zu treiben, wie General
Winterfeldt könnte eines Tages jede deutsche Regierung gezwungen sein, auf
weitem Mitwirkung an den Friedensverhandlungen zu verzichten und dem Gegner
die ganze Last der Verantwortung für die Neugestaltung der Welt zuzuschieben.
Man stelle uns nicht vor die verhängnisvolle Wahl zwischen Verhungern und
Schmach. Auch eine sozialistische Volksregiernng und gerade diese muß daran fest¬
halten: Lieber ärgste Entbehrung als Entehrung!" (Lebhafte Zustimmung.) Richtete
sich diese Rede nach ihrem Anlasse eigentlich mehr auf die erschreckenden Forde¬
rungen der Franzosen fiir die Verlängerung des Wasfenstillstandsabkommens. so
spielte sie doch schon auf die Stellungnahme der Regierung zu dem kommenden
endgültigen Frieden an.
Die Programmrede bes Außenministers Grafen Vrockdorff-Ncmtzan vom
14, Februar greift diesen Standpunkt auf, allerdings ohne ihn nach bestimmten
Punkten hin scharf zu formulieren. Die Rede geht zwar nicht nur auf Allgemeines,
sondern auch auf Einzelheiten wie die polnische Frage ein. Man vermißt jedoch
den großzügigen inneren Zusammenhang, den die Lösung oder Nichtlösung einer
einzelnen Frage mit dem großen Ganzen haben könnte. Der Schluß der Rede
ferner, der die Folgen eines Gewaltfnedens behandelt, ist nicht kategorisch, sondern
hypothetisch. Brockdorff-Rantzau führte (in einzelnen aus dein Zusammenhang
gerissenen Sätzen) aus:
„Nicht dem Spruch des Siegers, nur dem Urteil des Unparteiischen können
wir uns innerlich beugen. Deshalb werde ich mich von den Punkten des Wilson-
schen Friedensprogramms, wie es von beiden Seiten anerkannt ist, nicht abdrängen
l-lösen. Sind wir hiernach entschlossen, ringsumher zugunsten deutscher Blüver das
Recht der Naiionalität geltend zu machen, so wollen wir das Recht auch da an¬
erkennen, wo es sich gegen unsere Machtstellung wendet. Das gilt vor allem für
das Volk der Polen. Wir haben uns bereit erklärt, alle unzweifelhaft polnisch
besiedelten Gebiete unseres Reichs mit den, polnischen Staat verbinden zu lassen.
Wir wollen das Versprechen halten. Welche Gebiete unter den dreizehnten Punkt
von Wilsons Programm fallen, ist strittig. Eine unparteiische Instanz mag darüber
entscheiden.
Wenn ich Ihre Zeit so lange für Fragen auswärtiger Politik in Anspruch
genommen habe, so leite ich das Recht dazu aus dem Umstände her, daß diese
Nationalversammlung auch die entscheidenden Beschlüsse darüber fassen muß, wie
Deutschland den Weltkrieg beenden soll. Die Verfassung, die Sie dem neuen
Reiche geben, wird der feste Grund sein, auf dem die deutschen Vertreter ihre
Verhandlungen mit den Feinden führen werden. Der Geist, der Ihre Gedanken
leitet, wird für die Frage entscheidend sein, ob die Sieger das deutsche Volk als
gleichberechtigt anerkennen oder ob sie ihm Bedingungen zumuten, die es zwingen
werden, lieber die äußersten Folgen zu ertragen, als sich diesen Bedingungen zu
unterwerfen. Gewiß, wir haben nach innen und außen manches gutzumachen,
besonders gegenüber Belgien, und daher haben wir keinen Anlaß, hochfahrende
Worte zu führen. Aber wir haben auch unschätzbare wertvolle innere und äußere
Güter zu verteidigen und deshalb die Verpflichtung, unsere Eigenart und Selbst-
ständigkeit auch den Siegern gegenüber zu behaupten. Wir sind besiegt, aber
nicht entehrt. Der größte Dichter deutscher Freiheit sagt: Mchtswürdig ist die
Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre/ Die Freudigkeit mag
manchen von uns vergangen sein, aber der Wille, der unerschütterliche Wille bleibt
bestehen. Zu einem Teil ist des deutschen Volkes Würde in meine Hand gegeben,
ich gelobe, daß ich sie bewahren will."'
Mit diesen beiden Reden setzte die öffentliche Diskussion in Deutschland
über die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit einer eveniuellen
Unteischriftsverweigerung ein. Die Regierungen (Reichs- und preußische Ne¬
gierung). Regierungsvertreter, Abgeordnete und Presseleute nahmen hierzu Stellung.
Der Wille des Volkes verlangte gebieterisch Gehör. Die Zeit war vorbei, wo
Dictate der Feinde ohne Rücksicht auf die allgemeine Stimmung im Lande an¬
genommen werden konnten. Die Erfolge sah man in der Revision der mit dein
Lebensmittelabkommen in Verbindung stehenden Frage der Auslieferung unserer
Handelsflotte und dem letzten Abkommen in Spaa betreffend die Landung der
Hallerarmee.
Während die feindliche Presse, insbesondere die englische, zu Anfang geneigt
sein mochte, alle Gegenstöße der öffentlichen Meinung als leere Drohungen und
Bluff aufzufassen, änderte sie diese ihre Stellungnahme erheblich. Auch in ma߬
gebenden britischen Kreisen erwog man ernstlich die Gefahr einer möglichen Unter-
schrifiverweigerung und in einem Pariser Exchange-Telegramm hieß es: Man
glaubt, daß eine ernsthafte Gefahr besteht, wenn die Deutschen „Hände hoch"
machen und uns sagen: „macht was' ihr wollt!"
Geht man jedoch der Frage auf den Grund, welche konkreten Bedingungen
die Ablehnung des Friedensvertrages hervorrufen würden, so erhält man kein
klares Bild, weil die Regierung noch überhaupt kein einheitliches Programm
aufgestellt hat, wie sie sich die Umsetzung der Wilsonschen Forderungen in die
Wirklichkeit denkt. Es bleibt in der Regel bei dem allgemeinen Festhalien an
dem Wilsonprogramm. sofern nicht ein Einzelfall, wie die von Frankreich geplante
Regelung der Saargebietsfrage, Veranlassung gibt, die Stellungnahme zu diesem
einzelnen Punkte zu präzisieren. Ganz besonders gilt dies hinsichtlich der pol¬
nischen Frage, oder besser ausgedrückt, hinsichtlich des Schicksals der Ostmark.
Nur ganz allmählich brachen sich hier bestimmte Anschauungen Bahn, die ihrerseits
aber nur in Allgemeinheiten schwebten, ohne in bestimmt abgegrenzten Vorschlägen
zu endigen. Gänzlich verschwommen war ja noch die diesbezügliche Wendung
in der Progrcnnmrede des Grafen Brockdvrff-Nantzau vom 14. Februar. Auf ti'e
Frage, sollen wir die Ostmark behalten oder welchen Teil sollen wir abtreten, ist
noch keine Antwort erfolgt, so daß aus diesem Grunde dem Volke die Möglichkeit
der Beurteilung fehlt, wann der Grenzpunkt erreicht werden wird, der die Ne¬
gierung und die Nationalversammlung zur Ablehnung der Unterschrift zwingen muß.
Die bekannte und berüchtigte Stelle in der Rede Erzbergers vom 24. März
bor dem Neichsverband Ostschutz, in der es heißt „Das deutsche Volk kann und
wird einen Frieden, der mit der Annexion von Danzig, Westpreußen und eines
Teiles Oberschlesiens belastet wird, nicht unterzeichnen", läßt Posen gänzlich außer
acht und ist vor den: dadurch hervorgerufene» Entrüstungssturm für die weitere
Bewertung dieser Frage gegenstandslos geworden.
In folgendem wird eine aus der Presse geschöpfte Übersicht gegeben:
Ministerpräsident Scheidemann in der Rede vom 10. April vor der National¬
versammlung:
„.....die Treue zu uns selbst. Ihr Gebot zwingt uns zur unerschütterlichen
Wahrung derjenigen deutschen Lebensinteressen, ohne die weder ein nationales noch
ein staatliches Dasein möglich ist. Jede Verpflichtung, die dagegen verstieße, wäre
von uns unerfüllbar."
Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau, ebenda am 10. April, bei dem Hinweis
darauf, daß das Wilsonprogramm die Grundlage des Friedens bilden müsse:
„Einen Frieden, der sich von dieser Grundlage in einem wesentlichen Punkte
entfernt, können wir nicht unterzeichnen."
Der Präsident der Preußischen Landesversammlung am 11. April, Leinert:
»Daher ist der Friede auf unserer Seite nicht zu schließen mit Vertretern irgend-
welcher Interessen, die dem Volke fremd sind, sondern der Friede ist zu schließen
mit dem gauzen deutschen Volke. Darum wollen wir unserer Volksregierung
sagen, daß sie nur einen Frieden schließen darf, der uns die Sicherheit bietet, daß
alle Hindernisse der Volksversöhnung beseitigt werden. Stellen wir aber dies
Verlangen, so verpflichtet uns das auch, die Regierung aufzufordern, keiner Be¬
dingung des Friedens zuzustimmen, die unser Dasein, unser Leben gefährdet . . .
Unsere Regierung darf niemals ihre Zustimmung zu einem Gewaltfrieden geben,
der Deutsche unter die Fremdherrschaft anderer bringt."
Der Reichspräsident Ebert in der Osterbotschaft am 15. April: „Ich begrüße
diese Kundgebung" — der Nationalversammlung vom 10. April — „als das Be-
terrenis des unbeugsamen Willens des deutschen Volkes, daß der kommende Friede
ein Friede dauernder Verständigung und Versöhnung sein soll."
Zu beachten ist der Ausdruck „ich begrüße". Eine bestimmte Festlegung der
Neichsregierung ist damit vermieden.
Reichsminister Erzberger vor dem Friedensauschuß der Nationalversammlung
am 22. April:
„Die Regierung steht nach wie vor auf dem Standpunkt, wie er in dem
Notenwechsel mit Wilson dargelegt ist."
Der Reichspräsident zu einem Korrespondenten der „Neuen Freien Presse":
„Weder die jetzige noch irgend eine deutsche Regierung würde ein Frieden
unterzeichnen können, der den vierzehn Punkten widerspräche."
Die Regierungserklärungen gehen über Allgemeinheiten nicht hinaus.
''-'^--.'"^''
Ur. 193 vom 15. April, bei dem Bekanntwerden der französischen Wünsche
hinsichtlich des Saargebietes und der enormen Kriegsentschädigung:
„NeinI
Die Entente ist im Irrtum, wenn sie glaubt, daß es irgend eine deutsche
Regierung gäbe, die solche Friedensbedingungen unterschreiben könnte. Wollen
die gegenwärtigen Machthaber von drüben sie durchführen, so werden sie die Sache
selber in die Hand nehmen müssen. Sie müssen sehen, wie sie mit den Bewohnern
des Saargebiets fertig werden, die deutsch sind und deutsch bleiben wollen, und
sie mögen selber erfahren, daß die in Vorschlag gebrachten Beträge von uns nicht
hereinzubekommen sind, selbst wenn man uns das letzte' zerrissene Bettuch unter
dem Leibe und die letzten Stiefel von den Füßen zieht.
Die Entente kann diese Friedensbedingungen durchführen, wie gesagt, wenn
sie es kann. Aber keiner deutschen Regierung würde man zumuten zu erklären,
daß dies ein Rechtsfrieden sei, auf den sich Europas dauernde Ruhe gründen
könne, und daß dies überhaupt ein durchführbarer Vertrag sei. Denn das wäre
eine Erklärung wider besseres Wissen, und man soll die deutsche Politik, von der
man vor der Revolution sagte, daß sie unehrlich sei, nicht nach der Revolution zu
einer Erklärung zwingen wollen, die nicht ehrlich sein könnte. Wenn wir schon
ganz zugrunde gehen sollen, so wollen wir es lieber in Aufrichtigkeit und Ehre
als in Lüge und Schande tun."
Bezieht sich dieser Artikel nur auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem
Fricdensprogramm, so ist nachstehender Auszug aus dem Artikel vom 22. April
Ur. 203 allgemeiner:
„Wenn die deutsche Regierung ihre Bereitschaft zu Verhandlungen erkennen
läßt, so tut sie das in dem Bewußtsein, daß der Frieden ohne schwere Opfer für
das deutsche Volk nicht zu erreichen ist. Sie ist bereit, Gebiew aufzugeben, deren
Bevölkerung ein Verbleiben im politischen Machtbereich des alten Reiches nicht
wünscht, und sie ist bereit, finanzielle Verpflichtungen zur Wiederherstellung der
kriegsverwüsteten Gebiete im Westen zu übernehmen.
Was wir Sozialdemokraten vom Frieden verlangen, läßt sich kurz so aus¬
drücken: Wir verlangen einen Frieden, der es uns ermöglichte künftige Nevcmche-
aelüste erfolgreich zu bekämpfen. Das wird aber nur der Fall sein, wenn nicht
deutsches Gebiet wider seinen Willen unter fremde Herrschaft gebracht wird, und
wenn dem deutschen Volk nicht Lasten auferlegt werden, unter denen es zusammen¬
brechen muß. Ein Frieden, der das Selbstbestimmungsrecht achtet und die Grenzen
physischer Leistungsfähigkeit respektiert, muß das VerHandlungsziel sein. Ob es
erreicht werden kann, muß sich erst bei den Verhandlungen zeigen. Daß es ohne
sie unerreichbar bleibt, ist von vornherein gewiß."
Hier wird auch auf die Frage der Ostmark, wenn auch nicht den Worten
nach, eingegangen, jedoch ohne eins bestimmte Lösung zu zeigen, zumal nicht der
Weg gewiesen wird, den Umfang des Verzichtes mit der Forderung auf Erhaltung
deutscher Gebiete zu vereinigen.
Freiherr von Richthosen, Mitglied der Nationalversammlung, in seinem
Artikel „Die letzte Entscheidung", „Berliner Tageblatt" vom 16. März:
„Nach wie vor sind wir bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Völker den
fremdsprachigen Elementen in unserem Vaterlande im weitesten Umfange zu ge¬
währen. Eine Vergewaltigung Deutscher, sei es im Osten oder Westen, ist aber
damit unvereinbar. Die Entente kann sie vielleicht militärisch erzwingen, unsere
Zustimmung zu einem solchen Verbrechen an der lebendigen Menschheit wie an
der Zukunft der Völker Europas wird sie nicht erhalten. ....
Stehen aber die Forderungen der Entente mit den von ihnen selbst beim
Waffenstillstand übernommenen Verpflichtungen im Widerspruch, so wird sich die '
Regierung zu Fortsetzung der Verhandlungen für nicht kompetent erklären müssen.
Sie wird hiervon der Nationalversammlung Mitteilung zu machen haben und die
Nationalversammlung kann entweder den von der Erdeule vorgeschriebenen Frieden
als unannehmbar bezeichnen oder ihn einer Volksabstimmung unterbreiten. Das
Volk selbst muß dann entscheiden, welches das schwere Schicksal sein soll, das es
sich wählt. Es wäre vielleicht gut, wenn die deutsche Regierung die Ententestaaten
über diesen Sachverhalt nicht im unklaren lassen würde."
Neichsminister Dernburg, „Berliner Tageblatt" vom 23. März, Artikel
„Was wir nicht unterschreiben!"
„Das deutsche Volk wird sich die Mimicry, die jede Eingebung der Furcht,
jedes Gelüst nach Macht und Rache den Wilsonschen Punkten anfärbt, nicht ge¬
fallen lassen, und es wird keinen Frieden unterschreiben, der nicht jene unparteiische
Gerechtigkeit, Versöhnung und Aussicht auf Dauer verspricht, wie es uns unterm
27. September 1918 von Wilson zugesichert worden ist. Insbesondere werden
wir« nicht unterschreiben einen Frieden, der nicht als Haupt» und Schlutzstück
einen Völkerbund enthält, und zwar einen Völkerbund, in den Deutschland von
vornherein als ein gleichberechtigtes Glied aufgenommen ist, (Punkt 3 und 4
vom 27. September 1918), einen Völkerbund, der die Regelung der internationalen
Beziehungen unter die Garantie der friedenschließenden Völker stellt, und sie los¬
löst von Geheimdiplomatie und Kabinettspolitik, die die Pariser Verhandlungen
heute beherrschen. Die Sicherung des Friedens der Welt muß in diesem Völker¬
bund verankert sein, dem Deutschland aufrichtig und ernsthaft angehören will.
Dann bedarf es weder militärischer noch territorialer Sicherungen, und so werden
wir auch keinen Frieden unterschreiben, der deutsches Land annektiert und deutsche
Gebietsteile unter Sonderrecht stellt. Wir können keinen Frieden unterschreiben,
der die Frage des Gebietsstandes „anders als auf der Grundlage freier Zu¬
stimmung der unmittelbar beteiligten Völker, nicht aber auf der Grundlage des
nationalen Interesses der anderen Staaten erstrebt." (Punkt 2 vom 4, Juli 1918.)
Was das Saargebiet anbetrifft, sind die dortigen Deutschen, was die Provinzen
Posen und Westpreußen anbetrifft, deren Einwohnerschaft die unmittelbar be¬
teiligten Völker und nicht etwa die Franzosen und Polen. Einen Frieden, der
anders bestimmt, werden wir nicht unterschreiben."
ReickSschatzminister Gothein, „Berliner Tageblatt" vom 23. April, Artikel:
„Welchen Frieden können wir annehmen?"
„Keine deutsche Regierung kann einem Frieden zustimmen, der nicht eine
loyale Auslegung der Wilsonschen Friedenspunkte bringt. Zu ihnen haben sich
die Gegner und haben wir uns verpflichtet. Nur im Vertrauen auf sie haben
wir uns den furchtbar harten Waffenftillstandsbedingungen unterworfen. Das
deutsche Volk müsse sich belogen und betrogen fühlen, wenn man ihm jetzt weiteres
zumutete. In den sieben Monaten seit dem Waffenstillstandsangebot hat Deutsch¬
land Unsagbares gelitten. Aber es kann keinen Frieden auf sich nehmen, der ihm
Unmögliches zumutet. Ein solcher würde der Negierung, würde der National¬
versammlung den Rückhalt im Volke nehmen, würde den Sieg des Bolschewismus,
den Untergang der europäischen Kultur bedeuten."
Bezüglich Posens wurde vorher gesagt! „Nirgends im Osten Deutschlands
gibt es Gebiete, die von einer unzweifelhaft polnischen Bevölkerung bewohnt sind.
Deutsche Kultur herrscht in ihnen' was dort geschaffen ist, ist deutscher Geistesarbeit
zu danken. Auch die jetzt außerhalb der Demarkationslinie liegenden Teile Posens
sind zum guten Teil überwiegend deutsch. Aus dem Zusammenhang mit Deutsch¬
land gerissen, würden sie aufs schwerste leiden, würden sie in jenen Zustand der
Unkultur zurücksinken, in dem sich die weitesten Teile Polens und Galiziens
befinden."
Neichsminister Graf Brockdorff-Nantzau am 12. März:
„Die Reichsregierung stellt sich strikt auf den Standpunkt, daß für die
kommenden Friedensverhandlungen lediglich die vierzehn Punkte Wilsons die
Richtschnur zu bilden haben."
Fehrenbach, Präsident der Nationalversammlung, am 25. April:
„Wir werden auch nicht einen Frieden unterzeichnen, der das Saargebiet
den Feinden ausliefert und Danzig den Polen zusprichtl"
(Und wir fügen hinzu: auch Posen!)
Minister des Innern Heine, Versammlung des Reichsverbandes Ostschutz
am 27. April: „Deutsche Allgemeine Zeitung" Ur. 203 vom 28. April:
„Unsere Friedensunterhändler sind nach Paris bestellt. Sie müssen wissen,
daß der Wille des Volkes hinter ihnen steht. Deshalb ist es gut, wenn jetzt
überall im deutschen Lande man sich klar macht, was man tut und was für
Pflichten man übernehmen kann, was möglich und was unmöglich ist. Wenn
wir heute gegen die bekannten Pläne der Feinde protestieren, so wollen wir bei
ihnen nicht um Gnade betteln. Wir sind geschlagene Männer, wollen uns aber
nicht betragen wie verprügelte Kinder. Auch wir Deutschen haben unser nationales
Recht. Darum protestier?» wir, daß Danzig und Westpreußen den Polen zugeteilt
werden soll, daß man das Saargebiet abreißen und das linksrheinische Gebiet
unter französische Herrschaft bringen will. Was Posen betrifft, so ist es die
deutsche Arbeit, die die Grenze zu ziehen hat, nicht alte Dokumente, weder die
von der dritten Teilung Polens noch von der ersten Schlacht bei Tannenberg.
Wo deutsche Kultur und Arbeit den Ausschlag gibt, ist das Land deutsch."
Der Neichsverband Ostschutz nahm darauf folgende Entschließung an:
„Die heutige vom Reichsverband Ostschutz nach dem Palasttheater in Berlin
einberufene von Tausenden von Personen ohne Unterschied der Partei besuchte
Versammlung protestiert angesichts der bevorstehenden Friedensverhandlungen mit
größter Entschiedenheit gegen jede Zerstückelung Deutschlands. Sie fordert einen
Frieden der Gerechtigkeit und Verständigung gemäß den Richtlinien des Präsidenten
Wilson und verlangt das Selbstbestimmungsrecht in unseren zweisprachigen Grenz¬
marken auch für die Deutschen. Die Versammlung weist mit Entrüstung besonders
die übertriebenen Ansprüche des Polentums auf die deutschen Ostgrenzen zurück,
da ihre Verwirklichung etwa drei Millionen deuischer Kulturpioniere unter das
Joch der Fremdherrschaft beugen und sie kultureller, wirtschaftlicher und sozialer
Verelendung preisgeben würden. Wie Danzig eine rein deutsche Stadt und
Westpreutzen überwiegend deutsch ist, so sind auch in Posen und Oberschlesien
deutscher Besitz, deutsche Bildung und deutsche Schaffenskraft von überwiegender
Bedeutung. Deutschland könnte den Verlust von Gebieten, in denen das deutsche
Volk nach kuliureller und wirtschaftlicher Leistung das Übergewicht besitzt, niemals
verschmerzen. Darum erheben wir im Interesse nicht nur Deutschlands, sondern
auch zum Heile der Menschheit, das einen Dauerfrieden erfordert, unsere Stimme
gegen jede Zerstückelung Deutschlands und für einen gerechten Verständigungs-
frieden."
Volk und Negierung sind sich darin einig, daß die Verweigerung der Unter¬
schrift als letztes Mittel in ernsthafte Erwägung gezogen werden muß, um das
deutsche Volk vor sicherem Untergang zu bewahren.
Besteht die Entente auf einem Diktatfrieden, so hat die Ablehnung schon
aus. rein formalen Gründen allein durch die Regierung zu erfolgen. — („Preußische
Zeitung" vom 28. April.) — Soll ein Gewaltfricde nach Wahrung der Vi-r-
tiandlungsform aufgezwungen werden, so trifft die Nationalversammlung die
Pflicht, die Uuterschiift der^Delegierten zu verweigern oder aber die Entscheidung
über Annahme oder Ablehnung unmittelbar dem Volke selbst (Volksabstimmung,
Referendum) zu überlassen. Das Volk soll sich dabei nicht durch bange Rücksicht
auf nahe Gefahren und noch weniger durch Zuflüsterungen von der Gegenseite
irremachen lassen. Wenn der englische Arbeiterführer Henderson jetzt das deutsche
Volk dringlichst ersucht, rasch einen Frieden um jeden Preis zu schließen, um sich
erstens vor der Selbstvernichtung durch den Bolschewismus zu retien und um
zweitens sich eine spätere Revision d,S Friedens durch die internationale Demo¬
kratie zu sichern, so ist das bestellte Arbeit.
Siehe seine Ausführungen: Die Unterzeichnung des Pariser Friedens würde
von selbst die Aufhebung der Blockade mit sich bringen. Wenn der Friede von
den Deutschen nicht unterzeichnet würde und in Deutschland der Bolschewismus
mit seinen unvermeidlichen Folgen käme, so würde das für Deutschland selbst und
für die ganze Welt ein Verhängnis sein. Es sei für die Deutschen besser, einen
unbefriedigender Frieden anzunehmen, als durch Ablehnung der Friedens¬
bedingungen einen Zustand heraufzubeschwören, dessen Wirkung sich nicht absehen
lassen würde. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages würden die Deutschen
den Arbeitern in den Ententeländern eine wirkliche Waffe für eine energische
Aktion zugunsten Deutschlands in die Hände geben, und sie würde als der beste
Beweis dafür betrachtet werden, daß man in Deutschland wirklich radikal mit der
Vergangenheit gebrochen hat und entschlossen ist, sich ehrlich an der Neugestaltung
der Welt zu beteiligen. Ein rascher Friede sei augenblicklich von so überragender
Bedeutung, daß daneben alle anderen Erwägungen in den Hintergrund treten
müßten.
Der „Vorwärts" Ur. 214 vom 28. April, Artikel „Die Suche nach dem
Frieden" hat sich von diesen Argumenten schon halb gewinnen lassen, wie sich aus
nachstehendem Auszug ergibt:
„Ein Frieden der Gewalt, mag er unterzeichnet werden oder nicht, wird
aber auf keinen Fall der Frieden sein, den die Welt haben will. Auch er wird
nichts anderes sein als Krieg, in dem gerade nur nicht oder noch nicht geschossen
wird. Der wirkliche Frieden liegt erst weit hinter diesem unheilvollen Zustand,
wer weiß wo?
Wir wollen einen ehrlichen Frieden unterzeichnen, und sind bereit, tragbare
Lasten, die aus ihm entspringen, auf uns zu nehmen, wir wollen nur nicht
gezwungen werden, einen Scheinfrieden, einen unerfüllbaren Vertrag zu unter¬
schreiben, handeln zu müssen, wie leichtsinnige Kavaliere, die alles versprechen,
was sie nicht halten können.
Möge es der deutschen Delegation gelingen, für diesen Standpunkt in der
Welt Verständnis zu werben.
Die Frage, ob es zur Unterzeichnung kommen wird oder nicht, ist die große
Frage eines tragischen Augenblicks. Wert und Haltbarkeit des abzuschließenden
Vertrages werden aber nicht davon abhängen, was unter ihn geschrieben, sondern
was in ihn hinoingeschrieben wird. Verträge, die gegen Vernunft und Möglichkeit
verstoßen, werden durch die Macht der Tatsachen wieder umgestoßen werden.
Unterschriften, durch die sich ein Volk zur Selbstvernichtung verpflichtet, wird die
Geschichte auslöschen und das Volk wird weiter leben. Unterzeichner? nicht
unterzeichnen? Den kürzesten, schmerzlosesten Weg zum wirklichen Frieden zu
suchen, der ja doch kommen nutz, weil die Menschheit ohne ihn nicht mehr leben
kann, daß ist die verantwortungsvolle Aufgabe der deutschen Friedensdelegation
und der deutschen Regierung in den kommenden entscheidungsschweren Tagen."
Die Wiedergabe der Heudersonschen Äußerungen und der anscheinend völlig
davon unabhängige soeben zitierte Vormärtsartikel finden sich in der gleichen
Nummer auf der gleichen Seite. Unmerklich schwenkt der „Vorwärts" um und
verbirgt in der äußeren Verschiedenheit der Beweisführung die Absicht, für den
Heudersonschen Gedanken zu werben. Beide drücken, nur mit anderen Worten,
denselben Gedanken aus: Unterzeichner! Es ist kein endgültiger Friede (Schein¬
friede), die Arbeiterschaft in den Entenieläudern (die Macht der Tatsachen) hätte
eine energische Waffe zugunsten Deutschlands (stößt Verträge gegen Vernunft und
Möglichkeit um)I Ein gefährliches Spiel, bei dein ein unsicherer Wechsel auf
ungewisse Möglichkeiten gegen die ganze Zukunft der Nation eingesetzt wirbt Die
mögliche Revision eines einmal unterzeichneten Friedens durch die „Macht der
Tcnsachen" (eine andere Busdrucksweise als der Einflüsterer Henderson anwandte)
liegi, in so nebelweiter Ferne, daß das deutsche Volk sich doch lieber die Frage
vorlegen wird, ob unter den Vertrag die Unterschrift gesetzt werden soll oder nicht.
"
Den Kern der Sache trifft die „Frankfurier Zeitung — Ur. 238 vom
22. April — die jede Rücksichtnahme auf etwaige Druckmittel der Entente bei
UiNerschriftSverweigerung zurückweist und erklärt: „Aber unsere Auffassung vom
Frieden darf durch solche Erwägungen nicht bestimmt werden. Wir haben nur
zu überlegen, ob der uns zugedachte Friede uus nicht in eine noch schlimmere
Versklavung bringen wird und ob die Ablehnung nicht doch das kleinere von
zwei Übeln ist. Es stehen in der Tat die größten Dinge für uns auf dem Spiel.
Ob nur so oder so zugrunde gehen, kaun uns gleichgültig sein. Es gibt Dinge,
die ein großes Volk einfach nicht annimmt. Auf Verhandlungen sich einlassen,
heißt dann schon von Anfang an sich auf den abschüssigen Weg begebenl"
D n der zweiten Hälfte des April haben in fünf Ländern und Land¬
schaften — in Württemberg, Baden, Hohenzollern, dem bayrischen
Schwaben und Vorarlberg — bedeutsam-.' Kundgebungen stait-
Z gefunden, die sich mit einer politischen Neugestaltung' im alten
H schwäbischen Lande, das den Vodensce in nördlich gerichtetem Bogen
M umschließt, befassen. Es handelt sich um die Wiedervereinigung
der um Laufe der Zeit politisch von einander gekannten Bestandteile des alten
Herzogtums Schwaben, nun, wo die durch dyuasnsche Gegebenheiten gestalteten
Grenzen der süddeutschen Länder nicht mehr die Berechtigung und die Bedeutung
haben, welche sie besaßen, solange jene von Fnrstmkroncn überstrahlt waren.
Der Name Schwaben und die Bezeichnung schwäbisch ist von allen den
genannten Gebieten besonders von Württemberg mit Be'chlag belegt worden,
seitdem zu dem altwürttembergischen Besitzstand unter Napoleons Schützling,
König Friedrich, die zahlreichen Reichsstädte, unmittelbaren Klöster, rcichsfreien
Grafschaften und Niiterstände hinzugekommen waren, die noch heute als Ober-
schwachen bezeichnet werden, während der Begriff „Niederschwaben" nicht geläufig
ist. Der Name Schwaben besteht ferner fort in dem bayrischen Kreise „Schwaben
und Neuburg" mit den Städten Augsburg, Nördlingen, Memmingen, Kempten,
Lindau. Die Hohenzollern dagegen bezeichnen sich, obschon sie „schwäbisch" sprechen,
jedenfalls politisch als Hohenzollern, und in Baden ist der Begriff des Schwä¬
bischen vollkommen verschwunden, bzw. gänzlich dem Württembergischen überlassen
worden. Der Schwarzwälder und der Bewohner der oberbadischen Rheinebene
bezeichnet sich im Gegensatz dazu als Alemannen. In Vorarlberg vollends denkt
kein Mensch daran, ein Schwabe sein zu sollen.
Trotzdem hat, wie gesagt, der Gedanke Wurzel geschlagen, die altschwäbische
Gemeinsamkeit Wiederaufleben zu lassen; ja, es gibt sogar in der alemannischen
Schweiz Leute, welche ihm Interesse entgegenbringen.
Ausgegangen ist die Propaganda von Württemberg und hat dort auch schou
wiederholt in der Laudesversammlung warme Befürwortung gefunden. Baden
folgte zögernd; aber trotz mehrfacher Einsprüche (z. B. von seiten der Freiburger
Handelskammer) hat das Negierungsorgan, die „Karlsruher Zeitung", Stellung
dazu genommen, mit der Bemerkung, daß die Sache „eine gewisse Aufmerksamkeit
verdiene" und das; die Behandlung in der Öffentlichkeit „nützlich" erscheine.
I» Hohenzollern ist der Kommunallandtag zu einem förmlichen Beschluß in der
^>cige gekommen, unter dem Vorsitz des Regierungspräsidenten Grafen Brühl.
Mau stimmte zu, daß Hohenzollern „sich dem Zustandekommen einer Republik
Schwaben" nicht werde „entziehen" können; daß „an sich kein Anlaß" vorliege,
sich von Preußen zu trennen; daß „das Volk gehört werden" solle. In Bayrisch
Schwaben hat die Stadt Memmingen offen den Wunsch ausgesprochen, an Württem¬
berg zu kommen; ebenso ist Neu'Ulm für den Anschluß an den Nachbarn. Vor-
arlberg ist zunächst für Anschluß an die Schweiz. Die Schweiz hat sich jedoch
wenig'„eroberungslustig" gezeigt und bestimmte Bedingungen gestellt. Sollte es
nicht zur Einigung kommen, so steht auch Vorarlberg dem Gedanken, sich einem
neuen Schwaben anzuschließen, geneigt gegenüber.
So liegen die Dinge heute (Ende April). Man scheint sie in Norddeutschland
mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten und in diesen: Siammeserwachen
eine separatistische Bewegung sehen zu wollen, wie sie leider im Rheinland und,
was den Bestand Preußens betrifft, in Hannover vorliegt. Von Separatismus
kann man im alten Schwaben aber nur im Hinblick auf den bayrischen Kreis
und auf Hohenzollern sprechen, indem dadurch Bayern und Preußen angetastet
werden. Im Ganzen genommen handelt es sich um eine Einheitsbewegung, die
das Reich als solches nicht absichtlich schädigend berührt, sondern im Gegenteil
den Zielen derjenigen entspricht, die auch eine Zusammenlegung der thüringischen
Kleinstaaten unter Einschluß von Erfurt oder die Schaffung eines rheinsrünrischen
und mninfränkischen Staatsgebildes befürworten.
Freilich hat die Gründung eines südwestlichen Freistaats Schwaben einen
Haken. Das ist die stammliche Gestaltung Badens, das aus zwei ziemlich gleich
großen Hälften besteht, von denen die eine fränkisch, die andere alemannisch
(-- schwäbisch) ist. Die fränkische Hälste mit Mannheim und Heidelberg empfindet
ihre Stammesart ebenso deutlich, wie man sie seinerseits in Württemberg verspürt.
Aber die fränkische Stcmnncsart neigt nicht nach Süden, sondern in die Rhein-
pfalz hinüber. Daher wird der Plan, Württemberg und Baden, so wie sie sind
einfach mit einander zu vereinigen, hier empfindlich durchkreuzt, und andererseits
läßt das badische Staatsgefühl den Gedanken einer Teilung nicht zu. Man ist
deshalb auch auf den Gedanken gekommen, dem eigentlichen Schwaben nebst
Zlcordbaden auch die Pfalz anzugliedern. Dies geht über das Stammesproblem
natürlich weit hinaus und kann nur mit wirtschaftlicher Begründung empfohlen
werden, um es überhaupt zur Besprechung zu bringen.
Es ist aber interessant, daß dies gerade von württembergischer Seite
geschehen ist. Denn damit fallen alle Gründe, die sonst gegen eine politische
.'.Gleichmacherei" in Deutschland (im einheitlichen Sinne) erhoben werden, plötzlich
in Nichts zusammen: Der Nheinpfälzer ist „ein ganz anderer Mensch" als der
Schwabe, und doch liebäugelt man gerade in Stuttgart, wo man so stark wie
sonst nirgends auf die Eigenart bedacht ist, damit, auch diese so ganz anders
geartete Bevölkerung in das neue „Schwaben" einzubeziehen. Freilich müßie
dann der Name „Schwaben" fallen, und es droht in diesem Falle bie höchst
ungünstige Bezeichnung „südwestdeutsche Republik". — eine Bezeichnung, die
Namentlich für die adjektivische Anwendung sehr vom Rbel wäre und sich niemals
im Winkel am Ofen einbürgern würde. Und das ist doch sehr wünschenswert für
eine vaterländische Bezeichnung.
Auf alle Fälle sieht man aus dem Gesagten wohl zweierlei: erstens, daß
der Siein ins Rollen gekommen ist, daß er aber noch etwas stark hin und her
springt; und zweitens, daß sogar hartnäckig partiknlarisnsch veranlagte Länder in
Dcutichland ihre sonst so zäh festgehaltenen Grenzen und Grundsätze leicht preis¬
geben, wenn neuzeitliche Interessen auf dem Spiele stehen.
Das eigentümliche an der Sache ist nämlich, daß die private Bewegung,
die den Gedanken in die Presse brachte, und die von Ulm ausgeht, ein so stark
romantisches und gefühlsmäßiges Gepräge hat, daß man ursprünglich einen
„Neichsstand" Schwaben (jetzt: „Reichsland") schaffen wollte und ein „Schwabcn-
kapitcl" begründet hat, dem die Anhänger der Idee beitreten' daß aber aus dieser
romantischen Bewegung eine selbständige wirtschaftliche geworden ist, die dann
auch allein praktisch werbend weiterwüken kann.
Wenn Memmingen für Anschluß an Württemberg ist, so kommt es daher,
daß der Kreis Schwaben und Neuburg von Bayern, namentlich »erkehrstechnisch,
sehr stiefmütterlich behandelt worden ist. Wenn Vorarlberg, nächst den Anschluß
an die Schweiz, den an Schwaben (nicht aber an Bayern) plant, so ist das im
Absatz seiner Alpenwirtschafts- und Stickereiprodukte begründet, für welche Schwaben
— aus eigenem Mangel an dergleichen — günstig liegt. Wenn man im nörd¬
lichen Baden nicht flammenden Einspruch gegen den Gedanken, schwäbisch werden
zu sollen, erhebt, so ist es der Neckarfluß mit seiner Mündung bei Mannheini,
der das Wunder zuwege bringt' und wenn man in Württemberg ganz besonders
den Badenern „flattiert" — die man sonst nicht gerade sehr dringend umwarb —,
so sind es neben dem Neckar auch der Rhein und die Donau (bei Tuttlingen), und die
damit zusammenhängenden sehr wichtigen materiellen Interessen, die den Wunsch
beflügeln helfen — abgesehen natürlich von den: schmeichelhaften Moment, dein
lieben Namen Schwaben weitere Grenzen und aufs neue einen guten Klang in
der Welt geben zu können und Stuttgart als Hauptstadt eines so viel größeren
Landes zu besitzen. Die Einbußen, die Karlsruhe erleiden würde, sind denn auch
ein besonderer Gegengrund für Baden, während die beiden Grenzstädte Rottweil
(Württemberg) und Pforzheim (Baden) sich bezeichnenderweise für den Zusammen¬
schluß einsetzen.
Sehr interessant aber ist es, ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen erkennen
zu dürfen, daß die viel bedauerten „Mußpreußen" im Hohenzollernschen gar nicht
so eifrig dabei sind, das preußische „Joch" abzuschütteln und sich den württem¬
bergischen Stammesbrüdern anzuschließen, wie Man das in und um Stuttgart
anfangs angenommen hatte. Auch hier sind wirtschaftliche Gründe maßgebend:
der Kommuuallcmdtag hat erklärt — ein Unikum in unserem Deutschland von
deutet — daß die Finanzlage des Ländchens „vorzüglich" sei. Preußen kann
stolz hierauf sein. Dies Zeugnis widerlegt vieles von dem, was man sonst gegen
die „Unfähigkeit" Preußens zur Kolonisation und gegen seine moralische Werbe¬
fähigkeit zu sagen pflegt. Das Geheimnis ist nämlich, daß Hohenzollern sehr
reichlich von Preußen bedacht wird, so daß sogar die Steuern in diesem Gebiet
nicht so drückend sind, wie sie es z. B. dann wären, wenn Hohenzollern an
Württemberg käme!
Die ganze Bewegung ist also lehrreich insofern, als wirtschaftliche Inter¬
essen angefangen haben, einen ganz ungemeinen politischen Wert in Deutschland
zu bekommen. Dies ist für die Zukunftsentwicklung Deutschlands vielver-
sprechend. Die alten Grenzpfähle werden ganz von selbst fallen. Eisenbahnen,
Flußläufe, Jndustriebezirke, Elektrizitätsguellen, Kanäle, Kohlenlager lverdeu über
alle die kleinlichen Bedenken schließlich siegen, die es heute noch bei so vielen für
ausgeschlossen erscheinen lassen, daß die jetzt bestehenden, geschichtlich gewordenen
Grenzen, die uns soviel Übles im Innern bereiten, verschwinden könnten und
jeder dennoch seine Eigenart behält.
Trotzdem aber kommt man um eine politische Erwägung bei der Betrach¬
tung des südwestlichen Problems nicht herum. Ich sagte schon, daß es sich
keineswegs um eine „separatistische" Bewegung handelt. Aber eine andere Frage
ist es, ob die Wirkung eines neuen südwestdeutschen Staatsgebildes nicht
Separatismus erzeugen könnte. Zwischen Bayern und Württemberg bestehen
leider so überaus wenig sympathisierende Fühlungs- und Berührungepunkte, daß
man, zumal wenn das neue Schwaben sich auf Kosten Bayerns begründen sollte,
von einem engerm Anschluß und damit von einer süddeutschen Koalition nicht
mehr zu befürchten hätte, als man heute schon davon zu verspüren hat, wenn
die Minister der süddeutschen Staaten sich zusammensetzen und gegen die Zentrali-
sation konspirieren und protestieren, überdies liegt es durchaus im Bereich der
Möglichkeit, daß Bayern in seiner heutigen Gestalt nicht mehr lange besteht, daß
sich vielmehr ein mainfränkisches Gebilde davon ablöst.
Aber wenn neben einem großen Bayern auch ein großes Schwaben de
stände, so läge gerade hierin an und für sich wohl weniger etwas Bedenkliches
im gesamtdeutschen Interesse, als wenn sich ein solches Schwaben, entlang der
französischen Grenze, bis gegen die Saar hin erstrecken sollte, d h., wenn auch die
Rheinpfalz mit einbezogen würde. Dann wäre die ursprüngliche Parole: Ver¬
einigung alles in Deutschland gelegenen Altschwäbischen hinfällig, diese Parole,
der man gewiß sympathisch gegenüberstehen darf, da sie Gefühlswerte hat, die
alle Förderung verdienen.
Geht man aber allzuweit darüber hinaus, so bekommt die Sache ein anderes
Gesicht. Mit dem Fallenlassen des Stammesgedankens ensteht ein süddeutsches
Problem gegen alles übrige Deutsche, und — es sei wiederholt — entlang der
französischen Grenze. Erst dieser Tage hat sich das „badische Vvlksheer" kon¬
stituiert; erst dieser Tage wieder ist in Württemberg von den A.- und S,-Nöten
verlangt worden, daß die militärischen Sondervorrechte Württembeigs in vollem
Umfange gewahrt bleiben sollen. Wird sich ein neues Schwaben herbeilassen,
diesen 'Partikularismus aufzugeben? Wird nicht eine Negierung, die in Stuttgart
über ein erheblich größeres Gebiet verfügt als heute, noch weit partitularistischer
sein? Wird sie nicht erst recht vom Größenwahn erfaßt werden und glauben,
nun erst recht gegen alles „norddeutsche", was der Inbegriff des Unheils und
des Übels ist, Front machen zu müssen? Wird die Bevölkerung hierdurch nicht
immer aufs neue mißerzogen, von der deutschen Sache weggeleitet und auf
unüberlegtes sympathisieren mit anderen Nachbarn hingelenkt werden? Man
sage nicht, daß diese Bemerkung beleidigende Schwarzseherei sei! Im Jahre 19l3
war im Südwesten in breiten Schichten das alte, verdammenswerte Wort: „Lieber
französisch als preußisch!" wieder so geläufig wie je.
Es soll nicht behauptet werden, daß diejenigen, welche das Problem staatS-
niännisch durchdenken, bewußt darauf abzielen, ein süddeutsches Gegengewicht
gegen „Preußen" zu schaffen. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß eine
solche Lagerung entstehen möchte, die noch weit betrüblichere Ergebnisse haben
könnte, als die Ministerkonferenzen der süddeutschen Staaten sie im gesamtdeutschen
Sinne und im Sinne des Fortschritts zur wahren Einheit zu haben Pflegen.
Freilich ist ja eine Überschätzung der Bedeutung eines solchen „Schwabens" vom
Arlberg bis zur Saar eben nur eine Überschätzung. Aber Bescheidenheit lehren,
ist eine schwierige Sache: man denkt auch heute in Württemberg und Baden nie
daran, daß diese Länder doch nur den kleinsten preußischen Provinzen an Umfang
gleichkommen; man beansprucht völlige Gleichberechtigung mit dem so viel größeren
Großstaat Preußen. Das neue Schwaben käme — ohne Vorarlberg und die
Pfalz — an Umfang doch immer nur etwa den beiden Provinzen Rheinland urd
Hessen-Nassau gleich; Preußen wäre immer noch um rund 300 000 Quadrat¬
kilometer größer! I Mit Vorarlberg und der Pfalz wäre das neue Land etwa so
groß wie Posen und Westpreußen zusammengenommen. Also für Größenwahn
noch kein GrundI Dennoch aber läge die Gefahr nahe, daß eine mächtige üdcr-
schntzung der eigenen Bedeutung einsetzte. Und hier gleitet unser Problem in das
andere hinüber! ob die Schaffung größerer Staatsverbande in Deutschland über¬
haupt ratsam ist, odcr ob nicht eine allgemeine Aufteilung in etwa gleich große
KUllurprovinzen mit Selbstverwaltung — aber ohne Staatshoheit — die beste
Lösung wäre, um die alten Qbelstände und die dauernden Verstimmungen im
Reich zu beseitigen. Schwaben könnte dann als Kultnrprovinz ebenso blühen
und befruchten, wie als Staat, und mit der durch diese Kuliurprovinzen gc-
geschaffcnen Homogennät der einzelnen Neichöbestandteile wäre der sonst nimmer¬
mehr auszugleichende und zu verwischende Übelstand beseitigt, der sich aus der
Verschiedenheit der Größe und Machtmittel Preußens gegenüber den ihm ver¬
fassungsgemäß „gleichberechtigten" Kleineren ergibt und der auch in dem neuen
Deutschland bei den Ansprüchen dieser Kleineren in ihrer Gesamtheit nun einmal
uur Schwächung unserer Lebenskraft bedeutet.
Sollte es also zur Bildung eines größeren Schwabens kommen, so wäre
damit abermals eine Gelegenheit gegeben, ernstlich an die Neugestaltung
Deutschlands zu gehen, was durch Kurzsichtigkeit und Eigennutz bisher in Weimar
leider vereitelt und hintertrieben worden ist.
le Novemberrevolution hat das alte Parteiwesen Deutschlands zwar
nicht völlig aufgelöst, aber doch stark erschüttert. Vor allem ist mit
dein Bismurckschen Reichsbau auch die „Partei der Reichsgründung",
z die Nationalliberale Partei verschwunden. Als die demokratische
A^W^M^ Sammeltrompete in Berlin geblasen wurde, haben sich viele National-
liberale der Deutschen demokratischen Partei angeschlossen und den
heterogenen Elementen dieses Lagers, das Dreiviertelssvzialisten neben Manchester-
männern und den Stimmführern des BörsenliberalismuS umfaßt, noch ein neues
hinzugefügt Ein noch größerer Teil der alten Nationalliberalen ist aber zu der
ziemlich verspätet gegründeten Deutschen Volkspartei gegangen, die zwischen den
größeren Pcuteien in Weimar und im Preußenparlament ja etwas über zwanzig
Sitze errungen hat und außerdem in den Landesvertretungen wenigstens einiger
Bundesstaaten kleine Fraktionen hat bilden können. Es ist kein Zweifel, daß die
Erfolge dort errungen wurden, wo die enden nationalliberalen Organisationen zur
Nottspartei übergegangen sind. Was die Volkspartei augenblicklich hat, verdankt
sie größtenteils dem nationalliberalen Erbe. ' Und so hat dann auch der erste
Parteitag, der am 12. und 13. April in Jena stattgefunden hat, deutlich genug
betont, daß mau sich als Nachfolger der Nationalliberalen fühle. Es lagen sogar
Anträge vor, die den alten Namen wieder hergestellt wissen wollten. Aber sie sind
mit gutem Grunde abgelehnt worden. Daß trotzdem einige Redner mit einer
gewissen Absichtlichkeit ihre nationalliberale Farbe hervorhoben, wird man alten
Parteiveteranen nicht allzusehr verdenken. Auch Professor Kahl betonte in seiner
Eröffnungsansprache, die Partei habe nur ein neues Gewand übergezogen; der
Geist sei der alte geblieben. Kahl dachte dabei, wie aus seinen Worten hervor¬
ging, hauptsächlich an den Geist der Pietät gegen das Kaisertum und den Vismarck-
sehen Neichsgedcmken, weit weniger an den spezifisch nntionalliberalen Parteigeist.
Dieser kann nicht erhalten bleiben, sonst müßte die Volkspartei unrettbar in den
lsumpfgeraten. Denn der nationaliibcrale Geist hat abgewirtschaftet, so gründlich, doch
er nicht wieder kommen kann. Wir können nicht an die abgerissenen, zerzausten
Fäden von gestern anknüpfen.
Abgewirtschaftet hat der Geist der nationalliberalen Fraktion des ehemaligen
preußischen Dreiklassenlandtags, der gerade vor einem Jahre, am 1. Mai 1918,
dnrch den Mund des Abgeordneten Dr. Lohmann der Angst vor dem gleichen
Wahlrecht Ausdruck gab. DKse Leute haben damals den Namen Nntionalliberal
für unsere heutige nachrevolutionäre Zeit unheilbar kompromittiert, nicht weil es
an sich ein Verbrechen wäre, nicht sür das gleiche Wahlrecht zu schwärmen,
sondern weil es eine böse staatsmännischs Blamage ist, ein halbes Jahr vor einer
Revolution, deren grösstes Miel das gleicbeWahlrecht gewiß nicht ist, die Schrecken dieses
Wahlrechts derart an die Wand zu malen. Ach hätten wir doch weiter keine Schrecken
erlebt, als sie damals Herr Dr. Lohmann glaubte bannen zu müssen! Was um
ferner die eigentliche Kriegspolitik der Nationalliberalen anlangt, so wird man
Mvisz gern zugestehen, daß sie patriotisch war. Aber ein richtiges Urteil über
die uns zur Verfügung stehenden Kräfte, besonders wieviel unsere moralischen Kräfte
noch auszuhalten vermochten, hat sienicht gehabt. Diese so recht eigentlich staatsmännische
Gabe, die die Deutsche Volkspartei mit Recht sowohl an den Vertretern der alten
Regierung wie an den Führern der Revolution verwißt, die hat Herr Dr. Strese¬
mann bis jetzt auch nicht bewiesen, der früher der Führer der Natioualiiberalen
war, und den die Volkspartei jetzt wieder auf den Schild erhoben hat. Herr
Dr. Stresemann hat auf dem Jenaer Parteitag eine wirklich glänzende Programm-
rede gehalten. Doch braucht der glänzende Redner noch kein Staatsmann zu
sein, wie unter anderm Scheidemann beweist. staatsmännische Fähigkeiten hat
Herr Stresemann erst noch kundzutun. Nur wenn er sie besitzt, hat die Deutsche
Volkspartei Aussicht, unter seiner Führung eine große Partei zu werden. Herr
Stresemann gab in Jena seiner Bewunderung für Clemencean Ausdruck. So wie
der französische Ministerpräsident mit rücksichtsloser Faust alle Defaitisten nieder¬
gehalten, und wie er, als die deutschen Kanonen gegen Paris donnerten und die
französisch-englische Front bei Amiens wankte, mit eiserner Stirn in der französischen
Kammer gesagt habe, es stehe alles gut, so hätte auch der deutsche Politiker noch
bierundzwanzig Stunden vor dem Zusammenbruch behaupten müssen, der Sieg
lei sicher. Aber Stresemann irrt, wenn er glaubt, der deutsche Politiker sei in
derselben Lage gewesen, wie Clemenceau. Dieser wußte, daß die amerikanischen
Reserven nahe waren. Er wußte, daß seine Suggestion nur über einen schwierigen
Augenblick hinwegzuhelfen brauchte. Das deutsche Volk aber hatte keine fremde
Hilfe zu erwarten, es hätte die Kräfte zum weiteren Widerstande ganz aus sich
»Lein nehmen müssen. Solche Kräfte aber erzeugt man nicht durch Suuglstion
und eiserne Stirn, sondern allein dnrch die sittliche Macht der Wahrheit. Jm
Sommer 1918 war der Augenblick da. wo alle gefärbten Berichte über unsere
Lage endgültig aufhörten, staatsmännisch zu sein, wo man dem Volke den Abgrund
U»e zeigen müssen, vor dem es stand, im festen Vertrauen daraus, daß die
Wahrheit allein unsere Kraft noch einmal stählen konnte, wenn daS Volk wirtlich
noch sittliche Qualitäten besaß. Dergleichen hat Herr Stresemann auf der Tribüne
des Reichstags nicht gesagt, und in der Lage Clemenceaus, wie er anscheinend
glaubte, war der deutsche Politiker nicht.
Stresemann hat in Jena versucht, die unmittelbare Schuld am Zusammen¬
bruch in erster Linie der unverzeihlicher Schwäche des Prinzen Max um Baden
aufzubürden. Ich glaube aber nicht, daß die Geschichte einst, wenn sie Schuldige
im fürstlichen Purpur suchen sollte, gerade diesen Erben der Zähringer Krone allein
verantwortlich machen wird, weil er als letzter Reichskanzler an der formell ver¬
antwortlichen Stelle stand. Die Verantwortung verteilt sich ans viel zahlreichere
Schultern. Auch der Nationaltiberalismus hat sie mit zu tragen. Stresemann
sagte in Jena mit Recht, der Liberalisinus hätte selbst rechtzeitig die Führung bei
der Durchsetzung der demokratischen Reformen übernehmen müssen. Ein Sturm
der Entrüstung im nationalliberalen Bürgertum hätte Herrn Dr. Lohmann seine
kurzsichtige Politik im preußischen Abgeordnetenhaus unmöglich machen müssen.
Diesen Sturm der Entrüstung hat Herr Dr. Stresemann nicht entfacht Viel hat
der Nationalliberalismus versäumt in der politischen Erziehung des Bürgertums
und vor allem der gebildeten Jugend. Mit Recht konnte Stresemann unter dem
Beifall des Parteitags feststellen, daß vor der Revolution der Arbeiter in der
Sozialdemokratie wahrhaftig weit besser politisch geschult gewesen sei, als der
bürgerliche Akademiker. Man kann die Deutsche Volkspartei von Herzen dazu
beglückwünschen, wenn sie entschlossen ist, auf diesem Gebiete ganz andere Arbeit
zu leisten, als vordem die Nationalliberalcn. Die Kleinarbeit von Mund zu
Mund bringt die besten Erfolge. Es gilt also, jedes einzelne Parteimitglied fo
zu disziplinieren und mit Kenntnissen auszurüsten, daß es überall zum freiwilligen
Propagandisten der Parteisache wird. Diese Schulung ist die Hauptarbeit der
Ortegruppen.
So hätte der Parteitag der Volkspartei meines Ercichtens guten Grund ge¬
habt, etwas stärker von der alten nationalliberalcn Politik abzurücken, als er es getan
hat. Aber man darf eben nicht verkennen, daß die Partei heute noch fast aus¬
schließlich auf den Resten der nationalliberalcn Organisation ruht. Noch stehen
meistens altnalivnattiberale Politiker an der Spitze und haben natürlich das be¬
greifliche Bedürfnis, ihre Sache zu rechtfertigen. Dein Tieferblickenden wurde
auch auf diesem Parteitag klar, daß die Volkspartei doch jetzt schon weit breitere
.Kreise umfaßt als die Reste der alten Nationalliberalen. Mit dem Ausbau der
neuen Parteiorganisation werden sie immer stärker zur Geltung kommen. Auch
der großen Programmrede Stresemcmns muß man nachrühmen, daß sie nicht
lediglich rückwärts schaute, sondern auch neue Bahnen zu weisen verstand.
Was die Frage der Staatsform anlangt, so gibt die Deutsche Volkspartei
zweifellos der Monarchie vor der Republik den Vorzug. Professor Kahl sprach
das Wort von der „Partei der Kaisertreuen" und meinte damit, daß man ent¬
schlossen sei, sich zu den großen Überlieferungen des Kaiserlichen Deutschland zu
bekennen. Dr. Stresemann rechtfertigte die Monarchie aus historischen Gründen
und um der Sozialpolitik willen. Kein republikanischer Präsident wird die Mög¬
lichkeit haben, so unparteiisch über den Klassen und Wirischaftsverbänden zu stehen,
wie das ein Monarch kann, wenn er will. Dazu kommen nun alle die Gefühls¬
gründe, die dem deutschen Volke bisher die Monarchie teuer gemacht haben.
Trotzdem sprach sich Stresemann für die Republik aus. Die Wiedereinführung
der Monarchie würde nur durch neuen Umsturz möglich sein, meinte er, und dieser
müßte auf alle Fälle vermieden werden. Diese Begründung des Nepublikanertums
mutet freilich etwas schwächlich an. Eine starke Partei muß rücksichtslos sagen,
welche Staatsform sie für die richtige hält. Aus gewaltsamen Umsturz braucht sie
deswegen nicht hinzuarbeiten. Sie wird glauben, daß ihre Zeit reif werden wird.
Die Volkspartei sollte also dieses Argument für die Republik lieber zu Hause
lassen. Imponieren wird sie damit niemandem. Ganz anderes Gewicht hat das
zweite: Großdeutschland, die Vereinigung mit unsern österreichischen Brüdern ist,
wie die Geschichte gezeigt hat, nur unter republikanischer Staatsform möglich.
Jede Wiederherstellung der deutschen Monarchien müßte auch die Rivalität zwischen
Hohenzollern und Habsbrug wieder herstellen. Gerade die nationalistischen Kreise
in Osterreich wünschen die Wiederkehr der Monarchie nicht, weil sie die dynastische
Politik der Habsburger, die das deutsche Volk verraten hat, nicht wiedersahen
wollen. Auch von: reichsdeutschen Standpunkte darf man hinzufügen, daß es ein
Segeir ist, wenn die Republik endlich mit der Kleinstaaterei aufräumt, was unter
den Dynastien nie möglich gewesen wäre.
Am allererfreulichsten ist es, daß man Won dem Parteitag den Eindruck
mitnehmen konnte, daß die Deutsche Volkspartei nicht lediglich eine Schutztruppe
der Schlotbarone und Kapitalisten sein will. Alles Manchestertum hat Stresemanu
mit klaren Worten abgelehnt. Man müsse die Jndividual- und Staalswirtschuft
in gesunder Weise mischen. Gegenwärtig, wo wir so notwendig die' Initiative
des Unternehmers brauchen, führe der Staatsbetrieb nicht aus dem Zusammen¬
bruch heraus. Der Staat solle froh sein, wenn er im Arbeitskampfe jetzt nicht
Partei zu sein brauche, sondern Schiedsrichter sein könne. Das Reich soll zum
Mitbesitzer an allen Unternehmungen gemacht werden. Der bolschewistische Ge¬
danke der Nöte könne für unsere Wirtschaft- und Sozialpolitik fruchtbar gemacht
werden. In der Tat hat man ja auch auf konservativer Seite bereits entdeckt,
daß der Gedanke der Nöte alte konservative ständische Prinzipien wieder erneuert.
Aus den Räten, meinte Stresemcmn, könne leicht ein Wirtschafts- und Sozial-
Parlament aufgebaut werden, das die politischen Parteien von der Tyrcmnien der
Interessengruppen ein gut Stück befreie und dem gesetzgebenden politischen
Parlament entscheidende Vorarbeit leisten könne. Und der Abgeordnete Dr. Heinze
fügte hinzu: man dürfe sich vor dem Rätegedanken nicht deswegen bekreuzigen,
weil er von den Bolschewismen stamme, sondern man müsse das Brauchbare
nehmen, woher es auch komme. Das ist ein Grundsatz, den die Volkspartei
unserem doktrinären gebildeten Bürgertum nur ja recht einschärfen soll! Ein
Debatteredner trat sogar für die Übertragung der politischen Macht an ein aus
Nöten zusammengesetztes ständisches Parlament ein. Er blieb mit dieser Meinung
vereinzelt. Aber man merkt, wie der ständische Gedanke von rechts her wieder
das Haupt erhebt, sobald, wie wir es jetzt erleben, die parlamentarische Demo¬
kratie von links her leidenschaftlich angefochten wird.
Nach alledem hat die Deutsche Volkspartei sehr Wohl das Zeug dazu, dahin
zu wirken, daß der bürgerliche Liberalismus nicht bei reaktionären kapitalistischen
Anschauungen stehen bleibt, sondern daß sie ihm ein neues Programm schafft,
das Werbtkraft für die Zukunft hat. Es gilt aus dem kapitalistischen Zeitalter
zu retten das Gute, was es gekracht hat, vor allem die Initiative des Unter¬
nehmers und die Energie der Produktion. Bald werden die weitesten Volkskreise
nach einer Partei rufen, die gewillt ist, dem sozialdemokratischen Ansturm auf
diese Güter entgegenzutreten. Es gilt aber weiter auch, die Auswüchse des
Kapitalismus zu beseitigen, Formen zu finden, in denen das werktätige Volk ein
Mitbestimmungsrccht über die Ausnutzung des deutschen Bodens und seiner
Schätze wie über die Erzeugnisse der industriellen Verarbeitung bekommt. Hier
wuß die Volkspartei sozialistischen Gedanken weiten Raum geben. Wahrscheinlich
werden in den nächsten Jahren Hunderttausende oder Millionen Hände in der
uidustriellen Produktion überflüssig werden, weil uns die Nohstoffzufuhr stark
beschnitten bleiben wird. Wenn diese Millionen nicht zur Auswanderung getrieben
werden sollen, müssen sie auf dem Lande untergebracht werden. Der Jenaer
Parteitag hat sich in richtiger Erkenntnis, daß schnelles Eingreifen hier nottut,
für energische Siedelungspolitik und Bodenreform erklärt.
Leider ist die Aussicht äußerst gering, daß es gelingen wird, wirkliche
fassen aus den überfüllten Städten hinaus aufs Land zu bringen. Die Massen
haben keine Lust; die sittlichen Voraussetzungen für die Freude am bäuerlichen
Dasein, das auf die Genüsse der Großstadt verzichten muß. fehlen ihnen. Aber
wenn auch jetzt von den Erwachsenen Hunderttausende ins Ausland abwanderten,
könnte man doch wenigstens die heranwachsende Generation zu einer erneuerten
Sittlichkeit zu erziehen suchen. Das wird freilich nur möglich sein bei einer
Muhzeitigen Erneuerung der religiösen Weltanschauung in den städtischen
lassen, und diese wieder ist solange unmöglich, als nicht die Gebildeten sich
entschließen, die religiöse Bedeutung ihres eigenen Verhältnisses zur Kirche viel
Muster zu nehmen. Die kirchliche Autorität bei den' Massen muß versagen,
wenn die Gebildeten sie für sich nicht gelten lassen. Wie will man aber ohne
^ligiöse und sittliche Autorität die Massen erziehenl Das Kulturprogramm der
Deutschen Volkspartei ist schön und gut. Aber wenn man die verhältnismäßig
gleichgültige Zustimmung, die diese Programmpunkte fanden, mit dem stürmischen
-vnfall vergleicht, der sonstigen Kraftstellen der Redner zuteil wurde, dann nutz
wan fürchten, daß der materialistische Geist der Zeit auch in der Volkspartei noch
manchmal sein Wesen treiben wird. In diesem Geiste wird sich aber die erhoffte
Erneuerung Deutschlands nicht vollziehen können. Die Deutsche Volkspartei sollte
christlich soziale Gedanken in ihr Programm aufnehmen. Ein Aufsatz der „Deutschen
Stimmen" (1919 Ur. 12) aus den Kreisen badischer Parteifreunde, der ein Welt¬
anschauung^ und Grundsatzprogramm für die Volkspartei verlangt, weist der
Partei die Vertretung der liberalen Prinzipien zu, trennt aber von diesen aus¬
drücklich die christlichen ab. Ich würde vielmehr der Meinung sein, daß das
Programm die liberalen mit den christlich-sozialen Grundsätzen verbinden müßte.
Liberalismus und Christentum teilen gegenüber der Lehre von der Omnipotenz
des objektiven Geistes, wie sie der extreme Nationalismus und Sozialismus gemein
haben, die Überzeugung, daß die Persönlichkeit und die Menschenseele mehr wert
find als alle Kollektiva des sozialen Lebens. Der Liberalismus sollte sich nur
vom christlichen Geiste seine kapitalistische Selbstsucht und seine individualistische
Kälte kurieren lasse».
n seinem reichen und feinen Buche „Persönlichkeit und Weltan¬
schauung" ») stellt Richard Müller-Freienfels zwei Gemälde neben¬
einander: Mittels Sämann und dessen Nachbildung von Van
Gogh: eine Nachbildung bis in die letzte Einzelheit; und dennoch
in jeder Linie verschieden vom Urbild! „Die stillen, unbewegten
Farbflächen, durch die Millet den Acker wiedergibt, werden bei
Van Gogh zu einer in flackernder Unruhe schräg hinlodernden Flucht. Der Himmel
wird zum unruhigen Tanz von Strichen um das Haupt des schreitenden Mannes.
Der Körnersack, bei Millet wenig gegliedert, löst sich in durcheinanderquirlende
Linien. Alles bis zu den Umrissen des Hutes und der Kleidung wird Bewegung,
Unruhe, Hast". Das Auge dreht sich, die Nase verzieht sich, der Mund krampft
sich, der Arm wirbelt, die Finger krallen sich, die Beine werden leicht.
Zwei Denker haben dieselbe Erscheinung vor sich: das Wunder deS
Lebendigen. Was erklärt tels tiefste Rätsel der Körperwelt? Ein besonderer Bau-
plan im kleinsten, antwortet der eine; jedes winzigste Teilchen der organischen
Substanz ist ein künstliches Maschinchon; aus dem naturgesetzlicher Zusmnmenspie!
der vielen Daucrarchitekturen ergeben sich die Lebensphänomene als Zusammen¬
setzungen unsagbar vieler mechanischer Elements. — NeinI, so antwortet der andere.
Vielmehr arbeitet eine eigenartige Macht auf einen formlosen Stoff los; nicht auf
den Bau kommt es an: in der Aktivität steckt das Geheimnis! Nicht das Sein
einer Gestalt, sondern das Wirken einer Kraft erzeugt die lebendigen Prozesse.
Nicht Maschinentheorie, sondern Vitalismus!
Wer von beiden hat recht? Die Tatsachen lassen sich mit beiden Ansichten
gleich wohl vereinigen. Die innerste Neigung hat entschieden. Der Vitalist ist
wie sein malerischer Bruder Van Gogh „dynaw''es", der Mechanist „statisch"
beanlagt. „Es handelt sich bei diesem Gegensatz um den Grad der Bewegtheit
des Erlebens. Manchen Menschen erscheinen alle Wahrnehmungen als ruhend,
ihre Vorstellungen fügen sich zu festen Bildern, ihr Denken läßt sie die Welt als
etwas Substantielles begreifen; das ist der Typus der Statiker. Ihm gegenüber
finden wir Menschen, die jede Wahrnehmung als belebt, bewegt, handelnd erleben;
selbst tatsächlich ruhende Gegenstände erscheinen ihnen in potentieller . . . Bewe¬
gung; ihre Fantasie und ihr Denken lassen ihnen die ganze Welt wie ein
stürmisches Drama erscheinen. . . . Ich bezeichne diesen Typus als Dynamiker,"
Ein Gegensatz, der die ganze Neuentwicklung illustriertl Denn das antike und
mittelalterliche Ahnen und Sinnen war überwiegend fiatisch', im sechzehnten und
siebenzehnten Jahrhundert aber setzte die ungeheure dynamische Flut ein, die noch
unser heutiges Wesen und Treiben mitspült. Die Werkzcugkultur lebt statisch,
die Maschinenkultur dynamisch: so darf man's ausdrücken. Der Kapitalismus
begann; das Geld, vor der Zeit der Amsterdamer Bank ein in Truhen schlafen-
der, in Bauschönheit und Genuß umgesetzter Hort, wird zum Mittel unbegrenzter
Selbstvermehrung; es wird „angelegt", es bekommt raffende Arme, es gewinnt
verstandeswache Kräfte: aus der Wirtschaft statischer Zirkulation wird eine solche
schrankenloser Steigerung; erst ein sozialistischer Zukunftsstaat könnte uns zu
neuer Statik der Produktion und Verteilung führen. — Gleichzeitig aber gerät
die Kunst und Poesie in den Wirbel vorher unerhörter Bewegung. Das flackernde
Lichtgeflimmer Rembrandts und Rubens blutpulsende Muskeln: wie ferne lag
das si'gar noch dem hellenistischen AltertumI Die barocke Architektur läßt Fassaden
sich schwingen, biegt Giebel, rollt fließende Voluten. rüttelt die Weilerrahmen
durch Liniendoppelung in Vibration! — Bei Shakespeare zum ersten Male bricht
jener moderne Lebenssturm in die Poesie herein, der jeden Nerv der dramatischen
Gestalten zittern macht und uns jedes Staunen in ihren Herzkammern hören läßt:
gegenüber Hamlet und Kleopatra, Falstnsf und Prinz Heinz erscheinen noch die
wärmsten Menschen des Aeschylos und Euripides maskenhaft, starr, eben „statisch"
gesehen. — Abermals gleichzeitig beginnt die Erde sich zu bewegen; und die
Mathematik führt den Begriff der Fluxion ins stille Reich der Linien und Zahlen
ein; damit ermöglicht sie die moderne dynamische Physik. Und während die
griechische Philosophie die „Ideen" ewigen Seins zum Kanon der Wahrheit sich
wählte, zielt die neue Wissenschaft nach den „Gesetzen" des Geschehens. — Wie
steht es nun? Sind die dynamischen Naturen immer die späten? Also daß
Hellas, wenn es lange genug gelebt batie, auch noch seiner statischen Art entwachsen
wäre? Oder ist die Dynamik vielmehr Germanenart? Wer die wildverschlungene
Orncunemik unsrer frühen Vorfahren mit den stillen Mäandern und Eierstäben der
Griechen vergleicht, die zackentolle, himmelstürmende Gotik mit den heiteren Tempeln
der Olympier: möchte eher für die zweite Annahme sich entscheiden.
Kurt Breysig zeigt, daß seit dein Beginne germanischer Vemtntigkeit die
verhältnismäßige Höhe der Kirchenschiffe beständig zunahm, bis in der großen
Gotik das Maximum erreicht wurde. So reckt der Deutsche auch seine Domtürme
und Burgen in die Wolken. Das ist der Drang ins abgründige Blau, ins
Grenzenlose. Er drückt sich mathematisch in der Infinitesimalrechnung der Ger¬
manen Newton und Leibniz ans. philosophisch in Leibniz' Monadenleyre; in
seinen Phantasien von Weltunendlichkeiten noch im Atom. Derselbe Sturm braust
im Faust und im Peer Gynt — nie hätte griechische oder romanische Phantasie
solche Segler ins Unbegrenzte ersonnen! Aber auch in den zahllosen Lichtüber¬
gängen der Niederländer und der modernen Impressionisten lebt dieser Zug, der
uns deutsche Wanderer nach weiten Meeren, nach endlosen Heiden, nach öden
Gletscherwüsten reißt. Sehnsucht, jeden Bezirk zu überspringen! — Auch im alten
Orient häufte man enorme Massen und rechnete mit ungeheuerlichen Zeiträumen.
Aber während der Nordländer als Dynamiker über alle Schranken drängt und
von ewigem Fortschritt träumt, liebt der Mensch des Ostens die ewige Ruhe;
seine Pyramiden und Kolossaltempel streben nicht in Lüfte, sondern lagern sich
breit und tot in statischer Starrheit. — Im Gegensatz nun zu jenem bewegten
mit diesem stummen Größenübcrschwcmg umzirkelt Hellenen und Romanen all
ihre Gestaltungen mit bewußten Griffen; den ins Grenzlose verdämmernden treten
die formenden Naturen zur Seite, den rein malerischen die bildenden. Worauf
beruht der Unterschied?
Man pflegt optische, akustische und motorische Menschen zu unterscheiden —
nach der Rolle, die im Geistesleben die drei Sinnesgebiete spielen. Nun ent¬
springt alle Auffassung von Räumlichkeit. Gestalt, Rhythmus der Motorik der
Sinnes-- und Stimmorgane; insofern hat Müller-Freienfels völlig recht, wenn er
die Formseher im Gegensatz zu den „rein visuellen" Farbengenießern als „visuell¬
motorisch", die Nhythmenhörer im Gegensatz zu den „rein auditorischen" Schwelgern
in Klängen als ..auditorisch-notorisch" bezeichnet. Doch möchte ich seine Darstellung
durch die Hypothese ergänzen, daß das Bewegungsleben des Rumpfes, der Glied-
maßen, zumal aber des Adersystems selbständige Wichtigkeit für die Konsumtion der
Seele hat und daß die ihm entstammenden Vorstellungen bei schwächerer optischer
und akustischer Anlage das Gedächtnis beherrschen können. Diesen Typ würde ich als
fünften, als „rein motorischen" den vier Typen unsres Verfassers beiordnen und nun
annehmen: bei starkem Vortreten der Leibesmotorik im geistigen Getriebe ent¬
wickelt sich die dynamische, bei ihrem Zurücktreten die statische Art. (Vgl. die
zweifelnden Bemerkungen bei Müller-Freienfels, S. 163 f.) Bei dem statischen
Schwimmer im Unendlichen spielt also die Motorik überhaupt eine geringe Rolle
(Ägypter und Inder); beim statischen Formmenschen überwiegt die Motorik der
Sinnes- oder Stimmorgane die des übrigen Leibes an Wichtigkeit für den Gesamt¬
intellekt (Griechen und Romanen: Cartesius und Kant; Platen und C. F. Meyer;
Marees und Hildobrand); beim dynamischen Formmenschen ist jede Art von
Motorik energisch entwickelt (Shakespeare, Rubens); beim formensprengenden
Dynamiker ist die Bedeutsamkeit der Ader- und sonstigen Leibesinnervationen fürs
seelische Geschehen größer als die der Bewegungen der Sinnes- und Stimm-
organe; diese stehen gegenüber den Eindrücken auf Netzhaut und Cortiorgcm im
Schatten (der eigentlich germanische Typ).
Das Trachten über alle Grenzen hinaus. Süßere sich's nun in dynamisch
gefühlten Kathedralen oder in der statischen Wucht von Sphinxen und Pyramiden,
ist dem Sinn fürs Erhabene verwandt. Der eignet einem besonderen Typus:
Müller-Freienfels charakterisiert ihn durch das Vorwalten leidender Stimmungen.
Auch die Entstehung der Tragödie leitet er — im Gegensatze zu Nietzsche — aus
finstern und gedrückten Seelenzuständen her. Wobei er freilich nicht leugnet, daß
sich im tragischen Genuß wie im Erlebnis des Erhabenen der Geist gegen die
Schwere seiner Bedrängnisse aufbäumt. Ist aber die Grundauffassung richtig?
Unser Leib mag die Probe machen. Zu einer Alpenwand emporblickend
oder unter den Donnern des Rheinfalles zitternd: fühlen wir unsere Brust sich
verengen, als laste ein Gewicht auf den Schulterbeinen? Oder weitet sie sich
vielmehr wie in reinerer Lust? Sie weitet, sie hebt sich, die Adern klopfen
stürmisch froh. Das macht, uns ist, als beginne unser eigenes schmales Ich jene
Himmelhohen zu überspannen, in dieser wilden Naturkraft mitzubrausen. So
lernen wir in der Sophienkuppel schweben, in den Gewölben des Kölner Doms
emporfliegen: alles Erhabene beseligt uns, indem es uns über die Kleinheit unseres
Alltags und unsrer Körperlichkeit hinaushebt. Unser Irdisches verachten wir
wohl angesichts des Großen, das vor uns hintritt; „wir" aber sind dann eben schon
nicht mehr unser Irdisches; „wir" sind in der Phantasie dem Großen eingeschmolzen
und im Gefühl der neuen Größe beglückt. Und dieser Triumph hochgemutester
Einfühlung sollte einem depressiven Affekt entspringen? — Ganz ähnlich aber steht's
mit dem Genuß des Tragischen, das dem Erhabenen verschwistert ist. Wir sehnen
uns aus den Beschränkungen unserer Bürgerlichkeit hinweg — in ein Treiben,
wo alle Leidenschaften sich austoben und alle unbändigen Knospen ihre un¬
bändigsten Früchte bringen dürfen; anderseits fürchten die Meisten von uns sich
freilich vor Folgen allzu gewagter Abenteuer (es gibt auch solche, die sich nicht
fürchten). Aber einen Tag lang freier König seines Tuns, Heros, Verbrecher,
glorreicher Besiegter sein — eine Nacht lang Antonius oder Romeo — und dann
käme der Morgen, und alles wäre wie sonst! reingebadet stände man wieder in
seinem vertrauten, geliebten, vielgeschmähten Lebenswinkel und trüge nur die
Erinnerung an das bunte Spiel mit sich herum: wer fände solche Aussicht nicht
götterwürdig und köstlicher als alle Köstlichkeiten der hegenden Kultur? Gut:
einen ahnungsvollen Abglanz solches Glücks schenkt uns die Bühne. Man mordet
und läßt sich morden — „zum Spaß", wie Hamlet sagt. Ein Rausch der Ein¬
fühlung in das größte und vollste Erleben, das ohne den Tod undenkbar bleibt.
Als der ätherische Spießbürger anfing, grauselnd Gelüste nach der schaurigen
Gottähnlichkeit des Oedipus und dem Empörertrotz des Prometheus zu spüren,
wurde die Tragödie geboren. Ein Bocksgesang überschwellender Naturkraft wurde
die, und wahrlich kein „Trauerspiel". Ja! Wir Älteren sitzen als artistisch ge¬
stimmte Kritiker im Parkett; aber denken wir an unsere Frühjugend! Wie mächtig
atmeten wir da, wie spannten sich unsere Sehnen, wie glühten unsere Wangen,
wenn wir nach „Wallensteins Tod" oder Lecirs Sturmnächten heimwärts schritten,
von unsren suchten und Kulturplagen „gereinigt"! — Nein, es verhält sich eher
so. Die Düsternisse des Lebens, die den Menschen des gedrückten Typs traurig
stimmen, stimmen den des gehobenen Typs trotzig; und wenn er obendrein ästhetisch
fühlt, „tragisch"; und die übergewaltigen Eindrücke der Natur und der Kunst, die
den Zaghaften niederpressen, geben dem Hochfliegenden den Genuß des Erhabenen.
Das schließt gar nicht aus, daß ein Pyramidenerbauer Erhabenes türmen konnte
mit der Absicht, das Gewimmel der Verängsteten in den Staub zu drücken; aber
denen waren dann die steinernen Berge nicht „erhaben", sondern nur schreckhaft;
„erhaben" wirken sie auf uns. Und daß auch Verschüchterte sich der Kunstform
der Tragödie bedienen, ist natürlich; aber dann kommen jene quälenden Werke
Peinlicher Zerrung und müder Resignation heraus, die eben den echten „tragischen"
Eindruck nicht hinterlassen. „Einsame Menschen" oder „Monna Vanua"!
Da hätten wir drei gegensätzliche Paare von Persönlichkeit-Typen: den
gedrückten und den gehobenen, den auditiven und den optischen (und wiederum:
den rein auditiven oder optischen und den sensomotorischen), endlich den statischen
und den dynamischen (oder allgemein motorischen) Menschen. Müller-Freienfels
gibt solcher Gegensätze noch mehr: da steht dem Aggressiven der Sympathisch¬
fühlende, dem Erotiker der Frigide, dem Objektiven der Subjektive, dem Speziell¬
denker der Typendenker gegenüber; als einen besonders wichtigen Kontrast möchte
ich den des Schauenden und des Tätigen anreihen. Aber worauf läuft die ganze
Typik hinaus?
Auf einen allen philosophischen Streit schlichtenden Relativismus. Den zu
begründen, hat Müller-Freienfels sein geistvolles und geistaufregendes Buch geschrieben.
Jedermann weiß, daß über alle Problems der Metaphysik, Ethik. Ästhetik
ohne Entscheidung von Thales Zeit bis aus die unsre diskutiert worden ist. Wie
stellen wir uns zu dieser seltsamen Tatsache! — Die einen erklären, ihre eigne
Meinung sei dennoch die endgültig richtige; wer dagegen anzubellen wage, sei
einfach auf veralteten Standpunkten zurückgeblieben und verstocke sich in längst¬
widerlegten Irrtümern. Sonderbar nur: nach einem Weilchen, sagen wir zehn
Jahren oder so etwas, ist die „veraltete" Meinung wieder modern und die „end¬
gültig richtige" gilt als „veraltet". So hat der „Vitalismus" in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts geherrscht und ist jetzt wieder beliebt; die Mecha-
nistik machte in der Zwischenzeit allein selig. Hegels Geschichtsauffassung und die
naturwissenschaftliche lösten einander etwa in den gleichen Zeiträumen ab. In der
Metaphysik folgten einander als Regenten: Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer;
dann fing es in den sechziger oder siebenziger Jahren wieder mit dem echten
Kant an; bei Hegel stehen wir heute glücklich wieder; und ich zweifle nicht, daß
wir bald einen neuen Sturz der neuen Hegelei erleben werden. In Poesie und
Kunst wechseln Perioden des Idealismus mit naturalistischen ab; ja, der rohe
Expressionismus der Wilden kommt heute wieder zu Ehren. Und jede Richtung
hält sich für die allein privilegierte. Also nun: woher nimmt noch ein Dogmatiker
den Mut zu dem fröhlichen Glauben, er, gerade er habe den Stein der Weisen
gefunden? — Somit ist überhaupt keine Weltanschauung berechtigt, schließt ein
Äkeptiker. Der belächelt alle Philosophie als leere Träumerei und wirft sich aus¬
schließlich auf die strenge Wissenschaft; bei der Beurteilung von Kunstwerken lehnt
er jeden kritischen Maßstab ab, der nicht technisches Können mißt; im übrigen
gilt alles, was gefüllt! Man gibt seinen Eindruck wieder — und fertig I Ein
Gesetzbuch irgendwelcher Art erkennt solch ein Richter nicht an. — Diese Stellung¬
nahme jedoch befriedigt beschauliche Gemüter nicht; an denen nagt der Wunsch,
irgendwelche Ergebnisse ihres Sinnens zu finden; und vielleicht beruhigt sie der
Dritte, der Eklektiker. Wenn man's in der Philosophie machte wie in der
Politik? Man vermittele doch die Extreme I Man rühre sich aus Energetik und
Mechanistik, aus Fortschrittsglauben und materialistischer Geschichtsauffassung, aus
Freiheitslehre und Determinismus, ein halbdeutliches Gemisch zusammen und
taufe dieses Einerseits-Anderseits-Ragout „endgültige Wahrheit"! — Aber das sind
allezeit die Matten, Lahmen, Schiefer, die den Geistessrieden auf mittleren Linien
herstellen wollen; klare und tiefe Denker verabscheuen halbe Lösungen.
Was bleibt übrig? Müller-Freienfels sagt es uns.
Die Gegensätze der Weltanschauung werden dauern, solange über die Welt
gedacht wird; darin hat der Skeptiker recht. Aber es gibt nicht beliebig viele
mögliche Weltanschauungen, sondern eine beschränkte Anzahl; jede von ihnen
ist einem besonderen Naturell auf den Leib geschnitten und wurzelt in den Tiefen
der besonderen Persönlichkeiten. Gelingt es nun, die Fülle der Persönlichkeiten
unter bestimmte Typen zu ordnen, so ordnen sich damit automatisch auch die
ersinnlichen Weltanschauungen. Sie zu mengen, hat keinen Wert; wohl aber
behält es Wichtigkeit, eine jede von ihnen immer wieder neu auszusinnen und in
ihren Tiefen zu durchdenken. Denn für jede bleibt das Bedürfnis wach, solange
es Vertreter des ihr entsprechenden Temperamentes gibt Und da die Wissenschaft
fortschreitet und jede Durchführung eines Systems also bald veraltet, muß jedes
alle Menschsnalter einmal aufs neue wohnlich gemacht werden. Leibniz hätte um
tMO nicht mehr vertreten können, was er um 1700 schrieb; da goß Lotze den
Leibnizianismus um und schuf so den für seine Zeit überaus bedeutsamen
„Mikrokosmus". Die leibnizische Auffassung von den Dingen lebt auch heute
weiter; aber der „Mikrokosmus" genügt nicht mehr ganz unseren Forderungen;
es ist vielleicht Zeit, von der Warte unserer Tage her eine abermals veränderte
Vedute aufzunehmen. So will Spinoza gegenwärtig in mager Form auferstehen;.
Kant läßt sich als Platoniker betrachten, Hegel als Plotiniker; und so weiter.
Nicht daß alle Persönlichkeiten zu einer Ansicht sich vereinigen, sondern daß für
jeden Typ von Denkern eine festumrissene, restlos klare, sauber modellierte
Philosophie immer wieder geschaffen werde; das ist unser Verlangen. Die
Gesamtheit der reinlichen Systeme gibt dann, sich ergänzend, die menschliche
„Wahrheit" — wie die farbigen Sirahlen zusammen das Weiß geben, das auch
kein Mittellicht zwischen Rot'und Grün und Blau darstellt. So sollen auch die
Künstler nicht ihr Eigenstes brechen lassen, um die Vorzüge von wer weiß wie
vielen Schulen zu vereinigen; sondern jeder male, meißle, dichte in seiner beson¬
dersten Manier; dann hängt neben Rasfael Rembrandt, neben Böcklin Liebermann;
und daß wir Fritz Reuter neben Friedrich Hebbel haben und Liliencron neben
Eichendorff, macht uns reich. Nicht Versöhnung, sondern Überspannung der
Gegensätze: das ist Müller-Freienfels' „Relativismus".
Dieser Relativismus lehrt Toleranz und weist uns an, durch Genuß gegen¬
sätzlicher Wahrheiten und Schönheiten unsre Seele zu bereichern; zugleich adeo
läßt er uns ein tiefstes psychisches Geheimnis ahnen.
Jeder von uns hegt, sich selber unbewußt, vererbte oder anerzogene Ge¬
wohnheiten auf Eindrücke zu reagieren; sie äußern sich in Bewegungen und Mienen,
im Atemholen und im Lachen, in der Art, wie wir unsre Kleider tragen und wie
wir unsre Geräte anfassen, aber ebensogut im Schauen und im Lauschen, im
Träumen und im Denken, im Konstruieren und im künstlerischen Gestalten. Es ist
derselbe Wesenszug, der dem gebildeten Hellenen jene ruhige Haltung des Leibes
zur Pflicht machte, wie wir sie in den Bildwerken der hohen Kunst gespiegelt
finden, den schlichten Händedruck, den ernsten Mantelwurf, den stillen Blick —
und der die Dichtung malerisch machte und so das „Lehrgedicht" ermöglichte, de>S
nichts wollte, als schimmernde Bilder aufrollen, ohne Ansprüche an' Handlung
oder Spannung zu stellen! abermals derselbe Zug, der die Architrave feierlich auf
dorischen Säulen lasten läßt und der den Schauspielern starre Larven vors zuckende
Gesicht bindet' und wiederum derselbe, der dos tiefste und vollste Sein in jenem
gefrorenen Himmel platonischer Ideen sucht. Auf der anderen Seite gehört die
flackernde Hast unserer Heinrich Mann und Max Slevogt mit unserer sausenden
Vislgeschäftigkeit, mit unsren wechselnden Moden, mit unserm Gliedergszappel —
und mit unsren Tangonächten zusammen. Wenn der Gott der Kunst eine ge¬
messen sich drehende griechische Tänzerin wie die Berliner Stele eine zeigt —
mit einer heutigen Ratte vergliche, oder die „statisch" schlichte Frisur einer
Tanagräerin mit dem „dynamischen" Lockengewickel einer von unsren Weltdauer-
-er könnte die Kunst dieser Praxiteles und Polyklet ohne weiteres in die unsrer
Koryphäen „übersetzen" — wie denn der Gott der Philosophie Platons System
in das des Giordano Brav hätte verwandeln können, indem er dem Urheber die
Seele eines Gotilers eingoß, oder in das Knuts, indem er preußischen Drill und
die nationale Gesinnung des achtzehnten Jahrhunderts an den Ilissos verpflanzte.
Die Gegensätze in der Linienführung eines Karikaturenzeichners wie Daumier und
eines Bertlürers lenzlicher Kinderlust wie Ludwig Richter entspringen in den
gleichen Schichten der Persönlichkeit wie die zwischen dem Ketzernchtsr Dominicus
und dem liebeatmenden heiligen Franz, der Sonne und Vögel mit dein gleichen
Feuer poetisch grüßt, mit dem der deutsche Künstler seine Blümchen und Tierchen
um sein unschuldiges Ringelreihengejauchze verteilt. — Daher wehen denn auch
in bestimmten Zeitaltern bestimmte Winde durch alle Gebiets menschlicher Produktion.
Den gotischen oder den Barockstil wi-o ein Helles Ohr in jeder Hervorbringung
ihrer Zeiten klingen hören, ganz einerlei, ob es sich um Verfafsungs- oder um
Palastliauten, an deu Rhythmus im Wirtschaftsleben oder in der Musik, um
Philosophische Bilder von der Welt oder um gemalte eines kleinsten WeltausschnittcS
handelt.
Das Gemeinsame innerhalb eines ZeitstilS, das wir alle empfinden, kann
nur etwas ganz Elementares sein: denn in allein Zusammengesetzten sind ja die
verschiedenen Produkte unsäglich verschieden, völlig unvergleichbar. Dem All¬
wissenden, Allcrrechnenden würde dieses Einfachste und Entscheidende an der Be¬
wegung irgend eines kleinen Fingers auf irgend einen Reiz hin kund; die Art,
wie der Mensch sich in Bereitschaft setzt, in die Umwelt zu schreiten und zu greifen,
auf ihre Griffe zu erwidern und seine Gefühle in Gesten umzusetzen: die ent¬
scheidet über seine Persönlichkeit — die macht seine Weltanschauung.
Ich habe keinen Bericht über das Buch von Müller-Freienfels gegeben; ich
habe Gedanken frei ausgesponnen, die die Lektüre in mir angeregt hat. Wenn
der Leser den Eindruck gewonnen hat, daß die Schrift auch in ihm Gedanken
anregen wird, so schlage er sie auf und lasse sich von ihr fesseln; er wird reicher
aufstehen, als er niedersaß.
Michael. W., Englands Friedensschlüsse. W. Rothschild, Berlin 1918.
Der Freiburger Historiker hat sich wohl die Nutzanwendung seiner Unter,
suchung anders vorgestellt, als er Mitte Oktober das Vorwort zu ihr schrieb.
Trotzdem bleibt sie nach der Umwälzung — und wieder gerade in der jüngsten
Gegenwart — wertvoll genug, wenn wir auch wahrscheinlich ihre Lehren nur
theoretisch ack notam nehmen und trübselig bestätigen werden. Was hier ein
Kenner der Materie — soeben erscheint seine gros; angelegte englische Geschichte
des 18. Jahrhunderts — in knappen Rahmen bietet, ist beileibe nicht etwa eine
Zusammenstellung der unzähligen Friedenstraktate mit ihrem Länderschacher,
dessen Varitations- und Kombwationsrcchnung uns in der Schule Pein verur¬
sachte, kein nüchternerer Auszug aus Mariens nüchternem „KeLueil". sondern
eine Geschichte des europäischen Staatensystems der neueren Zeit, zwar in engster
Kompression, aber mit der günstigen Blickeinstcllung vom Standpunkte der eng¬
lischen Politik aus, wo mon ja bekanntlich seinen Stolz darin setzte, das Zünglein
an der Wage zu sein. Eine Fülle von historischen Beziehungen und Verpflich¬
tungen, Persönlichkeiten und Situationen leuchten im Fluge durch die Jahr¬
hunderte aus. Und die Moral? „Die Zähigkeit in der Weiterführung des
Krieges, die erbarmungslose Ausnutzung des Sieges über einen völlig geschlagenen
Feind, die kühle Preisgabe der Bundesgenossen, die Neigung einen oder den
anderen aus dem Ring der Gegner herauszulocken, um ihn zur Sonderverhand¬
lung oder zum Friedensschlüsse zu vermögen," diese Züge treten „nirgends so
oft, unverhüllt, so selbstverständlich" auf wie bei der englischen Politik. Nach
einem Naturgesetz, sagt Chamberlain, wird England stets zuerst geschlagen, um am
Ende umso vollständiger zu triumphieren. Dann aber soll der Gegner nicht nur
überwunden werden, sondern seine Demütigung wird zum Selbstzweck. Wahrlich
ein prophetisches Wort. Werden die anderen historischen Erfahrungen sich auch
„naturgesetzlich" wiederholen? Der Streich von 1762, die „abscheuliche, ich kann
wohl sagen niederträchtige Art", wie es der damals im Stich gelassene Preusien-
könig nannte, hatte „Präzedcntien": so 1674 gegenüber Frankreich, 1713 und 1748
gegenüber Osterreich; was werden wir im 20. Jahrhundert erleben?
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
le Frage der Schuld am Kriege, so sehr sie vielen im In- und
Auslande schon seit dem Herbst 1914 in einem oder anderem Sinn
als erledigt galt, ist in Wahrheit nie zur Ruhe gekommen, und es
hat nicht den Anschein, als ob sie sobald zur Ruhe kommen sollte.
Es ist nicht ohne Interesse, die Wandlungen der öffentlichen Meinung
im Verhältnis zu dieser Frage sich kurz zu vergegenwärtigen. Was
das Ausland betrifft, so bewirkten zu Beginn des Krieges die von Deutschland
ausgehenden Kriegserklärungen, die blitzartige Schnelligkeit der deutschen Offensive
und vor allem der Eindruck des Einfalles in Belgien, daß die Welt fast ein¬
stimmig Deutschland allein schuldig sprach. Die überlegene Pressetaktik der Entente
hat es verstanden, dieses gefühlsmäßig entstandene Urteil durch das bekannte
Mittel des „Einhämmerns" zu befestigen, und die als Kriegswerkzeug gehandhabte
Propaganda hat in einem geschickt abgefaßten und verbreiteten Buche (J'accuse) die
Meinung, an die die Welt glauben sollte, mit allem tatsächlichen Beweismaterial
und allen logischen und dialektischen Beweismitteln eines gerissenen Advokaten
so fest untermauert, daß dieser Block unzerstörbar schien. Aber alles nutzt sich ab.
Die im Laufe der Jahre sich einstellende ruhigere Überlegung mußte zu der Frage¬
stellung führen, ob denn in den Jahren vor dem Krieg bei der Entente alles so
herrlich war, als sie es vorgab; die Auffindung der Berichte der belgischen Ge¬
sandten an den europäischen Höfen^), einige für die Entente unliebsame Ent¬
hüllungen, wie der Suchomlinowprozeß^) und die Veröffentlichung der Geheim-
verträge^) mußten den Köhlerglauben an den schwarzen Wolf und das weiße
Schaf erschüttern. Auch das Verhalten der Entente während des Krieges hat
dazu beigetragen. Heute gibt es weite Kreise in den neutralen, wie auch in den
feindlichen Ländern, deren Meinung darauf hinausläuft, daß alle mehr oder
weniger im gleichen Maße schuldig sind. Zwar dürfte die große Masse auch der
Gebildeten, namentlich in den uns feindlichen Ländern, noch immer an eine zum
mindesten überwiegende Schuld Deutschlands glauben. Bei uns in Deutschland
ist die Erörterung auf der Suche nach dem eigentlichen Ausgangspunkt derjenigen
außenpolitischen Entwicklung, die zum Kriege geführt hat, immer weiter in die
Vergangenheit zurückgeglitten und hat erst beim Jahre 1890 Halt gemacht. Die
Kündigung des Nückversicherungsvertrages mit Rußland sollte an allem Unglück
schuld sein/) Erst durch die Bücher von Otto Hamann^), denen sich dann Raschdau
und Orten°) anschlössen, ist die Überschätzung des Rückoersicherungsvertrages auf¬
gedeckt und jener Anfangstermin energisch bis zu den Jahren 1896 und 1902,
den Jahren der „verpaßten Gelegenheiten" einer Verständigung mit England vor¬
geschoben worden. Im ganzen jedenfalls zeigte die Erörterung die Neigung von
der Durchforschung der verwickelten Vorgänge der eigentlichen Krise, d. h, der
Zeit vom österreichischen Ultimatum bis zum Kriegsausbruch und von dem Streit
um die Priorität der Mobilmachungen sich abzuwenden und den tieferen Ursachen
in der Gesamtanlage der deutschen Außenpolitik nachzuspüren. Diese Tendenz
ist über das eigentliche politische Gebiet hinaus zur äußersten Konsequenz getrieben
in der Auffassung Walther Rathenaus, der den allgemeinen Geisteszustand Europas
verantwortlich macht und den Krieg schon vor seinem Ausbruch als in Latenz
tatsächlich vorhanden ansieht/)
So sehr diese Forderung nach den eigentlichen Ursachen der Konflagration
und in ihrem Gefolge die sorgfältige Analyse der Gesamteinstellung des politischen
Kurses aller am Krieg beteiligten Staaten ebenso wie der allgemeinen Geistes¬
beschaffenheit der Völker, die Grundlage jeder ernsthaften Behandlung der Schuld¬
frage sein muß, so wird die Erörterung doch immer wieder auch zur Durchquerung
des dornigen Gestrüpps der Krisenzeit sich bequemen müssen. Wenn auch festge¬
stellt sein mag, daß das System der Bündnisse und die besondere Haltung der
einzelnen Staaten zum Kriege drängte, ja ihn unausbleiblich machte, daß der all¬
gemeine Geisteszustand in Europa, besonders aber in Frankreich und Nußland
seinen Ausbruch erleichterte und beschleunigte, immer wieder wird sich die Frage
erheben: war nicht sein Ausbruch noch in der letzten Minute zu verhindern, hin¬
auszuschieben, wenn auch nur für kurze Zeit, konnte nicht inzwischen eine anders
Kombination oder das Wunder einer Umkehr des Weltgeistes eintreten, der die
Menschheit vor diesem Fegefeuer bewahrt hätte?") Zu dieser Geschichte der letzten
Krisenzeit, der twelvs ela^s, wie sie in der englischen politischen Literatur genannt
wird, ist nun ein dem Umfange nach knapper, aber bedeutsamer Beitrag erschienen:
Die Tagebuchaufzeichnungen des deutschen Botschafters in Petersburg, Grafen
Pourtalös.-)
Das kleine Büchlein gibt sich schlicht und anspruchslos. Es wird weder eine
geschlossene historische Darstellung versucht, noch die Problematik der Situationen auf-
gerollt. In aller Kürze einer nach arbeitsreichem Tag niedergeschriebenenNotiz werden
lediglich die Ereignisse festgehalten und unter Verzicht auf jeden Schmuck stilistischer
Aufmachung und auf jede absichtsvolle „Komposition" gesagt, was der Verfasser selbst
getan hat, um den Gang der Ereignisse von seiner Seite zu beeinflussen. In dieser
Schlichtheit und Sachlichkeit, die nicht anders als unbedingt ehrlich sein kann,
liegt der literarische Reiz sowohl, wie der historische Wert dieser Aufzeichnungen.
Sie geben die frischen, unmittelbaren Eindrücke eines Mannes, der an einem
Angelpunkte stand und berufen war, handelnd einzugreifen. Sie geben deshalb
so sehr viel mehr, als die meisten dicken Bücher über den behandelten Gegenstand
geben können, weil sie nicht das tote Material der Noten und Telegramme reprodu¬
zieren, sondern das Leben zu fixieren suchen. Das Moment, das fast bei allen
Darstellungen jener Krisis vernachlässigt wird und doch so wichtig ist, das persön¬
liche, tritt hier in seine Rechte. Es wird fast zum ersten Male deutlich, daß es
Menschen sind, die handeln, Menschen mit persönlichem Charakter, persönlichen
Eigentümlichkeiten und Schwächen.
Die Figur Sasonows vor allem tritt in feiner, klarer Zeichnung hervor.
Es ist das Bild eines hypernervösen, Stimmungen und Gefühlswallungen start
unterworfenen, im Grunde schwächlichen, aber gerade deshalb halsstarrigen
Menschen. Schon vor der Überreichung des österreichischen Ultimatums am
21. Juli ist Sasonow „sehr erregt" über die Bedrohung Serbiens durch Öster¬
reich und lehnt den Gedanken, daß Osterreich ein Recht habe, Serbien zur Rechen¬
schaft zu ziehen, „schroff" ab. Als am 24, Juli der österreichische Botschafter
Sasonow das Ultimatum übergibt, nimmt er es „verhältnismäßig ruhig" ent¬
gegen. Am selben Abend aber findet ihn der deutsche Botschafter in der größten
Erregung. „Seine Anklagen gegen Österreich überschritten jedes Maß". Alle
Einwendungen des deutschen Botschafters tragen nur dazu bei, seine Erregung zu
steigern, in die er sich immer mehr hineinredet. Am 26. findet der deutsche Bot¬
schafter Sasonow in viel versöhnlicherer Stimmung. „Herr Sasonow floß über
von Beteuerungen seiner freundlichen Gesinnung und versicherte, daß er nur nach
Mitteln suche, um Österreich-Ungarn die berechtigte Genugtuung zu verschaffen----"
Am 27. findet der Botschafter bei Herrn Sasonow die gleiche versöhnliche Stim¬
mung wie am vorhergehenden Tage. Er verspricht in seinem Entgegenkommen,
gegen Osterreich bis zur äußersten Grenze gehen und alle Mittel erschöpfen zu
wollen, um die Krisis auf friedlichem Wege zu lösen. Aber schon vom nächsten
Tag, dem 28. Juli, berichtet Pouriales: „Bei Sasonow war die Stimmung
Plötzlich wieder ganz umgeschlagen. Ich fand ihn nachmittags in höchster Er¬
regung, und es kam zwischen uns zu einem heftigen Auftritt. Der Minister
empfing mich gleich mit den Worten, daß er jetzt unsere ganze hinterlistige Politik
durchschaue, es bestehe nunmehr für ihn nicht der geringste Zweifel, daß wir die
Pläne Österreich-Ungarns genau gekannt hätten, und daß man es mit einem
zwischen uns und dem Wiener Kabinett abgekarteten Spiel zu tun habe." Als
der deutsche Botschafter gegen dieses Benehmen entschieden Einspruch erhebt, die
Unterredung abbricht und sich bei dem Unterstaatssekretär über den Zwischenfall
beschwert, wird er zurückgerufen und Sasonow empfängt ihn, indem er ihm um
den Hals fällt und um Entschuldigung bittet, daß er sich zu heftigen Worten
hätte hinreißen lassen.
So schwankt das Barometer immer zwischen Extremen. Schroffheit und
hochgradige Erregung wechseln unvermittelt und ohne wirklich sachliche Begründung
in den Ereignissen mit Gefühlsweichheit. Noch bei der letzten Unterredung zwischen
dem Grafen Pourtalös und Sasonow nach der Kriegserklärung fällt, als Graf
Pourtalös sich von ihm verabschiedet, Sasonow ihm gerührt um den Hals und
sagt: „Glauben Sie mir, wir werden Sie wiedersehen." Graf Pourtalös macht
dazu die bezeichnende Bemerkung. „Herr Sasonow machte mir bei dieser letzten
Unterredung einen geradezu hilflosen Eindruck, der mich in der Auffassung bestärkte,
daß er in der letzten Phase der Krisis sich ganz vom Strome treiben ließ und
steh zum willenlosen Werkzeug der Kriegshetzer gemacht hat."
Der ganze Kampf zwischen Pourtales und Sasonow, der sich vom 24. Juli
ab Tag für Tag und fast jedesmal mit den gleichen Argumenten und Gegen¬
argumenten abspielt, dreht sich darum, daß Sasonow an der Forderung eines
europäischen Verdikts über die serbische Angelegenheit mit absoluter Starrheit
festhält, in dem Glauben, durch eine auch vor der Mobilmachung nicht zurück¬
schreckende Festigkeit die Gegenpartei zum Nachgeben zu veranlassen, während
Graf Pourtales die verhängnisvollen Folgen einer russischen Mobilmachung
voraussieht und abzuwenden versucht. Die inneren psychologischen Gründe für
dieses Verhalten Sasonows gibt Graf Pourtales in folgenden Worten wieder:
„Der von diesen (den Nationalisten und Deutschenhetzern) gegen ihn gerichtete
Vorwurf, daß er während des Balkankrieges Österreich-Ungarn gegenüber zu
nachgiebig gewesen sei und daß ihn ein großer Teil der Schuld treffe, wenn das
Schlußergebnis dieses Krieges die wahren Freunde des Slawentums enttäuscht
habe, lastete sichtlich auf ihm." Auch hier das Bild eines schwachen Charakters,
eines Menschen, der unter Vorwurf und Kritik seelisch leidet, weil sie seinen
Ehrgeiz verletzen, und der nicht die Selbstsicherheit hat, sich darüber hinweg¬
zusetzen. Und einige Seiten später heißt es: „Er (Sasonow) gab sich der ver¬
hängnisvollen Täuschung hin, daß Deutschland, wenn eS einsehen würde, daß
Rußland entschlossen sei, es dieses Mal zum äußersten kommen zu lassen, seine
Verbündeten im Stiche lassen und daß auf diese Weise Rußland mit der Triple-
Entente einen diplomatischen Erfolg erringen werde, der zugleich eine Vergeltung
für die diplomatische Niederlage in der böhmischen Frage im Jahre 1909 sein
würde." Also eine Politik des Bluffs, eines Draufgängertums, das nur auf
Einschüchterung berechnet ist und keine wirkliche Kraft hinter sich hat. Vor allem
aber eine Politik, der der Ernst eines starken Verantwortungsgefühls abgeht.
Sasonow erscheint somit als der Mann, der, wie man zu sagen pflegt, sich
festgeblufft hat und aus der Sackgasse, in die er gerannt ist, nicht wieder heraus
kann und infolgedessen in die Gewalt der Militärs und der Kriegspartei gerät.
Welche Argumente bei den damit matzgebend gewordenen Persönlichkeiten durch¬
schlagend waren, erhellt aus den folgenden Sätzen der Pourtalesschen Broschüre:
„Graf Fredericksz gab darauf zu verstehen, der Kriegsminister Suchomlinow und
der Minister des Innern Maklakow hätten die Mobilmachungsorder durchgesetzt.
Ersterer sei von der Angst vor Überraschungen beherrscht gewesen, während der
letztere den Kaiser zu überzeugen verstanden habe, daß die innere Lage Rußlands
auf eine Entscheidung dränge." Dieses Motiv der inneren Lage Rußlands ist
auch in den Unterhaltungen Sasonows und Pourtales' zweimal angeschlagen.
Unter dem 29. Juli heißt es: „Er fügte hinzu: .Keine Regierung würde eine
andere Politik führen können, ohne die Dynastie in ernste Gefahr zu bringen/":
unter dem 30. Juli: „Bemerkenswert erscheint es, daß Sasonow bei dieser Unter¬
redung zum zweiten Mal auf die Gefahren hinwies, die der russischen Dynastie
erwachsen würden, wenn die Regierung Österreich-Ungarn gegenüber nicht fest¬
bleibe." Die alte Lehre der Geschichte, daß die innere Schwäche der Staaten die
Hauptursache äußerer Kriege ist, findet sich bestätigt. >
Was die tatsächlichen Vorgänge betrifft, so sind die Pourtalesschen Auf¬
zeichnungen besonders bedeutsam hinsichtlich dessen, was über die Entstehungs¬
geschichte der sogenannten Sasonowschen Formel gesagt ist. Diese Formel wird
ja von der gesamten, den Standpunkt der Entente vertretenden Literatur als ein
versöhnlicher Schritt Rußlands, als eine von Sasonow ausgestreckte Friedenshand
hingestellt, die deutscherseits zurückgestoßen worden sei. Graf Pourtales schildert
nun seine Audienz bei Sasonow am 30. Juli, in deren Verlauf die Unterhaltung
wie an allen vorangegangenen Tagen infolge der Starrheit Sasonows wieder
völlig auf den toten Punkt gekommen war. Graf Pourtales erklärte Sasonow,
daß auf diese Weise Europa in den Krieg hineintreibe und fährt fort: „Mit
bewegten Worten redete ich auf den Minister ein, indem ich ihm schilderte, wie
fürchterlich dieser Krieg, dessen Umfang gar nicht abzusehen sei, werden würde.
Es dürfe, erklärte ich, kein Mittel unversucht gelassen werden, um, wenn irgend
möglich, den bereits im Rollen befindlichen Stein noch aufzuhalten. Solange
beide Seiten starr an ihrem Standpunkt festhielten, erscheine die Lage allerdings
verzweifelt. Nur ein Kompromiß könne aus dieser Lage heraushelfen. Rußland
habe durch die österreichisch-ungarische Erklärung die wichtige Garantie erhalten,
daß das Gleichgewicht aus dem Balkan nicht gestört werden würde. In der
Hauptsache sei somit auf seine berechtigten Wünsche Rücksicht genommen. Die
jetzt noch vorhandene Meinungsverschiedenheit scheine mir nicht so groß, daß es
deswegen zum Kriege kommen müßte. Mit einigem guten Willen beiderseits
müsse sich eine Formel finden lassen, um beide Standpunkte miteinander zu
versöhnen. Ich bat den Minister dringend, zu versuchen, eine solche Formel
ausfindig zu machen, dabei aber nicht zu vergessen, daß er auch seinerseits Ent¬
gegenkommen zeigen müsse. Der Minister schrieb darauf folgendes auf: „Si
'/mtriene en reLonnaisLant c^ne son eontin avec la Lerbie s assume le
LArÄLtere ni'une c^uestion ä'interet europeen, se cleelare prete ä eliminer cle
son Ultimatum Je3 point8 cui portent Meinte aux ärvits souvermns cle w
Lerbie, 1a KusZie s'enMZe a eeZssr tout prevaratii militaire."^)
Das den Tagebuchaufzeichnungen beigefügte Faksimile zeigt, daß die Formel
auf einem gewöhnlichen Notizblock geschrieben worden war. Wie bekannt, enthielt
die Formel selbst keinerlei Konzession von russischer Seite, sondern verharrte starr
auf der Forderung eines Rückzuges Österreichs gegenüber Serbien und war daher,
wie Pourtales Sasonow sofort erklärte und Sasonow schon ohne dies selbst
wissen mußte, für Osterreich unannehmbar. Es ergibt sich also als historische
Wahrheit, daß am 30. Juli der deutsche Botschafter in Petersburg mit allem
Nachdruck auf die Formulierung eines beiderseits gangbaren Kompromisses drängte,
daß die russische Regierung diesem Drängen auswich, indem sie eine Formel
vorschlug, die kein Kompromiß darstelle, sondern eine einfache Wiederholung der
russischen Forderungen war und daß nachträglich diese Formel zu einem Kompromiß
umgedeutet wurde. Die Stufen dieses Umdentungsprozesses sind ans den
verschiedentlich^ Veröffentlichungen des Aktenmaterials deutlich erkennbar. Die
Anweisung Sasonows an den russischen Botschafter in Berlin vom 30. Juli
(russisches Orangebuch Ur. 60), in der er ihm die Formel mitteilt, enthält in
ihrem zweiten Absatz bereits den Wink, daß sie auszulegen sei als „neuer Beweis
unseres Wunsches, das Menschenmögliche für eine friedliche Lösung der Frage zu
tun". In dem Telegramm des französischen Botschafters an seine Negierung vom
30. Juli (französisches Gelbbuch Ur. 103) wird die Sasonowsche Formel bereits
mit den Worten eingeführt, daß sie einen neuen Vorschlag des russischen Ministers
darstelle, den dieser dem deutschen Botschafter im Namen des Kaiser Nikolaus
gemacht habe, der so dringend wünsche, den Krieg zu beschwören. Bei dem
engen Verhältnis Frankreichs und Rußlands und dem intimen Zusammenarbeiten
PaleologueS' und Sasonows vom Beginn der Krise an ist es unmöglich, diese
starke Abweichung von dem tatsächlichen Hergang als zufällige Ungenauigkeit
anzusehen. Die geschickte Zurichtung für die öffentliche Meinung ist unverkennbar.
Die Pourtalesschen Aufzeichnungen entlarven diese französische Mache und
beweisen, daß die Sasonowsche Formel nichts anderes als die russische Ablehnung
eines deutschen Friedensschrittes war. Wenn von englischer Seite (I. W. Headlam.
„12 Tage Weltgeschichte", Verlag Payot) dem Grafen Pourtales die ehrliche
Absicht einer Beilegung des Konfliktes zugebilligt, aber behauptet wird, daß er
auf eigene Faust gehandelt habe und daß sein Vorgehen der Reichsregierung
unbequem gewesen sei, so wird auch diese Behauptung durch die Tagebuch¬
auszeichnung widerlegt. Denn die in Rede stehende Unterhaltung mit Sasonow
war veranlaßt durch eine telegraphische Weisung, die Graf Pourtales aus Berlin
erhalten hatte und entwickelte sich logisch aus der Besprechung dieses Berliner
Telegramms.
Solange die lückenlose Aktenveröffentlichung, zu der sich die neue deutsche
Regierung bekanntlich unter der Voraussetzung gleichzeitiger Veröffentlichung der
Ententeakten bereit erklärt hat, noch nicht vorliegt, werden die Pourtalesschen
Aufzeichnungen einer der wichtigsten Beiträge zur Geschichte der Krisetage bleiben
und auch nachher werden sie ihrer besonderen Bedeutung nicht verlustig gehen.
cum man heute das Verhältnis von Christentum und Sozialismus zur
Erörterung stellt, so geschieht dies von einem andern Boden aus,
als vor dem 9. November 1918. Man möchte meinen, die Frage
hätte jetzt viel von ihrer früheren Schärfe verloren. Was vordem
bei uns in Deutschland das schwerste Hindernis für eine Ver¬
ständigung bildete, die Stellung der Sozialdemokratie zur Monarchie,
ist dahingefallen. Die Sozialdemokratie ist selbst Regierung, ist selbst „Obrigkeit"
geworden und kann nunmehr das Wort: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit",
ihrerseits in Anspruch nehmen. So bliebe, sollte man denken, als Gegenstand der
Auseinandersetzung mit ihr nur noch das rein Wirtschaftliche übrig, und hier hätte
das Christentum nicht mitzureden. Denn ob es möglich oder wünschenswert ist,
die Vergesellschaftung der Produktionsmittel unter gleichzeitiger Beibehaltung der
Technik des Kapitalismus durchzuführen, ob das persönliche Eigentum sorgsamer
geschont werden muß oder man darüber hinaus zum Bolschewismus, zum Kom¬
munismus fortschreiten soll, das erscheint zuletzt nur als eine Frage der Zweck¬
mäßigkeit, der Rücksicht auf den größeren Vorteil für das allgemeine Wohl. Das
Christentum würde gut tun, sich dabei zurückzuhalten. Dem käme auch auf der andern
Seite die entsprechende Stimmung entgegen. Denn wenn nach dem Erfurter
Programm die Religion Privatsache ist, so wünscht man auch dort keine Ver¬
mengung der Religion mit den wirtschaftlichen Bestrebungen.
Allein die Entspannung ist doch nur eine scheinbare. Denn tatsächlich will die
Sozialdemokratie mehr sein als eine bloß wirtschaftliche Bewegung. Sie fühlt
sich zugleich als Vertreterin eines sittlichen Hochziels, einer Weltanschauung.
Kautsky hat soeben (Die Diktatur des Proletariats S. 4) mit der ihm eigenen
Peinlichkeit aus dem Wortlaut des Erfurter Programms festgestellt, daß genau
genommen nicht der Sozialismus das Endziel der Sozialdemokratie sei; der sei
nur Mittel zum Zweck. Das wahre Endziel sei die Befreiung des Proletariats,
und damit der Menschheit überhaupt. .Kautsky hat gewiß insofern Recht, als erst der
von ihr verkündete Menschheitsgedanke der sozialdemokratischen Bewegung ihre
Schwungkraft verleiht. Und es ist wohl nicht zuMig, daß gerade jetzt, wo die
entscheidende Stunde für den Sozialismus gekommen ist, das Eintreten für dieses
höchste Ziel so oft geradezu als Religion bezeichnet wird. „Arbeit ist die Religion
des Sozialismus" hieß es in Eberts Neujahrsansprache, nud noch deutlicher hat Clara
Zietz in Weimar geredet: „Wir stellen der Religion die hohe herrliche Welt-
anschauung des Sozialismus entgegen." Hier ist rundweg ausgesprochen, daß
der Sozialismus als eine höhere Form der Weltanschauung das Christentum
ersetzen will.
Aber auch von der oudern Seite her ist der Standpunkt, daß das Christen¬
tum sich in wirtschaftliche Fragen nicht zu mischen habe, gerade in diesem Augen¬
blick lebhaft umstritten. Was Tolstoi im Ton des Propheten gefordert hat, 'das
wird heute — wenn auch in abgeschwächter Form — von den Religiös-Sozialen
in der Schweiz mit steigendem Nachdruck geltend gemacht. Die christliche Predigt
der allgemeinen Menschenliebe bleibt eine bloße Redensart, wenn nicht die gesell¬
schaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse entsprechend umgestaltet wilden. Der
Sozialismus allein stellt den geeigneten Boden für die christliche Predigt her.
Der Kampf gegen den Kapitalismus ist daher Christenpflicht. Lniher ist auf
halbem Wege stehen geblieben, ja er hat das Christentum geschädigt, indem er
diese Seite verkannte.
So sehen wir in Deutschland uns jetzt zwischen die Doppelfrage eingeklemmt:
Besteht zwischen Christentum und Sozialismus ein so scharfer Gegensatz, daß sie
sich nebeneinander ausschließen, oder vielmehr eine so nahe Verwandtschaft, daß
sie sich gegenseitig fordern?
Wenn zwei so widersprechende Sätze über das Verhältnis der beiden Größen
aufgestellt werden können, so deutet das an sich schon darauf hin. daß zwischen
beiden einmal eine geschichtliche Beziehung, eine Befruchtung stattgefunden haben
muß. Tatsächlich ist jenes höchste Wunschziel des Sozialismus, die Befreiung der
ganzen Menschheit, nicht ohne einen starken Einfluß des Christentums entstanden.
Es ist zunächst herausgewachsen aus dem Menschheitsgedanken der Aufklärung,
der seinerseits wieder auf das Christentum zurückweist. Denn der christliche Ge¬
danke des Reiches Gottes war es, an den die führenden Geister der Aufklärung seit
Leibniz bewußt angeknüpft haben. Blut vom Blut des Christentums fließt darum
in der Sozialdemokratie, mag sie selbst dies auch noch so lebhaft bestreiten. Aber
sie ist allerdings — noch entschiedener als die Aufklärung — des Glaubens, daß
heute der Mmschheitsgedcmke in sich selbst so lebenskräftig, so anziehungsmächtig
geworden sei, um der Stütze durch religiöse Vorstellungen nicht mehr zu bedürfen,
und sie fühlt sich berufen, diesen Gedanken in seinem ganzen Umwng zu voll¬
strecken. Was im Christentum nur ein Traum war, wird von ihr verwirklicht.
— Umgekehrt hat aber auch das Christentum je und je kommunistische Gesell¬
schaftsziele aus sich hervorgetrieben: von der Urgemeinde an bis herab zu den
mährischen Täufern und den Labadistem Der christliche Kommunismus hat dabei
alle Wandlungen durchlaufen, deren diese Form fähig ist. War er in der Ur¬
gemeinde ein bloßer Kommunismus des Tellers, so stellten die Gemeinden der
mährischen Brüder und der Labadisten regelrechte Produktivgenossenschaften dar.
Demnach möchte man sagen, die Frage, die die Aufklärung unter dem Titel
der Perfektibilität' des Christentums verhandelte, sei in neuer Gestalt unter uns
aufgetaucht. Das eine Mal soll das Christentum als Religion durch eine entwickeltere
Form abgelöst, das andere Mal nach der sittlichen Seite hin weitergeführt werden.
Inwiefern hat der Sozialismus ein Recht, sich selbst als Religion oder
wenigstens als einen Ersatz für die Religion hinzustellen? Es ist auffallend, wie
wenig sich die Sozialdemokratie in all ihrer Begeisterung dann bemüht, diesen
Anspruch nach seiner bejahenden Seite hin zu begründen. Sie begnügt sich zu¬
meist mit dem Herauskehren der Verneinung gegeuüber der geschichtlichen Religion.
Immer noch geht es ihr nach, daß ihr geistiger Vater in einer Zeit gelebt hat,
in der mit dem deutschen Idealismus zusammen auch die Religion einen Nieder¬
bruch litt. Feuerbachs Auffassung der Religion als einer bloßen Widerspiegelung
menschlicher Triebe ist ja für die ganze Weltanschauung von Karl Marx — nicht
bloß für seine Stellung zur Religion selbst — bestimmend geworden; sie hat ihm
den Grundgedanken geliefert, von dem aus er den ganzen geistigen Inhalt der
Geschichte in das Licht eines bloßen „ideologischen Oberbaus" über der wirtschaft-
lichen Entwicklung rückte. Nietzsches Einfluß hat den ablehnenden Standpunkt
gegenüber aller Metaphysik bei der Sozialdemokratie dann noch verstärkt. Dessen
Redensarten über den gestorbenen Gott, sein Spott über die Hinterweltlichen
haben nirgends so viel Eindruck gemacht wie in jenen Kreisen. Es gibt nur eine
einzige Wirklichkeit: die, die wir mit unsren Sinnen wahrnehmen. Sie versteht
sich aus sich selbst, aus den Kräften und Trieben, die ewig in ihr walten. Es
ist Rückständigkeit, eine überweltliche Ursache für sie und das Geschehen in ihr
zu fordern.
Trotzdem steckt auch in der sozialdemokratischen Weltanschauung als Erbe
aus dem idealistischen Zeitalter noch vieles, was eine Stimmung religiöser Art
hervorzurufen vermag. Es lebt als dumpfer Drang in den Massen und ist
tatsächlich dasjenige, was die sozialdemokratische Bewegung über eine bloße
Lohnbewegung erhebt.
Zuvörderst ist klar, daß auch die sozialdemokratische Weltanschauung auf
einem Glauben beruht; auf dem Glauben an einen stetigen Fortschritt der
Menschheit und an den endlichen Sieg des Guten. Karl Marx hat ihm, wie
man dort meint, die wissenschaftliche Unterlage gegeben. Der Drang, das Leben
zu fristen und es womöglich zu erhöhen, treibt die Menschen ständig nach vor¬
wärts, und im genauen Verhältnis dazu wandeln sich zugleich nicht nur die
Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch ihr ganzes Be-
wutztsein. Die Steigerung der Produktivkräfte bedeutet zwar für die Mehrzahl der
Menschen eins zunehmende Unterdrückung. Und doch führt der Weg nach auf¬
wärts. Denn selbst das, was man innerhalb dieser Betrachtungsweise das Böse
nennen möchte, selbst der Kapitalismus muß schließlich zum Besten wirken. Er
schafft die für die Höherhebung der Menschheit unentbehrlichen Produktionsformen,
er erteilte die Maschine, die die herrliche Aufgabe hat, die Menschen von der
niederdrückenden Last der Arbeit zu befreien, und er stellt als die über die
Grenzen der Völker und Staaten hinübergreifende, bis in den letzten Winkel der
Erde vordringende Vereinigung der Gewinnhungrigen, ohne es zu wollen, den Zu¬
sammenschluß der Menschheit zu einem Ganzen erst wirklich her. Aber gleichzeitig
ruft er selbst mit innerer Notwendigkeit die Gegenkräfte hervor, die über ihn
hinausführen und der unerträglich gewordenen Trennung der Mehrheit von den
Produktionsmitteln ein Ende machen. Wenn die Herrschaft des Kapitalismus
auf ihren Gipfel gelangt ist, wird die Masse der Ausgebeuteten sich gegen ihre
Peiniger erheben. Dann wird das wirkliche Recht siegen über das bloß ver¬
meintliche und der Menschheitsgedanke in seiner ganzen Größe und Reinheit erstrahlen.
Dieser mit der Kraft einer messianischen Hoffnung wirkende Glaube wird
auf den einzelnen übertragen dadurch, daß er innerhalb der großen sozialdemo¬
kratischen Bewegung in Reih und Glied mitmarschieren lernt. Jede Massenbewegung
wirkt schon durch die ihr als solcher eigene Wucht umbildend, begeisternd auf die von
ihr Erfaßten. Denn die Masse ist mehr als eine Summe von einzelnen und der
einzelne ist in ihr ein anderer, als wenn er auf sich gestellt ist. Der abgenutzte
Ausdruck „sich gehoben fühlen" sagt doch etwas vollkommen Richtiges. Ais Glied
der Gemeinschaft sieht der einzelne weiter, und er kann tatsächlich mehr denn
zuvor. Doppelt gilt das bei einer sich gedrückt fühlenden Schicht. In diesem
Falle legt sich der ganze Lebens- und Freiheitsdrang mit in das Massengefühl
hinein. Der Hoffnungslose wird stark und selbstbewußt, weil er die vereinigte
Kraft der andern als ihn selbst mittragend verspürt; er fühlt sich als Vollstrecker
eines Weltwillens, wenn ihm seine Not zugleich als die Not der ganzen Menschheit
gezeigt wird. Unwillkürlich geht dann die Empfindung ins Religiöse über. Nicht
er selbst ist es ja, der Will. Ein Mächtigeres ist es, das ihn fortreißt und dem
er doch freudig gehorcht. Etwas wie Andacht, wie ein heiliger Schauer über¬
kommt gerade den Einfachen, wenn er auf diesen Höhepunkt seines Selbst¬
bewußtseins gelangt ist.
Ist das nun Religion? Wenn man die Religion auf das bloße Gefühl der
Ehrfurcht oder auf die Überzeugung von dem schließlichen Sieg der guten Sache
zurückführt, dann ist die Frage unbedingt zu bejahen. Hier ist Beugung unter
ein Übergreifendes und Vertrauen zu einer in den Dingen selbst wirkenden gerechten
Notwendigkeit.
Aber eine andere Frage ist, ob in dieser Religion auch das Beste und Tiefste,
was die Religion dem Menschen zu geben hat, zu seinen: Recht gelangt.
Die Sozialdemokratie ist mit Nietzsche stolz darauf, daß sie im Gegensatz
zur christlichen Religion ganz auf dem Boden der Wirklichkeit steht. In Wahrheit
ist auch ihre Weltanschauung, wie jede andere, nicht eine einfache Nachzeichnung,
sondern schon eine Deutung des Seienden. Und zwar bei ihr in dein Sinn, daß
eine Seite der Wirklichkeit zurückgeschoben, ja unterschlagen wird. Das Geistige
wird als selbständige, schöpferische Macht überall mit Bewußtsein ausgeschaltet.
Das fängt bereits an bei den wirtschaftlichen Grundbegriffen. Dort tritt es
vielleicht am grellsten hervor in der Marxistischen Lehre vom Mehrwert, die ja
das vorzüglichste Werbemittel der Sozialdemokratie bildet. Von Rechts wegen
hätte der Arbeiter den Anspruch auf das ganze Erzeugnis seiner Arbeit: denn er
erzeugt es durch seine Arbeit. Aber der Kapitalist betrügt ihn, indem er ihm
statt des ihm gebührenden Ganzen nur den kärglichen Lohn gewährt, der höchstens
zur Fristung des Lebens hinreicht. Aber „erzeugt" denn der Arbeiter wirklich das,
was er herstellt? Gewiß nicht. Er hat nicht einmal den Gedanken gehabt, daß
man ein solches Ding, wie er es verfertigt, überhaupt machen könnte. Geschweige,
daß er die Werkzeuge und die Maschinen ersonnen, die Arbeitsteilung und Arbeits-
Verbindung geplant und alles, was sonst noch nötig ist, geordnet hätte. Der
wahre Erzeuger ist nicht der Arbeiter — der führt nur aus —, sondern derjenige,
in dessen Kopf der Gedanke hierzu entsprungen ist. Denn schöpferisch ist auch
auf dein Gebiet des Wirtschaftlichen einzig und allein der Gedanke, und es gehört
für mich zum Unverständlichen, daß unsere Volkswirtschaftslehrer dies gegenüber
Marx nicht kräftiger betonen. Aber allerdings, dann wäre der Begriff des Wertes
nicht mehr so einfach aufzulösen, wie dies bei Marx der Fall ist. Jedenfalls, was
Marx im Namen der Gerechtigkeit fordert, ist in Wahrheit die schreiendste Un¬
gerechtigkeit gegen den geistigen Urheber und Leiter.
Erst recht zeigt sich die Einseitigkeit des sozialdemokratischen Weltbilds in
ihrer Auffassung der Geschichte. Daß die wirtschaftlichen Vorgänge auch das
höhere, geistige Bewußtsein der Menschen beeinflussen, wird heute wohl von
niemand bestritten werden; aber daraus folgt nicht, daß sie die alleinbestimmenden
oder auch nur die zuletztbestimmenden in der Geschichte wären. Schon das bleibt
für Marx ein Rätsel, wie die Menschheit überhaupt daraus kommt, einen „Oberbau"
von Rechts-, Sittlichkeits- und Religionsbegriffen zu errichten, der sie doch in
ihrem wirtschaftlichen Streben ebensoviel hindert wie fördert. Nur der Vorein¬
genommene kann nicht sehen, daß das Gewissen der Menschheit neben und über dem
wirtschaftlichen Schaffen die entscheidende Rolle in der Geschichte spielt. Das
Gewissen mag entstanden sein, wann und wie es will, es mag seinen Inhalt noch
so viel gewechselt haben, es mag noch so oft verleugnet und mit Füßen getreten
worden sein — nachdem es einmal da ist, ist es doch ein Block, an dem sich die
Wogen brechen. Auch die stärkste wirtschaftliche Bewegung vermöchte sich nicht
durchzusetzen, wenn nicht das Gewissen der Menschheit dem von ihr Gewollten
zustimmtet Unfreiwillig räumt das die Sozialdemokratie selbst ein, indem sie
ihren Sieg zugleich als einen Sieg der Gerechtigkeit feiert.
„Wissenschaftlich" laßt sich dies freilich nicht beweisen, so wenig als sich
wissenschaftlich feststellen läßt, was im höchsten Sinn „wirklich" ist. Es handelt
sich hier vielmehr um eine persönliche Entscheidung. An der Frage, wie man die
Gewissenstatsache bewertet, trennen sich die Weltanschauungen und die Auffassungen
der Religion.
Für wen das Gewissen das Grundlegende in seinem Bewußtsein, das
Wirklichste des Wirklichen ist, der wird nie anders können, als Gott persönlich
denken. Kautsky hat in seinem Büchlein „Ethik und materialistische Weltan¬
schauung" es versucht, durch eine Verbindung darwinistischer und Marxistischer
Gedanken die Höherentwicklung der Menschheit aus sich selbst heraus begreiflich
An machen. Immer „mußte" ein bestimmtes Neues kommen, wenn die Gattung
sich erhalten oder weiter kommen sollte. Warum „mußte"? Warum blieb die
Menschheit nicht bei ihren tierischen Ansängen stehen? Es fällt Kautsky niemals
ein, diese Frage auch nur auszuwerfen. Es „mußte" so sein, weil es eben so
geworden ist. weil die „Entwicklung" es so wollte. Der Leugner des persönlichen
Gottes wird hier zum Begriffsgläubigen strengster Observanz. Die „Entwicklung"
gilt ihm selbst als etwas Wirkliches, als etwas selbst Treibendes. Es ist der
nämliche Aberglaube, wie wenn gewisse Mathematiker ihre Formeln, die doch nur
eine Beschreibung, nur ein Versuch zur Erfassung der Wirklichkeit sind, für die
Wirklichkeit selbst halten."
Das Gewissen wird aber zugleich die „Unruhe, die den Menschen un¬
weigerlich in seinem Gottesverhältnis wcitertreibt. Sei» Eingreifen bewirkt, daß
neben der bloßen unwiderstehlichen Macht das Heilige im Gottesbild Hervortritt.
Die Religion wird persönlich, innerlich; es offenbart sich der von Kants?y aller¬
dings verspottete Zwiespalt zwischen dem „Engel und dem Tier" im Menschen,
und dies führt zu einem Ringen, bei dein es sich nicht um die von der Sozial¬
demokratie allein geschätzten Güter, nicht um Glück und Lebensbehaglichkeit,
sondern um das Dasein der Seele vor Gott handelt. Gegenüber dieser im
Christentum gewonnenen Höhe erscheint die Religion des Sozialismus als eine
ungeheure Verflachung, als bloße „ideologische" Verklärung eines Mafsengefühls,
als ein Zukunftsglaube, dem selbst, wenn er sein Ziel, die Beseelung des Pro¬
letariats, erreicht, doch der Segen der inneren Bereicherung fehlt.
Aber ist es dann nicht möglich, den umgekehrten Standpunkt zu vertreten,
daß das Christentum unbeschadet all seines Drängens auf Innerlichkeit doch dem
Gläubigen zugleich die Pflicht auferlege, Welt und Wirthes ist im Sinu des
Sozialismus umzugestalten? Dem Gebot der unbedingten Nächstenliebe scheint
doch nur eine Bereinigung der äußeren Verhältnisse zu entsprechen, die auss
Ganze geht; die mit dem Kapitalismus zugleich auch die Wurzeln des Mam-
monismuS, der sittlichen Verelendung der Massen und des Kriegs zwischen den
Völkern beseitigt.
Unleugbar steck! darin eine Wahrheit. Wir sind heute hinausgewachsen
über den Standpunkt des Urchristentums, auch über die Zurückhaltung, die Luther
sich auferlegte. Wohl bewährt sich der christliche Gottesglaube in seiner Helden-
haftigkeit inmitten der drückendsten Armut und Entbehrung. Aber wir haben
kein Recht, jemand in diese Versuchung hineinzuführen. Wir müssen uns gegen¬
wärtig halten, wie unendlich schwer es für den mit des Lebens Not Ringenden
ist, auch nur die Zeit und die körperliche Kraft für die innere Sammlung zu
erschwingen. Für uns ist es Pflicht, dein Nebenmenschen die Lasten abzunehmen,
um deretwillen er auch in der Richtung auf Gott nnr „übel aufsehen" kann.
Dazu genügt die Wohltätigkeit im einzelnen nicht; die Verhältnisse müssen im
Großen gebessert werden: in den Wohnuugsverhältnisssn muß Wandel geschafft,
für Arbeitsruhe muß gesorgt, die ganze Rechtsordnung muß so weitergebildet werden,
daß überall die Rücksicht auf die Menschenwürde zu ihrer Anerkennung gelangt.
Der Punkt, um den es sich handelt, ist somit nur der, ob erst mit dem
Sozialismus diese Absichten voll erreicht oder ob sie auch mir damit am besten
erreicht würden.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß mit der Vergesellschaftung der Pro¬
duktionsmittel unter gleichzeitiger Einführung einer vernünftigen Arbeitslosen^
Unterstützung unsäglich viel Druck von dem einzelnen genommen, sein ganzes
Leben aus einen festeren Boden gestellt wäre. Aber daneben muß doch sofort
betont werden: das, worauf es uns eigentlich ankommt, daß die Menschen sich
als Menschen innerlich näherrücken, ist damit noch in keiner Weise erreicht, ja es
ist eher dadurch verhindert.
Ich sehe ganz davon ab, daß die sozialdemokratische Partei sich auf den
Grundsatz des Klassenkampfes gestellt hat. Man rühmt es ja heute K. Marx als
ein großes Verdienst nach, daß er im Unterschied von seinen französischen Vorgängern
im Klassenkampf das unentbehrliche Mittel für die Befreiung des Proletariats
erkannt habe. Aber wer den Klassenkampf führt, haßt damit notwendig auch den
Angehörigen der andern Klasse, und diesen Haß im christlichen Sinn abzudämpfen,
erscheint kaum als möglich. Immerhin ließe sich sagen, daß der Klassenkampf
und mit ihm der Klassenhaß nur eine Durchgangserscheinung sei, die von selbst
verschwindet, sobald das Ziel erreicht ist. Ist das Proletariat zum Sieg gelangt,
so sind damit auch alle Klassenunterschiede beseitigt und der allgemeinen Menschen¬
liebe das Tor geöffnet.
Jedoch, es ist schwer einzusehen, inwiefern gerade dieses Letzte als Folge
nntreten soll. Mit dem Aufhören des Kampfes lösen sich auch alle die Antriebe
auf, die die jetzt maßgebende Schicht bisher enger zusammengeschlossen haben.
Es löst sich das Kmneradschastsgefühl, das die Kämpfenden als Genossen ver¬
einigte; es löst sich der Ehrbegriff, der den Streikbrecher verurteilte. Die ganze
Gesellschaft ist nach Einebnung der Klassenunterschiede nichts weniger als sofort
ein Bruderverein, wie die Sozialdemokratie meint, sondern zunächst nur ein
großer Zweckverband, dessen Angehörige sich als Menschen so wenig zu schätzen
brauche» wie die Arbeiter in derselben Fabrik. Der einzelne steht dem andern
wieder rein als einzelner gegenüber. Er ist ihm nichts schuldig, wenn er nicht
etwas Entsprechendes dafür empfängt. So hat es neulich Scheidemann als das
große Ziel verkündigt, daß künftig „kein Volksgenosse mehr für den andern ohne
Gegenseitigkeit arbeitet, sondern daß jede Arbeit von jedem für sich und gleich¬
zeitig für die Allgemeinheit getan wird". Damit ist die zu erwartende Lage
durchaus treffend gekennzeichnet. Aber das heißt auch soviel: man hat seine Pflicht
gegen den Nebenmenschen getan, indem man die eigene, für das Gemeinwohl
nützliche Arbeit verrichtet. Geht es dein andern übel, so mag der Staat für ihn sorgen.
Ja, man muß noch mehr sagen: der Sozialismus entfesselt, wenn er sein
Ziel erreicht hat, selbst wieder Kräfte, die das Verhältnis des Menschen zum
Menschen stören. Es wird auch im Zukunftsstaat den Unterschied geben zwischen
schwerer und leichter, gefährlicher und gefahrloser, geisttötender und gcistanregender
Arbeit; es wird auch dort den Unterschied geben zwischen dem Begabten und dem
Unbegabten, dem Fleißigen und dem Faulen, dein Harmlosen und dem Gerissenen.
Sind nun, wie das doch die Absicht des Sozialismus ist, alle unter die gleichen
Bedingungen gestellt, so wird das bedeuten, daß ein heißer Wettkampf um die
leitenden Stellen, um die leichtere und schönere Arbeit entbrennen wird. Der
sozialistische Staat muß diesen Wettkampf wollen; denn er braucht Leute, die zu
regieren verstehen. Hänisch hat mit Recht davon geredet, daß eine Arbeiter¬
aristokratie sich herausbilden müsse, die imstande sei, auch den höheren Ausgaben
des Staats zu genügen. Aber der Kampf um das Emporsteigen zu dieser
Aristokratie wird^denn in viel rücksichtsloserer Weise geführt werden als bisher.
Das Wort „Freie Bahn dein Tüchtigen" könnte einen Klang bekommen, der uns
übel in den Ohren gellt. Denn alle die Hemmungen und Verpflichtungen, die
früher das nobleLse obüge dem durch Geburt und Stand Bevorzugten auferlegte,
bestehen uun nicht mehr. Und es ist sehr zu bezweifeln, ob in diesem Ringen
wirklich der Tüchtige an die ihm gebührende Stelle gelangt. In einem Wettstreit,
bei dem kein unparteiischer Schiedsrichter da ist, geben vielfach die minderwertigen
Eigenschaften den Ausschlag: die Zungenfertigkeit, die Kunst sich hervorzudrängen
und andere beiseite zu schieben, die Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel,
um von noch Gemeinerem zu schweigen. Nordamerika mag uns ein Bild davon
»eben, wie es in Zukunft auch bei uns zugehen kann. An einer Stelle ist der
Kampf auch bereits leidenschaftlich unter uns entbrannt, da wo er nach der Vor¬
aussage aller Einsichtigen zuerst kommen mußte. In der Frankfurter Zeitung hat
Margarete Zündorff einen Notschrei ausgestoßen: „Der Kampf gegen die Frauen¬
arbeit wird von den Männern mit einer Schärfe geführt, die alle vor den Wahlen
gehörten Beteuerungen der Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin zu
Phrasen stempelt." Was im Verhältnis der beiden Geschlechter begonnen hat,
wird sich gewiß anderswo fortsetzen.
Es wird sich auch im Verhältnis der Völker zueinander wiederholen. Denn
es gibt auch da die Gegensätze zwischen fleißigen und trägen, stärker sich ver¬
mehrenden und unfruchtbar werdenden, erfinderischen und träumerischen, zuver¬
lässigen und verlogenen Völkern. Der Völkerbund, selbst wenn er noch so muster¬
gültig festgesetzt wäre, kann diese Unterschiede nicht beseitigen. Der Kampf wird
fortdauern. Er wird nur andere — hinterlistigere — Formen annehmen.
Aber der Sozialismus begünstigt neben dem ehrgeizigen auch den entgegen¬
gesetzten Trieb'. Die Vorwärtsdrängenden sind immer nur eine Minderheit, der
gegenüber die Masse unwillkürlich eine abwehrende Haltung einnimmt. Sie hat
nicht das Bedürfnis, sich durch die lebhaften Geister in ihrer Behaglichkeit stören
zu lassen, sondern umgekehrt, jene zu zwingen, sich ihrem trägen Schritt anzu¬
passen. Die Fahrt soll sich nach dem langsamsten Schiff richten. Und da Mit
dem allgemeinen Wahlrecht die Zahl den Ausschlag gibt, so ist diese Stimmung auch
in der Lage, sich durchzusetzen. Es handelt sich auch hier nicht nur um ausgedachte
Möglichkeiten. Ich erinnere an das englische L^'L^um^-System, jenen Druck, den
die Menge der Bequemen auf die Arbeitslustigen ausübt, an den Widerwillen
gegen die Akkordlöhne und an die Erfahrungen, die wir eben in diesen Monaten
machen: vom Achtstundentag sind wir im einzelnen Fall bereits zum Siebenstunden¬
tag gekommen; aber auch über den Sechs- und sogar über den Vierstundentag wird
bereits gesprochen.
Ist nun wohl der sozialistische Staat imstande, Gegengewichte zu schaffen,
die diese üblen Folgen aufheben? Die Sozialdemokratie selbst ist dieser Über¬
zeugung. Sie steht, so weit sie auch über die Aufklärung hinausgeschritten zu sein
meint, immer noch auf deren Standpunkt, dasz man den Menschen nur in bessere
äußere Verhältnisse zu versetzen braucht, dann würden von selbst die guten Eigen¬
schaften hervortreten. So hat es Owen unermüdlich gepredigt und so verkündigt
es auch das Erfurter Programm: Die Verwandlung des kapitalistischen Privat¬
eigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum würde bewirken,
daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen
Arbeit zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Ver¬
vollkommnung werde. Im sozialistischen Staat würde, so hofft man, ein Gemein¬
gefühl entstehen, das den Eigennutz des einzelnen bändigte, und gleichzeitig eine
Arbeitsfreudigkeit, die alle Trägheit zur Schande stempelte. Es gehört ein starker
Glaube dazu, um dies wie etwas Selbstverständliches zu erwarten. Wenn die
Technik des Kapitalismus beibehalten werden soll — und sie muß wohl beibe¬
halten werden; wenn wir nicht in wirkliches Elend versinken sollen, — dann be¬
steht muh dasjenige fort, was man bisher den Tod aller Lebens- und Arbeits¬
freudigkeit genannt hat: die mit jener Technik notwendig verbundene, immer
weiter fortschreitende Arbeitsteilung. Der Arbeiter wird auch künftighin niemals
ein Ganzes, sondern nur ein Stück verfertigen dürfen, er wird auch dann noch
ewig denselben kleinen Handgriff verrichten müssen. Wieso soll er nun auf ein¬
mal dieses Werk mit Freuden tun, wenn es ihm vorher Überdruß einflößte?
Kann man dieses Gefühl etwa dadurch besiegen, daß man für die niedrigste und
ermüdendste Arbeit die höchsten Löhne bezahlt? Also einem Grubenarbeiter ein
Ministergehalt zuweist? Und wenn es als Grundsatz in der Technik gilt, mit
möglichst wenig Arbeit möglichst viel zu verdienen, wird das künftig anfeuernd
wirken und den einzelnen zur Selbstlosigkeit erziehen? Tagtäglich sehen wir in
Berlin neue Plakate angeschlagen, eins immer greller als daS andere, in denen
auf den Arbeiter eingeredet wird. Sie sind ein Beweis dafür, daß unsere
Regierung sich bewußt wird, wo der eigentliche Haken sitzt. Es handelt sich um
die Frage: wie bringt man den Arbeiter wieder an die Arbeit, wie gibt man ihm
Arbeitsfreudigkeit und wie erzeugt man bei ihm Gemeinsinn? Aber die eintönige
Wiederholung desselben Mittels beweist auch die Ratlosigkeit der Regierung und
die Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen. Aus sich selbst kaun der sozialistische Staat
die ihm erwünschten Antriebe nicht hervorbringen. Sie müssen aus tieferen
Quellen, sie können nur aus der Religion fließen.
Es läßt sich heute noch nicht übersehen, in welchem Umfang die Gedanken
des Sozialismus unter uns zur Verwirklichung kommen werden. Aber soviel
müßte jedermann klar sein, daß der sozialistische Staat, wenn er überhaupt bestehen
soll, das Christentum noch viel nötiger hat, als der alte Obrigkeitsstaat. Und
auch das dürfte deutlich geworden sein, daß der sozialistische Staat weit davon
entfernt ist, wie es die Religiös-Sozialen träumen, etwas wie eine Vorhalle zum
Reiche Gottes zu bilden. Das Christentum wird in ihm nicht leichtere, sondern
schwerere Arbeit finden. Es wird alle seine Kräfte aufbieten müssen, um die
Mächte der Selbstsucht und der Diesseitigkeit, die gerade der Sozinlismus wach¬
ruft, zu überwinden.
le war uns wahres Führertum nötiger als heute, auf allen
nicht nur dem militärischen. Auf diesem freilich ganz
besonders, nachdem nur uns bis auf weiteres auf ein Freiwilligen-
beschränken sollen. Aus fast vierzigjähriger Dienstevfcchrung
Frieden und vor dem Feind möchten die nachfolgenden Aus-
einige Anregungen geben, was wir vom Führer
fordern müssen.
Welche Grundbedingungen muß wahres Führertum erfüllen? Der
Führer sei Vorbild und Gefährte, das umschließt alles. Er stehe über den ihm
Anvertrauten und dennoch mitten unter ihnen, er muß sie alle verstehen und
erkennen, sich selbst erkennen und sich von jenen erkennen lassen; er gebe sein
ganzes Sein und Können ihnen und nehme ihr Innenleben warmempfindeud
in fich auf. Daraus allein entspringt Treue um Treue, wahre Führer- und
Gefolgschlaft. Über völlige Beherrschung aller Aufgaben, vorbildliche, persön¬
liche Haltung und Leistung, unermüdliche Fürsorge und opferbereite Selbst¬
losigkeit, unerschütterliche Gerechtigkeit und warnies Mitgefühl weit über den
Dienstbereich hinaus führt der dornenvolle und doch so schöne Weg zu echter
Führerschaft. Er war dem Offizier des alten Heeres vorgezeichnet. Wenn unter
vielen Dausenden der und jener ihn nicht fand, so war das menschlich. Die
Mehrzahl folgte ihm, leistete Großes und starb oder führte unsere Truppen
unbesiegt in die Heimat zurück. Doch lohnte Undank auch den bewährten Führer.
- Man jagt ihn von Amt und Beruf und nimmt ihm sein feldgraues Ehrenkleid.
Und aus der führerlosen, der schrecklichen Zeit soll nun eine neue Führer¬
schaft erstehen.
Im Drang nach Umschwung und neuzeitlicher Gestaltung wird allzusehr
vergessen, aus der Erfahrung gewaltiger Vergangenheit das Beste als Baustein
zum neuen herüberzuretten.' Mögen die folgenden Ausführungen, als verein¬
zeltes Beispiel an Stelle von tausenden, wie wir Führer wurden, dazu beitragen.
Alles selbst vou sich verlangen, selbst erproben und selbst leisten, was man
vom Untergebenen fordert, war und bleibt erste Boraussetzung für anerkanntes
Führertum. Von der Pike auf zu dienen ist Erfordernis für jeden Führer. Mich
ließ mit siebzchneinhalb Jahren mein Hauptmann alle, auch die geringsten
Dienstverrichtungen des Soldaten mitmachen, dasselbe schwere Gepäck tragen,
wie die Kameraden, ein Halbjahr die Menage mit ihnen teilen und zu fünfund¬
zwanzig in einer Stube mit ihnen schlafen. Ich danke es ihn: heute noch, so schwer
es mir damals schien. Dann kam für den jugendlichen Unteroffizier die Schule
der Verantwortung und der Fürsorge und schuf die Grundlage für alles Spätere.
Im inneren Dienst immer mitten drin, im äußeren stets voraus war Parole
und blieb Wogweiser bis ans Ende. Mochte dann der junge Leutnant knabenhaft
vor den damals oft recht schwer zu behandelnden „Dreijährigen" stehen, er hatte
gelernt für sie zu sorgen und führte damit. Was er falsch aus Unerfahrenheit
anordnete, ste machten es von selbst richtig, weil sie ihn achteten. Bei allen
Körperübungen gab er das Beispiel; er kannte, was er forderte und unter-
chätzte keine Leistung., Das blieb ihm unvergessen. Der ergraute Mann freut
ich noch heute, wenn er seinen ehemaligen Leutnant wiedersieht. So gingen im
Lauf der langen Jahre Tausende um Taufende durch die Hand des einen,
Millionen durch die Hände von Tausenden seiner Führer-Kameraden. Mau
verlangte von uns nicht nur Namenskenntnis; Herkunft und Beruf, Lebenslauf,
Familien- und Einkommensverhältnisse mußte man von jedem Untergebenen
wissen. Wie leicht «wurde dies zum Schema! Doch wo das Herz, das Führerherz
schlug, da wurzelte in solch gegenseitigem Kennen die Hingabe an Führer und
Pflicht zum Wohl des 'Gängen; Mannsgucht und Kameradschalst lebten auf und
die Vorschrift bekam Seele und Sinn. Nicht im Unterricht allein, überall auf
Schritt und Tritt suchten Herz und Gemüt, Interesse und Anteilnahme des
werdenden Führers enge innere Fühlung mit den ihm anvertrauten Leuten,
nicht eintönig lehrend, sondern aus ihrem Gedaubengang und Empfinden
schöpfend und fragend und derart sie immer tiefer in die neue, ihnen fremde
Gedankenwelt militärischen Wesens führend. Undenkbar ist ein rechter Führer
ohne pädagogisches Geschick. Dies zu «wecken und zu Pflegen, gilt es heute mehr
als je, sei vornehmste Ausgabe künftiger Führerschulen.
Nach fast anderthalb Jahrzehnten folgte die Kompagniechefszeit. Jahre
schwerer, kräftezerreibender Arbeit und doch die schönsten der Laufbahn. Der
sorgende Vater seiner Leute zu sein, Verantwortlicher als jeder andere, und Ver¬
trauensmann aller, das schuf ein hohes Glücksgefühl. Alljährlich sich steigernde
dienstliche Anforderungen, die der Laie nicht ahnt, die auch dem Soldaten in
Reih und Glied so leicht unverständlich blieben, forderten die dauernde Weckung
und Belebung des -Verständnisses für so mancherlei starr und leblos erscheinen¬
des Wesen. Es galt zugleich nervösen Tadel zu mildern, die Dienstfreudigkeit zu
erhalten, ohne Unterlaß für gute Unterkunft, saubere Bekleidung, Ordnung und
reichliche Verpflegung zu sorgen, gerechte Behandlung zu überwachen, Schutz
gegen vorschriftswidrige Behandlung zu bieten und den Unteroffizierstand zur
Denkweise wahrer Führerschaft emporzuheben. Als der erste und der letzte im
Dienst -weckte der Hauptmann das Vertrauen der Seinen, gab und nahm mehr
als jeder andere, -was der Führer braucht. Sagten die Leute unter sich: „Mein
Hauptmann weiß um alles, denkt an alles und sorgt für alles, er fordert viel,
aber gerecht und -er lobt, wo er kann," — dann war -es gut bestellt. Das Lobe»
und Anerkennen freilich, seien wir ehrlich, war leider in der Armee, wohl auch
sonst, allzusehr «außer Gebrauch gekommen, das -war ein gewaltiger Fehler. Lob
nud Tadel standen im Mißverhältnis -zu einander, zu viel treue Pflichterfüllung
wurde als selbstverständlich betrachtet. Gewaltige Kräfte -wurden durch Tadel
gelähmt, statt durch Lob zur Höchstleistung beflügelt. Wie aber, wenn die Kom¬
pagnie für vortreffliche Leistung bei der Übung unter Abbruch des Programms
zur Belohnung um Stunden früher als andere singend heimkehrte? Wenn der
Turner für erstmalige Selbstüberwindung durch Befreiung von der Fortsetzung
des Turnunterrichts -ausgezeichnet wurde? Wenn man den aufmerksamen Zu¬
hörer vorzeitig von der Instruktion entließ, und bei der Austeilung des Urlaubes
den Willigen, nicht nur den Tüchtigen gerecht bedachte? Kleine Anlässe, große
Wirkungen: in der Tiefe all der schlichten Menschenherzen sproßten der freudige,
freiwillige Gehorsam, Dankbarkeit, Treue und Gerechtigkeitsgefühl, da wurde in
der Kleinarbeit des Alltags und der Fürsorge die Truppe zur treuen Gefolgschaft
für ihren Führer, in ihren Reihen wuchs, von den Kameraden selbst bewacht
und immer mehr von den Zwangsmitteln der Rüge und Strafe befreit, die über¬
zeugte Manneszucht empor, über ihre Unentbehrlichkeit zum Erfolg bedürfte
es keiner Redensarten, keiner Phrasen mehr. Schlichte Tatsachen sprachen be¬
weiskräftig von oben nach unten und umgekehrt in schöner Wechselwirkung und
zelligem für den Führer das herzerfreuende Gefühl, seine Leute nicht knechtisch
nnter sich, sondern als Waffengefährten neben und um sich zu haben, wo es um
gemeinsame Leistung ging. Solches Zusamnlengehörigkeitsgesühl aber reichte
weit hinaus über die Truppe und Dienstzeit in die Heimat der Entlassener, in
das Herz des Volkes hinein. Wie der Besuch der kranken Mannschaft in den
Lazaretten, so war die Fürsorge für Arbeit und die berechtigte Empfehlung im
Berufe für die Entlassener dein wahren Führer liebe und selbstverständliche
Pflicht. Freundlicher Grus; und Zwiesprache bei späterer Begegnung, belauschte
Gespräche alter Anhänglichkeit auf Arbeitsplätzen und in Werkstätten, rührende
Briefe mit ungelenken Schriftzügen, doch von dankbaren Herzen diktiert, ver¬
trauensvolle Bitten und Fragen von längst Entlassener, das war unser Führer¬
lohn, höher und schöner als jede Anerkennung von oben.
Wer das Kommando eines Bataillons übernahm, hatte zu solchem Wirken
vierfache Gelegenheit, und wer es zum Regimentskommandeur brachte, noch
mehr; für ihn ging zudem ein neues herrliches Arbeitsgebiet auf, sein Offizier¬
korps in echtem'Führergeist zu bilden. Mancher, der in die höheren Stellen hin¬
einwuchs, fühlte sich mehr und mehr vereinsamt. Er trug die Schuld in sich
selbst. Denn wer mitten in der Truppe stand, ob noch! so hoch, und zu ihrem
Herzen den Weg fand, ohne Sorge, er könne damit an seinem Ansehen Einbuße
leiden, niemals stellte solchen Führer die Truppe außerhalb ihres Empfindens,
solange sie Mannentreue und Ehrgefühl kannte, die goldenen Früchte unserer
alten Heeres- und Führerschule.
Da kam der Krieg, urplötzlich, von uns ungeahnt. Bis in die stillsten
Täter hinein riefen seine Fanfaren nach den Wehrtüchtigen. Viele von uns zogen
mit Reservetvuppen und Neuformationen hinaus, die ihnen fremd waren und
ihren Führer nicht kannten. Da und dort aber strahlten ihm altbekannte Ge¬
sichter entgegen, klang ein erfreuter Gruß ans der Masse. Jeden einzelnen, den
er ausgebildet hat, kennt der wahre Führer noch nach Jahrzehnten beim Namen.
Das wirkt Wunder. Das alte Band knüpft in Sekunden des Wiedersehens sich
neu, jener fühlt den Herzschlag des Führers, fühlt sich als Person, nicht als
Nummer, und unter den Kameraden wird durch ihn der neue Führer in kurzem
mit allen Einzelzügen seines Wesens charakterisiert. Unser Volk in Waffen war
bisher bei solchem Urteil von feinem Empfinden und gerechtem Sinn, und auf
fremdem Boden selbst erntete der Führer, was er einst an guter Saat in seiner
Stammtruppe ausgestreut, errang im Fluge neues Vertrauen und treue Gefolg¬
schaft.
Wie nötig waren diese angesichts der ungeheuren Anforderungen des
Riefenkampfes! Aber es ging trotz gewaltiger feindlicher Übermacht gut, solange
wir uns Treue um Treue gaben. Wahre Führertugenden weckten schlummern¬
des Heldentum und förderten Nielsenleistungen zutage, wie die Welt sie niemals
gesehen, wie das deutsche Volk sie sich selbst nicht zugetraut hatte. Wer es erlebt
hat, wie Junge und Alte im Truppenverband dem «beliebten Führer an den
Augen absahen, 'was er von ihnen erwartete, wie sich alle für seine Gedanken ein¬
setzten, um dem Ganzen zu dienen, wie die Getreuesten in heißen Kampfestagen
nicht von seiner Seite wichen, wer der Tage gedenkt, wo Schwerverwundete
sterbend sich zu ihrem Führer tragen ließen, um ihm zum Abschied die Hand zu
drücken, wer in den Anfangskämpfen in vorderster Linie mitten unter den Seinen
im rasenden Feuer dem Feind enchgegenstüvmte und in der Schützenkette die An¬
frage auffing: „Ist unser Kommandeur noch bei uns? — weiterfragen!" — wem
auf dem Känrpffeld verwundet und krank die Wackersten seiner Truppe der
Mannschaft Bitte überbrachten, das Bataillon nicht allein zu lassen, solange es
irgend noch gehe — ja, der konnt des Rätsels unerhörter Leistungen Lösung, der
spürte, daß wir gute Saat gesät. Beglückender als Sieg, hoch über Anerkennung,
Orden und Ehrenzeichen stehend, war das Bewußtsein, als Führer verehrt und
geliebt zu sein. Wo die Truppe das Abbild ihres Führers war, wo dieser seine
von unten stammende Qualifikation höher wertete, als die von oben erteilte, wo
unerläßliche Strenge neben sorgenden Wohlwollen, höchste Anforderung neben
kraftvollem Eintreten für die Truppe das offene Verständnis richtig Erzogener
und Geführter fand, da reihte sich Erfolg an Erfolg, da reiften in der Stille die
«lege, die uns vorwärts trugen und die Heimat im Ausharren stärkten.
Aber die Übermacht einer feindlichen Welt gebot uns Halt, der unselige
Stellungskrieg begann! an das feldgraue Volk und seine Führer stellte er in un¬
sagbaren Dulden erhöhte Forderungen zwischen Drahtverhau und Graben, indes
mit dem Stocken des Siegeslaufes mancherlei Schwächen daheim ihr Haupt er¬
hoben, wo nicht richtig geführt und regiert wurde. Auch vordem erschwerte die
Eigenart des Kampfes die enge Fühlung zwischen Führer und Truppe; aber wo
warmherzige Fürsorge sich nunmehr verdoppelte, Lob und Anerkennung auch bei
kleinsten Anlaß die lähmende Eintönigkeit, das nervenzerreibende Dasein im
Graben belebten, der Führer jede Gelegenheit nützte, die Ersatzleute für Verlust-
cinsfall kennen zu lernen, persönlich mit ihnen zu sprechen, da lebte der gute Geist
auch in jenen Jahren passiven Ausharrens, da blieb der Führer dem feldgrauen
Volke trotz allein innerlich nahe. Doch galt es für ihn, überall zu sein, des
Morgens in den Gräben, des Mittags auf der Kommandostelle, des Abends und
auf nächtlichen Gängen bei der Prüfung der Unterkunft und Ruhe zurückgezoge¬
ner Kompagnien, ohne zu stören, ohne zu nörgeln, sorgend und plaudernd, lobend
und doch prüfend und wo nötig rügend und mahnend. Geschah dies alles in
echtem Führergeist, trat dazu noch das leider nicht überall herrschende Verständ¬
nis für das steigende Ruhebedürfnis der Truppe, dann blieb diese fest in Führers
Hand und das Band innerer Zusammengehörigkeit riß auch unter schwierigsten
Verhältnissen des StellungsLampfes nicht ab.
Dort, >wo es so war, entstiegen die Kämpfer im Vertrauen auf Gott und
ihre Führer kraftbewußt und siegesfveudig dem verruchten Graben, als es er¬
neuten gewaltigen Ansturm galt. So war es vor Jahresfrist, so im Hochsommer
des eiitschwnndenen Jahres. Was mußte abermals gefordert und geleistet
werden, um dein ersehnten Ende des Ringens näher zu kommen, wie schwer fiel
oft .dem warmen Herzen des Führers der Sturmbefehl! Mit ihren Getreuen
sanken diese Führer wie 1914 in Scharen in den Staub durchwühlter Kampf¬
gefilde.
Die Führer der alterprobten Schule deckte in der Mehrzahl der kühle
Rasen. Neue, rasch gebildete, Wohl gutwillige und meist auch begeisterte, aber
wenig erfahrene Führerschaft trat an ihre Stelle. Zufolge des vielfachen
Wechsels, 'der neuen .Mmpfesweise und oft wochenlang lähmenden Kampfes läge,
der nachlassenden Spannkraft und Leistungsfähigkeit der Truppe, des da und dort
naturgemäß mangelnden Verständnisses für wahres Führertum 'ward das Band
innerer Zusammengehörigkeit lockerer. Bei aller Hingabe und gutem Willen des
Führererfatzes fragte man sich damals oft, ob alle im Lause des Krieges zur
Führerschaft Berufenen dem Volke im Frieden innerlich so nahe getreten waren,
wie die Aufgaben es erforderten, die wir nun lösen mußten. Mancher war Wohl,
ob aus gehobenem Stande, oder ans schlichtem Bürger- und Bauernhaus
stammend, bisher allzu achtlos an dein schlichten Mann, am Seelenleben und der
Gedankenwelt des einfachen Volkes vorübergegangen, hatte nicht jede Gelegen¬
heit genützt, mit ihn: enge innere Fühlung zu gewinnen, war abseits gestanden.
Und nun galt es alles, bis zum Opfertod, tagtäglich zu fordern.
In jenen Wochen der kritischen Wendung, der Nervenerschöpsung durch
die lange Kriegsdauer, der gesteigerten Sorge um Heim und Beruf und
hungernde Lieben zu Hause kroch der giftige Lindwurm der Verhetzung und Zer¬
setzung durch die Kämpserreihen. Die Waffe, die allein ihn sieghaft' bezwingen
konnte, wäre Vertrauen gegen Vertrauen gewesen. In der Heimat wurde sie
stumpf gemacht, und daß sie versagte, dafür wird heilte in zielbewußter Irre¬
führung dem „Militarismus" und seinen Trägern, den Berufsosfizieren allein
die Schuld zugeschoben. Man wirft sie wahllos >anf die Straße, ans den Lebens-
bevnf, man ächtet und beschimpft sie, — kein größerer Undank ward je gesehen.
Man vevgißt, daß tausend und aber tausend Männer aller Volksschichten und
Berufsstände in der Mehrzahl Führer waren. Im Fieberwahn bolschewistischer
Hetze besudelt mau das eigene Nest und vergißt, was Volk und Führer gemein¬
sam vor den staunenden Augen der Welt geleistet haben.
Nun soll auf den Trümmern neuzeitlich aufgebaut werden. Möge uns
klar .werden, daß dies erfolgreich nur auf dem Fundamente wahren Führertums
möglich ist. Ohne dieses wird jeder Neubau in sich zusammenstürzen. Müssen
wir im Zuknnftsheer mit Freiwilligkeit arbeiten, so sind die starken Säulen einer
mustergültigen Führerschaft um so unerläßlicher. Wie wir sie errichten müssen,
sollten diese Ausführungen der Allgemeinheit vor Augen führen, die wahrlich am
wahren Führertum das höchste Interesse hat und mithelfen muß, es neu zu
schaffen. Die beliebten Schlagwörter von Militarismus, Kastengeist, Kommando¬
gewalt und Reaktion zielen daraus hinaus, alle Grundlagen für ein brauchbares
Führertum zu untergraben. Leben sie auch in den geplanten Führerschulen fort,
statt daß dort dem Gedankengange gefolgt wird, wie er hier entwickelt wurde,
so bleibt all unser Mühen um Neuordnung ein leerer Wahn. Daß wahres
Führertum keinen Gegensatz zu berechtigten Forderungen der neuen Zeit bildet,
das klarzulegen war der Zweck dieser Zeilen. Und wer klaren Blickes rückwärts
und vorwärts schaut, muß zu dem Schluß kommen: Nur am wahren Führerwesen
k
enden ich mich vor zwei Jahren über die Frage, wie der Unter¬
richt und demgemäß die Vorbildung der höheren Lehrer unter dem
Gesichtspunkte der Deutschkunde gestaltet werden könnte, in diesen
Blättern (1917 II Seite 137 bis 146) geäußert habe, ist der Ge¬
danke auch weiterhin wirksam gewesen. In weiten Kreisen der
Gebildeten ist die Überzeugung durchgedrungen, daß uns in dieser
Periode unseres völkischen Daseins eine Wendung nach der natio¬
nalen Selbstbesimmng und Selbsterkenntnis nottue. Auch während unser Wirt¬
schaftsleben unter dem Druck der Blockade ächzt und der Unverstand der fcmati-
sierten Masse die Grundfesten unseres materiellen Daseins untergräbt, ist es Auf¬
gabe der Denkenden, dem deutschen Geiste zum Selbstbewußtsein zu verhelfen.
Die Schulrcgierungen stehen mitten in einem Kampfe um die Einheits¬
schule, und man wird scharf darauf sehen müssen, daß unserem Volke nicht infolge
einer populären Bewegung Kulturgrundlagen und Knlturwerte enizogen werden,
aus denen die Tüchtigkeit der Führer unseres Volkes bisher beruht hat. Aber es
M doch kein Zweifel, daß die Schule durch diesen Kampf von der fremdländischen
Orientierung abgedrängt und auf unseren eigenen Kulturbesitz hingewiesen wird.
Hieraus erwächst unsere Verpflichtung, diese Werte nun auch so klar herauszu¬
stellen und zu entwickeln, daß sie in erzieherischer Hinsicht nicht nur ein Ersatz
des Fremdländischen, sondern das unserem Volke gemäße Substrat der Bildung
werden. Schon beginnt der deutsche Buchverlag, ein zuverlässiges Barometer für
die geistigen Vuchdruckverhällnisse, sich auf dentschtltndtiche Dinge eittziiftellen,
wovon einige vielversprechende Neuerscheinungen zeugen,'»
Ich habe in dein erwähnten Aufsatz versucht, den Kreis der Wissenschaften
zu bezeichnen, die einem künftigen Deutschkundelehrer zu kennen Erfordernis sein
wird, und ich habe damit auch ungefähr den Kreis der deutschkundlichen Wissen¬
schaften überhaupt umschrieben. Dabei durfte ich nicht unerwähnt lassen, das;
mehrere der für notwendig gehaltenen Lehrfächer auf unseren Hochschulen fehlen
oder doch nicht hinreichend gepflegt werden, so daß der Student auf privates
Studium angewiesen ist, wen» er den ganzen Kreis des hierher gehörigen Wissens
sich aneignen will.
Aber bei weiterem Durchdenken der Frage scheint es mir jetzt, als ob man
dies von dem Studenten nicht verlangen könne. Eine Synthese all dieser Wissen¬
schaften setzt das Vorhandensein der gemeinsamen Idee voraus. Das hieße nichts
anderes, als daß der Mulus bereits die Idee der deutschkundlichen Einheit in
seinem Geiste trüge, wenn er zur Universität käme, also eine Idee, die doch erst
als Krönung aus der Kenntnis der Einzelwissenschaften erwachsen kann. Es ist
also erforderlich, daß der Zusammenschluß aller Wissenszweige vorher ideell erreicht
wird. Denn ist es eine Synthese, so darf es kein Konglomerat sein. Es kann
also nicht dabei bleiben, daß die zahlreichen Einzelwissenschaften, die in der bis¬
herigen Facheintcilung ganz verschiedenen Zweigen angehören, jede um ihrer
selbst willen getrieben werden, sondern ein Genieinsames muß es sein, auf das
wie auf einen Brennpunkt die Strahlen aller Einzelfächer zusammenlaufen: die
Selbsterkenntnis des Deutschen. Wie das „Erkenne dich selbst" dein einzelnen
Menschen erst den Weg erleuchtet, den er seinem Wesen gemäß gehen muß, so
wird die Erkenntnis der eigenen Volksart jedem Volksgenossen die Wegemarkeu
geben, denen er zu, folgen hat, wenn er im Aufbau und der Ausgestaltung seiner
persönlichen Angelegenheiten und der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Zustände seines Volkes nicht von der ihm gemäßen Straße abweichen will; mit
anderen Worten: wenn er sich fernhalten will von unersprießlichem Experimen¬
tieren mit fremden Vorbildern.
Also kein Nebeneinander der vorhandenen Wissenschaften mit ihren Zielen
und Methoden, sondern entsprechend dem veränderten Ziel eigene Methode.
Die wissenschaftliche Forschung und Lehre stand bisher unter dem Gesichts¬
punkt der Ermittelung und Fortpflanzung der objektiven Wahrheit; davon darf
auch die Deutschkunde nicht abweichen. Aber sie wird sich nicht darauf beschränken,
die Tatsächlichkeiten im großen wie im kleinen zu erarbeiten, sie zu rein sachlichen
Gruppen zusannnenzufassen und den Schülern vorzutragen. Sie muß vielmehr
alle Tatsächlichkeiten unter den Gesichtspunkt rücken, ob und iniuiefern sie dazu
angetan sind, die Wesensart des deutschen Menschen erkennen zu lassen. Sie
muß ihre Zusammenfassungen danach orientieren, daß Teilbilder der so beschaffenen
deutschen Volksart gewonnen werden. Sie muß danach streben, daß ans diesen
Teilbildern ein Gesamtbild, vielleicht ein Gesamtbegriff des Deutschtums erhalte»
wird. Sie wird daher die bisherigen Abgrenzungen der Einzelwissenschasten
grundsätzlich verneinen. Denn es geht nicht an, ans Literatur allein, ans Kunst,
aus Philosophie, ans Wirtschaftsgeschichte allein, natürlich auch nicht aus Rassen¬
physiologie und Biologie allein ein irgendwie zureichendes Verständnis für den
deutschen Menschen einer bestimmten Zeit oder gar der gesamten Vergangenheit
bis zum heutigen Tag erschließen zu wollen. Hierzu erweist sich die Arbeits¬
teilung der Forschung und Lehre — so fruchtbar sie für die Heuristik bisher ge¬
wesen ist - als ganz unzureichend. Eine synthetische Arbeitsweise unter dem
Gesichtspunkt des Deutschen ist es, was uns heut frommt. Sie ist möglich, nach¬
dem die Einzelwissenschaften im letzten Jahrhundert an Stofferschließung und
Analyse so viel vorgearbeitet haben.
Nur auf diese Weise kann auch unser Wissen in höherem Maße fruchtbar
werden. Der bisherige Betrieb der Geisteswissenschaften ist nicht umsonst von
der Übermacht der Naturwissenschaften in den Hintergrund gedrängt worden.
Die Gegenwart hat die Neigung, alle Arbeit, deren Ertrag nicht unmittelbar
ersichtlich ist, als unnütze Spielerei zu verwerfen. Die Naturwisfenschajteu zeigte»!
in ihrer Anwendbarkeit in Technik und Medizin den unmittelbaren Ertrag. Die
Menschen der Gegenwart haben den Geisteswissenschaften damit freilich llu-
recht getan. Die grobschlächtige Betrachtungsweise des durchschnittlichen Materia¬
listen der letzten Jahrzehnte hatte gar kein Organ für die geistesbilveude und
verfeinernde Wirkung der Beschäftigung mit Kunst, Geschichte und Philosphie.
Aber in rein ideeller Bildung und Erkenntnis liegt doch die Gefahr, daß über
dein geistreichen Spiel der Gedanken die diesseitigen Ziele des Menschen, der
doch nun einmal auch ein Erdenmensch ist, verloren gehen, eine Gefahr, der „das
Volk der Dichter und Denker" je länger je mehr ausgesetzt ist. Mir scheint, das;
selbst die Romantik, die nach der zeitlosen und gewissermaßen raumlosen Größe
Kants und Goethes znerst wieder fühlen lernte, daß Beschränkung auf das
Nationale nicht Beschränktheit bedeute, doch dieser Gefahr erlag, und daß erst
von der Staatspolitik her, der am wenigsten sublimen Geistesvetätignng, der
Volksgedanke aus der Sphäre des Gefühls in den Bereich der Grvifbarkeit gerückt
Wurde. Und auf dem Gebiete der Politik im höchsten und weitesten Sinne
verstanden ist die Kenntnis vom deutschen Menschen am meisten anwendbar.
Es ist nun ein Versäumnis der Geisteswissenschaften gewesen, daß sie nicht
längst dem Deutschbewußtsein, das doch erwacht war, für den Bereich seines
Wissenschastskomplexes .die Rolle des Richtbegriffes zugewiesen haben, zumal sie
hier eine Brücke zu den Naturwissenschaften hätten schlagen können. Der Mensch
>se Naturwesen und Geistwesen, und der deutsche Mensch muß von beide» Seiten
her betrachtet werden. Beide weiten ergänzen und erklären einander.
Ans der Neuorientierung der Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt des
Deutschtums werden neue Ergebnisse erwartet werden dürfen. Wir werden den
körperlichen Habitus und das geistige Leben des deutschen Menschen von der
Urzeit bis zur Gegenwart und insbesondere des Menschen in verschiedenen sozialen
und Bildimgsschichten, und auch des Augehörigen jedes Einzelstaumus studieren.
Wir werde», aus dem Vergleich mit der Wesensart der Nachbarvölker wertvolle
^ufschiüs^ erhalten. Wir werden insbesondere bedeutsame Beobachtungen darüber
anstellen, wie sich der Deutsche fremden Einflüssen gegenüber verhält, die früh
Won Christentum und Kirche, von Römerzügen und Kreuzzügen, von Slawenkämpfen
Wid kolonialer Betätigung, von fraiizösischen höfischen Vorbildcrii und gotisch
"Mstlerischen Anregungen in Deutschland eindringen. Das Bettclmönchtum wird
u>ehe weniger wie das römische Recht, die Pariser^ Scholastik nicht weniger wie
'
der italienische Humanismus, die Nenaissanceeinflüsse wie der Kalvinismus, spanische
Moden und französisches Alamodetum, englische Schauspielkunst und spanische
Miliiärvrganisation, englischer Deismus und französischer Rokoko — die ganze
Fülle der Rezeptionen, von denen die letzten Jahrhunderte voll sind — sie alle
werden mit der Frage betrachtet werden müssen: was hat der deutsche Mensch
davon angenommen, wie hat er das Ungeronnene umgestaltet, umgedreht, ein¬
gedeutscht; wie sah die deutsche Kraft aus, die sich an dem Fremden bewährte,
welche Tendenzen in den neugebildeten Denk-, Kunst- und Lebensformen haben
wir also als spezifisch deutsch anzusprechen? Hand in Hand damit mühte eine
Betrachtung der Körperlichkeit des deutschen Menschen gehen wie sie sich um¬
gestaltete, degenerierte oder sich regenerierte unter dem Einfluss der Stammes-
und Rassenmischung. Ich darf darauf hinweisen, wie Materialien und Anfänge
zur Lösung all dieser Fragen schon vielfach, besonders in der neueren.Kultur¬
geschichtsschreibung, vorliegen. Auch hat z. B. die Kunstgeschichte bereits begonnen,
selbst in den konventionellen Plastiker der frühen Gotik den Stammestypus und
die Nassigkeit der dargestellten Schicht zu beachten. Aber was bisher nur
gelegentlich oder für ein einzelnes Gebiet festgestellt worden ist, wäre jetzt systematisch
in Bearbeitung zu nehmen. Es muß gelingen — und damit ist angedeutet,
worin ich den beschreitbaren Weg sür diese ganze Untersuchungsweise sehe -
eine psychische und physische Typik der Deutschen in der Vergangenheit zu entwickeln.
Auf beiden Gebieten, dem körperlichen und dem geistig-seelischen, musz dieses
aufwachsende Wissen auslaufen in eine vorstehende Betrachtung der Gegenwart.
Der heutige deutsche Mensch wird ein ungeahnte Beleuchtung erfahren, wenn
erst der Deutsche der Vergangenheit uus greifbar nahesteht. Wir verstehen die
Ereignisse der Gegenwart und des Menschen der Gegenwart in ihrem bisher oft
unbegreiflichen Tun und Denken, wenn wir ihre rassenmäßige und ihre seelische
Erbschaft aufgehellt sehen. Hier muß der familiengeschichtlichen Forschung ihr
Platz im Organismus der dcutsthkundlichen Wissenschaft angewiesen werden;
nicht aus eitlem Ahnenstolz, sondern um endlich aus dem bisher zerstreuten
Material der körperlich, geistig und sozial auf- und absteigenden Geschlechterfolgen
Schlüsse zu ziehen auf die Deutschen der Gegenwart.
Die heutigen Zustände: politische und soziale Verhältnisse, Stände- und
Stammesmischung, Binnenwanderung, bevölkerungshygienische und berufspolitische
Fragen, aber auch Parteidoktrinen, die öffentliche Meinung in ihren instinktiven
Unterlagen — alles wird bis zu einem gewissen Grade seinen wissenschaftlich
erklärenden Unterbau finden. Ihn wollen wir suchen, aber nicht um sagen zu
können: alles verstehen heißt alles verzeihen — sondern um die Möglichkeit zu
gewinnen,., lenkend und regelnd einzugreifen, ohne den herrschenden Meinungen
oder der Überredung durch die einseitig beeinflußte Presse zu unterliegen. Wir
erlangen so eine wohlgegründete Überzeugung von dem, was dein deutschen Volke
nottut, und sie in die Jugend, in die Zukunft hineinzutragen, sie mit der Waffe
der Presse und erzieherischer Volksbildung, durch Schrifttum und Schaubühne zu
vertreten zum Heile des deutschen Gedankens, das ist eine Aufgabe, an der sich
die Edelsten unseres Volkes versuchen sollten.
Ein unübersehbares Arbeitsfeld für diese und die folgende Generation I
Aber diese Arbeit muß, soll sie bald fruchtbar werden und nicht in tausend
Spezialismen zerflattern, einen Mittelpunkt haben, an dem alles, was auf dein
gesamten Gebiet geleistet wird, gesichtet, die Fäden verknüpft, Hinweise gegeben
und wichtige Untersuchungen angestellt werden. Die Gründung eines Forschungs¬
instituts für die Wissenschaft vom Deutschtum erscheint dringend erforderlich. Es
wird die wichtige Aufgabe haben, die vielleicht im Anfang schwer herzustellende
Einheit in der Mannigfaltigkeit zu gewährleisten, das Zusammenwachsen des
neuen wissenschaftlichen Organismus zu fördern und zu überwachen.
Auf einige Aufgaben für die deutschkundliche Forschung mag zum Schlüsse
noch hingewiesen sein. Die unbedingt nötige Bibliographie und Museogrciphie
zur Deutschkunde kann wohl nur von dein vorgeschlagenen Institut geschaffen und
dauernd weitergeführt werden. Sodann gilt es alles zu sammeln, was zur
Klärung des Begriffes „Deutsch" bereits ermittelt und ausgesprochen worden ist'.
in letzter Zeit nicht wenig! — der Begriff ist in all seiner Vielseitigkeit als
Einheit herauszuarbeiten --- nach seiner physischen und psychischen Seite — und
dabei der gegenwärtigen und früheren Auffassungen des eigenen Volkes und
fremder Völker, das im Innern des deutschen Menschen empfundene Ideal seiner
selbst und des von ihm als undeutsch Empfundenen zu werten. Gefördert wird
im gleichen Sinne unser Erkennen, wenn systematisch das Verhalten der Deutschen
zu Fremdströmungen in ihrer Mitte und ihr Leben inmitten eines fremden Volkes,
auf Reisen oder als Auswanderer, beobachtet wird. In der spezielleren Unter-
suchung wird stets der Vergleich mit dem Fremdvolk richtunggebend und auf¬
klärend wirken. Wie schon oben angedeutet, wird die Frage: wie reagiert der
deutsche Geist auf die fremden Kultureinflüsse? reichen Aufschluß bringen. Man
wird ferner nicht nur aus dem Geist der Gotik und des deutschen Rechtes schöpfen,
sondern man wird den deutschen Einschlag in der Weltanschauung des Mittelalters
(die deutsche Variante) wie in der Philosophie der Neuzeit suchen, im Staatsideal
des Mittelalters, im Persönlichkeitsideal der Renaissance, die deutsche Ausprägung
in der lateinischen Literatur des Mittelalters wie der deutschen Humanisten den
deutschen Faktor, und diesen wird man auch unter der Herrschaft des römischen
Rechtes und unter der Beeinflussung des Christentums durch humanistische Rhe¬
torik nicht vergessen dürfen. Der immer deutlicher im Laufe der Jahrhunderte
heraustretende deutsche Hochschultyp erscheint dann als äußere Form, die sich die
deutsche Geistesarbeit geschaffen hat. Für jede Kunst gesondert wird zu fragen
sein: was ist hieran deutsch, d. h.: was würde in Inhalt und Form dem Wesen
des Franzosen, Engländers, Jtalieners nngemäsz sein? So wird man schließlich
dahin kommen, Charakter und Tempo deutscher Kulturentwicklung, gemessen an
der fremden, zu erkennen und daraus Schlüsse auf unseren kulturellen Stand
in Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Nicht anders bezüglich der Staats¬
und Sozialentwicklung. Denn auch eine Betrachtung der Eigenart der sozialen
Verhältnisse wird dem Ziele, deutsche Wesensart zu erkennen, näher führen.
Werden und Wandlungen des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, Bevölkerungs-
dichte, Aus- und Binnenwanderung, die Differenzierung der Deutschen nach
Beruf und Bildung — all dies wird geschichtlich betrachtet Aufschlüsse für das
hineinverwobene deutsche Wesen und den Volkscharakter geben. Vor allem
verspreche ich mir viel von der Herausarbeitung des Typischen im sozialen Ans- und
Abstieg nach Stcimmbäumcn und Ahnentafeln deutscher Familien. Hier berührt
sich die Untersuchung des Sozialen eng mit der physischen Beschaffenheit und
hierdurch mit der Rassenforschung, die für unser Volk nunmehr auf möglichst
sicheren Grundlagen weiterzuführen wäre. Eine Aufgabe des Forschungsinstituts
wäre die Anlage eines Loclex inmginum deutscher Köpfe aus allen Zeiten zur
Ermittlung des Kopf- und Gesichtstyps. Auch die Frage nach dem Zusammen¬
hang von Rassenmischung und Sprachcniwicklung wäre zu klären', vielleicht könnte
auf die Entstehung und Wandlung der Stammes- und Landschaftsdialekie hierbei
noch neues Licht" geworfen werden. Denn was für das Gesamtvolk ermittelt
werden kaun, sollte auch für die einzelnen Stämme spezialisiert werden; die
Forschung müßte Hand in Hand mit der Volkskunde gehen, die ja bereits ein
massenhaftes nur zum Teil systematisch verarbeitetes Material besitzt. Was wissen
wir über die physischen und psychischen Charaktere der Stämme in Vergangenheit
und Gegenwart? Inwiefern stehen Stammcspsyche und Landschaft in Beziehung?
(Eine Sammlung von Nachrichten und Bildern über die Landschaften früherer
Zeiten und ihre Abwandlung wäre als Vorarbeit erwünscht!). Auch der Zu¬
sammenhang zwischen Stammeszugehörigkeit und künstlerischer Produktion muß
stärker beleuchtet werden. Im übrigen halte ich es für geboten, sämtliche deutsche
Stämme und Landschaften monographisch zu behandeln, nach Art von Nichts
klassischem Buch über die Pfälzer. Diese Arbeiten über Stammcsart sind eilig,
da die fortschreitende Mischung der Stämme die Eigenart immer mehr verwischt.
Auch die Dialekte. Trachten und Gebräuche der Auslanddeutschen sollten systematisch
gesammelt und monographiert werden.
Die Fülle und Vielseitigkeit der Ausgaben, die der Forschung hier erwachsen,
wird aus diesen Andeutungen bereits erkennbar. Sie von möglichst vielen Stellen
her in Angriff zu nehmen, liegt im Interesse unseres Volkes und seiner Führer.
Den Schmierigkeiten ihrer Lösung wird mau sich nicht verschließen, aber wann
mare die deutsche Wissensch-ist vor Schwierigkeiten zurückgemichen? Beharrlichkeit
und immer neuer Angriff haben noch stets zum Ziel geführt. Und hier handelt
es sich um unseren eigensten lind tiefsten Besitz und um das Erbe der kommenden
Geschlechter.
Das praktische Interesse an Völkerbundsfragen dürfte seit dem Herauskommen
der Friedensbedingungen nicht allzu groß sein. Aber der Gedanke des Völkerbundes
wird aus der politischen Öffentlichkeit nicht mehr verschwinden können. So ist
es dankenswert, daß die „Deutsche Liga für Völkerbund" die beiden bisher
vorliegenden amtlichen Entwürfe in ihren Flugschriften veröffentlicht. („Wilsons
Völkerbundplan, die Akte der Pariser Konferenz vom .14. Februar 1910 mit
einem Interview vom Neichsminister Graf Vrockdolff-Rautzau und einer kritischen
Einteilung pun Dr. Hans Wehberg," Verlag von Reimar Hobbing, Berlin; „Der
Völkerbimdsvorschlug der deutschen Negierung mit dem Entwurf für ein Welt¬
arbeiterrecht -eingeleitet von Hans Wehberg und Alfred Meines." Verlag Hans
Robert Engelmann, Berlin.)
In der Einleitung zum Vnlkerbundentwurf der Entente gibt Dr. Hans
Wehberg zunächst die historische Entwicklung, die von den Haager Konferenzen
zum Wilsouschen Gedanken des Völkerbundes führt, ohne hierbei auf die grund¬
sätzliche, theoretische und politische Stellungnahme, die gegen das Haager Werk
eingenommen wurde, einzugehen. Er bemüht sich sodann, die wichtigsten Punkte
des Entwurfes hervorzuheben und kritische zu beleuchten. Bemerkt sei noch, das; der
französische Text des Entwurfes neben .der deutschen Übersetzung veröffentlicht wird.
In der Einleitung zum deutschen Entwurf versucht Wehberg die Punkte
herauszuarbeiten, in denen die beiden Entwürfe zusammenfallen oder cinsein-
andergehen.
Zu den: Entwurf für ein Weltarbeiterrecht gibt Prof. Manes eine Ein¬
leitung, die kurz auf die sozialrechtliche Bedeutung einer internationalen Regelung
d
Vor hundert Jahren etwa hatte E. M. Arndt, zu seiner Zeit einer der
besten. Kellner Schwedens, in verschiedenen Schriften und Aufsätzen den Blick der
Deutschen ans dieses Land gelenkt und zwar nach seiner eigenen Methode, die
von ihm in den Vorlesnrigen über historische Charakterschilderungen und später
in dem Versuch in. vergleichender Völtergescln'este angewandt worden war. Dann
kam der Historiker Arndt über den neuen Systemen' der Geschichtsschreibung, den
Darstellungen der politischen Veränderungen dnrch Kriege und Revolutionen, durch
Erschließung neuer Länder und Ausdehnung der wirtschaftlichen Beziehungen in
Vergessenheit. Nun zeigt uns wieder einer der ersten jetzt lebenden Historiker
Schwedens, Rudolf Kjellen, Professor an der Universität Upscila, sein Land in
ähnlicher Betrachtung, und es stammen Schlaglichter ans, die uns um den ältere»
deutschen Meister erinnern."
Bei der Stoffordnung zu dieser „politischen Monographie war Kjellen
sein eigenes Muster. Hat er doch in seinem kurz vorher erschienenen Buche -
„Der Staat als Lebensform" ausführlich die diesbezüglichen Grundsätze entwickelt
(vgl. über sie Grenzboten 1V17, Heft 4«). Jedes der Hauptkapitel könnte als
besondere Monographie gelten. Zuerst wird das schwedische Reich als solches —
äußere Orientierung, Individualität, Territorium und Domiuiuni, worunter die
Hilfsquellen des staatlichen Lebens im Lande verstanden sind — geschildert. So¬
dann die Entwicklung des NeichShaushaltcs, d. h. die Verwertung der natürlichen
Hilfsquellen selber. Die Trennung dieser beiden Abschnitte ergibt nicht immer
eine Abrundung des Stoffs und führt zu unvermeidlichen Wiederholungen und
Hinweisen. Gerade hier «scheint die unüberbrückte Lücke zwischen der Geschichte
und Geographie in der Methode Kjellens am deutlichsten. Es folgen die großen
Abschnitte über das „Volk" Entwicklung, Nationalitälsproblem, Volkskörper,
Volksseele -, die „Gesellschaft" und das „Staatsregiment", die hier eben nur ge¬
nannt werden können. Vieles darin greift uns Deutschen aus Herz. Der männliche,
urgermanische Charakter des Volkes, seine Abkehr von abstrakten und schematischen
Linien zu reinem persönlichen und vertieften Individualismus, der religiöse Sinn,
der aus der Natur des Landes seine Nahrung zieht, die ritterlichen Tugenden,
die den Schweden mehr zum Helden als zum Händler machen, das stolze Be¬
wußtsein, nie unter der Votmäßigkeit eines anderen Volkes gestanden zu haben,
und das unbestrittene Recht, das älteste Kulturvolk Europas hinsichtlich der staat¬
lichen Einheit zu sein, das alles läßt uns nicht ohne stillen Neid, mit Bewunderung
und Wünschen auf uusern nördlichen Nachbar blicken. Klar in der knappen Fassung
seiner Sätze, unbeirrt durch anderer Meinung, die wohl in manchen Einzelheiten
durchaus Geltung haben könnte, setzt Kjellen auseinander, wie Ausbildung und
Verwaltung des'schwedischen Staates leine Schöpfung von Doktrinen, keine Nach¬
ahmung fremder Muster, sondern aus eigenen nationalen Wurzeln emporgewachsen
ist, wie in dem Kampfe zwischen König und Reichstag zugunsten des letzteren
entschieden wurde, und wie die Rechte desselben in Gesetz und Praxis be¬
Die deutsche gebildete Welt kennt von polnischen Dichtern zumeist nur
einen: Sientiewiez, und' diese Bekanntschaft ist dem national deutsch Empfindenden
nicht ganz sympathisch. Dennoch, meine ich, sollten wir gerade in diesem Augen
blick Antipathien überwinden und energisch uns vertiefen in die Psyche des Polen.
Hätten wir es früher getan, vieles — alles Ware anders. Valoren ist um freilich
verloren. Nachtrauern hat keinen Zweck. Im Blick auf die Zukunft aber tut
es not, sich vor Allgen zu halten, daß Polen und wir nolens volens aufeinander
angewiesen sind, freilich die ersteren stärker auf uns als wir auf sie. Es ist
unbedingt nötig, daß nicht nur die leitenden Stellen, sondern die Öffentlichkeit
im weitesten Maße sich besser infoimicrt über unsere östlichen Nachbarn
als bisher, nicht allein volkswirtschaftlich, sondern vor allem völkerpsychologisch.
Die Politik hat allgemein den psychischen Faktor viel zu wenig berücksichtigt. Nun
kann nicht jeder an Or4 und Stelle seine Studien machen. Er muß sich beraten
lassen von Sachkundigen. Die Grenzboten sind seit langem vornehmlich bezüglich
Polens eifrige und wohlinformierte Berater. Wer aber selbst sich llrleilsgrnnd
lagen bilden will, bleibt angewiesen auf die polnische Literatur und Geschichte.
Wir besitzen in H. Brückners Geschichte der polnischen Literatur (Leipzig. 19l)!)) eine
liefschiirfer.de Arbeit, die des Polentums intimste Wesenszüge darzutun weiß.
Für weitere Kreise, für die hastige, zeitknappe Gegenwart ist solches Werk freilich
zu umfänglich. Im Interesse möglichster Verbreitung von Sachkenntnissen darf
darum Komischkes kleines Kompendium besonders willkommen geheißen werden,
um so mehr, als es auf Vrückner fußend dessen hauptsächlichste Erkenntnisse ver¬
mittelt. Der Verfasser will — nach seinem Vorwort - die „Fülle von Mi߬
verständnissen", einen „Berg von Nafsenüberhebung und Völterhcch" Frieden
bringend überbrücken helfen. Man könnte danach eine gewisse Einseitigkeit der
Darstellung befürchten. Der Verfasser befleißigt sich jedoch erfreulicherweise
möglichster Objektivität und gibt sehr interessante Charakteristiken von den Dichtern,
ihren Werken und den Zeiimnstünden und stellt den nationalen Charakter der
polnischen Literatur ins rechte, hellste Licht, daraus sich für deutsche Dichter der
Gegenwart gewisse Lehren ziehen lassen, wie etwa aus dem Urteil über Krciszewski
(S. 218): „ . . . er machte das polnische Buch heimisch im Salon wie im Kämmerchen i
er überschwemmte das Publikum mit leicht und lose gemachten, aber stets inter¬
essanten Sachen, und wenn nationale Literatur nationaler Apathie am wirksamsten
entgegen zu arbeiten hat, so ist seine Leistung unschätzbar. Hatte Mickiewiez die
polnische Poesie geschaffen, so schuf er die Prosa, die hausbackene, alltägliche, die
für das nationale Leben fast wichtiger ist, als das poetische Pracht- und Prunk¬
kleid der Festtage. Für seine erkundigte, verzagende, schlaffe Zeit hat er mehr
gewirkt als der größte Genius, dessen Fluge nicht alle folgen können." —
Allen Manuskripten ist Porto hin,uzufni,en, da andernfalls bei Ablehnung eins Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Wir bitten die Freunde derGrenzboten
den Bezug zum III. Vierteljahr 1919
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postcmstalt entgegen. Preis 9.— M.Verlag der
Gi-ensboten
G. in. b. S.
Berlin SW n
is der deutsche Zusammenbruch im Oktober und November 1913
idie von langer Hand angesammelten Krankheitsstoffe im deutschen
Volkskörper zum akuten Ausbruch brachte, da war eins der hervor¬
stechenden Krankheitssymptome der Ruf nach dem Schuldigen. Von
ganz verschwindenden Ausnahmen abgesehen war sich damals die
gesamte deutsche Öffentlichkeit über die Schuld der alten deutschen
Regierung einig. Man sah die Schuld verschieden. Die einen sprachen der
alten deutschen Regierung die Schuld für die Herbeiführung des Krieges zu,
andere glaubten zwar an eine noch gröszere Schuld des Auslandes, sahen aber
doch in dem Verlauf des Krieges den Beweis dafür, daß eine weitsichtige deutsche
Regierung einen, wie man meinte, aussichtslosen Krieg um jeden Preis hätte
verhindern müssen, jedenfalls aber sah man eine schwere Schuld darin, daß der
Krieg nicht längst zum Abschluß gebracht worden war.
Als . im Verlauf des Krieges der erbitterte Kampf im öffentlichen Leben
Deutschlands um die Kriegsziele und die Anwendung der militärischen und
Politischen Mittel der Kriegführung tobte, da ging durch alle Meinungsverschieden¬
heiten ein großer Gegensatz hindurch. Nicht zum Vorteil einer sachlichen Klärung
der Gegensätze, die gegeneinander ausgekämpft wurden, ist diese Tatsache durch
allgemeine Schlagworte wie Verständigungs- und Verzichtfrieden auf der einen,
Gewallfrieden auf der anderen Seite verdunkelt worden. Zum gleichen Schaden
glaubten im allgemeinen auch bei dem Kampf um den deutschen U-Boot-Krieg
die Verfechter der verschiedenen Ansichten, daß sie lediglich in Fragen der Zweck¬
mäßigkeit und der Taktik auseinandergingen. In Wahrheit stand bei allen diesen
Kämpfen derselbe große Gegensatz in: Hintergrunde. Auf der einen Seite standen
die Männer, die an eine Beendigung des Krieges durch Verständigung glaubten,
die es für möglich hielten, dnrch ein Mehr oder Weniger von Zugeständnissen
die Basis für einen Friedensschluß herstellen zu können; die Männer, die
glaubten, es gälte nur Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, und die
deshalb logischerweise zu der Folgerung kamen, daß man auch dem Gegner die
politische KonA 5in!e3 zubilligen müsse. Auf der anderen Seite standen alle die,
die beim Gegner den rücksichtslosen Vernichtungswillen erkannt zu haben glaubten,
die Deutschland an einem welthistorischen Scheidewege angelangt sahen, wo der
eine Weg das Bismarcksche Werk der Aufrichtung eines einheitlichen starken
deutsch^,, Reiches zum endgültigen Abschluß führte, und der andere Weg das
Ringen der letzten Jahrhunderte mit einem Schlage zunichte machen mußte. Je
nach dieser verschiedenen Einstellung gegenüber den Kräften, die zum Kriege
geführt hatten und die das Lebensprinzip für die Fortführung des Krieges
bildeten, mutzte auch die Stellungnahme zu den praktischen Fragen der Politik
und der Kriegführung während des Krieges sein.
Auch wenn man über die Aufrichtigkeit der verschiedentlicher deutschen
Friedensschritte verschiedener Ansicht sein sollte, und wenn man der Auffassung huldigt,
datz bei größerer Geschicklichlichkeit eine Annäherung an den Gegner sich hätte
erreichen lassen, ist doch eins sicher: die Entente, und bei ihr gab bis ins
Frühjahr 1918 England den Ausschlag, hätte den Frieden oft haben können,
wenn sie ihn ernstlich gewollt hätte. Daß die deutsche Regierung um sogenannter
alldeutscher Kriegsziele willen, wie flandrische Küste, Longwy, Bricy und
dergleichen den Krieg fortgesetzt hätte, wenn sie wirklich auf einen ernsthaften
englischen Verständigungswillen gestotzen wäre, wenn sie ohne die Möglichkeit,
um die Sache herum zu reden, klar hätte Farbe bekennen müssen, ob Verständigungs¬
friede oder Fortsetzung des Krieges für imperialistische Ziele, kann als ausgeschlossen
gelten. Und dabei wäre das Ergebnis für England immer ein recht erfreuliches
gewesen. Der russischen Gefahr wäre es für absehbare Zeit ledig gewesen. Auf
dem Weltmarkt hätte es durch die lange Abschließung Deutschlands infolge des
Krieges einen Vorsprung vorausgehabt, den Deutschland schwer hätte einholen
können, und das Ziel der Landbrücke Indien-Ägypten hätte es bei der türkischen
Kiiegsmüdigkeit wohl in etwas verklausulierterer Form aber sachlich kaum weniger
vollständig als jetzt selbst mit türkischer Einwilligung erreichen können.
Warum hat England bei dieser Sachlage den Krieg fortgesetzt? Wenn
England wirklich die händlerische Nation ist, für die wir es noch jetzt im allge¬
meinen halten, warum hat es dann Hunderttausende seiner eigenen Söhne auf
die Schlachtfelder geschickt, hat es Amerika einen Einfluß auf seine Politik einge.
räumt, der vor dem Kriege nie für möglich gehalten wäre, hat es im fernen
Osten Japan die unbestreitbare Vorherrschaft erringen lassen, und hat es Japan
und Amerika zusammen zu einem wirtschaftlichen Wettbewerber werden lassei:,
wie es vorher nicht so bald zu befürchten gewesen wäre? Churchill hat vor
mehreren Wochen eine Rede gehalten, aus der hier folgende Sätze entnommen
seien: „Während wir über die Art, wie unsere Angelegenheiten geführt werden,
murren, ist der übrige Teil der Welt und fast alle unsere Feinde von Bewunde¬
rung für das britische System erfüllt. Kann ich es wohl sagen, wir sind gerade
noch durchgekommen? Je mehr man unterrichtet ist, um so mehr weiß man,
auf was für einem schmalen, engen und gefährlichen Wege der Erfolg sich uns
zuwandte. Be'im ersten Ansturm war Frankreich nahe daran, zerstört zu werden,
noch etwas länger, und die Unterseebootskriegführung anstatt Amerika uns zu
Hilfe zu rufen, hätte uns durch Hunger zur Übergabe gezwungen. Sogar nach
dem 21. März war die Gefahr außerordentlich groß, wie für Paris so auch für
die Kanalhäfen. Aber weil die ganze Nation zusammenarbeitete ohne zurück¬
zuweichen, weil wir gesund waren, erfüllt von allen männlichen tapferen Eigen¬
schaften, und weil wir das Recht auf unserer Seite hatten, sind wir durchgekommen."
Oft während des Krieges, darüber kann ein Zweifel gar nicht bestehen, hätte
ernsthafter englischer Friedenswille zu einem Ergebnis führen können, daß der
englischen Weltgeltung zum mindesten die gleichen Aussichten ließ, wie sie vor dem
Kriege bestanden. Auf der anderen Seite drohte die Gefahr der Niederlage.
Warum hat die englische Regierung das schwere Risiko der Fortführung des Krieges
auf sich genommen, und wie konnte sie bei dieser Politik den nötigen Rückhalt im
englischen Volke finden?
Es ist oft darauf aufmerksam gemacht worden, daß fast alle von England
geführten Kriege anfangs nur schwächlich, ja mit einer gewissen Leichtfertigkeit
gefühlt worden find, daß aber im Verlauf der Kämpfe und in dem Maße, indem
die Gefahren eines unglücklichen Ausganges wuchsen, die Kraftanspannung des
englischen Volkes zur Erreichung des Endsieges gewachsen sind. Wenn man die
englische Politik und die englische Kriegführung schon als eine auf die Verwirk¬
lichung von Geschäftsinteressen gerichtete auffassen will, so handelt es sich doch
jedenfalls um Geschäfte auf sehr lange Sicht. Wenn dieser Tatsache gegenüber die
öffentliche Meinung in Deutschland die geschichtliche Entwicklung vor und während
des Krieges nur unter dem Gesichtspunkte ansieht, daß der Krieg hätte vermieden
werden oder rechtzeitig hätte abgebrochen werden müssen und können, und
den hier vertretenen Gedanken, dessen Nichtigkeit, wie stets bei historischen Be¬
weisführungen, sich selbstverständlich auch nicht zwingend dartun läßt, fast von jeder
Erwägung ausschließt, so liegt dies daran, daß es unserer politischen Grund-
stimmuiig fast unmöglich ist. sich in eine heldische Auffassung der politischen Auf¬
gaben eines Siaates hineinzufinden, die das Schicksal des ganzen Staates oder
doch die Wohlfahrt und das Glück der lebenden Generation auf das Spiel setzt,
um eine größere Zukunft herbeizuführen. Die großen Führer in der Geschichte
unseres Volkes haben diesen Geist besessen. Friedrich der Große, Bismarck und
mich Wilhelm der Erste haben stets gewußt, daß bei den großen Wurfen ihrer
Politik alles verloren werden konnte. Gemeingut des deutschen Volkes ist dieser
Geist, vielleicht mitbedingt durch die innerpolitische Entwicklung in den Bahnen
des Obrigke>tstaates, nicht geworden.
Das Woll des Neichsministcrpräsidenten Scheidemann von dem Hazardeur
des Weltkrieges, das er Ludendorff gegenüber gebrauchte, hat bei uns in weitesten
Kreisen die von Scheidemann beabsichtigte Resonanz gefunden, daß nämlich damit
das politische Verdammungsurteil über Ludendorff gesprochen sei. Demgegenüber
darf mit vollem Recht darauf hingewiesen werden, daß die gesamte englische
Politik während des Weltkrieges ebenso eine Spielerpolitik gewesen ist, und es
darf angenomnnn werden, daß das englische Volk sich dieses Charakters der eng¬
lischen Politik sehr viel mehr klar gewesen ist, als das deutsche Volk hinsichtlich
der Politik Ludendorffs. Man darf den Grund für diese verschiedene Einstellung
gegenüber dem möglichen Ausgang des Krieges nicht einfach darin suchen, daß
die deutsche Negierung ihre Aufgabe für die Beeinflussung der deutschen Stimmung
darin gesehen hat, die drohenden Gefahren zu verkleinern und stets nur das Ver¬
trauen auf de» siegreichen Ausgang des Krieges zu befestigen. Den tieferen Grund
hat diese Slimmungspolitik doch in der Sinnesart des deutschen Volkes, das nicht
seelisch einem kühlen, den brutalen Tatsachen Ins-Auge-Sehen gewachsen gewesen
wäre. Und die Art in der von weiten Kreisen, von .Kreisen, die beim siegreichen
Ausgang des Krieges die seelische Größe der Führer bewundert hätten, die
das Riesinmaß von Verantwortung durch die langen Jahre getragen haben, jetzt nach
dem Verlust des Krieges lediglich nach dem Schuldigen zu suchen, der Versuch, durch
Selbstbezichligung eine mildere Behandlung durch die Gegner herbeizuführen, ist kein
Zeichen einer heldischen Auffassung von Politik und Geschichte. Bringt man es
doch sogar bei uns fertig, den Verlauf der deutschen Geschichte, soweit sie von der Ent¬
wicklung Preußens zum Machtstaate und durch die Führung Bismarcks bestimmt
wurde, zu bedauern, da hierdurch allein die jetzige Katastrophe verschuldet sei. Es
ist das eine feminine Geschichtsauffassung, die mit heldischen Geist nichts zu tun
hat, sondern die einem händlerischem Geist entspringt, der verlorenen Pfennigen
nachweint; nicht ein Geist vom Typ des königlichen Kaufmannes, sondern ein
kleinlicher Krämersinn, der nichts von den starken männlichen Eigenschaften
spüren läßt, die allein das Leben und in Sonderheit das politische Leben
meistern können.
Man kann das Wort Bismarcks, daß der militärische Mut ein Gemeingut
des deutschen Volkes sei, Zivilcourage aber höchst selten bei uns zu finden sei,
auch auf dos politische Leben übertragen. Unser militärisches Heldentum und
auch das Dulbertum von vielen Millionen in der Heimat kann uns nach dein
Weltkriege auch trotz seines Verlustes niemand bestreiten-, auch werden sich für
alle Zeilen die Taten der deutschen Heere vor denen der Gegner, denen dies
Heldentum damit nicht bestritten wird, leuchtend abheben. ' Aber politisches
Heldentum besitzen wir nicht. Uns fehlt das Schicksalsgefühl gegenüber dein
großen Walten der Mächte, die das Leben der Völker bestimmen, während wir
dies Gefühl losgelöst von nationaler Bedingtheit besitzen. Man mag meinen,
wozu diese Feststellung? Die Zeiten, in denen politischer Heldengeist vom
deutschen Volke hätte verlangt werden müssen, sind vorüber. Die politische Zu¬
kunft des deutschen Volkes wird sich in kleinen Niederungen unberührt von den
Stürmen der großen politischen Geschichte abspielen müssen, und wir werden zu¬
frieden sein können, wenn es uns gelingen wird, in kleinbürgerlicher Enge unser
Leben zu fristen. Das, wenn nicht Schlimmeres, wird allerdings unser Schicksal
fein, wenn nicht aus den Wehen der Weltrevolution dem deutschen Volke ein
neuer politischer Geist erwächst. In diesen Wochen wird unser Volk vor die
Frage gestellt werden, deren schicksalsschwere Größe nur von wenigen in ihrem
vollen Umfange erkannt wird. Nie ist dem deutschen Volke eine heldische Auf¬
fassung von der Politik mehr vonnöten gewesen, als in diesen Wochen, in denen
nach dem Willen unserer Feinde in Versailles unter das Ende des Weltkrieges
die Worte: „t^mis (Zermsnmo" gesetzt werden sollen. Jetzt nutz es sich zeigen,
ob wir gewillt sind, für das Linsengericht einer kärglichen Lebensmittelversorgung
durch die Gnade der Engländer und der Vereinigten Staaten von Amerika
unseren Willen auf eine deutsche Zukunft preiszugeben. Bei der Erwägung der
Schicksalsfrage, wie wir uns zu den Friedensbedingungen Verhalten sollen, müssen
wir uns ganz nüchtern darüber klar sein, datz es unmöglich ist, mit mathematischer
Sicherheit vorauszusehen, welche Folgen diese oder jene Entscheidung haben wird.
Aber wie es im Leben des einzelnen Menschen Schicksalsstunden gibt, in denen
eine zu starke Berücksichtigung von Nützlichkeitsgesichtspunkten Verrat am Heiligsten
bedeutet, so müssen auch wir jetzt von den taktischen Gegenwartsfragen absehen
können. Wir dürfen uns unseren Willen auf eine grosze Zukunft unseres Volkes
nicht verweichlichen lassen in der Sorge um die Nöte der Gegenwart. Wir müssen
einsehen, datz es Dinge gibt, die ein Volk, das an sich glaubt, einfach nicht tun
kann. Politik ist kein Rechenexempel. Politisches Heldentum kann zum Unter¬
gang, aber nur politisches Heldentum kann auch den Weg zu großer politischer
Zukunft führen.
er Entente-Friedensentwurf besiegelt auch das Schicksal der deutschen
Marokkopolitik. Unter den Bestimmungen, die die auswärtigen
Staaten betreffen und die auswärtigen Verträge, findet sich auch eine
Reihe von solchen, die sich auf Marokko beziehen. Mit diabolischen
Raffinement hat die Entente die ganze Welt auf Reste deutscher
. Handelsinteressen durchsucht. Die vierjährige Absperrung Deutsch¬
lands von Übersee, der Handelskrieg, die schwarzen Listen usw. dürften zwar
kaum noch etwas zurückgelassen haben, was auf den Namen deutsche Handels¬
interessen im Ausland Anspruch erheben kann. Aber es könnten doch noch irgend¬
welche Verträge bestehen, die die deutschen Interessen schützen. Darum mutzte
tAbuIg, rasa gemacht werden. So werden denn auch die deutschen Hcmdels-
belange in Marokko mit einem kühnen Strich radikal ausgelöscht und Deutschland
in Zukunft von der freien Vetätigung im Lande des Scherifen ausgeschlossen.
"
Mit großen Lettern steht auch über dem Kapitel „Marokko für Deutschland
das Wort: Verzichten. Deutschland verzichtet auf alle Rechte aus der Algeciras-
Akte, sowie aus den Abkommen vom 3. Februar 1909 und vom 4. November 1911.
Alle deutschen Verträge — heißt es weiter — mit der scherifischen Regierung sind
abgeschafft. Eine Teilnahme Deutschlands an den Verhandlungen bzw. der Neu¬
regelung der Verhältnisse in Marokko findet nicht statt, es erkennt das französische
Protektorat endgültig und ohne Vorbehalt an und verzichtet auf die Kapitulationen.
Die deutschen Bergwerksrechte werden abgelöst, desgleichen der deutsche Anteil an
der Staatsbank von Marokko. Das alte Sultansland gilt fortan als französische
Kolonie, denn das deutsche Reich verpflichtet sich, die marokkanischen Waren bei
der Einfuhr in Zukunft als französische zu behandeln.
Damit sind alle Errungenschaften der deutsch-französischen Marokko-
Abmachungen für absehbare Zeit aus der Welt getilgt — wenn der Friedens¬
entwurf Gesetz wird. Die Deutschen sind wieder vogelfrei, wie sie es während
der marokkanischen Unruhen im Anfang des Jahrhunderts waren, eine offene
Tür im Lande des Scherifen wird es nicht mehr geben, Frankreich wird dort
herrschen, wie es in Tunis und Algier herrscht, und es wird weder deutsche
Handels- noch deutsche Finanzinteressen mehr dort geben. Die einzigen und
bedeutsamsten Ausbeutungsgegenstände, die Bergwerke, deren ErzVorräte einmal
für die deutsche Industrie etwas hätten bedeuten können, gehen restlos in fran¬
zösische Hände über. Bahn- und Chaussee- und alle sonstigen Kulturarbeiten wird
der französische Staat selbst ausführen und eifrig darüber wachen, daß kein
anderer Staat eine darauf bezügliche Konzession bewilligt erhält. Keine Macht
der Welt wird das unglückliche Land mehr vor der Tunisierung retten. Denn
Deutschland erkennt ja im voraus alle Abmachungen seiner Feinde, jede Neu¬
regelung durch Frankreich an.
Dieses Ende ist zugleich der Bankrott der deutschen Marokkopolilik. Die
Geschichte dieser Politik ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, Eifer¬
süchteleien, Streitereien, Fanfaren, Trompetenstöße, Siege, Rückzüge und Nieder¬
lagen. Säbelrasseln, Friedensschalmeien, Rückzüge, das war nach diplomatischem
Urteil das Kennzeichen dieser unglückseligen politischen Kampagne. Sie hat uns
kein Ansehen in der Welt verschafft, wohl aber uns den unauslöschlichen Haß
Frankreichs und die verschärfte Gegnerschaft Englands zugezogen. Sie hat uns
in der Welt isoliert und doch den deutschen Interessen nur geringe Erfolge ein¬
getragen. Ein großer Aufwand ward umsonst vertan, kann man über die
Geschichte dieser Händel schreiben. Sie war in ihrer ganzen Jnaugurierung und
Entwicklung ein typisches Beispiel für die Ziel- und Systemlosigkeit der nach-
vismarckschen Politik. War man tatsächlich im Auswärtigen Amte entschlossen, die
deutschen Interessen in Marokko zu schützen und Garantien für diesen Schutz zu
schaffen, dann durfte man auch vor nichts zurückschrecken und mußte bis zum Ende
gehen. Wollte man das nicht, dann mußte man die Finger von Marokko lassen'
und jede Einmischung unterlassen. Statt dessen erhob man zuerst mit großer
Geste politische und kommerzielle Ansprüche und betonte den internationalen
Charakter der Frage mit nicht geringer Deutlichkeit. Man beharrte auf diesem
Standpunkte auch noch, als es sich gezeigt hatte, daß von den übrigen Mächten
außer Österreich-Ungarn niemand die Frage vom internationalen Gesichtspunkt
aus ansah und Widerstand von allen Seiten sich geltend machte. Als dann trotz
Algeciras die Provokationen von französischer Seite nicht aufhörten, gab man
Schritt für Schritt nach und räumte den Franzosen in dem Februarabkommen
von 1909 eine Reihe von Konzessionen ein, die den Konflikt wohl vorübergehend
beschwichtigten, aber weit entfernt davon waren, dauernd Ruhe zu schaffen. Mit
dem „Panthersprung" nach Agadir (1911) kam wieder ein aufreizendes Element
und die Geste in die Affäre hinein. Wieder Säbelrasseln ohne entsprechende
Machtentfaltung und politisch, diplomatischen Nachdruck. Das Resultat ein neuer
Rückzug. Verzicht auf die deutschen Wirtschaftsbelcmge in Marokko und Ausgleich
bezw. Entschädigung in zweifelhaftem Landerwerb im Kongo. Von der Wahr¬
nehmung der internationalen wirtschaftlichen Interessen im Algeciras-Vertrag blieb
nur ein Torso zurück, der Anteil Deutschlands an der marokkanischen Staatsbank
und an den Bergwerken des Landes. Die Überwachung der Okkupationsmacht
durch internationale Polizeiorgane wurde preisgegeben, damit aber auch das
Recht der politischen Kontrolle zur Sicherung der wirtschaftlichen Belange. Der
Erfolg war trotz aller Nachgiebigkeit für Deutschland gleich Null. Auf der anderen
Seite war das französische Nationalgefühl empfindlich gereizt und das Selbst¬
bewußtsein Frankreichs im Vollgefühl der Unterstützung durch Großbritannien
gewaltig gesteigert worden. Frankreich müszte mit Recht aus dem ewigen
Schwanken der deutschen Politik und dem fortgesetzten Nachgeben den Schluß
ziehen, daß Deutschland auf seine innere Kraft nicht vertraue und nur bluffe,
jedenfalls nicht die nötige militärische Stärke besitze, um sich den westlichen
Mächten gegenüber durchzusetzen. Der Ratschlag des Fürsten Bismcirck, Frank¬
reich in Nordafrika zu beschäftigen und dadurch seinen Blick von dein krampfhaften
Hinstarren nach dem Vogesenlöch abzulenken, war in verhängnisvoller Weise ver¬
lassen worden. Gerade das, was man hätte vermeiden müssen, war eingetreten.
Das Nevanchegesühl in der französischen Volksseele war wieder geweckt und drängte
nach Betätigung und Auswirkung.
Niemand, der heute unvoreingenommen die Geschickte des Marokkostreites
rückblickend betrachtet, wird behaupten können, daß diese Affäre unbedingt zu einer
Verfeindung zwischen Deutschland, Frankreich und England hätte führen müssen.
Es ist heute durch die Hammannschen Erinnerungen („Zur Vorgeschichte des Welt¬
krieges") zur Evidenz festgestellt, daß England mehrmals dem deutschen Reiche
eine Verständigung über das Scherifenreich angetragen hat. Beide Gelegenheiten,
die von 1898 und die von 1901, ließ die deutsche Neichsregierung unbegreiflicher¬
weise vorübergehen, weil sie in ihrer Kurzsichtigkeit die Tragweite der Anerbietungen
nicht abzuschätzen vermochte. Dieselben Verhältnisse, die die Ablehnung des eng¬
lischen Bündnisangebots um die Jahrhundertwende veranlaßt haben, scheinen auch
die rechtzeitige Verständigung über Marokko verhindert zu haben. Diese Politik
der verpaßten Gelegenheilen hat letzten Endes zum Weltkrieg geführt. Im vor¬
liegenden Falle führte sie zunächst zur Annäherung zwischen England und Frank¬
reich, zur lZntents corciisls um das Jahr Z903. Die ersten Früchte des „herzlichen
Einvernehmens" hatte man in dem englisch-französischen Kolonialabkommen vom
8. April 1904 zu sehen, in welchem Frankreich das englische Protektorat in Ägypten,
und England dasjenige Frankreichs über Marokko anerkannte und sich außerdem
zu jeder Unterstützung der französischen Ansprüche dritten Mächten gegenüber ver¬
pflichtete. Em Teilungsvertrag zwischen Italien und Frankreich über die Auf¬
teilung von Nordafrika und die Überlassung von Tripolis an Italien war voran¬
gegangen, ein ebensolcher über die Beteiligung Spaniens an dem marokkanischen
Raube folgte im Sommer 1904. — Freilich war die ganze Aufteilung vou Marokko
ein offenkundiger Raub, alles Reden von der Wahrung der Souveränität des
Maghzen eitles Gerede und Phrase, dritte Mächte wurden in dem spanisch-
französischen Vertrage ausdrücklich von territorialer Beteiligung ausgeschlossen, aber
die Mächtegruppierung war unter diesen Verhältnissen eine derartige, daß Deutsch¬
land, von der schwachen österreichischen Unterstützung abgesehen, vollständig isoliert
war und mit dem aktiven oder passiven Widerstand von vier Großmächten zu
rechnen hatte. Diese Lage verkannt zu haben, ist das Verhängnis und die Tragik
des deutschen Kurses in der Marokkopolitik. Vielleicht wäre es vor dem formellen
Abschluß des englisch - französischen Kolonialabkvmmens noch möglich gewesen,
Garantien für den Schutz von Deutschlands wirtschaftlichen Interessen in Marokko
zu schaffen und für die Aufrechterhaltung der offenen Tür zu sorgen. Es wäre
Pflicht der deutschen Regierung gewesen, beim Auftauchen der ersten Nachrichten
von einer beginnenden englisch-französischen Verständigung über Marokko in vor¬
sichtiger Weise bei diesen beiden Mächten zu Sortieren und von ihnen rechtzeitig
die erforderlichen Zugeständnisse für den Schutz der deutschen Interessen zu erwirken.
Statt dessen zog man im Auswärtigen Amte vor, zunächst zu schweigen, Reserve
zu beobachten. War es da ein Wunder, daß bei den Feinden, insbesondere bei
Delcasse, dem damaligen französischen Minister des Auswärtigen der Eindruck
entstehen mußte, Deutschland habe keine Ansprüche anzumelden. Um so größer
mußte das Erstaunen sein, als dieses Land plötzlich mit einer Gegen¬
aktion hervortrat, nachdem der Vertrag abgeschlossen war und die „Durchdringung"
Marokkos im Wege der bekannten französischen Methoden eingesetzt hatte. Gewiß
war diese „Penetration paeilicjue" nicht ideal, sie bedeutete praktisch den Ausschluß
aller nichlsranzösischcn Bewerber bei Vergebung von Regierungsaufträgen und
wirtschaftlichen Konzessionen, aber gegen sie mit der ganzen Machtfülle einer Gro߬
macht zu protestieren, ging nur an, wenn man entschlossen war, um der deutschen
Interessen willen das Äußerste zu wagen und auch vor einem Kriege nicht zurück¬
zuschrecken. Ob ein solcher den Einsatz gelohnt Hütte, diese Frage ist eine Frage
für sich und soll hier nicht untersucht werden. Diese Entschlossenheit fehlte aber
und so blieb die ganze Aktion in Halbheiten stecken.
Die theatralische Geste, die Deutschland für sein Auftreten wählte, nämlich
die Fahrt des Kaisers nach Tanger, die leider nach den neueren Enthüllungen
auf das Konto des Fürsten Bülow selbst zu setzen ist, trug natürlich auch nicht
dazu bei, eine ruhige Entwicklung und Auseinandersetzung zu fördern. England
und Frankreich reagierten mit leidenschaftlichen, zum Teil gehässigen Äußerungen
und schreckten selbst vor Kriegsdrohungen nicht zurück. Indessen bewahrte der
französische Ministerpräsident Rouvier kaltes Blut und ließ den hitzigen Delccissö,
nachdem dessen Unmöglichkeit sich herausgestellt hatte, fallen. Deutschland forderte
nunmehr eine Konferenz, und lud dazu sämtliche Signatarmächte des Madrider
Vertrages ein, um die marokkanische Angelegenheit international zu regeln. Diese
scharfe Betonung der internationalen Seite war ein Kardinalfehler und verhinderte
ein Sonderabkommen zwischen Frankreich und Deutschland, welches bei der
damaligen versöhnlichen Stimmung von Rouvier mit Leichtigkeit zu erreichen
gewesen wäre und den ganzen großen diplomatischen Apparat von Algeciras über¬
flüssig gemacht hätte. Rouvier nahm die Konferenz nur mit Widerstreben an.
Die einfachste Vorsicht gebot, vor dem Beginn der Verhandlungen eine Einigung
zwischen Deutschland und Frankreich über die Hauptpunkte herbeizuführen; dazu
konnte man sich im Berliner Auswärtigen Amt nicht aufraffen, und so begann
denn jener langwierige Prozeß, der uns ja wohl in den wesentlichsten Punkten
Befriedigung brachte, aber die Gegnerschaft und den Haß der halben Welt gegen
uns wachrief und vor allem das französische Mißtrauen gegen Deutschland ver¬
schärfte. Gute Kenner der französischen Volksseele behaupten, daß von jener Zeit
ab (1905/6) das Wiederaufflammen des französischen Revanchegefühls datierte,
weil die Konferenz von Algeciras in Frankreich als ein Tribunal und daher als
Demütigung empfunden wurde. Das Ergebnis mit seiner Regelung der Bank-,
Polizei- und Konzessionsfrage trug dabei keineswegs die Gewähr der Dauer in
sich. Die Generalakte vom 3. April 1906 schloß ein für Deutschland wenig er¬
freuliches Kapitel ab, in welchem es keine Lorbeeren geerntet hatte. Wohl war
der Grundsatz der offenen Tür gerettet, aber um den Preis der unversöhnlichen
und unaustilgbaren Feindschaft mit Krankreich. Niemand dankte uns unser Ein¬
treten für die internationalen Grundsätze. An dieser Vorliebe für das Internationale
ist Deutschland ja denn auch zugrunde gegangen. Der Erfolg der ganzen Aktion
konnte nicht mehr als ein Waffenstillstand sein. Er wurde es auch.
Es dauerte nicht lange, so erfolgten neue Herausforderungen durch die
französischen Agenten in Marokko. Die Verletzungen der Algeciras-Akte häuften
sich. Der Notenwechsel zwischen Berlin und Paris riß nicht ab. Der Widerstand
gegen die französischen Anmaßungen erlahmte in der Berliner Wilhelmstraße, und
so entschloß man sich, in dem Feb'iuarabkommen des Jahres 1909, um den ewigen
Streitereien ein Ende zu machen, Frankreichs politische Vorrechte in Marokko an¬
zuerkennen und selbst einige der wirtschaftlichen Vorrechte Deutschlands preiszu¬
geben. Das war ein offenkundiger Rückzug Deutschlands, das erste Loch in die
Algeciras-Akte. Scheinbar war der Frieden infolge der deutschen Nachgiebigkeit
gerettet. Aber an der Seine legte man das als deutsche Schwäche aus und ent¬
nahm daraus das Recht zu neuen Provokationen. Die deutsche Friedfertigkeit
erzielte wieder einmal das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Und so kam es
schon 1911 zu einer neuen Marokkokrisis, die in dem bekannten Marokko-Kongo-
Abkommen ihre Lösung fand. Praktisch wurde damals die Algeciras-Akte aufge¬
hoben. Die letzten formellen Reste beseitigt heute Frankreich mit rauher Hand,
ohne mit uns darüber zu verhandeln. Schon Algeciras war ein diplomatisches
Fiasko, der Vertrag von 1909 und der von 1911 war eine Halbheit, das Ende
ist ein Delmcle und ein Trauerspiel. Eine Schicksalstragödie mehr in dem großen
Weltendrama, welches heute Deutschlands Vernichtung heißt.
le Mechanisierung des Weltwirtschaftslebens wird von jetzt an noch
^ weit schneller fortschreiten als bisher. Die ungemein gesteigerten
Löhne, Unkosten und Steuern zwingen dazu, den Menschen, wo es
> immer geht, durch die Maschine zu ersetzen, und das Massenfabrikat
an Stelle der Einzelanfertigung zu verwenden. Zum Teil bestanden
ldiese Verhältnisse schon in den Vereinigten Staaten. Jeder Haus¬
halt verwendet dort elektrische Hilfsapparate in reicher Fülle, fabrikmäßig her¬
gestellte Schuhe und Kleider waren preiswert, solche nach Maß gefertigt nur für
die oberen Fünfhundert bezahlbar.
Man glaube auch nicht, daß andere Länder nach dem Kriege hierin viel
günstiger daran sein werden als Deutschland. Der Achtstunden-Arbeitstag frißt
sich durch, so sehr sich auch die Staaten sträuben werden. Er ist da und wird
nicht mehr verschwinden. Mit dieser Tatsache muß man rechnen. Die hohen
Löhne haben die anderen Länder auch schon mehr oder weniger, und die sozialen
Einrichtungen und Sozialisierungen folgen ebenfalls jenseits der Grenzen mehr
oder weniger schnell nach. Es gibt Dinge, die nicht mehr aufzuhalten sind, sobald
sie sich an einem Ende durchgesetzt haben.
Also der Krieg hinterläßt allenthalben eine starke Teuerung sowie starkes
Anwachsen der Ansprüche der unteren Klassen. Dies sind aber Vorgänge, welche
zur beschleunigten Mechanisierung führen müssen.
Die Vereinigten Staaten sind auf diesem Wege am weitesten vorgeschritten
und können daher in gewissem Sinne als Beispiel dafür dienen, was in anderen
Ländern erwartet werden kann. Daß hierbei in der Union ein gewisser Mechani¬
sierungswahnsinn beobachtet werden kann, und daß es den anderen Ländern nur
zu wünschen ist, diese Übertreibungen nicht mitzumachen, sei nur nebenbei erwähnt.
Drüben hat z. B. praktisch genommen jede Familie ihr Auto, und für
jeden zwanzigsten Menschen, ob Kind oder Greis, wird im Jahre ein neuer Kraft¬
wagen gebaut. Ein solcher Luxus und solche Benzinverschwendung stinken gen
Himmel.
In Amerika ist man bei einem Kraftbedarf von annähernd 1.5 Pferdestürken
aus den Kopf der Bevölkerung angelangt. Wie wird sich nun unsere Energie¬
wirtschaft gestalten, wenn die übrige Erde ebenfalls einen so hohen Stand an
Bedarf mechanischer Arbeit erreicht haben wird? Solche Ausblicke sind nicht
nur interessant, sondern sie lassen auch die Grenzen des Verbrauches erkennen
und können zur Einschränkung oder Umkehr ernähren. Wann dieser Zeitpunkt
der Sättigung erreicht sein wird, ist gleichgültig, ebenso gleichgültig ist es, ob die
Annahmen ganz zutreffend sind, es kommt nur darauf an, daß die Größen¬
ordnung richtig ist.
Nehmen wir also an, im Zeitalter der Sättigung betrüge die Bevölkerung
der Erde zwei Milliarden Menschen (gegen 1,7 Milliarden jetzt), und unter
Berücksichtigung, daß der Tropenbewohner und die unkultivierten Volker keinen so
hohen Verbrauch an Maschinenkraft haben, sei ein Bedarf von einer Pferdestärke
anf den Kopf zugrunde gelegt. Dann ergibt sich ein Weltmaximum von zwei
Milliarden Pferdestärken, welche in Maschinen und Fahrzeugen aller Art vor¬
handen sein müssen. Sollen diese Maschinen alle mit Kohlen betrieben werden,
und rechnet man nur 1600 Betriebsstunden im Jahr, so entspricht dies einem
Kohlenverbrauch von drei Milliarden Tonnen. Die Weltförderung dürfte zurzeit
eine Milliarde Tonnen sein, müßte also verdreifacht werden! Nun haben aber
die Fachleute ausgerechnet, daß schon beim heutigen Verbrauch die Kohlenvorräte
in absehbarer Zeit erschöpft werden. Frankreich, Osterreich und Belgien werden
schon in 100—160 Jahren keine Kohlen mehr haben, England folgt nach, und in
Deutschland reichen sie noch etwa 800 Jahre, vorausgesetzt, daß uns mit dem
Frieden nicht wichtige Kohlenvorkommen genommen werden. Verdreifacht man
nun den Verbrauch, so vermindert sich die Zeit, in welcher wir noch über Brenn¬
stoffe verfügen, auf ein Dritrel.
Sehr große Lager haben die Vereinigten Staaten und vor allen Dingen
China, außerdem bringt die nähere Erforschung fremder Länder Kunde von immer
neuen Kohlenvorkommen. Also so groß ist die Gefahr der Erschöpfung nicht,
doch müssen wir immer daran denken, daß wir vom Kapital unserer Enkel
leben und äußerste Sparsamkeit geboten ist. Wichtig ist nun, zu überlegen, was
die Folge dieser Erkenntnis sein wird. Sei es nun, daß die Kohlenlager dem
Staate oder Privaten gehören, man wird in Europa und wenn man vernünftig
ist, auch in Amerika die Ausfuhr zu verhindern suchen und einschränken. Die
überseeischen und kohlenarmen Länder sind also auf den Bezug aus anderen
Quellen angewiesen, so daß in China und anderenorts neue Zechen eröffnet
werden und an Umfang zunehmen. Den Kohlen folgt die Eisenindustrie nach,
und bald wird eine Abwanderung eines erheblichen Teiles der Industrie in neue
Gebiete eintreten. Die Verschiebung wird für Europa sehr bald fühlbar werden
und wird die unerquicklichen Verhältnisse der Industrie verschärfen.
Die wichtigste Aufgabe bleibt es jedoch, den Raubbau an der Kohle ein¬
zuschränken und auf Mittel und Wege zu sinnen, die benötigte Energie auf
andere Weise zu erzeugen. Visher haben wir noch kein anderes Mittel, als die
Ausnutzung der Wasserkräfte. Nach Schätzungen können auf der ganzen Erde
200 Millionen Pferdestärken an Wasserkräften ausgebant werden. Wir benötigen
aber das Zehnfache! Nun sind bei den Wasserkräften allerdings Jahres-Pferde¬
stärken gerechnet, während wir 1500 Stunden Betriebsdauer zugrunde gelegt
haben; durch Aufspeicherung und bessere Ausnutzung würden also die 200 Millionen
Pferdestärken etwa 400 Millionen Pferdestärken unserer Rechnung entsprechen.
Bleiben immerhin noch 1600 Millionen Pferdestärken durch Kohlen zu erzeugen.
Theoretisch müßten, nach der Niederschlagsmenge auf den Ländern der Erde
gemessen, mindestens eine Milliarde Pferdestärken vorhanden sein. Die Rechnung,
daß nur ein Fünftel davon nutzbar sei, ist daher sehr ungünstig: sie ist wohl
auch zu einer Zeit gemacht, da man in der Ausnutzung geringer Gefälle noch
nicht so weit war und noch mit der Konkurrenz billiger Kohle gerechnet
Werden mußte. Wenn heule die Kohle wohl überall das Doppelte bis Drei¬
fache des früheren Friedenspreises kosten wird, kann natürlich manche Wasser¬
kraft noch ausgebaut werden, an welche man früher der hohen Kosten
wegen nicht Herangehen wollte. Man kann also wohl damit rechnen, daß statt
der 200 Millionen Perdestärken. 400—500 mit der Zeit ausgebaut werden. Was
bedeutet dies aber? Wiederum ein Wandern der Industrie! siedelte sich diese
bisher in der Ebene und an den Küsten an, so wird sie nunmehr in die Berg¬
länder hinaufsteigen. Länder, welche früher arm waren, und außer ihrer Land-
wirischaft kaum Einnahmen hatten, sind zu reichen Industrieländern geworden.
Schweden, Norwegen und die Schweiz, auch Japan seien als Beispiele genannt.
Europa ist nicht reich an Wasserkräften, ganz besonders arm daran sind aber
Deutschland und Rußland.
Genau wie mit der Kohle werden die Staaten versuchen die Wasserkräfte
als völkisches Kapital zu werten, und nur eine Ausnutzung bis zum Fertigprodukt
im Jnlunde gestatten. Je stärker die Ausnutzung der Wasserkräfte fortschreitet,
desto mehr leiden wieder die Altindustrieländer England und Deutschland. Frank¬
reich und Italien sind mit Wasserkräften verhältnismäßig günstig daran, zum Teil
auch Österreich und der Balkan.
Amerika wird sich nicht mehr lange gestatten können den Niagarrafall als
Naturschauspiel zu genießen. Fünfzehn Millionen Pferdestärken stürzen hier jahrein,
jahraus in tosenden Falle den Felsen hinunter. Kapitalisiert stellt der Fall einen
Wert von 6 Milliarden Mark dar, dessen Zinsen niam zum größten Teile ungenutzt
läßt. Die Viktoriafälle in Afrika werden an 30 Millionen Pferdestärken ergeben.
Welche gewaltige Industrie in deren Nähe entstehen wird, kann sich heut kaum ein
Mensch vorstellen, und doch werden die Jungen unter uns die Anfänge noch erleben.
Erster Grundsatz muß also sein, alle Industrien, welche viel Energie verbrauchen
und deren Erzeugnisse längeren Transport vertragen, von den Kohlen weg, zur
Wasserkraft hin zu verpflanzen. Wenn wir z. B. in den Reichsstickstoffwerken
unter Verbrauch von Kohlen Luftstickstoff erzeugen, so ist dies vom nationalen
Zukunftsstcmdpunkt aus Verschwendung des Kapitals zukünftiger Geschlechter. Man
sollte also suchen bald Wasserkräfte für diese Industrie zu finden.
Auch noch eine andere Erkenntnis muß Deuschland erwachsen, nämlich,
daß wir in vielen Fällen mit Dampfkraft überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig
sind, und nur, wenn wir Wasserkräfte und Wasserstraßen mächtig ausbauen, uns
noch einigermaßen werden halten können.
Die Zeiten sind gewandelt. Bisher haben wir mit Eisen, Kohlen und
Kraft unseren Weg gewonnen. Das Eisen und die Kohlen nimmt man uns, und
die Kraft ist gebrochen. Geist, Arbeit und Berechnung müssen wir an Stelle der
alten Machtmittel setzen, wenn wir nicht untergehen wollen, und um dies zu
erreichen, gehört an erster Stelle Erkenntnis, sowohl des eigenen Könnens, wie
der Möglichkeiten und Beschränkungen, die in den Verhältnissen liegen. Je früher
wir also begreifen, daß Industrien mit Gewalt nicht zu halten sind, sondern mit
den Zeiten wandern wie Völker, desto leichter werden wir uns den neuen Ver¬
hältnissen anpassen und fügen.
Etwas anderes täte Not: daß es in der Welt erkannt und gewürdigt
würdet Industrie ist nicht nur Reichtum und Segen, sondern auchFluchI Noch
immer ist der agrarische Staat und der Bauer der Glücklichere gewesen, Industrie
bringt nur Versklavung der Massen und Zusammenballung der Menschen in
Großstädten, aber keine Freiheit und gesundes Leben. Hieran kann auch der
soziale Staat nichts ändern, denn ob für den Staat oder den Unternehmer
20000 Menschen im Gleichtrilt zur Arbeitsstelle stampfen ist vollkommen gleichgültig.
Wir können von der Industrie nicht mehr zurück, aber wir sollten sehen,
sie zu beherrschen und nicht, daß die Mechanisierung uns regiert. Der einzelne,
wie der Staat, sollte sich davon leiten lassen, daß die Industrie ein notwendiges
Übel ist, welches wir gern unserem Nachbar überlassen sollten, sobald alle Volks¬
genossen ohne das Übermaß derselben ihr Auskommen auf andere Weise finden.
Jede Zollgesetzgebung, welche bezweckt, neue Jndustnen heranzuziehen und zu
schützen, ist verfehlt. Wenn rein landwirtschaftliche Münder, wie Ungarn, Nußland
und andere, mit aller Gewalt sich zu Industrieländern umwandeln wollten, so
haben sie damit den kommenden Geschlechtern nur Fluch aufgeladen, und die
Staatsmänner haben bewiesen, daß sie augenblicklichen Reichtum mit Glück und
Zukunft verwechseln.
Am unverständlichsten sind in dieser Beziehung die Vereinigten Staaten.
Ein Riesenland, dünn bevölkert, überreichlich mit allen Naturschätzen versehen,
könnte es in sich ruhig und glücklich leben. Statt dessen gellt der Schrei nach
Industrie durch das ganze Reich. Bodenschätze und Nationalreichtümcr werden
in Raubbau vergeudet, nur um Export und wiederum Export an Jndustrie-
erzeugnissen auf den Weltmarkt werfen zu können.
Jetzt hat es Amekika erreicht I Es ist das mächtigste, reichste Land mit dem
größten Handel und Export. Und was hat es dafür eingetauscht? Einige
Multimillionäre mehr, Steuern, hohe Preise, Hast, Arbeit und Elend für einen
großen Teil des Volkes. Da der Arbeiter, der das Leben als Massenteil uner¬
träglich empfindet, noch verhältnismäßig leicht als Farmer auf das Land gehen
kann, so spielen sich die sozialen Kämpfe drüben noch nicht so ab, wie in Europa,
wo es keinen freien Boden mehr gibt. Aber auch diese Zeit wird drüben kommen,
und zu spät wird der Jankce erkennen, das; auch er sein Volksglück um einiger
Dollar willen verspielt hat.
Wandlungen weiden kommen und Verschiebungen in der Macht werden
eintreten nach den Gesetzen der natürlichen Entwicklung, nicht aber nach politischen
Überlegungen. Was unsere Feinde jetzt zusammenkitten, wird nur dann Bestand
haben, wenn es wirtschaftlich zusammen gehört, und was sie trennen, wird sich
wieder schließen, wenn Naturnotwendigkeit hierfür spricht. Die Aussichten für
Europa sind dunkel, und wir sollten suchen uns zu finden, oder wenigstens zu
dulden, anstatt uns zu zerfleischen.
n einer Zeit wie der unsrigen, die nachgerade alles Erdenkliche zu
verwissenschaftlichen beginnt, stellt der unbefangene Beobachter
nicht ganz ohne Kopfschütteln einige Forschungsgebiete fest, die
ungeachtet ihrer hervorragenden Bedeutung für Staat, Gesellschaft
und allgemeines Bildungsinteresse von unsern zweiundzwanzig
reichsdeutschen almas inatrss bisher fast durchweg neur als stief¬
mütterlich behandelt wurden, als da sind: Soziologie (der neuerdings jedoch
günstigere Aussichten eröffnet werden), Anthropologie, Völkerkunde, Ur- und
Vorgeschichte, Kulturgeschichte, experimentelle Psychologie. Ihnen reiht sich in
„würdiger" Meise die Pädagogik an.
Es kann aber keinem ernstlichen Zweifel unterliegen, daß die Erziehungs¬
lehre ihrer theoretischen Aufgabe nach ein durchaus vollwertiger Bestandteil der
Kulwrwissenschaft ist^); sicherlich steht die Geschichte und die Theorie der
Pädagogik dem Gehalt wie der Bedeutung nach in keiner Weise hinter der Wirt¬
schaftslehre oder der Rechtsgeschichte zurück. Ja, man darf weitergehen und
behaupten, daß allein in nationaler Hinsicht das Ganze der Erziehung und
Bildung von Urteilsfähigen geradezu unter die in erster Linie für den Bestand
und das Wachstum deutschen Wesens entscheidenden Umstände zu rechnen ist.
Nicht ohne Neid noch tiefere Berechtigung sind seitens des feindlichen Auslandes
Stimmen herübergedrungen, des Inhalts: der deutsche Handel verdanke seine
hervorragenden Erfolge nicht zum letzten seiner wissenschaftlich begründeten
Organisation; für andere Gebiete, wie z. B. die chemische Industrie, würde ein
entsprechender Hinweis längst zu den Binsenweisheiten gehören. Aber man
höre und staune: die vielgeschmähte deutsche höhere Schule, ist von beachtens-
Werter Stelle des feindlichen Auslandes als Ideal wirksamer Geistesschulung
hingestellt worden. Man mag sich zu letzterer Auffassung stellen, wie man will.
Von unmittelbarem Belang bleibt die Nutzanwendung: könnten die Gesamt¬
ergebnisse der deutschen Schule in ihren verschiedenen Stufen und Gestalten nicht
gleichfalls erheblich gewinnen durch eine entsprechend vertiefte und planmäßige
Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlicher Theorie und Praxis?
Anfänge dazu sind bekanntlich seit langem gemacht. Wenn man von dem
Geschlecht der in deutschen Landen nie aussterbenden Nur-Theoretiker labsieht,
bewegten sich jene Ansätze — bezeichnend genug für den Geist der Zeit — bislang
ganz vorzugsweise in den Bahnen einer einseitig-exakten Psychologie. Nicht
unwahrscheinlich ist, daß dieses Teilgebiet uns später einmal Wertvolle Finger¬
zeige zur Lösung verschiedenster Einzelfragen des Unterrichts- und Erziehungs-
Wesens bieten wird. Aber nur ein gänzlich unphilosophischer Kopf kann dauernd
der Überzeugung leben, die letzten Ziele und Zwecke der Pädagogik könnten „mit
Hebeln und mit Schrauben" gefunden werden. Dazu bedarf es vielmehr ethischer,
sozialer u. a. Gesichtspunkte. Wie in der geschichtlichen Entwicklung Pädagogik
und Philosophie durch enge Bande miteinander verknüpft sind, so soll und nutz
es in Zukunft bleiben. Wegweisend für die Zukunft sollte Fichtes Wort bleiben,
daß ohne die Pädagogik „die Philosophie nie ausgedehnte Verständlichkeit, viel
weniger noch allgemeine Anwendbarkeit im Leben finden, sowie hinwiederum
ohne die Philosophie die Erziehungskunst niemals zu vollständiger Klarheit in
sich selbst gelangen kann".
Wie von vornherein kaum anders zu erwarten war, hat sich unsere deutsche
Universitätsgelehrsamkeit — bis auf wenige rühmliche Ausnahmen — dem Ein¬
tritt der Pädagogik in die Reihe ver akademischen Lehrfächer, wo nicht schroff
ablehnend, so zum mindesten mit der abwartenden Miene kühler Vornehmheit
gegenübergestellt. Von ihrem Standpunkt nicht ganz mit Unrecht: geht doch bis
im die jüngste Zeit der Glaube in ven Kreisen der philosophischen Fakultäten
zumeist dahin, daß „alle diejenigen, die sich dem Lehrfach widmen wollen,
wenigstens in Preußen, von dem Eigentümlichen dieses Berufes während ihrer
Studienzeit wie von einem Geheimnis ferngehalten werden müssen". (Eduard
Spranger.) Irre ich nicht völlig, so ist mit diesem Worte etwa der Punkt
gekennzeichnet, wo die an sich berechtigte, d. h. recht zu verstehende Losung
^Wissenschaft um der Wissenschaft willen", ins Groteske verzerrt, die Schranken
der theoretischen Vernunft überschreitet und sich dem praktischen Unsinn
erbarmungslos ausliefert. Zum Zeiche» dessen aber, daß die praktische Vernunft
in Sachen der Pädagogik selbst außerhalb der engen Fachkreise auf deutschen
Universitäten eine Stätte hat, folge ein Wort des Greifswalder Historikers
Bernheim: „In der Tat, welch ein Widersinn ist es, dem 'Studierenden das, was
sein künftiges Lebensinteresse sein soll, in der ganzen Studiengeit, die für die
Entwicklung der geistigen Persönlichkeit so maßgebend ist, gewissermaßen zu
verheimlichen!" Spranger fordert mit Nachdruck, daß Pädagogik als Berufskunde
im Studienplan eine Stelle erhalte, und daß dabei die ganze Kulturbedeutung
des Lehrens und Erziehers zur Tarstellung gelangen müsse, als Geschichte der
Pädagogik, als Jugendkunde, als Lehre von den Bildungsgütern und vom
Bildungswesen. Wir werden dem lebhaft zustimmen, aber wir müssen zudem
fordern, daß die Dozenten aller in Betracht kommenden Fächer sich der Aufgabe
bewußt seien, „den rechten Berufsgeist und das spezifische Bernfsethos zu bilden
und zu Pflegen", und daß sie daher wissen müssen, was die Anwendung ihres
Faches im Schulunterricht verlangt, vertraut sein müssen mit den Fragen und
Problemen der Praxis. Es ist ein eingebildetes Vorurteil zu meinen, darunter
leide die Wissenschaftlichkeit: im Gegenteil, sie erhält dadurch fruchtbarste An¬
regung; ich habe das in meiner Schrift: „Das akademische Studium der
Geschichtswissenschaft" 1907 für mein Fach nachgewiesen, der „Verband deutscher
Geschichtslehrer" vertritt mit der Zeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart"
diese Ansicht, und es kann in anderen Fächern nicht anders sein, weil es in der
Natur der Sache liegt. Denn Wissenschaft und Unterricht hängen innerlichst
zusammen.
Gründlicher Wandel kann -unter diesen Umständen nur geschaffen werden
durch Errichtung selbständiger pädagogischer Lehrstühle an allen Universitäten.
Die wenigen Haupt- bzw. nebenamtlichen ' akademischen Vertretungen der
Pädagogik, über die gegenwärtig das deutsche Hochschulwesen verfügt, genügen
djem Bedürfnis bei weitem nicht. Diese von berufener Seite wiederholt auf¬
gestellte Forderung bekräftigen, heißt, auf einige der häusigsten Einwände und
Bedenken eingehen, die dagegen -erhoben worden sind.
In unsrer Zeit des übertriebenen und einseitigen Spezialistentums wird
namentlich gerügt, daß die Pädagogik keine „einheitliche" Wissenschaft sei, da sie,
wie angedeutet, sehr verschiedenartigen kultur- wie naturwissenschaftlichen
Gebieten Tatsachen und Methoden entnehme; jedenfalls sei sie nicht von einem
einzelnen lehrbar. Schon Kant sah diese Schwierigkeit voraus, war indes weit
entfernt, nach Art der „Heroen von heut" falsche Schlüsse daraus zu ziehen-.
Persönliches Unvermögen des einzelnen, allen Anforderungen der Wissenschaft
gleichmäßig gerecht zu werden, ist ein anderes, und ein anderes, die Wissenschaft-
lichkeit der Pädagogik überhaupt anzweifeln. Folgefalsch weiter denkend, hat man
sich in akademischen Kreisen sogar zu der seltsamen Behauptung verstiegen, die
Pädagogik müsse -als Universttätslehrsach, um überhaupt -wirksam zu sein, eine
selbständige Fakultät für sich bilden. Dies sei bereits deswegen nötig, weil die
Einführung in die verschiedenen Lehrmethoden der Schullehrfächer, jedes für sich,
eine -gründliche fach!wissenschaftliche Ausbildung voraussetze. Dabei wird über¬
sehen, daß die Einzelheiten -der Schulmethodik der verschiedenen Fächer keines¬
wegs das Entscheidende sind. Im Gegenteil: sie sollen gerade aus den wissen¬
schaftlichen Grundlagen der ollgemeinen Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften
mit innerer Notwendigkeit hervorwachsen. Zudem ist -das Ganze des gegen¬
wärtigen schulmäßigen Unterrichts und feiner Methoden nur -ein 'verhältnismäßig
kleiner Teil dessen, was wir uns künftig unter wissenschaftlicher Pädagogik vor¬
zustellen haben.
Nach einer weitverbreiteten Ansicht soll ferner die Pädagogik „keine Wissen-
schaft. sondern eine Kunst" sein. Die Unklarheit des Denkens, die dieser Auf-
fassung zugrunde liegt, erhellt ohne weiteres, wenn wir — als berechtigten Ver-
gleich — die Kunst des Arztes oder gar die Ku-se des Malers. Musikers u, ä. in.
daneben stellen. Schließt das eine etwa das andere aus? Nein, sondern je fester
begründet die Wissenschaft bezw. die theoretische Grundlage ist, desto sicherer,
freier und erfolgreicher wird sich die eigentlich künstlerische Tätigkeit auf allen
genannten Berufsgebieten entfalten können (daß mancher tüchtige Theoretiker ein
schlechter Praktiker ist und umgekehrt, ist kein Gegenbeweis). Im Grunde steht
es mit der praktischen Pädagogik nicht wesentlich anders als mit der Kunst oder
der Technik: Theorie und Praxis haben beide ihre notwendige Stelle. Theorie
ohne Praxis ist leer-, Praxis ohne Theorie ist blind. „Die meisten Praktiker," sagt
ein hervorragend Urteilsfähiger wie Rudolf Lehmann-Posen, „sehen über die nächst-
liegenden Bedürfnisse der Praxis nicht hinaus, oder sie halten sich an einzelne
Bücher, die ihnen der Zufall in die Hand gespielt hat."
, Es würde zu weit gehen, auf die bestechenden Einwände derer einzugehen,
die in den an einzelnen höheren Schulen eingerichteten pädagogischen Seininaren
eitlen vollwertigen Ersatz für Universitäts-Ubungsschulen erblicken und folgerichtig
der Universität ausschließlich die theoretische Seite der Pädagogik zuweisen wollend.
Soviel ist unumstößlich: Soll ein Mittelpunkt für pädagogische Studien ernstester
wissenschaftlicher Art geschaffen werden, der dem Bildungs- und Erziehungswesen
ni allen Teilen zugute kommt, so kann das unter den gegebenen Verhältnissen
'or die höchste, die akademische Bildungsstätte sein. Im übrigen darf man von
einer zeitgemäßen Vertretung der pädagogischen Wissenschaft um den Universitäten,
ohne allzu optimistisch zu sein, in näherer oder fernerer Zukunft eine nicht un-
wichtige Rückwirkung gerade auch aus die Universitäten selbst erhoffen. Mehrer
sich doch seit Jahren die Stimmen derer, die unsere Hochschulen — und in deren
Bereich im besonderen die philosophischen Fakultäten — und ihre Unterrichts-
weise im großem wie im kleinen sür hochgradig reformbedürftig erklären. Ein
Blick in die von der Gesellschaft für Hochschulpädagogik herausgegebene „Zeitschrift
für Hochschulpädagogik" °) mag Zweifelnde vou der Fülle der ihrer Lösung harren-
den Probleme und den vielen offenbaren Rückständigkeiten des Hochschulwesens
überzeugen Weiterhin wird man wohl kaum fehlg-chen in der Annahme, daß eine
in wahrhaft wissenschaftlichem Geist forschende und lehrende Pädagogik den heute
meist so unerquicklichen Streit um Schul- und Erziehungsfragen mit der Zeit aus
dem Tummelplatz persönlicher Ansichten und zumeist zufälliger Erfahrungen be¬
freien und pädagogische Erörterungen gerade auch in der breiteren Öffentlichkeit
sich auf einer durchschnittlich höheren Ebene bewegen werden, als das leider bis¬
her fast durchweg der Fall war.
Besonders beachtenswert erscheint darum die von der neuen Negierung
gegenüber Vertretern der Schulfachkreise abgegebene Erklärung, man wolle sich
die Schaffung eigener pädagogischer Lehrstühle angelegen sein lassen. Wie die
Wahl der dazu Berufenen jeweils auch ausfallen mag: einer grundsätzlichen
Wandlung zum Bessern im Vergleich zu der in unserer Sache nicht immer glück¬
lich beratenen noch auch recht entschlußkrüftigen alten Leitung dürfte zum min¬
desten die Bahn geebnet sein. Nun sorge man beizeiten dcnür, daß jeder Anschein
allzuprofessoralen Nur-Thevretisierens vermieden und lebenspendendes Hinüber
und Herüber zwischen Praxis und Theorie die Mühen und Kosten, die nun ein¬
mal unvermeidlich sind, reichlich lohne. Allen denen aber, die auf diesem Gebiete
vor lauter Vorurteilen, Einwänden und Bedenken jeder Schritt vorwärts vom
Übel scheint, möge durch Tatsachen der Blick für eine unbefangene Würdigung
des nunmehr amtlich Angestrebten frei werden! —
Wahre Wissenschaft achte einzig und allein auf den Wahrspruch der Tat¬
sachen und zeige sich völlig unparteiisch im Wideistrcit der Lehrmeinungen. So
hörten wir je und je akademische Lehrer sich über daS sicherste Kennzeichen höchster
Geistesbildung äußern. Wer von diesem Standpunkt aus das Verhalten vieler
deutscher Hochschulprofessoren gegenüber unserer Frage betrachtet, wird sich sein
eigenes Urteil nach dieser Richtung bilden dürfen. Dies um so mehr, als eS
sich im vorliegenden Falle nicht um eine beliebige der unzähligen wohlgepflegten
Spezialgebiete wissenschaftlichen Unterrichts handelt; eS gilt vielmehr die Weckung,
Förderung und Pflege nationaler Kulturwerte von fast unübersehbarer Tragweite.
Ja, Kant spricht sogar von der Erziehung als „dem größten und dem schwersten
Problem, was dem Menschen kann aufgegeben werden".
„Das Theater soll keine atidere Aufgabe habe», als auf
die Veredelung des Geschmacks und der Sitte» zu wirken,"
s ist teil? Zufall, daß gerade in unseren Tagen der Ruf nach Er¬
neuerung des gesamten Kunstlebens, insbesondere nach Reform des
Theaters, lebhafter als je ertönt. Noch jedesmal sind bei großen
sozialen Krisen Propheten aufgestanden, die die hohe Kulturnnssivn
der Kunst Verkündelen. Schiller zeichnete in glühende» Farben
auf dem Hintergrunde der französischen Revolution das Bild seines
Vernunftstaates, in dem die Schönheit alle Gegensätze des menschlichen Lebens
zu harmonischer Einheit verschmilzt; nicht anders Richard Wagner, wenn er 1848
beim Neuaufbau der menschlichen Gesellschaft der lebensgestaltenden Macht der
Kunst den entscheidenden Anteil zuwies. Daß bei dieser Neugestaltung dem
Theater eine hervorragende Rolle zufallen müsse, war beiden als den geborenen
Dramatikern selbstverständlich. Denn die Schauspielkunst hat mehr als alle an¬
deren Kumte einen sozialen Charakter, keine ist von so umfassender und volks¬
tümlicher Bedeutung wie sie. Aber weder Schiller noch Wagner konnten sich
verhehlen, daß das Theater ihrer Tage weit hinter seiner Bestimmung zurückblieb.
Ein unglücklicher Stern hat von jeher über ihm gestanden und verhindert, daß
es seine kulturelle. Funktion ganz rein auswirken konnte. In den unwürdigen
Fesseln industrieller Spekulation hatte es seinen schöpferischen Wert verloren und
war herabgesunken zu einer Stätte wohlfeiler Unterhaltung. Ohne Zweifel, sollte
die Schaubühne ihre bildende Kraft und ihre nationale Bedeutung bewähren, so
mußten ihre Existenzbedingungen von Grund aus geändert werden.
Die Geschichte des deutschen Theaters zählt eine glänzende Reihe von
Namen, die diese Notwendigkeit voll erkannten. Von der Neuberin bis auf
Heinrich Laube eine leuchtende Kette viel versprechender Ansätze, momentaner
Erfolge, aber auch eine Kette bitterer Erfahrungen, zerstörter Hoffnungen. Das
Schicksal der Neuberin, deren imponierende Gestalt auch heute noch unvergessen
leb,, wurde typisch für alle folgenden Versuche willensstarker Geister, das deutsche
Theater nach dein Bilde zu formen, das sie als hohes Ideal in ihrer Brust
trugen. Sie war die erste, die unerschrocken der Geschmacksverwirrung des Publi-
kums ihre geläuterte Kunstaufsassung entgegensetzte, die im Kampf mit pedainischer
Nützlichkeitspolitik die großen naiionalen Aufgaben der Kunst im Auge behielt,
um doch zuletzt gebrochen und verbittert aus dem ungleichen Kampfe auszuscheiden.
Es ist dieselbe Enttäuschung, die später Lessing erlebte und die ihm das unwillige
Wort abnötigte: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein National-
theciter zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind!" Von der Ncuverin
und Lessing über Goethe, T>cet und Immermann bis in unsere Tage immer
wieder der Versuch, der allgemeinen Teilnahmslosigkeit und niedrigen Spelulalions-
sucht in Sachen der Kunst Herr zu werden, dem dann früher oder später
die erschreckende Erkenntnis folgte, wohin das deutsche Theater trotz cilledcm
gelangen mußte, wenn ihm der Rückhalt weitgespannter nationaler Interessen
fehlte. Selbst Goethe, unter dessen Leitung das Weimarer Theater zmeiiwcise
eine unerreichte Kulturbedeutung gewann, blieb von dieser schlimmen Erfahrung
nicht verschont.
Was die Nationalbildung verlangte, konnte nur von der Nation gleistet
Werden. Wollte man also das Theater nicht als eine leichtfertige Verguügungs-
anstalt sich selbst und der geschäftlichen Ausbeutung überlassen, wollte man in der
dramatischen .Kunst einen mächtigen Faktor zur Veredelung der menschlichen Ge-
sellichaft anerkennen, so mußte auch die Gesamtheit der Nation, die dabei dringend
beteiligt war, der Staat mußte sich der Bühne annehmen, sie schützen, fördern
und beaufsichtigen, so gut wie die anderen Bildungsstätten, Schule und Kirche.
Auch hier war es wieder Schiller, welcher zum ersten Male mit Nachdruck diesen
Gedanken betonte, der seitdem ein imnrsr wiederkehrender Programmpunkt aller
ThtiNerreformbestrebungen blieb. Gleichzeitig einsetzende Versuche, die so glücklich
begriffene Aufgabe nun auch in die Tat umzusetzen, schienen dem deutschen Theater
ganz neue zukunftsreiche Aussichten zu eröffnen. Da der Staat in Deutschland
damals keine anderen Repräsentanten besaß als seine Fürsten, so war die Ent-
scheidung in ihre Hand gelegt. Und wirtlich war es ein Fürst, der diesen be-
deuiungsvollen Schritt tat, der den höheren Staatszweck der Bühne verkündete.
Das derzeitige Neichsoberhaupt selbst, der ideal gesinnte Kaiser Joseph der Zweiie,
gab seiner Hosbühne 177L den Namen und die Grundsätze eines Nationalchwters.
Der Huf betitelt sich nur Schutz und Oberaufsicht über das Theater vor, die künst¬
lerische Verwaltung wurde ganz Künstlerhänden anvertraut, die aller Wirtschaft-
uchen Sorge bar und ohne alle Einmischung nicht kompetenter Kreise nun das
U)nen überlassene Institut seiner höchsten Bestimmung entgegenführen konnten.
Es zeugt von der tiefsten Einsicht in das Wesen der Schauspielkunst und greift
weit in die Zukunft hinaus, wenn der Kaiser die Notwendigkeit der Selbst»
regierung der Künstler so weit erkannte, daß er dem Wiener Nationaltheater nach
französischem Vorbilde eine republikanische Verfassung gab, deren Prinzipien dann
später von Dalberg in Mannheim, Schröder in Homburg u. a, aufgenommen
wurden. Vielerorts folgten die Hof- und Stadttheater dem Beispiel Josephs.
Die Natioraltheater wurden allgemein, und die Schauspielkunst nahm, geführt
von Meistern wie Ethos, Schröder, Jffland, dank ihrer gesunden Organisation
eine rasche und nationale Entwicklung
Von jeher waren die Errungenschaften der Schauspielkunst wieder in Frage
gestellt, wenn die Männer, denen sie zu danken waren, ausschieden; denn dem
Theater hatten Einrichtungen gefehlt, welche die Weiterbildung des Erworbenen
von den Persönlichkeiten unabhängig machten. Als die eigentliche Ursache des
schnellen Aufschwungs, den es jetzt genommen hatte, muß man deshalb seine
Organisation betrachten. Organisation war es, die das Theater nötig hatte; sein
weiterer gedeihlicher Fortschritt hing daher von der konsequenten Fortbildung
dessen ab, was Joseph der Zweite begonnen hatte, um die Kunst in sich selbst
ihren Schwerpunkt und die Kraft zu fortwährender Erneuerung finden zu lassen,
um sie fähig zu machen, die erreichte Entwicklung den höheren Kulturzwecken der
menschlichen Gesellschaft anzuschließen. Es galt, die erfolgreich beschrittene Reform
als höhere Notwendigkeit zu erkennen und zu behaupten. Je lebhafter sich die
Schwingen des Staatslebens regten, je einsichtsvoller sich der Staat seiner Ver¬
pflichtungen gegen die Nation erinnerte, um so mehr traten auch die Theater-
reformfragen in den Vordergrund des allgemeinen Interesses. Ein verheißungs¬
voller Schritt, der das deutsche Nationaltheater seiner höchsten Idee näher
gebracht hätte, geschah in Preußen zur Zeit seiner Erniedrigung. Angeregt von
W. v. Humboldt erging am 16. Dezember 1808 von Königsberg ein königliches
Publikandum, das das Theater den Anstalten zuzählte, die Einfluß auf die
allgemeine Bildung haben und sie deshalb gleich den Akademien der Wissenschaften
und Künste der Sektion des Ministeriums für den öffentlichen Unterricht und
Kultus unterordnete. Das Schicksal dieser Verordnung, die. wenn sie ins Leben
getreten wäre, der dramatischen Kunst ein organisches Gedeihen gewährleistet
hatte, ist bezeichnend für den weiteren Verlauf der so hoffnungsvoll begonnenen
Entwicklung. Wie so manche andere tüchtige Maßregel aus der preußischen
Neformzeit war auch die geplante künstlerische Reorganisation in dem Maße zur
Unfruchtbarkeit verurteilt, als der preußische Staat seine weitgesteckten Ziele wieder
vergaß. Schon nach zwei Jahren reihte die veränderte Bestimmung über die
Verfassung der Behörden das Theater unter die öffentlichen Anstalten „zur Be¬
quemlichkeit und zum Vergnügen"."
„Zur Bequemlichkeit und zum VergnügenI Damit war der Weg vor¬
gezeichnet, den das deutsche Theater nun wieder betrat. Daran wurde auch
dadurch nichts geändert, daß seit dem Wiener Kongreß die Fürsten Deutschlands
es für ihre gemeinsame Aufgabe hielten, in ihren Residenzen das Theater unter
ihren unmittelbaren Schutz zu stellen. Indem auch in den konstitutionell regierten
Staaten die Nation die Verfügung über das Theater dem Hofe überließ, begab
sie sich stillschweigend des Anspruchs, den sie bisher daran zu haben glaubte. Aus
dem „Nationaltheater" wurde folgerichtig das „Hoftheater", das die Grundsätze
Josephs des Zweiten wieder aufgab. Was bei der Neuordnung einzig und
allein gedieh, war in Anbetracht der hohen fürstlichen Subvention nur die
materielle Seite der Kunst. Die cnischeidcnde Tatsache aber, daß an die Spitze
der Theaterverwaltung künstlerisch nicht gebildete Hofbeamte traten, mußte den
Geist der von ihnen geleiteten Institute aufs Empfindlichste beeinträchtigen. Die
höhere geistige Mitarbeit der Nation mußte von einem Theater ausgeschlossen bleiben,
dessen Verwaltung der Nation nicht verantwortlich war. Der Intendant war
nnr dem Fürsten verantwortlich; in dem persönlichen Geschmack des Fürsten, nicht
zuletzt aber auch in dem Maße seiner Anteilnahme für das Theater lag die einzige
Garantie für den Geist der Leitung einer Anstalt, die, wie keine andere, der
Ausdruck der höheren geistigen Tätigkeit der gesamten Nation zu sein beansprucht.
Die nachteiligen Folgen traten denn auch nur zu bald in die Erscheinung. Nach
dem kurzen, überraschenden Aufblühen des deutschen Theaters stellten sich in
erhöhtem Maße alle jene Symptome einer künstlerischen Demoralisation ein, die
man soeben noch überwunden zu haben glaubte und die nun dem modernen
Theaterwesen das charakteristische Gepräge verliehen.
Die Zukunft des deutschen Theaters schien verloren, wenn nicht die Nation
sich im gegebenen Moment ihres höchsten Anrechts entsann, auf das sie in so
unverantwortlicher Weise verzichtet hatte, ihrer Rechte, die hier wie nirgends
zugleich ihre höchsten Pflichten waren. Ganz offenbar, die Lebenskraft des
deutschen Theaters stand und fiel mit dem Lebenswillen der Nation. Und eben
jetzt regte sich dieser Lebenswille, der so lange geschlummert hatte, in einer Stärke,
die keinen Zweifel darüber ließ, daß sie sich reif dünkte, ihr Schicksal selbst zu
schmieden. Die Nation schien gewillt zu sein, sich die volle, freie Beteiligung aller
ihrer geistigen und sittlichen Kräfte auf allen Lebensgebieten nicht mehr ver¬
kümmern zu lassen, sie schien auch gewillt, diese freie Beteiligung in die Organi¬
sation des Theaters miteinzuschließen. Es war deshalb von größter Tragweite,
als 1848 im Frankfurter Parlament der preußische Kultusminister von Ladenberg
den Gesetzentwurf einbrachte, „den Einfluß aller Künste aus das Volksleben in
Übereinstimmung zu setzen und zu organisieren", und wenn er zu diesem Zweck
eine öffentliche Aufforderung an Theatersachverständige erließ, ihm Vorschläge zu
unterbreiten, die geeignet seien, dem Theater eine seiner sozialen Bedeutung ent¬
sprechende Gestaltung zu geben.
Aus der großen Zahl von Schriften, die dieser Anregung ihre Entstehung
verdankten, ragt das Reformprogramm hervor, welches Eduard Devrient unter
dem Titel: „Das Nationaltheater des neuen Deutschlands" 1849 veröffentlichte.
Devrient zieht in diesem Entwurf das Fazit aus seiner Geschichte der deutschen
Schauspielkunst und kommt zu folgender Überzeugung : Die Bühne übt einen
gewaltigen Einfluß auf die Bildung der Nation aus, sie muß deshalb eine der
wichtigsten Bildungsanstalten des neuen Staates werden, überall wo die Existenz
des Theaters von dem Geschmack und den Launen des Publikums abgehangen
hat, ist die Kunst in tätlicher Gefahr gewesen, zum Handwerk herabzusinken, der
Spekulation zu dienen, sich und das Publikum zu verderben. Daher müssen alle
Haupttheater Nationaltheater werden, Staatsinstitute, dem Ministerium der Volks¬
bildung untergeordnet, mit bestimmtem Zuschuß aus den Staatskassen. Die Ver¬
fassung des Theaters muß eine künstlerische Selbstregierung durch Vertretung und
unter Vorständen sein, welche aus freiem Vertrauen gewählt und der Landes¬
regierung für das künstlerische Niveau des ihnen anvertrauten Instituts verant¬
wortlich sind. Nur durch solche Konstitution kann die künstlerische Gesinnung,
der Gesamtgeist, gekräftigt und das selbstsüchtige Sonderinteresse einzelner Talente
unterdrückt werden. Die Direktion wird stark sein, weil sie sich auf das Vertrauen
der künstlerischen Genossenschaft stützt und dem Ministerium nur die Bestätigung
des Etats bleiben darf. „Bei jedem, wenn nur irgend gesicherten, hohen oder
niedrigen Einnahmeetat ist ein Theater herzustellen, in dem der Geist lebendig ist."
Aber auch die verschiedenen Theater desselben Staates, mit Einschluß der Stadt¬
theater bis hinab zu der kleinsten Wanderbühne, dürfen nach Devrients Ansicht
Arche mehr isoliert stehen, sondern müssen in der Leitung durch das Gesamt-
uUnisterium eine organische Verbindung finden, aus welcher sich für das künstlerische
^eben der einzelnen Institute unberechenbare Vorteile ergeben.
Das sind die Hauptrichtlinien des Neformplanes, der den Vorzug hat, von
einem Manne herzurühren, der aus eigener Praxis und gründlicher Kenntnis der
putschen Theatergeschichte das Notwendige und Mögliche erkannt hatte. Seine
Vorschläge fanden denn auch in weiten Kreisen lebhaften Anklang. Die „Grenz-
Voten" mit Gustav Freytag an der Spitze erklärten sich mit allen wesentlichen
dunklen des Entwurfs einverstanden und empfahlen ihn den Regierungen dringend
zur Beachtung. Richard Wagner verteidigte ihn eifrig gegen die Angriffe von
feiten der Vertreter der Theatergewerbefreiheit. Hatte er doch selbst, von ähnlichen
Ideen erfüllt, fast gleichzeitig seinen bekannten „Entwurf zur Organisation eines
deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen" ausgearbeitet, der sich in
den prinzipiellen Gedanken ganz mit dem Devrienischen Programm deckte. Der
Verwirklichung der Reform im angedeutete» Sinne schien nichts mehr im Wege
zu stehen. Schon war es gelungen, Friedrich Wilhelm den Vierten dafür zu
gewinnen, als die einsetzende politische Reaktion mit so mancher segensreichen
Neuerung auch die beabsichtigte Theaterrcform vereitelte. Die allmählige Stagnation
des öffentlichen Lebens trieb auch das Theater wieder in die gewohnten Bahnen.
Wie ein Hohn auf das Fehlschlagen der großen nationalen Hoffnungen mochte
es erscheinen, als sich Devrient bald darauf Gelegenheit bot, die Lebenskraft seiner
viel gescholtenen „Utopie" praktisch zu erweisen. Unter dein Schutze eines hoch¬
sinnigen Fürsten gelang es ihm, seine Grundsätze zu williger Anerkennung zu
bringen und das Karlsruher Hoftheater zu einer Musterbühne und einer Hoch¬
schule des guten Geschmacks zu erheben.
Das Staatstheater ist bis auf den heutigen Tag Gedanke und Anregung
geblieben. Ein und der andere Versuch, das Projekt Devrients wieder aufzunehmen,
wie er im Zusammenhang mit der Begründung der deutschen Einheit in den siebziger
Jahren von Georg Köberle und anderen unternommen wurde, traf auf unfrucht¬
baren Boden. Als Eduard Devrient und Richard Wagner ihre Reform entwürfe
begruben, konnten sie nicht ahnen, daß siebzig Jahre später dieselbe Konstellation
sich noch einmal wiederholen würde, die sie so freudig als den Morgen einer
neuen Zeit begrüßten, und daß Ideen, für die sie so tapfer, aber sieglos gekämpft
hatten, noch einmal zu frischem Leben erwachen und von „zeitgemäßen und all¬
gemein deutschem Interesse" sein würden. Wieder und eindringlicher als je
bieten sich heute alle Kräfte und Fähigkeiten der Nation zu einem erhöhten Kultur¬
leben an, wieder soll das neue Deutschland Wirklichkeit werden. Ob dabei auch
das Nationaltheater aus seine Rechnung kommt? Wir hoffen es sehnlichst und
sind dabei mit Immermann des Glaubens, „daß die Palingenesie der deutschen
Bühne, wenn sie noch einmal erfolgen soll, keineswegs von einer zu entdeckenden neuen
Weisheit, sondern von Entschließungen moralischer Art abhängig sein möchte."
Reformen, wie die hier gemeinten, setzen auf jeden Fall ein Maß von Verständ¬
nis für nationale Kulturciufgaben voraus, das uns bis jetzt noch immer fehlt.
Wir sind heute, so wenig wie in Lessings Tagen eine Nation, die diesen Namen
führt als den Ausdruck ihrer höchsten Freiheit. Noch immer stehen weite Kreise
unseres Volkes abseits von den verantwortungsvollen Aufgaben des Gemein¬
schaftslebens. Die Kunst hat jederzeit am meisten darunter zu leiden gehabt.
Die atomistische Verfassung der modernen Gesellschaft war ihrem Gedeihen nicht
günstig. Schillers Wort, dus die Beschäftigung mit ästhetischen Problemen mehr
dem Geschmack als dem Bedürfnis seiner Zeit fremd sei, gilt auch heute noch un¬
eingeschränkt. Der Weg, den wir zu gehen haben, ist uns klar genug gezeichnet.
Wieder wird an einem entscheidenden Einschnitt der geschichtlichen Entwicklung
das Heilmittel gereicht, durch das der moderne Mensch hoffen darf, einer unheil¬
vollen Dienstbarkeit entzogen zu werden, die alle seine Lebensverhältnisse durch¬
setzt hat. Der Kunst, und nicht zum wenigsten der theatralischen Kunst, ist die
Aufgabe gewiesen, den sozialen Drang seine edelste Bedeutung erkennen zu lassen,
ihm seine wahre Richtung zu zeigen. Kunst und soziale Bewegung haben das
gleiche Ziel, den Staat der Not mit dem Vernunftstaat zu vertauschen, in dem
sich die Totalität der menschlichen Kräfte vollendet. Der Staat, der sich gründet
auf den Sieg der Nevolutivnsidee, hat, wenn er sich durchsetzen und behaupten
will, die „moralische Entschließung" zu fassen, die Kunst und ganz besonders das
Theater als moralische Anstalt in den Kreis seiner Aufgaben einzuschließen.
och jeder erinnert sich der Sensationsmeldungen aus den ersten
Tagen der deutschen Revolution, daß nämlich auch die englische
Flotte, auch das französische Heer Matrosen- und Soldatenräte
gebildet hätten, daß Fons abgesetzt sei und an der gesamten Front
Verbrüderung herrsche. Ein von Wilhelmshaven kommender
Matrose, der im übrigen den Eindruck eines besonnenen und
durchaus disziplinierten Mannes machte und sich über den mannigfachen Unfug
der frisch gebildeten Soldatenräte nicht genug entrüsten konnte, versicherte mir
am 8. November tiefernst, all diese Meldungen entsprächen den Tatsachen, sie
hätten das so mit den Engländern verabredet. Inzwischen hat sich wohl auch
der starrsinnigste Völkerverbrüderungsfanatiker überzeugen können, daß diese
Verabredungen lediglich ein von englischen Agenten schön hingestrichcner Leim
gewesen sind. Aber klüger sind wir anscheinend durch diese ' Erkenntnis doch
wieder nicht geworden. Denn jetzt gibt es wieder Idealisten in Menge, die uns
Predigen: Unterzeichnet ruhig, denn dann kommt die Weltrevolution. Die
andern sind auch drauf und dran zu revolutionieren. Und zum Beweis werden
uns dann meist wahllos und auf Grund von aus dem Zusammenhang heraus¬
gerissenen Berichterstattertelegrammen Pressestimmen vorgesetzt, die das beweisen
sollen. Der deutsche Leser, der diese zitierten Zeitungen nie auch mir gesehen
hat, geschweige, daß er über ihre Verbreitung und ihren Leserkreis etwas wüßte,
wiegt sich dann, wie er es während d^s Krieges auf Grund von Zitaten aus
englischen Pazifisten- und Oppositionsblättern getan hat, in neuen Illusionen und
hofft auf Zeiten, die dadurch besser werden sollen, daß bei den andern „etwas
Passiert."
Diese Illusion geht von der falschen Voraussetzung ans, daß in den Nachbar¬
ländern die Zensur ähnlich gehandhabt worden ist wie bei uns und also alles
schlechtweg unterdrückte, was' den leitenden Stellen nicht in den Kram paßte.
Die englische Regierung aber hat mit der Zensur ganz anders gearbeitet wie die
unsrige, sie hat eine Oppositionsagitation soweit wie möglich zu unterbinden
gesucht, im übrigen aber immer ans zwei Pferde gesetzt und rein sachliche Er¬
örterungen ohne Rücksicht aufs Ausland immer zugelassen, wenn es die Rücksicht
auf die militärische Sicherheit nur irgend gestattete. Eine englische Presseäutzcrung,
die wir gern hören, ist aber, besonders jetzt nach Aufhebung der Zensur
keinerlei Anzeichen dafür, daß es drüben schon „so schlimm steht, daß . . ."
sondern lediglich, daß man durch eine freie Diskussion das natürliche Interesse
des Engländers an der Politik wachzuhalten bestrebt ist.
Anders liegt der Fall in Frankreich. Hier herrscht nach wie vor die
rigoroseste auch unsere frühere an Tyrannei weit übertreffende Zensur, die sich
nicht nur um das Nachrichtenmaterial und Indiskretionen künunert, sondern auch
Erörterungen und Besprechungen, die der Regierung nicht passen, unnachsichtig
beschneidet oder unterdrückt. Eine wirkliche Opposition, besonders auf außer¬
politischem Gebiet ist zurzeit also in Frankreich unmöglich. Desto interessanter
ist es aber, sich einmal genauer anzusehen, was denn in Frankreich an Opposition
geduldet wird, weil es verrät, weniger welche Widerstände sich gegen die offizielle
Politik geltend machen, als vielmehr welche Widerstände die Regierung augen¬
blicklich für klug hält, zu dulden und laut werden zu lassen. Nichts lehrreicher
als von diesem Gesichtspunkte aus, die Erörterung des Friedensvertrags in der
französischen Presse zu beobachten.
Mit allen Mitteln war die Presse Frankreichs vor der Veröffentlichung der
Friedensbedingungen für einen „starken" Frieden mit allen militärischen Bürg¬
schaften für die Zukunft und völliger Wiedergutmachung aller durch den Krieg
entstandenen Schäden eingetreten. Und je mehr sich die Trunkenheit des ersten
Siegestaumels legte, je klarer die enormen Verluste, die der Krieg Frankreichs
Bevölkerung und Wirtschaftskraft gebracht hatte, hervortraten, je mehr Einzelheiten
über die Wüstenei der Kampfzone, über die beabsichtigten neuen Steuergesetze,
über wirtschaftliche Ambitionen der Engländer und Amerikaner bekannt wurden,
je deutlicher, kurz gesagt, die Erkenntnis wurde, daß dieser Ententesieg, für Frank¬
reich allein genommen, ein Pyrrhussieg geworden war, desto energischer trat die
Notwendigkeit hervor, für Frankreich zu retten, was irgend zu retten war. Man
wollte nicht nur gesiegt haben, sondern der Sieg sollte auch speziell für Frankreich
auf die Dauer sichergestellt werden und möglichst wenig kosten. Eine Regierung,
die ohne solchen Frieden von der Konferenz käme, würde vom allgemeinen Un¬
willen des ganzen Landes ohne weiteres weggefegt werden, und der durch
Besichtigungsfahrten in die befreiten Gebiete, durch Veröffentlichung der Annexions¬
programme deutscher Politiker und Wirtschaftsverbände, durch den lange wider¬
willig ertragenen wirtschaftlichen Druck und durch die drohenden neuen Steuer¬
kasten ständig wachgehaltene Haß gegen Deutschland hat, wie man aus den
Schilderungen von der Ankunft der deutschen Friedensdelegation entnehmen kann,
noch nichts von seiner Schärfe eingebüßt.
In diese Stimmung nun siel die Veröffentlichung des Friedensvertrages.
Es war klar, daß dabei von Regierungsseite der Eindruck angestrebt werden
mußte, als brächte er Frankreich alles, was es sich gerechter- und vernünftiger¬
weise wünschen konnte. Tatsächlich äußerten sich denn in den ersten Tagen auch
die großen Boulevardblätter befriedigt. Aber in den Kreisen der Parlamentarier
und Sachverständigen muß rasch eine gewisse Enttäuschung laut geworden sein,
denn sehr bald fügte man tröstend hinzu: wen etwa der Vertrag nicht voll
befriedige, der möchte nur bedenken, daß er in dieser Form ja nur Gültigkeit
hätte, wenn Deutschland alle Bedingungen restlos und ständig erfülle, und daß
er sich leicht verschärfen ließe, wenn das nicht der Fall sein sollte. Aus andern
Stimmen gewann man dann den Eindruck, als ob der Vertrag allerdings als ein
tüchtiger Schritt vorwärts angesehen wurde, daß aber die militärischen und
finanziellen Bedingungen die Sachverständigen mit Besorgnis erfüllen und
namentlich die ausgesprochen angelsächsische Färbung des Friedens von verschiedenen
Seiten mit Mißbehagen bemerkt wurde.
Im einzelnen ist die Opposition viel stärker als man bei uns glaubt. Die
Regelung der Saarbeckenfrage wird allgemein als ungenügend, weil unklar und
nach fünfzehn Jahren mit neuen Verwicklungen drohend, besprochen. Viele Be¬
stimmungen seiet! undurchführbar, die zugesicherten Garantien lediglich vom guten
Willen Englands und Amerikas abhängig. Der Wortführer der neugegründeten
demokratischen Partei schreibt, der Vertrag rechtfertige die schlimmsten seit Wochen
ausgesprochenen Befürchtungen und lasse die ängstliche Überwachung durch die
Zensur begreiflich erscheinen. Er verurteile Frankreich zum finanziellen Ruin und
lasse es ohne jede reale Sicherheit. Er bedeute, schreibt „Libre Parole", ein
Unrecht gegen Frankreich. Die rechtsstehenden Chauvinistenblätter sind unwillig
darüber, daß der Friede nicht mit den deutschen Einzelstaaten geschlossen werde
und die Einheit Deutschlands bestehen lasse. Nur vereinzelt taucht dagegen die
Bemerkung auf, daß der Friede doch immerhin mehr bringe, als man vor
einem Jahr zu hoffen gewagt hätte.
Der allgemeine Eindruck ist also der, daß der Friede im einzelnen den an
ihn gestellten Anforderungen nicht entspricht. Man muß sich, um dies verstehen
zu können, nur einmal vergegenwärtigen, was man in Frankreich unter einem
„gerechten" Frieden versteht. Jeder Franzose, die Sozialisten nicht ausgenommen,
ist fest davon überzeugt, daß dieser Krieg Frankreich aufgezwungen wurde und
wird in dieser Überzeugung, sofern das nötig sein sollte, noch allwöchentlich min¬
destens einmal durch entsprechende Artikel der Presse der deutschen Unabhängigen,
die bereitwillig abgedruckt wird, bestärkt. Es scheint ihm also nur recht und
billig, wenn ihm jeder Kriegsschäden und Verlust restlos ersetzt wird. Ob und
wieweit Deutschland darunter leidet, ist ihm völlig gleichgültig. Da Deutschland
ja nach seiner Meinung den Krieg angefangen hat, ist es nur gerecht, wenn es
die Konsequenzen auf sich nehmen nutz. Aus diesem Grunde macht er sich auch
keinerlei Gedanken darüber, ob der Friede mit den Wilsonschen Punkten vereinbar
ist oder nicht, oder wenn er es tut, wie etwa Heros in der „Victoire", so behilft
er sich mit Sophismen wie, die deutschen Kolonien seien ja von Fremdvölkern
bewohnt und keine Auswanderungskolonien, und wenn es, wie „Progrös de Lyon"
schreibt, vielleicht ratsamer gewesen wäre, sich auf die Ausbeutung der Saarbergwerke
zu beschränken, so sei ja eine zwangsweise Annexion der Bevölkerung auch keines¬
wegs beabsichtigt.
Und die Sozialistenpresse? Wird sie nicht aufstehen wie ein Mann und
gegen diese Verdrehung der Wilsonschen Punkte protestieren? Ach nein. Wohl
gibt die „Humcmitö", die nebenbei bemerkt, kaum mehr als 120000 Leser hat.
während die Boulevardblätter in Millionen von Exemplaren verbreitet sind, ihrer
Enttäuschung über Wilsons Zurückweichen Ausdruck, aber sie tut das in sehr zahmer,
fast akademischer Weise, sozusagen anstandshalber und der Parteipolitik zuliebe, und
wenn sie gegen die finanziellen oder territorialen Bestimmungen des Vertrages
opponiert, so geschieht das nur, weil sie darin den Keim zu grotzer Enttäuschung im
Innern und zu neuen Verwicklungen nach außen, nicht weil sie darin eine Ungerechtig¬
keit erblickt. Wenn sich in Frankreich sozialistische Stimmen gegen den Vertrag erheben,
so tun sie es überhaupt nicht um der Weltgerechtigkeit willen, sondern um gegen
ihren eigenen Militarismus und Kapitalismus Opposition zu machen. Denn das
weiß auch der französische Arbeiter, datz es besser ist, von Deutschland so viel
herauszupressen wie irgend mit einer weitsichtigen Politik vereinbar ist, als selber
in irgendeiner Weise einen Teil der Kriegslasten übernehmen zu müssen. Und
was z. B. Elsaß-Lothringen betrifft, so ist nach „Humcmits" das ganze französische
Proletariat darin einig, daß „das Verbrechen von 1871" wieder gutgemacht
werden muß. Einzig der „Populaire" und der „Populaire du Centre" erheben mutig
und kräftig ihre Stimmen gegen die Vergewaltigung des Rechts, die dieser Friede
bringt. Aber der „Populaire" ist ein ganz kleines Blatt ohne Einfluß und Ver-
breitung und „Populaire du Centre" ist lediglich ein Informationsblatt für organisierte
Arbeiter. „Populaire" spricht auch keineswegs aus Deutschfreundlichkeit so, ein der-
artiges Blatt wäre in Frankreich heute schon nach drei Tagen unmöglich, sondern
aus Humanität und um einer ehrlich angestrebten abstrakten Gerechtigkeit willen,
und wir erweisen ihm einen schlechten Dienst, wenn wir ihn durch fortwährendes
Zitieren den eigenen Lcmdsleuieu verdächtig machen; die äußerste Linke gilt sowieso
schönem Frankreich als deutschfreundlich und bolschewistisch. Gerade deshalb
aber werden ihre Äußerungen offenbar geduldet, nicht als ob die hinter ihnen
stehenden Kreise zu mächtig wären, sondern weil Clemenceau jeden Gedanken
daran, daß der Friede etwa gewalttätig sei, durch den von der gesamten übrigen
Presse denn auch eifrig gehandhabten Hinweis ans diese wenigen Verworfenen
und Abtrünnigen verdächtig machen und entkräftigen kann.«
Die Hauptfrage der Presse aber lautet gegenwärtig: „SiMercmt-ils?
Werden sie unterzeichnen? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß
diese Frage nicht ohne Unbehagen aufgeworfen wird. Die in der deutschen Presse
zutage getretene Entrüstung über den Friedensvertrag hält man freilich für leere
Komödie (Revanchedrohnngen benutzt man zur Befestigung der eigenen Forde¬
rungen nach größter militärischer Sicherheit I), aber so ganz sicher, wie man sich
geben möchte, ist man offenbar nicht, und daß neben der Drohung mit Ver¬
schärfung der Blockade die Forderung sofortigen Einrückens nur vereinzelt erhoben
wird, deutet darauf hin, daß man an eine Verlängerung des NbergangSzustcmdes
nur ungern, an eine Wiedermobilmachung aber nur mit Schrecken denkt. Darüber,
daß beim wirklichen Scheitern der Verhandlungen die Ententetruppen sofort weiter
einrücken, kann kein Zweifel bestehen. Die Frage drüben ist nur, ob man sich
stark genug fühlt, die mit einer Remobilisierung verbundene Abkühlung des
SiegeswillenS aus sich zu nehmen. Wie wenig dabei aber aus die Einwirkung
der Internationalen zu rechnen ist, geht aus der Äußerung Roziers in „France
libre" vom s. Mai hervor, daß die rauhe Wirklichkeit die Notwendigkeit, gewisse
politische und soziale Bedingungen zu verwirklichen, damit das internationalistische
Ideal gedeihen könne, erwiesen habe. Kein Sozialist könnte vergessen, daß die
französischen Arbeiterklassen in dem bevorstehenden Frieden die Sicherheiten ihrer
freien Entwicklung und die Möglichkeiten sozialer Umwandlung finden müßten,
welche die Doppellast des Militarismus und der Steuern ihr für lange Zeit noch
Nach
Zeitungsberichten hat man in Bayern
nunmehr die Abschaffung des Adelstitels be¬
schlossen und zwar, wie der Bericht hinzufügt,
binnen 23 Sekunden.
Mag diese Zeitspanne wirklich genau zu¬
treffen oder nicht: auf alle Fälle zeigt sich,
wie wenig Nachdenken man sich um die
Existenz einer Institution gemacht, die in
ihren Grundlagen älter ist als der bayerische
Staat und die diesen zum Teil mitbegründet
hat. Da sich indes trotz aller Mängel des
Verfahrens aus dem Beschlusse Folgen
ergeben werden, die nicht nur für Bayern,
sondern als erster Praktischer Schritt in solcher
Richtung auch für das ganze Reich Bedeutung
gewinnen können, so scheint es angezeigt, sich
mit seiner Rechtsmäßigkeit und Rechtsbestän¬
digkeit zu befassen.
Bekanntlich zerfällt der Adel nach seiner
Entstehung in Uradel, Briefadel und Per¬
sönlichen Adel, in Reichs- und Landesadel.
Gleichviel welchen Ursprungs, ist seine Existenz
als die eines wohlerworbenen subjektiv per¬
sönlichen Rechtes jedes Inhabers unbestritten.
Die aus ihm fließenden Rechte sind ent¬
weder rein politischer oder individueller Natur.
Die ersteren, z. B. besondere Gerichtsbarkeit,
Fideikommisrechte oder dergl., können, soweit
heutzutage überhaupt noch vorhanden, vom
Staate bei berechtigten Gründen in ver¬
fassungsmäßiger Form ohne Gewähr einer
Entschädigung aufgehoben werden. Insoweit
kann der Beschluß Bayerns also, falls ge¬
nügend begründet, rechtsbeständig sein.
Insoweit jedoch die Adelsvorrechte in
erster Linie dem Individuum als solchem
zugute kommen, also ihni einen aus histo¬
rischer Tradition geborenen gesellschaftlichen
Rang geben, kann der Staat sie nur dann
entziehen, wenn dies aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt unumgänglich ist. Daß
dies hier der Fall wäre, wird kein klar
denkender, von Parteileidenschaft freier Mensch
behaupten können; denn weder haben die
geringen Schutzmaßnahmen, die der Staat
in öffentlichem oder privatem Rechte zugunsten
der Adelstitulatur zu treffen hatte, diesen
jemals übermäßig in Anspruch genommen,
noch hat die bloße Titulatur in der ganzen
Weltgeschichte irgendeinem Staate Schaden
zugefügt, und Politische Einflüsse aristokratischer
Natur werden mit der Abschaffung des Titels
überhaupt nicht getroffen. Auch ist es zweifel¬
haft, ob überhaupt ein Staat originäre oder
von fremden Quellen, z. B. dem alten Deut¬
schen Reiche, abgeleitete und von ihm selbst
anerkannte Rechte einseitig aufheben darf.
Übrigens ist es nicht ganz uninteressant, bei
dieser Gelegenheit an die Worte Napoleons des
Ersten, also immerhin eines der Zuneigung
zur Aristokratie unverdächtigen und außerdem
nicht ganz unerfahrenen Staatsmannes, zu
erinnern: „Der Staat ohne Aristokratie ist
ein Schiff ohne Steuer, ein Luftballon von
den Winden geschaukelt. . . . Die vernünftige
Demokratie begnügt sich, für alle die Gleich¬
heit des Strebens und die Erreichbarkeit des
Zieles zu erhalten." eleven. cle Se. Usk. l.us
Lases V S6. — Bekanntlich versuchte Na-
Poleon selbst noch kurz vor seinem Sturze
eine Rekonstruktion des durch die Revolution
dezimierten Adels. Auch das Urteil eines
modernen Staatsrechtslehrers, eines geborenen
Republikaners und Jahrzehnte hindurch einer
Zierde gerade der Münchener Universität, sei
hier erwähnt: „Die demokratische Einseitigkeit
sieht nur die Gleichheit und gefährdet die
Freiheit, indem sie die Mannigfaltigkeit er¬
drückt und jede höhere Kultur, indem sie die
Auszeichnung als unerlaubte Ungleichheit mit
ihrem Neide und ihrem Hasse verfolgt".
lBluntschli Politik S. 68.)
Wenn man aber trotz allem die rechtlichen
Voraussetzungen als vorhanden ansehen will,
so gibt jede Aufhebung von Jndividualrechten
den Anspruch auf angemessene Entschädigung.
In welcher Weise nun soll man Tradition
und gesellschaftlichen Rang entschädigen?
Wenn in Geld, nach welchem Maßstabe soll
man einschätzen? In welcher Höhe ent¬
schädigen? Wo soll heutzutage das Geld
herkommen?
Aus alledem folgt, daß eine Auf¬
hebung von Adelstitulaturen durch Staatsakt
ebenso unberechtigt wie undurchführbar ist.
Über die Persönlichen Rechte der Individuen
"kann sich der Staat nicht hinwegsetzen. Der
moderne Staat und gar die Demokratie
wissen nichts von einer absoluten Staats¬
gewalt. Eine schrankenlose Souveränität ver¬
trägt sich vor allem in der sozialen Republik
uicht mit der Persönlichen Freiheit des Staats¬
bürgers; selbst dem Staate als Ganzem
kommt solche Allmacht nicht zu.
Sollte der Staat trotzdem versuchen, seinen
Willen mit Gewalt durchzusetzen, so müssen
die Gerichte die Betroffenen schützen. Sie
haben das Recht und die Pflicht, formell zu
prüfen, ob überhaupt ein gültiges, also ver¬
fassungsmäßig entstandenes Gesetz vorhanden
ist und, falls sie diese Frage bejahen, materiell
festzustellen, ob das Gesetz mit der Landes¬
und Reichsverfassung sowie der Reichsgesetz¬
gebung und mit den wohlerworbenen und
unverletzlichen Rechten der Staatsbürger im
Einklang steht. Fehlt es auch nur an einer
dieser Voraussetzungen, so haben sie dem
Gesetze die Anerkennung zu versagen und
eine Vollziehung zu verhindern.
Es wird sich nun zeigen, ob die bayerischen
Richter den Mut und die Kraft haben wer¬
den, auch in sturmbewegter Zeit das Steuer
der immanenten Gerechtigkeit festzuhalten und
ohne Furcht auch vor der staatlich geheiligten
Straße den geraden Weg ihrer inneren
Überzeugung zu gehen, „niemand zu Lieb'
und niemand zu Leide, streng nach Recht
und Gesetz, wie es einem voetor Zuris
Unter dieser Überschrift spricht Herr Dr. Mar
Hildebert Bochen in Ur. 17 „Der Grenz¬
boten" vom 23. April 1919 dem Bürgerrats¬
gedanken jede Berechtigung ab. Wenn man
sich auf den Standpunkt des Verfassers stellt
und mit ihm davon ausgeht, daß die Bürger¬
ratsbewegung lediglich eine Zusammenfassung
des „Bürgertums im alten Sinne des Wortes"
zum Kampf gegen die nach oben drängenden
Arbeitermassen bedeute, so würden die Schlu߬
folgerungen des Herri> Bochen richtig sein.
Es würde dann in der Tat die Bürgerrats¬
bewegung nichts weiter sein als „Reaktion"
im treffendsten Sinne des Wortes.
Aber die Voraussetzungen des Herr»
Dr. Bochen sind falsch, und damit zerfallen
seine Schlußfolgerungen logischerweise von
selbst.
Die Bürgerratsbewegung hat nicht die
von Herrn Dr. Bochen ihr unterstellten Zwecke
und Ziele, sondern sie stellt nur die Zu¬
sammenfassung derjenigen Teile des Volkes
dar, die Prinzipiell auf der Basis indivi¬
dualistischer Wirtschaftsanschauung stehen
gegenüber denjenigen Teilen des Volkes,
welche durch Phrasen und Versprechungen
benebelt, das wirtschaftliche Heil in der
Durchführung des Programmatischen
Sozialismus erblicken. Das Wort „pro¬
grammatisch" hierbei ausdrücklich unter¬
strichen, denn Individualismus und Sozia¬
lismus an und für sich sind keine unüber¬
brückbaren Gegensätze, sondern es lassen sich
zwischen beiden Brücken bauen, aber In¬
dividualismus und programmatischer Sozia¬
lismus bleiben unüberbrückbare Gegensätze,
und die Existenz des einen muß die des
anderen ausschließen.
ES soll hier nicht untersucht werden, wo
die Brücken zwischen Individualismus und
Sozialismus liegen, das sind Aufgaben, die
an anderer Stelle gelöst werden müssen und
gelöst werden sollen. Es soll hier nur die
Berechtigung des Kernes der Bürgerrats¬
bewegung kurz nachgewiesen werden.
Der Name „Bürgerrat" hat mit der Sache
und den Aufgaben nichts zu tun, er ist ledig¬
lich rein mechanisch, äußerlich entstanden da¬
durch, daß Arbeiter-Vereinigungen, Soldaten-
Bereinigungen usw. sich ebenfalls den Namen
„Rat" beigelegt haben. Von dem Stand-
Punkt wirklicher Leistungs- und wirklicher
Arbeits-Aufgaben gesehen, ist das Wort „Rat"
sowohl bei der einen wie bei der anderen
Kategorie nicht vertretbar. Es ist eben eine
dem vulgären Sprachgebrauch des Volles
entliehene Nevolutionsbezeichnung. Man
könnte ebensowohl die einzelnen korporativen
Zusammenfassungen mit „Ausschüssen" oder
mit dem Worte „Bund" bezeichnen.
Die Ausführungen, durch die der Herr
Vorsitzende des Bürgerats von Groß-Berlin
meine kritischen Einwendungen gegen den
Bürgerratsgedanken entkräften zu können
glaubt, sind in mehrfacher Hinsicht überaus
aufhellend. So ist es entschieden ein wert¬
volles Eingeständnis, daß von autorisierter
Seite zugegeben wird, der Name „Bürger¬
rat" ginge auf rein mechanischen Ursprung
zurück. Besser als damit hätte gar nicht be¬
kräftigt werden können, daß die Bewegung
reaktionären Charakter trägt, da sie noch nicht
einmal zum Verständnis und zur Würdigung
des Rätegedankens als solchen vorgeschritten
ist. Und wenn als gleichwertige Ersatzbezeich¬
nungen „Ausschuß" und „Bund", Gebilde
also, vorgeschlagen worden, die formal in
durchaus verschiedener Ebene liegen, so ist
damit der ungewollte Beweis erbracht, daß
leitende Stellen der Bürgcrratsbewegung sich
über die grundlegenden, formal-organisatori¬
schen Probleme der Zeit in bedauerlicher Un¬
kenntnis befinden.
Aber auch die Wendung gegen den „Pro¬
grammatischen", will sagen Parteisozialismus,
die nicht im Namen einer anderen Partei,
sondern im Namen einer Standesorganisation
vollzogen wird, widerlegt nicht, sondern be¬
gründet vielmehr meine Anschauung, wonach
die Bürgerratsbewegung eine organisatorische
Sackgasse darstellt. Die Abgrenzung, die
hiermit dem Bürgertum zuteil wird, ist
künstlich erklügelt und unhaltbar. Bürgertum
war, ist und bleibt bis zu einem gewissen
Grade etwas völlig anderes als die geschlossene
Gegnerschaft des „Programmatischen Sozialis¬
mus". Ein „Bürgerrat" aber, der es weder
mit Bürgern zu tun hat, noch selber ein Rat
ist, ist offenbar ein Monstrum und kein lebens¬
fähiges, zukunftSIrächtiges Gebilde.
Allen Manuskripte« ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werde» kann.
s ist der Fehler Wilsons, und es war der aller Weltbeglücker vor
ihm, daß sie glaubten, sie könnten einen politischen Zustand von
ewiger Dauer schaffen. So vom grünen Tisch her. Wir hören das
Lied vom ewigen Frieden ja nicht zum ersten Mal aus dem
diplomatischen Instrument, das Wilson seine Völkerbundsakte nennt.
_ Dieselbe Melodie klingt ebenso aus dem Friedensvertrag, der in
Münster und Osnabrück geschlossen wurde. Sie tönt aus der Urkunde, die
Alexander der Erste die „heilige Allianz" nennen ließ. Fragt man aber, wie lange die
Ewigkeit solcher heilig gesprochener Verträge und Bündnisse dauert, so erstreckt sie
sich meist noch nicht über ein Menschenalter. Der westfälische Friede fing schon
Nach 20 Jahren in Aachen an zu zerbröckeln und setzte seinen Auflösungsprozeß
ur zehnjährigen Perioden zu Nimwegen und Rijswyk fort, bis er in Utrecht und
-nastatt gänzlich in die Brüche ging und einem neuen Zustand in der West- und
mitteleuropäischen Staatengesellschaft Platz machte. Auch dieser Stand der Dinge
hu'le keine 40 Jahre und zerrieb sich in den friderizianischen Kriegen, bis sich die
gesamteuropäische Welt mit dem Hubertusburger Vertrage wiederum auf die
Hoffnung auf einen ewigen Frieden einrichtete; eine Hoffnung, die in -Kants
Schrift ihren klassischen Ausdruck fand zu einer Zeit, als schon die politische
Ordnung unseres Erdteils unter den Schlägen der französischen Revolution
erzitterte. Unter den Stößen der napoleonischen Siege ging diese Ordnung völlig
Ul die Brüche, um erst auf dem Wiener Kongreß notdürftig wieder zusammen¬
geflickt zu werden. Die Flickarbeit hielt rund 40 bis 60 Jahre; aber schon um
°le zwanziger Jahre rüttelten die Aufstände in Spanien, in Italien und in
Griechenland an ihrem Bestand. Schlimmer noch zerrten an ihr die Juli- und
die März-Revolutionen und stellten ihre Dauerhaftigkeit auf die Probe, bis dann
i"e außenpolitischen Revolutionäre Cavour und Bismarck in mächtigen Hieben
das Wiener Kongreßwerk in Trümmer schlugen und auf diesen ihren National¬
staaten den Raum zur Entfaltung gaben. Die nationale Idee, der sie für Mittel-
Europa die Form durch die Errichtung des italienischen Einheitsstaates und des
putschen Reiches gegeben hatten, setzte ihre Bewegung nach dem Osten fort und
flackerte hier in den Aufständen und Kriegen am Balkan auf, ohne zu einer end¬
gültigen Lösung der slawischen Frage zu führen. Der Berliner Kongreß schuf
H^ar aufs neue eine europäische Staatengesellschaft, aber er schob die endgültige
Antwort auf die nationale Problemstellung im Orient beiseite. Die europäische
^ete hat seit ihrer Neuordnung in Berlin sast 30 Jahre Frieden gehabt, aber
nur einen Frieden, der von fortwährenden Unruhen und Kleinkriegen am
Balkan durchzittert war. Der Slciwismus vermochte den in Berlin geschaffenen
Status als ewigen Zustand der europäischen Staatengesellschaft nicht anzuerkennen,
ebensowenig wie sich Italien mit der 1866 erreichten Abgrenzung seines Staats¬
gebietes und Frankreich mit der 1371 getroffenen Regelung zufrieden gab. Am
I.August 1914 sank die europäische Staatengesellschaft in den Abgrund, wo sie
zerschmettert liegen blieb. Der Verlauf des Weltkrieges stellte den Kriegführenden
dann die Aufgabe, neben der Errichtung neuer Nationalstaaten und der Neu-
abgrcnzung der bisherigen auf dem alten Kulturboden unseres Festlandes darüber
hinaus einen Weltstaatenbund zu schaffen. Die alliierten und assoziierten Mächte
glauben die erste Aufgabe, die der Neuordnung Europas, in dem Versailler
Friedenswerk, Wilson die zweite in dem von ihm betreuten Völkerbund erfüllt
zu haben.
Aber sieht man sich nun den Verscüller Friedensvertrag und den Völkerbund,
den der Präsident der Vereinigten Staaten bevormundet, an, so muß selbst ein
Neutraler, auch wenn er während des Krieges mit unseren Gegnern svnnpathiiicrt
hat, zugeben, das; von dem Gedanken in keiner Weise die Rede ist, der normaler¬
weise einem Knege folgen soll, dem Gedanken der Staatenvergcsellschaftung. Wenn
sonst zwei Parteien die Feindseligkeiten beendeten, so taten sie es doch, um wieder
gemeinsam auf neuem Vertragsboden zusammenzuarbeiten. Eine für unsere
Generation unvergeßliche Ausnahme machten die Franzosen, indem sie 1871 den
Frankfurter Frieden mit dem Vorbehalt der Revanche schlössen; eine zweite der
Panslawismus, der vom Berliner Kongreß unbefriedigt mit dnn Wunsch nach
Rache zurückkehrte; eine letzte die Bulgaren, die nach dem Bnkarester Frieden 191^
ihre Fahnen mit der Hoffnung aus den Tag der Vergeltung zusammenrollten.
Der jetzige Versailler Friede aber bedeutet die Ausnutzung zufälliger und augen¬
blicklicher llberlegenh(itsmomente, durch die die Franzosen uns Deutsche sich in
respektvoller Ferne vom Leibe halten wollen. Und der Wilsonsche Völkerbund
enthält nicht den Zusammenschluß aller Nationen, sondern die Gegenübetstellung
einer Herrenorganisation und eines zusammenhanglosen Hansens geknechteter
Staaten. Man hat den Vismarckschen Friedensschlüssen, die doch ausdrücklich die
Wiederaufnahme des Verkehrs zwischen Gleichberechtigten, wie der von Nikolsburg
sogar die Freundschaft und das Bündnis mit dein Besiegten im Auge hatten,
vorgeworfen, daß sie das Macktmoment ausgenutzt hätten. Man wird den
sogenannten Friedensverträgen des Dreigestirns Clemenceau, Lloyd George und
Wilson mit mehr Recht den gleichen Vorwurf machen müssen. Entweder also:
die heutige Welt, soweit sie von ein paar Diktatoren regiert wird, hat aus den
Erfahrungen eines äVzjährigen Krieges immer noch nichts gelernt, oder es ist
überhaupt nicht möglich, die Staatenpolitik von dem Gesetz des Machtgedankcns
zu befreien.
Oder — und das scheint mir das richtige zu sein — der nationale Macht¬
wille ist nicht umzubringen; aber er wird und muß beeinflußt werden von der
Theorie und Praxis des Zusammenschlusses der Völker.
Daß Wilson das Verhältnis dieser beiden Gedanken nicht gefunden und
nicht durch einen vernunftgemäßen Friedensvertrag auszudrücken verstanden hat,
das bleibt die ungeheure Schuld dieses Mannes, der sich die Aufgabe zugetraut
hat, Richter zwischen der alten und der neuen Welt zu werden. Sein Ruhm geht
an dieser Unfähigkeit, ein von ihm verkündetes Ideal zu verwirklichen, elend
zugrunde.
So müssen wir nach dem Scheitern der Wilsonschen Absicht, einen dauernden
Frieden für die gesamte Welt zu errichten, zu dem Gedanken zurückkehren, ein
Verhältnis zwischen dem Nationalitntsprinzip und dem Bestreben nach Ver¬
gesellschaftung der Staaten zu finden, das für eine Reihe von Jahren Dauer
verspricht. Ein Ewigkeitsgesctz, wie es Wilson durch seinen Völkerbund zu
stabilisieren versucht, gibt es nicht. Also schließen wir Kompromisse ans Zeit.
Und welcher Art sind diese Kompromisse?
Wilsons Völkerliga geht von dem staatspolitischen Gedanken aus. Der
Präsident der Vereinigten Staaten spricht zwar dauernd von dem Selbst-
bestimmungsrecht der Nationen. In der Tat aber läßt er die Nationalidee ver¬
kümmern. Nicht nur dadurch, daß er ganz einseitig bestimmte Völkerschaften, die
seinem Herzen nahe zu stehen scheinen, allein mit dem Selbstbestimmungsrecht
begnadet, es uns aber vorenthält, sondern auch dadurch, daß er den Friedens¬
vertrag und den Völkerbund ganz einseitig als Schußwaffe oder als Machtmittel
ihm befreundeter Staaten hat ausgestalten lassen. Es ist der staatliche Egoismus,
der überall unter Wilsons Segen da üppig ins Kraut schießt, wo Wilsons Staat
und dessen Schutzgenossen stehen. Es kommt dem Begründer des Völkerbundes
in der Tat nicht darauf an, daß die Gemeinschaft aller Erdvölker den Organismus
gefunden hat, durch den sie sich nach dem ihr innewohnenden Gesetz entfalten
kann, sondern daß die Völkergemeinschaft einer beschränkten Staatengruppe als
Mittel dienen muß, durch daß sich diese in ihrer beherrschenden Stellung behaupten
will. Diese stamsegoistische Politik, die dem Gedanken der Völkergemeinschaft
widerstreitet, ist der Wurm, der schließlich die Wilsonsche Völkerliga aushöhlen wird.
Wir haben auf beschränktem Raum schon einmal und zwar auf deutscher
Erde ähnliches erlebt: als der deutsche Staciteubuud auf dein Wiener Kongreß
gegründet wurde. Der deutsche Bund von Anno 1815 sollte nach Metteniichs
und seiner Interessengenossen Wunsch nicht die wirkliche Einigung der deutschen
Stämme bringen, sondern Österreich das Instrument liefern, durch das es sich
über die Grenzen des habsburgischen Staates hinaus als die Vormacht in Deutsch¬
land behauptete. Die Wiener Politik hat auf die Dauer diese Absicht nicht durch¬
setzen können. Es bildete sich unter preußischer Grundlage auf deutschem Boden
ein wirtschaftlicher Zusammenschluß der deutschen Stammesstaaten, und während
.der österreichische Staatsegoismus den deutschen Bund hinderte, zu einem wirk¬
lichen Bundesstaat zu werden, und so sein Dasein unterwühlte, bereitete der
deutsche Zollverein langsam die Einigung der Einzelstaaten zum Deutschen
Reiche vor.
Ein ähnlicher Prozeß, so hoffe ich, wird sich im WUsonschen Völkerbund
vollziehen. Allerdings verkennt der Versailler Friedensvertrag keineswegs die Be¬
deutung der Macht, die die wirtschaftlichem Beziehungen der Völker zueinander
besitzen Im Gegenteil, der Versailler Vertrag sieht eine Unmenge Bestimmungen
vor, die .Verkehrs- und Wirtschaftsverhältnisse regeln sollen. Er stellt die mittel¬
europäischen Stromsystcme unter internationale Kontrolle; er nimmt uns unsere
Handelsflotte: er errichtet eine dauernde Finanzbevonnundung- er raubt uns
unsere .Kabel-, er hindert uns in der Entwicklung des Luftverkehrs usw. Aber
wie schon diese kurze Aufzählung beweist, der Versailler Friede ist nicht Verkehrs-
entwickelnd, sondern verkehrshemmend. Und hier liegt die Todsünde wider den
Geist des Völkerbundgedankens.
Oder ist es nicht eine Ungeheuerlichkeit, die allein modernen Empfinden
widerstreitet, wenn uns auf einem großen Flächenraum die Einrichtung von
Landplätzen für Flugzeuge und Luftschiffe untersagt wird? Ist es denkbar, daß
ein derartiges Verbot gehalten werden kaun in einer Zeit, die gerade mit den
Mitteln des Luftverkehrs alle staatlichen Grenzen überfliegt? Dampf, Elektrizität
und Gas sind die Kraft, die auf Geleisen, zu Wasser und durch den Himmelsraum
Fahrzeuge von immer wachsender Größe durch den engen Raum tragen und die
Etaatengrenzen beständig näher zusammenrücken. Es ist ein Wahnsinn, ein oder
Mehrere Völker ihres Anteils an dieser Verkehrsentfaltung, an diesem Zusammen¬
rücken der Nationen berauben zu wollen. Und ebenso ist es ein Grundirrtum
SU glauben, die Entente könne auf die Dauer die Staaten, die mit ihr im Kriege
gelegen haben, durch Vertragsbestimmungen von dem Handel mit der Übersee
ausschließen.
Es ist der Verkehr, der die wahre Weltstaatengemeinschaft bildet. Wir
sehen, daß diese Kraft schon am Werke war, als es politisch nur erst eine
europäische Staatengesellschaft und jenseits des großen Wassers ein durch die
Monroedoktrin geschütztes amerikanisches Staatenshstem gab. Der Weltpostverein
war der sichtbarste Ausdruck der Kraft, mit der der Verkehr an der Herausarbeitung
der Interessengemeinschaft der Weltvölker arbeitete. Es sind mit und nach ihm
eine solche Fülle von Vertragsverhältnissen iiuernationaler Art entstanden, die der
Weltverkehr nötig gemacht hat, daß für ihre Aufzählung hier der Raum fehlt.
Wer sich genauer unterrichten will, lese in Liszts Völkerrecht nach. Auf die Be¬
deutung des Weltpostvereins als Ausgangspunkt der Weltstaatenorganisation hat
zuerst und immer wieder der Kieler Völkerrechtslehrer Niemeyer hingewiesen.
Der Verkehr ist die treibende Kraft, die sich den Organismus des Völker¬
bundes baut. Wenn heute, auch die Wilsonsche Verfassung berücksichtigt das, der
internationalen Arbeitsgesetzgebung ein bedeutender Spielraum im Rechtszustand
des Völkerbundes eingeräumt wird, so ist es doch nicht die soziale Idee, die an
der Weltstaatenordnung anbaut, sondern eS ist auch hier der Verkehr, der in
diesem Fall auf dem Spezialgebiet der sozialen Beziehungen wirkt. Er selber,
der Verkehr, bleibt die einzige Triebkraft, die die Staatengesellschaft entstehen und
sich entfalten läßt. Also gilt es, vom Verkehr auszugehen, wenn nun sür die
Weltstaatengemeinschaft die politische Form gefunden werden soll.
Es handelt sich also um die Zusammenarbeit des Verkehrs- und des
nationalstaatlichen Interesses.
Der Nationalstaat erhebt den Anspruch, daß sein Recht auf Selbstbestimmung,
auf eigene Ordnung seiner Angelegenheiten möglichst wenig beschränkt sei. Die
ständige Ausdehnung des Verkehrs hingegen bringt ihn mit immer mehr Völkern
und Staaten der Erde zusammen, auf die er Rücksicht zu nehmen hat, wenn er
überhaupt Wert darauf legt, mit ihnen in möglichst reibungslosen und daher
am meisten fruchtbringenden Verkehr zu stehen. Rücksicht aber heißt Selost-
beschränkung. Der Nationalstaat, der in den Weltverkehr eintritt und an dessen
Vorteilen teilnehmen will, muß daher erhebliche Stücke seiner Selbständigkeit
opfern. Aber nicht mehr, als für den möglichst friedlichen Verkehr und dessen
ständige Verbesserung nötig ist. Vor allem kann jeder Staat verlangen, daß dieses
Opfer ein gegenseitiges sei.
Es gilt eine Weltverkehrsorganisation umfassendster Art zu schaffen. Daß
diese dann vom wirtschaftlichen und finanziellen sowie sozialen Gebiet schließlich
auch aufs reinpolitische übergreift, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber die politische
Ordnung dieser Weltverkehrsorganisalion, die dann den Charakter einer Welt¬
staatengesellschaft erhält, ist der Schlußstein des ganzen Baues. Wilsons Völker¬
bund hingegen fängt mit der Errichtung des politischen Giebels an, weil er seinen
Ursprung von den Kriegsereignissen nimmt. Sicherlich gehört die Erfindung einer
Methode, die die Kriege möglichst verhütet, auch zu den Aufgaben einer Organi¬
sation, die den Verkehr der Weltvölker von groben Störungen freihalten will.
Aber schließlich ist der Krieg doch glücklicherweise immer noch ein Ausnahmezustand
gewesen. Wer in erster Linie an Einrichtungen denkt, die ihn sür immer unmöglich
machen sollen, zäumt das Pferd beim Schwänze auf.
Es dürfte sich also empfehlen: Für alle irgendwie internationalen Charakter
tragenden Verkehrszweige werden von allen Staaten beschickte Kommissionen ein¬
gesetzt. Diese haben allgemeine Verkehrsregeln auszuarbeiten und deren gleich¬
mäßige Beobachtung bei allen Staaten der Weltverkehrsgesellschaft zu überwachen.
Es werden also internationale Eisenbahnkommissionen. ebensolche Kommissionen für
Fluß-, Kanal- und Seeschiffahrt, für Außenhandel, für den Austausch geistiger
Güter, sür Arbeiterschutz, für internationale Rechtspflege, für den Ausbau des
Völkerrechts und zum Ausgleich zwischen staatlicher Machtgegensätze eingesetzt.
Diese Vielheit von Kommissionen entsenden Sachverständige zur Bildung eines
Weltschiedsgerichtshofes, der so für jeden Streitfall auf Grund der besten Fach-
kenntnisse ein Urteil fallen mag, das meinetwegen Zwangscharakter haben kann.
Daß hinter der Durchführung eines solchen Urteils dann auch ein Machtmittel
der Weltstaatenorganisation stehe, ist eine Naturnotwendigkeit, die sich aus dem
Charakter dieser Organisation als einer Weltvcrkehrsordnung ergibt. Dieses
Machtmittel wäre der Abbruch des internationalen Verkehrs gegen den das Urteil
nicht anerkennenden Staat. Leider wird es gegenüber einem Weltstaat versagen,
der nach seiner Ansdehmmg über alle Zonen der Erde und deshalb, weil er in
sich über alle zum Leben und zur Entfaltung seines Volkstums notwendigen
Lebensmittel, Rohstoffe und Arbeitskräfte wie Arbeitsmethoden verfügt, die Ver-
kchrsunterbrechung ohne Schaden ertragen kann.
Umgekehrt aber wird für den Staat, der durch ein Urteil in seiner nationalen
Lebensfähigkeit bedroht ist, nach wie vor der Spruch gelten: das letzte Heil, das
höchste liegt im Schwerte. Er wird dann der Hecht im Karpfenteich der Welt-
staatengesellschast sein, dessen Selbstwille eine weitere Ausgestaltung der Welt¬
staatenordnung herbeiführen wird.
cum derDeutschs heute gebeugt am Grabe seiner nationalen Hoffnungen
steht, so klagt er mit Recht nicht nur die übermächtige Gewalt der
auswärtigen Feinde an. Sie haben uns längst nicht allein zu
Boden gedrückt. Sicherlich würden sie es niemals allein vermocht
W'^-Hi^WH haben. Es ist vielmehr der innere Zwiespalt, der uns vernichtet
W^M^IÄS hat. Kein andres Volk ist so zerrissen in seiner Seele, wie unser
deutsches. Franzosen, Engländer, Italiener, Amerikaner haben ihre nationalen
Ideale, an die sie alle glauben: Kapitalisten wie Arbeiter, Gelehrte und
Bauern. Sie haben ihre großen Männer, die sie alle verehren. Wir Deutschen
aber sind in unsrer Weltanschauung, in unsern geschichtlichen und politischen
Wcrtbegriffen rettungslos gespalten, seit Jahrhunderten schon. Paul Nikolaus
Coßmcmn in den Süddeutschen Monatsheften (März 1919) geht soweit, dem
deutschen Volke angeborene nationale Perversität vorzuwerfen, für die er
bereits den byzantinischen Geschichtsschreiber Prokop (Gotenkrieg) als Zeugen
anführt. Aber auch wenn man sich dem nicht anschließen will, so muß man
doch feststellen, daß die nationalen Wertbegriffe unseres Volkes mindestens be¬
reits seit der Reformation, oder vielmehr seitdem die Reformation nicht allgemein
in Deutschland durchdrang, heillos gespalten sind. Seit Jahrhunderten wird ein
Teil unseres Volkes dazu erzogen, darin die Wurzel aller möglichen libet zu
erblicken, worin der andere eine nationale Heldentat ersten Ranges sieht. So geht
doch in der Tat das Urteil unseres Volkes über den Wittenberger Thesenanschlag
und seine Folgen auseinander. Luther ist in den Augen der Protestanten einer
der größten Deutschen aller Zeiten, während der Katholik doch allerhöchstens
seinen guten Willen zugestehen kann, sein Werk aber immer mit Trauer betrachten
muß. Seit der Kirchenspaltung ist die seelische Einheit unseres Volkes zerrissen,
seitdem geht auch unser nationaler Instinkt in der Irre. Im dreißigjährigen
Kriege erscheint Katholiken wie Protestanten der ausländische Glaubensgenosse
näher verwandt als der andersgläubige Deutsche, und so geht das Urteil aus¬
einander bis in die jüngste Zeit. Auch Bismarck kann der überzeugte Katholik
nicht leicht die Verehrung eines Nationalhelden widmen, denn er ist ja der
Verfolger der Kirche im Kulturkampf gewesen. Aber das furchtbare Unglück
unseres Volkes hat man mit dieser Erkenntnis noch lange nicht ganz umsaßt. Es
wird immer deutlicher, daß die sozialdemokratische Bewegung die deutsche Seele
Sum zweiten Male zerspalten hat, und daß auch dieser Spalt unheilbar zu werden
droht. Ist es nicht, als ob Bürgerliche und Sozialdemokraten in ganz verschiedenen
Welten wohnten, in denen ganz verschiedene Werte gelten? Was die einen
anbeten, das verbrennen die andern. Große Männer verehrt die Sozialdemokratie
auch. Aber sie tragen ganz andere Namen als unsere Helden. Unsere Geschichte
hat für sie keinen Wert. Sie möchte, daß die Kinder in der Schule eine ganz
andere Geschichte gelehrt bekommen. Auch ein gemäßigtes Blatt, wie der „Vorwärts",
redet über die Hohenzollern in einem Tone, der für uns ganz unmöglich ist.
Der Bürgerliche kann einen Mann wie Liebknecht nur in den Abgrund der Hölle
wünschen und — seien wir offenI — bringt es nicht fertig, seinen gewaltsamen
Tod zu bedauern. Der Sozialdemokrat verehrt ihn. auch wenn er seine Politik
zuletzt nicht mehr gebilligt hat. und nennt die Männer Mörder, die ihn als
flüchtigen Rebellen niedergeschossen haben. Die Kluft wird immer breiter, der
Haß immer glühender. Die Gefahr ist groß, daß auch dieser Spalt sich verewigt,
so wie die Kirchenspaltung von uns durch die Jahrhunderte weiter geschleppt
werden muß. Schon heute hört man oft von Männern, die die Arbeiter kennen,
die resignierte Klage: die werden wir nie für unsern nationalen Gedanken gewinnen.
Ist das so, dann sieht die nationale Zukunft des deutschen Volkes traurig aus.
Denn alle äußere nationale Größe und Blüte muß erst in der Seele des Volkes
vorbereitet sein. Sie kann sich nicht entfalten, wenn das Volk in seiner Welt-
und Weltanschauung, in allem, was ihm heilig ist, in seinem Glauben tief gespalien
ist. Wir haben viel geredet vom dentschen Glauben und haben deutsches Wesen
hochgepriesen. Aber die Gefahr ist groß, daß es drei Arten dentschen Glaubens
und deutschen Wesens geben wird, von denen jede den echten Ring zu beseitigen
meint. Man sehe doch endlich mal jetzt im tiefsten Elend, was ist! Die Zeit
der Phrasen ist vorbei. Man darf nicht mehr verkennen, daß es eine neue
Glanbcnsspaltung, eine Spaltung der Wertbegriffe und Weltanschauung ist, die
zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie hereinzubrechen droht, daß wir im
Begriffe sind, das nationale Unglück des sechzehnten Jahrhunderts zu wiederholen.
Setzt sie sich durch, diese Glaubensspaltung, dann wird unsere nationale Zukunft für
alle Zeiten noch mehr gelähmt, als uns einst die Gegenreformation des sechzehnten
Jahrhunderts gelähmt hat. Ich weiß nicht, ob es noch eine Rettung vor diesem
Verhängnis gibt. Sie könnte nur darin liegen, daß unsere Öffentlichkeit wenigstens
klar erkennt, wohin die Dinge treiben.
Eine Revolution ist immer für das Volkstum, das sie durchmachen muß,
eine Operation auf Leben und Tod. Es besteht eben steif die Gefahr, daß die
Seele des Volkes sich darüber spaltet. Aber die Sache kann, glücklicher ablaufen,
als es mit unserer Reformation im sechzehnten Jahrhundert gegangen ist (die
auch eine richtige Revolution war). Die große französische Revolution z. V. hat
die Nation trotz der Emigranten und trotz der Nestaurotionsversuche der Bour-
bonen nicht in der Seele gespalien. Es dürfte heute kaum uoch einen Franzosen
geben, dem die Trikolore, die Fahne der Revolution, noch ein GegenNand des
Abscheus und nicht ein Symbol der glorreichsten Nationalerinnernngen wäre. Es
dürfte auch nicht viel Leute in Frankreich geben, die den l4. Juli, den Tag des
Vastillesturmes, nicht für einen nationalen Feiertag, sondern für einen Tag der
Trauer ansehen. Ob der 9. November je Aussicht hat, einmal auch nur annähernd
verwandte Gefühle im Herzen des ganzen deutschen Volkes zu wecken? Ob nicht
die Gefahr groß ist, daß das Volk den Tag immer mit völlig gespaltener Ge-
sinnung begehen wird? Man möchte es schon als böses Omen betrachten, daß
der Gedenktag der deutschen Revolution im spätherbstlichen November liegt, statt
im sonnigen Juli, Ungefähr so groß wird der Unterschied zwischen der deutschen
und der großen französischen Revolution sein, fürchte ich, wie zwischen Juli und
Novemberl
Eine Tatsache, wie sie die Revolution nun einmal ist, kann man noch so
sihr bedauern, aber man kann sie nicht aus der Welt schaffen. Es erhebt sich
die Frage, ob auch der nichtsozialdemokratische Teil des dentschen Volkes ein
positives Verhältnis zu ihr gewinnen.kann. Wir können für die Beantwortung
dieser Frage eine kleine Broschüre zu Hilfe nehmen, die von Dr. Karl Hoffmann
erschienen ist: „Das Doppelgesicht der Revolution" (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow,
l9l9). Die Revolution ist einmal eine nationalpolitische Umwälzung und dann
die gewaltsame Erhebung der Arbeiterklasse, also die vielberufene soziale Re¬
volution. Nationalpolitisch bedeutet die Revolution einen Ansatz, den deutschen
Natioualstaatsgedanken entscheidend über die Bismcircksche Lösung hinaus zu
fördern. Der Untergang des Deutschen Reiches im Mittelalter war von innen
heraus durch die Ausbildung der territorialen Sondergewalten erfolgt. Demnach
Hütte die Erfüllung des Nationalstaatsgedankens folgerichtig gegen die territorialen
Dynastien durchgesetzt werden müssen. Die Revolution von 1848 hat daS versucht
und ist gescheitert. Durch Bismarcks unvergleichliche Staatskunst ist es vielmehr
möglich geworden, das? daS neue Deutsche Reich gerade auf dynastischer Grundlage
gebaut worden ist. Es gelang wirklich, den territorialen Monarchismus mit dem
nationalen Gedanken zu versöhnen und beide kunstreich zusammenzuschmieden.
Aber freilich war Bismarcks geniale Persönlichkeit allzusehr notwendig, um diesen
Arm zu tragen. „Gewissermaßen", sagt Hoffmann, „hat Vismarck in dem Skelett
des NeichSgefügcs eine Lücke für das Rückgrat gelassen, die nur er ausfüllen
konnte. Nach seinem Abgang stand die Lücke leer." Kaiser Wilhelm der Zweite
wollte den Platz ausfüllen, 'aber er brachte es nur dazu, daß das „persönliche
Regiment" bald eine der mächtigsten Ursachen der sogenannten Nerchsverdrvssenheit
wurde. Gerade zehn Jahre vor der Revolution, im November 1908, mühte der
Reichskanzler Fürst Bülow im Austrag des Reichstags den Kaiser bitten, seinem
Persönlichen Eingreifen in die Politik stärkere Beschränkung aufzuerlegen. Auf
dieses Ereignis hinzuweisen, unterläßt Hoffmann. Damals war bereits offenbar,
daß niemand den Plan Bismarcks im Reichsbau auszufüllen vermochte. Darum
wäre damals die rechte Zeit gewesen, den Schwerpunkt des Reiches ans der
Sphäre des dynastisch--erri!orraleu Bundes auf eine breiie demokratische Grundlage
zu rücken. Damals hätte die friedliche Revolution vollzogen werden müssen, die
un Oktober 1918 leider zu spät die Regierung des Prinzen Max anbahnte. Man
hätte damals schon versuchen müssen, möglichst auch die Sozio.idemokro.im an der
Negi^-ung zu beteiligen. Dann hätte man wahrscheinlich die furchtbare Glaubcns-
splllwng um Kriege und das satanisch gescheite Unternehmen unserer Feinde, die
Gläubigen der demokratisch, internationalen Idee in Deutschland selbst wider den
eigenen Staat zu setzen. unmöglich gemacht. Leider folgte aber auf das persönliche
Regiment 1908 nicht der Übergang zur nationalen Demokratie, sondern um deu
beherrschenden Einfluß auf die Politik des Reiches zankten sich seitdem eine
Künftige Diplomatie von sehr zweifelhaften Fähigkeiten, eine völlig in den An-
schmmngcn eines überlebten Obrigkeitsstaates befangene Bureaukratie und jene
Leute, die man gern unter dem Sammelnamen „Altdeutsche" zusammenfaßt,
hinter denen eine Anzahl rationalistischer Vereine und die großen Interessen¬
gruppen der Schwerindustrie und des Außenhandels standen. Der Zank zwischen
diesen Richtungen erreichte während des Krieges seinen Höhepunkt. Alle waren
unzulänglich, und nicht zum wenigsten deshalb würden während des Kampfes
Mehrfach schwere Fehler begangen, so daß die Hoffnung auf Sieg schließlich
aufgegeben werden mußte. Jetzt fühlte, wie Hoffmann richtig bemerkt, daß Volk
und mißbraucht, die Reformen des Prinzen Max kamen zu spät, die Revolution
warf deu ganzen Ncichsbau über den Haufen.
Einen Augenblick schien es, als ob die Revolution sich vielleicht doch um
die schrvarzrotgoldene Fahne sammeln würde, und das Wort „Nationalversamm¬
lung", das Ebert gleich in den ersten Tagen aussprach, klang wie eme Fanfare
un Stile von 1848. Aber sehr bald mußte man erkennen, daß es doch eigentlich
wie rote Revolution war. keine nationalpolitische, sondern der Sklavenaufstand
d^s Proletariats, dessen radikale Führer bereits vorher den antiken Sklavcnnmneu
Spartakus als Symbol hervorgesucht hatten. Eine innere Notwendigkeit für
d'eher Aufstand bestand nicht. Weder ging es den Industriearbeitern in Deutsch,
wnd mit seiner fortgeschrittenen Sozialpolitik an sich schlecht, noch litten sie im
^lege etwa mehr als andere Volksklassen, z. B. das .Meinbürgertum. Hoffmann
hat gewiß recht, wenn er sagt, daß die Arbeiterklasse hauptsächlich deshalb Re¬
volution machte, weil sich ihr eine einzigartige unwiederbringliche Gelegenheit bot.
'hre seit Jahrzehnten gehegte Umsturztheorre in die Tat umzusetzen. Denn durch
die Aushebung des zum Teil längst sozialdemokratisch organisierten Landsturms
war das Heer sozialdemokratisch geworden, wie nie zuvor. Der Heeresverband
erleichterte zudem die weitere Agitation wie nie zuvor. Damit hatte der
Staat sein Heer selbst an die Sozialdemokratie geradezu ausgeliefert. Sobald die
Unabhängigen dies merkten, organisierten sie die Revolution, um einen alten
Programmpunkt wahr zu machen. Es war „eine Gelegenheitsrevolution, für die
der Erfolg sprach".
Die Unabhängigen und noch mehr die Spartakisten sind die Vertreter der
reinen Klassenrevolution. Für sie kommt es nur darauf an, daß die „Arbeiter¬
klasse" zur Herrschaft kommt; ob durch das demokratische Stimmrecht oder mit
Gewalt, ist gleichgültig. Es kommt auch nichts darauf, ob das Deutsche Reich
darüber in Trümmer geht, wenn es nur gelingt, in irgendeinem „Freistaat"
Bayern oder Braunschweig, Leipzig oder Bremen die politische Macht zu behaupten.
Der älteste und verbohrteste Partikularismus wird wieder aufgewärmt, wenn er
der Klassenherrschaft augenblicklich günstig erscheint. Es dürfte kaum irgendwo
früher einen deutschen Duodezfürsten gegeben haben, der an nationalpolitischer
Gleichgültigkeit und hausmächtlicher Engherzigkeit die heutigen Spartakistenführer
überboten hätte. Dagegen hat die mehrheitssozmlistische Regierung die national¬
politischen Aufgaben nie außer acht gelassen. Aber auch sie wird geängstigt von
den Geistern ihrer ebenfalls klassenrevolutionären Vergangenheit. "Sie schwankt
zwischen dem Gefühl, Dienerin des „Volkes" im Sinne von Proletariat und dem
im Sinne von Nation zu sein. Sie will die Souveränität der Nationalversammlung
und muß doch immer nach dem „Rätesystem" hinüberschielen, mit dem die Klassen¬
kämpfer des Proletariats ihre Macht begründen wollen."
Inzwischen hat man von rechts her im „Nätesystem eine Wiederaufnahme
altkonservativer berufsständischer Forderungen erkannt und schickt sich an, den Ge¬
danken zu einem neuen Prinzip organischer Voksvertretung auszubauen. Sollte
das einmal zur Zufriedenheit breiter Volksmassen in allen Schichten gelingen, so
so hätte uns damit die Revolution wirklich eine „Errungenschaft" gebracht, um
derentwillen sie der nationale Politiker vielleicht später segnen möchte. Jedenfalls
muß es gelingen, den nationalpolitischen Charakter der Revolution völlig in den
Vordergrund zu rücken und den Geist der Klassenrevolntion zurückzudrängen, wenn
überhaupt aus dieser Umwälzung etwas Gutes kommen soll. Bei dein Versuche,
wieder eine nationale Politik in Deutschland zur Herrschaft zu bringen, können
zwei Fehler gemacht werden. Den einen erwähnt Hoffmann. Er besteht darin,
daß man siebzig Jahre deutscher Entwicklung einfach zu überspringen sucht und
wieder an die nationalen Bestrebungen der achtundvierziger Demokratie anknüpft,
gerade als ob diese erst gestern gewesen wären. Bismarck, die Einigung durch
Blut und Eisen und der kleindeutsche Gedanke sind durch die jüngsten Ereignisse
nicht „widerlegt", wie insbesondere viele Deutschdcmokraten und national fühlende
Sozialdemokraten jetzt glauben machen wollen. Allerdings wird der zukünftige
Nationalgedanke wieder großdcutsch sein, weil Österreich-Ungarn nicht mehr besteht.
Aber dieser grotzdeutsche Gedanke der Zukunft steht auf den Schultern des klein-
deutschen, und die Wahrheit des Spruches von Blut und Eisen wird er vermutlich
noch schätzen lernen. Denn wenn die Entente jetzt mehr als eine deutsche Jrredenta
schafft, dann werden wir eben für den großdeutschen Gedanken wieder kämpfen
müssen, wenn nötig auch mit Blut und Eisen. Der großdeutsche Nalionalgedanke
von heute wird alle großen Traditionen Bismarcks und des klcindeutschen Reiches
sorgfältig pflegen und in sich verarbeiten, um seiner Erfüllung entgegcnzureifen.
Der wahrhaft Nationale darf den Geist des Bismarckschen Reiches nicht ver¬
leugnen, denn der großdeutsche Gedanke wird selbst von diesem Geist durchweht
sein müssen.
-
Der nationale Gedanke in Deutschland kann aber heute noch den andem
Fehler machen, daß er umgekehrt die Revolution vollkommen negiert und einfach die
Zustände des untergegangenen Kaisertums zurücksehnt. Das ist die Art, in der
jetzt die Deutschnationalen die Idee der Nation pflegen. Auch vor der Revolution
darf man nicht in beguemem Widerwillen die Augen schließen, man darf nicht ver-
kennen, daß sie uns nationalpolitisch vorwärts bringen kann, wenn wir sie zu
benutzen verstehen. Sie kann der Kleinstaaterei in Deutschland endlich ein Ende
machen und auch das Verhältnis der großen Bundesstaaten zum Reiche gesünder
gestalten. Sie kann die Eisenbahnrivalitäten, die Kompetenzkonflikte der Steuer¬
hoheit endlich beseitigen, sie kann die Preußen vom Hochmut gegen die andern
Stämme und diese vom Haß gegen die Preußen heilen. Sie kann den Mittel¬
punkt unserer Staatlichkeit so in das Reich verlegen, daß man kein Bedenken
mehr zu haben braucht, das Rheinland und Niedersachsen aus dem preußischen
Staatsverband herauszulassen, wenn sie wirklich heraus wollen. Das ganze ost-
elbische Preußen ist freilich längst eine solche innere Einheit geworden, daß es bei¬
sammen bleiben muß. Eine nationale Partei, die jetzt Deutschland wirklich helfen
soll, darf die Revolution nicht negieren, sondern sie muß sie nationalpolitisch aus¬
bauen. Diese Partei dürfte z. B. ruhig monarchisch sein, aber sie dürfte nicht
sämtliche Bundesfürsten zurückwünschen, sondern nur einen Kaiser oder höchstens
noch Staatsoberhäupter für die bestehenbleibeuden großen Bundesstaaten, die
aber dann die neue Reichsverfassung fertig hinnehmen müßten. Doch sollte man
lieber bei der Republik bleiben, wenn sich nicht echt königliche Männer als Mon¬
archen darbieten. Die scheinen aber in den deutschen Dynastien ausgestorben
zu sein, wie auch Hoffmann mit Recht sagt. Nur eine große nationale Partei
mit solchen Zielen, die weder das Bismarcksckie Reich verleugnet noch die national-
Politischen Entwicklungsmöglichkeiten der Nevolion verkennt, wird imstande sein,
den tiefen Riß zu überbrücken, der heute zwischen den Gesinnungen der Bürger¬
lichen und der revolutionären Sozialisten klafft. Nur sie wird fähig sein, vielleicht
doch Töne zu finden, bei denen Herzen aus beiden Lagern mitschwingen, damit
die Glaubens- und Gssinnungsspaltung, die seit der Revolution gefährlich unser
Volk bedroht, nicht verewigt wird.
Eine Besprechung der Hoffmannschen Broschüre in den „Deutschen Stimmen"
(Ur. 21), der Zeitschrift Stresemcmns, erhebt für die Deutsche Volkspartei den
Anspruch, diese Partei der nationalpolitischen Fortentwicklung der Revolution zu
sein. Man darf von Herzen hoffen, daß hier wirklich die zukünftige Partei des
einigenden nationalen Gedankens ihre Kerntruppe bereits gefunden hat. Freilich
die Gleise der alten nalionalliberalen Politik reichen nicht aus, um den An¬
forderungen der Zukunft zu genügen. Da bedarf es neuer kühner Gedanken und
einer entschlossenen Werbung in allen Volksschichten. Eine Partei aus der Alt¬
gläubigen des nationalen Gedankens nützt uns nichts. Wir brauchen eine Partei,
die ihre Tore nicht nur für die alten Reichstreuen, sondern auch für die Neu¬
gläubigen weit öffnet, die die bittere Not der Zeit dem deutschen Reichs- und
Volksgedanken schaffen wird, wenn sich Führer finden, die dem Suchenden Wege zu
Zeigen verstehen.
er Deutsche pflegt den Splitter im eigenen Auge, nicht aber den
Balken im fremden Auge zu bemerken. Der Mißerfolg unserer
Politik hat dazu geführt, Anklagen gegen sie zu häufen und ihr
gar die Schuld am Kriege aufzubürden. Wem das Gefühl für
nationale Würde abgeht, dem ist nicht zu helfen. Wer sich in der
Selbstherrlichkeit des Besserwissers zum Henker der deutschen Zukunft
yergibt, mag seiner Wege gehen: auch ihm ist nicht zu helfen. Anders steht es
um den, der dem Schlagwort und der Legendenbildung schwachmütig und kritiklos
unterliegt. Für ihn hat G. von Jagow sein Buch „Ursachen und Ausbruch des
Weltkrieges" geschrieben.^ Wie der Weber, dem die Fäden von jedem Punkt
des weitgespannten Nahmens in die Hände laufen, entwirft er mit der Ruhe und
Sicherheit des Kenners und Körners das bunte Muster der europäischen Politik
vor der Welttragödie. Er greift weit aus. Der Krieg ist eben nicht das Ergebnis
weniger Tage. Ganz allmählich ist das Unwetter von allen Seiten zusammen¬
gezogen.
Die russische Politik, die letzten Endes zum Weltkriege führte, bedeutet kein
schroffes Abbiegen von Jahrzehnte lang begangenen Pfaden. Sie wurzelt vielmehr
in einer Zeit, auf der in den Augen vieler Deutscher noch der ungetrübte Sonnen-
glanz russischer Freundschaft liegt. Kein anderer als Bismarck hat sie, wie sie
sich bis zum Jahr 1870 darstellte, in einer Instruktion vom 27. Februar 1879 an
Busch zu einem Artikel für „Die Grenzboten" folgendermaßen gekennzeichnet:
„1813 hat uns Nußland geholfen, aber in seinem Interesse. 1815 war die
russische Politik im allgemeinen schädlich für uns: sie hintertrieb eine bessere
Gestaltung Deutschlands, die nicht zu den Plänen patzte, nach denen Kaiser
Alerander die Welt ordnen wollte, und dann wurden unsere Entschädigungsansprüche
von den Nüssen nur lau unterstützt. Zuletzt war ihr Gewinn größer als der
unsere, und wir hatten doch mehr eingesetzt, geopfert und geleistet. 1828, da
wissen Sie, daß wir ihnen während des Türkenlrieges gute Dienste geleistet haben,
Müfftings Sendung z. B., die ihnen aus einer großen Verlegenheit half. 1830
wollten sie uns in Gemeinschaft mit Frankreich anfallen, dem sie das linke Rhein-
ufer verschaffen wollten, und die Sacke kam nur nicht zustande, iveil die Juli-
Neoolution ausbrach. Kurz vor der Februar« Revolution war ein ähnlicher Plan
in der Entwicklung. 1847 schlugen wir auch im russischen Interesse den Aufstand
im Polnischen nieder. Während des ersten Krieges mit Dänemark traten sie uns
in den Weg. Was dann 1850 in Warschau geschah, als die Union ins Auge
gesaßt war, wissen sie ja. Den Gang nach Olmütz verdanken wir zum großen
Teil dem Kaiser Nikolaus. 1854. während des Krnn-Krieges, beobachteten wir,
die kurz vorher schlecht behandelten, Neutralität, während das gut behandelte
Osterreich sich den Westmächten anschloß, und 1863, wo in Polen die große
Insurrektion ausbrach, und Österreich sie mit den Westmächten durch Noten
unterstützte, stellten wir uns auf die russische Seite, und die diplomatische Jnter-
vention mißlang — 1866 und 1870 hat uns Rußland nicht angegriffen, im
Gegenteil. Aber das war doch auch im russischen Interesse. Prcutzeu war 1866
der ErMitor des russischen Zornes auf Osterreich und 1870 war's auch nur
gesunde Politik, wenn sie für uns waren; denn es war auch für die Russen
nicht wünschenswert, daß Österreich sich am Kriege gegen uns beteiligte, und daß
ein siegreiches österreichisch-französisches Heer sich den Grenzen Polens näherte,
das von Paris her traditionell, von Wien aus. wenigstens in den letzten Jahren,
auf Kosten Rußlands unterstützt worden war. Und wenn wir ihnen dennoch
Dank schuldeicn, so haben wir ihn 1870 abgetragen, in London. Wir haben
ihnen die Freiheit des Schwarzen Meeres verschafft, ohne uns hätten sie das
von Frankreich und England nicht erlangt."
Im deutsch französischen Kriege war die öffentliche Meinung in Nußland
gegen uns und schon in den siebziger Jahren bahnte Gortschakow die Freund¬
schaft mit Frankreich an. Bismarck rechnete mit der Möglichkeit eines Zusammen-
stoßes mit Nußland und schloß das Bündnis mit Österreich. Dadurch erweiterte
sich die Kluft zwischen uns und Rußland, umsomehr als das Anschwellen des
Panslawismus den Gegensatz zu Österreich verschärfte. Unsere eigenen Interessen
im Orient wuchsen, was neue Keime der Zwietracht säte. Der Nückversicherungs-
vertrag deckte nur zeitweilig einen Ritz zwischen Petersburg und Berlin und
erfuhr auf dem Berliner Kvngretz eine schwere Belastungsprobe. Rußland glaubte
sich von Deutschland um die Früchte seines Sieges betrogen. Die antideutsche
Welle steigt. 1893 kennt der Jubel über das Bündnis mit Frankreich keine
Grenzen. Kaiser Wilhelm der Zweite sucht sich mit den Verbündeten zu verständigen,
wahrt während des russisch-japanischen Krieges wohlwollende Neutralität, schließt
das Potsdamer Abkommen, vermittelt im böhmischen Konflikt und gibt Jswolski
die Möglichkeit, sich aus der Sackgasse zu ziehen, in die er geraten war:
„Das war ein großer Dienst, den Deutschland Rußland geleistet hat" sagte
damals Tscharykow, der Adjoiut des Ministers. Alles umsonstI Unser freund-
schaftliches Verhältnis zur Türkei, das unsere Bagdadpolitik trägt, durchkreuzt den
Wunsch Rußlands, sich Konstantinopels zu bemächtigen. Die Entsendung einer
deutschen Militärmission zur Reorganisation der türkischen Armee namentlich die
Übertragung des Oberbefehls über das in Konstantinopel garnisoinerende I. Armee¬
korps an Linon von Sanders ruft in Rußland ungeheure Erregung hervor,
während die Übertragung einer Reorganisation der Flotte an eine englische
Marmemission nicht beanstandet wird. Die russische Presse hetzt gegen Deutschland
und wird offenbar amtlich gespeist. Den deutschen Unternehmern werden Negierungs-
bestellunqen entzogen, eine neue französische Anleihe wird abgeschlossen, bei der
sich Frankreich ausbedinge, daß die Gelder hauptsächlich zum Bau strategischer
Bahnen gegen Deutschland und Österreich verwendet werden sollen. Am
21. Februar 1914 spricht Sasonow in einer Sitzung, an der der Marineminister,
der Chef des Generalstabs, der Botschafter in Konstantinopel usw. teilnehmen, von der
Möglichkeit, daß vielleicht schon in naher Zukunft Ereignisse ins Auge gefaßt
werden müssen die die Lage der Meerengen von Konstantinopel von Grund aus
verändern könnten. Die Herrschaft über die Meerengen wird als die historische
Ausgabe Rußlands bezeichnet. Einen günstigen politischen Boden für den Kampf
um Konstantinopel, der aller Wahrscheinlichkeit nach nur wahrend eines euro¬
päischen Krieges möglich sein werde, bilde gegenwärtig die Aufgabe der ziel-
bewußter Arbeit des Ministeriums des Äußeren Sasonow Nimmt an, daß
Serbien sich im .Kriegsfalle mit seiner ganzen Macht gegen Österreich-Ungarn
werfen werde und bezweifelt, daß Rumänien gegen Rußland kämpfen werde, trotz
snneö gegen Rußland gerichteten Militärbündnisses. Wenige Monate später reist
der Zar nach Rumänien und noch vor Kriegsausbruch finden Verhandlungen mit
dem rumänischen Ministerpräsidenten Bratianu über eine Militärkonvention für
den Krieg gegen Osterreich statt. Die militärischen Maßnahmen der russischen
Regierung in den letzten Jahren vor dem Kriege, besonders seit dem Frühling
1914, sind augenfällig. ..Planmäßige Steigerung der Bestellungen auf kurzfristige
Lieferung, großzügige Materialbeschaffung im Auslande, sowie Erhöhung der
Kohlcnbcstände ist' während des Frühjahrs 1913 und bis ins Frühjahr 1914
deutlich zu verfolgen. Die Arsenale arbeiten mit Hochdruck, der Ausbau der
Festungen wurde mit allen Kräften beschleunigt. Pferdeausfuhrverbote 1912 und
?l>14 (einen Monat vor Kriegsausbruch) gingen mit umfangreichen Pferdeerntaufen
un Ausland Hand in Hand. Im Frühjahr 1914 genehmigte die Duma in
geheimer Sitzung — im Anschluß an ähnliche Vorlagen der Vorjahre — große
Mittel zur Vervollständigung der Heeresrüstung. Daneben wurde die gewaltige
Heeresvermehrung durch Mehreinstellung von jährlich 135000 Rekruten genehimgi.
Der noch unlängst von Kokowzow als ,unversehrter Schatz für den Kriegsfall'
bezeichnete Barbestand von 500 Millionen Rubel wurde für diese Zwecke aus-
geschüttet. Aber schon vorher war es durch geheime Erhöhung des Nelrnten-
kontingents 1913 ermöglicht worden, gewisse Hilfsformationen. besonders für die
Kavallerie, zu bilden und mit der verschleierten Ausstellung von Neuformatiouen
den Ausbau neuer Korps einzuleiten, sowie Etatserhöhungen der an der West-
s^nze stehenden Korps vorzunehmen. In besonders bedrohlicher Form wurde
während der Winterhalbjahre 1912/13 und 1913/14 die Kriegsbereitschaft des
Heeres durch Zurückhaltung des ältesten gesetzlich zur Entlastung bestimmten
Jahrgangs erhöht. Nach und trotz seiner Entlassung im Frühjahr 1914 wurde
der erhöhte Mannschaftsbestand durch Einziehung zahlreicher Reservisten und
Reichswehrleute erhalten. Diese Tatsache ist durch zahlreiche Gefangenenaussaaeu
bestätigt worden. Man war bestrebt, durch besondere Maßnahmen die Schlag-
fertigten des Heeres im Mobilmachungsfalle erheblich zu beschleunigen, indem
bereits im Frühjahr 1918 eine .Kriegsvorbereitungsperiode' eingeführt wurde.
Sie sollte .in der der Eröffnung der Feindseligkeiten vorausgehenden Episode
diplomatischer Verwicklungen einsetzen und zahlreiche Arbeiten der Mobilmachung
bereits vor deren offizieller Erklärung vorwegnehmen/ Die volle Tragweite dieser
Matznahmen ist erst durch erbeutetes Aktemnciterial während des Krieges bekannt
geworden. Offiziell ist der Beginn dieser .Periode' am 26. Juli 1914 eingetreten,
wie durch die Aussage des Generals Janukschewitsch im Suchomlinow-Prozeß
bekannt wurde. Weiteres Beutematerial lätzt aber erkennen, daß ganz wesentliche
Arbeiten, die dieser Periode bestimmungsgemäß vorbehalten waren, schon früher
in Angriff genommen worden sind. Auch lassen zahlreiche Gefangenenaussageu
und Beobachtungen von Reisenden den Schluß zu, daß anscheinend Teile der —
auch in Friedenszeit fast auf vollem Kriegsstat befindlichen — sibirischen Korps
schon vor dem Kriegsausbruch in westlicher Richtung in Bewegung gesetzt
worden sind.
Auch für die Flotte wurden große Geldmittel aufgewandt; im Winter
1913/14 hatte Rußland — allerdings vergeblich — versucht, im Bau befindliche
(chilenische) Kriegsschiffe zu kaufen."
Im Juni l914 fällt der österreichische Thronfolger von Mörderhand. Er
galt für einen Freund der föderativem Lösung des österreichischen Problems. Wie
groß die Schwierigkeiten waren, die ihr entgegenstanden, ist bekannt. Immerhin
hätte sie im Falle ihrer Verwirklichung die ehrgeizigen Pläne Serbiens erschwert.
Wie der russische Gesandte in Belgrad diese Pläne begünstigt hat, liegt vor aller
Augen. Es ist nicht das erste Mal, daß ein Abgesandter Nutzlands sich in einer
Weise betätigt, wie es Hartwig getan hat: Im Jahre 1866 begünstigte der russische
Botschafter in Konstantinopel Jgnatiew den Wunsch der Griechen nach der Ver¬
einigung Kretas mit Griechenland. Der Aufstand in Kreta wurde von der
griechischen Regierung offen unterstützt. 1868 riß der Türkei die Geduld, und sie
stellte Griechenland ein Ultimatum, das seinen Treibereien ein Ende machen sollte.
Im Vertrauen auf russische Hilfe lehnte Griechenland ab, aber Gortschakow gab
sich nicht dazu her, einen europäischen Konflikt heraufzubeschwören. Jgnatiew
wurde desavouiert und der Brand im Keime erstickt. Sasonow hätte, wenn er
den europäischen Krieg wirklich vermeiden wollte, dem Beispiel Gortschakows
folgen können. Die Verhältnisse in Serbien logen nicht anders wie in Griechen¬
land, aber er erklärte dem österreichischen Botschafter, daß in diesem Falle die
serbischen Interessen eben „russische" seien. So kam der Stein ins Rollen. Es,
erübrigt sich, die Einzelheiten der kritischen Hochsommertage noch einmal ins Ge¬
dächtnis zu rufend) Der Kriegsminister Suchomlinow und der Generalstabschef
Janukschewitsch haben selbst zugegeben, daß der Krieg in der Umgebung Nikolaus
des Zweiten gewollt worden ist. Die verhängnisvolle Gesamtmobilmachung, die
uns zur Kriegserklärung zwang, wurde befohlen. Den Mut zum letzten Entschluß
schöpften die .Kriegstreiber aus der Zusicherung Englands, sich am Kriege zu
beteiligen. Als das Spiel verloren war und die Revolution ausbrach, war
Janukschewitsch völlig gebrochen und wurde von schweren Gewissensbissen geplagt.
Er gab zu, sich verrechnet zu haben.
England aber hat sich nicht verrechnet. Das außenpolitische Ergebnis
seiner Berechnung ist so günstig wie möglich ausgefallen. Rußland, der Bundes¬
genosse und verhaßte Rivale, ist für lange Zeit erledigt, uno der deutsche
Gegner ist tot."
Am 1. August 1914 schrieb die „Daily News: „Tatsächlich hält der Zar die
Wage in der Hand, aber wir halten unsererseits den Zaren in der Hand. Daher
hängt es schließlich von uns ab, ob Europa von Blut überfließen soll". An
dieser Stelle soll nicht den Schachzügen unserer Politik, die sich durch den Miß'
erfolg als fehlerhaft erwiesen haben, namentlich hinsichtlich der verpaßten G^"
legenheiten einer Möglichkeit und der Notwendigkeit einer Verständigung mit
England nachgegangen werden. Tatsache ist, daß England, als es erst durch
unser Ungeschick Frankreich und Nußland in die Arme getrieben war, da? Netz
in dem wir uns gefangen haben, im geheimen mit List und mit dem Aufgebot
oller nur erdenklichen politischen Sophistereien gesponnen hat. Schon 1912 schreibt
der Londoner Botschafter Graf Benckendorf an Snsonow in being auf die ge¬
plante „Umgestaltung" der Entente in einen neuen Dreibund, man würde damit
„die Hauptsache erreicht haben, nämlich wie bisher allzu theoretischen und fried¬
lichen Grundgedanken der Entente durch etwas Greifbares zu ersetzen." Aber
„ein öffentliches Bündnis würde in England nnr ein günstigeres Feld für die
Agitation zugunsten Deutschlands bieten". Im freien England ist die Volks¬
vertretung weder über die Verständigung und militärischen Abreden Englands
mit dein revanchelüsternen Frankreich noch über die Marinekonvcntionen mit
Nußland unterrichtet worden. Ewig denkwürdig ist die wunderbare Erklärung
Greys auf die Anfrage des Liberalen King im Parlament kurz vor Kriegsausbruch,
bezüglich eines Marineabkommens mit Rußland, daß es „keine unveröffentlichten
Abmachungen gäbe, welche im Falle eines europäischen Krieges die Freiheit der
Regierung oder des Parlaments über die Teilnahme Englands an demselben
einschränken oder behindern würden. Keine derartigen Verhandlungen sind im
Gange und es werden, soweit ich das beurteilen kann, keine eingeleitet werden".
Dem Grafen Benckendorf gegenüber bedauerte Grey, das „ungelegene Indis-
kretionen" vorgekommen seien und skizzierte ihm die Antwort, die er im Unterhaus
geben würde, um die Sache zu „verschleiern". Grey wußte, daß es in England
zwei Strömungen gab. Eine cntentefreundliche, rationalistisch-imperialistische, die
den deutschen Konkurrenten nach allbewährter englischer Methode beseitigen wollte,
und eine pazifistische, die eine Verständigung mit uns für wünschenswert hielt.
Er selbst war, obgleich er zu den imperialistischen Liberalen zählte, in der Theorie
Pazifist, geriet aber in immer größere Abhängigkeit von der Entente und wurde
schließlich zum Förderer der aggressiven Politik Frankreichs und Rußlands, die zu
Taten schritt, als in Sicht des Bagdadabkommens eine neue Möglichkeit der An¬
näherung zwischen Deutschland und England auftauchte. Als wir aus der Wirrnis der
Fußangel, in die unsere auswärtige Politik geraten war, einen Ausweg suchten und
schließlich in der Notwehr zum Schwert griffen, hat Grey die Verletzung der belgi¬
schen Neutralität klug benutzt, um die öffentliche Meinung in England gegen uns auf-
Mpeitschen. Der tiefere Grund für die Teilnahme Englands am Kriege war sie nicht.
Trotz aller Verschleierungen war die englische Politik durchsichtig genug. Es wollte
unseren Tod l Heute zweifelt wohl unter uns keiner mehr daran, auch die nicht, die sich
bon der Schalmei des Rattenfängers von Washington betören ließen. Wenn die ver¬
blendeten Völker des feindlichen Auslandes auch nur einen Schimmer von Kritik be¬
saßen, müßte sich ihnen die zwingendeLogik der Erkenntnis offenbaren, daß Deutschland
den Krieg nie hat wollen können. Die Ungunst seiner geographischen Lage, die auf
fortschreitender Überalterung hindeutenden Zustände in Österreich-Ungarn, Italiens
Gegensatz zu Osterreich, das schon lange vor dem österreichischen Ultimatum an
Serbien zu erkennen gab, daß es im Falle eines Konflikts nicht an der Seite
Österreichs zu finden sein würde, seine seelische Harmonie und sorgfältig vor dem
Bundesgenossen verheimlichten Abmachungen mit Frankreich, dem es schon 1902
versprochen hat, nicht gegen Frankreich das Schwert zu ziehen. Rumäniens
höchst unsichere Bundesgenossenschaft, die durch einen Krieg unvermeidliche
Preisgabe der deutschen Kolonien samt der Handelsflotte und vor allen Dingen
ungeheuer schwierigen Probleme, die selbst ein siegreich beendeter Krieg auf dem
europäischen Kontinent aufrollen mußte, so vor allem die schier unlösbare polnische
»rage, mußten Deutschland friedfertig stimmen. Das Kriegsziel Deutschlands,
dle von Nußland seit Jahrhunderten betriebene Nandstaatenpolitik, sicher zum
Heile der Kultur, mitteleuropäisch zu wenden und damit einen Kristallisations-
^null für einen wahren Völkerbund zu schaffen, ist erst aus den überraschenden
-Naffencrfolgen erwachsen. Versailles Brest-Litowsk entgegenzustellen, vermag nur
politische Kurzsichtigkeit und Verblendung. Der Vorstosz Rußlands gegen den
Balkan, der zum Kriege führte, war infolge des drohenden Zusammenschlusses
der slawischen Länder, also auch lebenswichtiger Teile Österreichs, unmittelbar
für Österreich-Ungarn, mittelbar für Deutschland eine Frage, die über Sein und
Nichtsein entscheiden mußte. Man mag die Fassung des österreichischen Ultimatums
an Serbien bemängeln, wie es auch unsere Regierung getan hat, entscheidend
war schließlich die Erklärung Österreichs, daß es keine Eroberungen in Serbien
anstrebe und die Souveränität des Reiches nicht antasten werde, da die Forderung
betreffs der Zulassung von k. u. k. Organen bei der Unterdrückung der gro߬
serbischen Agitationen lediglich die Errichtung eines geheimen IZureeiu cle sürete
in Belgrad, analog der russischen Einrichtung in Paris, zum Ziele habe. Mit
Recht ist bei uns die Frage aufgeworfen worden, was England tun würde,
wenn ein kleiner Nachbarstaat dauernd versuchte, Irland zu revolutionieren und
den Prinz voll Wales abgeschossen hätte? Deutschland konnte die Niederwerfung
Österreichs nicht dulden, wenn es nicht einer völligen Isolierung verfallen wollte.
Überdies mußte die Vormachtstellung Rußlands auf dem Balkan, abgesehen von den
daraus entstehenden Gefahren für die österreichisch-ungarische Monarchie, jede wirt-
schafiliche Betätigung Deutschland bis hinuuier nach Bagdad in den ersten Ansätzen
vernichten. Reinste aber der slawische Block von der Ostsee bis zur Adria, so
mußte er uns im gegebenen Augenblick unter sich begraben. Gegen den Unter¬
gang haben wir uns gewehrt. Die Kriegserklärung Deutschlands war ein rein
formaler Akt, der durch strategische Notwendigkeiten bedingt war. Diese aber
waren unsererseits Reaktion, nicht Aktion. Nur die Wölfe im Schafspelz zu
Versailles vermögen die Dinge auf den Kopf zu stellen. Heute sucht uns das
Slawentum Stück um Stück deutsche Arbeits- und Kulturstätten zu entreißen und
die Zeit ist nicht fern, da der Deutsche, dem Juden gleich, über die Erde wandern,
als Parasit am Marke nationaler Staaten zehren, und an der Trümmerstätte des
deutschen Reiches die große Vergangenheit seines Volkes beweinen wird.
cum irgendetwas beweist, daß die Entente selber am allermeisten
über Umfang und Tragweite ihres Sieges überrascht worden ist,
so sind es die Vorgänge in Klein- und Vorderasien. Zwar existierten
über Syrien, Kleinasien, Arabien, Mesopotamien ein paar schöne
Gcheimverträge, aber was bedeuten den Ententemächten Verträge,
wenn sich infolge veränderter Voraussetzungen an ihnen
rütteln läßt, und so erweist sich denn, gestützt auf den ungeheuerlichsten aller
Siege, der Appetit aller beteiligten Staaten als ständig im Wachsen begriffen.
Am 16. Mai ist dann die bereits seit langem sich vorbereitende Krise zum Aus¬
bruch gekommen: unter dem durchsichtigen Vorwande, die Einwohner gegen Über¬
griffe der Türken schützen zu müssen, haben Streitkräfte der, wie es im Friedens¬
verträge so schön heißt, „alliierten und assoziierten" Mächte Smyrna besetzt und
zwar so, daß eine amerikanische Flottenabteilung im Verein mit einer englischen
und französischen die Landung sicherte, französische Truppen die Forts, griechische
die Stadt, englische und italienische die Umgegend besetzten. Wer die mannigfachen
Schwierigkeiten einer gemeinsamen Aktion verschiedensprachiger Truppenkontingente
kennt, zumal bei einer Operation, die, wie eine Havas-Meldung und Zensurlücken in
der französischen Presse ahnen lassen, nicht ganz ohne auf Widerstand zu stoßen
verlaufen sein muß, fragt sich wohl oder übel: wozu diese Musterkarte von
Truppen auf einem Punkte? Die Proklamation des griechischen Kommandanten
hilft uns weiter. „Es besteht nicht die Absicht", heißt es darin, „den Entscheidungen
des Friedensvertrages über das Schicksal eines Landes vorzugreifen, das seit
Jahrtausenden zu Griechenland gehört." Nehmen wir dazu die schlecht verhehlte
Überraschung der französischen Presse sowie das in Paris kolportierte Gerücht,
die Italiener Hütten zunächst nicht bei der Besetzung mitwirken sollen, doch halten
die Griechen ihre Befriedigung und Erwartung nicht geheim halten können, so
wird die Lage klar: die Griechen, die nicht umsonst den vielgewandten und beliebten
Venizelos als Vertreter auf der Friedenskonferenz haben, erhielten gegen den Verzicht
cmfCypernvon den Engländern Smyrnaals Besitz zugebilligt und, damit die Sache doch
ein Ansehenbekümennd um das so schrecklich komplizierendeSelbstbestimmungsrecht der
Völker zu umgehen, dos Hinterland als Mandat des Völkerbundes. Es bestand nur
die eine kleine Schwierigkeit, dasz Smyrna, samt den Wilajets von Moin und Koula
durch die Abmachungen von Se. Jean de Maurienne von 1917 bereits Italien
zugestanden worden war. Damit man nun an dieser .Kleinigkeit nicht wieder
haken blieb, besonders da die Italiener, die von der Sache Wind gekriegt zu
haben schienen, schon im März Adalia, Anfang Mai das an der Bagdadbahn
gelegene Koma besetzt hatten und noch eben wegen Finne auf das heftigste ver¬
stimmt waren, beschloß man, gleich reinen Tisch zu machen und die Türkei einfach
auszuteilen.
Leider erweist sich das nun doch nicht als so einfach, wie es sich aussprach,
denn es handelt sich' dabei nicht nnr um Kleinasien, sondern auch um Syrien und
Arabien und, letzten Endes, um die ganze Bagdadbahn. Ein infolge des scharfen
Vorrückens der Nüssen in Osianalolien im April 1916 geschlossener russisch-fran¬
zösischer Vertrag räumte gegen Anerkennung russischer Annexionsabsichten in den
bereits siegreich besetzten Gebieten Frankreich Eigentumsrechte an dem ganzen
Bezirk zwischen Nordsyrien und einer von Charput und Egin (am oberen Euphrot)
über den Undiz Dagh bis zur Nordküste Kleinasiens verlaufenden Linie ein. Ein
französisch.englisches Abkommen vom Mai 1916 erkannte diese Einflußsphäre samt
Rechten Frankreichs auf Mossul und auf die Wilajets Adanci und SiwaS (am
Halys) an. England erhielt dafür Anerkennung seiner Rechte auf Südmesopotamien
mit Bagdad, sowie auf Hauffa und Akkon. In den arabischen Staaten waren außer¬
dem sorgfältig abgegrenzte französische und englische Einflußzonen vorgesehen mit
gegenseitiger Verpflichtung, keinen anderen als arabischen Staaten in diesen Zonen
Einfluß zu verschaffen. Palästina sollte internationalisiert werden. Dieser Vertrag
nun wurde zwar am 21. August 1917 von Italien gebilligt, das dafür außer
Beteiligung am englisch-französischen Abkommen bezüglich Arabiens und des
Noten Meers seinerseits Einflußzonen in der Gegend von Smyrna, Albin,
Koula zugestanden bekam, aber daß die Regierung Kerenskis dieses Abkommen
nicht mehr, wie ausdrücklich vorausgesetzt, ratifizieren konnte, wird jetzt als Vor¬
wand benutzt, um die Italiener, die an Smyrna als Endpunkt der zukunfts¬
reichen Seestrecke Trieft—Smyrna das größte Interesse haben, beiseite zu schieben.
Nun wird aber die Türkei durch die Wegnahme Smyrnas derartig erschüttert,
daß man sich von feiten Englands, das nicht nnr in Turkestan, sondern auch am
Kaspischen Meer, in Batna und Baku die günstige Konjunktur eineL zurzeit
ohnmächtigen Rußlands mit Riesenschritten ausnutzt, entschloß, mit dem „kranken
Mann" vollends aufzuräumen. Da man aber dabei die Empfindlichkeit Frank¬
reichs, das ohnehin die stetige Schwächung seines traditionellen Orienteinflusscs
wir argwöhnischen Augen überwachte, schonen mußte, griff man zu jenem
Universalmittel, das die Friedenskonferenz augenscheinlich in allen Territorial¬
verlegenheiten anzuwenden liebt: dem Mandat im Namen des Völkerbundes, und
damit nur ja kein Streit entstände, einigte man sich darüber, dieses Mandat über
Konstantinopel, Nvrdanatolien sowie Armenien Amerika zu erteilen. Indessen
muß die Bereitwilligkeit der Amerikaner zur Übernahme des Maubads, verbunden
mit ihrer auffälligen kommerziellen Rührigkeit in Kaukasien und Nußland, den
Engländern doch wieder unheimlich geworden sein, denn alsbald ließ man. viel¬
leicht auch durch die weiterwirkenden ägyptischen Unruhen erschreckt, durch den
Maharadscha von Vikanir im Namen von 00 Millionen Muselmanen erklären,
daß eine Verlegung des Kalifats nach Mekka in Indien ungern gesehen werden
würde. Schon vorher hatte man vermöge des Selbstbestimmungsrechts der Völker
dos Reich des Hcdschaskönigs über Mossul und Damaskus ausgedehnt, wodurch
Frankreich von Persien und Klein-Arnnnien abgedrängt und Syrien konsequent
auf einen schmalen Küstenstreifen beschränkt wurde. Als Ersatz wurde daun neuer¬
dings vorgeschlagen, die nordanatolischen Wilajets Brussa, Kastamuni und Angora
mit Trapezunt unter französischen Schutz zu stellen. Die Türkei soll dann mit
Konsiantinopel, etwas Hinterland, den Meerengen und einem Zipfel Kleinasien
lieber noch einstweilen, "da man sich doch nicht einigen kann, als neutraler Staat
bestehen bleiben.
Mau sieht aus diesem notgedrungen summarischen, in den Einzelheiten noch
durch vmlänfig nicht zu erlangende bestimmtere Nachrichten sehr ergänzungs¬
bedürftigen Überblick, daß Marcel Sembat dieser Tage mit Recht schreiben konnte,
hier sei der Gesellschaft der Nationen ein Betätigungsfeld geboten, an dem sie sich
zu erproben reichliche Gelegenheit haben würde. Im Grunde hat man einen neuen
Balkan nur mit ungleich bedeutenderen und wegen der Unzuverlässigkeit der ver¬
schiedenen Volksstämme, namentlich der Araber, noch schwieriger zu behandelnden
Reibungsflächen geschaffen. Über Konsiantinopel ist wegen der Rivalität Englands
zu Frankreich, dessen mögliches Zusammenarbeiten mit einem gestärkten Griechen-
land immerhin in Betracht gezogen werden muß, auch nach Ausschaltung des
Jahrhunderte alten Wettbewerbers Nußland noch immer keine endgültige Ent¬
scheidung erzielt. Auf Palästina, dessen Wert als Aufmarschgebiet gegen den
Suezkanal der Krieg zu erkennen gelehrt hat, will man in England jetzt, nachdem
man es in nicht genügender Erwägung der durch die großen militärischen Erfolge
des Generals Allenby gegebenen Möglichkeiten, etwas voreilig den Zionisten zu¬
gesprochen hat, zum Mißbehagen der Franzosen ungern verzichten. Frankreich
grollt wegen zu starker Beschneidung Syriens, widersetzt sich zur Wahrung seines
Einflusses der gänzlichen Auflösung des Ottomanen-Reiches, fürchtet durch die
auf amerikanisches Andringen nach Vorderasien entsandte Untersuchungskommission
entstehende Intrigen und betrachtet die offenkundiger Bestrebungen Englands
maßgebende Kräfte des Islam unter seine Gewalt zu bekommen mit kaum ver¬
hohlenem Mißtrauen. Die Übertragung des armenischen Maubads an Amerika
schafft entweder nur neue Reibungen oder einen scharfen Konkurrenten; am
meisten verstimmt aber sind die Italiener, die Auswanderungskolonien brauchen,
und neuerdings (?in22a, I^a nostra pace Loloniale) nicht nur Konstantinopel und
Armenien für Rußland (I), sondern Smyrna, Koula, Adana, nebst den Berg¬
werken von Herakles, Aar und Argune, aber auch Alexandrette und vor allem
den strikten Ausschluß des bereits um Epirus und den Dodekcmes kon¬
kurrierenden Griechenlands fordern. Wie die zu einem wirklich erfolgreichen, die
gerade glücklich in die Wege geleiteten deutschen Bestrebungen in für das Land
selbst geeigneter Weise fortsetzenden Aufschließen erforderlichen Kapitalien von den
durch Tilgung der Kriegslasten zum Teil schon überreichlich in Anspruch ge¬
nommenen Ländern aufgebracht, wie künftige Konflikte bezüglich der Bahnen und
Häfen usw. vermieden werden sollen, bleibt rülselhaft, es hat aber den Anschein,
als ob sich mehr als einer der eiligen Esser an seinen Bissen übernehmen wird.
Die Völker Anatoliens aber werden fürs erste wenig Freude an ihren neuen
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
cum nicht alles trügt, so ist die Entwicklung des Friedensproblems
! vor einschneidenden Entscheidungen angelangt. Nicht in dem Sinne,
das? die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, die endgültige
Liquidation des Krieges und die Einleitung der Friedensperiode
!bedeuten müssen. Aber doch in dem Sinne, daß der drängende
^Flusz der gesamten für die Weltlage maßgebenden Kräfte, der seit
dem 9, November gewissermaßen in einem großen Staubecken zusammengepreßt
war, durch irgend eine Öffnung sich Bahn brechen muß. Wo diese Öffnung ge¬
funden wird, und ob eS gelingt, den Fluß der Ereignisse in ein geregeltes Bett
ßch ergießen zu lassen, oder er planlos mit naturwilder Gewalt Deutschland unter
und begraben wird, das ist die schicksalsschwere Frage, vor der wir heute stehen.
Über die schwere seelische Erschütterung, die die Einsicht, daß die Durch-
tetzung des Friedens aus eigener Kraft dein deutschen Volke nicht mehr möglich
war, eigentlich hätte zur Folge haben müssen, ist das deutsche Volk dank einer
Illusion verhältnismäßig leicht hinweggekommen. Die Illusion bestand in der
Annahme, daß die Festlegung auf die von Wilson proklamierten Grundlagen des
Friedens dem deutschen Volte ein erträgliches Minimum von Ezistenzmöglichkeiten
oster würde. Diese Anschauung wurde erstaunlicherweise in großem Umfange auch
^wu solchen Kreisen geteilt, die vorher der Anschauung gewesen waren, daß die
Möglichkeit eines sogenannten Verständigungsfriedens nicht bestände, sondern daß
^ sich nur um das grausame Entweder Oder, Sieg oder Niederlage, handeln könne,
^wtzdem hat auch noch nach dem 6. Oktober die Möglichkeit bestanden, auf der
^llfonschen Grundlage zu einem Frieden zu kommen. Nimmt man einmal an
~? und für diese Annahme sprechen noch immer gewichtige Gründe — daß Wilson
weht ein zynischer Heuchler ist, der seine Friedensideen ausschließlich zur Nber-
tolpelung des deutschen Volüs proklamiert hat, so muß man sich fragen, unter
welchen Umständen die Wilsonsche Friedenspolitik zum Ziel hätte führen können,
^le hätte es können, wenn Wilson auch nach dem Umschwung der militärischen
^-age und dem Abfall unserer Bundesgenossen mit einer ins Gewicht fallenden
deutschen Widerstandskraft hätte rechnen können. Der Zusammenbruch Deujsch-
ands raubte Wilson seinen besten Bundesgenossen. Von diesem Augenblick an
Ware er nur noch durch positive Einsetzung amerikanischer Machtmittel in der Lage
gewesen, einen fühlbaren Druck auf die Entente auszuüben. Daß er das nicht
wollte und bei der innemmerikanischen Grundlage für seine Politik auch gar
"icht konnte, hätte jedem nüchternen Beobachter klar sein müssen.
. Für die weitere Entwicklung der Dinge schied Deutschland mit der Annahme
Waffenstillstandsbcdingungen.als realer Faktor aus. Es war nur noch Gegen-
stand, nicht mehr handelnde Persönlichkeit in dem Gesamtspiel der Weltpolitik,
Die deutsche Revolutionsregierung sah sich vor eine Aufgabe gestellt, deren
Schwierigkeit zu schildern, die Worte und Bilder fehlen. So war denn auch ihr
erstes Verhalten, auch wenn man von der Revolution und dem Waffenstillstands¬
abschluß, Ereignisse, über die ein Urteil zu fällen, verfrüht ist, absieht, ein Fehler.
Die Regierung tat nichts, sie wartete ab und gab sich der Illusion hin, in der
Annahme der Wilsonschen Punkte durch die Entente eine sichere Grundlage für
ihre äußere Politik zu haben. Nun darf man aber annehmen, daß auch die
Gegenseite damals noch nicht dazu gekommen war, zu dem die kühnsten Er¬
wartungen übersteigenden Umschwung der Dinge eine klare innere Stellung zu
gewinnen. Auch hier herrschte Ratlosigkeit. Ratlosigkeit zwar, die in dem alios
betäubenden Gefühle des Sieges noch nicht als Qual empfunden wurde. Rat¬
losigkeit aber doch in der Unmöglichkeit, eine klare und besonders gemeinsame
Stellung zu den Schritten zu gewinnen, die in der nächsten Zukunft zu tun waren.
In diesem Augenblick bestand für die deutsche Regierung eine Möglichkeit, durch
das rasche Auftreten mit positiven Vorschlägen einen entscheidenden Einfluß ans
den Gang der Pariser interalliierten Verhandlungen zu gewinnein Gewiß nur
eine Möglichkeit. Aber sie hätte versucht werden müssen. Und es scheint keine
ganz utopische Annahme zu sein, daß eigene Vorschläge der deutschen Negierung,
die auch nur annähernd so weit wie die jetzigen Vorschläge gegangen wären, das
Ergebnis der Pariser Beschlüsse stark beeinflußt hätten.
Der Versuch unterblieb. Und so blieb den Alliierten Zeit genug, in voller
Ruhe zur Lage Stellung zu nehmen. Die deutsche WaffenstillstandSkommission
verstand es nicht, diese Ruhe dadurch zu stören, daß sie den Gegner vor die
Notwendigkeit neuer entscheidender Entschlüsse stellte. So warteten wir ab, und
wir ertrugen die Lage, soweit uns die innerpolitischen Ereignisse in Deutschland
überhaupt Zeit ließen, uns mit der Weltlage zu beschäftigen, in der Hoffnung auf
gegnerische Vertragstreue. Unterdessen kam es in Paris allmählich zum .Kom¬
promiß zwischen den Alliierten. Bruchstückweise erfuhren wir in Deutschland die
einzelnen Forderungen, aus denen der Kompromiß geschlossen werden mußte.
Wir lebten der Illusion, daß jeder Kompromiß in der Herabmilderung der sich
kreuzenden Forderungen bestehen müsse. Aber als uns die Bedingungen vorgelegt
wurden, da mußten wir erkennen, daß der Kompromiß darin bestand, daß die
Gesamtheit der gegnerischen Forderungen in kunstvollem Aufbau zusammengetragen
war. Es ist nun durchaus richtig, daß gerade die Art, wie der Kompromiß
zustande gekommen ist, einen Beweis für die innere Schwäche des Zusammenhalts
unter den Alliierten bildet. Es war eben nicht möglich, von den einzelnen
Forderungen zugunsten einheitlicher Ziele Abstriche zu machen, ohne daß sich tiefe
Risse im Bau gezeigt hätten. Aber wenn diese Schwäche im konstruktiven Ge¬
samtbau der uns gegenüberstehenden verbündeten Gruppe nachträglich die Ver¬
mutung rechtfertigt, daß es möglich gewesen wäre, auf die Art des Baues einen
Einfluß zu gewinnen, so muß gerade die Einsicht in diese Schwäche den Zweifel
erheblich stärken, ob es gelingen kann, jetzt einzelne Teile aus dem Ban heraus¬
zulösen.
Die Stellungnahme zu den Friedensbedingungen war und ist in der öffent¬
lichen Meinung Deutschlands im wesentlichen einheitlich, was die sachliche
Beurteilung seines Inhalts anbelangt. Versuche, die Bedingungen als erträglich
hinzustellen, sind bald aufgegeben, nachdem ihr Inhalt in allen Einzelheiten
bekannt wurde. Und die Stellungnahme würde noch einheitlicher sein, wenn die
Kenntnis der Bedingungen wirklich Allgemeingut wäre. Keine Einheitlichkeit
herrscht aber in der Stellungnahme, was zu tun ist. Für die deutsche Regierung
mußte es von vornherein ein völlig eiuwcindsfreies Ziel geben. Das Ziel
nämlich, unter allen Umständen zu verhindern, daß irgendein Friede, den wir
innerlich nicht anerkennen können, so abgeschlossen wird, daß es den Anschein
erwecken kann, als handle es sich um einen Frieden, der im Wege der Ver¬
ständigung zustande gekommen sei. Daß das bisherige Verhalten der Negierung
auf einen solchen Verständigungsfrieden geradezu hingewirkt habe, kann man
nicht sagen. Man darf aber auch nicht verkennen, daß nicht alle Fäden, die
unmerklich zu dieser Gefahr hinführen können, sorgsam abgeschnitten wären. DaS
Verfahren, den Frieden, weichend der Gewalt unter innerem Protest sofort
anzunehmen, wäre das einfachste gewesen, um diese Klippe zu umschiffen. Diesen
Weg nachträglich eingehender zu erörtern, führt zu keiner neuen Beleuchtung der
Lage. Man wird aber auch zugeben müssen, daß die Negierung den Versuch,
zu einem Friedensschluß zu kommen, unter allen Uniständen ehrlich machen
mußte. Ließ die Regierung sich aber auf Verhandlungen ein, dann durfte man
sich unter keinen Umständen zu einer Überstürzung so einschneidender Beschlüsse
drängen lassen, wie sie die Abfassung der deutschen Gegenvorschläge bilden.
Genau so wenig, wie seinerzeit die Entente deshalb den Waffenstillstand
gekündigt hätte, weil Erzberger erklärt hätte, in so kurzer Zeit eine Entscheidung
nicht fassen zu köunen. genan so wenig hätten die Alliierten eine Erklärung
Vrockdorff-Nantzaus, erst in vier Wochen die eingehende Antwort der deutschen
Fnedensdelegation überreichen zu können, zum Anlaß des Abbruchs der V-r-
Handlungen gemacht. Aber der Fehler ist leider gemacht. Und er ist nicht ohne
Einfluß auf die innere Geschlossenheit der deutschen Gegenvorschlage geblieben.
Will man den deutschen Gegenvorschlägen gerecht werden, so muß man von
folgender Erwägung ausgehen: Zweifellos wäre für die deutsche Negierung der
Weg gangbar gewesen, zu erklären, die Friedensbedingungen stellten einen Bruch
des feierlichen Abkommens, durch das sich beide Parteien auf dre Einhaltung der
Wilsvnschen Friedensarundlage geeinigt haben, dar; dieses Abkommen ser daher
mich für die deutsche'Negierung nicht mehr maßgebend: die deutsche Regierung
könne also für ihre weiteren Entscheidungen die Wilsonsche Friedensgrundlage,
die den deutschen Lebensinteressen schon an sich nicht gerecht wurde, nicht mehr
zum Ausgangspunkt nehmen. Die Regierung hat die Verantwortung für die
Folgen eines solchen Verhaltens nicht tragen wollen und memes Erachtens mit
Recht. Dann blieben zwei Möglichkeiten. Entweder man kam nach alter Diplomaten-
«re mit Vorschlägen heraus, die von den Bedingungen der Entente so weit
entfernt waren daß man hoffen konnte, die Mitte würde für Deutschland erträgliche
Bedingungen ergeben. Gerade ein solches Verhalten schloß eine ganz gewaltige
Gefahr in sich, zu einem Verständigungsfrieden zu kommen, der innerlich von
Deutschland nicht anerkannt werden kann, aber doch eben den Charakter des
Verständignngsfriedens trägt. Der Weg. den die Regierung gewählt hat, ist —
wir hoffen es jedenfalls — der andere. Man hat sich gesagt: Wir stellen uns
°uf den Boden der vierzehn Punkte, und wir sind bereit, alles zu tun, um zu einem
Ergebnis zu kommen. Wir machen deshalb auf der Grundlchze der vierzehn Punkte
alle nur irgend möglichen Zugeständnisse. Damit ist aber die äußerste Grenze
unseres Entgegenkommens erreicht. Ihr habt die Wahl, durch die Annahme
dieser unserer Bedingungen den Weltkrieg zu liquidieren oder dadurch, daß ihr
uns zur Ablehnung eures unannehmbaren Friedensvertrages zwingt, eine welt¬
geschichtliche Entwicklung einzuleiten, deren Ziel ihr so wenig kennt, wie wir.
^ete andere Politik ist innerlich erlogen und bringt uns um den letzten Rest von
vertrauen und um den letzten Nest eigenen Glaubens an uns. Der Versuch, das
«Unannehmbar", das die Regierung und in der überwältigenden Mehrheit das
Volk mit allein Aufwand von Entschlossenheit aufgestellt hat, nachträglich dahin
umzudeuten, daß nur diese Friedensbedingungen, nicht aber andere mehr oder
weniger nicht jedoch in allen Grundlagen gemilderte unannehmbar seien, wurde unserer
Moralischen Stellung innerlich und äußerlich den letzten Stoß geben'
Was bedeutet es nun aber, wenn wir jetzt nicht zum Friedensschluß kommen?
Die Vertreter des Untcrzeichnens um jeden Preis haben damit ganz recht, daß
es ruchlos ist, einer Ablehnung das Wort zu reden, ohne sich über die Folgen
Mrz nüchtern klar zu werden. Wir müssen uns da in erster Lune vor der weit-
verbreiteten Illusion hüten, als liege es im Interesse und in der Absicht der
Entente, uns lebensfähig zu erhalten. Daß auch solche Ansichten innerhalb der
Alliierten verfochten werden, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Ebensosehr ist
es aber zweifellos, daß bei dem Abschluß der uns überreichten Friedensbedingungen
diejenigen Stimmen im feindlichen Lager durchgedrungen sind, die die dauernde
Unschädlichmachung, die dauernde Ausschaltung Deutschlands zum Ziele haben.
Man muß sich eins klar machen. Ein Friede, der Deutschland als Ganzes
lebensfähig erhält, muß sich in jedem Hauptpunkte von der Grundlage der
gegenwärtigen Bedingungen entfernen. Man kann direkt sagen, er darf nller-
höchstens so weit gehen, wie die deutschen Gegenvorschläge. Gerade wenn man
sich aber klar macht, daß der Zusammenhalt unter den Alliierten auf durchaus
schmaler Grundlage beruht, erscheint es wenig wahrscheinlich, daß bei unseren
Gegnern die Stimmen den Ausschlag geben werden, die auf die Erhaltung der
deutschen Lebensfähigkeit abzielen."
Walter Rathenau hat jüngst in der „Zukunft die Forderung aufgestellt,
wenn es nicht gelänge mit den Versailler Verhandlungen zum Ziele zu kommen,
dann müsse den alliierten Regierungen sofort das Auflösuugsdekret der deutschen
Nationalversammlung und die NücktrittSerklärungen des deutschen Reichspräsidenten
und sämtlicher Minister überreicht, die Erklärung abgegeben werden, Deutschland
verzichte auf jeden aktiven oder passiven Widerstand, der gesamte Vehördenapparat
stelle sich der Entente zur Verfügung, aber keine deutsche Negierung könne für die
Leitung der deutschen Geschicke jetzt noch die Verantwortung übernehmen. Diese
Verantwortung läge jetzt der Entente ob. Das weitere müsse man der klar vor¬
aussehbaren Entwicklung der Dinge überlassen. Es ist bedauerlich, daß Rathenau
verschwiegen hat, wie diese klar voraussehbare Entwicklung aussieht. Meines
Erachtens müssen wir uns immer wieder sagen, wenn wir versuchen, eine klare
innere Stellung zu gewinnen, daß es völlig ausgeschlossen ist, bei den tausend-
fachen ineinanderverwickellen Kräften, die zurzeit in der Welt teils schon sichtbar
sind, teils erst schwer erkennbar unter der Oberfläche garen, mit auch nur
annähernder Sicherheit den Lauf der Dinge vorauszuberechnen, den diese oder
jene Entscheidung zur Folge haben wird. Man kann nur gewisse Möglichkeiten
sehen, und das einzige, was man tun kann, ist zu versuchen, die allersch um nisten
Möglichkeiten abzuschneiden. Eine starke Möglichkeit ist, daß die Entente im Falle
des Nichtzustandekommens eines Friedensabschlusses auf den Zerfall Deutschlands
hinarbeiten wird. Die starken Begünstigungen, die die westlichen Absonderungs¬
bestrebungen finden, sind doch kaum zufällig. Und ob die Art und das Ausmaß
eines etwaigen militärischen Vorgehens gegen Deutschland nicht auch unter diesem
Gesichtspunkt erfolgen wird, ist zum mindesten zweifelhaft.
Können wir dieser Gefahr gegenüber etwas tun? Wir können es jedenfalls
nicht durch die Annahme von Friedensbedingungen, die in den Gtundzügen mit
den uns jetzt vorliegenden übereinstimmen. Denn daß die Ausführung dieser Be¬
dingungen eine völlige wirtschaftliche und seelische Verelendung Deutschlands zur
Folge haben wird, darüber besteht ein Zweifel nicht. Nun sagen die Verfechier
der Annahme um jeden Preis, ein solcher Friede sei auf die Dauer innerlich
unhaltbar, und er werde einmal einer grundlegenden Revision unterzogen werden
müssen. Vielleicht ist das richtig. Aber auch der Zustand, der durch eine plan¬
mäßige Zerstücklung Deutschlands herbeigeführt wird, kann Dauer nicht besitzen-
Und es kann sehr wohl die Frage gestellt werden, ob nicht die Krantheitskeime,
die im letzteren Falle dem Weltorganismus eingeführt werden, die stärkeren sind.
Daß allgemein menschlich betrachtet und für das Schicksal des einzelnen Menschen
das Elend in Deutschland bei der Annahme der unsere Zukunft vernichtenden
Bedingungen auf die Dauer größer sein wird, als bei der Ablehnung, diese Aw
nähme ist durch nichts gerechtfertigt. Entscheidend für die Frage, ob es en'e
deutsche Zukunft geben wird oder nicht, bleibt in beiden Fällen allein der Wille
des deutschen Volkes. Gegen den starken Willen eines in seinen Grundanlagen
jugendstarken Volkes und den unerschütterlichen Einheitswillen eines Volkes ist aus
die Dauer jede gegnerische Koalition machtlos. Die Frage kann nur sein, nnter
welchen Bedingungen dieser Wille die relativ günstigen Entivicklungsmöglichkeiteu
findet. Daß gerade die Kreise, die einem Friedensschluß in jedem Falle das
Wort reden, ihrer grundsätzlichen Weltanschauung gemäß ein eigentliches National¬
gefühl und damit auch einen spezifischen Nationalwillen nicht besitzen tonnen,
>äßt es doppelt zweifelhaft erscheinen, ob ihr Rezept geeignet ist, für einen neuen
Aufbau Deutschlands die Grundlage zu schaffen.
Die bloße Hoffnung auf die innere Haltlosigkeit der kommenden Zustände
und auf die kommende Weltrevolution allein tut es nicht. Noch immer ist das
deutsche Volk selbst der letztlich entscheidende Faktor für die deutsche Zukunft. Vor
welche Entscheidungen die deutsche Negierung in den kommenden Tagen oder
Wochen gestellt werden wird, kann niemand voraussagen. Ob sie vor klare,
unabweisbare Alternativen gestellt wird, oder ob sie auch weiterhin die Möglichkeit
behalten wird, durch die Art ihres Verhaltens die Entwicklung der nächsten Zeit
in, wenn auch geringem Maße, mit zu beeinflussen, kann nur die Entwicklung selbst
zeigen. Eins aber ist klar. Die Regierung begeht Verrat an der deutschen Zu¬
kunft, die sich vom Druck äußerer oder innerer Gegenwartsströmungen davon
abhalten läßt, nur das eine Ziel zu verfolgen, dem Zukunftswillcii des
deutschen Volkes die besten erreichbaren Wnchstumsbedingungcn zu verschaffen.
el der Bedeutung der baltischen Provinzen, die diese Gebiete in Zu-
kunft für Deutschland als Nahrungsmittelguelle und als Zufuhr-
ländcr, unabhängig von der gegenwärtigen Lage haben können,
erscheint es zweckmäßig, die landwirtschaftlichen Verhältnisse des
Baltikums vor Nusbruch und während des Krieges, sowie ihre
Entwicklungsmöglichkeit sich vor Augen zu halten.
deInfolge der ungünstigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse
Landes stand die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens im allgemeinen auf
^mer tieferen Entwicklungsstufe als die Landwirtschaft der Ostprovinzcn des
futschem Reiches. Während hier rund M Prozent der gesamten Vodeuflächc beackert
^"d. umfaßt das Ackerland im Baltikum uur etwa 24 Prozent der Bodenfläche,
«kalter Hackfruchtbau und intensive Milchviehhaltung gaben der Landwirtschaft
och nördlichen Teiles das Gepräge verhältnismäßig fortgeschrittener Betriebe,
wahrend die Landwirtschaft des südlicheren Teiles auf eiuer extensiveren Stufe
Neben geblieben war.
Der Kornban war infolge der niedrigen Kornpreise seit Jahrzehnten un¬
rentabel. Handel mit Getreide um größeren Maßstabe war ausgeschlossen, da das
^and durch keine Agrarzölle geschützt war und durch das Differenzialprinzip, das
deu russischem Eisenbahnen herrschte, Getreideausfuhr nicht in Betracht kam.
gesamten Erträge hierin blieben im Lande und dienten zum Nutzen der Vieh¬
zucht. Ebenso wurde der besonders im Norden stark ausgedehnte Kartoffelbau
"ußer der Spirituserzeugung für die gleichen Zwecke wie das Getreide verwandt,
etwa 240 Brennereien' wurden gegen 36 Millionen Liter Spiritus, d. h.
nahezu ein Zehntel derMenge der deutschen Spirituserzeugung gewonnen. So befaßte
sich die Landwirtschaft im Baltikumin erster Linie mit Futtergewiunung und Viehhaltung.
Die in früheren Jahren nicht unbedeutende Mast war aufgegeben, weil ihr
zahlungsfähige Märkte verschlossen waren, um Westen wegen der Seuchenschutz-
gesetze, im Osten wegen der starken Überschwemmung mit Erzeugnissen aus ^üd-
rußlcmd und Sibirien. Die Erzeugung an Milch war daher das Hauptziel der
Rindviehzucht. Diese Milch wurde zum geringen Teil an Ort und Stelle zu
Butter, Käse und anderen Molkereierzeugnissen verarbeitet. Der größere Teil wurde
als frische Vollmilch nach den Städten wie Libau, Riga, Petersburg abgeführt.
Es kamen daher für die baltische Landwirtschaft, außer den gut im Preise'stehen¬
den Erzeugnissen des Waldes, Milch, Spiritus und stellenweise noch Flachs und
Leinsaat als Einnahmequellen in Frage,
Die Rindviehhaltung im Jahre 1910 bezifferte sich auf rund 1137891 Stück,
von denen man den Bestand an Milchkühen auf mindestens 600 000 Stück an¬
nehmen muß. Neinzuchten von Angler- und Holländerschlägen, die trotz Vlut-
reiuheit mit der Zeit einen gewissen baltischen Typ erhielten, gaben der Rindvieh-
zucht des Landes den erwünschten züchterischen Einschlag. Zahlreiche Kontrollvereine
wußten dahin, die Zucht nach Leistung zu entwickeln.
Wie auch in anderen Ländern konnte die Schafzucht die Konkurrenz der
vom Ausland kommenden Wolle nicht bestehen. Die um 1841 auf verhältnis¬
mäßig hoher Stufe stehende Zucht (Merino) wurde daher bald »ach dieser Zeit
nieder aufgegeben. Das Haupiarbeitsgebiet wandte sich seitdem der Rindviehzucht,
dem Meiereiwesen und dein erforderlichen Futterbau zu.
Die eigene Pferdezucht, die ein ausgesprochenes Zuchtziel noch nicht erkennen
ließ, genügte in den letzten Jahre n nicht, um den fortschreitenden Eigenbedarf zu
decken. Es wurden immer mehr Pferde aus dem Innern Rußlands angekauft.
Sowohl auf dem Gebiet der Schweine-, wie Geflügel-, Fisch- und Bienen¬
zucht waren Anfänge zu züchtcrischem Aufbau und der damit verbundenen wirt-
scliaftlichen Hebung der betreffenden Zweige vorhanden. Alle Versuche und Arbeiten
blieben jedoch meist in den Anfängen stecken, da eine systematische Förderung der
Landwirtschaft durch den Staat fehlte.
Die Bedeutung der Wiesen und Weiden war den dortigen Landwirten
durch die von ihnen in den letzten Jahren vor Ausbruch des Krieges mit Erfolg
vorgenommene Kultivierung von Hoch- und Niederungsmoor, sowie Urlaub hin¬
länglich bekannt.
Vielfache Förderung erfuhr die baltische Landwirtschaft durch das Poly¬
technikum in Riga und die damit verbundenen Versuchsanstalten, durch die Lcmdes-
universüät und das Veterinä, Institut in Dorpat sowie durch die Ritterschaft und
die Kreditsozietäten der drei Provinzen, die die einzelnen ökonomischen Sozietäten
zur technischen Beratung aus ihren Reineinnahmen mit Geldmitteln versahen.
In ständigen Wachstum befand sich auch das landwirtschaftliche Vereins¬
wesen, in das aber nach Einsetzen der Nussifizierung bald ein nationaler Zwie¬
spalt getragen wurde, so daß sich überall Parallelgesellschaften und Vereine in den
lettischen und chemischen Kreisen bildeten. Bei der Eigenheit der Vesitzverhältnisse
im Baltikum waren in dem letztgegründeten vornehmlich der Mittel- und Klein¬
grundbesitz vertreten.
Zwischen dem Stande der Guts" und Vauernwirlschaften bestand ein wesent¬
licher Unterschied im Ackerbau nicht; daß die besser geführten und kapitalkräftigeren
Gutswirtschaften allen anderen voraus waren, lag in der Natur der Sache.
Wie überall, wurde auch die baltische Landwirtschaft während des .Krieges
vor besonders schwere Aufgaben gestellt. Während es zunächst galt, dem russischen
Staate landwirtschaftliche Erzeugnisse und Kriegsmaterial zuzuführen, änderte sich
die Lage wesentlich im Hnbst l915 durch die deutsche Besetzung Kurlands und
die dadurch bedingte Stärkung der russischen Front zum Schutze Petersburgs.
Besonders bedauerlich gestalteten sich die Verhältnisse für Kurland. Durch
die systematisch betriebene Evakuierung der kurländischen Viehbestände, des toten
Inventars und der bäuerlichen Bewohner wurde Kurland in einem landwirtschaftlich
wenig leistungsfähigen Zustande damals von uns übernommen. Nur den Plan-
mäßigen und zielbewußter Maßnahmen der deutschen Verwaltungsbehörden ist es
zu danken, daß die kurlündische Landwirtschaft nicht zugrunde ging. Die großen
und dauernden Aufwendungen unserer Verwaltung zur Hebung der Landwirtschaft
legen beredtes Zeugnis dafür ab. Sind doch für Kurland an Saaten für etwa
2 Millionen, an Vieh für etwa 3 Millionen, an landwirtschaftlichen Maschinen
und Geräten für 4,2 Millionen Mark, sür Liv- und Estland für mehrere
Millionen Mark Getreide, vor allen: Gemüsesämereien und für beinahe 2 Millionen
Mark landwirtschaftliche Maschinen und Geräte eingeführt worden, ganz abgesehen
von den großen Aufwendungen für Feld- und Förderbahnen und für sonstige
landwirtschaftliche Erfordernisse.
Günstiger gestalteten sich die Verhältnisse sür Liv- und Estland. Selbst die
nach der russischen Revolution 1917 über die Provinzen brausende bolschewistische
Welle im Januar-Februar 1918 schädigten die Landwirtschaft bis auf die durch
die Kampfhandlungen um Riga zerstörte sogenannte tote Zone im allgemeinen
nur örtlich. Wäre nicht der plötzliche Umschwung in der gesamten Kriegslage
eingetreten, so wären die verderblichen Einwirkungen der Zeit kurz vor der
Befreiung Liv- und Estlands wohl bald überwunden gewesen.
Die politische Entwicklung der Dinge wurde aber allmählich für die baltische
Landwirtschaft verhängnisvoll. Die Selbständigmachnng Estlands und Lettlands
und der Zusammenbruch Deutschlands führten fast zu ihrer Vernichtung. Durch
die Ohnmacht der neuen Staaten angestachelt, überflutete der Bolschewismus das
Land. Was sich an verwertbaren Vorräten und Erzeugnissen noch im Lande
befand, mußte durch Willkürakte den plündernden Banden preisgegeben werden.
Bis auf geringe Teile Kurlands und des Nordens konnten die Provinzen und
selbst die vorgelagerten Inseln, Osel, Dagö und Moon nicht vor der Zerrüttung
bewahrt werden. Wie sich die Gesamtlage der baltischen Landwirtschaft nach einer
coll. Befreiung vom bolschewistischen Joche tatsächlich darstellen wird, ist, auch
nur annähernd zu sagen, heute noch nicht möglich. Das eine aber steht zweifels¬
frei fest, daß sie in ihren Grundfesten ans das allerbedenklichste und gefährlichste
erschüttert worden ist.
Wie sich aus diesen Zuständen nach Eintritt normaler Verhältnisse ein
Wiederaufbau der baltischen Landwirtschaft gestalten wird, ist heute noch unklar.
Andererseits ist es aber klar, daß eine Gesundung des gesamten Wirtschaftslebens
un Baltikum nur durch die Land- und Forstwirtschaft vor sich gehen kann, da
dies die umfassendsten und grundlegendsten Zweige des gesamten baltischen Wirt¬
schaftslebens sind. Wenngleich die Landwirtschaft sich dort vor Ausbruch des
Krieges teilweise erst im Anfangsstadium ihrer Entwicklungsmöglichkeiten befand,
so sind sür sie doch eine Fülle von Möglichkeiten gegeben. Der im großen und
ganzen fruchtbare Boden bietet in Verbinonng mit dem dortigen Klima die Grund¬
lage für eine namentlich in der Viehzucht und Viehhaltung entwicklungsfähige
Landwirtschaft. Die großen Moore und die bisher noch ungepflegten Buschgras-
ländereien harren noch der Aufschließung und der Umwandlung in ertragreiche
Acker, Wiesen und Weiden. Ebenso können die zahlreichen Seen und Flüsse,
sowie die Küsten und Hochseefischerei zu ertragreichsten Betrieben ausgebaut
werden. Entsprechend sind auch alle anderen landwirtschaftlichen Zweige —
insbesondere der Flachsbau — erheblich zu steigern.
Trotz aller Schwierigkeiten, die zweifellos in schier erdrückenden Maße vor¬
handen sein werden, gibt es einen Weg, nämlich da wieder anzufangen, wo sich
fester Grund in den einzelnen Wirtschaftszweigen vorfinden wird.
Daß die Landwirtschaft im Baltikum im höchsten Grade entwicklungsfähig
>se. haben auf allen ihren Gebieten die führenden Männer der baltischen Land¬
wirtschaft in überzeugender Weise in der Praxis und in ihrer wissenschaftlichen
Arbeit dargetan. Es gibt keinen Zweig der Landwirtschaft, der bei zielbewußter
Arbeit hier nicht zum Erfolge führen könnte; braucht man doch nur zu erinnern
an die Namen, wie z. B. v. Knieriem, George Thoas. v. Oettingen, v. Blanken-
hagen, v. der Nvpp. v. zur Mühlen, v. Grunewalde, Dr. Stegemann, v, Midden-
dorf, v. Seydlitz, Karl Schmidt, v. Hunnins, Sennner und dergleichen mehr.
Aufgabe der kommenden Staatengesüge wird es daher sein, das Hauptaugenmerk
auf die Hebung dieses ersten und bedeutungsvollsten Wirtschaftsgebietes zu lenken.
Bei der eigentümlichen geographischen, politischen und wirtschaftlichen Lage
des Baltikums werden der lettische und chemische Staat gezwungen sein, An¬
lehnung an größere Staatsgebilde zu suchen. Eine solche bei Deutschland zu
finden, wird selbst unter den heutigen Verhältnissen für beide Teile von Vorteil sein.
Da uns der Westen als gleichberechtigter Erzeuger und Abnehmer auf lange
Jahre hinaus versperrt sein wird, ist unser zukünftiges Arbeitsgebiet der Osten.
Ihn zu erreichen, wird voraussichtlich nur möglich sein, den Weg über das
Baltikum zu nehmen.
Einen wirtschaftlichen Aufschwung können Lett- und Estland nur nehmen
durch großzügige Ausgestaltung ihres Vorkehrswesens, der Landesmelioration und
der Vesiedclung. Es liegt ans der Hand, daß sie allein hierzu nicht imstande
sind. Für deutsche Ingenieure, Land- und Forstwirte, Kultnringenienre, Bau¬
meister und Kaufleute wird sich daher dauernd dort ein großes Feld der Tätigkeit
bieten. Bei der Erschließung der ungeheuren Flächen unmeliorierten Moor- und
Urlaubes werden der lettische und chemische Staat auf deutsche Gelehrte, Praktiker
und Erfahrungen deutscher Fachorganisativnen angewiesen sein.
Vor dem Kriege teilten sich Deutschland, Schweden und Amerika — aller¬
dings unter starkem Übergewicht von Amerika — in die Lieferung von landwirt¬
schaftlichen Maschinen und Geräten. Mit Ausnahme des Chilesalpeters und des
Ammoniaks wurden fast alle Düngemittel aus Deutschland bezogen.
Durch den Krieg ist in den weitesten Kreisen unseres Vaterlandes das
Interesse für das Baltikum geweckt worden. Von unserer Verwaltung ist das
baltische Genossenschaftswesen neu ins Leben gerufen und zum Teil noch heute
tätig. Zahlreiche wirtschaftliche Anlagen sind während des Krieges erbaut und
dem Lande belassen. Tausende von Beziehungen sind durch unsere Truppen
während der Zeit unserer Besetzung im Baltikum angeknüpft.
Es heißt also nur an altes oder neues wieder anknüpfet? und unter Be¬
rücksichtigung der heutigen Verhältnisse entsprechend um- bzw. auszubauen, um
im beiderseitigen Interesse mit Vorteil dauernd gute Beziehungen zu erhalten.
Zahlenmäßige Berechnungen irgendwelcher Art unter den augenblicklichen
Umständen anzustellen, ist zweckloses Unternehmen. Für Kulturarbeit ist aber das
Baltikum ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das steht einwandfrei fest
und ist wohl jedem klar geworden, der einmal Gelegenheit gehabt hat, sich
persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen.
as Alte stürzt, es ändert sich die ZeitI Vieles, was wir früher
für durchweg lebensfähig hielten, wird hente gewogen und zu leicht
befunden. Noch viel mehr aber wird vieles, was an sich durchaus
lebensfähig bleibt, heute von einem veränderten Gesichtspunkte aus
betrachtet und beurteilt. Wünsche nach Veränderung und Ver¬
besserung werden von allen Seiten laut, und wer in der neuen
Zeu leben und erfolgreich schaffen will, muß sich diesen Wünschen anzupassen
suchen. Gerade in dieser Fähigkeit, sich anzupassen, zeigt sich erst recht die Lebens¬
kraft und die Jugendlichkeit von Einrichtungen ebensowohl wie von Einzel-
Persönlichkeiten.
So erwächst allen denen, die für den Ausbau öffentlicher Einrichtungen die
Verantwortung tragen, die unabweisliche Pflicht, mit sich selbst zu Rate zu gehen,
wie weit sie das ihnen anvertraute Gut bisher richtig verwaltet haben, wie weit
ne etwa künftig neue Wege einschlagen müssen, oder endlich wie weit sie sich von
früheren Gewohnheiten, die heute ganz oder doch wenigstens teilweise überholt
erscheinen, frei machen müssen.
Dabei stehen unter allen den Einrichtungen, die den Ansprüchen der geistigen
Kultur zu dienen haben, neben Kirche lind Schule, neben Universitäten und
Akademien mit in erster Reihe die Museen. Von ihnen soll hier kurz die Rede
kein, von dem, was sie bisher geleistet haben, und von dem, was das deutsche
Volk für die Zukunft von ihnen erwarten muß.
Die Tätigkeit der Museen hat sich nach drei verschiedenen Richtungen zu
erstrecken. Sie besteht einmal im Sammeln, sodann in der wissenschaftlichen
Verarbeitung, endlich in der volkstümlichen Nutzbarmachung. Diese drei Aufgaben
greifen überall ineinander über, eine kann nicht sein ohne die andere, wenn sie
den berechtigten Anforderungen entsprechend ausgeübt werden sollen. Will man
!>es aber ein näheres Bild von ihnen machen, oder will man die Aufgaben unter-
nahm, die ihnen für die kommende Zeit erwachsen, so muß man sie eine mich
der anderen, also jede für sich allein besprechen.
Was die Sammeltätigkeit angeht, so haben die verschiedenen Muscnms-
gciltungen eine sehr verschiedene Wesensart, je nachdem sie ihre Aufmerksamkeit in
erster Linie auf das durchschnittlich Gültige, auf das Typische der Erscheinungen
richten, oder nachdem sie gerade das Ungewöhnliche, das über den Durchschnitt
hervorragende, ins Auge fassen, oder endlich nachdem sie sich auf örtliche Sondec-
erscheinungen beschränken. Diese verschiedenen Rücksichten treten bei den ver¬
schiedenen Sammlungen teilweise ganz rein in die Erscheinung, teilweise zeigen
ne sich nebeneinander wirksam, und im letzteren Falle erklärt es sich, wenn die
Grenzgebiete mancher Museen ineinander überfließen, und wenn sich in Einzel-
mllen für den Fernerstehenden der unzutreffende Anschein ergibt, als ständen nicht
?>ur die gleichartigen, sondern auch die verschiedenartigen Museen untereinander
ni eineur'dauernden Wettbewerb.
Von den erwähnten Sammlungsformen ist diejenige wohl am reinsten aus¬
gebildet, die auf das Außergewöhnliche, das Überragende ausgeht. Sie wird ver-
treten durch die Kunstmuseen, die Galerien und die Sknlvtnrensammlungen. Auch
dle Kunstgewerbemuseen gehören in diesen Kreis, denn auch diese werden ihren
Aufgaben nur dann am meisten gerecht, wenn sie sich freihalten von der Durchschnitts-
ware, wenn sie nur künstlerisch erstklassige Stücke in ihren Rahmen ziehen. Andere
Grenzen ihrer Sammelarbeit als diejenigen, die durch die Abstufung der formalen
^Lerte gezogen werden, kennen die Kunstsammlungen nicht, also vor allem auch
lewe örtlichen Grenzen.
Die zweite Gattung, die in erster Linie das Typische der Erscheinungen
S^gen will, erscheint am reinsten in der Form der naturwissenschaftlichen Sennen-
lungen. Sie zeigen zunächst die verschiedenen Spielarten der Naturerscheinungen
in ihren typischen Formen. Daneben aber ziehen sie auch die Abweichungen von
diesen typischen Forme« mit bewußtem Nachdruck in ihren Kreis! Ähnlich steht
es mit den Völkerkundemuseen, die zunächst die für die einzelnen Völker charakte¬
ristischen Lebensformen zusammenstellen, daneben aber auch gerade diejenigen
Stücke eifrig begehren, die durch die besondere Kunst ihrer Verfertiger über das
Durchschnittliche erhoben sind, und die demnach auch in das Sammelgebiet der
Kunstmuseen fallen.
Die historischen Museen beschränken sich auf ein Sammelgebiet, das örtlich
oder — bei den vorgeschichtlichen Sammlungen — zeitlich oder endlich — bei
den neuentstandenen technologischen Sammlungen — sachlich begrenzt ist. Inner¬
halb dieser Beschränkung wollen sie, ähnlich wie die Völkerkundcmuseen, einerseits
das Typische, andererseits aber auch das Ungewöhnliche, das Außerordentliche zur
Anschauung bringen.
Der Einfluß, den die Verhältnisse der kommenden Zeit auf die Sammcl-
cnbeit dieser verschiedenen Museumsarten ausüben müssen, wird nun nicht in
jeder Beziehung gleichartig sein. Nach einer Richtung werden sie freilich alle in
gleicher Weise betroffen. So reiche Mittel, wie ihnen vor dem Kriege aus öffent¬
lichen und privaten Zuweisungen zuflössen, werden ihnen in den kommenden
Jahrzehnten nicht zur Verfügung stehen. Ihre Kaufüaft wird geringer, und das
?u einer Zeit, in der infolge der allgemeinen Preissteigerung und des vermehrten
Wettbewerbes des Auslandes die Anforderungen des Handels immer größer werden.
Die Museen werden dadurch — nicht immer zu ihrem Schaden — gezwungen
werden, ihre Sammeltätigkeit, die vor dem Kriege vielfach bis über die gesunden
Grenzen ausgedehnt war, in engerem Rahmen zu hallen und sich auf das für die
jeweiligen Zwecke Wesentliche zu beschränken. Nach einer Richtung bedeutet dieser
äußere Zwang natürlich eine starke Behinderung. Das kann aber nach einer
anderen Richtung zum guten Teil wieder ausgeglichen werden, wenn aus der
Not eine Tugend gemacht wird, wenn man besonders bei den Kunstsammlungen,
den völkerkuudlicheu und den historischen Museen auf die vergangene große Zeit
des Scnnmelns nunmehr eine neue große Zeit des Sichtens und der Wohlordnung
folgen läßt.
Hier liegen in der Tat große Aufgaben, die den Museen, für die kommenden
Jahrzehnte gestellt sind. Die auch heute noch oft erdrückende Überfülle der Schall¬
sammlungen muß gelichtet werden, womit man übrigens schon vor dem .Kriege
vielfach begonnen hatte. Nur das wirklich Wertvolle darf am gestellt bleiben, und
es muß so allsgestellt werden, daß es in seiner Bedeutuug möglichst stark zur
Geltung kommt. Was nur in zweiter Linie von Belang ist. was nur für die
Spozialstndicn des Fachmannes in Betracht kommt, das gehört in die Magazine,
und die Museilmsverwaltungen werden lernen müssen, was ihnen in vielen Fällen
bisher kaum zum Bewußtsein gekommen ist, daß sie auch ihre Magazine für die
Benutzung in Sonderfällen herzurichten und bereit zu stellen beiden.
Bei dieser Bearbeitung der Magazine wird sich zweierlei ergeben. Einmal
wird es möglich sein, sie — mit der nötigen Vorsicht — von allerlei wertlosen
Dingen zu befreien, die sich bei jedem Museum im Laufe der Jahre anzusammeln
pflegen, die ohne eine Muscumsbedeutung zu haben, doch einen gewissen Handels-
ware besitzen, und deren Erlös den Sammlungen zugute kommen kann. Viel
wichtiger aber ist ein Zweites. Die Museen müssen endlich den früher nicht selten
befolgten Standpunkt aufgeben, bei dem sie nur an sich selbst, nicht aber an die
Nachbarsammlungcn dachten. Dieser frühere starke gegenseitige Wettbewerb hat
zwar das eine Gute gehabt, daß er das Abwandern von sammlungswürdigen
Gegenständen in das Ausland zum Teil verhindert hat. Daneben aber hat er
auch dazu geführt, daß er in kaufkräftige Sammlungen eine große Reihe von
Stücken gebracht hat, die bat zuerst sehr willkommen schienen, die dann aber vor
besseren Stücken zurücktraten und wohl gar in die Magazine wanderten, während
ihnen in ihrem engeren heimatlichen Kreise eine sehr viel höhere Bedeutung zu-
gemessen wird. Solche Stücke gilt es jetzt wieder hervorzuholen und sie so aus¬
zutauschen, daß sie ihrer heimatlichen Umgebung wieder zugeführt werden. Auf
diesem Wege des Tausches läßt sich zum Nutzen für beide Teile manches wieder
gut machen, was die Vergangenheit falsch gemacht hat.
Die Museen werden diesen Weg in viel stärkerem Maße, als es bisher ge¬
schehen ist, zu beschreiten haben. Sie werden dabei wohl alle mit den Magazinen
anfangen, aber sie werden dabei nicht stehen bleiben. Auch die Schausamnilungen
werden sie durch gegenseitigen Austausch sicherer orientieren. Das innere Schwer¬
gewicht der Gegenstände drängt notwendigerweise- dahin, und die geräumigere
Aufstellung, zu der man sich entschließen muß, wird den Museumsverwaltungen
diesen Austausch erleichtern. Darin stimmen wir durchaus mit der von W. Valen-
üuer verfaßten Denkschrift überein, die unter dem Titel „Umgestaltung der
Museen im Sinne der neuen Zeit" (Berlin 1919) vor kurzem erschienen ist. Nur
muß der Austausch auf einem gegenseitigen Verständnis der Aufgaben der ver¬
schiedenen Museumsarten beruhen. Er darf nicht erzwungen werden dadurch, daß
Ulan die Matzstäbe nur von einer einzigen Museumsart nimmt und diese allen
anderen überordnet. Valentiner ist diesem Fehler nicht entgangen. Für ihn ist
die Rücksicht auf die Kunstsammlungen von vornherein das Entscheidende und
Übergeordnete, und wenn er zu deren Gunsten allerhand Abgaben von den
Völkerkundemuseen und den Antilcnsamnüungen fordert, so handelt es sich dabei
überhaupt nicht mehr um einen Tausch, sondern um eine zwangsweise Entnahme,
die den Aufgaben der davon betroffenen Mnseumsarten nicht gerecht wird.
Einen besonderen Abschnitt in diesem Zusammenhange bildet das von
Valentiner eingehend besprochene Verhältnis der Kunstsammlungen unter sich, der
Galerien, Skulpturensammlungen und Kunstgewerbemuseen. Hier hat man schon
seit Jahren mit gutem Erfolg angefangen zu mischen. Man hat zunächst stilgleiche
Bilder und Skulpturen zusammen ausgestellt, man hat dann Möbel aller Art dazu
getan, und es ist durchaus folgerichtig, wenn man dem nun auch noch Silber,
Porzellan, Fayencen, Gläser usw. in entsprechender Auswahl angliedern und damit
noch entschiedener auf das bisherige Arbeitsgebiet der Kunstgewerbemuseen
übergreifen will. Freilich kann das, wenn es geschieht, nur mit sehr, sehr großer
Zurückhaltung geschehen. Andererseits haben auch die Kunstgewerbemuseen schon
fut Jahren die Neigung gezeigt, ihre Sammlungen künstlerisch vorbildlicher
Gebrauchsgegenstände in Zusammenhang mit guten Bildern und Plastiker zu
bringen. Es ist jetzt schon etwa ein Jahrzehnt her, da sagte mir Justus Brinck-
wann, daß er es nur von seinen Anschaffungsmitteln abhängig mache, eines
schönen Tages z. B. einen Franz Hals in sein .Kunstgewerbemuseum zu hängen,
und daß er sich auch Lichtwarck gegenüber bereits in diesem Sinne aus¬
gesprochen habe.
Die früher mehr getrennt marschierenden Arten der Kunstsammlungen haben
sich demnach auf einem weiten Gebiete zu ähnlichen Absichten entwickelt, und es
wird die Aufgabe der Zukunft sein, in dieser Hinsicht endgültige Entscheidungen
Zu treffen. Valentiner geht in seinen Vorschlägen in dieser Beziehung so weit,
daß er geradezu eine Verschmelzung der Werke der freien und der angewandten
Künstein einereinzigen Gattung von Knnstsannnlungen fordert und daraus den Schluß
zieht, das Kunstgewerbemuseum müsse ein für allemal den Anspruch aufgeben,
als Qualitätsmuseum gelten zu wollen. Es müsse wieder zu dem gemacht
werden, was in seiner Linie von Anfang an liege, zu einer Typensammlung für
das Kunsthandwerk. Höchstens könne es daneben noch für gewisse Gebiete als
wissenschaftliches Studiemnuseum gelten. Aber schon die hieraus sich ergebende
Mischung hält er nicht mehr für glücklich.
Man sieht, wie weit hier die Forderungen gehen. Dennoch brauchte man
auch vor ihnen nicht zurückzuschrecken, wenn sie wirklich eine unanfechtbare Lösung
der hier angeschnittenen Fragen brächten. Letzteres ist aber mehr als zweifelhaft,
denn die von Valentiner geforderte Verschmelzung müßte entweder zu einer —
"an ihm selbst abgelehnten — ungeheuren Ausdehnung der Kunstmuseen führen.
oder sie müßte weite Gebiete, auf denen sich die Kunstgewerbemuseen mit Erfolg
betätigt haben, wenigsten» in ihren Schausammlungen — dem wichtigsten Teile
aller 'Museen — unberücksichtigt lassen. Andererseits liegt es auf der Hand, daß
es die Aufgabe der Zukunft sein wird, sich mit diesen Fragen gründlich auseinander
zu setzen. Das Endergebnis wird unzweifelhaft dahin führen, daß man an den
verschiedenen Stellen je nach der Größe des Sammlungsbesitzes verschiedene Wege
einschlagen wird. So hat K. Schäfer in Lübeck sich mit vorbildlichem Erfolge zu
der Lösung entschlossen, daß er die früher getrennt aufgestellten kunstgewerblichen
und ortsgeschichtlichen Sammlungen miteinander verschmolzen hat, und dieser
Weg dürfte sich auch für andere mittelgroße Städte dringend empfehlen, während
er für die ausgedehnten Sammlungen der Großstädte weder empfehlenswert noch
erreichbar sein würde.
Ähnlich wie die Kunstsammlungen werden auch die übrigen Musemusarten
durch die Beschränkung ihrer Ankaufsmittel in ihrer Sammeltätigkeit betroffen,
insofern auch sie auf die Erwerbung besonders hervorragender Stücke bedacht sind.
Weniger stark ist die Behinderung auf demjenigen Teile ihres Arbeitsgebietes, der
die Sammlung der typischen Formen, d. h. des durchschnittlich üblichen, begriffe.
Die Auswahl ist hier größer," und dementsprechend sind die Preise niedriger.
Nach dieser Richtung bleibt also die Sammellätigkeit verhältnismäßig wenig be¬
hindert. Aber das kommt im Durchschnitt doch nur den kleineren Sammlungen,
die noch im Anfange ihrer Tätigkeit stehen, zugute. Je mehr ein historisches,
ein völkerkundliches, ein naturhistorisches Museum bereits reich aufgebaute alle
Sammlungen besitzt, um so mehr wird es auch aus seinem Gebiet besonders her¬
vorragende Stücke zu erwerben suchen. So wird auch hier die Wechsclwiri/ung
des gesteigerten Weltbeiverbs und der verminderten Kaufkraft in zunehmendem
Maße mit ihren Hindernissen einsetzen, und hier wie bei den Kunstsammlungen
wird die Folge sein, daß die Museumskräfie mehr ans innere Ordnungsarbeiten
gerichtet werden müssen.
Hand in Hand mit einer Vertiefung der inneren Museumsarbeiteu wird
nun bei allen Museumsarten auch eine weitere Stärkung der wissenschaftlichen
Arbeiten eintreten. In dieser Richtung werden die veränderten Verhältnisse den
Museen nicht schaden. Sie werden ihnen nur förderlich sein. Eine zunehmende
Verankerung des SammlungSwesens auf wissenschaftlichem Boden wird den
Museen im Kreise der wissenschaftlichen Anstalten, in den sie als eines seiner
jüngsten Glieder eingetreten sind, erst die volle Gleichberechtigung gewährleisten.
Das Publikum wird'dann endlich lernen, was es heute meist noch nicht weiß,
daß der Museumsbeamte nicht in erster Linie als Sammler sondern als Gelehricr
zu gelten hat, daß das Wissen die Voraussetzung für das Sammeln ist. Darin
liegt eben der Unterschied zwischen dem Museumsbeamien und dein Privatsammlcr,
denn bei dem letzteren bilden in den meisten Fällen nur die Sammlererfahrnngen
die Voraussetzung für das jeweilige Maß der einschlägigen Kenntnisse. Auf dieser
Einsicht des Publikums wird dann endlich auch insofern eine höhere Wertschätzung
der Museumsarbeit sich aufbauen, als die bisher noch so oft begegnende Auf¬
fassung gründlich beseitigt wird, nach der so ziemlich jeder interessierte Laie, mag
er nun Künstler, Sammler, Schriftsteller oder Offizier sein, ohne vorhergehendes
Studium in der Lage wäre, in die Museumslaufbahn, ja sogar in die Leitung
eines Museums einzutreten.
Überblickt man die bisherigen wissenschaftlichen Leistungen der Museen in
ihrer Gesamtheit, so zeigt sich dabei der reichste Ertrag auf seiten der Kunstmuseen
und der naturwissenschaftlichen Sammlungen. Das ist nicht verwunderlich, denn
sie sind auf einem jahrhundertalten wissenschaftlichen Boden verankert. Die
jüngeren Völkerkundemuseen sind ihrem Beispiele planmäßig und mit guien Er¬
gebnissen gefolgt. Am meisten im Hintertreffen befinden sich die historischen
Museen. Diese haben zwar in den letzten Jahrzehnten hinsichtlich der Gebiete
der vorgeschichtlichen und der römisch-germanischen Forschung auf den von den
Geschichts- und Altertumsvereineu gelegten Grundlagen die erheblichsten Fort-
schritte erzielt, aber die systematische Behandlung der Altertümer des Mittelalters
und der neueren Zeit steckt trotz vieler ortsgcschichtlichen Vorarbeiten noch ganz in
den Anfängen. Hier eröffnet sich der wissenschaftlichen Arbeit noch ein weites
Gebiet, dessen ernstliche Inangriffnahme eine dringende Verpflichtung der historischen
Museen ist.
Mit diesen wissenschaftlichen Aufgaben ist die Nutzbarmachung der Samm¬
lungen für das große Publikum — wenigstens zu einem bestimmten Teile —
unmittelbar verbunden. Die wissenschaftliche Verarbeitung der Sammlungen ist
die Voraussetzung für die volkstümliche Behandlung, die allein auf die weiteren
Kreise der Bevölkerung einzuwirken vermag. In dieser Beziehung haben die
Kuustsanunlungen und die naturhistorischen Museen insofern mit den günstigsten
Voraussetzungen zu rechnen, als den von ihnen vertretenen Interessen schon durch
die Schule der Boden bereitet wird. Aus diesen Gebieten ist daher von selten
des Publikums eine starke Nachfrage, und die Museen haben sich mit anerkennens¬
werten Eifer und vielfach mit gutem Erfolg bemüht, dieser Nachfrage gerecht zu
werden. In der gleichen Richtung ist — wenn auch nicht mit gleich günstigen
Voraussetzungen in bezug auf die Schule — in den letzten Jahrzehnten die Ent-
Wicklung bei den Völkerkundemuseen gegangen. Van ihnen ist fast die gesamte
Populäre völkerkundliche Literatur, über die wir heute verfügen, ausgegangen.
Dennoch muß nach dieser Richtung noch erheblich mehr geschehen. Die zu¬
nehmende Erstarkung der llbersecinteressen im deutschen Publikum verlangt
dringend danach.
Was die Kunstgewerbemuseen angeht, so kann man nicht sagen, daß mit
ihrer stark entwickelten Fachliteratur auch die populäre Darstellung gleichem Schritt
gehalten hätte. Vielleicht zeigt sich hier am deutlichsten, daß die stilgeschichllich-
iechnologischo Betrachtungsweise, auch dann, wenn es sich dabei um Qualitnts-
stücke handelt, in den breiten Schichten der Bevölkerung einen starken Widerhall
nicht findet, und daß infolgedessen auch eine populäre Behandlung keiner großen
Nachfrage begegnet. Aber die Kunstgewerbemuseen müssen nach dieser Richtung
in Zukunft sehr viel stärkere Versuche machen. Ihre ganze Stellung wird, wie
wir gesehen haben, zwischen den berechtigten Ansprüchen der Kunstsammlungen
und der historischen Museen vielfach in starke Bedrängnis kommen, und ob sie
sich in der alten Form werden behaupten können, das wird in erster Linie von
dem abhängen, was sie für die Allgemeinheit leisten, von dem Widerhall, den
ihre Arbeit in den weiten Kreisen der Bevölkerung findet.
Fast am unbegreiflichsten liegen die Verhältnisse bei den historischen
Muster. Ihre Arbeitsgebiete verlangen schon seit langer Zeit uach volkstümlichen
Darstellungen für Schule und Haus. Aber statt nach dieser Richtung die ihnen
gewiesenen eigenen Wege zu gehen, haben die historischen Museen sich — wenn
>nan von der Vorgeschickte absieht — ein halbes Jahrhundert lang so gut wie
vollständig in die Gefolgschaft der Kunstgewerbemuseen begeben und die altertumS-
kundliche Arbeit fast ganz den Geschichtsvereincn mit ihrer örtlichen Nrbeits-
vegrcnznng überlassen. Zusammenfassende Darstellungen allertumskundlicher Art
fehlen deshalb wie in wissenschaftlicher so auch in populärer Form fast gänzlich.
Hier muß also so bald wie möglich Abhilfe geschaffen werden. Das deutsche Volk
hat einen Anspruch darauf, in leicht faßlicher Form über die Kulturerscheinungen
seiner eigenen Vergangenheit belehrt zu werden, und es bleibt die unweigerliche
Aufgabe'der historischen Museen, diesen Anspruch zu erfüllen.
Die schriftliche Behandlung, von der hier die Rede war, ist aber nicht das
einzige Mittel, das die Museen zur Popularisierung ihrer Sammlungen anzu¬
wenden haben. Vor der schriftlichen Behandlung stehen auch hier die Sammlungs-
klegenstände. Der Aufbau der Museumssammluugen selbst ist es, der sich am
unmittelbarsten an das Publikum wendet, der selbst da, wo ursprünglich das
Interesse noch gering ist, die Aufmerksamkeit zu wecken und zu wiederholter Be¬
frachtung zu erziehen vermag. Alle Museen, die überhaupt Anspruch auf diesen
nennen haben, sind schon längst zu dieser Erkenntnis gekommen. Fragen der
Raumgestaltung, der Beleuchtung, der Schaukästen und der Hintergründe sind
nach allen Richtungen durchgesprochen und ausprobiert worden. Die Museen,
wenigstens alle größeren, sind dadurch schauwürdig geworden. Aber eine der
wichtigsten Rücksichten ist bei alledem doch bisher viel zu wenig beachtet. Sie
betrifft die schon erwähnte und oft bis zur Unerträglichkeit gesteigerte llberfülle
der Schauräume. Sie zu beseitigen sind bis jetzt eigentlich nur die Galerien und
die Skulpturensammlungen mit dem guten Beispiel vorangegangen. Die kunst¬
gewerblichen, die ethnographischen, die naturwissenschaftlichen und die historischen
Museen müssen dem folgen. Das Publikum hat ein unbedingtes Anrecht darauf,
und es wird nicht fehlgehen, wenn es die richtige und maßvolle Auswahl der
Schausammlungeu geradezu zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Museums¬
leitung nimmt.
Bei einer lockeren Aufstellung sprechen die Gegenstände am besten für sich
selbst zum Beschauer. Was außerdem noch durch notwendige kurze Erklärungen,
durch einen knappen „Führer" und durch eingehendere Kataloge für das Ver¬
ständnis beigetragen werden kann, das ist seit Jahren von vielen Seiten erprobt,
und es bedarf nur einer planmäßigen allgemeinen Durchführung. An dieser
freilich muß auf allen Seiten mit Ernst festgehalten werden.
Eindringlicher aber als das geschriebene bleibt das gesprochene Wort, das
in den Museumsführungen zur Geltung kommt. Nach dieser Richtung werden
alle Museumsarten ihre Tätigkeit noch erheblich ausdehnen müssen. Für die Aus¬
führung aber bleibt nur e.n Weg. Selber können die wenigen Beamten, über
die ein Museum in der Regel verfügt, die Führungen nur zum kleinen Teile
übernehmen. Es müssen also Hilfskräfte gewonnen werden. Die Erfahrung/zeigt
aber, daß das bei einigem guten Willen nicht schwer ist. Lehrer, Studenten,
Sammler und sonstige Liebhaber finden hier eine überaus dankbare Möglichkeit,
sich zum Nutzen des Publikums und zum Vorteil der Museen zu betätigen. Die
Museumsleitung muß sie in besonderen Führerkursen heranbilden und ihnen dann
ihre Tätigkeit selbständig überlassen. Die Nutzbarmachung der Sammlungen für
die Allgemeinheit wird dadurch den größten Gewinn erzielen, und es wird dadurch
der noch immer nicht überall beseitigte geradezu beschämende Zustand aufgehoben,
bei dem das Publikum sich immer wieder darauf angewiesen sah, sich bei den für
ganz andere Zwecke eingestellten Museumsaufsehern Auskunft zu holen.
Viel erörtert wird heute in dem Zusammenhange einer erweiterten Nutz¬
barmachung schließlich noch die Frage einer Verlängerung der Besuchszeiten der
Museen. Daß sie berechtigt ist, wird niemand bezweifeln. Das Publikum hat
einen Anspruch darauf, die öffentlichen Sammlungen so lange wie möglich zu¬
gänglich zu finden. Nach der wechselnden Tageslänge darf man daher fordern,
daß die Museen im Winter von 10 bis 4 Uhr, im Sommer von 10 bis 6 Uhr
ununterbrochen geöffnet sind. Eine Schließung in den Mittagsstunden ist ganz
unzulässig. Anders aber steht es mit der Frage, ob und wieweit es sich empfiehlt,
die Museen auch des Abends bei künstlicher Beleuchtung zugänglich zu machen.
Auch nach dieser Richtung sind schon wiederholt Forderungen laut geworben. Man
kann sie aber weder vom Standpunkte der Museen noch im wohlverstandenen
Interesse des Publikums befürworten.
Man brauchte dabei allerdings nicht vorder Tatsache zurückzuschrecken, daß
die Museen bis jetzt nicht auf Abendbeleuchtung eingerichtet sind und daß die
nachträgliche Anbringung der Beleuchtungskörper und der Leitungen nur zum Teil
in befriedigender Weise erfolgen könnte. Man müßte das in Kauf nehmen,
wenn etwas Gutes damit erreicht würde, und ebenso müßte man auch die ver¬
mehrten .Kosten für Beleuchtung und Aufsichtspersonal ohne Bedenken auf sich
nehmen.
Nun aber ist es schon sehr zweifelhaft, ob diesen Aufwendungen ein ent¬
sprechendes Ergebnis gegenüberstehen würde. Der Abendbesuch würde ja gerade
für denjenigen Teil der Bevölkerung eingerichtet, der in der Woche Tags über
nicht in der Lage ist, die Sammlungen besichtigen zu können. Dieser würde aber
auch des Abends auf die Dauer ausbleiben. Wer den Tag über gearbeitet hat,
der ist des Abends wohl in der Lage, einen Vortrag zu sich zu nehmen, und
solche Abcndvortrüge wird er in jedem Museum reichlich finden müssen. Er ist
aber nicht mehr frisch genug, um selber die geistige Arbeit zu leisten, die jeder
Museumsbesuch, wenn er überhaupt einen Sinn haben soll, unbedingt verlangen musz.
Bei dem Abendbesuch der Museen können also schon von selten des Be¬
schauers die unentbehrlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt werden. Noch
viel mehr entscheidend ist aber die Tatsache, daß dabei auch eine zweite Voraus¬
setzung unerfüllt bleiben muß, und diese betrifft die richtige Beleuchtung der Schau¬
stücke. Dabei kommt zunächst in Betracht, daß alle Farben, sowohl bei den
Smnmlnngsgegenständen wie bei der Museumseinrichtung, auf das Tageslicht
berechnet sein müssen. Bei künstlichem Licht können sie in der beabsichtigten Weise
nicht zur Geltung kommen. Dazu kommt dann aber vor allen Dingen noch, daß
bei jeder Museumsaufstellung die Rücksicht auf die möglichst richtige und auf die
günstigste Beleuchtung, das heißt also die Rücksicht auf die gegebenen Tageslicht-
gucllen des Museumsbaues, in erster Linie den Ausschlag gibt. Eine eingeb une
Abendbeleuchtung hebt, auch wenn sie noch so geschickt angebracht ist, diese Rück-
licht vollständig auf. Die Beleuchtung der Schaustücke erfolgt dann von der
falschen Seite. Alle Schatten fallen dahin, wohin sie gerade nicht fallen sollen.
Alle die Teile, die im hellsten Licht stehen sollen, liegen im Dunkel, ganz abgesehen
davon, daß der Gegensatz zwischen Licht und Schatten überhaupt viel zu start
sein würde. Eine künstliche Abendbeleuchiung stellt alle künstlerischen Absichten
der Musenmsaufstellung geradezu auf den Kopf. Man kann sie darum von ein¬
sichtiger Seite niemals befürworten.
Was die neue Zeit nach alledem von den Museen verlangen muß. läßt sich
in folgender Weise kurz zusammenfassen. Was die verminderte Kaufkraft der
äußeren Vermehrung an Eintrag tut, das muß durch gesteigerte innere Arbeit
ersetzt werden. Die Schausammlungen müssen von geordneten Magazinen getrennt
werden. Ein vernünftiger Austausch der Museen untereinander nutz die einzelnen
Gegenstände des öffentlichen Besitzes an die Stelle führen, an die sie nach ihrer
inneren Bedeutung am meisten gehören. Die Museen müssen sich überhaupt ge¬
wöhnen, mehr Rücksicht auf die besonderen Aufgaben der Nachbaranstalten zu
nehmen als bisher. In der wissenschaftlichen Arbeit müssen vor allem die
historischen Museen den Vorsprung, den die übrigen Sammlungsarten vor ihnen
gewonnen haben, baldigst wieder auszugleichen suchen. Ebenso müssen sie eine
populäre Behandlung ihrer Sonvergebiete in gleicher Weise wie die Kunstgewerbe¬
museen stärker in Angriff nehmen. Die Schausammlungen müssen bei allen
Museen lockerer und mit strengerer Beschränkung auf das wichtige aufgestellt
werden. Sie müssen länger als bisher geöffnet sein. Sie müssen dem Publikum
noch mehr, als es früher geschehen ist, durch Führungen und durch Vortrage in
eigenen Vortragsräumen erschlossen werden. ^ .
Das alles sind große und vielseitige Ausspruche, die eine gewaltige Arbeit
erfordern. Überblickt man sie aber insgesamt, so sieht man, daß sie alle kaum
etwas grundsätzlich Neues bedeuten. Sie liegen alle durchaus in der Richtung.
die die" Museumsarbeit auch früher schon genommen hat. Ihr Gesamtcharaklcr
läuft im wesentlichen darauf hinaus, daß sie die Museen in noch engere Fühlung
mit dein großen Publikum bringen. Darin aber wird für beide Teile nur ein
großer Gewinn liegen. So werden sich die deutschen Museen auch weiterhin als
Volksbildungsstätten der schönsten und edelsten Art bewähren. Das deutsche Volk
aber wird mit immer verstärkter Dankbarkeit erkennen, welch reicher Schatz der
Anregung, der Belehrung und der inneren Erhebung ihm in seinen öffentlichen
Sammlungen zur Verfügung gestellt ist. ^ .
Eitverändli und eniebaremact
in Museum das für daS Volk nch stchgß gh
wird, ist wie ein vergrabener Schatz. Ein Volk, das seine reichen und wohl-
geordneten öffentlichen Sammlungen nicht für sich selber ausnutzt, ist wie ein
hungernder und dürstender Mann, der blind an wohlbesetzter Tafel vorübergeht.
n diesen schicksalsschweren Wochen gestaltet sich unter der „sorgenden
Hand" der Ententevertreter ein neues Weltbild. —
Beim Durchblättern der Erinnerungen schöner Konstantinopeler
Herbsttage aus dem tragisch geendeter Jahre 1918 fiel mir ein
kleines Heft in die Hand: „Rundblick vom Seraskerturm"; so hatte
ick einst an der Wende d.er Geschicke Deutschlands und seiner Ver¬
bündeten über diese Blätter geschrieben.
Fast mutete mich jetzt das damals in kurze Strichs Gefaßte an, als sei es
Jahrhunderte zurückliegende Geschichte; so sehr haben sich die Ereignisse überstürzt
seit jenen herrlichen Sonnentagen, die in ihrem Farbenrausch ein den ewig jung¬
schönen Ufern des Bosporus auf Minuten die harte, ach, so harte Wirklichkeit
vergessen ließen.
Und doch zog schon damals, wenn der Muezzin in der schwülen Mond¬
nackt vom Minaret der Hagia Sophia in demütigem Sang den Herrn des Alls
grüßte, ein dumpfer Schicksalston über die schlafenden Wasser, als sei es eine
Warnung vor dem Grausen der Zukunft. —
"
5?„Rundblick vom Seraskerturm! Oft stand ich da oben ans dem höchsten
Punkt Stambuls, von wo einst Moltke seinen heute noch maßgeblichen ersten
Stadtplan Konstantinopels aufnahm, schaute hinüber zu den menschenwimmelnden
Nassen Peras, zu den bovtbcvölkerten Wassern des Goldner Horns und des
Bosporus, schaute auch hinüber zu den blauen Wogen der Marmara, zu den
Vergriesen Kleinasiens! Fern schimmerte der Olymp. — Und ich wandte mich ab
und blickte gen Westen, dorthin, wo unsere Sorge lag.
Am 26. September richtete der bulgarische Ministerpräsident Malmoff im
Einverständnis mit den bulgarischen Blockparteien völlig überraschend ein Waffen-
stillstondsangebot an die Entente, nachdem schon acht Tage vorher die Bulgaren
in den bisher als uneinnehmbar gehaltenen Doiranstellungen eine schwere Nieder¬
lage erlitten und sich von dort fluchtartig zurückgezogen hatten.
Am 29. September finden wir die 11. bulgarische. Armee im Rückzug, die Serben
in Üstüb, Radvmir von Aufständischen geplündert und damit die Verpflegung der
l. Armee ernstlich gefährdet. Die Ententepresse verhält sich dem WaffenstillftandL-
nngebvt gegenüber ziemlich ablehnend, verlangte bedingungslose Übergabe und so¬
fortige FriedenSvei Handlungen. Am 2. Oktober wurden die Bedingungen der
Entente betr. Waffenstillstand von Malinoff angenommen. Im wesentlichen handelt
es sich um folgende Punkte: Wiederherstellung der Grenzen von 1915, Enteule-
iontrollkoinmission über sämtliche Verkehrsmittel, freier Durchzug, Entfernung aller
Deutschen aus Bulgarien innerhalb vier Wochen, Demobilisation bis auf ganz
geringe Verbände. Es tritt damit die Lage auf dem Balkankriegsschanplatz, be¬
sonders auch für Konstantinopel, in eine bedenkliche Phase, umsomehr als mit
einer Landung von Ententetrnppen bei Dedengatsch, Anmarsch auf die Hauptstadt
und Forcierung der Dardanellen gerechnet werden muß. Da zugleich die türkischen
Streitkräfte auf dem syrisch-palästinensischen Kriegsgcbiet nach schweren Niederlagen
bei Radius—Halfa in ständigen Rückzug begriffen sind und unsere Widerstands¬
kraft an der Westfront erschüttert erscheint, sind Sonderfriedensgelüste der Türkei
stark zik befürchten.
Zunächst wird angesichts der noch ungewissen Haltung Bulgariens —
Radoslawoff und der König, sowie loyale Kreise Bulgariens erklären sich offiziell
gegen den Treubruch — versucht durch militärische Gegenmaßnahmen das Vor¬
dringen der Ententetruppen gegen die altbulgarische Grenze aufzuhalten. Deutsche
Formationen aus Drama, Xanthi werden zurückgezogen, deutsche und österreichische
Truppen nach Sofia gelebt, Vorbereitung zum Abtransport der Zivilbevölkerungen
werden getroffen. Bei Risch marschieren die deutschen Truppen aus Altbulgarien
auf. In Deutschland wird die Wendung der Dinge mit Ruhe aufgenommen,
der Reichstag erklärt sich einmütig für entschlossene Fortsetzung des Krieges. Am
(>, Oktober ist durch Besetzung Wranjas Risch direkt bedroht. Der von den bul¬
garischen Deputierten und dem französischen General Franchet d'ESpey unter¬
zeichnete Waffenstillstand wird von der Sobrcinje gebilligt. König Ferdinand
dankt zugunsten des Kronprinzen Boris ab, das Kabinett demissionier!; eine
Ententekontrollkommission übernimmt sämtliche Verkehrsmittel in Bulgarien; Be¬
setzung der wichtigsten strategischen Punkte. Am 7. Oktober ging der letzte Balkan-
zng nach der Heimat. Durch Einrichtung eines regelmäßigen Seeverkehrs zwischen
Vraila und Konstantinopel ist die Gesahr einer völligen Abtrennung vou Europa
zunächst vermieden. Bulgarien sucht nunmehr den Abiransport der Truppen und
Zivilisten direkt zu verhindern; am 12. Oktober läßt es keine Truppentransport-
züge mehr über die Grenze, deren Schutz Ententetruppen übernehmen. Am
13. Oktober stehen französische Truppen bei Küstendil. Es stellt sich heraus, daß Bul¬
garien schon seit dem Frühjahr in geheimen Verhandlungen mit der Entente gestanden
hat — via amerikanische Botschafter Murphy (Sofia) — und für den Ausfall an
serbisch-griechischem Geblök durch türkisches Gebiet bis zur Tschadn'-tschalinie ent¬
schädigt werden soll. Nunmehr erscheinen Konstantinopel und die Meerengen
ernstlich bedroht. Zur Verteidigung der Hauptstadt werden alle verfügbaren Armee-
streitkräfts herangezogen: die für Thrazien bestimmten Truppen und die durch
Einstellung der Kaukasusoperation freiwerdende Armee. Die Marine zieht ihre
Formationen aus Bulgarien und Syrien zurück. Es wird zunächst versucht werden,
Konstantinopel und die Meerengen unter allen Umständen zu halten. Sultan
Jawus Selim — ex Gocben — soll im Fall eines Sonderfriedensschlnsses der
Türkei zunächst nach dein Schwarzen Meer gehen, um Sebastopol, den einzigen
noch verbleibenden Stützpunkt, solange als möglich zu halten und den Kampf
gegen die Entente fortzusetzen. In Konstantinopel werden umfassende Maßnahmen
5" einer eventuellen Räumung der Stadt getroffen. Die österreichische Donau-
flottille sichert Schiffahrt Vraila, Turme-Severin. Da in Warna fünf Torpedo¬
boote und ein U-Boot liegen, die gegebenenfalls unsere Schwarzmeertransporte
stören könnten, ist vor Hafen und längs Küste zur Einschüchterung bulgarischer
Rolle Zeichen deutscher Kriegsflagge beabsichtigt.
Die türkische Neaierung hat seit Ausbruch der Krise sich Deutschland gegenüber
>vhal verbellten wohl weil man hoffte, im Falle eines gemeinsamen Friedens mit
Deutschland günstigere Bedingungen zu erlangen. Am t'. Oktober erfolgte gesondert
die türkische Friedensnote an Wilson. Man sagt, die Türkei habe bereits gehen»
mit der Entente verhandelt (Maki von Smyrna). Wilson habe jedoch Bedingungen
^stellt, n. a Auslieferung von 120 Hauptschuldigen der Armenierverfolgung, auf
die selbst die Türkei nicht habe eingehen können. Ein großer Teil der Presse
polemisierte anfangs scharf gegen das alte Kabinett, versteckt gegen den deutschen
Bundesgenossen. Mir wollen Frieden; es ist klar, daß dasselbe Kabinett, welches
Krieg geführt hat. nicht am Friedensschluß beteiligt sein darf." Das war der
Tenor sämtlicher Presseäußerungen. Am 7. Oktober-dcnnsstoinerte das Kabinett.
Talaat Pascha, Tewsik Pascha, dann Jzzet Pascha werden vom Sultan und
der Neubildung des Kabinetts betraut. Zugleich wurde die Parder »Union et
swUes" einer durchgreifenden Umbildung unterzogen. Die Kabinettsbildung
stoßt zunächst auf Schwierigkeiten; Tewsik tritt zurück und Jzzet ubermmmt allein
diese Aufgabe, die nach längerer Verzögerung am 13. Oktober dnrch Einsetzen des
neuen Kabinetts gelöst wird. In einer Programmrede betont Haut, der Kammer¬
präsident, das Mitwirken der Türkei in diesem Kriege und die Hoffnungen auf
Wien ehrenvollen Frieden. Einzelne Blätter polemisieren gegen dieses Kabinett
und prophezeien baldigen neuen Wechsel. Sie hätten Tewfik vorgezogen, der eine
der Entente genehme Persönlichkeit gewesen wäre und die lange Pause bis zur
Bildung eines neuen Kabinetts besser zur Anbahnung eines Sonderfriedens hätte
benutzen könnein Jzzet, der in Deutschland studiert hat, erscheint ihnen nicht
geeignet, baldigen Frieden zu garantieren.
Am 9. Oktober wurde von einem gewissen Mustafa Sabyt, einem offiziell
Unbekannten, in Stambul ein umfangreiches Pamphlet unter dem Titel „Was
ist unsere Pflicht?" verbreitet, das in heftigen Ausfällen gegen die Negierung,
das alte Kabinett, besonders Enwer, Stellung nahm und Abrücken von Deutsch¬
land verlangte. „Die Deutschen sind so gescheit gewesen und haben sich daheim
vom preußischen Militarismus befreit, warum sollen wir es hier nicht ebenso
machen " Die Regierung schritt sofort ein, das Flugblatt wurde verboten, der
Autor eingesperrt, seine Zeitung „Wassiset" nach der ersten Nummer suspendiert
und eine politische Stndeutenversammlung in Tokatlian gesprengt. Es kam an
wenigen Stellen der Stadt zu kleineren Krawatten mit bedeutungslosen Schießereien.
Nach Abgang unserer Note an Wilson teilte Jzzet Pascha dem Militärbevoll-
mächtigten mit, der Sultan fürchte zwar sehr für Konstantinopel, die Türkei
werde zunächst aber bei Deutschland aushalten, mache indes ihr Verhalten nach
eventueller Ablehnung der Note von unserer Lage an der Westfront abhängig.
In türkischen Militärkreisen herrscht teilweise starke Erbitterung gegen uns, als
angebliche Urheber des Unglücks der Türkei.
19.—28. Oktober. Balkan und Türkei stehen im Zeichen der Loslösung
der deutschen Streitlüste. Nach Sofioter Meldungen vom 16, d. Mes. sind
Teile des 54. französischen Kolonialregiments in Sofia und Küstendil eingetroffen.
Über Fortgang der Kämpfe in Bulgarien kommen nur ganz spärliche Nachrichten.
Fitnkentelegraphenstation Franz« bei Warna wird von Franzosen besetzt und
in Betrieb genommen. Die Marineabteiluug Konstanz» erhält Auftrag, den
Verbleib der bulgarischen Seestreitkräfte durch Aufklärungsdienst festzustellen; mit
Anwesenheit von Ententeoffizieren usw. in den bulgarischen ^chwarzmeerhäfen
ist fortan zu rechnen. Konstantinopel und Stenia erhalten zweimal feindlichen
Fliegerbesuch. Aufgefallen ist namentlich in mohammedanischen Kreisen die Wahl
des Ängriffstages: in beiden Fällen Freitage'), Zwecke der Fliegerdesnche — zur Zeit
der beginnenden Wafseustillstandsverhandlungen recht deplaziert — sind Bomben
und Flugblätterabivürfe, sowie Aufklärungsdienst. Beim ersten Bestich wurden
zahlreiche Zivilpersonen verletzt lind getötet und eine ziemliche Erregung unter
der Bevölkerung hervorgerufen. Die Flieger wurden bei Besuchen durch Abwehr¬
feuer vertrieben. Beim zweiten Besuch tM. Oktober) fand ein Luftkampf zwischen
sechs feindlichen und drei eigenen Fliegern statt.
In der Thronrede des neuen Sultans hieß es noch vor kurzem, „die Türkei
werde an Seite ihrer Bundesgenossen einen ihrer Würde und Ehre entsprechenden
Frieden schließen". Seitdem hat die türkische Politik ihren Kurs erheblich
geändert. Die Presse, voran der „Als", der in einem Artikel sogar einen Krieg
der Türken an Seiten der Entente ins Bereich der Möglichkeit zog, hetzt in maß-
loser und unverantwortlicher Weise gegen den Verbündeten und gegen das Kabinett-
In der .Kammer hat sich eine neue Partei „Huriet Perweran" gebildet, die demo¬
kratische Z-ele und Absonderung der Türkei von Deutschland auf ihre Fahne
schreibt. Im „Journal d'Orient", dem Leiborgcin des Walls von Smyrna,
erschien eine Veröffentlichung des Inhalts, der Maki, Rahini Bey, stehe bereits
mit Ententevertretcrn zwecks Waffenstillstand und Sonderfrieden in Verhandlungen-
Diese Alarmnachricht wurde von der deutschen Botschaft energisch dementiert, und
auch der Regierung nahestehende Blätter, wie „Tarin", nahmen eine zurück-
tvcisende Haltung ein. Das obige Blan blieb indes bei seiner Behauptung
bestehen. Der„Taswir-i-Eftiar" nannte sogar schon die Waffenstillstandsbedingungen:
Besonders erregte die Gemüter die in griechischen Kreisen Verlautbarte Behauptung,
Venizelos hätte bei der Entente die Teilnahme griechischer Truppen am Einzug
verlangt. Inzwischen hat, dem Hilal zufolge, der auf Prinkipo internierte englische
General Townshend seinen bisherigen Aufenthaltsort verlassen und sich zu' Ver¬
handlungen nach Smyrna begeben. Auch der Prinz Abdurrachmen Effendi soll
an den Waffenstillstandsverhaudlu.ngen teilnehmen. Der Maki von Smyrna wurde
seiner Stellung enthoben, angeblich, weil er bei den Verhandlungen seine eigenen
Interessen über diejenigen des Staates gesetzt hatte. Noch am 25. dementierte
„Tauin" offiziell alle aus Waffenstillstand und Sonderfrieden bezüglichen Ver¬
mutungen; am 26. Oktober erklärte indessen der Grvßwesir, die Waffenstillstands-
verhandlungen seien eingeleitet und nehmen einen günstigen Verlauf. Nach
offizieller Mitteilung der Mittl-Ageniur vom 26. Oktober abends sind am 24. Ok¬
tober abends in Ergänzung der bisher in verschiedenen Formen von der Regierung
angeknüpften Verhandlungen der Marineminister Naus Bey, der Unterstaatssekretär
des Auswärtigen und der Generalstabschef der VIII. Armee auf dem Seeweg nach
dem Verhandlungsort abgereist. Der unter der Hand bereits eingeleitete Ab¬
transport deuischen und österreichischen Personals und Materials wird uach der
erfolgten offiziellen Verlautbarung offenkundig mit Beschleunigung fortgesetzt.
Das Resultat der in Smyrna stattfindenden Verhandlungen über den
Sonderwaffenstillstand ist für den 28. Oktober oder 29. Oktober zu erwarten.
29. Oktober bis 3. November. Die Verhältnisse trieben unaufhaltsam der
Katastrophe zu. Nachdem die türkische Regierung bis zuletzt die bereits der
Straße bekannte Tatsache von Souderftiedensverhandlungen geleugnet hatte,
konnte sie um das Spiel nicht länger in dieser Art weiter betreiben. Der
Ministerrat entschloß sich, Farbe zu bekennen. Auffallend ist, daß sich bereits die
englischen Kriegsgefangenen frei in der Stadt bewegen; die Straßen der besonders
von Griechen und Levantinerpack bewohnten Stadtteile in Per« tragen reichsten
FliUMnschmuck in den Ententefarben. In den öffentlichen Konzertgärtcu drängt
sich das Straßengesindel, es „feiert den Waffenstillstand", ein widerliches Bildl
Die Lokalpresse, insbesondere die griechische, die sich eines nie versiegenden
von der Entente gespeisten Geldborns erfreut, schreibt in schamloser Tonart gegen
alles, was deutsch ist. Die illustrierten Winkelblätter sproßen gleich Unkraut aus
der Erde und überbieten sich gegenseitig in gehässigen Deutschenschmähungen, oft
w so niedriger, gemeiner Weise die Person des Kaisers beschmutzend, daß es nicht
"nederzuc-eben ist.
Über die Bedingungen des inzwischen tatsächlich abgeschlossenen Waffen¬
stillstandes gehen die verschiedensten Berichte um: tu der Hauptsache interessiert
den Soldaten natürlich das Militärische —: Auslieferung der deutschen Fahrzeuge
türkischen Häfen, Öffnung der Dardanellen, Evakuierung aller deutschen Militär-
"ut Zivilpersonen. Drinn'war das Schicksal besiegelt. Zugleich versiegten durch
den Ausbruch der Revolution in Ungarn die spärlichen Nachrichtenguellen, die
uns bisher noch zuweilen Kunde über die Verhältnisse in Bulgarien, Österreich-
Ungar» und vor allem in Deutschland gebracht hatten.
Wir stehen allein. Die Abschiedsstunde naht mit Riesenschritten! Obwohl
Zunächst beabsichtigt war, wie oben erwähnt, Goeben mit den vorhandenen fahr¬
bereiten Unterseebooten nach Sewastopol zu schicken, muß dieser Gedanke jetzt vor
ven Druck seitens der türkischen Regierung fallen gelassen werden.
, „ England sieht Goeben als ein rein türkisches Kriegsschiff an und droht,
talis das Schiff auslaufen würde, die Verhandlungen abzubrechen, bezw. im
Waffenstillstand die Gefangensetznng sämtlicher Deutscher zu verlangen. Da
Sewastopol bei den beschränkten Verteidigungsnütteln doch nur wenige Tage gegen
die Rieseuflotte der Entente zu halten sein würde, mit dein Fall dieses Platzes
aber das Schicksal der deutschen Schiffe auch besiegelt wäre, wird Goeben aus
das Drängen der türkischen Negierung unter feierlichem Ceremoniell an die türkische
Marine übergeben. Gleichzeitig läuft in Konstantinopel die Meldung ein, daß
die Flotte des Gegners mit dem — natürlich ungestörten — Wegräumen der
Minen in den Dardanellen begonnen hat. Sämtliche deutsche Truppen, soweit
noch vorhanden und soweit nicht für den Abtransport der aus Palästina heim¬
kehrenden Truppen derzeit unentbehrlich, wurden sofort eingeschifft und über das
Schwarze Meer nach Odessa und Nikvlajeff abtransportiert, von wo die mühe-
und sorgenvolle Heimreise in die zerrüttete Heimat begann.
Als die Trüppenschisfe ausliefen, klang ein letzter Scheidegruß beim Passieren
von Therapia den auf dem herrlichen Ehrenfriebhof gebetteten Kameraden, die in
fremder Erde den letzten Heldenschlaf halten, mitten unter ihnen Goltz-Pascha!
Wohl ihm, er mußte den Zusammenbruch des Volkes, dem er in harter Lebens¬
arbeit ein gefeierter Lehrer und Lenker, ein Freund und Bruder geworden war,
nicht mehr schauen I
Als der Morgen des 3. November seine ersten Strahlen zum Serciskerturm
sandte, ankerten dunkle Stahlkolosse, Torpedoboote und Minensucher der gewaltigen
Enienteflotte vor dem Sultanpalast am Bosporus.----
Zu gleicher Zeit flüchtete ein landfremd gewordenes Heer auf schnellen
Schiffen über das Schwarze Meer der armen Heimat zu — und hatte doch sein
Bestes für den im Feuer erprobten Bundesgenossen hingegeben!--Kismet!
Zeitgemäße Gedanke». Ein Dichter sang
einst: „Hoch klingt das Lied vom braven
MannI" Solche Worte sind uns einiger¬
maßen fremd geworden. Wir fingen heule
keine hohen Lieder mehr auf brave Männer,
unsere Seelen sind mit Bitterkeit erfüllt.
Erregung zittert in uns, da wir tagtäglich
zusehen müssen, wie der Unverstand an den
Wurzeln des Baumes der deutschen Arbeit
nagt. Wohin wir blicken, sehen wir mit
Blindheit geschlagene Menschen, vor ohn¬
mächtiger Wut geballte Fäuste. Haß und
Chaos, Ziellosigkeit und Gier überall. Ein
widerliches Schiebertnm bläht sich auf, in
nächtlichen Spielklubs macht sich ein ekles
Prasserium breit. Wir singen heute keine
hohen Lieder mehr von braven Männern.
Auf Kapitalismus und Unternehmertum
schimpfen die einen, auf den Arbeiter, der
nicht arbeiten will, die anderen. Haben
wir wirklich keinen Grur.d mehr zur Freude,
ist nirgends ein braver Mann zu finden?
Auf der Versammlung des Bundes deutscher
Telegraphenarbeiter, Vorarbeiter und Hand¬
werker sagte der Bundessekretär Ballenthin:
„Wir sind mit dem Resultat der Verhand¬
lungen nicht zufrieden, aber im Interesse
des deutschen Volkes verzichten wir in dieser
schweren Stunde auf den StreikI" Wie
etwas Unerhörtes, laug Entwöhntes klingt
dieser Satz in unseren Ohren. Hier hat
endlich wieder einmal einer gesprochen, der
des Vaterlandes Not am eigenen Herzen
gespürt hat. Die Telegraphennrbeiier sind
mit den ihnen zugebilligten Lohnerhöhungen
nicht zufrieden, sie lehnen den Schiedsspruch
ab, verzichten nicht auf die Bezahlung der
Feiertage, aber sie streiken nicht. Sie wissen,
daß, wenn sie es tun würden, in zwei
Stunden der Draht zwischen Versailles und
Berlin nicht mehr nrbeilen würde. Und sie
wollen dein schniergepriislen deutschen Volke
nicht den letzten Hoffnungsschimmer rauben,
daß aus den Verhandlungen um den Frieden
doch noch ein einigermaßen lebensfähiger
Friedensengel geboren wird.
Die Worts VallenthinS müssen mit gol¬
denen Lettern in das Buch der deutschen, in
diesem Augenblick so überaus traurigen
Weltgeschichte geschrubeu werden. Die
deutsche Negierung betreibt eine ungeheure
Platatpropaganda. Auf taufenden Plataeer
verkündet sie „Soziolismns ist Arbeit".
Aber soviel Plnkaie, soviel Streiktage. Wäre
es nicht angebracht, die Worte des Telc-
graphenarbeiters mit riesigen Buchstaben
auf abcrhunderte von Plataeer zu schreiben?
Vielleicht helfen sie, vielleicht auch nicht.
Aber auf jeden Fall würden sie von Män¬
nern künden, die den Mut gefunden haben,
ihre eigenen Wünsche der Not des Bater¬
landes hintanzusetzen.
Auf dein Parteitag der U. S. P. D. sagte
^»use Dänmig: „Der Kapitalismus ist sehr
stark, das ist keine Frage, es kann nicht an¬
gezweifelt werden. Wir alle sind überrascht
gewesen von seiner Anpassungsfähigkeit
wahrend des Krieges. Kein Mensch hat
geglaubt, daß die kapitalistische Wirtschafts¬
form während so langer Erschütterungen
hätte aufrechterhalten werden können." Aber
Däumig, der so die Bedeutung des Kapita¬
lismus für die Fortführung der Wirtschaft
anerkennt, denkt gar nicht daran, einzu-
gesiohen, daß es auch in Zukunft ohne den
Kapitalismus nicht gehen wird. Er ist, wie
alle radikalen Führer der Arbeiter, der
Meinung, daß die sozialistische Wirtschaft
sehr wohl das Amt des Kapitalismus über¬
nehmen könne, ja, er vertritt sogar den Ge¬
danken, daß nur der Sozialismus zum
Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft
befähigt sei. So ist er Päpstlicher als der
Papst, d. h. er übertrumpft seinen Freund
Lenin, der schon längst erkannt hat, daß
gwße wwschaftliche Aufgaben ohne die
kapitalistische Führung — wenn auch die
ausländische — einfach nicht zu bewältigen
sind. Aber Dämnigs ungewollte Anerken¬
nung des Kapitalismus beweist doch, daß
den Unentwegten, die dem Kapitalismus
den Garaus machen wollen, ein wenig die
Angst vor der eigenen Courage kommt.
Das „Zentralblatt der christlichen Gewerk¬
schaften Deutschlands" hat kürzlich in sehr
freimütiger Ausführungen sich mit dem
Kapitalismus beschäftigt und gesagt, daß
zwar dieser nicht selbst, aber dessen Aus¬
wüchse beseitigt werden müssen. ES hat
den Geist des Kapitalismus verurteilt, den
es als den Geist des Materialismus be¬
zeichnet, aber es hat doch im Interesse einer
Erfassung der Wirklichkeit vor allzu weit¬
gehenden Verallgemeinerungen gewarnt.
„Kriege hat eS zu allen Zeiten gegeben",
schrieb das Zentralblatt, „solange Menschen
auf der Erdoberfläche um bessere DaseinS-
möglichkeiten ringen, sie sind also kein Er¬
zeugnis des Kapitalismus." Eine solche
Gesinnung, die offen ausspricht, daß der
Kapitalismus Wohl Auswüchse besitzt, daß
aber sein Kern, nämlich seine wirtschaftliche
Bedeutung, gesund und unentbehrlich ist,
wirkt heute ebenfalls wie eine Stimme der
Vernunft. Auswüchse des Kapitalismus
wird es Wohl in der Zukunft der deutschen
Arbeit nicht mehr geben. Was das deutsche
Unternehmertum zuerst in dein Abkommen
vom Is. November 1918 und sodann in
der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ar¬
beiterschaft zugestanden hat, but unserer auf
dem Kapitalismus beruhenden Volkswirt¬
schaft eine ganz neue Grundlage gegeben.
Hier haben die Arbeiter weitgehende Siche¬
rungen dagegen erhalten, daß der Kapita¬
lismus jemals wieder sein Bestreben auf
eine Ausbeutung und Entrechtung des
Proletariats richten kann. Das Näieproblem
ist noch nicht gelöst, aber auch hier wird
eine Lösung gefunden werden müssen, die
dem Arbeiter die Mitverantwortung im
Wirtschaftsleben überträgt. Will man
das wahre Gesicht des Kapitalismus er¬
kennen, dann muß man die Tatsachen in
Betracht ziehen, daß die Mehrzahl der kapi¬
talistischen Betriebe heute das alleinige Be¬
streben hat, die Produktion trotz der hohen
Lohnforderungen, trotz der Aussichtslosigkeit
ans Gewinn aufrechtzuerhalten. Sollte den
Arbeitern dieses wahre Gesicht des Kapila-
lisninS unbekannt sein? Damit ist auch die
Frage beantwortet, die das Zentralblatt der
christlichen Gewerkschaften aufgeworfen but:
„Wie können wir das Gut« an der kapita¬
listischen Bewegung zum Besten der Mensch¬
heit nutzbar machen, ohne uns der Gefahr
der Knechtung durch diese Errungenschaften
auszusetzen?" Die neue Wirtschaft, wie sie
das Blatt verlangt, ist bereits da, oder
besser, sie könnte bereits da sein, wenn die
Arbeiterschaft nicht mehr den leeren agiia-
torischen Schlagworten folgen würde. Sie
ruht und sie hat zu beruhen auf der Er-
kenntnis, daß Kapitalismus und Arbeit
Produktive Teile der Gesamtwirtschaft sind,
und daß diese Wirtschaft nur durch ein Zu¬
sammenarbeiten dieser beiden Teile gedeihen
kann.
In Versailles hat sich die Friedenspalme
in eine über dem deutschen Volke geschwun¬
gene Geißel verwandelt. Aus dem dicklei¬
bigen Friedensverträge, der uns vorgelegt
worden ist, greife man nur das heraus,
was in Abschnitt I des achten Teils über
die Wiedergutmachungen steht. Da wird
eine „Kommission für Wiedergutmachung"
eingesetzt, die zum wahren Beherrscher
Deutschlands wird. Da muß sich Deutsch¬
land verpflichten, alle Gesetze, Verordnungen
und Verfügungen zu veröffentlichen, die für
die vollständige Durchführung obiger Be¬
stimmungen, d. h. für die Regelung der
Wiedergutmachungen nötig sein könnten. Die
deutsche Negierung muß der Kommission alle
Auskünfte geben, deren sie bedürfen könnte,
bezüglich der finanziellen Lage und finan¬
ziellen Operationen, bezüglich des Eigentums,
der Produkiionskraft, der Vorräte und lau¬
fenden Erzeugung von Rohstoffen und ge¬
werblichen Erzeugnissen Deutschlands und
seiner Staatsangehörigen. Die Kommission
hat das Recht in periodischen Schätzungen
der Zahlungsfähigkeit Deutschlands, das
deutsche Steuersystem zu Prüfen, damit alle
Einkünfte Deutschlands einschließlich der für
den Zinsendienst und die Tilgung seiner
inneren Anleihen bestimmten in erster Linie
für Zahlung der zur Miedergutninchung ge¬
schuldeten Summen haften. Die Kommission
darf sich ferner Gewißheit darüber ver¬
schaffen, daß das deutsche Steuersystem im
allgemeinen im Verhältnis ganz eben so
schwer ist, als dasjenige irgendeines der
Staaten, die in der Kommission vertreten
sind. Damit wird dieser Kommission, welche
die weitgehendsten Kontroll- und Voll¬
streckungsbefugnisse besitzen soll, die an keine
Gesetzgebung noch an bestimmte Gesetzbücher
gebunden sein soll, das Recht eingeräumt,
die Steuergesetzgebung Deutschlands zu
regeln. Auch kann die.Kommission, sofern
sie der Meinung ist, daß es der Wiedergut¬
machung schadet, die sozialen Pläne des
deutschen Reiches zuschanden machen. Das
ist gewiß keine Stimme der Verminst, aber
noch viel größere Unvernunft wäre es, wenn
die deutsche Arbeiterschaft nicht endlich ein¬
sehen würde, daß angesichts der ungeheuer¬
lichen Zumutungen unsere Feinde ein Wieder¬
aufbau unseres Wirtschaftslebens nur durch
Einigkeit und vom VerstündignngSwilten
getragene Arbeit möglich ist. Was aus
dem Friedensentwurf herausschaue, ist der
Kapitalismus in seiner schlimmsten, verderb¬
lichsten Form. Niemals hat es einen grö¬
ßeren Feind des deutschen Arbeiters gegeben,
als die imperialistischen Kapitalisten unserer
Feinde. Es wäre das einzige Gute, das
diese Friedensbedingungen mit sich bringen
würden, wenn wir in Deutschland endlich
zur Einsicht kommen und einsehen, daß die
gegenwärtigen Zustände unrettbar zum Zu-
sammenbruch treiben. Man sage aber dem
Arbeiter nicht nur: „Deshalb mußt du ar¬
beiten", sondern man sage ihm auch, daß
sich in Deutschland ganz anders als in den
Ententelnndern ein sozialer Geist durch¬
gerungen hat, der ihm das Bewußtsein gibt,
wofür er arbeitet: Für seine und der Seinen
Zukunft. Dann möge der Tag nicht mehr
fern sein, wo die Stimme der Vernunft
nicht mehr die Stimme des Predigers in
Man könnte wohl heute versucht sein, zu der alten Lehre zurückzukehren,
die, an dein Sinn und der Erkennbarkeit des disharmonischen, verworrenen
Menschengetriebes verzweifelnd, Ordnung und Gesetz nur in dem großen, ruhigen
Gang der Gestirne sieht. Indessen wir leben in jenem, es bedrängt und erregt
uns durch seine Gegenwart, und so müssen wir mit ihn: fertig zu werden, dazu
aber es geistig zu bewältigen suchen. Dies jedoch ist uur möglich, wenn wir es
nach Ideen beurteilen, d. h. trotz allem einen Sinn der Menschengeschichte voraus¬
setzen. Solcher Sinn, solche Vernunft in der Geschichte war schon vor hundert
Jahren in großartigen Werken der deutschen Philosophie, besonders Fichtes und
Hegels, gelehrt worden; von ihnen befruchtet, entwickelt Lieberes Schrift die
Grundzüge einer Geschichtsphilosophie, um durch 'sie das Problem der Revolution
zu verstehen. Das durch Gedankenreichtum wie durch bildhaften, schwungvollen
Stil packende Büchlein bekennt sich auch wie jene Nachfolger Kants zur Meta¬
physik; es erhält sein besonderes Gepräge durch Verarbeitung einer wohlbegreif¬
lichen Stimmung, indem es, von der Zwiespältigkeit und Tragik alles Mensch¬
lichen durchdrungen, (mit Ed. v. Hartmann sich berührend) selbst im Urgrund
alles Seins einen Widerstreit der Vernunft und des Willens gründet.
"
Den „Geist der Revolutionen erfassen, kann hiernach nicht bedeuten: die
jüngst von uns erlebte oder sonst eine Revolution geschichtlich ableiten, sondern
ein Verständnis des Sinns der Revolution überhaupt (auch jeder nichtpolitischen)
vermitteln und zwar durch eine Metaphysik, die man Pantragismus nennen
könnte. Demgemäß werden unversöhnliche Gegensätze im Wesen deS geschichtlichen
Lebens wie in dein der Revolution herausgearbeitet und in kunst- und wirkungs¬
vollster Verschlingung vorgeführt: so, daß jenes bei unerträglicher Steigerung
des ihm inwohnenden Widerstreits durch die Revolution zerrissen wird, diese aber
sowohl durch ihre eigenen Kräfte als durch ihre Auflehnung gegen jenes sich
selbst zerstört. Das geschichtliche Leben ist in seinem Wesen ein unaufhebbarer
Kampf zwischen Relativem, Endlichen und Absoluten, Unendlichen, das in
>hin wirkt, erscheint und ihm erst Sinn verleiht. Das Relativ.', verkörpert
w Überlieferungen, Vereinbarungen, Einrichtungen und Bindungen aller
^>re, „deren Recht lediglich in dein Umstand ihres Vorhandenseins und ihres Ge¬
brauchs liegt', naße sich mehr und mehr absolute Geltung an und verdrängt so
mit unentrinnbarer Dialektik allmählich die ewigen Werte und das ursprüngliche
Leben. Gegen diesen widersinnigen Zustand stürmen die Wogen der Revolution,
die aber aus zwei wesenhaften, in aller Geschichte wirksamen, jeweils in ganz
verschiedenem Stärleverhnltnis sich mischenden „Urquellen" im Absoluten ent¬
springen: aus dein noch ungeistigcn, an sich nicht werthaften Willen zum Leben
"der zur Macht, der nun als elementare, bald Bewunderung, bald Entsetzen er¬
regende Naturkraft dahinbrnust, und der Selbstgesetzgebung der Vernunft als der
Einheit der Kulturwertc, die, als absoluter Wert, nach ihren geistigen, insbesondere
mttlichen Normen das Leben erneuern, die Kultur neu erbauen will. In zweierlei
Gestalt wiederum waltet diese absolute Vernunft, jeden Menschen im Kleinsten
wie im Größten beherrschend, in der Geschichte: als Weltanschauung und als
Schicksalsmäßige Macht. Beide beherrschen und leiten den einzelnen wie die Ge¬
samtheit auf Sckritt und Tritt. Jede Revolution aber ist hinsichtlich ihrer Leistung
gemäß diesen beiden Formen nach ihrem Gehalte an Vernunft zu beurteilen.
Allein das Unternehmen der Revolution, das Unbedingte, Vollendete an die
stelle des. Relativen, Unzulänglichen zu setzen, ist zum Scheitern verurteilt; es führt
uiid unentrinnbarer Notwendigkeit zur „Krisis der Revolution": der Widerstreit
des geschichtlichen Lebens vervielfältigt und steigert sich in ihr so, daß sie sich selbst
ni ihrem Wesen zerstören muß. Zersetzung droht ihr von der Ausartung ihrer
»aturhaften Triebkräfte in Zügellosigkeit, durch deren Folgen alle Ordnung zer-
trümmcrt wird, Zersetzung aber auch von selten ihrer im nennen der Vernunft
erhobenen Forderungen; denn diese richten sich — an das Geschichtliche, und damit
an Relatives, welches allein sie formen, d. h. in neue und immer zu erneuernde
Formen bringen können und müssen. So vermag die Revolution nur dadurch
ihren absoluten Sinn zu wahren, wirklich wertschasfend und gestaltend zu wirken,
dasz sie ihre Forderungen in das geschichtliche Leben verflicht, zu einer „Stufe in
dem ununterbrochenen und nndurchbrechbaren Gang der Vernunft der Geschichte",
zur Evolution wird.
Dies im großen der Gedankengang. Philosophische Kritik daran zu üben,
wäre hier weder möglich noch förderlich. Wie das Büchlein aus dein mettiphh-
sischen Bedürfnis der Zeit geboren ist, so ist es auch für die Zeit geschrieben.
Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß es viele» Lesern in den erschütternden
Ereignissen, die wir erleben müssen, Trost gewähre dadurch, daß es sie in die reine
Höhe überparteilicher Betrachtung erhebt und hierbei, trotz ungewöhnlich scharfem
Erfassen des Widersinnigen und Tragischen im geschichtlichen Leben, doch an dem
Fortschritt der Vernunft in der Geschichte festhält, dem aller Kampf und Zwiespalt
s
Fritz Lottmann war es nicht beschieden, seinen dichterischen Aufstieg zu
vollenden. Im letzten Herbst ist er, achtunddreißigjährig, aus dem Leben geschieden,
betrauert von allen, denen die niederdeutsche Dichtung am Herzen liegt. Schon
.in früher Jugend hat Lottmann Erzählungen, Gedichte und Aufsätze verfaßt, ja
sogar einen Roman geschrieben, aber mit seinem letzten Werk, dem ostfriesischen
Roman „Dal Huf summer Lundt" hoffte er sich einen Ehrenplatz unter seinen
Fachgenossen zu erringen. Tatsächlich ist diese Dichtung von ganz besonderem
Reiz. Sie führt uns in das verträumte Kleinstadtlebcn um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts und findet ihren Mittelpunkt in einem lebenshungngeu, derbfrohen
Memme, dem trotz reicher Begabung der Untergang droht, weit die Sonne ihm
nicht leuchten will. Ein tragisches Verhängnis entreißt ihm zweimal das Glück,
das er in Händen hält und verurteilt ihn zur Einsamkeit, die er nicht erträgt.
Dies ist der einfache Vorwurf der Erzählung, für die die Bausteine ungezwungen
aus den Erlebnissen des Alltags gewonnen werden. Aber fein ist der Kitt, der
sie zusammenhält: zwar nur schlichte Schilderung, die in aller Selbstverständlichkeit
zu nachdenklichen Betrachtungen über nahes und Fernes drängt, aber getragen
von tiefem Verständnis für die Eigenart des kernigen ostfriesischen Menschentums,
das uns in seiner erstaunlich bildhaften Mundart greifbar nahe tritt. Lottmann
selbst ist ein Kämpfer gewesen und dieses letzte Wert, dessen Erscheinen er nicht
erlebte, bedeutete einen' Sieg. Wenn es nicht sein Teil war, sich dessen zu freuen,
so mögen alle Freunde volkstümlicher Dichtung das Erbe in ihre Hut nehmen
und dafür sorgen, daß viele Hände danach greifen. Der nur Hochdeutsch-
sprecheude wird'nicht allzu große Mühe haben, sich in das ostfriesische Platt co'
zulesen. Ein kleines Wörterverzeichnis, das dem Buche beigefügt ist erleichtert
Alle» Manuskripte« ist Porto hinzuzufügen, da ander»s«ils bei Ablehnung eine Rücksendung
niäN verbürgt N>er!»n lui!N.
Wir bringen nachstehend im Wortlaut die Teile der deutschen Gegenvorschläge
zu den Friedensbediuguno.er der Entente, die sich auf die Ostfragen beziehen.
Ausführungen über die Ostfragen finden wir an drei verschiedenen Stellen des
deutschen Gesamtwerkes. Einmal in den allgemeinen Bemerkungen zu den feind-
lichen Friedensbedingungen, ferner in dem eigentlichen deutschen Vorschlag und
hier wieder getrennt in den allgemeinen Ausführungen über das Selbstbestimmungs-
ilechit der Volker und in den Ausführungen über die Landesteile im einzelnen und
schließlich in der sogenannten Mantelnote. Bei der Stellungnahme zum Inhalt der
deutschen Gegenvorschläge wird man davon ausgehen müssen, daß die deutsche
Negierung von den 14 Punkten Wilsons als einer festen Rechtsgrundlage aus¬
geht. 4 Soweit von seiten der Ostmarkdeutschen gegen die deutschen Vorschläge
Einwände erhoben werden müssen, beruht dies auf dem Umstand, daß die im
wesentlichen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker operierenden vierzehn Punkte
Wilsons dem eigenartigen Problem der Ostmark voll gerecht zu werden nicht in
der Lage sind. Hat man einmal erkannt, daß es sich bei der Lösung des Ost-
markenprobleins nicht darum handeln kann, ob zugunsten der Polen oder zugunsten
der Deutschen entschieden werden soll, sondern daß die Frage gestellt werden muß:
wie werden die Gesamtinteressen der Ostmarken am besten gewahrt; dann wrrd
man die im deutsche» Gegenvorschlag vorgenommene Teilung der Ostmark in Ge-
biete, die abgetreten werden können und solche, die es nicht können, für dem Wesen
der Ostlage nicht gerecht werdend beurteilen müssen. Diese falsche Einstellung zum
Ostmarkenproblem geht aber bereits weiter zurück, und es kann steh zurzeit uur
darum Handel,,, Stellung zu nehmen zu der Frage, ob von der von der deutschen
Regierung nun einmal angenommenen Grundlage aus die deutschen Gegen¬
vorschläge die berechtigten Interessen der Ostmarken wahren-
Leider ist infolge der Kürze der sür die Abfassung der deutscheu Antwort
Sur Verfüguna stehenden Zeit der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen
Teilen der d'c .'>hen Gesamtautwort nicht so klar, daß nicht einzelne Punkte bet
böswilliger Auslegung einer irrtümlichen Auffassung sähig wären. Um so mehr
>se es nötig, den tatsächlichen Sinn des deutschen Gegenvorschlages klar heraus¬
zustellen.
Wie schon erwähnt, macht der deutsche Gegenvorschlag einen grundsätzlichen
Unterschied zwischen solchen Gebieten, die unter bestimmten Voraussetzungen ab¬
getreten werden können und solchen, die es nicht können. Zu den letzteren ge¬
hören Gebiete, wie Oberschlesien, sämtliche nach den Bedingungen der Entente
abzutretenden Teile Ostpreußens, die unzweifelhaft deutschen Teile Posens und
Westpreußens, bei Westpreußen insbesondere alle Gebiete, die zur Bewahrung
des territorialen Zusammenhanges zwischen Ostpreußen und dem Reich exforder¬
lich sind. Leider kommt der Standpunkt der Unabtretbarkeit bei Oberschlesien
stärker zum Ausdruck als bei den übrigen Gebieten. Und es kann dadurch leicht
der Eindruck entstehen, als bewerte die Negierung die einzelnen Landesteile ver¬
schieden. Es muß demgegenüber mit aller Schärfe hervorgehoben werden, daß
eine unterschiedliche Bewertung unzweifelhaft deutschen Gebietes aus dem Ge¬
sichtspunkt der größeren oder geringerm wirtschaftlichen Bedeutung des betreffenden
Gebietes für das deutsche Reich von den Ostmarkdentschen auf daS Schärfste
zurückgewiesen werden muß. Es darf aber angenommen werden, daß dieser
Anschein nur durch die Art der Redaktion des deutschen Gegenvorschlages entsteht,
und daß er nicht der Ausdruck einer in der Regierung bestehenden Auffassung ist.
Lehnt die Regierung für die vorerwähnten Gebiete jede Abtretung von vorn-
herein ab, so erklärt sie sich bereit, in anderen Teilen der Provinz Posen und West¬
preußen in eine Abtretung grundsätzlich einzuwilligen, soweit diese Gebiete unbestreit¬
bar polnischen Charakter tragen. In diesen Gebieten soll dann aber eine gemeindeweise
Volksabstimmung entscheiden, ob das betreffende Gebiet beim deutschen Reich
bleibt, oder ob es an Polen abgetreten wird. Bei der Grenzfestsetzung soll darauf
Bedacht genommen werden, daß aus dem Abstimmungsgebiet nicht mehr Deutsche
unter die Herrschaft Polens kommen, als Polen unter deutsche Herrschaft. Enklaven
sollen gegeneinander ausgetauscht werden.
Daß diese Vorschläge dem berechtigten Wunsch des Ostmark-Deutschtums
voll gerecht werden, kann man nicht sagen. Man wird zum mindesten eine
Forderung an die Negierung richten müssen: Diese Zugeständnisse sind das äußeiste
Maß, das von der Grundlage der vierzehn Punkte Wilsons zugebilligt werden
kann. Ein Handeln über diese Grenze hinaus muß grundsätzlich zurückgewiesen
werden. Geht die Entente auf dieses äußerste Maß vou Zugeständnissen nicht
ein, dann hat sie damit endgültig die Rechtsgrundlagen, die die deutsche Regierung
bisher noch als gegeben annimmt, verlassen. Dann müßten auch wir diese Grund¬
lage verlassen und das Problem der Ostmark so lösen, wie es allein gelöst
werden kann, nämlich als das Problem eines einheitlichen, unteilbaren, durch
die Art seiner gemischten Bevölkerung nur in besonderer Weise zu behandelnden
Landes.
Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Auch heute gilt die gleiche Parole
wie bei Bekanntwerden der Friedensbedingungen: Mit klarem Kopf und hartem
Willen die Entwicklung verfolgen und zu allem bereit sein.
Es folgt nunmehr der Wortlaut:
Andererseits ist es mit der Idee der nationalen Selbstbestimmung unver¬
einbar, wenn 2Vü Millionen Deutsche gegen ihren Willen von ihrem Heimatstaate
losgerissen werden. Durch die beabsichtigte Grenzführung wird über rein deutsche
Territorien zugunsten der polnischen Nachbarn verfügt. So sollen von den mittel-
schlesischen Kreisen Guhrau und Militsch Teile abgerissen werden, in denen neben
44900 Deutschen höchstens 3700 Polen wohnen. Dasselbe gilt von den Städten
Schneidemühl und Bromberg, von denen die letztere höchstens 18 Prozent polnische
Einwohner hat, während im Landkreise Vromberg die Polen auch noch nicht
40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Von dem jetzt Polen zugewiesenen
Netzedistrikt hat Wilson in seinem Buche „1"ne Ltats, element3 ok InZtorioal ana
praLtical politics" in Kapitel 7: l'us (ZovernmentL c>r (Zermanx, Seite W3,
ausdrücklich anerkannt, daß es sich um ein durchaus deutsches Gebiet handle.
Die Grenzziehung zwischen Polen einerseits, Mittelschlesien, Brandenburg und
Westpreußen andererseits, ist aus strategischen Gründen vorgenommen. Diese sind
aber im Zeitalter eines durch den Völkerbund international geschützten Besitz,
Standes schlechterdings unhaltbar. Wie willkürlich die in bezug auf°den Osten
gezogenen Grenzen in jeder Beziehung sind, ergibt sich auch daraus, das; die
oberschlesischen Kreise Leobschütz und Ratibor dem tschecko-slowakischen Staate
zugewiesen werden, obgleich Leobschütz 7,6 Prozent, Ratibor 39,7 Prozent
tschechisch-mährische Bevölkerung hat. Auch die Abgrenzung der Bezirke im süd¬
lichen Ostpreußen umfaßt rein'deutsche Kreise, wie Angerburg und Oletzko. Am
krassesten zeigt sich diese Nichtachtung des Selbbestimmungsrcchts darin, das;
Danzig vom Deutschen Reiche getrennt und zum Freistaate gemacht werden soll.
Weder geschichtliche Rechte noch der heutige ethnographische Besitzstand des pol¬
nischen Volkes können gegenüber der deutschen Geschichte und dein deutschen
Charakter dieser Stadt in'Frage kommen. Ein freier Zugang zum Meer, der
die wirtschaftlichen Bedürfnisse Polens befriedigt, kann durch völkerrechtliche
Servituteu, durch Schaffung von Freihafen gesichert werden.
/V Kein Gebiet darf von Deutschland abgetrennt werden, dessen nationale
Zugehörigkeit durch jahrhundertelange, konfliktlose Vereinigung mit dem deutschen
Staatswesen unbestreitbar bewiesen ist, oder soweit dies nicht zutrifft, dessen
Bevölkerung sich nicht mit der Abtrennung einverstanden erklärt hat. Diese Grund¬
sätze stehen im Einklang mit der von beiden Parteien angenommenen Nechtsgrund-
läge sür die Ordnung der territorialen Fragen, die in den nachstehend nochmals
wiedergegebenen vier Punkten der Kongretzrede des Präsidenten Wilson vom
11, Februar enthalte« ist:
Die anzuwendenden Grundsätze sind die folgenden:
1. „daß jeder Teil der schlictzlichen Auseinandersetzung auf der dem
betreffenden Fall innewohnenden Gerechtigkeit und solchem Adjustierungen auf¬
gebaut sein muß, bei denen die Herbeiführung eines Friedens von Dauer das
Wahrscheinlichste ist,
2. daß Völker und Provinzen nicht von einer Souveränität zur andern
verschachert werden dürfen, gerade als ob sie bloße Gegenstände oder Steine in
einem Spiel wären, sei es auch in dem nun für immer diskreditierten Spiel des
Mächtegleichgewichts, sondern
3. daß jede durch diesen Krieg aufgeworfene territoriale Regelung im
Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerung getroffen werden muß und
uicht als Teil eines bloßen Ausgleichs oder eines Kompromisses der Ansprüche
nvalisierender Staaten, und
4. daß allen klar umschriebenen nationalen Bestrebungen die weitgehendste
Befriedigung gewährt werden soll, die ihnen gewährt werden kann, ohne neue
Elemente von Zwist und Gegnerschaft zu schaffen, oder alte derartige Elemente
SU verewigen, die wahrscheinlich mit der Zeit deu Frieden Europas und somit
der Welt stören würden."
Außerdem kommt hierbei noch Punkt 2 der Rede des Präsidenten Wilson
M Mount Vernon vom 4. Juli 1918 in Betracht, welcher bestimmt: „Die
^egelung aller Fragen, mögen sie Staatsgebiet,. Souveränität, wirtschaftliche
Vereinbarungen oder politische Beziehungen betreffen, auf der Grundlage der
l'-'eien Annahme dieser Regelung seitens des dadurch unmittelbar betroffenen Volkes
und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteils irgend einer
anderen Nation oder irgend eines anderen Volkes, das um seines äußeren Ein¬
flusses oder seiner Vorherrschaft willen eine andere Regelung wünschen könnte."
Hieraus folgt, daß
1. die Abtretung von Gebieten wie Oberschlesien, das seit 1163 dem
deutschen Staatswesen angehört, oder wie das Saargebiet, das von kurzen, auf
kriegerischer Gewalt beruhenden Ausnahmen abgesehen, nie einer nichtdeutschen
Souveränität unterworfen war, nicht gefordert werden kann;
2. in Fällen, wo Deutschland in Gebietsabtretungen willigen kann, mindestens
eine Volksabstimmung nach Gemeinden vorausgehen mich. Bei dieser Abstimmung
sollen alle über zwanzig Jahre alten Angehörigen des Deutschen Reiches stimm¬
berechtigt sein, und zwar sowohl Männer wie Frauen. Wahlberechtigt sind nur
solche Personen, die in den Gemeinden ihren Wohnsitz haben und bereits ein Jahr
vor Friedensschluß hatten. Die Wahl muß streng geheim und ihr ordnungs¬
mäßiger Verlauf sichergestellt sein. Die Sicherstellung kann nur dadurch erreicht
werden, daß alle Truppen aus den strittigen Gebieten entfernt und die Abstimmung
selbst, sowie die Verwaltung des Gebietes bis zur Abstimmung unter die Kontrolle
einer neutralen Behörde, bestehend aus Angehörigen der Staaten Dänemark,
der Niederlande, Norwegen, Schweden, der Schweiz oder Spanien gestellt
wird. Ergeben sich Enklaven, so sind sie gegen einander auszutauschen. Bei
der Grenzfestsetzung ist darauf Bedacht zu nehmen, daß aus dem Abstimmungs¬
gebiet nicht mehr deutsche Staatsangehörige unter die Herrschaft des erwerbenden
Staates gelangen, als Angehörige dieses Staates unter deutsche Herrschaft.
Es dürfen keinerlei materielle Vorteile zur Beeinflussung der Abstimmung ver¬
sprochen werden, insbesondere find Versprechungen über etwaige Befreiung von
materiellen Lasten für den Fall, daß ein deutsches Gebiet an einen anderen
Staat übergeht, unzulässig. Die Freiheit der Abstimmung schließt in sich, daß
eine Bestrafung wegen einer aus der Abstimmung bezüglichen Betätigung aus¬
geschlossen bleibt. Die Abstimmung selbst darf nur nach Friedensschluß und nach
Rückkehr geordneter Verhältnisse stattfinden, gegebenenfalls ist der Zeitpunkt durch
den Völkerbund festzusetzen.
K. Deutschland tritt allgemein für den
Schutz der nationalen Minderheiten
ein. Dieser Schutz wird am zweckmäßigsten im Rahmen des Völkerbundes zu
regeln sein. Jedoch müssen deutscherseits bereits im Friedensvertrag bestimmte
Sicherungen für diejenigen deutschen Minderheiten verlangt werden, die durch
Abtretung unter fremde Staatshoheit gelangen. Diesen Minderheiten ist die
Pflege ihrer deutschen Art zu ermöglichen, insbesondere durch Einräumung des
Rechtes, deutsche Schulen und Kirchen zu unterhalten und zu besuchen, sowie
deutsche Zeitungen erscheinen zu lassen. .Erwünscht wäre es, wenn noch weiter¬
gehend eine kulturelle Autonomie auf Grund nationaler Kataster geschaffen würde.
Deutschland ist seinerseits entschlossen, fremdstämmige Minderheiten auf seinem
Gebiet nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln.
L. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf nicht ein Grundsatz sein,
der nur zu Ungunsten Deutschlands Anwendung findet.. Er muß vielmehr in
allen Staaten gleichmäßig gelten und insbesondere auch dort angewendet werden,
wo deutschstämmige Bevölkerung den Anschluß an das deutsche Reichsgebiet
wünscht.....
Deutschland hat sich damit einverstanden erklärt, daß ein unabhängiger
polnischer Staat errichtet wird, „der die von unbestreitbar polnischer Bevölkerung
bewohnten Gebiete einschließen sollte".
Durch die in Artikel 27 und 28 vorgesehene Regelung der territorialen
Fragen im Osten werden dem polnischen Staat mehr oder minder große Teile
der preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Schlesien
zugeteilt, die nicht von unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnt werden.
Unbekümmert um ethnographische Gesichtepunkte werden zahlreiche ganz
deutsche Städte, weite rein deutsche Landstrecken zu Polen geschlagen, nur damit
Polen günstige militärische Grenzen gegen Deutschland oder wichtige Eisenbahn¬
knotenpunkte erhält. Unterschiedslos werden Gebiete, die in verschiedenen Jahr¬
hunderten von Polen losgelöst sind, oder in denen es überhaupt nie geherrscht
hat. jetzt ihm zugesprochen. Die Annahme der vorgeschlagenen Regelung würde
deshalb eine Vergewaltigung von großen, unbestreitbar deutschen Gebieten bedeuten.
Eine solche Regelung würde außerdem den Wilsonschcn Grundsätzen widersprechen,
daß bei Ordnung der nationalen Fragen vermieden werden soll, „neue Elemente
des Zwistes und der Gegnerschaft zu schassen oder alte derartige Elemente zu ver¬
ewigen, die wahrscheinlich mit der Zeit den Frieden Europas und somit der Welt
stören werden".
Das gilt insbesondere zunächst für Oberschlesien. Die vorgesehene Ab¬
trennung des größten Teiles dieses Gebietes stellt einen dnrch nichts zu recht¬
fertigenden Einbruch in das geographische und wirtschaftliche Gefüge des Deutschen
Reiches dar.
Oberschlesien ist seit 1163 außer jedem Zusammenhang mit dem polnischen
Reich. Es gibt in Oberschlesien keine nationalpolnischen Traditionen oder Er¬
innerungen. Von polnischer Vorzeit und polnischer Geschichte weiß der Ober-
schlesier nichts. An den polnischen Freiheitskämpfen hat der Oberschlesier sich
nicht beteiligt. Er stand vielmehr diesen Bewegungen °fremd und teilncchmslos
gegenüber. Für die Abtretung Oberschlesiens kann Polen keinerlei Rechtsansprüche
geltend machen, namentlich nicht solche, die sich auf die Grundsätze des Präsidenten
Wilson stützen. Die für Polen geforderten Gebiete Oberschlesiens werden nicht
von unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnt. Dementsprechend gaben über
die bisherige Haltung der Bevölkerung die Wahlen von 1903 und 1907 zum
Reichstag deutlich Ausdruck. Vor 1903 ist überhaupt kein polnischer Abgeordneter
gewählt worden. Im Jahre 1907 erhielten bei der allgemeinen gleichen direkten
und vollkommen geheimen Reichstagswahl die Polen 116 090 Stimmen, die
Deutschen 176 287 Stimmen, im Jahre 1912 die Polen 93 029 und die Deutschen
210 l00 Siinunen. Bei den Wahlen zu den Nationalversammlungen des Reiches
im Jahre 1919, an denen alle über 20 Jahre alten Staatsbürger beiderlei Ge¬
schlechts in allgemeiner gleicher direkter und streng geheimer Wahl gewählt haben,
hatten die Polen Wahlenthaltung proklamiert. Es haben trotzdem fast 60 Prozent
aller Wahlberechtigten gewählt und zwar die aufgestellten deutschen Kandidaten.
Da bei den deutschen Wahlen erfahrungsgemäß etwa 10 Prozent der Wähler
aus äußerlichen Gründen verhindert sind, können die Polen höchstens etwa ein
Drittel der wahlberechtigten Stimmen für sich in Anspruch nehmen.
Auch nach dem Zusammenbruch der deutschen Macht fehlten nicht Anzeichen
für den vorwiegend deutschen Charakter Oberschlesiens. Auf Grund der
neuen Bestimmungen konnten die Eltern von 250000 Schulkindern sich entscheiden,
ob sie ihre Kinder in deutscher, polnischer oder mährischer Sprache unterrichten
lassen wollten. Es haben sich die Eltern von nicht, ganz 22 Prozent der Schul¬
kinder für den Unterricht in nichtdcutscher Sprache erklärt. Die polnische Sprache
(das Hochpolnische) ist nicht die Sprache des einen polnischen Dialekt (wasscr-
polnisch) sprechenden Oberschlesiers. Dieser Dialekt, den neben Deutsch ein erheblicher
Teil der Oberschlesier spricht, ist eine deutschpolnische Mischsprache, die niemals
Schriftsprache und niemals Urknndensprache gewesen ist. Sie stellt kein Kennzeichen der
Nationcililät dar, namentlich zum deutschen Nationalbewußtsein. Der Anteil der
mährischen (tschechoslowakischen) Bevölkerung beträgt nach der letzten Volkszählung
un Kreise Ratibor 39,7 Prozent, im Kreise Leobschütz nur 7,6 Prozent. Es kann
also anch in diesen beiden Kreisen voll einer überwiegend tschechoslowakische
Bevölkerung nicht gesprochen werden.
Oberschlesien verdankt seine ganze Entwicklung in geistiger und kultureller
Beziehung deutscher Arbeit. Die Vertreter und Führer der Kunst und Wissenschaft,
me Führer des wirtschaftlichen Lebens im Handel und Gewerbe, in Landwirtschaft
und Industrie sind ausnahmslos Deutsche, ebenso die Arbeiterführer und die
Leiter der Gewerkschaften.
Deutschland kann Oberschlesien nicht entbehren. Polen dagegen hatOberschlefien
nicht nötig. Das wichtigste Produkt Oberschlesiens ist die Kohle. Die Kohlenförderung
Oberschlesiens betrug im letzten Jahre 43V2 Millionen Tonnen, d h. rund LZ Pro¬
zent der gesamten deutschen Steinkohlenförderung von 190 Millionen Tonnen. Die
Abtretung Oberschlesiens ein Polen würde nicht nur den industriellenNiedergangOber¬
schlesiens, sondern sehr schwere Nachteile wirtschaftlicher Art für Deutschland mit
sich bringen. Die oberschlesische Steinkohle hat bis jetzt die gesamte Industrie Ost¬
deutschlands, soweit sie nicht von der Ostsee aus mit Kohlen aus England oder Rhein¬
land Westfalen beliefert wurde, versorgt, ebenso Teile Süddeutschlands und Böhmen
und zwar außer der Industrie die Gasanstalten und Haushaltungen. (Insgesamt sind
über 26 Millionen Menschen mit oberschlesischen Steinkohlen versorgt worden).
Fällt Oberschlesien an Polen, so ist diese Voraussetzung aufs äußerste gefährdet.
Der polnische Steinkohlenbedarf betrug im Frieden zuletzt etwa IO/2 Millionen
Tonnen, während die polnische Kohlenförderung aus dem nicht Oberschlesien an¬
grenzenden Polnischen Kohlenwerk 6,8 Millionen Tonnen betrug. Von dem Fehl¬
betrag wurden IV? Millionen Tonnen aus Oberschlesien, der Nest aus den Gruben
aus dem jetzigen Tschccho-Slowakien eingeführt. Die Versorgung der Polen mit
Kohlen, abgesehen von gewissen Spezialkohlen, würde sich aus den eigenen Kohlen¬
feldern ohne weiteres bewirken lassen, insbesondere wenn Polen seine Gruben,
die zum Teil noch nicht raiionell ausgebaut sind, genügend ausnützt. Dazu kommt,
daß Polen durch die Erwerbung Galiziens einen weiteren reichen Zuwachs an
Bodenschätzen erhält. Insbesondere trifft dies für die neuerdings in Westgalizien
festgestellten .Kohlenvorkommen zu.
Die Abtretung Oberschlesiens an Polen liegt nickt im Interesse der ober»
schlesischen Bevölkerung. Die Lebensverhältnisse sind namentlich auf dem Gebiete
des Gesundheitswesens und der sozialen Fürsorge in Oberschlesien unvergleichlich
bisher als im benachbarten Polen, wo die Gesetzgebung zum Schutz verarbeitenden
Bevölkerung erst schwache Anfänge zeigt.
Die Abtretung Oberschlesiens an Polen ist auch nicht im Interesse der
übrigen Staaten Europas und der Welt, denn sie schafft zweifellos neue Elemente
voll Zwist und Gegnerschaft. Die Fortnahme Oberschlesiens würde Deutschland
eine niemals heilende Wunde schlagen und die Wiedergewinnung des verlorenen
Landes würde von der ersten Stunde des Verlustes an der glühende Wunsch eines
j^den Deutschen sein. Das würde den Frieden Europas und der Welt schwer
gefährden. Es liegt im eigensten Interesse der alliierten und assoziierten Mächte,
Oberschlesien bei Deutschland zu belassen, denn Verpflichtungen aus dem Weltkrieg
kann Deutschland höchstens mit, niemals aber ohne Oberschlesien erfüllen. Schon
ein>L diesem Grunde vermag Deruschland in eine Abtretung Oberschlesiens nicht
zu willigen.
Auch die Provinz Posnr kann in ihrer Gesamtheit nicht als ein von einer
unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohntes Gebiet angesehen werden. Weite
Teile der Provinz Posen wurden seit mehreren hundert Jahren von einer über¬
wiegend deutschen Bevölkerung bewohnt; außerhalb dieser Gebiete gibt es Enklaven
gleicher Art. Soweit aber die Provinz unbestreitbar polnischen Charakter trügt,
wird das DnUsche Reich seinen aus der Annahme der Wilsonschen Grundsätze sich
ergebenden Verpflichtungen nachkommen und in die Abtretung dieser Gebiete
willigen. Die Vorschläge der Gegner über die Grenzführung gehen, wie jederzeit
dargelegt werden kann, nicht von dem Gesichtspunkt der Nationalität, sondern von
dem der strategischen Vorbereitung eines Angriffs auf deutsche Gebiete aus. Solche
Rücksichten können aber keine Rolle spielen, wenn die zukünftigen Beziehungen
Deutschlands und Polens unter die Regeln des Völkerbundes fallen sollen.
Fast die ganz Provinz Westpreußen bis auf einige Kreise in Ost und West
soll Polen zugeschlagen werden. Selbst ein Teil von Pommern soll ohne die
geringste ethnographische Berechtigung von Deutschland losgerissen werden. West.
Preußen ist altes deutsches Land; der deutsche Orden hat ihm für alle Zeiten
deutschen Charakter aufgeprägt; die dreihundert Jahre polnischer Herrschaft haben
zwar den polnischen Einschlag verstärkt, sind aber sonst fast spurlos an ihm
vorübergegangen. Auch nach Abzug der nach dem Friedensentwurf deutsch
bleibenden Kreise im Osten und Westen ist die deutsche Bevölkerung in den
unmittelbar oder mittelbar Polen zugedachten Teilen Westpreußens den Polen
und den mit ihnen keineswegs identischen Kaschuben an Zahl mehr als gewachsen.
(Etwa 744000 Deutsche gegen 580000 Polen und Kaschuben.) An wirtschaftlicher,
sozialer und kultureller Bedeutung — Momente, auf die sich die Polen in ihren
östlichen Grenzmarken ihrerseits gegenüber den Ukrainern und Litauern beziehen
— ist die deutsche der polnischen und kaschubischen Bevölkerung weit überlegen. —
Die Abtretung des größten Teiles von Westpreußen würde Ostpreußen
völlig vom Deutschen Reiche trennen. Das würde ebensowenig mit dem Wilsonschen
Programm übereinstimmen, wie mit den Lebensnotwendigkeiten der kerndeutschen
Bevölkerung Ostpreußens und des übrigen deutschen Volkes. Soweit, abgesehen
von dem Verbindungsweg mit Ostpreußen, der unbedingt für Deutschland erhalten
bleiben muß. westpreußische Gebietsteile unzweifelhaft polnisch besiedelt sind, ist
Deutschland bereit, sie an Polen abzutreten.
Insbesondere steht die in den Artikeln 100—108 verlangte Preisgabe der
rcindeutschen Handelsstadt Danzig und ihrer ebenfalls reindeutschen Umgebung in
schroffsten Gegensatz zu allen in den Erklärungen des Präsidenten Wilson gegebenen
Zusicherungen. Danzig wies nach der Zählung vom 1. Dezember 1910 eine
verschwindend polnisch sprechende Minderheit von 3.5 Prozent auf, der Kreis
Danz-gar Niederung 1 Prozent, der Kreis Marienbmg 3 Prozent, auch der Kreis
Tanziger Höhe hatte nur 11 Prozent. Selbst die Polen bestreiten nicht ernstlich,
daß Danzig stets deutschen Charakter gehabt hat. Der Versuch, Danzig zu einer
„Freien Stadt" zu machen, seine Verkehrswege und die Vertretung seiner Rechte
nach außen dem polnischen Staat auszuliefern, würde zu heftigem Widerstand
und zu einem dauernden Kriegszustand im Osten führen. Dabei sind die wirt¬
schaftlichen Maßnahmen so getroffen, daß für Danzig jeder Verkehr mit Deutschland
aufs äußerste erschwert wnd — offenbar zu dem Zweck, dieses rein deutsche Gebiet
im Laufe der Zeit durch wirtschaftlichen Druck zu polemisieren. Die deutsche
Negierung muß darum die beabsichtigte
nationale Vergewaltigung Danzigs
ablehnen und die Forderung erheben, Danzig und Umgegend beim Deutschen
Reich zu belassen.
Mit der Annahme des Punktes 13 der Rede des Präsidenten Wilson vom
8. Januar 1918 hat Deutschland sich einverstanden erklärt, daß dem zu schaffenden
Pvlenstaat „ein freier und sicherer Zugang zum Meere zugesichert werden soll".
Die deutsche Negierung tat dies in Kenntnis der Ansprache des Präsidenten Wilson
an den Senat vom 22. Januar 1917, in der es heißt: „Außerdem sollte, soweit wie
irgend durchführbar, jedem Volke, das jeht um die volle Entwicklung seiner Mittel
und seiner Macht kämpft, ein direkter Zugang zu den großen Verkehrsstraßen des
Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Abtretung von Territorium
gestochen kann, kann es zweifellos durch Neutralisierung direkter Wcgercchte unter
der allgemeinen Friedensbürgschaft geschehen. Bei gerechten Vereinbarungen dürfte
kein Volk vom freien Zutritt zu den offenen Straßen des Welthandels aus¬
geschlossen bleiben."
Die deutsche Regierung ist nach diesen Grundsätzen zur Erfüllung der von
ihr übernommenen Verpflichtung, Polen einen freien und sicheren Zugang zum
Meere zu gewähren, bereit, die Häfen von Memel, Königsberg und Danzig zu
Freihafen auszugestalten und in diesen Häfen Polen weitgehende Rechte einzu¬
räumen Durch eine entsprechende Vereinbarung könnte dein polnischen Staats-
wesen jede Möglichkeit zur Errichtung und Benutzung der in Freihafen erforder¬
lichen Anlagen (Docks, Anlegestellen, Schuppen, Kais usw.) vertraglich gesichert
werden. Auch ist die deutsche Regierung bereit, durch ein besonderes Abkommen
mit dem polnischen Staat hinsichtlich der Benutzung der Eisenbahnen zwischen
Polen und anderen Gebieten des ehemaligen russischen Reiches einerseits und den
Häfen von Memel, Königsberg und Danzig andererseits jede erforderliche Sicherheit
gegen Differenzierung in den Tarifen und in der Art der Benutzung zu geben.
Die Voraussetzung wäre jedoch, daß auch auf den polnischen und den unter polnischem
Einfluß stehenden Eisenbahnen Deutschland in der gleichen Beziehung die Gegen¬
seitigkeit und die gleichen Vergünstigungen für die Durchfuhr durch Polen, Litauen
und Lettland zugesagt werden. Die etwa durch die Mitwirkung der Polen
zustandegekommenen Tarife müßten insofern eine Ausnahmestellung einnehmen,
als sie nicht zur Verallgemeinerung auf das übrige deutsche Eisenbahnnetz seitens
der alliierten und assoziierten Regierungen herangezogen werden dürfen.
Ferner würde die deutsche Negierung bereit sein, die von Polen, Litauen
und Lettland durch Ost- und Westpreußen zur Ostsee führenden schiffbaren Wasser¬
straßen unter weitgehenden Sicherungen zur freien Benutzung und zum freien
Durchgangsverkehr den Polen zur Verfügung zu stellen. Die Gegenseitigkeit der
Leistungen von polnischer Seite ist ebenfalls Voraussetzung.
Bezüglich der Weichsel wird auf die Ausführungen über die Binnenschiffahrt
verwiesen.
Ostpreußen mit etwa IVs Millionen deutscher Bevölkerung soll vom Deutschen
Reiche territorial losgelöst und wirtschaftlich völlig in die Hand Polens gegeben
werden. Es muß verkümmern und schließlich Polen zufallen. Das kaun Deutsch¬
land niemals zugeben.
Im südlichen Ostpreußen wird das Vorhandensein einer Bevölkerung von
nichtdeutscher Muttersprache benutzt, um in diesen Bezirken eine Abstimmung zu
fordern. (Art. 94 und 95.) Diese Bezirke werden indes nicht von einer unbe¬
stritten polnischen Bevölkerung bewohnt. Der Umstand, daß in einzelnen Gegenden
sich die deutsche Sprache nicht erhalten hat, kann keine Rolle spielen, da diese
Erscheinung selbst in den ältesten Einheitsstaaten zu beachten ist; es sei auf die
Bretonen, Walliser und Basken verwiesen. Die gegenwärtige Grenze Ostpreußens
liegt seit etwa MO Jahren fest. Die fraglichen Teile der Provinz haben aller-
größtenteils nie zu Polen oder Litauen gehört. Ihre Einwohner stehen den
außerhalb der deutschen Grenzen befindlichen Völkerschaften infolge einer seit Jahr¬
hunderten verschiedenen Geschichte, einer anders gearteten Kultur und eines anderen
religiösen Bekenntnisses fremd gegenüber. Diese Bevölkerung hat, von einer
Gruppe landfremder Agitatoren abgesehen, ein Verlangen nach Lostrennung von
Deutschland niemals geäußert, und' ein Grund, die staatlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse dieser Gebiete zu ändern, liegt deshalb nicht vor.
Das gleiche gilt in Westpreußen für die Kreise Stuhm, Marienburg, Marien¬
werder und Rosenberg. Der Kreis Marienburg hat 98 Prozent Deutsche, der
Kreis Marienwerder rechts der Weichsel ist ebenfalls rein deutsch. Rosenberg hat
93,7 Prozent Deutsche. Es gibt in Polen Kreise, in denen der Prozentsatz der
deutschen Bevölkerung höher ist, als z. B. der Prozentsatz der polnischen Be¬
völkerung im Kreise Rosenberg. Das Vorhandensein sehr kleiner Minoritäten
ist nach dem Programm des Präsidenten Wilson kein Grund zur Anzweifelung
des nationalen Charakters eines Gebietes. Andernfalls würde das Programm
zur Auflösung eglicher Staatsordnung führen.
Werden im Friedensvertrag deutsche Gebiete an Polen abgetreten, so liegt
dem deutschen Reiche der Schutz seiner bisherigen Angehörigen deutscher Zunge
in diesen Gebieten ob. Diese Pflicht wiegt um so schwerer, als die Polen sich
bislang nickt als zuverlässige Hüter des Rechtes nationaler und religiöser Minder¬
heiten gezeigt haben. Wir dürfen diese Anklagen erheben, weil die Männer der
heutigen deutschen Regierung die Polenpolitik des alten Regimes immer
bekämpft haben.
In Ostgalizien haben die regierenden polnischen Kreise die Ruthenen
stets unterdrückt. In den jetzt von Polen verwalteten, zu Deutschland gehörigen
Landesteilen werden die deutschen Einwohner hart, zum Teil grausam behandelt.
Welche Gefahren die nationalen Minderheiten in Polen bedrohen, zeigen am
deutlichsten die seit dem 11. November in Polen verübten Massakres an der
jüdischen Bevölkerung. Es wird auf den soeben veröffentlichten Brief des
Mitgliedes der amerikanischen Nahrnngsmittelkvmmission über den Massenmord
in Pinsk verwiesen, den die lokalen Behörden begünstigten, und den die Regierung
straflos ließ.
Würde das neue Polen nach den Bestimmungen des Friedensentwurfes
gestaltet, ohne daß gleichzeitig die nötigen Garantien für die Minderheiten genau
festgesetzt würden, so hieße das die Pogromgrenze weit nach Westen verschieben.
Jedenfalls ist die Entwicklung, die Polen nehmen wird, und die besonderen
Verhältnisse, die sich in ihm herausbilden werden, heute noch nicht zu erkennen,
und es erscheint selbstverständlich, daß Deutschland sich seiner in eine besonders
ungewisse Zukunft hineingehenden Landeskinder auch ganz besonders ernst, annimmt.
Die deutsche Regierung kann sich mit der in Artikel 91 vorgeschlagenen
Regelung der Option nicht in allen Punkten einverstanden erklären. Sie behält
sich ihre Einwendungen und Abänderungswünsche vor. Grundsätzlich legt die
deutsche Delegation Verwahrung dagegen ein, daß nach Artikel 90 Absatz 2
deutsche Neichsllngehörigc, welche ihren Wohnsitz nach dem 1. Januar 1908 in
das abgetretene Gebiet verlegt haben, die polnische Staatsangehörigkeit nur mit
besonderer Ermächtigung des polnischen Staates erwerben können. Ein Grund
dafür, die nach dem 1. Januar 1908 in die strittigen Gebiete übergesiedelten
Deutschen anders zu behandeln als die früher übergesiedelten liegt nicht vor.
jedenfalls kann aus dem nur in einem Falle ausgeführten Enteignnngsgesetz ein
solcher Grund nicht hergeleitet werden. -
Einer wirksamen Sicherung bedürfen ferner die Rechte und Interessen der
?in Verlauf des preußischen Ansiedelungswerkes angesetzten Siedler aller Art,
sowie die Rechte der im abzutretenden Gebiet tätig gewesenen Beamten des Staates,
der Gemeindeverbände und Gemeinden, in Kirchen und anderen religiösen Gemein¬
schaften der Beamten anderer Körperschaften, des öffentlichen Rechtes sowie der Lehrer.
Die durch die polnische Erhebung der letzten Monate und deren Bekämpfung
verursachten Schäden sollten durch paritätisch zusammengesetzte Kommissionen fest-
ciestellt werden. Die Pflicht zum Ersatz der Schäden wird dem Staate aufzuerlegen
wu, dem das Gebiet, in dem sie entstanden sind, endgültig zufällt. Wegen der
^eilnahme an der polnischen Erheben.g der letzten Monate oder wegen der
Bekämpfung dieser Erhebung darf niemand einer gerichtlichen Bestrafung unter-
Zogcn oder sonst einer Benachteiligung ausgesetzt werden.
2. In territorialen Fragen hält sich Deutschland rückhaltlos auf dem Boden
des Wilsonprogramms. Es verzichtet auf seine Staatshoheit in Elsaß-Lothringen,
wünscht aber dort eine freie Volksabstimmung. Es tritt den größten Teil der
Provinz Posen, die unbestreitbar polnisch besiedelten Gebiete nebst der Hauptstadt
Posen an Polen ab. Es ist bereit, den Polen durch Elmaumung von Freihafen
i" Danzig. Königsberg und Memel, durch eine Weichsel-Schiffahrtsakte und durch
besondere'Eisenbahnverträge freien und sicheren Zugang zum Meere unter inter-
nationaler Garantie zu gewähren.
Mit der Überreichung des deutschen Gegenvorschlages in Versailles fiel
zeitlich die Tagung der Deutschen Volksräte Posens und Westpreußens in Marien-
burg zusammen. Die dort von den Volksräten gefaßte Entschließung bildet eine
Ergänzung und Fortsetzung der Grundsätze, von denen sich die Regierung bei den
Zugeständnissen in der Friedensfrage leiten lassen will. Die Reichsregierung stellt
such bei ihrem Gcgenentwurf strikt auf den Boden des Wilsonschen Programms,
das auf den Fundamentaliätzen des Selbstbestimnurrgsrechts und des Nationalitäten-
pnnzips fußt. Der Versailler Gewaltfriedensentwurf hat sich als ein untauglicher
Versuch erwiesen, der Lösung der Ostfrage näher zu kommen, weil er den deutsch-
pvlnischcn Gegensatz nicht durch einen Ausgleich, sondern durch Vernichtung, zum
mindesten aber durch willenlose Knebelung der deutschen Seite herbeiführen wollte.
Führt nun die Reichsregierung in ihrem Gegenvorschlag die Wahl der Mittel zur
Lösung des Ostproblems auf die unzweideutige Anwendung der Wilsonschen
Fundamentalsätze — unter Wahrung der indiskutabler, weil niemals mit Polen
in Konflikt gewesenen deutschen Rechte auf Ostpreußen und Schlesien — zurück,
so gibt die Volksratsresolution neben den Mitteln auch das Ziel an, das erreicht
werden soll; nämlich den deutsch-polnischen Ausgleich. Darauf kommt es an;
Es handelt sich in der Ostmark nicht darum, Prinzipien um ihrer selbst
willen oder zu Nutz und Frommen einer Partei zum Siege zu verhelfen, sondern
den Endzweck dieser Prinzipien zu verwirklichen. Von dem Friedensentwurf der
Entente kann man sagen, daß sein wahrer Zweck — die unverhüllte Schwächung
Deutschlands durch ein übermächtiges, Frankreich im Osten denkendes Polen —
die Mittel heiligt: bald wurden zur Erfüllung der polnischen Ansprüche historische
Gründe, bald wirtschaftliche Interessen, bald ethnographische Prinzipien, bald
strategische Notwendigkeiten und hin und wieder auch die beiden. Wilsonschen
Fundamentalsätze herangezogen. Damit war die Lösung der ganzen Frage in
eine Sackgasse hineingeraten, aus der es eine Umkehr ausschließlich mit Hilfe der
von Deutschland und der Entente allein als maßgeblich anerkannten Prinzipien
Wilsons geben kann, aber auch dann nur, wenn Einigkeit über das Ziel besteht.
Die Lösung, die die Deutschen Volksräte in ihrer Marienburger Entschließung
der Ostfragen zu geben gedenken, erschöpft sich jedoch nicht allein in der Schaffung
eines Ausgleichs. Einen Ausgleich erstrebt die deutsche Regierung desgleichen an,
was die Deutschen Volksräte jedoch über die Formulierungen dir Regierung
hinaus klarstellen, ist die Grundlage, die Möglichkeit, der Umfang des Ausgleichs,
kurzum sein Wesen überhaupt. Hierin liegt der springende Punkt, der bis jetzt
als verkannt erschien. Das Problem dreht sich keineswegs darum, einen Aus¬
gleich der Interessen zwischen Deutschland und Polen zu finden und die bisherige
ausschließliche Festlegung des Streitfalles auf diesen Angelpunkt hat zu der jetzt
herrschenden Verwirrung und Ratlosigkeit erheblich beigetragen. Was daneben in
erster Linie steht, ist die Notwendigkeit, eine Auseinandersetzung der innerhalb der
Ostmark mit- und nebeneinander lebenden deutschen und polnischen Bevölkerung
herbeizuführen. Nur die Berücksichtigung auch dieser Notwendigkeit schasst erst die
Möglichkeit einer Grundlage für den angestrebten Ausgleich. Es steht nicht so,
daß zwei Interessenten über die politische und wirtschaftliche Zugehörigkeit eines
Gebietes verhandeln, und es handelt sich ferner nicht darum, daß die Bevölkerung
dieses Gebietes darüber entscheiden soll, denn beides würde mit den Grundsätzen
des Selbstbestimmungsrechts und des Nationalitätenprinzips in Widerspruch stehen I
So paradox dieser Satz auch klingen mag, so nahe liegt doch seine Wahrheit,
wenn man von den Voraussetzungen der beiden Prinzipien ausgeht.
Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes auf der Grundlage des
Nationalitätenprinzips setzt aber voraus, daß die eine Nationalität innerhalb des
strittigen Gebietes sich in einem dermaßen großen Übergewicht befindet, daß sich
eine Berücksichtigung der anderen verbietet. Dies ist in der Ostmark nicht der
Fall. Wenn es in Posen neben 1270000 Polen 850000 Deutsche, in West-
Preußen neben 630000 Polen sogar über eine Million Deutscher gibt, wäre eine
Entscheidung, die lediglich die ziffernmäßige Überlegenheit der einen Nationalität
berücksichtigt, eine Nichtachtung des Selbstbestimmnngsrechts der anderen. Ver¬
suchte man aber eine Lösung dergestalt, daß die starre Formel des Selbst¬
bestimmnngsrechts nur auf solche Gebietsteile zur Anwendung kommen sollte, in
denen der zahlenmäßige Unterschied zwischen beiden Nationalitäten die erwähnte
Voraussetzung erfüllte, so bliebe in den nichtberücksichtigten Gebieten das Selbst-
bestimmungsrecht immer noch mißachtet, und eines Prinzips zuliebe würden wirt¬
schaftlich und kulturell zusammenhängende Landesteile zerrissen und abgetrennt.
I^lat justitia, pereat auratus, auf Deutsch, mag die Ostmark zerstückelt werden
und zugrunde gehen, wenn nur das Prinzip der Gerechtigkeit, d. h. das Selvst-
bestimmungsrccht zur Anwendung gelaugt. Das bedeutet eine Verneinung des
Selbstbestimmungsrechts durch sich selbst, also baren Widersinn! Auch im bürger¬
lichen Recht wird, wie schon die römischen Rechtsgelehrten des corpus iuriZ lehrten,
nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Sinn des Gesetzes entschieden.
Wieviel mehr muß dieser Grundsatz auch für das Verhältnis zwischen großen
Völkern gelten. Mehr oder minder läuft eine derartige Anwendung des Selost-
bestimmungsrcchts bei der geographischen Lage und den mannigfaltigen wirt-
schaftlichen'Zusammenhängen der einzelnen in Frage kommenden Gebietsteile auf
eine Art Kuhhandel hinaus, und schließlich würde die Bevölkerung trotzdem wie
Schachfiguren von einem Feld auf das andere geschoben. Deshalb fordern die
Voltsräle in der Maricnburgcr Entschließung, daß die Frage der Ostmark nicht
durch von außen hineingetragene Begriffe, noch weniger durch Interessen zweier
Länder, Polens und Deutschlands, geregelt werde, sondern allein durch einen
Ausgleich zwischen den Bevölkerungen der Ostmark selbst. Die Frage dreht sich
also nicht darum, ob die Deutschen oder die Polen in der Ostmark über deren
Zugehörigkeit entscheiden sollen, sondern beide zusammen sollen bestimmen, wie
sie miteinander auskommen »vollen. Dies ist die allein mögliche Lösung.
Allerdings ist zurzeit ein großer Teil der polnischen Bevölkerung dermaßen
verblendet und haßerfüllt, daß er die Rechte des Deutschtums mit Füßen treten
möchte. Andererseits aber besteht in führenden polnischen Kreisen auch keine
große Geneigtheit, die Ostmark restlos in Groß-Polen aufgehen zu lassen. Was
sie daran hindert, ist zwar nicht ein Rechtsgefühl zugunsten der deutschen Be¬
völkerung, sondern das Bewußtsein, daß eine Annexion der Ostmark auch zum
Nachteil ihrer polnischen Bewohner auslaufen muß; aber hier liegt für beide
Teile die Möglichkeit, zu einer Verständigung zu gelangen. So gering die Aus¬
sichten für eine Verständigung zurzeit auch noch sein mögen, sie werden in dem
Maße wachsen und in greifbarer Nähe sein, als die deutsche Bevölkerung der
Ostmark sich mit aller Gewalt, mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kräfte gegen eins
Vergewaltigung ihres Selbstbestimmungsrechts zur Wehr setzt. Der Schwache
hat keine Möglichkeit, sich mit einem Starken zu verständigen, der nur seine
eigenen Interessen im Auge hat, Aber der ebenbürtige Gegner hat leichteres
Spiel. Die deutsche Bevölkerung der Ostmark will Versöhnung und Verständigung,
an den Polen liegt es, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Hat sich die Ostmark
untereinander verständigt, so wird sie beiden Teilen, Deutschland und Polen, den
Interessenausgleich gewähren, der ihnen zukommt.
So schiebt sich die Ostmark in den Teilnngsprozeß zwischen Deutschland
und Polen als Haupibeteiligtcr Dritter hinein, der vor dem internationalen
Friedensgerichtshof gleichfalls Gehör verlangt und zwar auf Grund eigenen
Rechts. Die Ostmark als wirtschaftlich und geographisch zusammenhängendes
Ganzes ist trotz größerer überwiegend deutscher und geringer überwiegend pol¬
nischer Gebietsteile weder rein deutsch — als Ganzes wohlverstanden — noch
rein polnisch, sondern deutsch-polnisch. Wer die Ostmark zerreißen oder ungeteilt
«n Polen geben will, aber auch wer sie in ihrem jetzigen Zustand bei Deutsch-
land belassen möchte, verkennt, daß er keine Lösung, keinen Ausgleich schafft,
sondern, wie die Marienburger Entschließung besagt, beiträgt zur „Verewigung
des deutsch-polnischen Streites, zur Verewigung des nationalen Hasses und der
Zerrissenheit mit all ihren bösen Folgen für die gesamte Kultur der von Deutschen
und Polen bewohnten Gebiete."
Diejenige Bevölkerungsklasse, die von der geplanten Umwälzung in der
Ostmark am unmittelbarsten getroffen, am tiefsten geschädigt sein wird, ist die
deutsche Arbeiterschaft. Wie sehr die polnische Presse auch über die „Zerreißung
der preußischen Sklavenkette" jubeln mag, wie geflissentlich sie auch die angeblich
hohe polnische Kultur im Vergleich zu der niedriger stehenden deutschen preist,
der polnische istcmt steckt in jeder Beziehung noch in den Kinderschuhen, auf ab¬
sehbare Zeit hinaus braucht er deutsches Organisationstalent, deutschen Erfinder¬
geist und deutsche Unternehmungslust. Gar nicht davon zu reden, daß das
bettelarme Polen auf das deutsche Kapital angewiesen ist. Deutsche Unternehmer,
Techniker, Beamte und Kapitalisten kann es einfach nicht entbehren, wollte es sich
nicht selbst mutwillig zugrunde richten. Wen Polen aber nicht benötigt, das ist
der deutsche Arbeiter. In Warschau übersteigt die Zahl der Arbeitslosen bereits
um vieles die Hunderttausend, und das polnische Proletariat befindet sich nicht
nur in den Industriestädten, sondern auch auf dem Platten Lande in einer er¬
schreckenden Notlage. Die Lebensbedingungen mögen in Polen z. Z. an sich
billiger sein, dies nützt dem polnischen Proletariat jedoch blutwenig, da die Er-
werbsmöglichkeiten geringer sind.
Sollte die Ostmark zu Polen geschlagen werden, so wird ein^ ungeheuer
starker Zustrom beschäftigungsloser polnischer Industrie- und Landarbeiter in die
Ostmark erfolgen, die im Russischen Polen mit Recht als eine Art gelobtes Land
gilt. Die Aussichten des deutschen Arbeiters auf Beschäftigung, Verdienst und
Brot werden durch die polnische Konkurrenz beschnitten, die Löhne infolge des
steigenden Angebots an Arbeitskräften geringer. Einen Schutz in diesem Kon¬
kurrenzkampf hat der deutsche Arbeiter von dem polnischen Staat nicht zu erwarten,
der in erster Linie den gebürtigen Polen bevorzugen wird.
Es ist ein Trugbild, wenn der deutsche Arbeiter etwa glaubt, gemeinsam
mit der polnischen Arbeiterschaft im Kampfe gegen den Kapitalismus stehen zu
können. Den polnischen Arbeiter beseelt ein starkes Nationalbewußtsein, das ihn
trotz aller nur vom gutmütigen Deutschen geglaubten internationalen Einigkeit
des Proletariats seine eigenen Wege gehen lassen wird. Der Pole haßt den
Deutschen, weil der Pole ungebildeter ist. Dieser Haß wird ständig von der
Geistlichkeit geschürt, deren Einfluß sich die breite unwissende Masse nicht zu ent¬
ziehen vermag. Der Konkurrent des Deutschen ist aber nicht nur der wirkliche
Pole allein, sondern auch der polnische Jude. Kongreßpolen und Galizien sind
von Millionen jüdischer Proletarier bevölkert, die in den elendesten Verhältnissen
leben. Einzelerscheinungen in der Judenschaft, namentlich in der jüdischen
Intelligenz, mögen den deutschen Arbener nicht darüber täuschen, daß die großen
Massen" des jüdischen Proletariats orthodox, d. h. strenggläubig sind; und die
deutschen Proletarier trennt nicht nur die Rasse, das Bekenntnis, sondern eine
ganze Weltanschauung.
Dies sind aber nicht die einzigen Faktoren, die ein Zusammengehen des
polnisch-jüdischen Proletariats mit der deutschen Arbeiterschaft hemmen. Eine
große Rolle spielt dabei ferner noch der tiefere Bildungsstand. Der gewerkschaftlich
organisierte, gut geschulte deutsche Arbeiter sieht sich auf einmal einem Arbeits¬
kollegen gegenüber, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig tief unter ihm
steht. Das vermittelnde Band, das Gemeinschaftsgefühl zwischen den deutschen
und den polnischen Arbeitern fehlt, denn der Bildungsunterschied ist zu kraß.
Während der deutsche Arbeiter dank der Schule, dank seineu Gewerkschaften,
wirtschaftspolitischen und parteipolitischer Organisationen ein hohes Verständnis
für die Allgemeinfrag?» besitzt, fehlt dies gänzlich auf der anderen Seite. Ehe
dieser Unterschied auch nur einigermaßen ausgeglichen ist, und dies ist nicht nur
eine Frage der Zeit, wird ein wirkliches Zusammengehen in wirtschaftlichen und
politischen Fragen aussichtslos erscheinen. Im Vergleich zu den deutscheu Arbeitern
ist der Pole ein wirklicher Proletarier im wahrsten Sinne des Wortes. Er muß
sich zunächst auf die Höhe des deutschen Arbeiters heraufarbeiten, und erst, wenn
er so weit ist, kann der deutsche Arbeiter daran denken, seine eigene Lage zu
verbessern. Bis dahin muß er warten. Rasten heißt rösten. Der deutsche Arbeiter
wird zurücksinken, anstatt aufzusteigen.
Der deutsche Arbeiter sieht sich einem bedürfnisloseren, daher billigeren
Arbeitskollegen gegenüber, der für die Solidarität der deutsch.polnisch-jüdischen
Arbeitsgemeinschaft kein Verständnis besitzt. Ein Vergleich mit der hiesigen
polnischen Arbeiterschaft wäre dabei unmaßgeblich, denn diese ist durch die deutsche
Schule gegangen und von deutschem Geist beeinflußt.
Dies wären aber nur die allgemeinen Bedingungen, die die Lage der
deutschen Arbeiterschaft im künftigen Polen verschlechtern müssen.
Deutschland ist das einzige Land, das eine wirkliche soziale Arbeitergesetz,
gebung besitzt, nämlich Invaliden-, Kranken- und Unfallversicherung für Arbeiter.
In Polen fehlt in dieser Beziehung alles. Selbst wenn diese Gesetzgebung für
die abgetrennten Teile der Ostmark aufrecht erhalten werden sollte, wird es sich
in der Praxis schwer durchführen lassen. Sie mit einem Schlage in Polen ein¬
zuführen, wird ebenso unmöglich sein, als sie in den ehemalig deutschen Gebieten
allein aufrecht zu erhalten. Ein Beispiel mag dies erläutern: Zieht der deutsche
Arbeiter nach Warschau, so verliert er den Schutz der sozialen Versicherungsgesetze,
der Pole dagegen, der sich aus Warschau in die Ostmark begibt, erwirbt den
Anspruch darauf. Der deutsche Arbeiter kann sich also dadurch nur verschlechtern,
der Pole dagegen verbessern. Derartige Zustände wären überdies so kompliziert,
daß sie einfach nicht bestehen könnten. Die Ostmark wird dem in sozialer Hinsicht
ungünstiger flehenden Polen gleichgestellt werden müssen, und zwar um so mehr,
als bei Polen bekannterweise keine Neigung besteht, den ehemals deutschen Gebiets¬
teilen Ausnahmestellungen zuzubilligen. Es sind trübe Aussichten, die die Zukunft
des deutschen Arbeiters erwarten.
Aber nicht nur wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch wird sich der deutsche
Arbeiter schlechter stehen, sondern vor allem auch in politischer Hinsicht. Der
deutsche Arbeiter hat schon vor der Revolution in seiner starken sozialdemokratischen
Neichslagsfraltion eine hervorragende Interessenvertretung besessen, die von
Ausschlag auf die Gesetzgebung war. Nach dem Umsturz hat die Sozialdemokratie
die Zügel der Regierung ergriffen und die deutsche Arbeiterschaft ist im Besitze
des Mitbestimmungsrechts in allen Fragen der inneren und äußeren Politik. Und
wie steht es in Polen? Der polnische Landtag zählt bis jetzt unier 333 Abgeordneten
1» Arbeiter, die Regierung schwimmt munter im imperialistisch-kapitalistischen
Fahrwasser. Die Arbeiterrüte wären die ersten Einrichtungen, die die Polen zum
Teufel jagten. Der deutsche Arbeiter verliert im künftigen Polen nicht allein
alle diejenigen Rechie, auf die er als Errungenschaften der Revolution stolz ist,
sondern er büßt auch noch zum großen Teil das ein, was er in Deutschland schon
vor der Revolution besessen hat. Selbst wenn das allgemeine Wahlrecht zum
Polnischen Landtage so durchgeführt werden sollte, wie es in Deutschland vor
dem Umsturz der Fall war, wobei von Wahlkorruption, Bestechung, ungleicher
Einteilung dör Wahlkreise und tgi. mehr noch abgesehen wird, hat der deutsche
Arbeiter im polnischen Landtage auch nicht annähernd die Vertretung wie im
Reichstage des früheren Deutschland. Auch wenn man den unwahrscheinlichen
Fall annimmt, das die polnische Sozialdemokratie mit allen ihren verschiedenen
Schattierungen den allgemeinen Standpunkt der gesamten Arbeiterschaft im
polnischen Landtage vertreten will, so gibt es daneben doch noch besondere
Angelegenheiten, die allein den deutschen Arbeiter angehen, nämlich deutsche Schule,
dentiche Sprache, deutsche Kirche, deutsche Presse. Wer wird sich hierfür im
polnischen Landtage einsetzen? Der Pole sicherlich nicht, und der deutsche Arbeiter
hat keine Macht dazu.
In Deutschland sind wir auf dem Wege der Sozialisierung, der deuische
Arbeiter will nicht länger allein Lohnsklave und Arbeitsmaschine sein, er will als
Mensch unter Menschen gelten und selbst bestimmen, wie und was produziert
werden soll. Er verlangt den ihm gebührenden Anteil an der Produktion, eine
gerechte Verteilung der produzierten Ware. Und in Polen? Polen rüstet sich
dazu, Ausbeutungsobjckt des französisch-englisch amerikanischen Kapitalisnius zu
werden. Von Sozialisierung ist im künftigen Polen keine Rede. Von Selbst-
bestimmungsrecht noch weniger. Selbst die polnischen Arbeiter in Oberschlesien,
dessen Kohlenbergwerke zugunsten des französischen Staates enteignet werden
sollen, sträuben sich mit aller Macht, zu diesen: Polen zu gehören. Achtstundentag,
Betriebsräte, Mindcstlöhne, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Streik- und
Koolilionsrecht bleiben holde Träume, in Polen herrscht der internationale
Kapitalist, der so viel billige Albeitski äste aus dem dunkelsten Polen heranziehen
kann, dasz er 'den organisierten deutschen Arbkiter mit frohem Herzen entbehrt.
Und wenn die Polen jetzt den deutschen Arbeitern goldene Berge versprechen,
sie werden nicht ein Versprechen halten, auch nicht halten können, da ihnen der
internationale Kapitalist auf dem Nacken sitzt. Umsonst nämlich hat die Entente
das unabhängige Polen nicht errichtet, nur zu ihren: eigenen Vorteil. Polen hat
die Zinsen des Ententekapitals mit saurem Schweiß herauszuarbeiten, und der
entrechtetste Lohnsklave wird der deutsche Arbeiter sein.
Die Tagung der Deutschen Volksriite in
Marieubmg.
Am 23. Mai versammelten sich im Hotel
König von Preußen die Vertreter der Deutschen
Volksräte aus Posen, Westpreußen, sowie der
entsprechenden Organisationen ausOstpreußen,
um zur veränderten politischen Lage Stellung
zu nehmen. Als Gäste waren mehrere Mit¬
glieder des Ostnmrkenparlamentes, das um
Tage vorher im Reuter der Marienburg
tagte, erschienen. An eine die gegenwärtige
politische Lage beleuchtenden Rede von
Geheimrat Cleinow-Bromberg schlössen sich
längere Ausführungen des Kreisbaumeisters
Krause-Thorn, die bis ins einzelne die Lage
und Stellung der Ostprovinzen darlegten.
In der hierauf folgenden Besprechung kamen
die Vertreter aller Ostprovinzen zum Wort;
der Vertreter von Memel trat mit besonderem
Nachdruck für den Nordostzipfel Deutschlands
ein. Herr Abg. Dr. Fleischer berichtete aus¬
führlich über die Tagung des Ostmarken-
Parlaments. Schließlich wurde nachstehende
Entschließung einstimmig angenommen:
„In letzter Stunde vor den größten Ent¬
scheidungen der Weltgeschichte versammelten
sich die Vertreter der Deutschen Volksräte
aus Posen und Westpreußen sowie der ent¬
sprechenden Organisationen aus Ostpreußen,
um Richtlinien für die Handlungen der
nächsten Tage zu gewinnen.
Wir stehen unerschüttert auf dem Boden,
daß der uns angebotene Friedensvertrag un¬
bedingt abzuweisen ist. Wir erkennen dem¬
gegenüber an, daß der Gegenentwurf der
deutschen Neichsregierung geeignet ist, die
Grundlage der Wilsonschen Idee« in die
praktische Politik einzuführen, weisen aber
darauf hin, daß auch eine teilweise Abweichung
davon in den besetzten Gebieten der Provinz
Posen den Keim in sich trüge für die Ver¬
ewigung des deutsch-Polnischen Streites, für
die Verewigung des nationalen Hasses und
der Zerrissenheit mit allen ihren bösen Folgen
für die gesamte Kultur der von Deutschen
und Polen bewohnten Gebiete.
In dieser Lage wenden wir uns noch
einmal an sämtliche Bewohner des Ostens
ohne Unterschied ihrer Muttersprache mit der
Aufforderung, die Fragen der Ostmark nicht
von außen regeln zu lassen, Sündern durch
einen Ausgleich von der Bevölkerung der
betreffenden Gebiete selbst. Nur aus den
tausendfältigen Beziehungen, die das jahr¬
hundertelange Zusammenleben der Polen mit
den Deutschen geschaffen hat, lassen sich die
tragenden Grundlagen für weiteres friedliches
Zusammenleben bilden.
Im deutsch-Polnischen Ausgleich werdeu
die kulturellen Güter, die wirtschaftlichen so¬
wohl wie die geistigen beider Nationalitäten
am besten geschützt werden im Rahmen eines
großen freien Rechtsstaates, der die Gleich¬
berechtigung der Nationalitäten unbedingt
wahrt.
Wir erwarten, daß das polnische Volk
uns durch Ablehnung dieses Friedensvor¬
schlages nicht zwingt, ererbte Rechte mit der
Waffe in der Hand zu verteidigen; denn
darüber soll vor der ganzen Welt kein Zweifel
bestehen, daß die Deutschen der Ostmark wie
ein Mann aufstehen werden, um das Erbe
ihrer Väter, das ihnen geraubt werden soll,
mit allen Mitteln zu verteidigen. Ein solcher
Krieg in der Ostmark, den die Polen- damit
entfachen würden, wäre einer der fürchter¬
lichsten Bürgerkriege, die wir kennen.
Im Angesicht der ehrwürdigeren Marien¬
burg gewinnen wir aus der glorreichen Ver¬
gangenheit die Kraft, um uns heute zu den:
Gelöbnis zu vereinen, stark zu sein, sowohl
den Bruderzwist der jüngsten Monate zu
vergessen wie auch alle Opfer auf uns zu
nehmen, um unsere Heimat vor Ver¬
sklavung zu retten."
Im zweiten Teil der Beratung standen
Organisalionsfragen zur Erörterung. Es
wurde beschlossen, einen ständigen Ausschuß
in Danzig zu unterhalten, der aus Vertretern
der drei Provinzen besteht. Dieser Ausschuß
soll in Fühlung mit dein Ostmarkenparlament,
das jetzt ebenfalls in Danztg tagt, arbeiten.
„Lech" (Gnesen) Ur. 99 vom 9. Mai.
Die Nationalpolittt am Scheidewege.
Das Wochenblatt „Nzed i Wojski" verbreitet
folgenden Artikel: „Die Tat erklärt die
Wirklichkeit besser als die klügsten Worte,
^ zieht den Nebel von den Ereignissen
herunter und deckt das Terrain der nächsten
Arbeit in deutlichen Umrissen auf.
Es ist dies heute nach den litauischen
Ereignissen geschehen. Es hat sich erwiesen,
daß heute das polnische Volk am Scheide¬
wege steht, daß in ihm zwei deutlich um-
rissene Lager der Nationalpolitik enthalten
send und daß ein jedes derselben einen
anderen Weg einzuschlagen wünscht____
Das eine Lager sieht seinen geistigen
Anführer im Staatsoberhaupt. . . . Das
Zweite Lager überträgt seinen Schwerpunkt
früher in der inneren und heute in der
äußeren Politik auf fremde Fundamente....
Der Aufruf des Kommandanten Pilsudski
^u die Einwohner des gewesenen Grvß-
herzogtums Litauen hat ein Zischen des
Hasses von feiten der „Gazeta Warszawsti"
hervorgerufen.
Es ist gut, daß die Ausführungen dieser
Zeitschrift das Tageslicht erblickt haben. Sie
ziehen an die Oberfläche, was bisher für
manche verdeckt war, sie enthüllen deutlich
die Teilung der polnischen Nationalpolitik
in zwei Lager und zwingen einen jeden
polnischen Patrioten, sich zu orientieren und
einen Weg zu wählen. Wir übertreiben
nicht, wenn wir behaupten, daß von dieser
Wahl, die von den großen Massen des
Volkes in nächster Zeit vorgenommen werden
sollen, der ganze zukünftige Weg und die
Entwicklung und das Schicksal Polens ab¬
hängt. Die „Gazeta Warszawski" ist empört,
daß Litauen in dem Aufruf des Kommandanten
als ein besonderes Ganzes behandelt wird,
sie regt sich auch darüber auf. daß darin von
den das litauischeLand bewohnenden Nationen
gesprochen wird. In der Stadt Wilna ist
doch der Prozentsatz der Litauer und Weiß-
ruthenen verschwindend klein. . . .
Pilsudski hatte die Dreistigkeit, sich durch
die Tat dem gegenüber zu stellen, was
Dmowski in Paris auf dem Papier gemacht
hat. Dort hat man auch ein Stück vom
weißrnthenischen Lande als einen Polnischen
Teil Litauens anerkannt. Das Weißruthenische
Land sollte zwischen Polen und Rußland
geteilt werden, ein Stück desselben zusammen
mit einem Teil Litauens sollte an Polen
angegliedert werden. Und sollte das etwa
auf Grund einer Verständigung mit den
Weiszruthenen geschehen? NeinI Es war
überhaupt keine Rede von einer Verständigung
mit den Nachbarvölkern. . . . Ausschließlich
auf Grund eines fremden Befehls, auf Grund
der diplomatischen Siege in Paris sollte der
nordöstliche Teil des polnischen Gebäudes
fertiggestellt werden. ... Es zeigt sich, daß
unsere nationaldemokratischen Politiker mehr
cntentistisch als — die Entente selbst waren.
Denn diese läßt heute einen großen Teil der
Ostaufgaben auf unseren Schultern und macht
das Resultat von unseren Anstrengungen und
unserem Willen abhängig. Sie will denjenigen
helfen, die selbst zu gehen verstehen. . . .
Gott sei Dank ist heute jemand in Polen
vorhanden, der uns zu einem selbständigen
Gang zwingt. . . .
Aber wir wollen zur Ostpolitik unserer
Staatsmänner aus der „Gazeta Warszawska"
und „Gazeta Peranna" zurückkehren.
Das ethnographische Litauen erhält auf
der Karte des Herrn Dmowski Autonomie.
Aber es gehört gleichfalls zu Polen, infolge
eines Befehls der Entente.
Wir wollen damit den Plan einer Teilung
der Ukraine zwischen Rußland und Polen
vergleichen, dann haben wir das deutlich
umnssene Bild des Systems unseres imperia¬
listischen Lagers in der auswärtigen Politik.
Sie unterscheidet sich von der preußischen
Wohl hauptsächlich dadurch, daß sie das Zer¬
schneiden und die Vergewaltigung der Völker
mittels fremder Kräfte durchführen will.
Die Annexionspolitik behauptet überall,
daß sie nur das will, was ihr rechtmäßig
gehört. Überall aber gehören ihr aus ver¬
schiedenen Gründen ganze Landstriche fremder
Völker, die man wünscht schleunigst zu ver¬
dauen. Die Politik der Union aber gliedert
die Völker gutwillig an. . . . Die Politik der
Union wünscht nicht einen Teil der Weiß-
ruthenen aufzufressen, sondern sie wünscht
das ganze Weißruthenenland im freien
Bunde anzugliedern.
Die Politik der Union wünscht aus den
Völkern Litauens, aus den Estländern und
Letten ein großes Schutzgebäude gegen
Rußland zu erbauen, anstatt sich mit den¬
selben in die Beute der kleinen Völker zu
teilen und die Sache als erledigt anzusehen,
wenn die Erlaubnis der Entente dafür zu
erlangen wäre.
Die Politik der Union läßt aus eigener
sittlicher Idee neue Polnische Kräfte erstehen,
Kräfte des Vertrauens, der Anhänglichkeit
bei fremden Völkern. Auf dieser Grundlage
erst kann sie die Position eines gleich¬
berechtigten Bundesgenossen bei der Entente
erreichen. . . .
So verstehen wir die tieferen Quellen,
aus denen die ersten Schritte Pilsudstis in
Litauen erstanden sind. Aber dies ist erst
der Anfang. Die Rolle Polens im Norden
und Osten wird mit jedem Tage wachsen
und wird die Ausfüllung großer Aufgaben
fordern.
Es ist notwendig, daß die breite polnische
Allgemeinheit den Scheideweg bemerken und
endgültig wägen wird. Wir zweifeln nicht
daran, welchen Weg sie wählen wird, aber Eile
ist notwendig. Der Geist der Volksmacht nach
innen und des brüderlichen Barsch nach
außen, der Achtung fremder Nationen, die
Idee einer Union gleichgestellter und freier
Völker. Es wird dies eine Kraft sein, die dem
Schwerte des Staatsoberhauptes einverleibt
wird, welches heute zusammen mit dem
polnischen Volke auch fremde Völker befreit
und den polnischen Marsch zu großen Auf¬
gaben unterstützen wird.
(Schöne Worte I Schade nur, daß die
Einsicht nicht auch nach dem Westen sich
richtet.) -
s ist bekannt, daß der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung
sich mit einer knappen Mehrheit für die Vorlage der Reichsregierung
erklärt hat, die bisherigen Farben Schwarz-weißrot aufzugeben,
um statt dessen die alte nationale Fahne Schwarz-rot-gold einzu¬
führen. Diese Farben waren nicht nur das Sinnbild unserer
volkstümlichen Nationalbewegung in den früheren Jahrzehnten
des neunzehnten Jahrhunderts, und zwar bis zu den sechziger Jahren, sondern
sie galten ebenso als revolutionäres Symbol der deutschen Demokratie und als
das geschichtliche Banner unserer vollkommenen Volkseinheit im ehemaligen
heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Ihre feierliche Erhebung zur Reichs-
fayne der neuen Volksrepublik hätte zum Ausdruck zu bringen, wie die drei
Geschichts- und Entwicklungsgedanken, die in diesen Bedeutungen liegen, zu dem
bisherigen deutschen Reiche im Gegensatz stehen und durch diesen gemeinsamen
Gegensatz sich selber zu einer tieferen Einheit verschmelzen. Denn man meint,
die politische Gestalt der inneren Volksgemeinschaft, so wie man aus der Ver¬
gangenheit hervor sie einstens sich wünschte, sei durch die Form des von Bismarck
geschaffenen Reiches in der Art eines „verlängerten Preußen" nicht wahrhaft
erfüllt, sondern nur vorgetäuscht worden: was den inneren Charakter dieser Volks¬
gemeinschaft angehe, ihre eigentätige Selbstbestimmung in Freiheit oder „Demo¬
kratie", so habe' sich das Bismarcksche Reich darum überhaupt nicht gekümmert,
und für ihre Ausführung und politische Darstellung sei die kleindeutsche Form
ein Irrtum gewesen. Man geht dabei halb unbewußt von der stillschweigenden
Voraussetzung ans, daß im großdeutschen Gedanken, der nicht allein aus ethnischen
Notwendigkeiten herkomme, die demokratische Zusammenfassung und Selbstgestaltung
der gesamten Nation durch die moderne Republik nichtsdestoweniger zusammentreffe
mit unterirdisch weiterwirkenden Geschichtskräften aus der Zeit der heiligen Kaiser.
Oder man bildet sich ein, es wäre so. Während das kleindeutsche Reich in
nationaler Hinsicht geschichtslos und unzulänglich und im übrigen undemokratisch
gewesen sei, soll die schwarz-rot-goldene Fahne jene Jneinswirkung von nationaler
Geschichte, demokratischer „Volkssouveränität" und nationaler Vollständigkeit in
der angestrebten Einheit als Sinnbild darstellen.
Nun weiß aber der nüchterne Kenner der Dinge, daß die schwarz-rot¬
goldenen Farben nicht von einer nationalen Fahne des alten Reiches herstammen,
sondern daß sie ihrer anfänglichen Entstehung nach nichts anderes gewesen sind,
als studentische Farben. Sie entstanden aus der sogenannten Couleur der Burschen-
schaft vom Jahre 1815 und später. Das alte deutsche Reich hat gar keine Farben
gehabt, es kannte nur das kaiserliche Banner mit dem Reichsadler, der selbst
wieder — man denke an die Bezeichnung „Römisches Kaisertum" — von dem
Kaiseradler der römischen Legionen herrührte. Ganz ohne mittelbaren Einfluß
auf die Bildung jener Trikolore blieb das kaiserliche Banner mit dem Reichsadler
allerdings nicht. Denn im Laufe der Jahrhunderte war es üblich geworden, den
schwarzen Adler im gelben (goldenen) Felde darzustellen und ihn zuweilen mit
roter Wehr (Schnabel und Klauen) zu zieren.
Die Trikolore Schwarz-rot-gold wurde von der Burschenschaft als etwas
Neues geschaffen. Dies geschah nicht gerade in absichtlicher Erfindung, sondern
durch eine Ausgestaltung bereits vorhandener Farbenkombinationen, die von der
burschenschaftlichen Bewegung angetroffen und aufgenommen wurden. Es ist
zunächst festzuhalten, daß die ursprüngliche Fassung der Couleur der jencuschen
Burschenschaft eigentlich nicht schwarz-rot-gold gewesen ist; sie war schwarz-rot
mit goldener Stickerei und Perkussion. Daraus hat sich das dreifarbige Schwarz-
rot-gold erst mit den nächsten Jahren der Ausbreitung des burschenschaftlichen
Geistes auf den Universitäten entwickelt. Die Urfarbe Schwarz rot mit Gold
wurde nun entweder der Uniform des Lützowschen Freikorps entnommen (schwarzes
Tuch mit roten Schnüren und gelben Knöpfen) oder der Couleur einer Lands¬
mannschaft Vondalia in Jena (schwarz-rot mit goldener Einfassung), die kurze
Zeit vor der Gründung der Burschenschaft bestanden und sich mit dieser Gründung
aufgelöst hatte. Diese Vandalcnfarben stammen aus dem mecklenburgischen
Wappen: schwarzer Stierkopf mit roter Krone auf goldenem Felde. Damals war es
nämlich in den studentischen Kreisen allgemein Sitte, beim Vandalennamen eine
landsmannschaftliche Beziehung zu Mecklenburg anzunehmen, die immerhin etwas
komisch ist und offenbar auf einem ethnologischen Irrtum beruht. Nebenbei
bemerkt läßt sich dieser Irrtum bis in die Zeit um 1500 zurückführen, und ver¬
mutlich hat ihm eine Nerwechslung von „Wandalen" mit „Wenden" zugrunde
gelegen. Auf der andern Seite ist es nichts weiter als eine Sage, wenn man
früher geglaubt hat, der Turnvater Jahr habe die Farbe Schwarz mit rotem und
goldenen Schmuck in einer schönen Erleuchtung seines Palriotischen Gefühls frei
entdeckt, um sie dem Lützowschen Korps und damit mittelbar auch der Burschen¬
schaft als vaterländisches Kennzeichen zu übergeben. Denn es steht nachweisbar
fest, daß man die schwarze Hauptfarbe der Lützowschen Uniform aus rein prak¬
tischen Gründen der Billigkeit und militärischen Brauchbarkeit wählte, und die
roten Schnüre und gelben Knöpfe entsprachen ohne weiteres dem Herkommen in
der preußischen Armee.
Nun ist, von außen betrachtet, die Entstehung der Burschenschaft zu Jena
in folgender Weise vor sich gegangen.^) Der altburschenschaftliche Gedanke, d. h.
der Gedanke eines allgemeinen Studentenbundes von korporativen Charakter, der
durch seine .Kraft der Vereinheitlichung und Überwindung landsmannschaftlicher
Sonderarten gleichzeitig die Einheit des Volkstums, die nationale Idee, wider¬
spiegelt und überhaupt diese Idee in die Studentenschaft hineintragen und in
ihr zur Entfaltung bringen möchte, war bereits in den Jahren der Fremd¬
herrschaft, mit seinen Keimen etwa seit 1808, in der akademischen Welt lebendig
oder wenigstens vorhanden gewesen. Am lebendigsten war er in Berlin unter
dem Einfluß der Kreise um Fichte und Jah». Dieser Einfluß hat sodann in
entschiedener Weise auf die Gesinnung einer Landsmannschaft Vandalia an der
neuen Universität eingewirkt, der Mutterverbindung der jenenser Vandcilen, deren
Gründung im Jahre 181t von Berlin aus geschah. So wurde dieser gleichsam
vorburschenschaftliche Burschenschastsgeist von Berlin nach Jena verpflanzt und
erfreute sich dort bald der Förderung von Professoren wie Luden und Oken,
während innerhalb der Studentenschaft die Vandcilen seine Träger und Vorkämpfer
blieben. Beim Allsbruch der Freiheitskriege zogen die jungen Leute ins Feld,
auch die Wandalen gingen fast durchweg (mit zwei Ausnahmen) zum Lützowschen
Korps. Nach dem Kriege kehrten sie wieder nach Jena zurück, neu und stark
ergriffen von der ganzen Frische und damaligen Heftigkeit des nationalen Ge¬
dankens, der ihnen inzwischen zum unmittelbarsten Erlebnis geworden war, und
ihre früheren Stimmungen verdichteten sich zu dem festen Willen, die Vuischen-
schast zu verwirklichen. Man kann sagen, daß die jenaische Urburschenschaft im
Jahrs 1815 aus den jenenser Vandcilen „hervorgegangen" oder von ihnen direkt
gegründet worden ist. Denn diese Gründung war nicht bloß der Niederschlag
eines extatischem Aufloderns unter dein Eindruck der Vorgänge am Wiener Kon¬
greß, wie von der Legende erzählt wird, sondern sie war ein Ergebnis organi¬
satorischer Leistungen. Schon 1814 wurden die vorbereitenden Maßnahmen durch
einen vertraulichen Ausschuß in die Wege geleitet, den sogenannten Elferverein,
dessen Einsetzung die Vandcilen herbeigeführt hatten und von dessen elf Mitglied¬
schaften sie neun Stellen für sich selber behielten. Zwei Vandalen, Kaffenberger
und Heinrichs, arbeiteten still die Verfassung aus, und der letzte Vcmoalensenior,
Karl Horn, wurde zum ersten „Sprecher", d. i. Führer oder Vorstand der
Burschenschaft.
Hiernach würde es wohl einleuchtend sein, wenn man die ursprünglichem
Burschenschaflsfarben glattweg als Fortsetzung der ehemaligen Vandalenfcirben
ansieht. Aber es steht zu bedenken, daß diese Couleur für die breite Menge der
Studentenschaft und die übrigen Verbindungen, ans deren Mitarbeit man doch
angewiesen war, ohne jede Wirkung sein mußte. Mit einer solchen Wirkung war
hingegen bei den Lützowschen Farben zu rechnen; denn alle anderen und gerade
auch die Vandalen, selbst hatten mit ihrem Willen und Plan, den sie schnell aus¬
führten, eine treue Liebe zum Lützowschen Freikorps und zu seiner Uniform in
Schwarz und Not mit nach Hause genommen. Gewiß verlief es so, daß sich den
maßgebenden Leuten in der Vandaiia die Wetterführung ihrer bisherigen Couleur
wie von selber nahegelegt haben mag, daß sie aber nach außen, um diesen un¬
willkürlichen psychologischen Vorgang zu entschuldigen und ihm propagandistische
Kräfte zu geben, die zufällige Übereinstimmung mit den Kennzeichen des Lützow¬
schen Korps klug benützten und daraus eine öffentliche Berufung auf die Lützowsche
Uniform machten. Für das Bewnßtseinsleben der burschenschaftlichen Gründungs-
tage zu Jena hat jedenfalls die teure Erinnerung an das Freikorps im Vorder¬
gründe gestanden, wenngleich mit dieser Couleur, die man annahm, durchaus uoch
keine wesentlich bedeutungsvollen und allgemeingültigen Ideen- oder Geschichts¬
werke empfunden wurden, Sie blieb eben eine Studentencouleur von örtlicher
Geltung, und die Burschenschaftsverbindungen an anderen Universitäten trugen
anfangs ganz andere Farben, in Tübingen z. B. hellblau und schwarz. Nach
etlichen Jahren wurde alsdann die mitilerwcile entstandene Dreifarbigkeit Schwarz-
rvt-gold auch offiziell ihrer jenaischen Bedeutung enihoben und unter der nach¬
haltigen Wirkung des Wartburgfestes auf dem allgemeinen Burschentage vom
Oktober 1818 für allgemein geltend erklärt.
Es mag sein lind ist sogar mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß bei
diesem Beschluß des allgemeinen Burschentages von 1818 die Erinnerung an die
koloristische Wirkung des alten Reichsbanners (schwarz in gold oder gelb und
manchmal mit roter Verzierung) etwas angesprochen hat. Diese Erinnerung kam
den nationalpolitischen Zielen der Burschenschaft, ihren Zielen zur Erreichung einer
nämlichen Einheit des Volkslebens entgegen und half sie tragen. Aber einen
irgendwie entscheidenden Einfluß hat der Gedanke an die kaiserliche Fahne nicht
mehr gehabt und kann er nicht gehabt haben. Denn längst hatte sich die heraldische
Zweifarbigkeit des alten Reichsbanners, genauer gesagt, der ehemaligen Kaiser¬
standarte des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, in die beiden Farben
Österreichs verwandelt, Schwarz und gelb.
Erst nachträglich erhielt das Schwarz-rot-gold seinen nationalpolitischen und
nationalgeschichtlichen Sinn — einen Sinn von schwerer programmhafter Be¬
deutung —, nachdem es auf die gesamte Einheitsbewegung in den bürgerlichen
und geistig erzeugenden Ständen des deutschen Volkes übergegangen und von ihr
übernommen worden war; und es war auf sie übergegangen, weil die erste
Burschenschaft darin eine anreizende und bis zu gewissem Grade vorbildliche Rolle
«espielt hat. Aus der burschenschaftlichen Bewegung hervor wurden diese drei
Farben in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Sinnbild jedweder nationalen Ge¬
sinnung, und die nationale Gesinnung konnte sich am Ende ihre staatliche Form
und Wirklichkeit nicht mehr anders vorstellen, als unter diesen drei Farben. Durch
eine politische Umdeutung mittels historischer Annahmen und Klügeleien hat man
das hinterher nationalgeschichtlich rechtfertigen wollen. So entstand die Legende,
als seien Schwarz, Not und Gold die alten deutschen Neichsfarben gewesen und
als habe unter anderem auch die Burschenschaft ihr Symbol davon hergeleitet.
In Wirklichkeit war es umgekehrt. Die alte Burschenschaft hat ihre Couleur nicht
von den „deutschen Farben" bezogen, sondern diese studentische Couleur hatte in
dem nationalen Aufruhr der Gemüter während der Zeit der Restauration eine
solche scharfe und hervorstechende Bedeutung gewonnen, daß man sie für die
deutschen Farben hielt und schließlich dazu machte.
Wie verlief dieser Aufruhr? Die auf dynastisch-territorialen Grundlagen
beruhenden Staatswesen des damaligen Deutschland verhielten sich in jenen Jahr¬
zehnten zu der volkstümlichen Einheitsbewegung in einer kühlen Verftändnislosigkeit
und ablehnenden Fremdheit, sie verharrten in mißtrauischer und feindseliger
Gegnerschaft, so daß sie diese nationale Bewegung auch gegen deren eigenen Willen
in die Opposition drängen mußten. Die nationale Bewegung gewöhnte sich daran,
von den machthabenden Regierungen als unrechtmäßig oder illoyal angesehen und
behandelt zu werden, und wurde dadurch zu der Auffassung gezwungen, daß sie
die Verwirklichung ihrer Ideen nur von einer inneren Umwandlung der grund¬
legenden politischen Rechtsbegriffe erhoffen konnte. Sie geriet in eine notwendige
Verschwisterung mit Strömungen, die sich selbst liberal nannten, die aber von
den Regierungen, weil nicht mehr der bloße Untertanengehorsam, sondern eine
Selbsttätige Entwicklungskraft der Nation darin steckte, als „revolutionär" gekenn¬
zeichnet wurden. Für die Negierungsautoritäten der dynastischen Territorial¬
staaten galt der nationale Wille zur Einheit als Auflehnung wider die obrigkeit¬
liche Macht.
In dieses oppositionelle Stimmungsverhältnis schlug dann plötzlich die
Wirkung der Juli-Revolution ein. Damit verschob sich das Ziel. Die aufgereizte
Verbitterung über die Verfolgungssucht kurzsichtiger Behörden fühlte sich überboten
von den Anstachelungen des französischen Beispiels, das mit der „Legitimität" der
dynastiestaatlichen Grundsätze sehr kurzen Prozeß gemacht hatte, und aus einer
Art von Nachahmungstrieb verkehrte man das Ziel jetzt in eine radikale Durch¬
führung der Demokratie um ihrer selbst willen mit ihren Endergebnissen der
republikanischen Staatsform. War sonst die Opposition, unter Umständen auch
die revolutionäre Opposition, nur ein notgedrungenes Mittel zum Zwecke der
nationalen Einheit gewesen, so wurde nun diese revolutionäre Unterströmung
ganz an die Oberfläche gezerrt und zum Selbstzweck. Es entstand ein Rausch
der „Revolution überhaupt", und das Streben nach nationaler Einheit des
staatlichen Lebens blieb als bloßes Mittel zurück, in der Form eines Programms
zur Ausführung der deutschen Republik (weil man eben in Deutschland lebte),
wobei aber der Haupttor auf der Allgemeingültigkeit der „Republik" lag und
nicht auf dem deutschen Gedanken. Jedoch ergab sich hieraus keineswegs eine
vollkommene Umänderung und Abirrung der volkstümlichen Einheitsbewegung,
sondern bloß eine Spaltung. Denn die ursprüngliche Linie blieb in ihrer Echtheit
bestehen und lief selbständig weiter, und die neue radikale Linie lief nur nebenher,
nachdem sie sich abgezweigt und losgelöst hatte. Es gab jetzt einfach zwei
verschiedene Oppositionsrichtungen gegenüber dem dynastisch verhafteten und
territorial gebundenen Staatsbegriffe der Überlieferung: eine „gemäßigte" und
national bestimmte mit ihrem fortwährenden Glauben an den Kaisergedant'en, und
eine demokratisch-revolutionäre mit ihrer Überzeugung von den kosmopolitischen
Werten der Republik, Neben die charakterfester 'Professoren und philosophisch
folgernden Reichspolitiker, neben die romantischen Hohenstaufenschwärmer und
jugendlich Gläubigen, die von der Geschichtsherrlichkeit der Nation fast religiös
erfüllt waren, trat nun auf der anderen Seite der Typus der „Ferschtekiller",
wie man sie nach 48 im Jargon der ausgewanderten Deutschamerikaner genannt Hai.
In den praktischen Angelegenheiten der politischen Taktik und den Schichtungen
der Parteigruppen gab es gewiß Zwischenstufen oder Mischungszustände. Aber
es handelte sich bei diesen Mischungszuständen nur um ein Verschwimmen der
Grenze zwischen zwei andersartigen Bewegungskräften, die ein wesentlicher und
grundsätzlicher Unterschied trennte. Wie leicht dieser Unterschied für oberflächliche
Eindrücke verschwamm und wie scharf er gerade im Wesenhaften, in dein eigentüm¬
lichen Erlebnis politischer Bedeutungen dennoch bestand, geht aus dem wechselnden
Sinn der schwarz-rot goldenen Fahne hervor, die alle diese Verschiebungen mitzu¬
machen hatte. Ihr Sinn wurde zweideutig. Allenthalben daran gewöhnt, in den
Scham-z-rot-goldenen Farben das Wahrzeichen einer oppositionell g-stimmten
Gesinnungsweise zu sehen, blieben die Radikalen bei der lieben alten Gewohnheit,
diese Farben auch weiterhin für sich in Anspruch zu nehmen. Daß aber die
angeblich nationalhistorische und auf jeden Fall nationalpolitisch geartete Ur¬
bedeutung der „deutschen" Fahne für sie ihre Geltung verlor, daß sie überhaupt
diese nationale Bedeutung vergaßen oder zum mindesten außer acht ließen, dies
zeigt sich unverhohlen in ihrem Bedürfnis, die drei Farben durch eine neue und
ganz revolutionär durchhauchte Symbolik selbständig aufzufassen und noch einmal
zu erklären. ES gibt aus den vierziger Jahren etliche derartige Sprüche: „Aus
schwarzer Nacht durch blut'gen Tod zur goldenen Freiheit", und: „Schwarz ist
das Pulver, rot ist das Blut, golden flackert die Flamme!" In den Jahren
um 1848 hatte das schwarz-rot°goldene Banner einen von Grund ans gespaltenen,
einen verschiedenartigen und zwiefachen Sinn, auf der einen Seite einen national-
Politischen und auf der anderen einen demokratisch-revolutionären. Beide Sinn-
bedeutungen hatten im Kern ebensowenig etwas miteinander zu tun, wie in der
Nationalversammlung der Paulskirche die „Kaiserpartei" der alten Einheits¬
bewegung mit dem radikalen Republikanismus der äußersten Linken noch ein
gemeinsames Ziel kannte.
Die urtümliche Herkunft des alten deutschen Banners verflüchtigt sich in
einen Schatten oder bestenfalls in die Illusion sehr dunkler Erinnerungen. Sie
kann nicht mehr durch ihre historische Kraft die Zwiespältigkeit im Charakter
dieser Fahne zu einem in sich geschlossenen Sinnbilde machen. Auch auf dein
Umwege über die großdeutsche Denkart, die vermeintlich beiden Bedeutungen oder
Vewegungskräften eigen gewesen sei. würde das niemals glücken. Dergleichen
beruht, mit Verlaub zu sagen, auf glatter Unbildung oder auf einer macklen
Geschichtsfälschung. Denn die doktrinäre Demokratie 'des neunzehnten Jahr¬
hunderts hat seit ihrer Entstehung die kosmopolitischen Orientierungen und End¬
zwecke ihres Republikanismus grundsätzlich immer über das Nationale gestellt,
und die Kaiserpartei unter Heinrich von Gngern, die dahin gelangte, daß sie
Friedrich Wilhelm dem Vierten die Krone anbot, hatte eigentlich schon in der Idee
die kleindeutsche Neichssorm geschaffen. Der kleindeutsche Gedanke ist keine
Bisnmrcksche Entdeckung gewesen, die mit der Erfindung der schwarz-weiß-roten
Farben zusammenfiel. Dieser Gedanke war älter als die Bismarcksche Politik, er
hatte sich wie von selber aus den Zielrichtungen der Nationalbcwegunn des neun¬
zehnten Jahrhunderts ergeben und wurde ebenfalls unter dem Zeichen der
schwarz-rot-goldenen Fahne geboren. Umgekehrt haben beispielsweise in den
neueren Jahrzehnten nach 1871 die Deutschradikalen in Osterreich, diese ein¬
seitigsten Fortsetzer der großdeutschen Idee, ihre Wünsche, stets in die Form einer
etwas geräuschvollen Sehnsucht nach einer Versetzung und weiter ausgreifenden
Absteckung der „schwarz-weiß-roten Grenzpfähle", ausdrücklich der schwarz-weiß-
roten, gekleidet. Nach rein nationalen Gesichtspunkten, für die Kleindentsch und
Großdeutsch zuletzt nur geschichtlich bedingte Spielarten eines und desselben
politischen Entwicklungswillens sind, gibt es überhaupt keinen Unterschied oder
Gegensatz zwischen schwarz-rot-gold und schwarz-weiß°rot.
Wenn es aber so ist und es keinen solchen Unterschied gibt, dann muß man
sich um so mehr fragen, was für einen Sinn und Verstand nun heute ein Wechsel
der Neichsfarben haben könnte. Er hat unter nationalen Gesichtspunkten eben
gar keinen Sinn und Verstand. Man kann freilich darüber hinweggehen und
meinen, daß die Farben der Neichsrepublik etwas rein äußerliches und somit be¬
langlos seien und dasz es darauf nicht ankomme. Bekanntlich hatte Bismarck
selber, sozusagen als Mensch, im Herbst 1870 diese Frage mit einer leicht amü¬
sierten Gleichgültigkeit angesehen. Er sagte damals, ihm sei das Farbenspiel ganz
einerlei: „Meinethalben grün und gelb und Tanzvergnügen, oder auch die Fahne
von Mecklenburg-Strelitz".-) Und weiterhin könnte man nochmals die volkstümlich-
nationalen Gefühlstraditionen im schwarz-rot-goldenen Banner gegen das Un¬
geschichtliche der frei erfundenen schwarz-weiß.roten Farben vorbringen.'') Aber
so verständlich oder berechtigt eine derartige Betonung in den Jahren von 1870/71
gewesen sein mag, genau so lächerlich wäre sie in heutiger Zeit. Denn das
Schwarz weiß-rot ist seitdem zur Geschichte geworden und hat Geschichte gemacht,
und diese Geschichte ist durchaus eine solche der wirklichen Handlungen und
Leistungen und voll von politischer Tatsächlichkeit. während der Geschichtsweri der
scluoarz-rot-goldenen Fahne nur ein Streben blieb, Gefühl, Sehnsucht und Wunsch.
Man hat wegen der international eingeführten Geltung der Handelsflagge schon
wiederholt darauf hingewiesen, wie es in nationaler Hinsicht unpraktisch sein würde,
das äußere Wahrzeichen des bisherigen Reiches gesetzmäßig auszulöschen, weil
damit gleichzeitig der Zusammenhang mit dessen fortdauernden mittelbaren Außen¬
wirkungen zertrennt wird. Obwohl ein Wechsel der Reichsfarben dem Grundsatze
nach nativnalpvlitisch bedeutungslos wäre, müßte er trotzdem praktischen Schaden
anrichten.
Am Ende handelt es sich aber bei diesem ganzen Wechsel darum, daß die
neue Reichsrepublik gerade eben die bisherige Neichsgeschichte mit Absicht verleugnet.
Es kommt ihr überhaupt nicht auf die altnationale Vedeutuug der schwarz-rot-
goldcnen Fahne an, sondern auf ihre andere, ihre demokratisch-revolutionäre Be¬
deutung. Worauf es nämlich ankommt, ist dies: die Wiederaufnahme dieser
Fahne drückt das Bekenntnis zu einer ganz bestimmten Regierungs- und Ver¬
fassungsform aus, zu einer Regierungsform in republikanisch-demokratischen, also
parteipolitischer Sinne.
In der Wirkung dieser Farben auf die weiteren Schichten des Volkes
findet psychologisch ein ständiges Vertauschen ihrer zwei verschiedenen sinn¬
bildlichen Bedeutungen statt, und als Folge davon tritt ein, daß die unwill¬
kürliche Übereinstimmung mit einem althergebrachten und volkstümlich-nationalen
Empfinden, gegen das in der Gegenwart niemand mehr etwas Rechtes einwenden
kann, zugleich als Zustimmung zu einer ganz bestimmten Regierungsform gilt.
Das ist, rund heraus gesagt, mag es nun mit klarem Bewußtsein beabsichtigt
sein oder nicht, schlankweg 'ein Mißbrauch, der in rein parteipolitischer Richtung
mit guten deutschen Qberlieserungs- und Gefühlswerten getrieben wird. Besonders
für Kreise, die durch ihre eigentümliche Vergangenheit mit diesen Gefühlswerten
und Überlieferungen auf das engste verbunden sind und an ihnen innerlich hängen,
die aber andererseits weder demokratisch-revolutionäre Neigungen haben, noch
gegen die jüngere schwarz-weiß-rote Geschichte auch nur die geringste Spur eines
Gegensatzes empfinden, für solche Kreise liegt darin etwas hinterhältiges. Denn
es steigt der Verdacht auf, als ob durch ihr Einverständnis mit-der schwarz-rot¬
goldenen Tradition, — das sich im Grunde von selber versteht, da ihre eigenen
Traditionen darin enthalten sind, — der Anschein eines Einverständnisses mit
demokratisch-revolutionnren Parteistandpunkten erschlichen werden könnte. Zum
mindesten sehr beträchtliche Teile von ihnen und vermutlich sogar ihre schwer
überwiegenden Mehrheiten würden das glatt von der Hand weisen. Man mag
dabei an die burschenschaftlichen Kreise denken oder an andere, die ihnen von
früher verwandt sind.
Es wäre einigermaßen voreilig, wollte man diese Angelegenheit so obenhin
damit abtun, daß der Geschmack von Studenten in den Fragen der Politik denn
doch kaum ins Gewicht falle. Zunächst handelt es sich nicht bloß um Studenten.
Düse alten studentischen Verbande, deren Eigenarten von der Kulturen!Wicklung
eines ganzen Jahrhunderts angefüllt sind oder daraus hervorgingen, reichen mit
ihrer Organisation tief in das sogenannte bürgerliche Leben hinein und umfassen
Zehntausende und immer wieder Zehniausende akademisch gebildeter Männer.
Sie bieten dem Leben des einzelnen eine äußere und innere Sicherung dar, die
zu unterschätzen ein großer Fehler sein würde. Und was schließlich die jungen
Studenten selbst anbetrifft, so ist es schlechtweg unmöglich, sie in den Dingen der
Politik auf die Dauer ganz zu übersehen in einer Zeit, wo die jugendlichen
Ladenmädchen, Packer und Laufburschen der großstädtischen Kaufhäuser, um irgend
ein Beispiel zu nennen, mit den Wahlen zu ihren Betriebs- und Vollzugsräten
eine unerhörte Wichtigkeit bekommen haben. Die studentischen Verbände sind
durch die gesamte politische Sachlage, in die sie sich hineingestellt finden, not¬
wendig gezwungen, sich zu politisieren, und fühlen bereits, daß sie dazu gezwungen
sind. Es mag sein, daß mancherlei von der einstmaligen Studentenromantik
darüber verloren geht und in den Lebensäußerungen der alten Verbände, in ihrer
Orgnnisationsart und Vetätigungsweise, Verschiedenes sich ändert. Aber während
ihrer langen Geschichte haben sie sich schon öfter geändert, und die Gemeinschasts-
kraft ihres Daseins blieb lebendig und wuchs. Sie werden zwar nicht damit
anfangen, daß sie ein bestimmtes Parteiprogramm heraussuchen, dem sie sich
unterjochen, um dann auch „Räte" zu bilden und mit lautem Geschrei sich in
den Trubel der agitatorischen Kämpfe zu stürzen. Aber wer Gelegenheit hatte,
in diese Dinge einen Einblick zu tun, weiß darüber Bescheid, wie sehr sie sich
anschicken, eine langsame und zähe Innenarbeit politischer Selbsterziehung zu
leisten. Vielleicht machen sich die Ergebnisse davon erst in ein paar Jahren nach
außen bemerkbar. Aber sie werden zu merken heilt.
Bei den Burschenschaftern insbesondere dürste man schwerlich damit rechnen,
daß sie von der Frage der schwarz-rot-goldenen Farben irgendwie beirrt werden.
Unmöglich können sie sich von diesen Färben lossagen. Denn wollten sie es tun.
so müßten sie ihre eigene Geschichte, ihren Ursprung und ihr eigentümliches
Wesen preisgeben. Das wäre wider die Natur. In der neuen Reichsfahne
liegt eine gewisse Verführung, da sie indirekt eine Anerkennung des burschenschaft-
lichen Gedankens enthält. Diese vielleicht widerwillig« Huldigung kann die
Burschenschaft indessen unbesorgt hinnehmen, ohne daß sie damit die Sinnesart
ihres eigenen Wesens verfälscht. Denn mit Sicherheit bleibt sie sich der einwand¬
freien nationalen Haltung des burschenschaMchen Gedankens bewußt und ist ,
längst inne geworden, wie ihre Liebe für die schwarz-rot-goldenen Farben ein
Bekenntnis zu den gleichsam schwarz-weiß-roten Werten der Nationalpolitik nicht
nur nicht ausschloß, sondern verlangte.
Man ist noch lange nicht demokratisch-revolutionär oder Republikaner im
innersten Herzen, wenn man sich zu den schwarz-rot>goldenen Farben bekennt.
Und wer sich zu ihnen bekennt und ihrem Banner immer die Treue bewahrt hat,
muß nun keineswegs dafür stimmen, daß dieses Banner die schwarz-weiß-rote
Fahne verdrängt. Es war endlich an der Zeit, dies einmal klarzustellen.
nknüpfend an meine Darlegungen in den Grenzboten vom 14. März,
die sich mit denen eines'Aufsatzes in der Deutschen Politik vom
14. Februar wechselseitig ergänzen, möchte ich in Kürze berichten
über die Gestaltung der Parteive» Hältnisse in der verfassunggebenden
Nationalversammlung Deutschösterreichs und in dem Wahlkmnpf
für die Landesvertretungen. Diese waren durch den Ausfall der
Wahlen zur Nationalversammlung keineswegs unzweideutig vorgezeichnet und bald
sind Verschiebungen eingetreten, die sie beeinflussen mußten.
Ich hob damals hervor, daß der Wahlkampf einerseits den großen wirt¬
schaftlichen (nicht, wie der Druckfehlerkobold wollte, wissenschaftlichen) Welt¬
anschauungen, andererseits den Gruppen- und Klasseninteressen diente, also vor
allein im Zeichen des Kampfes für und gegen die Sozialdemokratie stand. Diesem
ordnete sich auch die „Bekämpfung des jüdischen Einflusses" unter, die diesmal
stärker als je in den christlichsozialen und deutschnationalen Programmen betont
wurde. <Ne war lediglich ein Hilfsmittel der Agitation gegen die Sozialdemokratie,
da nur kleinere Gruppen — die nationaldemokratische und die engere deutsch¬
nationale (deutschradikale und altdeutsche) — bestimmte Vorschläge für Art und
Mittel dieses Kampfes brachten. Diese Parteien erklären die Juden für eine
eigene Nation, die nicht im deutschen Nationalstaat, sondern im künftigen Zions-
staat ihre politische Heimat hat, und fordern daher eine dementsprechende Rechts¬
stellung dieser „Ausländer". Daß das keineswegs den Anschauungen aller Juden
widerspricht, zeigte schon am 16. Februar die Wahl eines Zivilisten in Wien —
sie fiel um so schwerer ins Gewicht, als hier selbst die Tscheche», die mit allen
Mitteln arbeiteten und sich mehrere Mandate versprachen, ein einziges erzielen
konnten. Bei den Landtags- und Gemeindewahlen kamen dann von diesen beiden
nichtdeutschen nationalen Parteien die Tschechen stärker zur Geltung. Sie machten
alsbald in diesen Körperschaften, wie schon vorher durch die Rede Dworschaks in
der Nationalversammlung, weitgehende nationale Ansprüche geltend. Man sieht
nun ein, welchen Fehler man damit gemacht hat, daß der. deutsche Charakter des
Staates gesetzlich nicht genügend gesichert wurde, wie jener von Wien es schon
länger ist. Aber es wird schwer halten, das Versäumte nachzuholen, da die
Tschechen unter Berufung auf diese Wahlergebnisse den „Schutz" der niederöster¬
reichischen Tschechen auf völkerrechtlichem Wege anstreben. In den anderen Ländern
spielen weder sie noch die Zionisten eine Rolle.
spitzte sich so bis zum 16. Februar alles auf den einen Gegensatz zu. so
ließen doch die inneren Spannungen zwischen den nichtsozialistischen Parteien schon
unmittelbar nach den Wahlen es sehr fraglich erscheinen, ob sich ein bürgerlicher
Mehrheitsblock bilden werde. Dies wäre die selbstverständliche Folge einer Listen¬
koppelung zwischen den Christlichsozialen und der „dritten Partei" gewesen, aber
auch ohne sie möglich geblieben. Jedenfalls waren die Voraussetzungen dazu
günstiger als in Deutschland, wo eine starke demokratische Partei den Sozialisten
nahe steht und auch das Zentrum leichter nach links als nach rechts Anschluß
fand. Aber auch in Deulschösterreich fanden sich die beiden starken Parteien rasch
zu einer Arbeitsmehrheit und gemeinsamer Regierung zusammen. Die dritte, die
sich den Namen der großdeutschen beilegte, mutzte es bei ihrer numerischen
Schwäche ablehnen, die Verantwortung mit zu übernehmen und daher schieden
auch einige sehr tüchtige Männer von leitenden Stellen. Das wiederholte sich
nach den Landtagswahlen. Ein Vorteil für diese nunmehrige Opposition lag
darin, daß sich die Bauernpartei, mit Einschluß und unter Führung der steirischen
Gruppe, zwar als selbständiger Verband, aber innerhalb der großdeutschen Partei
konstituierte. Die Werbekraft dieser Gruppe, die sehr geschickt auch in den Stadien
Anhänger sucht, kam also den Großdeutschen zugute. Für die Landtagswahlen,
die in einzelnen Ländern schon im Gange sind, hatte gerade diese antiklerikale
Partei gute Aussichten. Aber ihr Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück.
Selbst der nachdrückliche Hinweis darauf, daß die sozialdemokratisch-christlichsoziale
Regierung in de-n Ernährungsfragen keine neuen erfolgreichen Wege weisen konnte
— und ebenso jener auf die Unnatur des Bündnisses zwischen .'.Michel Schwarz
und Jsidor Noth" wirkte nicht im, erhofften Maße. Auch die antisemitische national¬
sozialistische Partei teilte das Schicksal der bürgerlichen Parteien, mit denen sie
sich vielfach unter nationalem Banner zusammenfand. Unter diesen schnitten die
Nationaldemokraten, deren Programm ich in dem früheren Aufsatz darlegte (Seite
175 soll es heißen: Volksabstimmung und Vorschlagsrecht in allen wichtigen
Fragen) verhältnismäßig gut ab. Gegen die Mehrheitsparteien erhoben sich aber
auch die Kommunisten. Diese wissen, wie wir in Graz sehen konnten, sehr
geschickt zu arbeiten. Sie lassen ihre Umsturzideen stark in den Hintergrund
treten und betonen alles, was ihnen mit der Sozialdemokratie gemeinsam ist,
so daß deren Anhänger sich fragen mögen, warum eigentlich ihre Führer
sie zu so entschiedenem Kampf gegen die Kommunisten aufrufen. Und mancher
mag die Antwort in der Richtung finden, in welche die antisemitischen Parteien
weisen. Sind doch in Graz die sozialdemokratischen Führer, die in einer großen
Kommunistenversainmlung sprachen, durch wenig liebenswürdige vielstimmige
Zurufe an ihre Rassenangehörigkeit erinnert worden!
Die Mehrheitsparteieu führten den Kampf gegen beide Gruppen von Gegnern
mit recht verschiedenen Waffen. Die nationalen mit ihrer Parteizersplitternng
suchten sie dadurch zu treffen, daß für die Landtagswahlen mancher Länder die
Koppelung der Listen verboten wurde, ferner dadurch, daß Landtags- und
Gemeindewahlen (wo es Bezirksvertretungen gibt, auch die Wahlen in diese)
Zugleich und mit derselben Liste stattfanden. Das verwirrte die weniger
geschlossenen Wähler der „dritten Partei" und verhinderte zugleich, daß bei den
Landtags- und Gemeindewahlen andere als parteipolitische Gesichtspunkte zur
Geltung kommen. Die wirtschaftlichen Gesichtspunkte und das Streben, in der
Verwaltung und Wirtschaft erprobte Personen ohne Rücksicht auf ihre Partei-,
Stellung zu wählen, also auch die Aufstellung „unpolitischer" Listen kämen natur-
gemäß den nationalen zugute — und das sollte verhindert werden. Die
nationalen Parteien wußten aber diese Lehre nicht genug zu beherzigen und ver¬
säumten es vielfach, die verbotene Koppelung durch das allein übrig bleibende
Hilfsmittel, gemeinsame Kandidatenlisten, zu ersetzen.
Die Forderung der Kommunisten nach einer Rütercgierung und nach
Diktatur des Proletariats, die durch die Nachrichten aus Ungarn und aus
Bayern und die verbreiteten verführerischen Schilderungen der in Ungarn
angeblich entstehenden Musterordnung natürlich an Kraft gewann, hat in den
Massen Anklang gefunden. Demgegenüber bringen die sozialdemokratischen
Führer den folgenden Gedankengang vor. Ihre Ideale seien dieselben wie die
der Kommunisten. Aber sie ließen sich nicht im Fluge verwirklichen und die Ein-
führung einer Näteregierung würde zurzeit diese Verwirklichung sogar verzögern.
Bei den Wahlen für die Räte würden zwar die Bürgerlichen verschwinden, aber
die Mehrheit fiele nicht den Arbeitern, sondern den Bauern zu. Das sei in
Rußland (und nunmehr auch in Ungarn) dadurch verhindert worden, daß die
Bauern im Verhältnis zur Kopfzahl viel weniger Mandate erhielten, als die
Arbeiter. Unsere Bauern aber seien zu vorgeschritten und zu gut organisiert,
um sich das gefallen zu lassen. In den Räten stünde also eine sozialdemo¬
kratische und kommunistische Minderheit der bäuerlich-christlichsozialen Mehrheit
gegenüber. Da sei die Nationalversammlung noch besser, da in ihr die Sozial¬
demokratie von Fall zu Fall mit Hilfe der dritten Partei wichtiges erreichen oder
doch vieles verhindern könne. Man solle sich also vorläufig mit ihr bescheiden.
Die Entwicklung werde schon weiterführen.
Solche Darlegungen können die Christlichsozialen nicht eben in ihrer
Vundestreue bestärken. Wenn sie gleichwohl, auch in den Landtagen, weiter mit
den Sozialdemokraten zusammengehen, so erwarten sie offenbar, daß die Zeit
für sie und vor allem gegen die Sozialdemokraten arbeiten werde. Sie haben
allen Grund, das zu glauben. Der gleichen Meinung sind aber auch die Kom¬
munisten. Allerdings haben diese, was man vielfach nicht erwartete, auf eine
Wahlbeteiligung verzichtet und sich sehr ruhig verhalten. Diejenigen, welche
meinten, sie würden die Wahlen oder den Zusammentritt der Landtage gewaltsam
Verhindern, und unter diesem Vorwande selbst den Wahlen fernblieben, sind im
Irrtum gewesen. Man sagt, die Kommunisten legen sich vorläufig Zurückhaltung
auf, um die Nahrungszufuhr durch die Entente nicht zu gefährden, und. würden
noch der Ernte entschiedener auftreten. Sicher ist, daß sie auf die wachsende Un¬
zufriedenheit rechnen, die ihnen immer mehr Anhang aus sozialdemokratischen,
aber auch kleinbürgerlichen Kreisen verspricht, anch wenn die auswärtigen Ver¬
hältnisse ihnen nicht zugute kommen. Die Sozialdemokraten sind also gezwungen,
möglichst viel von ihren Parteiforderungen zu verwirklichen, um sich die bisherigen
Anhänger zu erhalten. Das wird ihnen aber dadurch erschwert, daß sie dem
Zusammengehen mit den Christlichsozialen zuliebe manche laut erhobene Forderung
zurückstellen müssen, z. B. die der Trennung der Kirche vom Staat. Um so rascher
lassen sie die Gesetzgebungsmaschine auf anderen Gebieten arbeiten, so in der
formellen Ausgestaltung der republikanischen Staatsform durch Verbannung des
bisherigen Herrscherhauses, Beschlagnahme seiner Güter, Abschaffung des Adels
und der Orden und andere Wiederholungen aus der französischen Revolution
und in der Vorbereitung der „Sozialisierung". Dabei halten die anderen Parteien,
selbst als Antragsteller, mit — teils wohl aus parteitaktischen Gründen, um den
Augcnblicksstimmungen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, teils auch, weil die
bisherigen Anregungen noch innerhalb ihrer Parteiprogramme liegen, zum Teil
wohl auch, um die gegenwärtigen Führer der Sozialdemokratie gegenüber weniger
gebildeten aber radikaleren Parteigenossen im Sattel zu erhalten. Es ist ja kein
Zweifel, daß die Sozialdemokratie ihre einsichtigsten, weitestblickenden und sittlich
besten Männer, zugleich ihre reinsten Idealisten und Doktrinäre, um nicht zu
sagen Ideologen, an die Spitze der Regierung gebracht hat. Männer wie Renner.
Bauer, Hartmann streben weder vorschnelle Zerstörung, uoch ungerechte Gewalt¬
herrschaft an. Wie sie an Wilson und den Weltvölkerbund glauben, so meinen sie
im Innern durch besonnene, aber durchgreifende Verwirklichung der Partei¬
grundsätze dauernde gesunde Zustände schaffen, einen Idealstaat ausbauen zu
können. Sie sind.politisch und historisch gebildet genug, um nichts überstürzen
zu wollen, andererseits aber sind die meisten von ihnen, wie alle echten Revolutio¬
näre, geneigt, die Bedeutung und Wirksamkeit programmatischer Erklärungen zu
überschätzen. So werden vielfach nach dem Muster der Menschenrechte oder der
österreichischen Staatsgrundgesetze allgemeine Grundsätze gesetzlich formuliert. Das
muß manchen herrschsüctigen Parteigenossen, die möglichst rasch die Früchte des
Machtgewinns ernten wollen, wider den Strich gehen. Aber es ist für die Nicht-
sozialisten leichter möglich, mit solchen Idealisten zusammenzugehen, als mit gänzlich
unhistorisch denkenden und minder gebildeten „Realpolitikern". Ihr Mithalten er-
leichtere seinerseits wieder das Vorschreiten in der Richtung gegen die Sozialisierung.
Nicht übersehen werden darf endlich, daß allen Parteien, die Dauerndes schaffen
wollen, die Regelung der Finanzfragen, Valuta, Steuern^ Zinsendienst und wie sie
heißen mögen, die dringendste Sorge ist. Das hält die Parteien zusammen und
hat die Mehrheitsparteien auch veranlaßt, Beamte und Gelehrte in die Regierung
aufzunehmen, die ihnen selbst nicht angehören.
Es ist zweifellos ein Beweis politischer Fähigkeit, den man in Osterreich
kaum erhofft hätte, daß bisher — wenn auch um hohen Preis, auch im strengsten
Sinne dieses Wortes — die Ruhe und Ordnung erhalten blieb und daß die radikale
Flut aus Ungarn bisher nur sehr kleine Wellen in Deutschösterreich auswarf. Auf
der anderen Seite ist die nervöse Hast, mit der man die Gesetzgebungsmaschine
arbeiten läßt, gegenüber der Zeit der provisorischen Nationalversammlung noch
gestiegen. Vielverordnerei und eilige, zu nachnäglicher Verbesserung nötigende
Arbeit, fehlt nicht. Weniger wäre manchmal mehr. Aber daß viel und fleißig
gearbeitet und viel Guich geschaffen wird, kann man nicht leugnen. Immerhin
wird der Freund ruhiger Entwicklung nicht wünschen, daß die endgültige Ver¬
fassung solche Formen erhält, die eine langsamere und überlegtere Gesctzgebungs-
cirbeit erschweren. Gerade solche aber sind festgelegt worden: weder ein vom Volk
gewählter Präsident, noch eine zweite Kammer haben die Macht, der National¬
versammlung Bedenkzeiten aufzunötigen. Wieweit die Volksabstimmung ihre
Allmacht beschränken wird, muß die Erfahrung lehren. Der Präsident ist
nur das Organ der Nationalversammlung; mehr Einfluß hat der Staats¬
kanzler, wenigstens solange diese Stelle ein Mann wie Karl Renner bekleidet,
aber auch seine Macht ist von der alleinherrschenden Versammlung nicht unab¬
hängig. So muß man es beinahe begrüßen, daß die Regierung, um den
Kommunisten entgegenzukommen, an eine organische Einfügung des Rätcsystems
in die Verfassung und Verwaltung denkt. Im alten Osterreich waren die
sachlichen Beiräte — neben dem Herrenhause, wie ich trotz aller Schmähreden
über diese Einrichtung der Vergangenheit auch heute meine, und vor ihm —
diejenigen Körperschaften, in denen am sachlichsten gearbeitet wurde — und in
ihren Protokollen wäre auch für die republikanische Verwaltung und Gesetzgebung
viel wertvolles zu finden. Aber sie waren als bloße Beiräte praktisch machtlos.
Von den künstigen Räten ist eher zu besorgen, daß sie zu viel Macht erlangen
und sie zu einseitig ausüben werden. Aber wenn das vermieden wird, wenn sie
alle Gruppen der Bevölkerung umfassen, wenn sie in gerechter Verteilung als
Berufsvertretung gleichsam an Stelle der so oft schon geforderten berufsmäßig
aufgebauten zweiten Kammer ins Leben treten, so müssen sie auch den Bürger¬
lichen willkommen sein. Schon stellt man hier und da zu der Forderung nach
Arbeiter- und Bauernräten die nach Bürgerräten auf und hat gelegentlich solche
ins Leben gerufen. Aber im Wahlkampfe selbst trat die Frage der künftigen
Verfassung ebenso in den Hintergrund, wie bisher. Daß die Verfassungsfragen,
wie ich auch hervorgehoben habe, durch den Anschluß an Deutschland ein „an¬
deres Gesicht" erhalten, hätte kein Grund sein dürfen, sie außer Erörterung zu
lassen — um so mehr, je unsicherer sich die Aussichten dieses Anschlusses noch während
der Mahlzeit, auch durch die Tätigkeit Allizes und die Einwirkung seiner Gehilfen
auf die christlichsvzialen Parteimänner, gestalteten. Die ungerechte und undemo¬
kratische Wahlordnung für Staat und Länder bietet so viel Angriffspunkte, daß
die Parteien, die durch sie benachteiligt sind, mit der Forderung nach einer besseren
viel Anklang hätten finden müssen, wenn sie es gewagt hätten, damit aufzutreten.
Aber hinter dem Wahlkampf standen unausgesprochen, noch viel weitertragende
Fragen der künftigen Staatsgestaltung. Wären sie der Bevölkerung und den
untergeordneten Parteiführern bewußt geworden, so sähe vielleicht das Wahl¬
ergebnis, jedenfalls die Wahlbeteiligung anders aus.
Sprechen wir zunächst von diesen! Die Zahl der nutzlos abgegebenen und
zersplitterten Stimmen war geringer, als bei der Wahl in die Nationalversammlung.
Diese hatte kein treues Bild der wirklichen Kräfteverteilung ergeben. Die Zahl
der bürgerlichen Mandate entsprach nicht jener der bürgerlichen Stimmen. Die
Sozialdemokratie hatte, als die schon bisher führende Partei, den Zulauf jener,
die immer mit dem Erfolg gehen, und vieler Unzufriedener von Beruf, die leicht
auch mit ihr unzufrieden werden können. Von den Christlichsozialen waren viele
„Heimkehrer" und audere abgefallen, die von ihrem Wahlsieg die Wiederkehr der
„alten Zustünde" und der Dynastie besorgt hatten. Diese Besorgnis ist um
im Schwinden. So mußte nunmehr der chriftlichsoziale Anhang auf dem Lande
steigen, während in den meisten Städten die Sozialdemokratie noch gewann.
Ausnahmsweise hielt ihr bei großstädtischen Gemeindewahlen ein mühselig ge¬
schaffenes Wahlbündnis der Christlichsozialen und der nationalen stand, wie in
Graz, Auch die starke Betonung des Landespatriotismus durch die Christlich-
sozialen, die ein Teil der Freiheitlichen darin fast noch überbot, mußte vorwiegend
jenen zugute kommen. Vor allem aber war nach dem 16. Februar die Meinung
verbreitet, daß an diesem Tage schon über die Machtverteilung in Land und
Gemeinde entschieden sei, daß nur die zwei großen Parteien Erfolg versprechen.
Das erklärt die Niederlage, welche die nationalbürgerlichen Parteien fast überall
erlitten; aber zum Teil auch die allgemeine Wahlmüdigkeit. Am 16. Februar
war die Wahlbeteiligung, ncuncntlich auch von Seite der Frauen, überaus stark,
auch in den Ländern ohne Wahlpflicht — ganz so wie bei den NeiclMnlS-
wahlen 1907 im Vergleich zu 1911. Der Neiz des Neuen und Ungewohnten für
die neuen Wähler, sowie die neue Wählerzahl und Wahlkreiseinteilung, die bei
allen Parteien Hoffnungen erregte, aber keiner eine sichere Voraussicht erlaubte,
erklären das zum großen Teil; 1911, als diese Antriebe fehlten und viele Bezirke
für die eine oder andere Partei als uneinnehmbar erkannt waren, starke die
Wahlbeteiligung ab. Genau so heute. In Wien erschien z. B. nur etwa die
Hälfte der Wähler an der Urne. So spielte sich der Wahlkampf wesentlich zwischen
den beiden Mchrheitsparteien ab.
Was bedeutet nun das Ergebnis, daß die Gemeindevertretung der wichtigsten
Städte in die Hand der Sozialdemokraten gelangt ist, wie man erwartet hatte,
daß dagegen nicht erwarteterweise die Mehrheit in allen Landtagen in den Händen
der Christlichsozialen allein ist oder doch ihnen im Vereine mit den meist um die
Bauernpartei gescharten nationalen zukommt?^) Es hat — was im Wcihlknmpf
selbst spät und selten hervorgehoben wurde — nach drei Seiten eine bedeutsame
Rückwirkung, in der Frage der Anschlußpvlitik, in jener der künftigen Staats»
Verfassung und in der nach der künftigen Negierung in Staat und Land, wie
auch in den meisten Großgemeindcn.
Wenn die Wahlen vom 16. Februar als ein Bekenntnis der überwiegenden
Mehrzahl des Volks für den Anschluß an Deutschland angesehen werden mußten,
so kann das nach dem Gesagten von den Landtags- und Gemeindewahlen nicht
in demselben Grade gelten. Sie sollten aber auch Gelegenheit geben, gegen die
Besetzung deutschösterreichischen Bodens durch Slawen und Italiener neuerlich
feierliche Verwahrung einzulegen. Man hatte die Frage aufgeworfen, ob die
gegenwärtige Nationalversammlung berufen ist, für ganz Deutschösterreich zu
sprechen und ob Gesetze verbindlich sind, die ohne die Vertreter Deutschböhmens,
des Sudetenlaudes, Südtirols und der Untersteiermark gegeben werden. Zweifellos
fehlten diese bei der Grundlegung der Verfassung und mau hat die Frage ihrer
Zuziehung erst in letzter Zeit entschieden. Pou dem Notwahlrccht, das schon die
vorläufige Verfassung vorsah, wurde nur für Südtirol und Untersteiermark Gebrauch
gemacht. Für jenes wurden Vertreter nach Vereinbarung der Parteien ernannt,
die aus Deutschsüdtirol stammen. Für Steiermark aber hat man diejenigen drei
Wahlbewerber einberufen, die auf den Wahlwerberlisten jeder der drei Parteien,
im Wahlkreis „Mittel- und Untersteiermark" unmittelbar auf die Gewählten folgen.
Unter diesen ist aber kein Untersteirer. Das hat man bei der Landtagswahl dadurch
gutgemacht, daß Sozialdemokraten und Bauernpartei an bevorzugter Stelle ihrer
mittelsteirischen Liste namhafte Vertreter Untersteiermarks kandidierten und durch¬
brachter. Dagegen bleiben DeutsÄböhmen und Sudetenland ganz unvertreten, da die
Sozialdemokraten nach längerem Schwanken und Verhandeln die Ernennung von
Abgeordneten für sie ablehnten. Darin spiegelt sich wohl die Erwägung, daß diese
Gebiete nach ihrer geographischen Lage und ihren wirtschaftlichen Beziehungen nicht
zu dem übrigen Deutschösterreich, sondern zu den Nachbarstaaten im Deutschen
Reich gehören und in deren Volksvertretung ihre Abgeordneten entsenden sollten.
Trotzdem ist es bedauerlich, daß eine Gelegenheit versäumt wurde, ihre Zugehörig,
keit zum Deutschtum feierlich zu bekunden und durch eine symbolische Handlung
gegen die tschechische Vergewaltigung Verwahrung einzulegen. So kann man nicht
sagen, daß die Wahlen eine besonders lebhafte Bekundung des nationalen Emp¬
findens bedeuten.
Ist der Gegensatz zwischen den Sozialdemokraten und Deutschnationalen als
unbedingten Anschlußfreunden auf der einen, den Christlichsozialen als vorsichtigen
Rechnern auf der andern Seite nicht einmal der Masse der Wähler während der
Wahlen vollbewußt geworden, so wurde auch ein anderer, instinktiv empfundener,
erst nach dem Größten der Wahlen allgemein klar. Die christlichsoziale Partei
hat einen föderalistischen Verfasfungsentwmf eingebracht. Die Sozialdemokratie
hat also die Ausgabe, den Einheitsstaat zu vertreten. So sind die Rufe: „Los
von Wienl" und „Los von der sozialdemokratischen NegierungI" miteinander in
parteipolitischer Zusammenhang gebracht worden. Indem die Christlichsozialen
den ersten erhoben, suchten sie der Verwirklichung des zweiten vorzuarbeiten und
mancher hat erst nachträglich erkannt, daß er unabsichtlich diesen ihren Zweck
gefördert hat. War es für die „dritte Partei" schon bei den Wahlen nachteilig,
daß sie in dieser Grundfrage ihre einheitliche Haltung verloren hatte, daß sie in
immer zahlreicheren Vertretern den Ländcregoismus anerkannte und verfocht,
während andere ihn bekämpften, so ist das sür ihre künftige politische Stellung
geradezu verhängnisvoll, Sie wird weder das Zünglein an der Wage in der
Grundfrage unserer Verfassung, noch ein wichtiger, mitbestimmender Teil der
Mehrheit, sondern verliert weiter, an Kraft und Geschlossenheit.
Damit ist aber auch gesagt, daß die beiden großen Parteien weiter mit¬
einander auskommen, daß sie Kompromisse suchen müssen, um gemeinsam regieren
zu können, solange der Gegensatz nicht zu groß wird oder die Macht im Lande
sich nicht auffüllig nach einer Seite verschiebt. Deshalb werden sie auch die
Landesregierungen in der Hauptsache gemeinsam übernehmen, wie sich auch schon
mehreren Ortes gezeigt hat. Immerhin verschiebt sich das Gewicht nach rechts.
Die Zeit ist noch ferne, in der aus der „Synthese" der sozialdemokratischen und
der christlichsozialen Einseitigkeiten sich jene wahre nationale Demokratie ergibt,
für welche heute nur ein kleiner .Kreis Deutschgesinnter kämpft. Aber sie muß
kommen, wenn das Zweiparteiensystem in seiner ganzen Schädlichkeit erkannt
sein wird.
aut de Lagarde sagt einmal, daß es nie eine deutsche Geschichte
gegeben habe, wenn nicht etwa der regelrecht fortschreitende Verlust
deutschen Wesens deutsche Geschichte sein solle. In der Tat hat
der beständige Widerstreit einheimrschcr und fremder Kulturtendenzen,
der recht eigentlich die Grundmelodie deutscher Geschichte bildet, das
ruhige Reifen einer nationalen Reinkultur gestört und an dessen
Stelle innere Haltlosigkeit und Gebrochenheit zutage gefördert, als deren charak¬
teristisches Merkzeichen sich jener Mangel an erhaltenden, geschichtlichem Sinn
offenbart, der als eine der bedauerlichsten Tatsachen der deutschen Kulturentwicklrmg
seine verhängnisvollen Folgen bis in die Gegenwart hinein geäußert hat. Der
damit Hand'in Hand gehende politische Zersetzungsprozeß ist nur eine Spielart
dieser allgemeinen Vergistungserscheinnng im deutschen Blut. Die Aufnahme
fremder Bestandteile mag von Nutzen sein, solange die kräftige Natur der Nation
die Quelle der Erneuerung immer wieder in sich selbst findet. Aber nicht jedes
Volk besitzt die robuste Gesundheit, die ihm über die schmerzhaften Wehen seines
wechselvollen Werdegangs zur festen Ausprägung seines Wesens verhilft. In
seiner Not sucht es dann Wohl stärkenden Trost im reinen Abbild seines Lebens,
im mächtigen Zauberhort seiner Kunst. In sie flüchtet der konservative Geist, der
historische Sinn, ohne den die Menschheit nun einmal nicht gedeihen kann, um
von hier aus seine Volks- und staatserhaltenden Kräfte walten zu lassen. So
entsteht, zusammengekittet durch das gemeinsame Erlebnis großer Kunst, jene
höhere Einheit, die die Volksgemeinschaft emporhebt über alle Anfälligkeiten
nationaler Wesensgestaltung. So erklärt sich die wunderbare Erscheinung,
daß beim äußersten Radikalismus des Griechenvoltes seine Kunst, vor allem
seine Poesie, auffallend konservativ blieb, daß während der radikalen demo¬
kratischen Republik in Athen sich ganze Dichtergenerationen der Aufgabe widmeten,
die nationalen Traditionen des attischen Mutterlandes im Spiegel der Dichtung
lebendig zu erhalten. Ihren Bemühungen verdankte denn auch der ätherische
Staat trotz aller Erschütterungen seine Erhaltung. Und von hier ans gewinnt
die Anekdote ihren tiefen, weltgeschichtlichen Sinn, die erzählt, der spartanische
Feldherr Lysander habe, ergriffen durch die Wirkung eines Euripideischeu Chor¬
liedes, von der Zerstörung Athens abgesehen. Wenden wir den Blick auf unsere
eigene Geschichte, die sich in so mannigfacher Hinsicht mit der griechischen berührt,
so vermissen wir in ihrem ganzen krisenhaften Verlauf jene durch eine konservative
Geisteskultur aufgespeicherte Lebenskraft, die als unentbehrliches Schwergewicht
gegen Auflösung und Entartung hätte dienen können, und sehen statt dessen mit
fast gesetzmäßiger Regelmäßigkeit in allen Perioden den Abbruch der Tradition
wiederkehren, der noch immer die Ausbildung unserer nationalen Eigenart ver¬
hindert hat. Die deutsche Kultur der Völkerwanderungszeit ist, trotz der Fürsorge
Karls des Großen, spurlos verschwunden. Die nicht minder hohe Kultur des
dreizehnten Jahrhunderts, mühsam aus Trümmern aufgebaut, eine Kultur, die
auf der Überlieferung beruhte und mit allem, was sie Großes an Epischem,
Lyrischem, Dramatischen, an Musik und bildender Kunst geleistet hat, getrost
neben die griechische Blütezeit gestellt werden darf, versank in den nächsten Jahr¬
hunderten wieder in Humanismus und Ausländerei. Noch einmal raffte sich
dann der ermüdete Volksgeist aus dem allgemeinen Chaos, unter vielfachen Unter¬
brechungen und Störungen, zu einer entscheidenden Kraftanspannung empor.
Man hat mit Recht die Geschichte der deutschen Literatur seit 1750 eine Ent¬
deckungsgeschichte des eigenen, nationalen Altertums genannt. In stufenweisen,
mächtigem Emporklimmen gewinnt der deutsche Geist wieder einen Gipfel und
weiten Ausblick über das altererbte Herrschaftsgebiet. In Klopstock erwacht die
Poesie der Statten und des Heliand, in Bodmer, Hölty, Gleim die der Minne-
Sänger, in Goethe kommt Hans Sachs, das Volkslied, das Volksbuch, das alte
Puppenspiel zur Wiedergeburt. Bewußt wird diese Richtung von den Romantikern,
von Novalis, Tieck, Brentano, Görres, von den Brüdern Grimm aufgenommen
und mit dem ganzen Ernst der neu erwachten Wissenschaft zum systematischen
Abschluß gebracht. Freilich läßt sich nicht leugnen, daß diese Anknüpfungsoersuche
in ihrer noch unbestimmt tastenden Art kaum ausreichten, und daß der alte
Goethe recht hatte, wenn er feststellte, daß es allen edlen Anstrengungen noch
nicht gelungen sei, einen nationalen Stil zu finden, oder, wie er sich ausdrückie,
ein Repertoir zu schaffen.
Ein solcher Stilbegründer erwuchs erst in Richard Wagner. Er erst war
es, der nach diesen schüchternen Ansätzen alle Zweifel an der Möglichkeit einer
nationalen Kunst siegreich niederschlug. Man kann über das Wagnersche Gesamt¬
kunstwerk verschiedener Meinung sein. Soviel ist gewiß, daß keiner vor ihm mit
überzeugenderer Klarheit auf die Bedeutung des nationalen, des mythischen und
des religiösen Stoffes für die Kunst hingewiesen hat. Und kaum je hat ein
deutscher dramatischer Dichter verantwortungsvoller seine Kunst als ein soziales,
ein nationales Amt ausgeübt als er, von dem das Wort stammt, daß die Kunst
zur Zeit ihrer Blüte konservativ gewesen sei und es wieder werden müsse. Sein
Werk allein darf als würdige Kulturergänzung zur Erhebung der deutschen Nation
seit 1870 angesehen werden.
Es ist bekannt, daß der Schatz, den Richard Wagner dem deutschen Volke
schuf, nicht ausgemünzt worden ist; daß die Bahn, in die die Entwicklung unserer
Kultur einlenkte, mehr und mehr abseits führte, und daß wir heute ratlos vor
dem drohenden Chaos stehen. Zweifel tauchen auf, ob die so oft angespannte
Regenerationskraft unseres Volkes angesichts eines neuen radikalen Kulturbruchs
sich noch einmal bewähren wird. Wir wissen es, Kunst und Wissenschaft, nicht
zuletzt die Wissenschaft vom Deutschtum, haben wieder den innigen Zusammen¬
hang mit dem Herzen der Nation verloren. Das ethische Bewußtsein, von dein
die Romantiker und mit ihnen die Brüder Grimm durchdrungen waren, das
Bewußtsein, daß jede Betätigung, auch die wissenschaftliche, von der künstlerischen
ganz zu schweigen, dem Volke zur lebendigen Bereicherung dienen müsse, ist viel¬
fach ganz verloren gegangen. Enges, hartes Spezialistentum, von falschem, sub-
jekiivem Radikalismus geleitet, treibt seine unfruchtbaren Blüten. Und nicht anders
steht es mit der Kunst. Im beständigen Suchen nach neuen, immer unerhörteren
Standpunkten, ohne Rücksicht aus die großen Zusammenhänge, in denen er steht,
ohne Rücksicht auf seine hohe sittliche Verpflichtung, die ihm vorschreibt, der getreue
Eckart der nationalen Güter zu sein und seine eigensinnige Willkür dem Vorteil
des Ganzen unterzuordnen, wirkt der Künstler unserer Tage als Parteigänger
jener verblendeten antikonservativcn Elemente, die schon so oft im Verlaufe unserer
Geschichte die organische Entwicklung einer nationalen Kultur unmöglich gemocht
haben. —
Es ist nicht Reaktion, der hier das Wort geredet wird. Es ist nur in einer
Zeit, die allzu ausschließlich dem Radikalismus huldigt, ein Bekenntnis zu den
ewig frischen Quellen unseres Volkstums, aus denen unerschöpfliche Energien,-
wahrhaft aufbauende Kräfte und der Fortschritt im höchsten Sinne herausfließen,
ein Bekenntnis zugleich zu jenen großen Deutschen, die, indem sie, wie die Griechen,
die konservative Bedeutung aller echten Kunst erkannten und ergriffen, uns uns
selber zurückgegeben, unser Volk, das sich so oft zur Vergeudung seines heiligsten
Erbes verleiten ließ, wieder reich gemacht haben.
ilson hat bekanntlich in seiner großen Rede in der Metropvlitan
WAW^HM>M Opera behauptet, die überwiegende Mehrheit des amerikanischen
WA ? Volkes hinter sich zu haben. Aber jeder Massenpsychose weisz,
^A^^ derlei Versicherungen, mögen sie noch so sehr von ehrlicher
Überzeugung getragen sein, immer sehr gewagt sind. Läßt man
^^d^I^is Zeitungsäußerungen als Dokumente sür die öffentliche Meinung oder
den Ausdruck des Volkswillens gelten, so scheint es mit der Behauptung des
Präsidenten bedenklich zu stehen. Wenigstens ergab eine Umfrage der „Morning
Post" bei 1377 amerikanischen Zeitungen 718 Stimmen für, 478 bedingungsweise
für, 181 gegen den Völkerbund. Als Kontrolle kann eine Umfrage des
„Literary Digest" dienen, die bei republikanischen Zeitungen 114 Stimmen für,
306 bedingungsweise, 107 gegen, bei demokratischen 379 für, 18 bedingungs-
weise sür, 47 gegen, bei der unabhängigen Presse 16 für, 51 bedingungsweise
für, 8 gegen, also ein Verhältnis von 509:375:162 ergab. Danach erscheint
die hinter Wilson stehende Mehrheit keineswegs so überwältigend und offenbar
kommt alles darauf an, waS man unter „bedingungsweise" zu verstehen hat.
Verschiedenen dieser Bedingungen hat Wilson allerdings inzwischen durch Bestehen
auf der Monroe-Doktrin und durch Ausschluß der Gleichberechtigung der gelben
Nasse Rechnung zu tragen versucht, andererseits scheint jedoch die Opposition der
Republikaner und des Senats im Wachsen zu sein. Und selbst wenn man zugibt,
daß Zeitungsäußerungen nicht unbedingt den Volkswillen repräsentieren, ja von
ihm beeinflußt werden können, so ist doch gerade dieser Volkswille selbst so leicht
beeinflußbar und, wie gerade von genauen Kennern Amerikas immer wieder mit
Nachdruck versichert wird, so schwer bestimmbar, daß, nach ihrer Versicherung,
Vorhersagen darüber, ob Amerika für oder gegen den.Völkerbund sein wird,
keinerlei wirkliche Bedeutung zugesprochen werden kann.
Daraus ergibt sich also mit Sicherheit nur das eine, daß die öffentliche
Meinung Amerikas von Grund aus gespalten ist und schwankt, daß seine
Politik an einem Kreuzwege angelangt ist. Es muß sich entscheiden zwischen
amerikanischer und Weltpolittk. Amerikanische Politik, das heißt Beschränkung auf
Amerika unter Sicherung nach außen und Saturierung im inneren. Wellpolitik
heißt Wettbewerb in erster Linie mit England (samt seinen Dominions), aber auch
mit Nußland, Japan, und Europa überhaupt. Beide Wege sind gangbar und
denkbar, Die wirtschaftliche und politische Durchdringung Mexikos, Südamerikas
und Canadas scheint die natürliche Verwirklichung des in der Monroedoklrin aus¬
gesprochenen Ideals zu bilden und würde den gesamten Kräften der Vereinigten
Staaten aller Voraussicht nach noch für mindestens ein Jahrhundert reichliche
und genügende Betätigung erlauben. Aber die sehr wirkliche wirtschaftliche
Entwicklung des amerikanischen Volkes folgte schon vor dem Kriege keineswegs
diesendurch die Theorieklarvorgezeichneten Bahnen, sondern realistischen und praktischen
Gesetzen. Industrieller Export läßt sich in seiner Richtung bekanntlich nicht
willkürlich bestimmen, sondern greift automatisch dahin über, wo sich ihm bei
möglichst gesteigerter Gedeihungsmöglichkeit der geringste äußere Widerstand ent¬
gegenstellt. Ersterer ist zum Beispiel in Mexiko bei der Unsicherheit der dort
herrschenden politischen Lage, seiner mangelhaften Zivilisation und der infolge des
amerikanischen Widerstrebens gegen Militärdienst sich ergebenden Unmöglichkeit,
Mexiko tatkräftig zu einer nordamerikanischen Kolonie zu machen, nicht gegeben.
Kanada konkurrierte durch seine enge Verbindung mit England selbst zu stark, um
eine wirtschaftliche Durchdringung von feiten der Union als nutzbringend erscheinen
zu lassen, und zu einer kräftigeren Erfassung Südamerikas, der sich überdies
immer Mexiko als Riegel vorschob, fehlte es an einer ausreichenden Handelsflotte.
Die Folge war, daß sich der Export gestützt auf eine natürliche Wohlfeilheit der
Rohprodukte, Lebensmittel und eine aus deu Verhältnissen sich ergebende besondere
Art der Produktion (Maschinenl) Absatzgebiete in Übersee, Europa und Asien
suchte. Handel aber nach Übersee im Wettbewerb mit andern Großmächten der
Welt ist bereits Weltpolitik und zieht einen gewissen Imperialismus geradezu
logisch nach sich.
Die Bahn dieses Überseehandels war nun bereits vor dem Kriege so aus¬
gefahren und selbstverständlich, daß Amerika nicht einfach die Zeit lediglich zur
Eroberung des heimischen und südamerikanischen Marktes benutzen konnte, sondern
auch infolge des Nachlassens des äußeren Widerstandes in Europa durch Ver¬
minderung des dortigen Wettbewerbs, gleichsam automatisch zur Steigerung der
Entwicklung nach Übersee getrieben wurde, ja diese Steigerung infolge des lang^
dauernden europäischen Niesenbedarfes ein so maßgebender Faktor für den ameri¬
kanischen Gesamtorganismus wurde, daß eine Behinderung dieser Entwicklung,
wie sie der deutsche U-Bootkrieg bedeutete, geradezu als Eingriff in das innere
Leben Amerikas empfunden werden mußte. Und so sehr vielleicht auch, abgesehen
von persönlichen Sympathien oder Antipathien und Propagandawirkung, die
Kriegserklärung an Denischland von der Mehrheit des Volkes als reine Ver¬
teidigungsmaßregel einer konsequenten Amerikapolitik angesehen wurde, in Wirk¬
lichkeit bedeutete diese Kriegseiklärung, da sie das Prinzip ungehinderten Über¬
seehandels verfocht, ein Bekenntnis zur Welipolitik.
Weite amerikanische Kreise wollen allerdings diese Entwicklung nicht zugeben,
schrecken jedenfalls vor den damit verbundenen Konsequenzen zurück. Zieht man
von den Widerständen gegen Wilsons Völkerbundspolitik alles ab, was sich auf
Parteitaktik, Parteiintrigen, persönliche Widerstände, innerpolitische Bedenken
gegen des Präsidenten autokratische Manieren, gegen seine Steuerpolitik, was sich
ferner auf die Widerstände der Deutsch-Amerikaner und Iren, auf die Skepsis
von Realpolitikern, die den Bund für unmöglich oder ohnmächtig halten, und die
Enttäuschung einiger klar Sehender Idealisten (der frühere Soziolistenvertreter
Meyer-London z. B., der, gegen den Krieg gestimmt hat, hat sich in einer Rede
im New Era Club auch gegen die Liga der Nationen ausgesprochen, weil eine solche
mit Vertretern selbstsüchtiger Nationen, die dasselbe Hunnentum und die gleiche
Barbarei offenbarten, die sie bekämpft hatten, nicht geschlossen werden könnte)
zurückführen läßt, so bleibt als Hauptbedenken immer noch die Monroedoktrin.
Die Monroedoktrin aber hat ein Doppelgesicht. Einmal schaltet sie grundsätzlich
jeden außeramerikanischen Eil fluß aus amerikanisches Territorium aus. Und in
diesem Punkte wird kein politisch erzogener Amerikaner ernsthaft nachgeben. Man
fürchtet demnach, daß vermittelst des Völkerbundes europäische Mächte (wohl gar
MonarchenI) Einfluß auf Angelegenheiten gewinnen könnten, die man als rein
amerikanisch anzusehen gewohnt ist, daß insbesondere England durch seine sonder-
stimmberechtig^en Dominions Amerika in gewissen Fällen in bedrohlicher Weise
zu überstimmen in der Lage wäre. Man überlegt auch, daß z. B. Artikel X des
Wilsonschen Völkerbundentwurfs, der zur Aufrechterhaltung des territorialen
Zustandes bestehender Staaten verpflichtet (und somit jedes Werden und jede
Entwicklung im Grunde zu unterbinden trachtet) Amerika im spanisch-amerikanischen
Kriege zur Ohnmacht verurteilt und von Cuba ferngehalten haben würde, und
gerade ausgesprochene amerikanische Jmperialistenkreise machen geltend, daß eine im
nordamerikanischen Sinne ersprußliche Regelung der Konflikte mit Mexiko, die
einmal ja doch zum Austrag werden kommen müssen, durch den Völkerbund
nahezu unmöglich gemacht sind. Auf der andern Seite aber fürchtet man sich,
die bewährten Beschränkungen der Monroedoktrin nach außen hin aufzugeben.
Das weiß der Tatsachensinn der Amerikaner recht wohl zu erkennen, daß eine
absolut ausschlaggebende Vormachtstellung Amerikas in diesem Völkerbunde, von
der durch Wilsons Arbiter mundi Rolle begeisterte, heute jedoch kaum noch ganz
überzeugte Idealisten vielleicht träumen, in Wirklichkeit noch lange nicht
Möglich sein wird und daß der Völkerbund Amerika zwar Einfluß an vielen
Punkten der Erde verleihen, es aber auch verpflichten würde, in vielen Fällen
S- B. eines irischen Aufstandes oder jedes kleinen Balkankonfliktes einzugreifen,
ur denen Amerika absolut interesselos ist und von seinem Standpunkt aus nur
kleinliche Kirchturmsinteressen erblicken kann. Daher sträubt man sich auch gegen
die Idee des amerikanischen Armenienprotektorates. Da ein solches Mandat dem
Handel anderer Nationen offene Tür läßt, so vermag man nicht einzusehen,
weshalb man die Lasten der Ausübung einer Polizeigewalt auf sich nehmen soll,
nur weil England und Frankreich sich den Besitz Armeniens oder der Meerengen
gegenseitig nicht gönnen wollen. Schon hat der „Sun" es unwillig ausgesprochen,
Europa bezwecke mit dem Völkerbund nur, sich Amerikas Hilfsquellen zu sichern.
Aber gerade Frankreichs Erfahrung mit Rußland hat die Gefahl en, die sich aus
zu weitgehender und zu langfristiger Kreditgewährung an fremde Mächte in zu
starker Bindung der eigenen Außenpolitik ergeben, schlagend vor Augen geführt.
Soweit über die aus realpolitischen Erwägungen entspringenden Widerstände.
Aber es fragt sich, ob sich die imperialistischen llberseetendcnzen heute noch wieder
zurückschrauben lassen. Man macht sich jetzt in Europa selten klar, wie weit
Amerika während des Krieges, vielleicht unbewußt und lediglich der Logik wirt-
schaftlicher Interessen folgend, tatsächlich die ersten Schritte getan hat, Europa und
Ostasien zu amerikanischen Kolonien zu machen. Schon im Mai 1918 hatten die
Amerikaner die Betriebskontrolle und bei der herrschenden Unsicherheit auch die
Polizeiaufsicht über die ostsibirische Bahn, für die weitere Instandsetzung und den Aus¬
bau sind amerikanische Kräfte in Aussicht genommen, und die Zahlung der Lohn¬
rückstände an der Bahn, die im Februar 1919 bereits 60 Millionen Rubel be¬
trügt, wird Amerika gleichfalls ub-rnehmen wollen. Dazu kommt dann der
z, B. durch die Lahmlegung der Polnischen und Moskaner Textilfabriken und
durch die Dezentralisierung des osiaiischen Rußlands an sich bereits gegebene be¬
vorstehende ungeheure wirtschaftliche Aufschwung, der bei Japans starker Bindung
in Korea und China und seinen starken Tendenzen nach Süden und nach Indien
hin gewiß zum größten Teil der amerikanischen Industrie zugute kommen kann.
Ja. es ist nicht ausgeschlossen, daß die Befürworter des amerikanischen Mandat¬
projektes über Armenien und Konstantinopel auch bereits an eine amerikanische
Bevormundung der ganzen sibirischen Bahn gedacht haben. Wie weit die in
jüngster Zeit von französischen Zeitungen erhobene Anklage, die angelsächsische
Neigung mit den Bolschewisten zu verhandeln, stände im Zusammenhang mit der
Beteiligung englischen und amerikanischen Kapitals an der neu konzessionierten
Bahn Ob—Kollos—Seroka—Kottah—Swanta in Verbindung, auf Tatsachen be¬
ruht, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Noch bedrohlicher ober nimmt sich
die. Lage in Frankreich aus. Nicht umsonst haben die Amerikaner Wilgus, den
Vizepräsidenten der New Aork Central Lines, zur Organisierung des amerikanischen
Bahnbetriebes nach Frankreich geschickt: im September 19l8 rollten laut „Chicago
Daily Tribune" in Frankreich auf 1400 Kilometer neuer Bahnen 400 Lokomotiven,
8000 Güterwagen mit 40—50000 Mann Peisonal, und da die Amerikaner ganze
Arbeit machten und auch gleich den dazu gehörigen Grund und Boden besonders auch
im Departement Doubs e> warben, den das von Finanznöten heimgesuchte Land in
absehbarer Zeit kaum wird zurückkaufen können, die Bahnen auch völlig in eigene Ver¬
waltung nahmen und auf Grund wahrscheinlich abgeschlossener Kontrakie noch weiter
ausbauen werden (geplant wurde z. B. eine Bahn Nantes—Genf, während als Aus¬
gangspunkt für den Handel nach der Schweiz Cette durch Bordeaux ersetzt werden soll),
so ist keine Aussicht vorhanden, daß die Amerikaner so bald das Feld räumen werden,
um so weniger als zum Wiederaufbau der zerstörten Bergwerke, Kanäle, Straßen usw.
bereits im Dezember 1918 eine Delegation amerikanischer Ingenieure und Indu¬
strieller nach Frankreich abgegangen ist, die Se. Nazaire zum Hauptzufuhrhafen für
das Wiederaufbaumaterial ausbauen will. Was die Amenkciner in dieser Hinsicht
zu leisten in der Lage sind, haben sie beim Ausbau von La Rochelle während des
Krieges bewiesen, wo mit Hilfe riesiger Löschanlagen in kurzer Zeit täglich so viel
gelöscht wurde, wie früher in Monaten. Schon während des Krieges haben
endlich die Amerikaner, die bekanntlich auch viele der infolge Leutemangels ge¬
schlossenen Fabriken in Pan, Lyon und Bordeaux wieder in Gang gebracht haben,
Vorbereitungen getroffen, nach Friedensschluß einen Teil der französischen Munitions-
Industrie zu übernehmen und in Eisen- und Lokomotivfabriken umzuwandeln, wobei
ein alsbald gebildetes amerikanisches Syndikat die Mitwirkung französischer Firmen
nachdrücklich abgelehnt hat. überall hat Amerika, wie Albert Thomas dem New
Jork Sun gegenüber bewegliche Klage führte. Geschäftsverbindungen angeknüpft'
und gewaltige Aufträge n halten, so daß Frankreich tatsächlich zu einem Aus»
beutungsobjekt des amerikanischen Handels herabzusinken drohe. Endlich ist es
kein Geheimnis mehr, daß sogleich nach Friedensschluß auch Deutschland eine
Überschwemmung mit Waren Amerikas, das sich nicht umsonst zum lauten Jammer
des französischen Verbündeten, den Löwenanteil an der deutschen Handelsflotte
gesichert hat, bevorsteht, die wir voraussichtlich keinerlei Möglichkeit haben werden,
abzuwehren. Auch in Belgien, und bis ins Rheinland hinein, sind die Amerikaner
in Ausnutzung ihrer finanziellen Überlegenheit, eifrig daran, Fabriken zu kaufen
und in Kopenhagen macht man sich beieits ernstlich Sorgen darüber, ob man
nicht die Sugrematis des Ostseehandels an Amerika werde abgeben müssen.
Das einzige, was eine Kolonisierung Europas durch Amerikaner noch hinaus¬
schieben kann, ist der Umstand, daß Nordamerika bis zur inneren Saturierung
noch eine riesige Bevölkerungsvermehrung ertragen kann, daß noch heute drüben
in weiten Kreisen als Erbteil der Aufwärter'erscharen eine gewisse Europascheu
besteht, die durch das, was der Amerikaner während des Krieges von Europa
gesehen hat, alles andere als widerlegt ist, und (wie lange noch?) die englische
Konkurrenz. Sonst aber unterscheidet sich, was jetzt in Frankreich geschieht, in
nichts von beginnender Kolonialpolitik europäischer Länder in fremden Konti¬
nenten, naße sich doch Amerika bereits eine Art Kontrolle der europäischen Lebens¬
mittelankäufe an. Europa soll z. B. seine Lebensmittelbcdürfnisse nicht in dem
billigeren Südamerika decken dürfen, da Amerika, um während des Krieges seine
Landwirtschaft zu heben, dieser Mindestpreise garantierte, die die Käufer eben, da
Amerika sich nicht mit Verlusten belasten könne, tragen müßten. Und das, ob¬
gleich ganz Frankreich über die Teuerung die Hände ringt.
All diese Tatsachen lassen es kaum glaublich erscheinen, daß Amerika von
der imperialistischen Bahn, in die es der Krieg und seine Folgen gerissen haben,
noch einmal wieder ablenken können wird. Die natürlichen Entwicklungstendenzen
gehen, besonders wenn es, wie eS den Anschein hat, tatsächlich zur weitgehenden
Demobilisierung des eben geschaffenen Heeres kommt, durchaus auf eine Über¬
windung der Monroedoktrin. sofern sie sich auf Amerikas äußere Politik bezieht.
Ist das aber der Fall, so liegt es nicht im Charakter des Amerikaners, sich dabei
auf lange die Hände durch den Völkerbund binden zu lassen. Er wird anfangen,
Praktischen Imperialismus zu treiben, und nicht einigen Idealisten zuliebe den,
Umweg über einen Völkerbund nehmen, der ihm selbst bei der Wahrnehmung der
eigensten Interessen trotz aller vorsichtigen Klauseln die Hände binden würde.
Mag sein, daß der Völkerbund in irgendeiner Form dennoch zustande kommt,
die erste Kraftprobe wird er in Amerika kaum überstehen. Man nutz nur sehen,
wie unbestimmt die Vündnisnersprechungen an das sich immer noch durch Deutsch¬
land bedroht fühlende Frankreich gehalten sind, um zu begreifen, daß Amerika
niemals für Interessen, die nicht amerikanische sind, zu Felde ziehen wird.
l ergebrachte Worte zwingen uns noch lange in den Bann veralteter
l Begriffe, wenn schon die Verhältnisse sich längst geändert haben.
Was die Worte Aristokratie und Demokratie ursprünglich bedeuteten,
Ipaßt nicht mehr auf unsere Zeit. Weder kann heute von einer
^' Herrschaft des Demos, des ganzen Volkes die Rede sein, noch auch
! von einer schrankenlosen Gewalt der Aristoi, der Tüchtigsten. Nur
allgemeine Richtungen des politischen Lebens geben diese Ausdrücke noch wieder.
Aber sie bezeichnen auch keine sich ausschließenden Gegensätze mehr. Demokratie
besagt im Grunde nur die Anteilnahme des Volkes an der Leitung des Staates,
und dem wird auch der aristokratisch Gesinnte, ist er nicht ganz wellfremd und
doktrinär, zustimmen; Aristokratie wiederum kann nur die Bedeutung der Aristagie
haben, d. h. der Führung und des überwiegenden Einflusses der Tüchtigsten und
Fähigsten, und das ist schließlich das, was der vernünftige und gemäßigte Demo¬
krat wünscht. Die geschichtliche Entwicklung scheint auch nicht so zu verlaufen,
daß eine schroff aristokratische Verfassung allmählich durch eine ebenso schroff
demokratische ersetzt würde, vielmehr in der Richtung, daß eine Versöhnung beider
Gegensätze eintritt. Der Kampf zwischen ihnen wird zwar nie aufhören, da sie
auf ursprünglichen typischen Anlagen der Menschennatur beruhen; aber er wird
auf eine immer höhere Stufe erhoben.
Die Wandlung der Begriffe aristokratisch und demokratisch spiegelt sich auch
in der Geschichte der Bildung wieder. Das Mittelalter zeigt uns den rein aristo¬
kratischen Bilbungsbegriff. Nur ein Stand, die Geistlichkeit, war der Gebildete.
Höheres Wissen war sein Vorrecht und verlieh ihm Macht. Die Kluft zwischen
Gebildeten und Ungebildeten war tief; sie zu überbrücken lag nicht im Interesse
der oberen Schicht. Seit der Renaissance und der Reformation sind dann nach
und nach andere Stände und Berufe in den Kreis der Gebildeten eingetreten, bis
heutzutage auch der vierte Stand Anteil an der Bildung erstrebt, so daß sich das
Ideal der allgemeinen Volksbildung immer nuchr zu erfüllen scheint. Trotz der
Demokratisierung der Bildung wirkt aber das aristokratische Ideal bis heute noch
stark nach. In seiner reinsten Ausprägung knüpfte es Bildung an einen be¬
stimmten Kreis von Kenntnissen, die nur einer sozial ausgezeichneten Gruppe zu¬
gänglich waren, so bei dem Kleriker des Mittelalters, bei dem höfisch erzogenen
Weltmann und Kavalier des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, der fran¬
zösisch sprechen mußte, und dem akaoemisch Gebildeten des neunzehnten Jahrhunderts,
dessen Bildung wesentlich durch die Kenntnis der klassischen sprachen bedingt war.
Dieses letzte vorwiegend intellektualistische Bildungsideal hat dann noch eine
„aristokratische" Verschärfung durch das Berechtigungswesen der höheren Schulen
erfahren, weil dadurch Schranken errichtet wurden, die im allgemeinen nur den
Bemittelten leicht zu überschreiten waren. Der Foster dieses falschen Bildungs¬
begriffes liegt darin, daß er Bildung und Besitz zusammenkopptlt und letzten
Endes beide als Mittel des Machtstrebens benutzt. Bildung erscheint von diesem
Standpunkt aus als ein Vorrecht der besitzenden Klassen, und diese klassenegoistischc
und unsoziale Gesinnung führt in ihrer äußersten Zuspitzung zu dem Bestreben,
dem Volke Wissen und Bildung vorzuenthalten, um sein Emporkommen zu hemmen.
Solche Anschauungen dürfen heute im großen und ganzen als überwunden gelten.
Wie sie antisozial sind, so auch im tieferen Sinne anliliberal.
Im scharfen Gegensatze zu diesem Begriffe, der Bildung einseitig mit der
gesellschaftlichen Stellung des einzelnen verknüpft, weist das streng demokratische
Vildungsideal aus die ursprüngliche und natürliche Gleichheit der Menschen hin
und verlangt daher gleiche Bildung für alle. Marat hätte während der franzö¬
sischen Revolution am liebsten die ganze Intelligenz Frankreichs aus die Guillotine
gebracht, um diese Idee durchzuführen. Aber sie ist womöglich noch unsinniger
als die Forderung gleichen Besitzes aller Menschen. Sie findet daher heute auch
bei Demokraten kaum noch Verteidiger.
Dringen wir nun durch solche Entstellungen bis auf den Kern der aristo¬
kratischen und demokratischen Bildungsbegriffe, so enthüllt sich in beiden ein
Wahrheitsgehalt, der durchaus der Verschmelzung fähig ist. Finden sich doch
beide Triebe ursprünglich in jedem Geiste angelegt. Jeder Mensch hat insofern
etwas Aristokratisches, als er sich als einzig in seiner Art empfindet und sich von
andern unterscheiden und abheben möchte: aristokratisches Wesen kennzeichnet sich
durch das Gefühl des Abstandes von andern, durch das „Pathos der
Distanz". Die Wurzel demokratischer Gesinnung liegt dagegen in dem Bewußtsein
der Übereinstimmung und der Gemeinsamkeit. Es ist klar, daß demokratische
Triebe und Masseninstinkte solange das Übergewicht über die aristokratischen be-
halten müssen, als gleiche Bedürfnisse und gemeinsame Not das Gefühl der Be¬
sonderheit und des Abstandes übertönen. Doch scheint das gleichzeitige Vor¬
handensein beider Triebe nicht auf gegenseitige Hemmung angelegt zu sein, sondern
auf ein ethisches Ziel hinzudeuten; und daS gilt wie für die Einzelpersönlichkeit so
auch für die Gemeinschaft, die Volkspersönlichkeit. Wir können daher den ein-
seitigen aristokratischen und demokratischen Bildungsbegriffen richtige gegenüberstellen,
die sich gegenseitig ergänzen und uns die Wege weisen, auf denen künftige Kultur¬
arbeit fortzuschreiten hat. Die demokratische Anschauung vertritt nun mit Recht
die Forderung, daß allen die Möglichkeit gegeben wird, sich ihren Anlagen ent¬
sprechend zu bilden, d. h. sie verlangt, daß die Bildungsmittel möglichst allen
gleichmäßig zugänglich sind. Der aristokratische Begriff aber betont mit gleichem
Rechte, daß alle Bildung den Menschen über den Durchschnitt emporhebt und daß
die so emporgestiegenen die Führer der anderen sein sollen.
Eine Vermittelung zwischen beiden Gegensätzen stellt auch der relative
Vildungsbegriff her, den schon Hebbel vertreten hat: „Gebildet ist jeder, der das
hat, was er für seinen Lebenskreis braucht. Was darüber ist, ist vom Übel."
Danach kann es in jedem, auch dem geringsten Stande gebildete Menschen geben,
wie es andererseits unter den sogenannten „Gebildeten" sehr viel Unbildung gibt.
Der „gebildete" Arbeiter steht nach diesem Maßstabe höher als der einseitige, welt¬
fremde Fachgelehrte. Denn Bildung hat nichts mit der Menge des angeeigneten
Wissens oder mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun. Sie verlangt nur, daß
der Mensch in seinem Lebenskreise zuhause ist und sein Verhältnis zu Gesellschaft
und Welt erkennt. Streng genommen kann dann von höherer Bildung gar nicht
die Rede sein, da ein Mehr von Bildung leicht ein Zuviel wird und die innere
und äußere Harmonie des Menschen stört. Offenbar hat dieser Bildnngsbegriff
demokratischen Charakter, da er einen relativ gleichen Bildungsgrad aller Menschen
annimmt. Trotzdem schließt er die „höhere" Bildung nicht aus. Denn selbst
wenn alle Menschen die ihnen zukommende Stufe erreicht hätten, so umfaßt doch
eben der im Leben höhergestellte geistig eine viel weitere Welt als der in be¬
scheidenen Verhältnissen lebende. Er kann daher diesem zum Führer werden.
Und diese Führerschaft des höher Gebildeten ist eben der sittliche Kerngehalt des
aristokratischen Bildungsideals. Übrigens läßt sich der dem einzelnen oder einem
Stande angemessene Bildungsgrad schwerlich genau festsetzen', und ein über diese
relative „Normalbildung" hinausgehendes Streben ist gewiß nicht schlechthin zu
verwerfen, da es durchaus nicht notwendig zur Verbildung führen wird.
Daß eine Leitung durch überlegene Bildung notwendig ist, zeigt sich be¬
sonders an Erfahrungen im Kunstleben, wo sich das gute gegen den Geschmack
der Menge durchsetzen muß. Wie stände es um unser Konzert- und Theaterleben,
wenn die Auswahl der aufgeführten Werke von den Wünschen des Publikums
abhängig gemacht würde, dos hier doch durchweg den „gebildeten" Kreisen ange-
hoi-t? Strauß, Reger, Mahler, Psttzner oder Gerhard Hauptmann wären nie zu
Gehör gekommen. Das schlagendste Beispiel einer Kunst von unten aber bietet
das Lichtspieltheater, das ganz im Banne der Masseninstinkte steht und bisher
allen Bemühungen, es auf eine höhere Stufe emporzuheben, widerstanden hat.
Auch die sogenannte Kunstkarte, die Ansichtskarte mit Nachbildungen von Gemälden,
die zweifellos der Verbreitung guter Kunst dienen kann, bringt die Gefahr mit sich,
den kaum erwachten Kunstsinn wieder zu verderben. Ja selbst eine gewisse Ver¬
rohung in unserer gegenwärtigen Malerei dürfte man auf „demokratische" Ein¬
flüsse zurückführen. Man denke etwa an Pechstein. Nicht jedem ist es wie Hans
Thoma gegeben, den Mangel ererbter Kultur durch ernstes Streben bis auf einen
Erdenrest zu überwinden. Zwar nicht wie ein huldvolles Geschenk von oben soll
Kunst und Bildung dem einfachen Manne geboten werden. Das Volk hat ein
Recht auf Bildung. Aber gerade wer das anerkennt, übernimmt die Pflicht als
Bildungsträger zugleich auch Führer und Erzieher zu werden. Die demokratische
Bewegung der letzten Jahrzehnte hat allgemein zu einer Überschätzung der Insti¬
tutionen und Organisationen, zu einer Unterschätzung der Persönlichkeiten und
einer übertriebenen Bewertung des gesunden Durchschnitts gegenüber der hervor¬
ragenden Leistung geführt. „Bildung ist nichts, was als Massenartikel erzeugt
und auf dem Wege der Organisation Vertrieben werden könnte; Bildung ist das
eigenste, das tiefste Geschäft eines jeden mit sich selbst, und es sührt kein anderer
Weg zu ihr als Arbeit und Selbstbesinnung." (Fr. Jott.) Bildungsvereine können
wohl den Zugang zur Bildung erleichtern; aber sie selbst vermögen sich gegen die
herabziehenden Triebe der Masse nur zu halten, wenn in ihnen der Einfluß und
das Beispiel wahrhaft.gebildeter Persönlichkeiten maßgebend ist. „Vor allem ist
es für jeden kulturellen Fortschritt der Gesamtheit nötig, daß Individuen sich
geistig aus dem Banne der Gesamtheit lösen, sich darüber erheben, ihrerseits vor¬
dringen, um dann vielleicht die Gesamtheit noch sich zu ziehen. . . Die Gesamt¬
heit ihrerseits droht immer, die einzelnen herabzuziehen. „Mit der Menge" darf
nicht die Losung bleiben für alle diejenigen, die sich über die Menge zu erheben
vermögen. Losung aber muß bleiben: „Für die Gemeinschaft!"" (Wilh. Münch.)
Bei allem Bildungsstreben, sofern es von sittlicher Gesinnung durchdrungen ist,
kommen sich zwei Triebe, von unten und von oben, entgegen. Denn echte Voll¬
bildung hat. wie überhaupt der geistige Besitz, in sich den Drang, andere an ihrem
Gute teilnehmen zu lassen; sie hat sozusagen eine demokratische Neigung. Das
richtige Bildungsstreben der Masse aber muß von selbst zur Entwicklung einzelner
hervorragender Persönlichkeiten führen, so daß sich hier ein aristokratisches Gefühl
des Vorranges bildet, das als „Führerrecht" auch innerhalb demokratischer Ge¬
sinnung statt des unhaltbaren Gedankens der Gleichheit mehr und mehr zur An¬
erkennung gekommen ist.
Daraus ergibt sich nun aber eine unbeweisbare Forderung an unsere Schule,
die höhere wie die Volksschule. Sie hat unter dem Einfluß der Kantischen Ethik,
die letzthin nur schlichte Pflichterfüllung, aber keine sittlich hervorragende Leistung
kennt, über den Bemühungen um einen möglichst hohen Durchschnitt die Entwicklung
außergewöhnlicher Begabungen und damit die Ausbildung führender Persönlich¬
keiten vernachlässigt. Wir wünschen beileibe keine künstliche Züchtung des Ehr¬
geizes, wie sie in den französischen Schulen vielfach üblich ist. Aber daß bei
unserem Unterrichtsverfahren den größten Gewinn die Mittelmäßigkeit hat und
wirkliche Begabung nicht hinreichend gefördert wird, ist von Schulmännern selbst
anerkannt worden. Da bedeutende Anlagen meist einseitig sind, so sieht sich der
befähigte Schüler durch seine Gesamtleistung in der Klasse oft hinter den sehr
mittelmäßigen Geist zurückgesetzt. Auch weist es auf einen schwachen Punkt in
unserem Schulerziehungssystem hin, daß außergewöhnliche Leistungen einzelner
Schüler im Urteil der Klasse nicht hoch bewertet werden, sondern der Höherstrebende
unverdienterweise leicht in den häßlichen Ruf des „Strebers" kommt. Hier
Wandel zu schaffen, bedarf es der taktvollen Einwirkung der Schulerzieher, vor
allem aber auch größerer Freiheit im Unterrichtsbeiriebe. Denn nur wenn man
der Betätigung des einzelnen Schülers weiteren Spielraum gewährt, wird sich
Eigenart und besondere Begabung entwickeln können. Die Höhe des Durchschnitts
kann doch niemals den Mangel führender Geister ersetzen. Wie oft haben wir
das in der jüngsten Vergangenheit empfundenI
„Laßt deutsche Kinder zu Tode hungern
— um der Gerechtigkeit willen!" Wenn
irgend etwas die neutrale Welt von ihrem
weitverbreiteten Wahn geheilt hat, daß die
Entente den Krieg wirklich für die hohen
und idealen Ziele geführt habe, die sie vier
Jcihre lang mit Erfolg als Aushängeschild
benutzt hat, so hat neben dem Friedensvertrag
selbst (der selbst die verbissensten Ideologen,
in Deutschland wie in neutralen Ländern,
bekehrt zu haben scheint) die Fortführung
der Blockade über den Abschluß des Waffen¬
stillstandes hinaus den Menschen die Augen
geöffnet, Englands Kriegführung gegen die
Magen und Nerven der Zivilbevölkerung
Mitteleuropas war schon im Kriege eine
völkerrechtliche Ungeheuerlichkeit, die in neu¬
tralen Ländern viel böses Blut gemacht hat.
Man glaubte aber schließlich den täglich fort¬
gesetzten Versicherungen, daß es sich nur um
ein Mittel handle, „dem Recht" und „der
Menschlichkeit" und allem Edlen und Guten
zum Siege zu verhelfen. Nun hat England
den Krieg gewonnen und setzt trotzdem noch
den Blockadekrieg gegen die verhungernde
Zivilbevölkerung aus keinem anderen Motiv
als aus gemeiner Rachsucht fort. Da bäumt
sich auch bei den Neutralen, die bisher zu
dieser Scheußlichkeit schwiegen, das mensch¬
liche Empfinden auf, und man erkennt ohne
weiteres aus den neutralen Pressestimmen,
daß Englands moralisches Ansehen seit dem
11- November einen gewaltigen und kaum
wieder gut zu machenden Abbruch erlitten hat.
Die furchtbaren Folgen der Hunger¬
blockade sind heute allenthalben feststehend.
Man weiß da draußen, daß ihr 800 000
Menschen, rund der achtzigste Teil der Be¬
völkerung Deutschlands, schon Anfang 1919
ZUM Opfer gefallen waren, daß diese Zahl
seither noch gewaltig gestiegen ist und daß
sie auch die verhängnisvollsten Folgen ge-
Sntigt hat, die ein Engländer selbst, H. I.
Greenwall, nach fünfmonatlichen persönlichen
Aufenthalt in Deutschland, im „Daily
Expreß» vom S. Mai 1919 folgendermaßen
beschrieb:
»Ich stellte genaue Nachforschungen über
die Geburtsziffern in den ärmeren Klassen
Berlins an und meine Angaben beruhen
auf Wahrheit. 70 Prozent der schwangeren
Frauen sind unterernährt, und wenn sie
in Hospitäler gebracht werden, sind sie in
halbverhungertem Zustand. Infolge ihrer
häuslichen Verhältnisse ist es ihnen oft
unmöglich, selbst die geringste Ration zu
ergattern, die ihnen gewährt wird, und
haben sie die nötige Zeit, so stehen sie
stundenlang vor den Läden, ehe sie an
die Reihe kommen. Natürlich stehlen
diese Frauen für ihre Kinder alles, was
sie nur können; selbst Kartnsfelschalen sind
ihnen nicht zu wertlos. Sie haben für
die Neugeborenen keine Kleidungsstücke.
Man sieht die Kleinen in halbe Säcke
gehüllt. 30 Prozent der Frauen sterben
im Wochenbett, 30 Prozent eheliche und
60 Prozent uneheliche Neugeborene sterben.
In Berlin habe ich Dutzende von Kindern
gesehen, die im Alter von zwei Jahren
noch nie Milch gekostet haben. Die vor
dem Kriege geborenen Kinder sehen leid¬
lich aus, die nachher Geborenen aber find
armselige Geschöpfe."
Diese schaurige Schilderung eines eng¬
lischen, also unvoreingenommenen Augen¬
zeugen hat in England offenbar tiefen Ein¬
druck gemacht, selbstverständlich nicht bei der
Lloyd Georgeschen Regierung, die die
Blockade unverändert weiter bestehen läßt
und sogar ihre äußerste Verschärfung an¬
kündigt, wenn die deutschen Friedensunter¬
händler dem Gebot der Ehre folgen und
nicht unterzeichnen sollten. Aber im eng¬
lischen Volk mehren sich die Stimmen, daß
der Krieg gegen Frauen und Kinder ein
Fleck auf der britischen Ehre und eine
Schmach unseres Jahrhunderts sei. Folgende
englische Presseäußerungen seien als be¬
sonders charakteristisch hervorgehoben:
„Ein Plakat, das in 7000 Exemplaren
gedruckt worden war, trägt die Über¬
schrift: .Wofür tritt England jetzt ein?'
Darunter heißt eS: „Dafür, daß Säug¬
linge hungern, Frauen gequält und Greise
getötet werden. Solche Dinge geschehen
heute in Englands Namen überall in
Europa. Millionen sterben Hungers. Soll
das so weiter gehen."(Times,16.Mai1919.)
„Was versieht Britannien? Kinder ver¬
hungern lassen, Frauen foltern, alte
Menschen tötenI" Dieser der Zensur
nicht vorgelegte Wortlaut solcher durch
„National Labour Preß" verbreiteten Pla¬
kate und Flugblätter brachte der Zeitung
in der Gerichtsverhandlung im Manfion
House am, 15. Mai 1919 eine Geldstrafe
von 80 Pfund ein". (Daily Expreß, 16. Mai.)
„Die kaltherzige Blockade mit dem end¬
losen Sterben Unschuldiger." (Nation
sLondoi^, 10. Mai).
„Das englische Volk ist durch das Getöse
betäubt. Nirgends wird ihm gesagt, daß
Wir die Zusagen des Waffenstillstandes
brechen, der auf Grund der vierzehn Punkte
angenommen wurde; daß wir dadurch
unsere Ehre ebenso schwer gefährden, wie
unsere ganze Stellung in den Augen
sämtlicher Neutralen und aller rechtlich
denkender Menschen geschädigt wird."
(Daily Herald, 15. Mai.)
„Jetzt, wo das Verbrechen und der
kolossale Fehler der Aufrechterhaltung der
Blockade gegen Deutschland seit dem
Waffenstillstand anerkannt wird, beginnt
der Prozeß der Selbstreinigung von Schuld.
Der dabei gemachte Versuch, die Schuld
auf die Bereinigten Staaten abzuwälzen,
wird sicher als das böswilligste Verbrechen
in der Erinnerung haften, das auf Zivili¬
sation Anspruch machende Völker je be¬
gangen haben. Es bleibt Tntsache, daß
Hoover (der amerikanische Ernährungs¬
minister) gleich nach Abschluß des Waffen¬
stillstands erklärte, die Ernährung Europas
sei eine dringende Notwendigkeit, gleich¬
viel ob es sich um Feind oder Freund
handle. Wilson, durch dessen Vermittlung
und auf Grund von dessen Punkten
der Waffenstillstand abgeschlossen wurde,
hatte sich dafür verbürgt, daß Deutschland
die nötigen Lebensmittel bekommen solle.
Der Verband verhinderte jedoch Woche
auf Woche die Ernährung Deutschlands.
Die englischen Behörden unterdrückten
den wesentlichen Teil von Hoovers ur¬
sprünglichen Äußerungen . . . Der Ur¬
sprung der Verhinderung der rechtzeitigen
Lieferung muß in Europa, nicht in den
Vereinigten Staaten gesucht werden."
(Nation fLondon). 22. März.)
Wenn schon in England, das sonst
anderen Völkern gegenüber nicht eben leicht
von Gewissensskrupeln und Gemütsauf¬
wallungen belastet wird, so entrüstete Urteile
über die Unmenschlichkeit der fortgesetzten
Blockade erklingen, so kann man sich nicht
Wundern, daß in neutralen Ländern die
Kritik z. T. noch wesentlich schärfer erklingt
Zumal in Skandinavien hat England sich
durch die fortgesetzte Blockade und die wahn¬
witzigen Friedensbedingungen einen sehr
großen Teil der Sympathien, die es im
Kriege, vornehmlich in Norwegen besaß,
gründlich verscherzt. Heut hört man in
Schweden und Norwegen manche einstige
Ententefreunde versichern, daß sie sich ihrer
bisherigen Sympathien für England und
Frankreich zu schämen beginnen. Zweifellos
das vernichtendste Urteil hat der Norweger
Herman Aali schon am 28. März in dem in
Christiania erscheinenden Blatt „Ulcus Revy"
ausgesprochen:
„Lloyd George erklärt: Wir können die
Blockade nicht aufheben, wir können auf
dies Mittel nicht verzichten, wenn wir der
Welt einen gerechten Frieden sichern
wollen. Das ist nicht wahr, -Herr Lloyd
George I Sie selber haben am 14. De¬
zember 1917 (unrichtig; muß heißen: 1916)
die Aufforderung der Mittelmächte, des
Papstes und der Neutralen, einen gerechten
Frieden zu schließen, abgelehnt . . . Sie
haben abgelehnt, weil England die Macht
anstelle des Rechts setzen wollte... Deshalb
waren sie genötigt, die Bitte der Mensch¬
heit um Frieden abzuschlagen. Deshalb
noch weiteres Blutvergießen I Deshalb
beschlossen Sie, daß noch einige weitere
Millionen sterben müßten. Deshalb müssen
Sie das deutsche Volk noch weiter auf die
Folterbank spannen, bis es unter dem
Druck der Hungersnot alles annimmt.
Die englischen Herren haben eine lange
und nützliche Erfahrung in dieser Aus¬
hungerungspolitik von Irland, Indien und
den Burenrepubliken her, ja, vom eng¬
lischen Proletariat selbst her. Sie Wissen-
wer lange genug gehungert hat, wird
ungefährlich . . . Man darf aber nicht
einmal einen Verbrecher zu Tode hungern;
noch weniger darf man die Kinder, Frauen
und Eltern des Verbrechers bestrafen.
Wenn wir Ihre eigenen Kinder, Herr Lloyd
George, Ihre Frau oder Ihre Eltern für
Ihre Verbrechen verhungern ließen ^
wäre das gerecht? Welch milder Büttel
war gegen Sie nicht HerodesI Er
glaubte das römische .Reich durch den
Kindermord von Bethlehem zu sichern und
tötete vielleicht 800 Kinder. So viele
morden Sie seit Jahren Tag für TagI
Und die Kinder von Bethlehem starben
wenigstens einen schnellen Tod; aber Sie
lassen die deutschen Kinder langsam Hun¬
gers sterben . . . .Laßt deutsche Kinder
zu Tode hungern — um der Ge-
rechtigkeit willen', das möge Ihr
Kennwort in der Geschichte sein!"
Diese furchtbare Anklage von geradezu
zermalmender Wucht, die hier ein Neutraler
gegen den englischen Premierminister erhebt,
ist einige Wochen später im gleichen nor¬
wegischen Blatt noch näher begründet wor¬
den, anscheinend Wohl von demselben Ver¬
fasser, und zwar unter Bezugnahme auf eine
besonders gemütsrohe Auslassung eines eng¬
lischen Wochenblattes aus den letzten Wochen
des Krieges. „Weekly Dispatch" hatte näm¬
lich am 8. September 1918 ohne ein Wort
des Protestes oder Mitgefühls folgende Wir¬
kungen der Blockade festgestellt:
„Wenn die Deutschen bisher keinen Ge¬
burtenrückgang feststellen können <,??), so
kommt es uns auch nicht darauf an, wie¬
viele Kinder geboren werden, sondern
darauf, ob die Geborenen lebenskräftig
find. Zehntausende noch ungeborener
Deutscher sind für ein Physisch minder¬
wertiges Leben vorherbestimmt ... Die
Seuche, die man bei den Deutschen am
häufigsten antrifft, Wird die englische
Krankheit sein ... Die tatsächlichen Fol¬
gen der Blockade wird die verbrecherische
deutsche Nation erst in Zukunft erfahren.
Deutschland ist heut ein verseuchtes Land.
Die Tuberkulose tritt epidemisch auf. Der
Hungertyphus rast in zahlreichen Gegen¬
den. Hautkrankheiten nehmen dauernd
M. Der Mangel an Milch har furchtbare
Zustände unter jungen Müttern, Kindern
und Kranken hervorgerufen."
Auf den grauenhaften Doppelsinn, den
der Ausdruck „Englische Krankheit" in Zu¬
kunft haben wird, sei im Anschluß an diese
Darlegungen am Rande hingewiesen. Das
norwegische Blatt „Ulcus Revy" schrieb nun am
2. Mai unter Zitierung der obigen Äußerun¬
gen im „Weekly Dispatch":
„Man benagt also nicht, daß die völker¬
rechtswidrige Waffe der Hungerblockade
unvermeidlich auch die Kinder treffen muß.
Im Gegenteil, man stellt mit Genugtuung
fest, daß die Kinder besonders hart be-
ti«sser werden, und nicht nur die leben¬
den Kinder, sondern auch die noch unge¬
borenen im Mutterleib und die in den
nächsten Jahren zur Welt kommenden.
Die Rasse wird verkrüppelt: sie hat als
Konkurrent ausgespielt. Da es bei Kriegs¬
ende, zwei Monate nach dem Erscheinen
dieses Artikels im .Weekly Dispatch' noch
zweifelhaft war, ob die Blockade ihren
eigentlichen Zweck erreicht hatte, setzte man
sie auf unbestimmte Zeit fort, bis man
seiner Sache sicher sein konnte und hungerte
das waffenlose Volk noch ein halbes Jahr
aus."
Lediglich der Hungerblockade, neben der
amerikanischen Hilfe seit 19l4, dankt Eng¬
land, daß es den Krieg der 1100 gegen
150 Millionen nicht verloren hat. Ob dies
ein Ruhm für die britische Nation ist, glossiert
„Ulcus Revy" im selben Aussatz folgender¬
maßen:
„Kein strahlender Sieg — ein Sieg,
dessen man sich hinterher schämen nutz,
nicht einmal so strahlend wie der Sieg
der Russen über Napoleon, als ihnen der
.Marschall Winter' zu Hilfe kam, ein
Sieg, gewonnen durch den gröbsten Bruch
des Völkerrechts, durch Verletzung nicht
nur des Buchstabens, sondern vor allem
des Geistes des Völkerrechts, dessen Haupt¬
aufgabe darin besteht, die Interessen, zu¬
mal das Leben der Nichtkämpfer zu
schützen. Hier aber besiegte man die
Kämpfenden, indem man den Nicht-
kämpfern das Leben raubte. ... Während
der deutsche U-Boot-Krieg nur ein kriegs¬
politischer Gegenzug gegen die Hunger-
blockade war, verfolgte England mit der
Hungerblockade viel weitergehende Ziele:
es galt nicht nur den Krieg zu gewinnen,
die Hungerblockade konnte auch dazu
dienen, die deutsche Rosse auf unabsehbare
Zukunft hinaus zu verkrüppeln/'
Ähnlich äußerte sich ein schwedisches Blan,
„Nya Dagligt Allehanda", am 16. Mai über
die Blockade:
„Dank dieser Methode sind Hundert¬
tausende von Menschen Hungers gestorben
oder an den Folgekrankheiten des Hungers
zugrunde gegangen. Aber das Ziel wurde
erreicht: ein höchst unbequenier Konkurrent
und verhaßter Feind wurde vernichtet.
Sogar nach der Vernichtung des Feindes
und nachdem der Krieg schon völlig ent¬
schieden war, ist die menschenmordende
Blockade noch mehrere Monate fortgesetzt
worden."
Und eine schweizerische Zeitung: „Die
Ostschweiz" schrieb am 14. Mui:
Wand der heutigen Geschichte. . . . Ein
solches Bild hat auch Dantes gewaltige
Phantasie nicht auszuhecken vermocht, daß
ein ganzes Volk unschuldig kläglich ver¬
derben soll. Wie mag Nero sich schämen
ob seiner Stümperarbeitl"
Das etwa ist heute der Grundton in den
neutralen Kritiken über die Fortdauer der
Blockadcpolitik über den 11. November hin¬
aus. Im Kriege hatte England durch seine
tägliche Betonung, daß es für Recht und
Menschlichkeit uneigennützig Streite, die Sym¬
pathie des weitaus größten (wenn auch nicht
verständigsten) Teils der neutralen Welt auf
seiner Seite. Durch die bis heute fortgesetzte
Blockade und durch den Versailler Friedens-
entwurf vom 7. Mai sind die Dunstwolken
der Suggestion verflogen, ist der Krieg
schließlich doch noch idus steht man heute
auch in England ein) durch das „größte Ver¬
brechen der Weltgeschichte" (englisches Urteill)
moralisch von England verloren worden. — —
„Erschütternd erhebt sich wieder das
gräßliche Bild Ngolinos von der schwarzen
Aus der Flut von Büchern,
welche jahraus jahrein gedruckt werden und welche eine Generation der anderen
überliefert, ragen wie Inseln aus einem Meere wenige Bücher hervor, welche
auch noch nach Jahrhunderten unvergessen sind. Die meisten dieser unsterblichen
Bücher sind Segensbringer der Menschheit gewesen. Was an fluchwürdigen
Büchern und Pasquillen geschrieben worden ist, ist meist rasch der wohlverdienten
Vergessenheit anheimgefallen. Die deutsche Literatur kannte bisher nur ein
berüchtigtes unvergessenes Buch, das ist der „MüIsuL nmlikicorum", auf deutsch:
der Hexenhammer. Nun wird künftig für alle Zeiten, solange deutsche Zunge
redet, ein zweites fluchwürdiges Buch genannt werden: das sind die Friedens¬
bedingungen, welche die Entente gewagt hat, dem deutschen Volke zur Annahme
vorzulegen.
Man darf wohl zuversichtlich hoffen^ das; diese Bedingungen nie angenommen,
dasz sie nie Gesetz des deutschen Lebens werden werden. Aber daß sie in Deutschland
möglichst weit verbreitst und bekannt werden, der jetzigen Zeit zum Protest, künftigen
Zeiten zu Lehre und Mahnung und notfalls zur Vergeltung, das ist eine dringende
Forderung nationalen Empfindens. Es sei deshalb hier auf die im Verlage
von Reimar Hobbing erschienene vollständige Ausgabe der Friedens¬
bedingungen (Preis 3,20 Mark) hingewiesen. Dies Buch, dem eine wertvolle
politische Einleitung — leider von einem ungenannten Verfasser — vorausgeschickt
ist, und dem als geschicktes Gegenbild die 14 Wilsonschen Punkte und die
wichtigsten Leitsätze aus seinen markantesten Reden beigefügt sind, hat einen
Umfang von 254 Seiten. Wer es aufmerksam liest, wird aus dem Zusammen¬
hange der einzelnen Abschnitte und aus ihrem Ineinandergreifen noch einen viel
erschreckenderen Begriff von dem Erdrückenden dieser Friedensbestimmungen
bekommen, als es uns die Zeitungsberichte gegeben haben.
Als Trost aber möchte ich diesen Friedensbedingungen der Entente ein
Wort Mommsens entgegensetzen, welches er an die Niederlage der Römer in den
kaudinischen Pässen und an den kaudinischen Frieden anknüpft:
„Kein großes Volk gibt, was es besitzt, anders hin als unter dem Drucke
der äußersten Notwendigkeit; alle Abtretungsverträge sind Anerkenntnisse einer
solchen, nicht sittliche Verpflichtungen. Wenn jede Nation mit Recht ihre Ehre
darein setzt, schimpfliche Verträge mit Waffen zu zerreißen, wie kann ihr dann
die Ehre gebieten, ein einem Vertrage gleich dem kaudinischen, zu dem ein
unglücklicher Feldherr moralisch genötigt worden ist, geduldig festzuhalten, wenn
die frische Schande brennt und die Kraft ungebrochen dasteht?"
Wenn das vorliegende Buch vor beinahe einem Menschenalter zum ersten
Mal niedergeschrieben wurde und nunmehr in fünfter Auflage erscheint, so ist
damit das starke Verlangen weiter Volkskreise nach einer vertieften Betrachtung
der deutschen Muttersprache erwiesen, denn was Kluge hier bietet ist jedem
Gebildeten zugänglich. Kluge schildert den Kampf der Kirchensprache gegen die
Volkssprache im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit, bis Luther durch den
Bruch mit der Kirche die Herrschaft des Lateins überwandt und der Muttersprache
für ihre fernere Entwicklung den Boden bereitete. Hand in Hand mit der Ver¬
breitung der neuen Lehre geht die deutschsprachliche Bewegung. Jakob Grimms
Kennzeichnung unserer Schriftsprache als „protestantischer Dialekt" begründet
Kluge mit umfassenden Beweisen. Mit Luther beginnt unsere neue Sprach¬
geschichte. Unsere jetzige Schriftsprache ist im wesentlichen die Sprache des
Reformators. Er hat auch den sprachlichen Ausdruck unablässig und mit feinem
Verständnis gepflegt, wofür Kluge zahlreiche Beispiele anführt. Es ist zweckmäßig,
gerade jetzt, da man die durch das Leben der Kirche bedingten kulturellen
Zusammenhänge zu übersehen bereit ist, an diese Dinge zu erinnern.
Die Schwierigkeiten, die unsere Schriftsprache durch die mundartliche Zerrissen¬
heit Deutschlands zu überwinden hatte, schildert Kluge ebenfalls in fesselnder
Keise, wobei sowohl der Freund, als auch der Jünger der Sprachforschung zu
seinem Rechte kommt. Wenn unsere Schriftsprache an Luther anknüpft, so ist sie
doch erst mit unserer klassischen Literatur auch für Obirdeutschland und die
katholischen Kreise zur Richtschnur und zum Gesetz geworden. Die Befreiung des
deutschen Volkes von der Herrschaft der Fremdsprachen, sowohl des Lateinischen
als auch des Französischen, wird erst durch die deutsche Dichtung im Zeitalter
Goethes erreicht. Es ist daher mit. Freude zu begrüßen, daß Kluge die neue
Auflage mit zwei prächtigen Aufsätzen abschließt, die Goethe und Schiller
in ihrem Verhältnis zur deutschen Sprache behandeln. Hierdurch erhält das
Buch die letzte Weihe. sein Titel ist wegen dieser Nachträge nicht geändert
worden und es ist somit seinen alten Freunden ohne weiteres kenntlich. Den¬
jenigen, die es noch nicht zur Hand nahmen, sei gesagt, daß die warme Begeisterung
für den Gegenstand und seine meisterhafte Beherrschung der Darstellung eine
wunderbare Frische und Anschaulichkeit verleihen, so daß der Leser neben eines
Als Savonarola im Dom zu Florenz seine gewissenaufgeißelnden Predigten
hielt, trieb es die munteren Weltleute und fröhlich-leichtsinnigen Künstler seiner
Stadt, aus all den schönen und heiteren Dingen, die ihr Leben bis dahin zu
einem anmutigen Genutz, einem naiven Sonnendasein gemacht hatten, eine ge¬
waltige Pyramide aufzuhäufen, und alles, Lauten und Bilder, Sonette und
Sialuen, Prunkgewänder und edles Geräte, alles was Heiterkeit erdacht und
Schönsinn geformt hatte, erbarmungslos zu verbrennen, weil es nicht taugte
zum „wahren" Leben und abzog den Sinn von dem. was das wahre Leben war.
Solch ein Autodafö ist auch das neue Buch von Wassermann. Seine Keimzelle,
sein Grunderlebnis ist die gewissensbang gestellte Früge: wie kann so viel Genutz
und Genufzfreudigkeit in der Welt sein neben so vielem abgrundtiefem Elend?
Christian Wahnschaffe lebt das schönheitserfüllte, mühsalentladene, staubenthobene
Leben des ..reichen Jünglings", ein schönes edles Tier, gedankenlos, ohne Ziel
und zweckgl'löst. bis er infolge verschiedener Erlebnisse dieses menschlich teils- und
lcidfernen Lebens überdrüssig wird und, biblisch ausgedrückt, „hingeht und alles,
verkauft, was er halte". Also eine seelische Entwicklung, wie wir sie aus den
großen Tolstoischen Romanen kennen. Aber Tolstoi war ein Mensch, Wassermann ist
nur ein Poet. Tolstoi glaubte an die Erlösung durch die werktägliche Tat,
Wassermann hat auch für diese nur leidvolle Skepsis, seinem Helden ist es vorder¬
hand nur ums „Wissen" zu tun und um Erkenntnis dessen, was das Leben sei.
Die Schwierigkeit für den Reichen, an dieses Leben überhaupt heranzukommen,
ist sehr richtig erkannt worden, das Ergebnis dieser Erkenntnis unterschlägt uns
jedoch der Dichter, er gibt uns lediglich eine Welt von Menschen, deren Schicksal
ihr Charakter ist. Kein Sinn des Lebens sonst und es sieht aus. als sei dieser
Roman mit dem Herzblut des Dichters geschrieben und als sei Christian Wahn¬
schaffe der suchende Dichter selber. Künstlerisch hat das Werk leider bedenkliche
Mängel. Wohl sind die Gestalten, die in reichster Fülle den Helden als Follen
umstehen, die leichtsinnigen und leidenschaftlichen, leidenden und zynischen, die
Elenden und Glücklichen, Genützlinge und Eroberer, Künstler und Verbrecher,
Emporkömmlinge und Entartete, unter einer Sonne^erschaffen, aber sie sind mit
verschiedenen Mitteln gestaltet. Wassermann hat hier alle Seiten seiner reich¬
begabten Künstlerschaft angewandt, aber er hat sie bei den einzelnen Figuren
isoliert angewandt. An der einen hat der typisierende Fabulierer gearbeitet, an
der anderen der sorgfältig feilende Anekdotiker, hier der notizenreihende Naturalist,
dort der analysierende Psychologe und an vielen Stellen der schwermütige Lyriker,
es ist, als wollte jemand in ein Fresko mit Ol und Pastell hineinmalen und
Plastiker und Wandteppiche einfügen. Daher mag es kommen, datz auch der
Aufbau des Werkes nur oberflächlichen Zusammenhalt hat, und im einzelnen
neben vielem Wunderschönen, tief Empfundenen, sinnlich Erdachten und anmutig
Gestalteten, viel Flüchtiges, Komödiantenhaftes, Phrasenhaft-Geschwollenes stehen¬
geblieben ist. Dennoch steht das Buch mit Recht in der Sammlung „Der grotze
Roman", denn für die Zeit ist es überaus bedeutsam. Alle Tendenzen des Zeit¬
alters sind darin, seine Hast und seine Spielerei, seine Genutzsucht und sein
Egoismus, seine Sensationslust und seine Müdigkeit, seine Leidenschaftlichkeit und
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rückseirdung
nicht verbürgt werden kann.
n dein Augenblick, wo Deutschlands Schicksal von finsterster Nacht
.des Unheils umgeben ist, sprechen die zu uns. „die das Unheil
j nicht abzuwenden vermochten". Alle Gedanken tauchen noch einmal
auf, die wir Jahre lang mit uns herumgewälzt haben, und die
! uns, solange wir leben, beschäftigen werden."
Die ungeheure Frage, „warum mutzte es so kommen? kann
keinen dniienden Deutschen — sie kann auch keinen denkenden Europäer in Ruhe
lassen, wenn anders aus dem Trümmerhaufen, vor dein wir jetzt stehen, etwas
neues, el--e Hoffnung erwachsen soll. Und wir müssen diese Hoffnung haben,
sollen wir nicht für immer an Gott und der Welt verzweifeln.
Nur eines vermag den Menschen wie die Nation im größten Unglück wirklich
zu trösten und ihnen die Möglichkeit seelischer Erneuerung und Heldentums zu
geben, das Bewußtsein trotz allem das N.chic gewollt zu haben. Beihmanns
Betrachtungen verdanken wir, daß wir dieses Gefühl haben können. Auch für
den Verbrecher sieht allerdings die christliche Religion eine Erlösung und Ab¬
solution vor, wenn er vor der gerechten Strafe vor Gott Buße tut. seine Sünden
bekennt und die verdiente Strafe auf sich nimmt. Raskolnikow findet erst dann
Nuhe, als er im sibirischen Zuchthaus sitzt n»d dadurch, daß er sich vor Gott
und vor Menschen demütigt, vor aller Welt bekennt, daß seine Gedanken, die
abseits von dem der Menschheitsstruktur zugrundeliegenden göttlichen Gesetz einen
neuen Weg für sich zu finden vermaßen und seine Handlungen größte Sünde und
größtes Unrecht vor Gott waren.
In dieser Nastolnikowpose wünschen unsere Feinde das deutsche Volk zu
sehen — nicht weil eigene hohe christliche Mensckheiiswürde im heiligen Gottes¬
tempel nur den sich demütigender Bruder ertragen kann, sondern weil man das
unmenschliche Verhalten gegenüber dem geschlagenen Feinde vor den eigenen
Völkern nur rechtfertigen kann, wenn man' diesen Feind durch eigenes Bekenntnis
als Frevler wider Gott und die Menschheit eischeinen läßt.
Dostojewskis großer Roman hat uns neben Raskolnikow auch Menschen
gezeigt, die Schuld und Tat bekennen, ohne diese Tat selbst begangen zu haben.
Sie können die Gewissensfoltern, denen ihre christlichen Mitpeinigsr sie unter¬
werfen, nickt mehr ertragen, sie wollen lieber hingehen und allem ein Ende
machen, fremde Schuld auf sich nehmen und, wenn es sein muß, für andere
büßen, für andere ihr L.den verlieren oder in den sibuischen Bergwerken
schmachten — denn schuldig sind wir alle, schuldig am, Verbrechen des Nächsten,
jeder, der die unvollkommene soziale Ordnung mitverschuldet, die schließlich das
Verbrechen unseres Nächsten hervorruft.
Solcher Gedankengang ist tief im ostchristlichen religiösen Empfinden
begründet. Er ist als Flucht aus der unendlichen seelischen Qual in die körper¬
liche und seelische Ruhe der für andere übernommenen Strafe verständlich, oder
psychologisch einfacher erklärlich aus den schwachen Nerven des zu Unrecht Beschul¬
digten, der auf die Dauer den seelischen Anstrengungen der Untersuchungshaft
und der Quälereien seines Peinigers, des Untersuchungsrichters, nicht gewachsen ist.
Trotzdem billigt ihn der große slawische Dichter auch nicht für den Einzelmenschen.
Deutschlands Seele befindet sich in einem ähnlichen Zustande. Wir sind
durch die geistigen und körperlichen Anstrengungen der Kriegsjahre und der
Hungerblockade „bis zum äußersten erschöpft. Die Niederlage, die plötzlich die
Nation ohne Übergang aus der Höhe in die Tiefe riß — die Revolution, die
uns die letzte Waffe aus der Hand schlug, der Waffenstillstand, den ein der letzten
Grausamkeit fähiger Feind benutzte, um die in seiner Gewalt befindlichen Gebt te
dem Reiche zu entfremden und Hunderttausende unserer Kinder unter der Devise:
„iev/er ullis iiuns" zugrunde zu richten und unsere Kriegsgefangenen weiter
schmachten zu lassen, die Friedenstragödie in Verssillcs, wo die deutschen Dele¬
gierten als gefangene Bestien behandelt und mit Steinen beworfen wurden, die
Quertreibereien gewisser politischer Parteien, ideologischer Schwärmer und berufs¬
mäßiger Krittler, welche vorgaben oder glaubten, durch ein „offenes Schuldbekenntnis"
eine Milderung der unfaßbar harten Bedingungen des uns zugedachten Friedens zu
erhalten, — alles das hat uns beinahe dahin gebracht, wo sich der Anstreicher bei
Dostojewski befand, der Raskolnikows Schuld öffentlich als die seine bekannte.
Jedenfalls haben unsere Feinde es erreicht, daß ein großer Teil unseres
eigenen Volkes in der Schuldfrage „skeptisch" geworden ist, wie neulich noch die
„Frankfurter Zeitung" sich ausdrückte — und Skepsis ist nicht der Boden, auf
dem Erhebung und nette Hoffnung gedeihen kann. /
Die alten Griechen, die ein großes Gefühl für das hatten, was die Seelen
der Menschen erschüttert, haben in ihren großen Tragödien über die Schuld des
Menschen das ungeheure tragische Walten des unerbittlichen Schicksals gestellt.
Auch unsere großen Dichter und Philosophen haben es ausgesprochen, daß jeder
Mensch schließlich mit eiserner Notwendigkeit den Weg zu vollenden hat, den er
angetreten hat. — So auch die Nationen.
Es heißt einen zu kleinen Maßstab an die gewaltigen Geschicke der Mensch¬
heit legen, wenn man sich 'einbildet, daß dnrch das zu späte Absender einer Note
der Gang dieser Weltrevolution, die kommen mußte, hätte beeinflußt oder anders
gestaltet werden können.
Tragisch wie sein Ausgang, ist auch der Ursprung dieses Krieges. Eben¬
sowenig wie ein etwaiges Unterschreiben dieses Schmachfriedeus, den uns die
Entente anbietet, die gewaltige Umentwicklung der Welt, in der wir uns augen¬
blicklich befinden, zur Ruhe bringen kaun, ebensowenig ist es von ausschlaggebender
Bedeutung, aus dem Notenwechsel der in das tragische Verhängnis bereits hinein¬
gezwungenen Regierungen der Großmächte die „Schuld" dieses oder jenes Staats¬
mannes konstruieren zu wollen.
Es gibt, wie Bethmann Hollweg dies im Schlußkapitel des ersten Bandes
seiner Betrachtungen') uns zeigt, eine Gesamtschuld aller am Kriege beteiligten
Nationen. Diese Gesamtschuld besteht in dem Wahn, mit den Mitteln der alten
Staatdkunst „die Verwirklichung eigenen Machtbegehreus durch Koalitionen und
Rüstungen zu sichern", um der Menschheitsaufgab!: der Politik gerecht zu werden.
Diese Menschheitsaufgaben der Politik hat vor dem Kriege kein einziges
Volk, kein einziger Staatslenker verstanden — sie wurden nicht einmal als be¬
stehend, als vorhanden anerkannt — man fühlte es, griff es, konnte es erjagen;
daß die Politik der Macht, der Koalitionen, Gegenkoalilionen zu der großen
Katastrophe führen mußte — aber es erschien kein geistiger Führer der durch
Kapitalismus, Jndustrialismus, Materialismus verdorbenen und sich unglücklich
fühlenden Menschheit, der fähig und groß genug gewesen wäre, um den Völkern
einen Ausweg aus dem Engpaß zu zeigen, in dem sie sich befanden.- Klinger
hat einmal dieses Schicksal klargestellt, als großes gewaltiges Raubtier, das am
Ende zweier ungeheuer steil in die Höhe starrenden Felswände hart und not¬
wendig die zwischen diesen Wänden Eingeklemmten erwartet.
So mag Bethmann, als er seine Regierung übernahm, den Alp der Lage
bisweilen erfunden haben, in dem das Land sich befand. Er ist keiner von den
Staatsmännern gewesen, die wie Vülow durch eine Politik des Opportunismus
und der politischen kleinen Mittel sich selbst über den Ernst der Lage getäuscht
hätte, in der sich Deutschland befand. Bethmann war ein Mann, der Tag und
Nacht mit dem Schicksal rang — der wirklich grosse politische Gedanken halte und
sie auch auszuführen suchte. Er sagt es einmal in seinem Buche, daß niemandem
so wie ihm „die Gefahr des Landes auf Herz und Seele lag". Man braucht
solche Worte nur zu lesen, um den tiefen sittlichen Ernst zu erkennen, von dem
ihr Urheber erfüllt war.
Er hat versucht und ist dabei vom Kaiser unterstützt worden, durch eine
Verständigung mit England der drohenden Weltlage diejenige Schärfe zu nehmen,
die zum Kriege führen mußte. Mit aller Energie arbeitete er an dem Gedanken,
der schließlich, trotzdem er zeitweise eine Entspannung der Lage brachte, doch im
ganzen nicht ausgeführt werden konnte. Bethmann glaubte an seine Mission, den
Frieden der Welt auf diese Weise zu sichern, er gesteht auch jetzt noch dem Gegner
guten Willen zu — aber bei seiner Abschätzung der Weltlage schon während der
Zeit der Unterhandlungen mit England ist der tragische Unterton seiner Gedanken
unverkennbar. „Es verschlangen sich von Anfang an in den Wunsch nach An¬
näherung doch zugleich von beiden Seiten Fäden, die schwer zu entwirren waren."
Bethman Hollweg erkennt, daß er so wenig wie die englischen Staatsmänner
der Mann gewesen ist/ die erlösende Tat für die Menschheit zu tun. „Der Zu¬
sammenhang ist wohl der, daß die Staatskunst in beiden Ländern nicht stark
genug oder nicht willens war, die Welt durch eine große Tat vor einem Schicksal
zu bewahren, das als gewaltiges Unwetter sichtbar am Himmel stand."
Das eben war die Tragik im Leben der beiden Völker, daß die großen
neuen Wcltideen, ivie sie jetzt am Horizont der Menschheit schwach erscheinen,
weder gekannt noch durchdacht noch gar zum Gemeingut der Nation geworden
waren. Woher hätte ein einzelner Mann die Kraft schöpfen sollen, um gegen
sein Volk, gegen alle überlieferten Macht- und Staatsbegriffe den Ausweg und
Ausgleich zu finden? Jede Nation suchte ihre Weltgeltung, ihren Anspruch auf
die Aufrechterhaltung ihres Imperiums bis zum äußersten zu verteidigen. Da
alle mächtig und blühend und groß waren und anderseits die beiden Gruppen,
die zum Teil durch alte Gegensätze (Elsaß) und neue Begierden (Rußlands An¬
spruch auf Konstantinopel, serbische Gelüste auf österreich - ungarische Gebietsteile)
sich gegenüberstanden, so wuchsen die Gegensätze. „Grenzenloses wechselseitiges Mi߬
trauen, imperialistischer Jdeenzwcmg und auf materiellen Nationaliustinkl beschränkier
Patriotismus haben einander gegenseitig in die Höhe geschraubt, ohne daß erkennbar
Wäre, welche Nation der allgemeinen Weltstimmung am lautesten nachgegeben hätte."
Aber eine Überzeugung wird man «us der Lektüre des Bethmann Holl¬
wegscheu Buches mitnehmen, daß dieser Kanzler ebenso wie sein Kaiser reines
Herzens gewesen sind — ebenso wie das deutsche Volk trotz allem in seinen
gefunden Schichten auch heute noch für sich in Anspruch nimmt, das Gute gewollt
SU haben. Daran soll uns kein TaimTcun feindlicher Propaganda, kein würde-
Isser Lärm eigener „Bekenner" irremachen.
Bethmann Hvllweg hat den Frieden gewollt bis zuletzt. Kaiser Wilhelm
Kot alle seine Anstrengungen bis zuletzt diesem Ziele gewidmet. Rußlands
Entschlossenheit, den Krieg zu entfesseln, Frankreichs Geneigtheit den Krieg zu
akzeptieren, Englands Wille, bei einem ausbrechenden Streite dein Kriege nicht
Mu zu bleiben, sondern an die Seite des Z'veibundcs zu treten, machten Deutsch-
lanoS Anstrengungen einer Vermittlung in den: Momente hinfällig, wo die
größte Aussicht dazu vorhanden war, daß sie zum Ziele geführt hätten. Das
zeigt Bethmami Hallweg deutlich. Es blieb nur ein Weg für Deutschland übrig,
der der „Kapitulation" und den wallte der Kanzler nicht beschreiten. Bethmann
Hollweg erscheint uns in diesem Buche, ebenso wie in seinen großen Reichötags-
reden, als ein leidenschaftlicher Mensch, als ein treuer Exponent des Stolzes und der
Überlieferung eines großen Volkes. Der Erfolg ist für einen Staatsmann entscheidend,
der Erfolg hat gegen Bethmann Hollwcg und gegen uns gesprochen. Vethmann
Hollweg wird nicht als großer Staatsmann in der Geschichte weiter fortleben —
aber fragen wir uns heute alle, ob es' das deutsche Volt verwunden hülle, wenn
auf Kosten seiner Weltsicllung und feiner „Ehre' (im al'en imperialistischen Sinne)
damals eine Kapitulation vollzogen worden wäre und damit vielleicht vorüber¬
gehend der Friede erhalten geblieben wäre — ich glaube, wir werden mit „nein"
antworten. Wenn Bethmann in diesem Sinne schuldig ist, so sind wir es alle.
Kapitulation bedeutete Untergang Österreich-Ungarns und Verlust unserer Weltmacht¬
stellung. Wir halten alle sicher nicht ohne Kampf diesen Weg betreten oder wir wären
seelisch gebrochen gewesen. Jetzt sind wir es seelisch und körperlich — und daß wir es
sind, ist das tragische Ergebnis der Wellkonflellcition, aus der es keinen Ausweg gab.
Jeder Dentiche sollte dieses Buch lesen. Ist Vethmann Hollweg auch kein
großer Liaalsmann gewesen, so soll sich trotz allem das deutsche Volk dieses
Mannes stolzer deutscher Eigenart, lautersten Pflichtgefühls, leidenschafilichen und
guten Wollens nicht schämen. Er ist ein echter deutscher Mann. Er packte die
Probleme groß an und kämpfte für seine Überzeugung. Nur eins war ihm
schädlich, die allzu große Erkenntnis der Grenzen seines eigenen Wesens.
Erfolg kann Staatsmännern nur beichieden sein, wenn sie der eigenen
Kraft das höchste zutrauen. Bethmann Hollweg war dazu zu ehrlich gegen sich
selber. Seine eigenen Mängel erkennt und bespricht er offen. Ihm liegt Heuchklei
und die Kunst der diplomatischen Regie fern. Er erkennt das schädliche gewisser
seiner Politik entgegengesetzten Strömungen (vgl, Tirpitz), man spürt aber nicht, daß
er durch Entfaltung seines ganzen Willens das Äußerste getan hätte, um dos ihm
Richtigscheincnde durchzusetzen. Gewiß ist Politik die Kunst des Kompromisses,
es gibt aber Momente im Leben der Völker, wo es besser ist, der Nation die
ganze Wahrheit zö sagen, und sie selbst vor die große Entscheidung zu stellen, als
ein zunächst erträgliches aber auf die Tauer gefährliches Kompromiß zu schließen.
Ich meine damit auch das Bethmann Hollwegsche Verhalten während des Krieges.
Die Bethmann Hollweg'che Regie der öffenilichen Meinung hat gefehlt,
genau wie die Vülowsche. Die Nation war sich nicht klar über die Schicksalslage,
in der sie sich befand. Vielleicht hülle eine solche Klarheit politische Aufregung
und große Schmierigkeiten gebracht — aber die Wahrheit wäre schließlich doch
heilsam und gut gewesen.
Etwas können wir und sollen wir von Bethmann Hvllweg in seinem Buche
lernen: Würde auch im Unglück,
„Wer an dem Glauben festhält, daß die Menschheit, wenn auch in vielleicht
später Zukunft, sich noch eiuwal der ethischen Überzeugungen erinnern wird, die
das Werk von Jahrtausenden sind, der wird summarische und pharisäerhafte
Schuldigsprechung des Gegners ebenso abweisen, wie eigenes unwahres und
würdeloses Schuldbekenntnis."
Diese Mahnung ist berechtigt in einer Zeit, wo die Buben auf der Straße die
Würde der Nation verHandel» und sich selbst bespeie». Jeder Lehrer der Nation, jeder
Führer ist jetzt willkommen, der zur Selbsibennmmg und zum Maßhalten aufruft.
Wrr wollen uns hüten, daß nicht wahr werde, was neulich ein englchtier,
Publizist gesagt hat, daß die deutsche Nation roh war im Siege und würdelos
in der Niederlage.
Wir wollen unseren .Kindern und Enkeln ein fleckenloses Schild überli> fern,
wenn sie uus einst fragen, wie wir in dieser Zeit gefühlt und gehandelt haben.
Dann wird die Tragik unserer Lage auch dereinst von ihnen verstanden
werden und dann werden sie aus dieser Haltung die Kraft zu neuem Leben schöpfen.
or zwanzig Jahren knüpften sich an den Namen Eduard Bernsteins
mancherlei Hoffnungen auf eine Mauserung der Sozialdemokratie.
Denn er war der Vorkämpfer des sogenannten Revisionismus, einer
Richtung, die über Auslegung und Fortbildung der Lehre von Karl
Marx und über das Erfurter Programm etwas anderer Ansicht
war, als die von Kautsku geführte Parteiorthodoxie. Die Revisio¬
nisten wollten stärker die Mitarbeit der Partei am Ausbau des Gegenwarls-
staates betonen, sie glaubten nicht mehr an die Nevvlutiovsromantik und die
schier chiliastischen Hoffnungen auf die zukünftige soziale Republik. Vielleicht
glaubten sie überhaupt nicht mehr, daß diese Republik in Deutschland je kommen
würde. In dieser Beziehung haben sie unrecht behalten, aber von romantischem
Glanz zeigt die Republik keine Spur, und die Sozialdemokratie brauchte heute
weite Arbeiterkreise weniger zu enttäuschen, wenn sie ihre Anhänger schon früher
mehr an Gegenwartspolitik im Sinne der Revisionisten gewöhnt Hütte. Aber
damals auf dem Dresdener Parteitag wurden die Nevisionistei,i „an die Wand
gedrückt", ein Mann wie Bernstein wurde in der Folgezeit in der Partei mannig¬
fach schikaniert; man machte ihm sogar seinen Broterwerb als Schriftsteller nach
Kräften sauer, Heute haben sich die Zeiten gründlich gewandelt: die Sozial¬
demokratie muß praktische Gegenwartsarveit in der schwersten politischen Lage
unseres Reiches leisten, sie muß regieren, darf nicht mehr schimpfen und vertrösten.
Heute sitzen die Führer der Partei in den maßgebenden Reichsstellen', die Not
der Zeit schreibt thuen Gesetze vor, um das Programm können sie sich nicht viel
kümmern. Heute kann auf dem Weimarer Parteitag der Sprecher des Partei¬
vorstandes selber, Otto Wels, ohne Widerspruch zu finden, erklären, man stände
zwar noch auf dem Boden des Erfurter Programms, aber man verschließe sich
der Reformbedürftigst dieses Programms nicht. Dafür eine Eduard Bernstein
als Anwalt einer auswärtigen Politik auf, die mit beiden Füßen in Wolken¬
kuckucksheim steht, und die der Parteitag nicht nur als unpraktisch, sondern geradezu
als rcichs- und volksschädlich ablehnen muß.
In der Tat bedeutet der Parteitag einen weiteren Schritt auf dem Wege
zur positiven aufbauenden Arbeit in der politischen Gegenwart, auf dein sich die
Sozialdemokratie seit dem 4, August 1914 befindet. Was die wohlerwogenen
Giünde der Revisionisten nickt vermochten, das brachte damals die Überzeugungs¬
kraft der Tatsache des Weltkrieges zuwege: die Bekehrung der Partei van der
Revolution5predigt zur politischen Arbeit, Freilich läßt sich eine fünfzigjährige
Vergangenheit nicht ohne weiteres verleugnen: die „Unabhängigen" machten die
Bekehrung nicht rin und spalteten sich ab. Doch ließ sich Scheidemann von der
verbleibenden Parteimehrheit auf dem Würzburger Parteitag die Politik des
4. August ausdrücklich bestätigen. Aber nun kam die Revolution und die Be¬
rufung zur Regierung. J.tzt muß die Sozialdemokratie die Polizei handhaben,
muß Altsstände militärisch niederwerfen, muß nationale Töne anschlagen und
sogar auf Aibcitgeberinteressen Rücksicht nehmen. Das sind die Genossen im
Volke nicht gewöhn». Die paradiesischen Zustände des Zukunstsstaatcs, wo der
Urbilder ein freier Herr ist, wollen nicht kommen. Die eben erst zur Partei
gelaufenen Landproletarier verstehen nicht, weshalb in den Besitzverhältnissen auf
dem Lande einstweilen alles beim alten bleibt. Die Volksschullehrer, die ihre
Angelegenheiten gern für besonders wichtig halten, sind entrüstet, wenn nicht alles
gleich nach ihrem Kopfe geht. Es besteht Gefahr, daß alle diese Anhänger zu
den Radikalen der äußersten Linken überlaufen. .Darum fühlt sich die Partei in
ihrer verantwortlichen Rolle gar nicht recht wohl. Es sammelt sich Zündstoff an
Kegen die Parteiführer in den Regicrungssesscln. Man kritisiert, nur um die
Vergangenheit nicht zu verleugnen, man macht bange vor der Gegenrevolution,
nur um die eigene Gesinnungstüchtigkeit zu demonstrieren. Wenn der Arbeiter
die herkömmlichen Nebenkarten nur noch in der unabhängigen Presse zu lesen
bekäme/ würde er es ja nicht glauben, daß die S. P. D. die echte Nachfolgerin
der Partei Bebels wäre.
Die Gefahr war nicht gering, daß der Parteitag der populären Stimmung
einige Genossen, die besonders im Gerüche stehen, daß die Ministerherrlichkeit bei
ihnen der G^sinnungsfestigkeit geschadet habe, zum Opfer gebracht hätte. Es
lagen Anträge vor, die der Regierung ein Mißtrauensvotum aussprachen. Ins¬
besondere Röste sollte zur Niederlegung seines Amtes gezwungen werden, die
Genossen von Münster wollten ihn sogar aus der Partei ausschließen. Aber der
Parteitag hat den Mut gehabt, die Negierung nicht fallen zu lassen, sondern sich
mit sehr großer Mehrheit ausdrücklich zu ihr zu bekennen. Er sichert ihr „kräftigste
Unterstützung zu bei der Durchführung aller Maßnahmen, die zur Verwirklichung
unserer Parteiziele und damit zum Wohle des gesamten Volkes ergriffen werden".
Er gibt zwar den Kritikern recht, daß viele Fehlgriffe und Unterlassungen „be¬
rechtigten Unmut" erweckt hätten, — das ist die kleine Libation, die statt der
erhofften Hekatombe den zürnenden Göttern der Unterwelt gebracht wirbt —,
ermahnt aber die Parteigenossen dringend, „den Unwert von Kritiken zu erkennen,
die von verantwortungslosen Leuten nur zu dem Zweck geübt werden, unsere
Partei und unsere Vertreter in der Negierung in den Augen des Volkes als
unwürdig des Vertrauens erscheinen zu lassen". Nur werden die Minister aus¬
drücklich angewiesen, auf den Gebieten der Verwaltung, der Schule und Kirche,
des Heerwesens und des Wirtschaftslebens möglichst für die Durchsetzung des
sozialdemokratischen Programms zu sorgen. Gerade Roste, der Vielgehaßte, hat
es verstanden, dem Parteitag diese Haltung besonders zu erleichtern durch
seine Enthüllungen über die Versuche der Unabhängigen, die Freiwilligen-
tcupven heimlich für sich zu gewinnen, die sie öffentlich als Bluthunde und
Schergen der Gegenrevolution beschimpfen. Roste, der ohne Zweifel der
Netier und die eigentliche Stütze der gegenwärtigen Regierung ist, hat
durch seine Rede in Weimar auch die Partei vor ihrer eigenen Feigheit,
vor, der Angst, von der linksradikalen Konkurrenz überholt zu werden, vor
den Gespenstern der eigenen allzu negativen Vergangenheit, die man jetzt ver¬
leugnen muß, gerettet. Er durfte mit Recht die Parteigenossen auffordern, endlich
einmal einen Funken von der Courage zu zeigen, die er gehabt habe, und sich
nicht von jedem Spektakel der Unabhängigen ins Bockshorn jagen zu lassen.
Diesmal hat, wie gesagt, Rostes Geschick, die Enthüllung über die Unabhängigen
zur rechten Zeit zu bringen, dem Parteitag das Bekenntnis zur NegierungspoliNk
leicht gemacht. Er hat damit bekundet, daß die Politik des 4. August fortgesetzt
werden soll, die Politik, die zwar das Programm und die Internationale hochhalten
will, aber doch in erster Linie im Guten wie im Bösen zum eigenen Volke stehen
will. Als Eduard Bernstein den 4. August 191,4 als den schwärzesten Tag seines
Lebens bezeichnete und behauptete, Millionen von Menschen wären weniger gefallen
oder verkrüppelt, wenn die Sozialdemokratie die deutschen Kriegskredite verweigert
hätte, antwortete ihm stürmischer Widerspruch und lautes Lachen. Bernstein hat
eine ganz unglaubliche Rede geHallen. Er ist von der Kriegsschuld Deutschlands
überzeugt, aber Loyd George und Poincare haben seiner Meinung nach alles
getan, um den Kneg zu verhindern. Neun Zehntel der feindlichen Fnedens-
bedingungen hält er zwar nicht für berechtigt, wie er nachträglich feststellte, aber
für notwendig. Mit Belgien und Frankreich, die durch den Krieg furchtbar mit¬
genommen seien, hat er tiefes Mitleid, Hier rief ihm No?ke zu: „Für Ostpreußen
habt Ihr nicht ein Wort gehabt, Deutschland ist Euch nichts!" Als er darauf
erwiderte, der deutsche Generalstab habe Ostpreußen gegen guten Rat preisgegeben,
quittierte ihm Roste unter lebhaftem Beifall mit dem Zurufe „Ist das ein dummes
GeschwätzI" Bernstein, der in der inneren Politik einst dem Revisionismus das
Wort redete, war in auswärtigen Fragen schon vor dem Kriege ein gläubiger
Apostel der Sorte von Pazifismus, den besonders die Engländer in andere
Völker exportieren, um sie für die britische Weltherrschaft innerlich reif zu machen.
Dieser Internationalismus dient einseitig den Interessen der Westmächte und ist
leider fanatisch genug, auf die Interessen des eigenen deutschen Volkes gar keine
Rücksicht zu nehmen. Der Parteitag hat aber Bernsteins Anschauungen völlig
abgelehnt. Er will auch in der auswärtigen Politik den Internationalismus san's
ptrrase revidieren. Scheidemann hat in seiner großen Progrannnrede ein
Bekenntnis zum praktischen, das deutsche Volk wirklich fördernden Sozialismus
abgelegt, das auch für die auswärtige Politik Geltung gewinnen nutz: „Wir
müssen in Zukunft jede Matznahme darauf ansehen, nicht nur ob sie sozialistisch,
sondern auch darauf, ob sie praktisch ist, und wir dürfen uns nur für solche
Maßnahmen entscheiden, von denen wir mit ruhiger Zuversicht eine Förderung
des Volkes, des arbeitenden Volkes erwarten dürfen." Damit ist zweifellos auch
der Internationalismus Vcrnsteinscher Art abgelehnt.
Auch Scheidemann wünscht eine auswärtige Politik nach den Grundsätzen
der Gerechtigkeit: Macht vergeht, Recht besteht! Die Regierung wolle nicht um
den Frieden feilschen, um ein paar Nachteile weniger in Kauf nehmen zu müssen.
Sie mache nicht Zugeständnisse, weil sich Deutschland als der Schwache vor den
Starken ducken müsse, sondern weil sie sich zu der Überzeugung durchgerungen
habe, daß nicht alle Forderungen der Gegner unberechtigt sind. Wären wir die
Sieger und lägen die Gegner am Boden, dann nutzten wir seiner Ansicht nach
erst recht das zerstörte Frankreich und Belgien auf unsere Kosten aufbauen. Man
kann natürlich auch hier wieder sagen, mit solchen Äußerungen liefere der Reichs-
Ministerpräsident dorr Feinden Argumente. Doch wird man damit nie Eindruck
auf Scheidemann machen und wird ihm auch nicht gerecht. Der rechtsstehenden
Presse ist die Politik gut, die Deutschland Vorteil bringt. Nach Meinung der
Altdeutschen kann man in der Politik nur Hammer oder Amboß sein. Scheidemann
dagegen hofft, die. Völker für das Ideal der Gerechtigkeit zu begeistern, sie zu der
Einsicht zu überreden, daß bei gegenseitiger Rücksichtnahme und Gerechtigkeit der
Weltfrieden allein gesichert und dem wahren Vorteil jedes einzelnen Volkes, auch
wenn eS im Augenblick benachteiligt erscheint, am besten gedient sei. Unsere
gegenwärtige Negierung will prinzipiell zugestehen, daß Belgien und zum Teil
auch Frankreich, auf dessen Boden der Krieg geführt worden ist, von uns Unrecht
geschehen ist Auch der f ühere Reichskanzler von Bethmann Hollweg hält in
seinen „Betrachtungen zum Weltkrieg" (I Seite 168) seinen vielbefehdeten Ausspruch
vom 4. August 1914 vom „Unrecht" gegen Belgien ausdrücklich aufrecht. Die
Regierung handelt in dieser Beziehung in ihrer auswärtigen Politik nach einem
Grundsatz, der allerdings unerprobt ist, der aber doch gradlinig ein Ziel verfolgt,
nämlich das Ziel, durch das Beispiel einer Gerechtigkeit auch aus eigene Kosten,
wenn es sein mich, die andern Völker zur Achtung und durch moralischen Zwang
schließlich zur Nachahmung zu zwingen. Diese Politik enthält immerhin einen
einhntlichdn großen Grundgedanken, und ich möchte hier nur feststellen, datz sie
auf so völlig anderen Grundlagen beruht, als die nationalistische auswärtige Politik,
wie sie zum Beispiel die Altdeutschen empfohlen haben, daß es keinen Zweck hat,
denn nationalistischen Standpunkte immer wieder über Scheidemann und seine
Gesinnungsgenossen abzuurteilen. Die Sozialdemokratie greift ein grotzes Unter¬
nehmen an:' sie will das Beispiel einer moralischen, unegoistischen auswärtigen
Politik geben. Sie wird dieses Beispiel schwerlich durchführen können, weil die
materialistische Gesinnung, in der sie ja selber die Arbeiterklasse bestärkt hat,
"nrner wieder bald eine egoistische Politik erzwingen wird. Noch spüren die
Arbiter nicht die Fremdherrschaft der Westmächte am eigenen Leibe. Wenn sie
sie spüren werden, dann wird die Hinwendung zum Nationalismus sehr bald
erfolgen. Auch der Bolschewismus in Rutzland und Ungarn ist rationalistisch
geworden. Nur eine religiöse Erziehung der Völker wird die Welt allmählich für
eure Politik internationaler Gerechtigkeit reifer machen. Die Sozialdemokratie, die
das Christentum haßt und ersetzen möchte, wird dadurch gestraft werden, daß ihre
internationalen Ideale durch die Klassenhaßpropaganda, durch die Erziehung zum
Egoismus, die von ihr selber ausgeht, zersetzt werden. Diesmal hat der Parteitag
Scheidemanns auswärtige Politik, der ich, wie gesagt, den großen Grundgedanken
nicht absprechen möchte, begeistert gut geheißen. Die sogenannte „Kontinental¬
politik", die Cohen-Reuß empfiehlt, und die eine Spitze gegen die Angelsachsen
enthält, hat er abgelehnt, weil sie in der Tat jetzt ganz unmöglich in ihren
Voraussetzungen ist. Aber die Zeit wird vielleicht kommen, wo die Arbeiterklasse
selber die Partei zu einer nationalistischen Politik zwingen wird. Denn den
Egoismus der Menschennatur wird die Sozialdemokratie nicht mildern. Dazu
gehören ganz andere Kräfte.
In der inneren Politik hat sich Scheidemann erneut zu den Grundsätzen
der Demokratie bekannt und die Diktatur des Proletariats verworfen. Die sozial-
demokratische Partei soll uicht mehr eine Pendel der Lohnarbeiter in erster Linie
sein, sondern die „praktische Interessenvertretung aller körperlich und geistig
arbeitenden". Das ist ein Zeichen dafür, wie gern die Partei innerhalb der
bürgerlichen .Klassen Boden gewinnen möchte. Eine reine Lohnarbeiterpartei ist
eben für die Regierung unzulänglich. Roste hat auf dem Parteitag die geringen
Gehälter akademisch gebildeter Beamter wirkungsvoll den uuvenchämten Lohn¬
forderungen mancher Arbeiter gegenübergestellt. Wann hätte früher ein Sozial¬
demokrat so gesprochen! Sogar der Sozialismus selbst ist für Scheidemann kein
absolutes Heiligtum mehr. Er ist nickt Zweck an sich, sondern er soll ein Mittel
sein, der leidenden Me, fesselt zu helfen, erklärt er ganz im Sinne von Gustav
Steffen.') Das kann doch nur so verstanden werden: da, wo es für die lcidinde
Menschheit zuträglicher ist, nicht sozialistische Politik za treiben, soll auch von den
sozialistischen Grundsätzen einmal abgewichen werden.. Der preußische Minister
Heine hat scharfe Worte gegen jede schluderige Gesetzgebungsarbeit gesprochen, die
man macht, um radikalen Schreiern schnell den Mund zu stopfen. Aus alledem
sieht man, daß die Sozialdemokratie viel lernt, seit sie an der Negierung ist.
Auch patriotische Töne sucht man im Munde der Parteiredner nicht mehr ver¬
gebens. Der Parteivorsitzende Hermann Müller feierte Großdeutschland und die
nationale Treue der Arbeiter an der Saar, am Rhein, an der Memel und an
der Weichsel. Die schönsten patriotischen Worte fand Otto Wels: „Kein Franzose
oder Engländer hätte jemals die alleinige Schuld auf sein Land genommen.
Auch der nationale Stolz ist etwas Großes und Gewaltiges, und wir Deutschen
können ihn lernen von den Franzosen, von den Engländern und allen freien
Völkern (Stürmischer Beifall). Von ihnen müssen wir lernen, deutsch zu fühlen
auch gegenüber einem Clemenceau, diesem Manne von Blut und Eisen im
zwanzigsten Jahrhundert, gegen den Bismarck nur ein elender Stümper gewesen
ist." Wels beginnt sogar, am dem sonst immer verdammten Kriege gute Seiten
zu finden. Er stelle die Nationen auf die Probe und lasse bei ihnen zerfallen,
was nicht lebenskräftig sei. Man könnte danach beinahe hoffen, daß auch die
Sozialdemokratie noch einmal die Bedeutung des Krieges für die menschlichen
Ordnungen begreifen lernen wird, und auch sie vielleicht dem Wort des alten
Heraklit, daß der Krieg aller Dinge Vater sei, mehr Verständnis entgegenbringen wird.
Was die Wirtschaftspolitik anlangt, so hat der Parteitag gezeigt, daß die
jetzt viel besprochenen Vorschläge des Reichsministers Wisfell über eine „geordnete
Planwirtschaft": Einrichtung von Zwangssyndikaten in den einzelnen Erwerbs¬
zweigen, Aufbau einer Pyramide von Uniernehmerkammern und Arbeiterräten bis
hinauf zu einem Rcichswirtschaftsrat, Überleitung eines großen Teils des Aktien¬
kapitals in Neichsvesitz in der Form der Besteuerung, durchaus uicht bloß bei
bürgerlichen Mitgliedern der Negierung Bedenken erregen. Denn die Reichs¬
minister Dr. David und Robert Schmidt sind den Ausführungen Wissells auf dem
Parteitag zum Teil scharf entgegengetreten. Die Sozia lisierungsfrage bleibt weiter
in der Schwebe und ist eine der schlimmsten Klippen, die die Sozialdemokratie
zu umsegeln haben wird.
Großes Interesse brachte die Weimarer Tagung der Parteivolitik entgegen.
Man stellte mit Befriedigung fest, daß der Mitgliederbestand der Partei ungefähr
wieder die Höhe erreicht habe, die er vor dem Kriege und vor der Absplitternng
der Unabhängigen halte. Man verhehlte sich aber nicht, daß in den Gegenden,
wo ganze Organisationen zu den Unabhängigen gegangen find, der Stand von
l914 noch lange nicht wieder erreicht sei und daß der Zuwachs der Partei
großenteils ans völlig ungeschulten, utopiüisch gesinnten Mitläufern bestehe, die
bei der ersten Enttäuschung leicht untreu weiden könnten. Vor solchen Ent¬
täuschungen hat man offenbar große Angst. Selber in der Kritik groß geworden,
fühlt neue sich jetzt, wo man regieren soll, der Kritik der Unabhängigen und
Kommunisten nicht gewachsen. Seit längerer Zeit sind Bestrebungen im Gange,
die drei sozialistischen Parteien wieder zu einigen. Diese Bestrebungen fanden
auf dem Parteitage warme Fürsprache, und die Sozialdemokratie hat sich auch
grundsätzlich bereit erklärt, sich mit allen Elementen der radikalen Linken zu einigen,
die ant dem Boden der Demokratie stehen. Eine Einigung mit den Kommunisten
erklärte der Parteivorsitzende Müller für ausgeschlossen. Die Eungungöverhcmd-
lungen mit den Unabhängigen sollen nur zentral von Parteivoistand zu Pariei-
vorftand geführt werden. Eine besondere Einigungskommission wurde abgelehnt.
Diese Ablehnung bedeutet eine Niederlage des linken Parteiflügels, der sich von einer
Eiuigungskommission, in der vielleicht Leute wie Bernstein und Davidsohn sitzen
könnten, mehr Entgegenkommen gegen die Unabhängigen verspricht als vom
Parteivorstand. Die Einigung der sozialistischen Parteien hat wenig Ansicht
auf Erfolg. Es scheint in der Tat, als wollte die proletarische Politik Deutschlands
endgültig in drei Richtungen auseinandergehen. Die eine will positive nationale
Politik 'in' demokratischen und so weil als möglich sozialistischen Sinne treiben.
Sie will, wie Scheidemann sagte, alle Maßnahmen nicht nur darauf ansehen, ob
sie sozialistisch sind, sondern auch darauf ob sie praktisch sind. Für sie soll der
Socialismus nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zur sozialpolitischen Wohlfahrt
der Nution sein. In der inneien Politik will sie streng d-mokratisch sein, in der
auswärtigen unbedingt das Prinzip der internationalen Verständigung befolgen,
auch wo Deutschland Nachteil davon hat. Der zweiten Richtung ist eine unter
allen Umständen sozialistische Staats- und Wirtschaftsordnung die Hauptsache.
In auswärtigen Fragen hofft sie auf den Sieg der Weltrevolution in den Enlente-
läudeni. Zu dieser Richtung gehört der linke Flügel der heutigen Sozial¬
demokratie und der rechte der Unabhängigen mit Ströbel, Kautsky Hage, die noch
am demokratischen Prinzip festhalten. Der linke Flügel der Unabhängigen (Lede-
bour Däumig) gehört mit den Kommunisten zusammen. Hier ist man für Diktatur
des Proletariats, rücksichtslose Propaganda des proletarischen Wellimperialismus
und sogar schon für einen .äußerst g/waltscnn auftretenden proletarisierten
Nationalismus. Die Grenzen der drei Parteien untereinander dürften sich also
noch verschieben, aber die Parteien selber werden vermutlich bleiben.
Die Hauptsorge der Sozialdemokraiie in dieser Lage muß sein: werden ihr
vie Massen weiter folgen, oder werd'en sie nach links abschwenken? Darüber kann
heute niemand etwas Endgültiges sagen. Die Sozialdemokratie will sich eifrig
der Jugendbildung annehmen, um die künftige Generation in ihrem Sinne zu
e/z-ehen. Im übrigen hofft der Referent über die Bildungs- und Jugendfragen,
Heinrich Schulz, daß die Partei Deutschland nach seinem tiefen Fall durch die
M'oße Freiheit des Sozialtsmus als wirtschaftliches, der Demokratie als politisches
-pnnzjp u,it> bedeutender geistiger Leistungen auf dem Gebiete der Kultur wird
erlösen können.
Man darf zugestehen, daß die Sozialdemokratie es in ihrer Weise gut mit
vein deutschen Vaterlands meint, und daß viel politischer Idealismus bei ihr
^aum findet. Gewiß wird Politik immer etwas zu tun haben mit Interessen¬
vertretung und wird immer die Kunst des Möglichen sein. Aber sie wird überall
va verdorren, wo nicht selbstlose Arbeit für die Verwirklichung großer Gedanken
ni ehr geleistet wird. Solche Arbeit tut den bürgerlichen Parteien not. In dieser
Beziehung sind sie, vom Zentrum abgesehen, der Sozialdemokratie heute unterlegen.
Ohne selbstlose Arbeit im Dienste großer Gedanken können Parteien zwar Inter¬
essengruppen gewinnen, aber nicht für breite Volksschichten Objekte des Glaubens
und dauernden Vertrauens werden, wie es die Socialdemokratie und das Zentrum
erreicht haben; ohne sie kann man auch die Jugend nicht begeistern. Mögen die
bürgerlichen Parteien sich Wel.'ansckauungen schaffen, die sich mit den philosophischen
Grundlagen des Sozialismus ernst auseinandersetzen, mögen sie es wieder lernen,
politische Prinzipien konsequent zu durchdenken und an politische Ideale zu
glauben! Dann wird das Bürgertum sehr wohl wieder politische Kräfte in Be¬
wegung setzen können, die sich mit den proletarischen messen können. Unüber¬
windlich ist die Sozialdemokratie nicht: das zeigt der Weimarer ParteilagI
le Frage des Nätesystems, die uns die Revolution als wichtigstes
neues Moment gebracht hat, ist heute schon mächtig in die
Halme geschossen und unausrottbar populär geworden. In ihm
drückt sich ein Gewirr von hinan'lstürmenden Hoffnungen, von
Enttäuschungen, von Verlangen und Abscheu aus. Im Werde¬
gang des Gedankens in Deutschland lassen sich vier Epochen unter¬
scheiden. Die erste umfaßt die Zeit vor dem 9. November 1918, in der sich im
geheimen in den Kasernen und in den Betrieben räteähnliche Organisationen
revolutionärer Persönlichkeiten zur Herbeiführung des Umsturzes gebildet haben;
die Anfänge sollen schon vor die Zeit des Streiks im Jahre 1918 zurückreichen. —
Die zweite Phase dauerte vom 9. November bis zum ersten Nätekongreß im De¬
zember 1918. Aus der ursprünglichen Forderung der Unabhängigen und
Kommunisten: „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten" ist während dieser
anderthalb Monate die Forderung nach Einberufung der Nationalversamnrlung
geworden, die der erste Rätekongreß ausgesprochen hat. In der dritten Phase —
bis zum zweiten Nätekongreß — hat dann der Rätegedanke unter der Arbeiter¬
schaft wieder an Einfluß gewonnen. Noch am 26. Februar erklärte die Regie¬
rung amtlich: „Kein Mitglied des Kabinetts denkt daran, das Nätesystem in die
Verwaltung oder in die Verfassung lauszunehmen." Am 5. März zeigte sie sich
jedoch bereit, die Arbeiterräte als Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse
anzuerkennen und in der Verfassung zu verankern. Der Schlüssel zu der schnellen
Wandlung lag allein auf den Straßen Berlins. Die nach Weimar delegierten
Mitglieder des Arbeiterkongresses willigten ein, als Preis für dieses Negierungs-
versprechen den Generalstreik zu beenden. Somit war die Schaffung der Ar-
beiterräte endgültig anerkannt.'
Der Zusageauf Erfüllung dieser Forderung ist schnell die Tat gefolgt. Die
-Veratungen innerhalb der Neichsregierung haben zur Annahme eines Ar¬
tikels, 34s der Reichsverfassung geführt, in dem die Forderungen als ewige
Grundgesetze des deutscheu Volkes enthalten sind. Danach bleibt die politische
Einflußnahme ausgeschaltet. Zwei Systeme werden leingeführt, neben dein
System des Betriebs-, Bezirks- und Reichs-Arbeiterrats, das der gemischte»
Wirtschaftsräte (Bezirkswirtschaftsrat, Neichswirtschastsvat). Die Arbeiter er¬
halten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen nach Be¬
trieben und Wirtschaftsgebieten gegliederte gesetzliche Vertretungen in Betriebs-
raten, Bezirksarbeiterräten und einem Neichsarbe-iterrat. sozialpolitische und
wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von Bedeutung sollen vor ihrer Einbringung
beim Reichstage dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden.
Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können aus den , ihnen überwiesen«» Ge¬
bieten Kontroll- und Verwaltungsbefngnisse übertragen werden. Wie sich diese
neuen Rechte der Arbeiterklasse innerhalb der Betriebe gestalten werden, welche
technischen Grenzen ihnen gezogen .werden sollen, welche Rechte den Betriebs¬
leitern zugestanden werden, — die Regelung all dieser Fragen hat man einem
besonderen Neichsgefetz vorbehalten. Zu diesem Gesetz, -welches bereits im Ent¬
wurf vorliegt, wird später Stellung genommen.
Diesem Artikel 34a, war von der Negierung eine Begründung beigegeben,
in der u. a. darauf hingewiesen wurde, daß das Räteshstem von einer doppel¬
ten Grundanschauung getragen ist: „Der Arbeiter (Arbeiter und Angestellte)
strebt als solcher nach unmittelbar initiativer Geltendmachung seiner Interessen
bei den Betrieben und der Öffentlichkeit; zugleich strebt er über die Arbeit¬
nehmersphäre hinaus nach Mitwirkung im Produktionsprozeß selbst, der bisher
einseitig von dem Unternehmer geleitet worden ist. Er fühlt sich nicht mehr nur
als Arbeiter an der Arbeitsstelle in gebundener Avbeits-aufgäbe, ohne Ausblick
auf das wirtschaftliche ganze Leben und Streben. Es drängt ihn, über die Ar¬
beitsstelle hinaus das -wirtschaftliche Ganze zu sehen, seine Sachkunde und Er¬
fahrungen dafür -fruchtbar zu machen und an der produktiven Entwicklung mit-
»uschaften. Alle Bestrebungen mischen sich mit neuen Lebenstrieben und führen
eine die gesamte Arbeiterschaft aufwühlende Bewegung herbei, deren Fruchtbar¬
keit von der Ge-setzgebung anerkannt werden muß. Würde die Gesetzgebung ihre
Aufgabe nicht erkennen, so ist zu befürchten, daß sich die Bewegung über alle
Form Humus gewalttätig und chaotisch Bahn brechen würde. Auf diesem
Grundgedanken, daß der Arbeiter nicht nur Arbeiter, sondern auch Produzent ist,
bauen sich die beiden sozialen Rechtsformen auf, welche die Gesetze der neuen
Bewegung zur Verfügung stellen wollen: „erstens die Arbeiterräte, zweitens die
Wirtschaftsräte."
Man muß nun sagen, daß diese Politik verhängnisvoll gewirkt
hat. Die deutschen Wirtschaftskreise, die in allen Angelegenheiten
nach sachlichen Gesichtspunkten zu entscheiden gewohnt sind, blickten angesichts
dos Plötzlichen Stimmungs- und Meinungswechsels der Negierung mit den
ernstesten Besorgnissen in die Zukunft, zumal auch die Meinungen über den In¬
halt des Wortes „Räteshstem" in der Öffentlichkeit klaffend auseinandergingen.
Die einen (Berliner Vollzugsrat und Spartakusbund) dachten sich die Räte als
Organe, die „innerhalb jedes Großbetriebes der Direktion und dem Aufsichtsrat
mit Sitz und Stimme bei allen zu erledigenden -kaufmännischen und technischen
Angelegenheiten gleichberechtigt beigeordnet sein sollten", welche die „Produktion
ZU kontrollieren und schließlich die Betriebsleitung zu übernehmen hätten". Die
Borausfetzung der' gesunden Wirtschaftsführung, nämlich die beiden Faktoren:
rasche Entschlußkraft, frische Initiative und ungelenke Verantwortung kümmer¬
ten diese Kreise nicht. Nicht hineingewachsen in das wirklich Unternehmerhafte,
welches Arbeit als Selbstzweck bedeutet, sehen sie das Unternehmertum nur als
die von Profitgier und Erwerbssucht beherrschte und dem Streben zu einer be¬
haglich«» Lebenshaltung geleitete Gesellschaftsschicht -an, die auszurotten ist. Die
^cehrheitSsozialisten dagegen verlangten, daß die Räte „bei der Regelung der all¬
gemeinen Arbeiterverh-altnisse gleichberechtigt mitzureden hätten". Diese Auf¬
lassung ging von etwas schon Bestehendem, -den Arbeiterausschüssen, aus.
v n - demselben Augenblick nun, in dem die Negierung das Programm für
^ordnung der Arbeiterräte in die Verfassung bekannt gab, nahm der „Vor¬
worts", das Organ der führenden Regierungspartei, in unzweideutiger Weise
-age-gen Stellung. Was -er ausführte, ist alles andere als rückhaltlose Zu-
Stimmung zu Art. 34g. „Ob in dem vorstehenden Antrag (Art. 34a) das Pro¬
blem richtig gelöst ist, darüber kann man allerdings verschiedener Meinung sein.
-- Etwa später erforderlich werdende Änderungen des Charakters der Arbeiter¬
ratsgesetzgebung sollten nicht durch den Zwang, die Verfassung zu ändern, er¬
schwert werden." Das heißt also mit anderen Worten: Die Regelung der
Arbeiterratsfrage gehört überhaupt nicht in die Verfassung. Diese entschiedene
Absage über die Regierungshäupter hinweg ist von Bedeutung. Weiter wurde
un „Vorwärts" über die Erfahrungen, «welche die Sowjetregierung mit dem
Nätesystem gemacht hat, berichtet. Danach stellte Trotzki fest, daß viele Mit¬
glieder der Arbeiterräte sich zu einer organischen, schöpferischen und nachdrück¬
lichen Arbeit -unfähig gezeigt haben; er sagt: „Fabrikräte, Betriebsräte und der¬
gleichen sind der Tod der Initiative des allein zuständigen Fachmannes. Die
Arbeiterklasse muß genug gesunden Menschenverstand besitzen, um das anzu¬
erkennen." Man wird, so sagt der Bericht des „Vorwärts", zugeben müssen, daß
über die wirtschaftliche Seite des Rätesystems rann härtere und strengere Worte
zu finden sind.
Durch die Bekleidung des Nätesystems mit der Würde einer Staatsein¬
richtung ist die dritte Epoche abgeschlossen. Die vierte Phase wurde eingeleitet
von dem zweiten Nätekongreß. Hier haben Heide sozialdemokratische Parteien,
die ihre Näteforderungen schon in der Vollsitzung der Berliner Arbeiter- und
Soldatenräte am 24. März ungefähr begrenzt hatten, ein ausgesprochenes Näte-
Progvamm mit Polnischer Macht für die Räte vorgelegt. Auch die Demokraten legten
einen Antrag vor. Das Programm der U. S. P. D. — Antrag Da-nmig — ist
nichts anderes als -die russische Näteverfassung; es schließt alle Produzentenkreise
von einer Mitwirkung in ihren Angelegenheiten aus. Nur die Arbeitervertreter
sollen die alleinige politische -Vertretung in Händen haben, Mas nichts anderes
bedeutet, als die krasse Diktatur des Proletariats. Die S. P. D. akzeptierte den
Antrag Cohen-Neuß—Kaliski, der eine Kombination von paritätisch zusammen¬
gesetzten Wirtschaftsräten zur Durchführung der Sozialisierung und von berufs¬
ständischen zweiten Kammern empfiehlt, die im wesentlichen gleichberechtigt
neben den lallgemeinen Bolksparlameuten stehen sollen.
Der Wortlaut des Mehrheitsautrages und des Antrages der Demokraten
ist im wesentlichen folgender:
Der Me h r h eitsantr a g. Der Rätegedanle muß auf dem Boden
der Demokratie seine Verwirklichung finden. Das demokratische Rätesystem muß
in der Verfassung verankert werden. Es stellt die Vertretung der Arbeitskraft
des Volkes dar. Während das Parlament des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechts die Vertretung der Bevölkerung nach ihrer besonderen Zahl
darstellt, stellt die Kammer der Arbeit, die sich auf dem Nätesystem aufbaut, die
Vertretung der Produktivkraft und der Leistung des Volkes dar. In dem Parla¬
ment des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts sind alle
Staatsbürger ohne Rücksicht auf ihre besondere Funktion vertreten, es repräsen¬
tiert die formale Demokratie. Die Kammer der Arbeit repräsentiert die schaffen¬
den Kräfte der einzelnen Klassen nach -ihrer Bedeutung für die Gemeinschlaft, also
den Aufbau des Sozialismus. Jede aus allgemeinen Wahlen hervorgehende
Körperschaft erhält eine Kammer der Arbeit. Die deutsche Einheitsrepublik wird
von unten aufgebaut durch selbstverwaltende Gemeinden, .Kreise, Provinzen,
Länder, die Zusammenfassung ist das Reich. In jeder dieser genannten politi¬
schen Einheiten herrscht das Parlament, ergänzt durch die Kammer der Arbeit.
Die Aufgaben der Kammer der Arbeit sind: Ausarbeitung und Prüfung
aller Gesetze wirtschaftlichen Charakters; dauernde Untersuchung der Wirtschafts-
!mtwicklung mit -dem Recht der Initiative bei der Sozialisierung einzelner Pro¬
duktionszweige. In dem Zustandekommen eines -Gesetzes bedarf es der Zu¬
stimmung beider Häuser. Beide .Kammern haben das Recht, ein Referendum zu
verlangen.
Ferner bilden die Arbeiterräte die Vertretung der Arbeiter für die
Fragen der Produktion in den Arbeitsgemeinschaften, die für alle Gewerbe er¬
richtet werden müssen. Die bisher errichteten Arbeitsgemeinschaften, in denen
die Arbeitgeberverbünde mit, den Gewerkschaften zusammenarbeiten, sind Ver¬
tretungen zur Regelung der Berufsfragen. Sie müssen nun auch zu Ver¬
tretungen der Produktion werden, die von den Unternehmern und' Arbeitern ge¬
meinsam getragen werden,. Die Arbeiter 'werden hierbei durch die Arbeiterräte
Vertreten. Die Arbeitsgemeinschaft ist der Unterban der Sozialisierung.
'
Derd e, in okritische A n t rag. Die freie denwlvatische Fraktion der
Avbeiterräte bezeichnet in ihrem Antrag die Arbeiterräte als wirtschaftliche
Jnteressenvertreter und 'wünscht die Regelung der Frage durch ein Nätegesetz.
Sie, fordert die bezirksweise Wahl gesondert nach Berufsständen, mit Einschluß
der arbeitleistenden Unternehmer unter Aufstellung besonderer Grundsätze für die
Kopfarbeiter. Das passive Wahlrecht soll erst' vom 25. Lebensjahr" gewährt
werden. Die Bezirksarbeiterräte haben nur eine überwachende Tätigkeit. Sie
wählen aus ihrer Mitte die Delegierten zum Reichsarbeiterrat, dessen laufende
Geschäfte von einem Reichsvollzugsrat geführt 'werden.
Der Reichsarbeiterrat ist für alle sozialpolitischen und wirtschaftlichen
Maßnahmen der Reichsregierung zuständig, besonders für Arbeiter-, An¬
gestellten-, Beamten- und Agrarrecht, für die, Vorbereitung der Sozialisierung
geeigneter Betriebe und Berufszweige. Der Reichsarbeiterrat ist berechtigt, der
Reichsregierung innerhalb seiner Zuständigkeit Vorschläge und Gesetzentwürfe
zu unterbreiten. Die Reichsregiernng hat den Reichsarbeiterrat vor der Ein¬
bringung wirtschaftlicher und sozialer Gesetze zu hören. Der Reichsarbeiterrat
hat das Recht, zur Beratung innerhalb der Reichsregiernng sowie in der
Nationalversammlung und den zuständigen Kommissionen Vertreter aus seiner
Mitte mit beratender Stimme Zu entsenden.
Der Reichsarbeiterrat hat das Recht, gegen Beschlüsse der gesetzgebenden
Körperschaften des Teutschen Reiches, die seine Zuständigkeit berühren, mit
drei Viertel Majorität der abgegebenen Stimmen Widerspruch mit aufschiebender
Wirkung zu erheben. Gegen den erneutenBeschlnß der Deutschen Nationalversamnt-
lung kann — sofern, dieser nicht mit drei Viertel Mehrheit der abgegebenen
Stimmen gefaßt worden ist — der Neichsarbeiierrat mit der gleichen Majorität
eme allgemeine Volksabstimmung verlangen. Die Volksabstimmung bedarf der
Zustimmung des Neichsprästdenten.
Das deutsche arbeitende Volk ist berufsstäudisch zu organisieren. Die
Organisationen bedürfen der Anerkennung durch den Reichsvollzugsrat.
Im einzelnen weichen diese Vorschläge, voneinander «ab; alle aber ver¬
folgen den Grundgedanken einer Organisierung der Produktion unter Mitwirkung
der Arbeitnehmer. Diesem Grundgedanken kann man die Zustimmung nicht
versagen.
Wie stellen, sich nun die Gewerkschaften zum Näteshstem? Zur Beant¬
wortung dieser Frage ist eine kleine Nückschweifung notwendig. Mit dein
16. November hatten die Gewerkschaften -einen machtvollen Einfluß auf unser
gesamtes Wirtschaftsleben erlangt. Mau hätte deshalb annehmen müssen, daß
diese Stellung durch die Arbeiterschaft befestigt worden wäre. Das Gegenteil ist
iedoch her Fall. Auf der Spartakistentagung am 30. Dezember würden die
Organisationen des Verrates an der Sache des revolutionären Proletariats
?Uchtigt. Allenthalben propagierte, mau im Laufe der Zeit den Austritt,
' 'kreditierte namhafte Führer als „Bannerträger der Unternehmer" und schloß
MwaUsam Gewerkschaftsbureaus, wobei die oppositionellen Massen, überall dort,
wo sie den überwiegenden Einfluß hatten, mißliebige Führer durch Gesinnungs¬
genossen ersetzten. Das Nätesystem sollte als legitimer Erbe an die Stelle der
Gewerkschaften, treten.' Noch am^»c,.. Noch am 24. April gab der unabhängige Sozw^ji,
säumig auf dem Reichskongreß der Gisenbal/narboiterräte Deutschlands deutlich
zu verstehen, daß er die Gewerkschaften ebenso vollständig beseitig wissen will
wie die Unternehmer. Beide sollen in der Kärrner der Arbeit nicht vertreten
sein. Für die Räterepublik gelte die Losung: Enteignung der Kapitalisten. Diese
Aufgaben hätten die Gewerkschaften nicht erfüllt und auch gar nicht erfüllen
können.
Wenn es also nach diesen Stimmen ginge, wäre die Stellung der Gewerk¬
schaften und damit auch die Arbeitsgemeinschaft, welche von der Regierung als
das Bollwerk des sozialen Friedens bezeichnet wurde, verloren. Kein Wunder,
wenn sich die Organisationen gegen das anarcho-syndikalistische Geblaren zur
Wehr setzten und dem „krassen" Nätegedanken, der auf leine Diktatur hinausläuft,
eine wirtschaftspsychologische Abfuhr widerfahren ließen mit dem Hinweis, das;
die Räte als neue Organe >der sozialwirtschastlichen Demokratie völlig überflüssig,
ja störend seien. Der Vorsitzende der Generalkommission, Karl Legler, fällte auf
der Vorständekonferenz der Zentralvevbcinde ein geradezu vernichtendes Urteil
über die revolutionäre Neuschaffung. Das Rätesystem sei keine leistungsfähige
Organisation, es zersplittere die Einheit des Berusszweiges und mache gegen alle
GowerM)astsauschauungen den Lohn -von der Rentabilität des einzelnen
Betriebes abhängig. Alle bisherigen Gesetze der Solidarität, des Eintretens aller
Grade für die Schwächeren, ungünstiger Gestellten -hörten hier auf. Jeder nehme
für sich, was er kriegen könne. Das „.Korrespondenzblatt der Generalkommission"
machte ebenfalls Front gegen die Stabilisierung der Arbeiterräte als „Betriebs¬
räte": „Im Wirtschaftsprozeß kontrollieren und mitbestimmen, sagen Partei¬
vorstand und Fraktion. Mit Verlaub, das ist eine Aufgabe, deren Durchführung
die Gewerkschaften, Angestelltenverbände und Urd-eitgeberverbände in die Hände
genommen haben und man wird zugeben müssen, daß diese Aufgabe nicht von
einzelnen Betriebsarbeitervertretungen, sondern nur für die Gesamtgebiete aller
einzelnen Produktionszweige durch Paritätisches Zusammenwirken aller organi¬
sierten Faktoren zu lösen ist. Man fasse nur einmal zunächst die Schwierigkeiten
der Übergangswirtschaft, den Wiederaufbau, die Umstellung der Betriebe, die
Rohstoffversorgung und die Schaffung neuer Absatzmärkte ins Auge---—.
Die Regelung der Avbeitsverhältnisse ist längst über den Rahmen des einzelnen
Betriebs hinausgewachsen (Orts-, Bezirks- und Neichstavife).. Über diese Tarif¬
verträge können nur die zentralen Vertretungen der Arbeiter und Arbeitgeber
entscheiden. — Kontrolle der Produktion? Sollen die Betriebsräte die Funk¬
tionen einer Betriebsabteilung übernehmen oder eines ganzen Erwerbszweiges?
Mas sollen sie denn dabei kontrollieren? Die Arbeitsmenge, die Arbeits¬
niethoden, die Arbeitslöhne, die Preise, den Rohstossverbrauch oder die Jnne-
haltung der Arbeitszeit? Die Bezirksorganisation Groß-Verlins operiert mit
reichlich unklaren Begriffen. Man hüte sich, die 'Arbeitermassen zu enttäuschen.
Die Arbeiterräte sind politische Organe der Revolution und können nur politisch
wirken. Dazu bestimmt sie ihre Herkunft, ihre einseitige Zusammensetzung, ihre
ganze Ideologie. Sie haben keine anderen als politische Organisationen hinter
sich, ans die sie sich stützen könnten, und sie versagen völlig im Wirtschaftsprozeß.
Sie sind gewöhnt zu regieren, zu diktieren und zu vollziehen, und das kann uns
im Wirtschaftsleben nicht das geringste nützen. Sie würden die Betriebe in
fortwährender Unruhe erhalten,- -würden sie politisieren und die Produktion
lahmlegen und desorganisieren. Wenn Regierung, Parteivorstand usw. Willens
sind, die Arbeiterräte dauernd zu -erhalten, so haben sie politische Betätignngs-
möglichkeiten zu schaffen. Sie auf das Gebiet wirtschaftlicher Aufgaben zu ver¬
weisen, wäre nichts anderes, als wollte man einen Schwerkranken durch Ver¬
abreichung eines Brausepulvers kurieren."
Ist nun der Zers-etznngsprozeß nur ein Augenblicksvorgang eines wild
gewordenen -vom Zufall empor gehobenen -Soziald>it-ete-antism-us? Nein; denn
er hält -auch heute noch mit unverminderter Heftigkeit all, und die Gefahr der
Spaltung ist infolge der erwähnten Hetzpropaganda in allernächste Nähe gerückt.
Die Kluft zwischen Führern und Organisierten vertieft sich fortschreitend. So
liegen also die Gewerkschaften zwischen zwei Mühlsteinen. Auf der einen Seite
ist es der Rätegedanke, der die Stellung «erschüttert, auf der anderen Seite die
Unterminierung durch die Unabhängigen.
Mit der Regierungsbegründung des Artikels 34a, der Verfassung trat ein
Stinmmngsumschwung ein. In dieser Begründung heißt es: „Bisher waren es
die Gewerkschaften, welche die sozialpolitischen Interessen der Arbeiter wahr¬
genommen und sozial in Formen ausgebildet haben, die in hervorragender Weise
der von ihnen vertretenen Arbeiterschaft höhere Daseinsweise erkämpft und
gesichert haben. Diese wertvolle und notwendige Arbeit der Gewerkschaften soll
nicht durch die Arbeiterräte ersetzt werden; ihr Ziel kann nur sein, diese Arbeit
zu ergänzen. So groß der soziale Einfluß der Gewerkschaften auch ist, so ist er
doch in keiner Weise öffentlich-rechtlich gesichert. Die Äußerungen der Gewerk¬
schaften, ihre Untersuchungen, Statistiker und Gutachten haben nur privaten
Charakter, nicht aber behördliche Autorität. Sie vertreten nicht alle Angehörige
ihres Berufs. Dazu kommen die mannigfachen Konkurrenzstreitigkeiten unter
den verschiedenen gewerkschaftlichen Richtungen, die sich zwar im Lause des
Krieges gemildert haben, aber immer wieder mit voller Stärke ausbrechen
sonnen. Schließlich ist ihr Aufbau zentraliftisch an die Berufe und weniger an
die Betriebe gebunden. Demgegenüber sollen die Arbeiterräte alle Arbeiter,
einerlei ob sie organisiert sind oder nicht, zusammenfassen, allen Gewerkschafts¬
einrichtungen ein gemeinschaftliches Aktionsfeld, auf dem sie zusammenarbeiten
müssen, eröffnen und ihnen ein öffentlich-rechtliches Vertretungsorgan, wie es
andere wirtschaftliche Berufszweige schon lange haben, zur -Verfügung stellen."
Mit dieser Begründung wurde der Grundton in den Reihen der Gewerkschaftler
versöhnlicher. Auf dem Boden der Solidarität zwischen Unternehmer und
Arbeitnehmer tastete man vor, um Einfluß auf die Räteorganisation zu gewinnen.
„Es besteht in den Gewerkschaften gegen die Arbeiterräte als Institution durch¬
aus keine Gegnerschaft," so schrieb das „Korrespondenzblatt". Man stellte sich
hinter die Leitsätze Cohen—Kaliski, nach deren zweiten: Teil die Betriebsräte die
ausführenden Organe der Gewerkschaften in den Betrieben sein sollen. „Als
solche werden die Betriebsräte keine Gefahr für die Produktion und die Arbeiter
selbst werden können, sondern im Gegenteil erst die nötige Kraft für eine erfolg¬
reiche Wahrnehmung der Arbeiterinteressen bilden. Hier mitzuwirken, würden
die Gewerkschaften sofort bereit sein," so das bereits erwähnte „Korrespondenz¬
blatt". Der Stimmungswandel zeigte sich aber erst recht auf der Konferenz der
Vertreter der Verbandsvorstände am 25. April bei der Beratung der „Richt¬
linien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften". Nach diesen Richtlinien
soll das Mitbestimmungsrecht bei der gesamten Produktion verwirklicht werden.
Innerhalb des Betriebs sind freigewählte Arbeitervertretungen (Betriebsräte) zu
schlaffen, die, im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und auf deren Macht
««stützt, in Gemeinschaft mit der Betriebsleitung die Betriebsdemokratie durchzu¬
führen haben. Die Grundlage der Betriebödemokratie ist der kollektive Arbeits¬
vertrag mit gesetzlicher 'Rechtsgültigkeit. Die Aufgaben der Betriebsräte im
einzelnen, ihre Pflichten und Rechte sind in den Kollektivverträgen auf Grund
gesetzlicher Mi ndestbestimmungen festzulegen.
In den Gemeindebezirlen oder größeren Wirtschaftsgebieten übernehmen
die aus UrWahlen mit beruflicher Gliederung hervorgehenden Arbeiterräte neben
den innerhalb der lallgemeinen Wirtschalftsorganisation ihnen gesetzlich zu¬
gewiesenen Pflichten und Rechten auch die sozialen und kommunalpolitischen Auf¬
gaben der seitherigen örtlichen Gewerkschaftskartelle. An Stelle der letzteren
treten Ortsausschüsse des Deutschen GewerkschaftSbundes, die ihre Tätigkeit aus
v>« rein gewerkschaftlichen Aufqaben beschränken und daneben die Verbindung
ver Gewerkschaften mit den Arbeiterräten herstellen.
Außer diesen örtlichen Arbeiterräten sind Arbeitervertretungen für größere
Bezirke und für das Reich auf Grund von UrWahlen nach dem Verhältniswahl¬
system zu berufen. Dieselben können mit entsprechend zusammengesetzten Ver¬
tretungen der Betriebsleiter gemeinsam sozialpolitische und wirtschaftspoli lische
Angelegenheiten als Selbstverwaltnngsorglane der Volkswirtschaft (Wirtschafts¬
kammern) behandeln, Gesetzentwürfe .ausarbeiten und begutachten sowie Vor¬
schriften für die Organisation der Betriebe und Wirtschaftszweige zu deren
l^ozialifierung ausarbeiten und auf ihre Durchführung hinwirken.
Die Gewerkschaften können nach ihrem Charakter als Vertretung reiner
Arbeiterinteressen nicht selber Träger der Produktion sein, als 'welche die Wirt¬
schaftskammern zu selten haben. Ihnen fällt aber die Führung einer ziel¬
bewußter Arbeiterpolitik innerhalb der Wirtschaftsikmmnern zu. Sie haben
grundsätzliche und praktische Richtlinien für die Arbeitervertreter aufzustellen und
für die dauernde Verbindung dieser Vertreter untereinander und mit den
Gewerkschaften Sorge zu tragen. Sie müssen umfassende Maßnahmen treffen,
um die Erkenntnis aller volkswirtschaftlichen Fragen und Produktions¬
bedingungen, der Technik und Betriebsverwaltung in der Arbeiterschaft zu ver¬
breiten und damit bei dieser die Kräfte auszulösen, die zur Durchführung der
sozialistischen Wirtschaftsweise nötig sind.
Erfreulicherweise hebt sich -aus diesen Richtlinien der Gedanke der Arbeits¬
gemeinschaft klar hervor. Er allein zeigt den Weg, auf dem ernstere Störungen
des Wirtschaftslebens vermieden und hervortretende Meinungsverschiedenheiten
und Gegensätze zum Ausgleich gebracht werden können. Das hat feit dem
15. November die Praxis zur Genüge bewiesen.
Wie wird nun tatsächlich die künftige Stellung der Gewerkschaften sein?
Nach dem Gesetzentwurf über die Betriebsräte sollen diese keinesfalls eine
Parallelorganisation zu den Gewerkschaften, sondern vielmehr auf deren
Erfahrungen und deren Gesamtüberblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse
angewiesen fein. Das bedeutet die Verneinung der von radikaler Seite geplanten
Atomisiernng der goiverkschaftlichen Organisationen. Eine völlige Klärung der
Verhältnisse wird aber erst der am 30. Juni in Nürnberg stattfindende
10. Gewerkschaftskongreß bringen und weiterhin der noch aufstehende Gesetz¬
entwurf über den Aufbau des Rätesystems.
In Anbetracht der trostlosen Wirtschaftslage unseres Vaterlandes ist die
Hoffnung berechtigt, daß die führenden Männer nicht dem Druck der Massen¬
psychose unterliegen und russische Experimente nachahmen, vielmehr die Oppo¬
sition aus den Rechen der Mitglieder hinausdrängen 'werden. Das Prinzip der
Arbeitsgemeinschaft aber muß zwecks 'Wiedergesundung des wirtschaftlichen
Lebens bis in die Spitze hinauf gewahrt bleiben.
entsche Gedanken gehören heute der deutschen Not. Veröffent-
W^AA^j lichungen aus dem hinter uns liegenden Weltkriege können nur
d""n Beachtung verlangen, wenn ihr Gebäude aus völlig
authentischen Material besteht, und wenn wir ans Fenstern
M^^UMM^' der Unparteilichkeit in bisher dunkles oder wenig erforschtes
W^ez^Z? Gebiet blicken können.
Das Buch von Dr. Johannes Lepsius: Deutschland und Armenien
(Tempel-Verlag in Leipzig) erfüllt diese Voraussetzungen.
Dem Verfasser- standen seit Dezember 1913 sämtliche auf die Armenier¬
fragen bezüglichen diplomatischen Aktenstücke des Auswärtigen Amtes zur Ver¬
fügung. Wir können eine unparteiische Darstellungsweise um so mehr von ihm
erwarten, als er sich schon seit Jahrzehnten zum Anwalt der Armenier gemacht
hat. Er hat sich! der schweren Aufgable der Sichtung und Kommentierung so
zahlreicher Akten nur in der Absicht unterzogen, Licht in eine bisher ungeklärte,
traurige Angelegenheit zu bringen, er trägt auch (s. Vorwort) die Ver¬
antwortung für die Zuverlässigkeit des Bildes, das feine Auswahl von der
Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage ergeben soll.
Gerade diese Gewissenhaftigkeit des Verfassers bei der Ausführung des
Vorhabens, lediglich das Material sprechen und dessen innere Kontinuität durch
möglichst reiche Wiedergabe offenbar werden zu lassen, dürften dem Bekannt¬
werden des Buches einigermaßen entgegenstehen.
Es wäre wünschenswert, einige Zeit nach dem Erscheinen des etwa
600 Druckseiten umfassenden Werkes an feiner Hand die Punkte genauer hervor¬
zuheben, die auch dem in politischer Denk- und Schreibart weniger geschulten
Leser ein klares Urteil darüber ermöglichen, daß, rund heraus gesagt, alle Be¬
hauptungen der Gegner von Deutschlands Mitschuld an den Greueltaten gegen¬
über den Armeniern entweder auf müßigem Geschwätz oder auf tendenziöser
Lüge beruhen.
Gründliches Studium des Lepsiusschen Buches bringt uns zunächst auf
die Frage: Wie entstand diese Lüge, warum mußte sie entstehen?
In Deutschland den menschenfresfenden Oger zu sehen, der am Hinmorden
von Männern, Vergewaltigungen von Frauen, Werhungernlassen von Kindern
Gefallen fand oder zum mindesten gleichgültig dagegen blieb, das hat uns Ovient-
deubschen nie in den Sinn gewollt; immerhin sträubte sich das sittliche Empfinden
des einzelnen derart, daß er der Regierung, den diplomatischen oder konsularischen
Vertretern Mangel an Einsicht oder Eifer in der Behandlung der Armenier¬
frage vorwarf.
Wie im Burenkrieg, wollte der Bürger Gefühlspolitik treiben, von
Pressionen der Diplomaten, von Hilfsaktionen der Privaten, von Feldzügen der
Presse hören. Und wenn sich der Deutsche im Orient und auch Wohl der in der
Heimat so sehr entrüstete, was sollten dann erst die zahlreichen, am eigenen
Leibe bedrohten, intellektuellen Armenier Konstantinopels von Deutschland
glauben? Lügen hatten nirgends längere Beine als in Vera, wo ein vaterlands-
Mes Nafsengemisch täglich seine neue Sensation brauchte, täglich sein neues
Märchen über die Osmanen erfand und sich deutschem Geist instinktiv widersetzte,
^on mißtrauischen Neutralen — hierfür bin ich selbst Zeuge — wurden diese
Gerügte als authentische Nachrichten weitergegeben. Sie brachten die me
stockende Lügen- und Greulelerfindungsmühle der Entente in ganz besonderen
Schwung. In die fernen Erdteile klapperten sie es hinaus und wieder zurück
über Nußland in die. Einöden Türkisch-Armeniens, wo ein gesamtes Volk für
einige Aufstünde gegenüber türkischen Gendarmen und für Geheinwerbindungen
chver Führer mit den Russen bitter büßen mußte.
Und als nun unter ihm das Gerücht entstand, Deutschland, das ferne,
angekannte, sei Urheber der drakonischen Maßnahmen der Regierung, Mit¬
schuldiger an ihrer rücksichtslosen Durchführung seitens der Lokalbehörden, da
war es nur zu natürlich, daß namentlich die untergeordneten türkischen
Sicherheitsorgane in geheimer Scheu vor den Folgen ihrer Taten sich hinstellten,
ins seien sie nur die gedungenen Knechte, und als sei ihr großer Bundesgenosse
ver eigentliche Henker eines ganzen Volksstammes.
Eine aufmerksame Analyse und Auslese der von Dr. Lepsius gewählten
Aktenstücke macht uns mit alle dem bekannt und ferner mit der Einsicht der
«utschen Konsuln, die den Zusammenstoß in den Gvenzwilajets schon voraus-
sahen, mit der Entrüstung der Deutschen, die, zur Tatenlosigkeit verurteilt, das
Elend bei den Deportationen und in den Konzentrationslagern erblickten, mit
den Methoden der Türken, ihren Begründungsversuchen, endlich mit den Vor»
Stellungen und Schritten der deutschen Botschafter.
Wir schälen zunächst die Briefe der Wangenheim, Hohenlohe, Metternich,
sowie der militärischen Größen Goltz, Liman von Sanders, Lossow und Kreß
aus den übrigen heraus.
Da wird am 4. Juli 1915 vom Botschafter persönlich dem Großwefir ein
Memorandum überreicht, das die lbeveits im Juni gemachten Vorstellungen
gegen „solche schmachvollen Vorfälle" in feierlichster Form Miederholt. Es erfährt
einen Zusatz am 9. August. Zpm ersten Male weist hier der Botschafter darauf
hin, die öffentliche Meinung sei schon dahin gekommen, zu glauben, „daß
Deutschland in seiner Eigenschaft als Verbündete und befreundete Macht der
Türkei diese Gewalttaten gebilligt oder sogar inspiriert hätte".
Nach Scheinerfolgen Ende August 1915 erneute Rückschläge. Vor der Welt
standen «wir nunmehr als Mitschuldige an dem politischen Massenmord da. Aus
den Akten geht hervor, wie sehr wir uns darüber im klaren waren, wie Böses
wir davon für unsere politische Zukunft befürchteten, wie unser christliches
Gewissen sich dagegen empörte. Dennoch wurde zu jener Zeit nicht einmal der
Versuch gemacht, der Öffentlichkeit unsere -Hände als rein von vergossenem Blut
zu zeigen. Was muß aus dieser Unterlassung gefolgert werden? Daß wir über
die Machtmittel gegenüber dem eigentlichen Täter in Wirklichkeit nicht verfügten.
Damals kam aber "keinem Uneingeweihten, keinem Neutralen, keinem Feinde in
den Sinn, daß die Stärke Deutschlands im Verhältnis zu dem türkischen Bundes¬
genossen vorerst so fiktiv war, daß wir ihm bei seinem Verfahren mit einem'machtvollen Halt! gar nicht in den Arm fallen konnten.
Der kluge verstorbene Botschafter, Freiherr von Wangenheim, schreibt am,
16. Juli dem Reichskanzler: „Die Pforte fährt trotz der wiederholten eindring¬
lichen Vorstellungen fort, die Armenier zu deportieren und der Vernichtung
preiszugeben. Wir können sie nicht daran hindern und müssen ihr die Ver¬
antwortung für die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Maßregel über¬
lasten." Das schmeckt nach Resignation, also bitter, zeugt aber zugleich von
klarem Blick für die damalige politische Situation. Die Aussicht, größere
Truppenkontingente nach der Türkei zu schaffen, bestand vor Eröffnung des Weges
durch Serbien überhaupt nicht. War auf die Pforte durch wirtschaftliche Ma߬
nahmen irgend ein Druck auszuüben? Eine Hilfeleistung unsererseits hatte
bisher sowieso nur in beschränktem Maße stattfinden können, fo daß die Türkei
bereits schwer enttäuscht war. Jede Verkennung der Notwendigkeit, dem kriegs¬
müde und unlustig in den Weltkrieg eingetretenen Volke die nationalistischen
Köder wegzureißen, jede Einmischung in die- von plötzlichem Selbstbewußtsein
erfaßte innere Politik gefährdete das Bündnis und hat es in den folgenden
Kriegsjahren gefährdet. (Siehe die Bemerkungen des Staatssekretärs
Zimmermann im Jahre 1916 im Reichshaushaltungsausschuß: „Unser Bot¬
schafter hat sich direkt den Unwillen des Großwesirs und des Ministers des
Innern zugezogen. Nach drei Monaten seiner Tätigkeit haben diese gesagt, der
Botschafter scheine Wohl nichts anderes zu tun zu haben, als sie immer in der
Armeniersache ärmsten.....Sie werden mit mir übereinstimmen, daß wir
so weit nicht gehen können, den Türken, die wir durch unsere andauernden Vor¬
stellungen in der armenischen Frage stark verstimmt haben, noch das Bündnis zu
kündigen.")
Später ging man mit diplomatischen Schritten dennoch weiter, nur mit
dem Erfolg, die Türkei mehr und mehr zu verärgern. (Aufzeichnungen des
Staatssekretärs vom 19. März 1918: „Die Negierung ist bei ihrem Druck auf die
türkische Regierung bis zur äußersten Grenze gegangen. Die Verantwortung
dafür, durch einen Bruch mit der Türkei wegen der Armeniersrage die Südost¬
flanke unserer Weltkampfstellung zu entblößen, ----- hätte keine deutsche Regie¬
rung tragen können.")
Das Hemd war uns eben näher als -der Rock. Und es darf uns auch nicht
verdacht werden, daß wir verzichteten, durch Nemonstrationen — vielleicht in Ge¬
stalt eines heimatlichen Prefseseldzuges, der unfruchtbar bleiben und unrettbar
verärgernd hätte wirken müssen — zu zeigen, wie sehr wir zunächst, unseren
orientalischen Kriegsgenossen sozusagen im Hemde, d. h. ohne Macht gegenüber¬
standen.
Auf das vorgenannte Memorandum zu antworten, bequemte sich die Pforte
erst am 22. Dezember 1915. Höflichkeit verschleiert sie hier etwas ihre Ablehnung.
Am deutlichsten offenbart sie die Gründe für ihre Unbeeinflußbarkeit erst später,
in einer am 1. März 1916 den Vertretern fremder Mächte in Peru überreichten
Druckschrift, wie folgt:
„Die Kaiserliche Regierung, fest entschlossen, ihre absolute Unabhängigkeit
zu bewähren, konnte natürlich Leine Einmischung unter welcher Form auch
immer, in ihre inneren Angelegenheiten zulassen, wäre es auch selbst von der
Seite ihrer Verbündeten Freunde."
Selbst der ohrwürdige Goltz Pascha zog sich von dem jungen Elwer eine
Verwarnung in dem Sinne zu, erreichte allerdings für die Armenier von Mossul
fein Vorhaben, ebenso wie der Marschall Liman die Bedrohten Smyrnas rettete.
Die Macht unserer Konsuln war in dieser Hinsicht naturgemäß nicht aus¬
reichend. Unterlassen haben jedenfalls weder die in Aleppo (Ur. 25, 47, 75, 120,
127 usw.), Erferum (Ur. 51, 73, 123 usw.), Trapezunt (Ur. 100, 102. 109, 156),
Mossul (Ur. 73, 80, 118), Adana (Ur. 165), Damaskus (Ur. 154, 275, 283)
Stationierten nichts an Berichten und Aufklärungen für die Botschaft in Kon¬
stantinopel.
Vergessen wir auch nicht die getreue Arbeit unserer Missionare (Ur. 42,
L6, 338 usw.) und Schwedens (Ur. 274, 302, 327) in der Waisenpflege. Alle
haben sich für die Vertriebenen eingesetzt: die Zentrumspartei und die Sozial¬
demokraten in der Heimat, die Direktoren der Anatolischen Bahn in Kon¬
stantinopel, die Lehrer von Koula und viele andere mehr. Ein besonderes Kapitel
fast bilden die eindringlichen Briefe des Generals Freiherrn von Kreß über das
Flüchtlingselend aus der letzten Phase des Weltkrieges im Kaukasus. —
Herr Dr. Lepsius weist in feinen eigenen Ausführungen darauf hin, daß
Ulan auf der Botschaft nur das europäische, nicht das asiatische Gesicht der Türkei
gekannt habe. Aus den Briefen der Botschafter geht das jedenfalls nicht hervor,
sondern eher die resignierte Erkenntnis, daß Deutschland den Bundesgenossen
in seiner Anwendung asiatischer Methoden — so empörend sie für den Europäer
auch waren — nicht zu hindern vermöchte.
Warten -wir ab, ob es England und Amerika gelingen wird, hier Wandel
Zu schaffen; als Schutzpatrone und rettende Engel mögen sie von den Resten des
vertriebenen, ausgehungerten Volkes mit Recht begrüßt werden, da ihre Hände
gefüllt find mit Geld und wirtschaftlichen Erleichterungen, die wir infolge der
Hungerblockade dem eigenen, leidenden Volke versagen mußten — vor wie nach
dem Kriege! — Keineswes aber ist es ihnen gelungen, den Armeniern Hilfe vor
den Verfolgungen der Mohammedaner zu bringen. Beweis: Funkspruch aus
Ännapolis vom 22. April 1919:
„In ganz Klein-Asien ... werden die Armenier noch von den Türken ver¬
folgt. Tatsächlich sind seit Unterzeichnung des Waffenstillstandes viele von ihnen
in der Wüste einzeln oder in Gruppen getötet worden....." gez. John Finley,
Kommissar des Amerikanischen Roten Kreuzes.
Und ein zweiter Funkspruch über das Elend der Armenier an der russi¬
schen Grneze muß zugeben, daß das Land der Flüchtlinge noch von Türken
Kurden und Tataren besetzt.sei, und daß diese nicht wagen, das Grenzland zu
überschreiten.
Wenn die Entente als Sieger mit ihren großen Machtmitteln, ihrer mili¬
tärischen Besetzung aller Orte nicht einmal imstande ist, den Armeniern .wirksam
zu helfen, wie sollten wir es vermocht haben, denen unsere Bundespflicht gebot,
die Türkei mit Handschuhen anzufassen?
sse Zungen in Paris behaupten, man hätte die Delegierten Deutsch-
Österreichs nur deshalb so bald zur Friedenskonferenz berufen,
weil man die Italiener habe ärgern wollen, und tatsächlich legen
die lange Wartezeit, die die österreichische Abordnung in Se. Germain
verbringen mutzte, das Unfertige und — man ist versucht zu sagen
— Dilettantische des Vertragsentwurfes diese Vermutung äußerst
nahe. Wichtige Bestimmungen, darunter die der Wiedergutmachung und der
finanziellen fehlen ganz, andere enthalten Lücken, z. B. steht das Schicksal des
Bezirks von Klagenfurth noch aus, während die wirtschaftlichen Klauseln lediglich
eine schlechte Kopie aus dem Entwurf des Vertrages mit Deutschland sind. Den
Entwurf an dieser Stelle im einzelnen zu besprechen ist zwecklos, da er vor der
Unterzeichnung, wenn er überhaupt einen Sinn haben soll, noch bedeutenden Ver¬
änderungen unterworfen werden muß, es aber vorderhand nicht unsere Sache ist,
dabei Ratschläge zu erteilen.
Über die namenlose Härte des Vertrages konnten allerdings nur naive
Gemüter erstaunt sein, die sich etwa durch des geschickten und verbindlichen
Herrn Allizes süße Worte oder Versicherungen unverantwortlicher italienischer
Militärs zu dem Glauben bewogen fühlten, keine der westlichen Mächte könnte
einen ernstlichen Groll gegen das „verführte" oder „vergewaltigte" Osterreich
empfinden, sofern es nur den Anschluß an Deutschland vermiede: die offensichtliche
Hast aber mit der er ausgearbeitet worden ist, läßt vermuten, daß man in Paris
einerseits ermüdet ist, anderseits bei längerer Dauer der Konferenz stärkere
Reibungen und uoch deutlichere, die innere Einheit und damit das ganze Friedens¬
werk gefährdende Sonderbestrebungen fürchtet. Daß Italien Frankreich allmählich
direkt feindlich gegenüber zu stehen beginnt, ist kein Geheimnis mehr, daß England
und Amerika die lange Wartezeit benutzen, Frankreichs Außenhandel lahmzulegen,
ist schon längst von französischen Politikern, denen der Blick nicht völlig durch
das Nächstliegende, den Frieden mit Deutschland, verbaut wird, bemerkt worden,
daß Wilsons Ansehen mehr und mehr schwindet, daß Frankreichs Finanznöte
seine inneren Verhältnisse immer bedrohlicher überschatten, daß Englands, dessen
Dominions unter unangenehmen Streiks leiden, sich ein gewisses Unbehagen
bemächtigt, all das sind Verhältnisse, die zur Eile antreiben, selbst auf die Gefahr
hin, sich zu überstürzen.
So sinnlos nun aber der Vertragsentwurf, dessen Durchführung einen
absolut lebensunfähigen Staat schaffen würde, in seiner Härte erscheint, irgend
eine Politik wird ihm schon zugrunde liegen und um ihn richtig zu würdigen,
müssen wir uns die Grundtendenzen der Ententepolitik gegenüber Osterreich klar
zu machen suchen. AIs die Entente das Losungswort von der Zerschlagung der
Donaumonarchie ausgab, bezweckte sie zweierlei: Rußlands alten Balkangegner,
den Mitbewerber um Konstantinopel, zu treffen, und den Freund Deutschlands,
der dessen Stellung in Zentraleuropa stärkte und ihm den Weg nach dem Osten
bahnte. Wurde die Monarchie zerschlagen, wozu die Idee des Selbstbestimmungs¬
rechts der Völker, der Befreiung der kleinen Nationen einen vortrefflichen Vorwand
boten, so war Rußland vermöge der von ihm beeinflußten Balkannationeu,
insbesondere Serbiens imstande, den jahrhundertalten Wettbewerber zu lahmen.
hatte Frankreich den deutschen Wettbewerb in der Türkei und Anatolien, England
ihn nicht mehr in Mesopotamien zu fürchten.
Daß diese Politik vom Standpunkt der Feinde aus richtig war, bewies der
Verlauf des Krieges, der durch den Abschluß der Bündnisse zwischen den Mittel¬
mächten und der Türkei wie Bulgarien die Möglichkeit einer gewaltigen Aus¬
dehnung der deutschen Einflußsphäre auf eine greifbare, allerdings auf die Dauer
nicht festzuhaltende Gestalt verlieh. Um so nachdrücklicher mußte denn das gemein¬
same Kriegsziel der Zertrümmerung Österreich-Ungarns verfolgt werden. Es
wurde erreicht, wenn auch erst zu einer Zeit, da einer der Hanptgegner, Rußland,
vorläufig aus dieser Erreichung keinerlei Nutzen zu ziehen in der Lage war. Aber
auch der deutsche Drang nach Osten war bei der tiefgehenden wirtschaftlichen
Schwächung Deutschlands, besonders aber bei der sich jetzt vollziehenden weit¬
gehenden Aufteilung der ohnmächtig zusammengebrochenen Türkei nicht mehr in
dem Maße zu fürchten wie vor dem und während des Krieges, sodaß das Interesse
der Entente an den inneren Verhältnissen der einstigen Donaumonarchie bei der
Abwesenheit Rußlands eigentlich nur noch ein theoretisches ist. Aber die Geister,
die sie gerufen hat, wird die Entente nun so leicht nicht los. Die „befreiten"
kleinen Staaten haben nichts Eiligeres zu tun, als die Jmperialistengebärde der
großen nachzuahmen und sich mit List oder Gewalt in den Besitz der aus irgend¬
welchen, sei es ethnographischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten
ihnen wünschenswert erscheinenden Gebiete zu setzen. Natürlich sind sie sich
darüber alsbald in die Haare geraten. Polen und Ukrainer fingen sogleich ihren
eigenen kleinen Krieg an, Polen und Tschechen stritten um Teschen, Rumänen
und Serben um das Banat, die Slawen zeigten, unterstützt durch die Montenegriner,
Sonderbestrebungen und wenn man ein etwa widerstrebendes Deutsch-Österreich
wirksam mit der Abschneidung der Lebensmiitelzufuhr bedrohen konnte, so verlor
man doch über Ungarn, das man ähnlich rücksichtslos zu behandeln Miene machte,
jede Gewalt, nachdem Karolyi, zur Verzweiflung getrieben, die Regierungsgewalt
den Bolschewisten übergeben hatte. Letzteres Ereignis bewies der bestürzten
Entente sofort, daß das Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie doch
nicht so einfach war, wie man, verführt durch die glatten Formeln der Zerschlagung
oder Aufteilung geglaubt hatte. Selbstbestimmungsrecht der Völker das hatte so
bequem geklungen, jedes Volk bestimmte eben über sich selbst. Aber in der
Wirklichkeit zeigte sich alsbald, daß diese Selbstbestimmungen heftig miteinander
kollidierten und daß infolge weitgehender Völkervermischung mit unzähligen
Enklaven und Sonderfällen, hier weniger als anderswo Staats- und Nationalitäten¬
begriff einander deckten. Aber schließlich war man doch nicht umsonst Friedens¬
konferenz und angehendes Völkerbundkomitee, irgendwas wollte man doch zu
sagen und zu entscheiden haben und schließlich mußte der Krieg doch mal ein Ende
finden. Man gebot also zunächst den siegreich gegen Budapest vordringenden
Rumänen Ruhe und Geduld (mit dein Erfolg, daß sich die Magyaren siegreich
gegen die Tschechen wenden konnten) und beschloß, das Problem einmal genau
Zu untersuchen.
Herrgott, da hatte man was schönes angerichtetl Statt eines Wetterwinkels
'« Europa, des Balkans, hatte man zwei. Man mochte die Grenzen ziehen wie
man wollte, ohne Jrredentismen ging es nicht ab und zudem zeigte es sich, daß
all diese Einzelstaaten wirtschaftlich durchaus auf einander angewiesen waren.
Nahm man z. B. den „verbündeten" Tschecho-Slowaken die Deutschen Böhmens,
so waren sie wirtschaftlich abgeschnitten und ohne rechte geographische Grenzen,
Ueß man sie ihnen, so hieß das den Drang Deutsch-Österreichs zu Deutschland
unter allen Umständen verstärken. Das aber wollten wieder auf keinen Fall die
Franzosen, deren „Gerechtigkeitsgefühl" es durchaus uicht zuließ, daß Deutschland
seinen Bevölkerungsverlust in Elsaß-Lothringen, Schleswig und den östlichen
Provinzen durch Angliederung Österreichs wieder ausgliche. Auch die fanatischsten
mußten sich aber sagen, daß dieser Anschluß zwar, solange noch Krieg sei, durch
me ewige Drohung mit der Lebensmittelsperre verhindert werden könne, daß auf
die Dauer aber weder eine Neutralisierung Österreichs noch eine mildere Be¬
handlung eine Gewähr dafür gäbe, daß der Anschluß unterbleibt. Also schlug
man, hierin von den Amerikanern unterstützt, einen Donaubund vor. Osterreich,
Tschechen, Polen, Ungarn, Südslawien und Rumänien sollten einen Zollverein
bilden und sich gegenseitig helfen, was praktisch also auf Wiederherstellung der
alten Monarchie und Ausdehnung ihres Wirtschaftseinflusses aus Polen und
Rumänien hinauskam. Natürlich waren weder Polen noch Rumänen damit ein¬
verstanden, am heftigsten aber schrien die Italiener, die nicht an der Zertrümme¬
rung Österreich-Ungarns mitgearbeitet haben wollten, um den alten Staat in nur
äußerlich veränderter Form wieder auferstehen zu sehen. Wie man das Projekt
nun aber wieder fallen ließ und zu untersuchen begann, auf welche Weise etwa
innerhalb der einzelnen Staaten ein Schutz der Minderheiten garantiert werden
könnte, erhoben sich sofort wieder die Einzelstaaten, um, Rumänien an der Spitze,
auf das nachdrücklichste gegen jede Eimnnigung der großen Staaten in ihre
eigenen Hoheitsrechte zu demonstrieren. Was sollte man nun machen? Aus
militärische Machtmittel ist bei der zunehmenden Kriegsmüdigkeit und da die
französischen Sozialisten täglich lauter auf Zurückziehung der französischen Streit¬
kräfte aus Ungarn dringen, nicht mehr so recht Verlaß, die Autorität des Völker¬
bundes ist noch ganz ungefestigt, also bleibt es doch beim Donaubund, um so
mehr als man sich auch die Verteilung der österreichischen Kriegsschuld überlegen
muß. Daß Osterreich und Ungarn sie allein trogen, ist ausgeschlossen, da sie
darunter zusammenbrechen würden, die befreiten Kleinstaaten aber machen stürmisch
geltend, daß sie „als Verbündete" gerechterweise doch keinesfalls für die Schulden
eines alten, nicht mehr bestehenden Staates, dem sie von jeher feindlich gegenüber
gestanden hätten, verantwortlich gemacht werden könnten, ja sie weigern sich sogar,
die staatlichen Anlagen in den ihnen neu zugeschlagener Gebieten für sich zurück¬
zukaufen. Also gemeinsame Schuldkasse? Aber die Italiener drohen für den Fall
eines Donaubundes mit neuer Abwanderung und machen geltend, daß ein An¬
schluß Österreichs an Deutschland nicht so sehr auf eine bedrohliche Stärkung
Deutschlands als auf eine wirksame Zurückdrängung des preußischen Einflusses
im neuen Reich hinauslaufen würde. Jetzt aber haben, ermutigt durch die
rheinischen Loslösungsbestrebungen, die Franzosen einen neuen Ausweg entdeckt!
Man schlägt auch Bayern zum Donaubund und kann dann ja, wenn Italien auf
seinem Widerstreben besteht, aus den süddeutschen Staaten nebst Österreich dem
norddeutschen Staatenbund einen süddeutschen gegenüber stellen. Das hieße dann
allerdings den Balkan noch mehr nach Westen verlegen.
Man sieht, die Entente hat wenig Glück mit ihren Völkerbeglückungsideen
und an allgemeine Abrüstung scheint vorderhand nicht gedacht werden zu können.
mes der lieblichsten Gnadenwunder, welche das fromme Flandern
des Mittelalters. dichtend um die Jungfrau Maria wob, ist die
Sündenbekehrung jener Nonne Beatrix, die sich einem Manne zuliebe
aus ihrem Kloster stahl, mit diesem in der Welt lebte, hernach von
ihm verlassen wurde und, um ihr Leben zu fristen, sich der Buhlerei
ergab. Von Reue gepeinigt, kehrt sie nach vierzehn langen Wander¬
jahren vor ihr stilles Kloster zurück und erfährt hier, daß sie all die Zeit über
gar nicht vermißt wurde.- Es hatte die Mutter Gottes im Gewände und in der
Gestalt der Nonne an ihrer Stelle den niedrigen Dienst der Küsterin im Kloster
versehen. Nun, nachdem sie zurückgekehrt ist, übernimmt sie wieder ihren alten
Dienst, ohne daß im Kloster eine der Mitschwestern von ihrem verflossenen aben¬
teuerlichen Dasein etwas erfährt und ist, weil sie bitterlich bereut, der Verzeihung
des Himmels gewiß.
Nach bestimmten Anhaltspunkten zu urteilen, hat diese Legende ihren Ent-
stehungsort in Flämisch Brabant, näher bestimmt in der Umgegend von Löwen,
gehabt. Hier stand das Kloster Vrouwen-Park, und einem alten, sich im Kirchen-
chore dieses Klosters ehemals befindlichen Muttergottesbilde schrieb eine noch bis
in die Mitte des vorigen Jahrhunderts lebendige mündliche Überlieferung, wie
manche andere Gnadentat so auch das Beatrixwunder zu.
Indessen wäre das flämische Vorkommnis im Gedächtnis der Menschen nach
aller Wahrscheinlichkeit erloschen, wäre also für die Nachfahren, da sie nichts
davon erfahren konnten, gewissermaßen gar nicht vor sich gegangen, wenn nicht
von deutscher Seite und zwar zu zwei verschiedenen Malen eine Aufzeichnung
der Legende vorgenommen worden wäre. Die Deutschen sind also, indem sie die
Legende retteten, an ihrem Weiterleben nicht weniger beteiligt, als die Flamen,
welche die Legende zuerst dichteten. Jedenfalls wäre jene später erfolgte mannig¬
faltige Verwendung und Umarbeitung des Stoffs, sein Hinübergleiten in fremde
Literaturen ganz unmöglich gewesen, wenn nicht eine geringe Zeit nach dem Vorfalle
ein Deutscher (anno 1222) die wesentlichen Punkte desselben für alle Zukunft
chronikartig festgelegt hätte. Und dann geschah es sechs Jahrhunderte später, dasz
abermals ein Deutscher, der Sagenforscher I. W. Wolf, nach Brabant zog, um
dort, gleich den Brüdern Grimm in Deutschland, aus dem Volksmunde die
absterbenden Märchen, Sagen und Legenden der Flamen aufzuzeichnen, und der
das Glück hatte, in jenem Kloster Vrouwen-Park bei Löwen eine alte Insassin
zu finden, welche die Beatrix-Legende kannte und, indem sie dieselbe dem Deutschen
erzühlte, es diesem ermöglichte, die Legende in sein berühmtes Niederländisches
Sagenbuch (Leipzig 1848) aufzunehmen, nun auch für die Wissenschaft die schöne
und schlichte Fabel rettend. -
Der Deutsche, welcher den Flamen jenen ersten Dienst der schriftlichen
Niederlegung ihrer Legende erweisen durfte, war der Mönch Caesarius von Heister¬
bach, welcher von dein Geschehnisse entweder durch holländische, sich in Hecherbach
aufhaltende geistliche Novizen Kunde bekam oder davon unmittelbar auf einer
seiner Reisen nach den Niederlanden hörte, wohin er des öfteren in Begleitung
des Heisterbacher Abts gekommen ist. Er fügte die Wundergeschichte seinem
DiÄvMs MrALuIorum ein, wo man sie im siebenten Hauptstücke unter Kapitel 35
aufgezeichnet findet. Dieser Wortlaut bildet, wie gesagt, den Ausgangspunkt für
alle später erfolgten Bearbeitungen der Sage. Da des Caesarius lateinisch
geschriebenes Werk schon bei seinem Erscheinen weit in Deutschland herumkam
und mehrfach übersetzt wurde, kann es nicht wundernehmen, wenn z. B. die
Wiener Staatsbibliothek eine treuliche Übertragung ins Mittelhochdeutsche besitzt,
wo die Legende den Titel trägt „Ein Wunderlichen von einer Klosterfrawen".
Andererseits wurde der DialoZus Mraculorurn auch in den Niederlanden eifrig
gelesen, abgeschrieben und übersetzt. So wurde noch 1866 in den Ruinen eines
Klosters bei Enkhuizen eine niederländische, handschriftliche Fassung des DialoZus
gefunden, die jedoch inzwischen wieder verloren gegangen ist.
Nun lebte in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts in den
Niederlanden ein Dichter, der das, was Caesarins lediglich in die Form eines
Chronikberichts gebracht hatte, seiner bloßen Tatsächlichkeit entledigte und das
Geschehnis mit außerordentlicher Gestaltungskraft neu zu einem Werte der Kunst
umbildete. Der Namen und die Lebensumstände dieses Dichters sind unbekannt,
aber sein Werk hat die Zeiten überdauert als eine der schönsten Blüten, welche
zur Garten mittelalterlicher Poesie aufsproßten. Auch auf dieses Gedicht wie auf
so manch andere alte und jüngere literarische Leistung der Flamen sind die
Deutschen während der Kriegsbesetzung Belgiens wieder aufmerksam gemacht worden;
in einer deutschen Übertragung wird es der Inselverlag neu an den Tag geben.
Wenn der flämische Dichter im Umfange seiner Versnovelle erklärend sagt:
so darf mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß es eben der
vialvZus MraLulorum des Caesarms, lateinisch oder niederländisch, war, welcher
in der Vüchersammlung des Mönchs Giesbrscht sich vorfindend, die Anregung zur
Abfassung deS Gedichts gab. In allen wesentlichen Stücken hat sich der unbekannte
Dichter treulich an den Bericht des Caesarms angeschlossen, hat aber, was bei
Caescuius knapp und karg bemessen auf einige Seiten zusammengedrängt steht,
ausgeweidet und abgerundet zu einem vollen und geschlossenen, in 1033 Verszeilen
abrollenden Menschenschicksal. Er bringt menschliche Begründungen an, welche
die Zusammenhänge deutlicher verständlich machen. Wo Caesarms einfach meldet:
„Ein Junker sah die Nonne und begehrt ihrer, und fing an um sie zu werben", da
entlastet er die Schwere von Beatrix Fehltritt im vorhinein, indem er zwischen
den Junker und die Nonne eine alte, von Kindheit auf unerfüllte Liebesbeziehung
webt. Der Junker spricht:
In größerer Ausführlichkeit als bei Caesarms werden in dem Gedichte die
Vorbereitungen zur Flucht und die Tage des Ritts der beiden ausgesponnen.
Von holdem Naturgefühl getragen ist das folgende Bild:
Bei Caesarms ist es die Mutter Gottes in eigener Person, die der Ge¬
fallenen, nachdem sie vierzehn Jahre in der Welt gelebt hat und als sie nunmehr
reuig an die Türe des Klosters wieder anklopfen kommt, erscheint und ihr von
ihrer Stellvertretung Kunde gibt. Mit großem Feingefühle läßt hiergegen der
niederländische Dichter dieses Zwiegespräch sich im Traume der Heimstrebenden
vollziehen, wie überhaupt die Mutter Gottes nirgends selbst handelnd auftritt;
von ihrer Güte wird lediglich mittelbare Mitteilung gemacht. Auch werden der
Nonne in dem Gedichte zwei Kinder gegeben, um deren Unterhalt, nicht zur
eignen Lust, sie später, als sie der Geliebte verlassen hat, als Dirne auf die
Straße geht. Für die Kinder sorgt am Schlüsse ein wohlgesinnter Abt, und der
Dichter schließt seine Marienhuldigung mit dem Worte ab:
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werd?« kann.
Arbeiterräte, Bürgerräte, Soldatenräte, Baucrnräte, Frauenräte: sie alle
geben nur dem Teilwillen von Gruppen und Ständen Ausdruck. Der völkische
Gesamtwille des ostmärkischen Deutschtums kommt allein in den Deutschen
Volksräten zum Worte.
Das beste Recht der Welt bedarf einer kräftigen Stimme, die es geltend
wacht. Bleibt der Ostdeutsche in dieser Zeit der weltpolitischen Entscheidungen
stumm, dann muß er sich selbst die Mitschuld daran beimessen, wenn die Friedens¬
konferenz über seine heiligsten Rechte zur Tagesordnung übergeht.
Eine Preisaufgabe für Historiker: Wo in der Weltgeschichte ist einem Volke
ein Waffenstillstand zugemutet worden, der ihm die Hände bindet, ohne den
Feind zur Einstellung der Feindseligkeiten zu verpflichten? Die Entente hat das
Unmögliche möglich gemacht: nur uns. nicht den Polen verbietet sie die Fort¬
führung des Kampfes, den uns Landfriedensbrecher im eigenen Reiche auf¬
gedrängt haben.
Der Pole bricht schamlos den Waffenstillstand, zwingt uns zum Wieder¬
stand und zum Protest und funkt im selben Augenblick nach Paris: Haltet den
Dieb! Ein teuflischer Trick, der uns in die Rolle des Mannes drängt, von
dem der große Bruder an der Seine mit weltmännischer Skepsis sagt: OK,
Mi s'exLuse, stetige! Ein sehr durchsichtiger Trick übrigens, freilich nur für
den, der sehen — will. Wann wird die Welt sehen wollen?
Unsere Karte, die Herbert Heyde unter Leitung von Professor Albrecht Penck
im Geographischen Institut der Berliner Universität ausgeführt hat, gibt ein
wesentlich richtigeres Bild der Verteilung der Deutschen und Polen als die bis¬
herigen, denn sie ist nicht nach Kreisen, sondern nach Gemeinden bearbeitet. Erst
dabei ergibt sich, wie bunt die Mischung ist und wie fast unmöglich schwierig es
sein würde, eine sogenannte „gerechte" Grenze zu finden. In den folgenden
Erläuterungen lehnen wir uns an die lichtvolle Darstellung an, die Professor Dr.
Albrecht Penck in Ur. 67 der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" gibt.
Rein deutsch und rein polnisch heißt: mit weniger als 5 Prozent. Beimischung
der anderen Nationalität. Da springt zunächst eines in die Augen: das rein
polnische Gebiet ist in beiden Provinzen nur wenig mehr als halb so groß wie
die rein deutschen Gebiete.
Die rein deutschen Gebiete liegen im Osten und Westen der beiden Provinzen.
Das Gebiet um Danzig und Elbing, die ganze stark bevölkerte Weichselniederung
ist ebenso rein deutsch, wie die breite Landstrecke südlich von Marienwerder, von
der Grenze Ostpreußens bis zur Weichselniederung. Danzig als Stadt im
besonderen ist so rein deutsch wie Berlin. Auf diesem Gebiet sitzen auf 3400 Quadrat¬
kilometer ungefähr 456000 Deutsche und keine 15600 Polen, also nur etwa
3 Prozent. Im Osten des Regierungsbezirks Bromberg legt sich um den
Oberlauf der We esset, ehe sie nach Norden umbiegt, eine rein deutsche Sprachinsel
zwischen Bromberg und Thorn.
Die rein deutschen Gebiete im Westen der Provinz Posen sind Fortsetzungen
der rein deutschen Sprachgebiete des Reiches. Nördlich in Westpreußen das große
Gebiet greift bis über Friedland und über Schneidemühl hinaus und geht nach
Süden bis an die Netze unterhalb Schneidemühl und bis an die Warihe unterhalb
Birnbaums nach der Provinz Posen über. Auch die Westspitze der P>ovinz Posen
ist rein deutsch. Eine Zunge rein deutschen Gebietes erstreckt sich hier von Meseritz
bis in die Gegend von Neutoinischel. Diese westlichen rein dnitsben Sprach¬
gebiete der Provinzen umfassen 5500 Quadratkilometer mit 208000 Deutschen
und etwa 7000 Polen, also wieder nur etwa 3 Prozent, Das genannte rein
deutsche Sprachgebiet in Westpreußen und Posen mißt 8900 Quadratkilometer und
beherbergt 664000 Deutsche. Rein deutsch ist also der fünfte Teil von Fläche und
Bewohn» rzahl beider Provinzen.
Der Augenschein lehrt, daß die rein polnischen Gebiete nirgends so geschlossen
auftreten, wie die rein deutschen. Sie finden sich nur in rein ländlichen Gebieten.
Die Städte haben auch in der Provinz Posen wenigstens 10 Prozent, gewöhnlich
aber 25 oder mehr Prozent Deutsche. Die schwer abgrenzbaren schwarzen Keile
füllen vor allem den Süden der Provinz und greifen nur in einen kleinen Bezirk
südlich Krotoschin in den Regierungsbezirk Breslau über. Nördlich Posens und
erst recht in Westpreußen werden sie spärlich. schätzungsweise füllen diese rein
polnischen Gebiete 5000 Quadratkilometer mit kaum mehr als 370000 Einwohern,
darunter 13000 Deutsche. Also nach Zahl der Fläche wenig mehr als die Hälfte
des rein deutschen GebietsI
Die völkisch reinen Gebiete sind, wie wir sehen, für beide Nationalitäten
überwiegend Randgebiete. Der Kern der Provinzen, der dreiviertel des Bodens
umfaßt, ist gemischtsprachig. Wohl haben im Norden die Deutschen, im Süden
die Polen die Mehrzahl, eine irgendwie klar trennende Abgrenzung aber ist bei
dem starken Ineinandergreifen der Gebiete schlechtweg unmöglich. Um nur eins
der vielen Beispiele zu wählen: die polnische Sprachinsel von Bomst ist von einem
überwiegend deutschen Gebiete umschlossen.
Überraschend groß und geschlossen erscheint zuerst das überwiegend polnisch
gemischtsprachige Gebiet im nordwestlichen Weslprenszen, das sich nördlich von
Bromberg bis nach Rixhöft an der Ostsee erstreckt. Diese rund 7000 Quadrat¬
kilometer, die groß genug sind, um auf den meisten ethnographischen Karten zur
Darstellung zu gelangen, verlieren schon durch ihre Bewohnerarmut stark an
Bedeutung, nur 237000 Slawen und 102000 Deutsche wohnen auf diesen
7000 Quadratkilometern, wobei wir noch die Frage beiseite lassen, ob die sprachlich
fast selbständigen Kassuben, die den größer,n Teil des Gebietes bewohnen, denn
nun wirklich zu den Polen gehören. Ein Riegel aus überwiegend deutscher Be¬
völkerung schnürt zudem zwischen Neustadt und Nheda den Landzugang dieser
Sprachinsel zum Meere fast ganz ab.
Ist es so mit der polnisch.slawischen Landbrücke zum Meere schon nichts, so
ist es vielleicht das wichtigste Ergebnis unserer Karte, daß sich die polnische Brücke
längs der Weichsel zum Meere als eine reine Konstruktion erweist. — Nur durch
die Berechnung nach Kreisen und zwar nach Landkreisen möglich! Sobald man
z. B. Land- und Stadtkreis Thorn — wie billig — zusammenrechnet, verwandelt
sich die knappe polnische Landkreismehrheit von 53 Prozent in eine Minderheit
von 44 Prozent und auch der Kreis Schweiz hat seine Mehrheit von ohnehin nur
1 Prozent nur durch die westlichen Hinterländer der Tuchter Heide. Ähnlich steht
es im Kreise Culm.
Das Gegenteil ist richtig, wie unsere Karte zeigt. Es geht an der Weichsel
entlang zwar keine polnische, wohl aber eine deutsche Brücke, die auf festen
Pfeilern ruht und den Deutschen als Talbewohner und Stromanwohner zeigt.
Von Thorn nach Bromberg geht sie durch rein deutsches Gebiet, bis über Graudenz
hinaus durch überwiegend deutsches La- d, bis westlich Marienwerder wieder durch
rein deutsche Strecken, um weiter nördlich nach einer kurzen Unterbrechung durch
nur zwei überwiegend polnische Dörfer wieder in das rein deutsche Land, um
das Weichseldelta, um Danzig und Elbing zu münden.
Und wenn dann schon von Land- und Sprachbrücken geredet werden soll,
so verbindet eine ganz ununterbrochene deutsche Brücke, wie unsere Karte zeigt,
über die Weichsel weg Berlin und Königsberg. Auch sie ist im wesentlichen eine
Tieflandbrücke. Sie verläuft entlang der Warthe und Netze über Schneidemühl
nach Bromberg, begleitet ein Stück die Weichsel bis Graudenz und mündet im
Marienwerder Gebiet ins Ostpreußische.
Nur dadurch, daß fast überall in Westpreußen die Deutschen wesentlich
dichter wohnen als die Polen, erscheint das von Polen und Kassuben besetzte
westpreußische Gebiet so verhältnismäßig groß. Das Prozentverhältnis ist
55 Prozent Deutsche und 45 Prozent Polen. Rechnet man noch den Regierungsbezirk
Bromberg nördlich der Netze hinzu, so ergeben sich auf 31 300 Quadratkilometer
1383 000 Deutsche und nur 714 000 Polen. Also 66 Prozent Deutschen stehen
nur 34 Prozent Polen gegenüber.
Zu diesen statistischen Festlegungen über Zahl und Raum passen ein paar
Angaben über zeitliche Bevülkerungsoerschiebungen. In der Provinz Posen steigt
die Anzahl der Polen bis 1900. Von da ab werden se.? langsam dnrch die
Deutschen zurückgeworfen, ihr Prozentsatz vermindert sich bis 1910 um 0,39 —
In Westpreußen ist ein Hin- net Herschwanken zu beobachten. Von 189(1 bis 1900
sinkt der Prozentsatz Polen um 2,24. Von 1900 bis 1905 steigt er wieder um
2,41, fällt dann aber bis 1910 wieder um 2,29. Der prozentuale Anteil der
Polen ist 1910 um über 2 Prozent geringer als 1890 — Für Ostpreußen sinkt
die Anzahl der Polen von Zeitraum zu Zeitraum. 19)0 ist ihr Prozentsatz gegen
1890 weit unter die Hälfte zurückgegangen. — Rechnet man noch Schlesien hinzu,
wo die Zeit von 1905 bis 1910 für die Polen einen Rückgang von mehr als
1 Prozent ausweist und nimmt man die Quersummen der vier östlichen Provinzen,
so ergibt sich, daß die Polen- bis 1900 in ihrem prozentualen Anteil gesunken
sind, sich dann bis 1905 ungefähr auf gleicher Höhe geholten hoben, dann aber
bis 1910 etwa über 1 Prozent verloren haben. Zwischen 1890 und 1910 hat
sich der prozentuale Anteil der Polen um 1,3 Prozent verringert.
Also weder Zeit noch Raum noch Zahl begründen irgendwie zwingend
polnische Ansprüche auf deutsches Land. Daß Polen zum Meer will, ist begreif¬
lich und das? die Weichsellande ehedem einmal unter polnischer Oberhoheit ge¬
standen haben, bestreitet keiner. Haben diese doch recht ausgedehnten Zeiten sie
zu polonisicren vermocht? .Nein, die Weichsellande haben in diesen Zeiten auf
Grund höherer Kultur und besserer ethischer Fähigkeiten — Fleiß und Ausdauer —
ihren alten deutschen Charakter gut bewahrt. Und heute hat die große Sprach¬
insel Ost- und Westpreußens, die, wie wir sehen, in den Niederungsgegenden
weit über Danzig lstnausreicht, zehnmal soviel deutsche Bewohner, als das ohne¬
hin nur gemischtsprachige polmich-kassubische Land zwischen Bromberg und Rixhöft
ans den sandigen Höh>n Westpreußens, das nirgends Anschluß an andere polnische
Gebiete hat, sondern deutlich von der deutschen Südwest-Nordost-Brücke abgetrennt
wird — Gewiß, was für Böhmen die Elbe schon war, muß und kann für Polen
die'Weichsel werden. Ein Auefnhrweg. den Zollschranken nicht erschweren. Da¬
mit ist aber auch alles nötige und alles billige zugestanden.
Im Regierungsbezirk Posen nun stehen die Deutschen zu den Polen wie
7 zu 15. Si>er nirgends sitzt in größerer Ausdehnung das polnische Element
rein beieinander. Und das starke deutsche Bürgertum der Städte schlingt überall
kaum lösbare, nur zerreißbare wirtschaftliche Bande mit dem übrigen Preußen.
Damit kön wen wir vom schon für den Polen nicht erweisbaren Recht der
reinen Zahl zum R ehe, das Wirtschaft und Kultur gibt. Und da bringt die
Arbeit von Dr. Moritz Weiß „Die Stellung des Deutschtums in Posen und West-
Pr,'uß«in," ans welche die Mitteilungen r,och zurückkommen (W. Greve. Berlin),
den sehr klaren Nachweis, daß die beiden Lande von jeher ganz deutsch kultiviert
waren. Beginnend mit der Kolonistenarbeit im 13 Jahrhundert war der Deutsche
hier der Kuilurbringer und zwar nicht nur als Städtegründer, sondern auch als
Bauer, dem doppelt soviel Land zugewiesen wurde, weil er doppelt soviel zu be¬
arbeiten verstand. Wie sich das im Auf und Ab der Zeiten allmählich entwickelt
und gesteigert hat, dafür sprechen am besten die kurz zusammenfassenden Schlu߬
sätze der Schrift von Weiß, von denen wir die zweite Hälfte wiedergeben:
„Der Grundbesitz, auch der Privaibesitz, ist überwiegend deutsch. — Das
deutsche Bauerntum besitzt in Posen mehr Land als das polnische. — Das Deutsch¬
tum ist im Grundbesitz in Posen stärker als das Polentum in Ostgalizisn. — Die
Städte sind überwiegend deuisch, auch ohne Militär und Beamtentum. — Der
Grundbesitz in ihnen ist überwiegend deutsch. Handel und Verkehr ist überwiegend
deutsch. — Gewerbe und Juduitrie sind, namentlich in den wirtschaftlich wichtigen
Betrieben, überwiegend deutsch. — Die Deutschen zahlen unverhältnismäßig mehr
Steuern als die Polen. — Die Deutschen haben die kulturelle Ueberlegenheit. —
Posen als landwirtschaftliches Überschußgebiet findet wirtschaftlich und verkehrs-
Vvlitisch seine natürliche Ergänzung in dem industriellen Mittel- und Westdeutsch¬
land. Die Zugehörigkeit Posens zu Preußen hat der Provinz jährlich „Zehnte
von Millionen" eingebracht.
Die Verbindung mit Polen bedeutet für die Provinz eine wirtschaftliche
Katastrophe.
Die ostmiirkische Franc in der Rede des
Staatssekretär pes Äußern Grafen Brockoorff-
Rluihau in der Nationalversammlung am
14. Februar 1919: „. . . Sind wir hiernach
entschlossen, ringsumher zugunsten deutscher
Brüder das Recht der Nationalität geltend
zu machen, so wollen wir das Recht auch da
anerkennen, wo es sich gegen unsere Macht¬
stellung wendet. Das gilt bor allem für das
Volk der Polen. Wir haben uns bereit er-
klärt, alle unzweifelhaft polnisch besiedelten
Gebiete unseres Reiches mit dem polnischen
Staate verbinden zu lassen. Wir wollen das
Versprechen halten. Welche Gebiete unter
den dreizehnten Punkt von Wilsons Programm
fallen, ist strittig. Eine unparteiische Instanz
mag darüber entscheiden: bis sie entschieden,
gehören diese Gebiete zum Reich. (Zustimmung.)
Niemand ist befugt, in ihnen Hoheitsrechte
auszuüben, als der Preußische Staat und die
Neichsregierung. (Zustimmung.) Die leiden¬
schaftliche nationalpolnische Propaganda hat
die Entscheidung der Friedenskonferenz nicht
abwarten wollen,^ sondern sich mit Gewalt
gegen deutsche und preußische Behörden er¬
hoben, um mit möglichst günstigem Besitz¬
stand in die Friedensverhandlungen einzu¬
treten. So tragen sie die Schrecknisse des
Krieges von neuem in den deutschen Osten,
der gleichzeitig von der größeren Gefahr des
bolschewistischen Imperialismus bedroht ist.
So verhindern sie uns, die preußischen.Ost¬
provinzen wirksam vor dem gemeinsamen
Gegner zu schützen. Diese Tatsachen müßten
ausreichen, um jedem Politiker klar zu machen,
daß es die erste Aufgabe ist, die Preußischen
Polen zur Ordnung zu rufen, damit sie bis
zur Friedenskonferenz von angemaßter Gewalt
Abstand nehmen. Sie können sich nicht mehr
auf Notwehr berufen, denn die neue deutsche
Negierung hat die drückenden Sondergesetze
aufgehoben und war bereit, Polen auch
in der Beamtenauswahl entgegenzukommen.
Trotzdem stellen die Polen uns als Angreifer
dar, und die Entente unternimmt' es, uns
Anwendung von Gewalt gegen die Polen in
unserem eigenen Land zu untersagen. Die
Neichsregierung hat diese Zumutung abgelehnt
und die Entfernung aller bewaffneten Polni¬
schen Formaiionen aus dem jetzigen Reichs¬
gebiet gefordert. (Beifall.)
Für jede andere Form der Einwirkung,
mit der die alliierten und assoziierten Mächte
Ruhe in den polnischen Gebieten herstellen
wollen, wird die deutsche Negierung volles
Verständnis haben. Wir sind durch das
Waffenstillstandsabkommen verpflichtet, Ab¬
ordnungen unserer Gegner zu diesem Zweck
Durchzug von der' Ostsee nach Kvngreßpvlen
zu gestatten, und werden die Neise der
Kommission, die sie uns angekündigt haben,
in jeder Weise erleichtern und unterstützen.
Unser eigener Borten verlangt, daß die Ha߬
atmosphäre, die augenblicklich die deutsch-
polnischen Beziehungen vergiftet, noch vor
Beginn der Friedensverhandlungen reinerer
Luft des gegenseitigen Verständnisses weicht.
Leider können wir nicht voraussehen, daß
wir im polnischen Staat einen bequemen
Nachbar haben werden. (Sehr richtig!) Es
muß und wird unser Bestreben sein, durch
sorgfältige Pflege der gemeinsamen Interessen
und durch gegenseitige Schonung der nati¬
onalen Eigenart einen moäus vivencii zu,
finden.
Dazu gehört vor allem die Anerkennung
des Polnischen Rechts auf gesicherten Verkehr
mit der Ostsee. Das Problem kann durch
vertragsmäßige Regelung der Weichselschiff¬
fahrt und durch Konzessionen auf dein Gebiet
der Eisenbahnen und des Hafenwesens gelöst
werden, ohne txiß die Neichseinheit über un¬
veräußerliches westpreußisches Gebiet angetastet
zu werden braucht.
Wenn Polen verlangt, daß diese Rechte
wie überhaupt seine staatliche Selbständigkeit
unter internationale Garantien gestellt werden,
so wird Deutschland nichts dagegen einzu¬
wenden haben, solange darin keine Spitze
gegen einen bestimmten Nachbar enthalten ist."
Zusatzabkommen zum Waffenstillstands-
vertrage. In den Borschlägen zum Zusatz¬
abkommen über die Verlängerung des Waffen¬
stillstandes, die Marschall Fons dem Reichs¬
minister Erzberger am 14. Februar übergeben
hat, lautet der auf die Polenfrage bezügliche
erste Punkt:
Die Deutschen müssen unverzüglich alle
Offenfivbewegungen gegen die Polen in dem
Gebiet von Posen oder in jedem anderen
Gebiet aufgeben. Zu diesem Zweck wird
ihnen untersagt, folgende Linien durch ihre
Truppen überschreiten zu lassen:
Gegen Süden die Linie der ehemaligen
Grenze Ost- und Westpreußens gegen Ru߬
land bis zur Weichsel, dann westlich der
Weichsel die Linie, die über Podgorz (südlich
von Thorn),, Brzoze, Schubin, Exin, Lipin,
Samolschin, Chodziesen (Kolmar), Czarnikcm,
Miala und Birnbaum läuft. Gegen Osten
die Linie Berthchen. Wollstein, Priment, Lissa,
Bojcmowo, Rawitsch, Trachenbcrg, Werndorf,
Groß-Briese und Droschkau; von Droschkau
an, die Linie, die über Rotten, Dombrowka
und Kupp läuft und die Oder beim Zu¬
sammenfluß der Malavcme erreicht und von
diesem Zusammenfluß an die grüne Linie auf
beigefügter Karte.
Auf Grund einer Aussprache, die im Auf¬
trage des Reichsministers Erzberger und
Marschalls Fons zwischen Generalmajor von
westlich Miala, westlich Birnbaum, westlich
Berthchen, westlich Wollstein, nördlich Lissa,
nördlich. Rawitsch, südlich Krotoschin, westlich
Adelnau, westlich Schildberg und nördlich
Vieruchow (Eichenbronn) bis zur schlesisch-
russischen Grenze. Also bleibt Ost (anscheinend
Telegrammverstümmelung, soll wahrscheinlich
Ost- und Westpreußen heißen) und Oberschlesien
wie heute in unserer Hand. Die Negierung in
Hammerstein und Generalstabschef Weygand
stattfand, erhielt der Artikel 1 folgende end¬
gültige Fassung: Die Demarkationslinie ver¬
läuft folgendermaßen nach der Lagenkarte der
Obersten Heeresleitung vom 6. Februar: Von
der russischen Grenze bei Luisenfelde auf einer
Linie, die über westlich Luisenfelde, westlich
Groß-Neudorf,südlichBrzoze,nördlichSchubin,
nördlich Exin, südlich Samotschin, südlich
Chodziesen (Kolmar), nördlich Czarnikau,
dem so umschriebenen Gebiet wird in den
Waffenstillstandsbedingungen nicht vereinbart.
Diese Frage bleibt offen, da tatsächlich fest¬
gestellt ist, daß es sich hier nur um eine Provi¬
sorische Abmachung handelt, welche dem
Friedensvertrag in keiner Weise vorgreift.
Der Schutz der Deutschen in diesem Gebiet
wird von der internationalen Kommission in
Warschau, welche wahrscheinlich Vertreter nach
Spaa entsenden dürfte, garantiert.
Einspruch Ker deutschen Reichsregicrnng.
Eine vom Neichsminister Schoidemann unter¬
zeichnete Mitteilung der Neichsregierung an
den Neichsminister Erzberger, Waffenstill¬
standskommission in Trier (vom 16, Fevruar)
behandelt die Polenfrage wie folgt:
Bitte Abkommen unterzeichnen, aber vor¬
her Marschall Fons folgende schriftliche Er¬
klärung übergeben:
Die deutsche Negierung ist sich der Schwere
der Folgen bewußt, die sowohl die Annahme
wie die Ablehnung des Abkommens nach sich
ziehen, müßte. Wenn sie ihre Delegierten
angewiesen hat, zu unterzeichnen, so geschah
dies in der Überzeugung, daß die alliierien
und assoziierten Regierungen jetzt ernstlich
bestrebt sind, innerhalb der kurzen Frist, für
die sie den Waffenstillstand verlängert haben,
der Welt den ersehnten Frieden wiederzugeben.
Die deutsche Negierung ist aber genötigt, ihren
Standpunkt zu den dreiBedingungen desAbkom-
mens durch folgende Bemerkungen klarzustellen:
1. Das Abkommen ignoriert die aus dem
Volkswillen in geordneten Formen hervor¬
gegangene deutsche Regierung. Es legt den
Deutschen in Form schroffer Befehle und Ver¬
bote zugunsten der aufständischen Polen die
Pflicht aus, eine Anzahl wichtiger Plätze, dar¬
unter Birnbaum und Berthchen, ohne weiteres
zu räumen. Diese Plätze sind in deutscher
Hand, überwiegend deutsch besiedelt und von
wesentlicher Bedeutung für den Verkehr mit
dem deutschen Osten. Dabei leisten die alli¬
ierten und assoziierten Mächte nicht einmal
die Gewähr dafür, daß die Polen es ihrer¬
seits unterlassen, neue Angrisse zu unternehmen
oder vorzubereiten, daß sie die deutsche Be¬
völkerung, auf deren Schutz wir verzichten
sollen, menschenwürdig behandeln, daß sie die
deutschen Geiseln freigeben, deren Festhaltung
jetzt jeden Sinn verliert, und daß sie den
bisherigen Lebensmittelverkehr nach dem
Westen hin aufrechterhalten. Wenn wir auch
bereit sind, jede militärische Angriffshandlung
in Posen und anderen Gebieten einzustellen
und die gegenwärtige militärische Lage dort
als Basis anzuerkennen, so müssen wir doch
erwarten, daß auch die aufständischen Polen
die Demarkationslinien einhalten, anderen¬
falls müssen wir befugt sein, uns mit Waffen¬
gewalt zur Wehr zu setzen. . . .
Erzbergers Erklärung. In der Sitzung
der Nationalversammlung vom 17. Februar
äußerte sich Reichsminister Erzberger über die
Demarkationsfrage wie folgt:
„Gleichzeitig ließ Marschall Fons uns
wissen, daß er nicht in der Lage sei, irgend
etwas an den mir mitgeteilten Abmachungen
zu ändern oder sie zu verbreitern, denn die
Bedingungen seien festgesetzt von den Chefs
der alliierten und assoziierten Regierungen,
und sein Dolmetscheroffizier teilte ausdrücklich
mit, daß auch Präsident Wilson ausdrücklich
diese Bedingungen genehmigt habe. Dadurch
war dem Tätigkeitsraum der Kommission eine
enge Grenze gezogen, trotzdem haben wir
versucht, eine Reihe von Milderungen durch¬
zusetzen. Von einer Ausnahme abgesehen,
die sich auf eine anderweitige Abgrenzung
gegenüber Polen bezieht, ist uns dies zu
unserm lebhaften Bedauern nicht gelungen.
Nach den nrir am Freitagnachmittag über¬
reichten Bedingungen und nach der Karte,
die ich auf den Tisch des Hauses niederlege,
sollte das von uns zu räumende resp, nicht
zu überschreitende Gebiet im Süden, die
Oder entlanggehend, ganz Oberschlesien um¬
fassen. Ich habe sofort erklärt, daß auf der
Grundlage dieser Vorschläge von den deutschen
Unterhändlern nicht verhandelt werden könne,
denn alle diese Gebiete seien nicht, wie Mar¬
schall Fons irrtümlich annehme, von den
Polen besetzt. Es fand eine Aussprache der
beiderseitigen militärischen Sachverständigen
statt, die dazu geführt hat, daß sowohl der
Netzedistrikt bei Bromberg nicht in dos Gebiet
einbezogen wird, als auch Oberschlesien aus
dem Gebiete ausgeschaltet bleibt. Mehr war
angesichts der Verhältnisse nicht zu erreichen.
Die Forderung, daß die deutsche Stadt Birn¬
baum nicht von uns geräumt werden müsse,
wurde abgelehnt, ebenso bezüglich Benlschens.
Wir haben nur das eine erreicht, daß der
Bahnhof Berthchen von unseren Truppen nicht
geräumt werden muß. Die Alliierten haben
ihrerseits die Verpflichtung übernommen, zu
gewährleisten, daß auch die Polen sich stritte
an die verabredete Linie halten sollen. Die
Bemühungen, zum Schutze der Deutschen in
allen diesen Gebieten Bestimmungen in den
WaffenstillstcindSverlrag aufzunehmen, waren
erfolglos. Fons hat nur in Aussicht gestellt,
daß er sich bemühen werde, für eine Lösung
der Frage in unserm Sinne in der inter-
allierten Kommission einzutreten. Er erklärte
Positiv, daß das ganze Abkommen in seinem
ersten Artikel eine rein militärische Maßnahme
darstelle und keinerlei politische Folgewir-
kungen nach sich ziehen könne, .dasz also auch
durch die Abgrenzung dieser Gebiete in keiner
Weise der Erledigung des dreizehnten Punktes
des Wilsonschen Programms vorgegriffen
werden solle. Es bleibt den künftigen Ver¬
handlungen überlassen, dasz den von uns
geränmten Gebieten ein genügender Schutz
geleistet wird. Wichtig ist, daß nach den
Versicherungen der Alliierten auch die Polen
jede militärische Offensivbewegung gegen
Deutschland einzustellen haben."
Namens der in den Deutschen Bollsriitcn
der Provinz Puselt zusammengeschlossenen
800000 Deutschen ging am 20. Februar fol¬
gende Drahtnng an die Nationalversammlung,
an den Reichskanzler und an die Waffen¬
stillstandskommission:
In voller Würdigung der großen Schwie¬
rigkeiten, unter denen die Waffenstillstands¬
rommission die Gesnmtintercssen des deutschen
Volkes und in ihrem Nahmen auch unsere
ostmürkischen Lebensnotwendigkeiten zu ver¬
teidigen hat und in Anerkennung der bisher
geleisteten Arbeit dieser Kommission erheben
wir gegen die Vergewaltigung der ostmärli-
schon Deutschen durch die Entente flammenden
Protest. Die wirtschaftliche und kulturelle
Struktur des im Kern deutschen Landes wird
durch eine äußerliche, von polnischer Seite
vielfach tendenziös mißbrauchte Nationalitäten¬
statistik nicht wirklichkeitsgetreu erfaßt. Der
gesamte kulturelle Bestand des seinerzeit in
völliger Verwahrlosung dem zerfallenden
Polenstaate entglittenen Landes verdankt deut¬
schem Fleiß und Erfindungsgeist sein Dasein.
Da im demokratischen Deutschland den Polen
weitherzige Gewährung kultureller und natio¬
naler Autonomie sicher ist, liegt kein Anlaß
zu Gebietsabtrennungen vor, die die Lebens¬
interessen des deutschen Volkes, vor allem auf
dem Gebiete des Ernährungswesens, bedrohen
und deshalb den Keim zu neuen europäischen
Verwicklungen und Friedensstörungen legen
müssen, an denen von der Entente allein
Frankreich ein egoistisches Interesse hat Die
den ausdrücklichen Kundgebungen Wilsdns
und der Entente zuwiderlaufende Präjudi-
zierung der FriedenSverhnndlungen und damit
das erschütterte Ergebnis der letzten Wasfen-
stillstandsverhandlungen wurden den Polen
durch einen militärischen Landfriedensbruch
möglich, der die unentrinnbare Folge der
Unterlassungssünden unserer Rsgicrnng in
den Monaten November und Dezember ge¬
wesen ist. Eine weitere Erschwerung der
Stellung unserer Delegation bei den end¬
gültigen Friedensverhnndlungen ist nur durch
Verhinderung weiterer militärischer wie auch
verwaltungstechnischer Übergriffe und Prn-
judizieruugen der Polen abzuwehren. Erste
Voraussetzung ist die durchgreifende Abwehr
aller Banden, die unter polnischer Flagge
vielfach rein bolschewistische Tendenzen ver¬
bergen, durch gut disziplinierte Truppen.
Ferner ist eine unabweisliche Forderung die
Wiederherstellung der Verwallungseiuheit der
Provinz Posen bis zum endgültigen Spruche
des Friedenskongresses und die einstweilige
Belassung der zentralen Funktionen für die
ganze Provinz bei den Bromberger Behörden.
Damit ist ein Verzicht des Obersten polnischen
Volksrates auf seine angemaßten Hoheiis-
recbte gefordert. Gelingt es nicht, das schiver
erschütterte Ansehen der rechtmäßigen Re-
gierungsgewalt in der Ostmark unverzüglich
wiederherzustellen, so ist damit eine Einbuße
an Neichssreudigleit und Zutnnftsglauben auch
bei drei Millionen Deutschen der Ostmark
mit Sicherheit zu erwarten. Für die politi¬
schen Folgen solchen nationalen Zusammen¬
bruches lehnen wir die Verantwortung feier¬
lich ab, da wir die verfehlte Poulet des
Ministerialdirektors von G^rlach und der von
ihm informierten Berliner Stellen unter Vor¬
aussicht der inzwischen eingetretenen Folgen
durch Warnungen und Proteste von An¬
beginn auf das entschiedenste bekämpft haben.
Die WaffcnstillstnndSkommission in Spaa
hat auf das namens der in den Deutschen
Volrsriitcn der Provinz Posen zusammen¬
geschlossenen 800 000 Deutschen abgegangene
Prvtesttelegrnmm an Geheimrat Georg
Cleinow in Bromberg folgende Antwort ge-
sandt: „Bestätigen das Telegramm vom 20.
Die Festlegung einer Demarkationslinie ist
nur eine provisorische Maßnahme und leine
Präjudizierung der Friedensverhandlungen.
Diesseits wird auf der Grundlage der Wilsvn-
schen Programmpunkte alles geschehen, um
die Abtrennung deutscher Gebietsteile vom
Reich zu vermeiden. Für Abwehrmaßnahmen
ist die Rcichsleitung zuständig. > Eine Ab¬
schrift Ihres Telegramms ist dorthin ge¬
geben."
Am 19. Februar drahtete der Deutsche
Volksrat für Bromverg Stadt und Land
an die Nationalversammlung in Weimar,
die Waffenstillstandskvmmission in Span und
und an den Ministerpräsidenten Scheidemann
in Weimar: „Trotzdem Bromberg und der
Netzedistrikt durch die in den Waffenstillstands-
bedingungen vorgezeichnete Demarkationslinie
selber nicht vom Mutterlande abgetrennt
werden, erhebt die hiesige deutsche Bevölke¬
rung dennoch einmütiger entrüsteten Einspruch
gegen den Versuch, die wirtschaftliche und
kulturelle Einheit der Provinz Posen durch
eine Linie zu zerreißen, die auf dem zufälligen
Stand der gegenwärtigen militärischen
Operationen beruht. Das Bromberger
Deutschtum erklärt sich mit den nationalen
Interessen der vom Mutterlande abgegliederten
ostmärkischen Brüder solidarisch und stellt für
die Friedensverhandlungen als Richtschnur
den Grundsatz auf: Up ewig ungedeckt."
Der Volksrat für Bromverg erhielt am
21. Februar folgendes Telegramm:
Weimar Schloß, 2l. Februar. Die wirt¬
schaftliche und kulturelle Einheit der Provinz
Posen soll durch die Demarkationslinie, wie
Marschall Fons zugesagt, nicht zerrissen
werden. Demarkationslinie festgelegt in Be¬
sprechung des Generals von Hammerstein mit
französischem Generalstabschef. Demarkations¬
linie prnjudiziert in keiner Weise Friedens-
vFrhandlungen. Neichsminister Erzberger.
Am 16. Februar wurde aus Bromverg
folgendes Telegramm an den Reichspräsi¬
denten Ebert und die Minister Scheidemann,
Roste, Graf Brockoorff nach Weimar, an die
Nationalversammlung Weimar und an den
Minister Erzberger gesandt:
„In Aussicht stehende Waffenstillstands¬
bedingungen über Demarkationslinie in der
Provinz Posen erregen schwerste Beunruhigung
und Sorge und würden für deutschen Osten
und Deutsches Reich verhängnisvoll werden.
Namens ganzer Bevölkerung protestieren wir
nachdrücklich und bitten eindringlichst, diese
Forderung abzulehnen."
Auf das Bromberger Protcsttclegramm
vom 16. Februar an Minister Erzberger nach
Trier ist an Oberbürgermeister Mitzlaff fol¬
gende Antwort eingegangen:
Telegramm erhalten. Sogenannte De¬
markationslinie präjudiziert in keiner Weise
Friedensvertrag, sie ist lediglich militärische
Angelegenheit; vom Wilsonprogramm wird
beim Frieden in keiner Weise abgewichen
werden. Schutz des Deutschtums wird er¬
wirkt durch deutsche Negierung bei inter¬
alliierter Kommission Warschau, die den
General Dupont als Verbindungsoffizier in
Berlin hat. Reichsminister Erzberger.
Beim Magistrat der Stadt Brombrrg ist
am 18. Februar folgendes Telegramm ein¬
gegangen:
Bromberg und Netzedistrikt durch soeben
abgeschlossenes Wasfenstillstandsabkommen vor
Einfall polnischer Banden gesichert.
In der Vollversammlung des Nrveiter-
und Goldatcnrats Bromvcrg am Is. Fe¬
bruar 1919 wurde folgende von Dr. Hille
eingebrachte Entschließung einstimmig an¬
genommen und den maßgebenden Stellen
drahtlich übermittelt: .
„Das am 15. Februar 1919 abgeschlossene
Waffenstillstandsabkommen setzt für die Pro¬
vinz Posen eine Demarkationslinie fest, die
Jahrhunderte lange kulturelle und wirtschaft¬
liche deutsche Arbeit zunichte macht und dem
Bevölkerungsstandpunlt nicht richtig Rechnung
trägt. Es muß mit aller Bestimmtheit fest¬
gehalten werden, daß die Deutschen ver-
teidigend nur ihr Recht wahren. Sie sind die
Angefallenen und erklären, ihren geschicht¬
lichen Anspruch auf die Provinz so nicht von
«mer ausländischen Macht regeln lassen zu
können. Sie sehen in dem gewaltsamen,
rückhaltlosen Vorgehen der Polen ein durch
nichts begründetes Borgreifen der Friedens¬
verhandlungen. Nun sollen allein die Teut¬
schen die Waffenhandlungen gegen Land¬
friedensbruch einstellen. Der Arbeiter- und
Soldatenrat Bromberg erhebt dagegen den
Merschärfsten Einspruch. Er weist warnend
darauf hin, daß unter anderm Kujawien .die
Korn- und Zuckerkammer der Provinz und
Preußens' in Polnischen Händen ist; insonder¬
heit ist aber Brombergs ganze wirtschaftliche
Lage durch dieses Abkommen aufs höchste
gefährdet."
Der Kreistag des Landkreises Bri»n-
brrg hat folgendes Telegramm an den
Staatssekretär des Auswärtigen gerichtet:
Staatssekretär Graf Brockdorss - Rcmtzau,
Weimar. Der heute versammelte Kreistag
des Landkreises Bromberg hat einstimmig
folgenden Beschluß gefaßt: Wir wollen bei
Deutschland bleiben, zu dem Wir nicht nur
mit drei Fünfteln unserer Nationalität, son¬
dern auch nach Sitte und Kultur gehören.
Euer Exzellenz bitten wir, mit allen Kräften
dafür einzutreten, daß wir nicht gegen den
Wunsch der Mehrzahl unserer Bevölkerung
und somit auch entgegen den Wilsonschen
Grundsätzen an Polen abgetreten werden.
Gleichzeitig bitten wir uni alsbaldige ener¬
gische Abwehrmaßnahmen, damit den uns
täglich mehr bedrohenden polnischen Er»
obcrungsgelüsten Halt geboten wird.
Auf das Telegramm des Kreistages des
Landkreises Bromlicrg ist folgendes Anwort-
telegramm eingegangen: Dem Kreistage des
Landkreises Bromberg danke ich für den Be¬
schluß, mit dem er einstimmig seinen Willen zur
dauernden Zugehörigkeit zum Deutschen Reich
bekundet hat; ich werde alles tun, was in
meiner Macht steht, um die berechtigten An¬
sprüche der schwer bedrängten Deutschen im
Osten auf der Friedenskonferenz zur Geltung
SU bringen. Graf Brockdorff-Nantzau.
In der Bromberger Stadtverordneten¬
versammlung am 20. Februar wurde be¬
schlossen, in folgendem Telegramm an die
Nationalversammlung, den Reichspräsidenten
Ebert, den Ministerpräsidenten Scheidemann
sowie die Reichsminister Erzberger und Graf
Brockdorff gegen den Waffenstillstandsvertrag
Einspruch zu erheben:
Gegen den Waffenstillstandsvertrag mit
der Entente erheben wir allernachdrücklichsten
Einspruch. Der Bestand des Deutschtums im
Osten und die Sicherheit des Reiches sind
auf das schwerste gefährdet, wenn die jetzt
den Polen überlassenen Gebiete, die durch
deutsche Kultur zu blühender Entwickelung
gebracht und als wirtschaftliches Hinterland
für die angrenzenden Gebiete und für die
allgemeine Ernährung des deutschen Volkes
von größter Bedeutung sind, dauernd verloren
gegeben werden. Auch wenn die gegenwärtigen
Abmachungen nur provisorisch bis zum
Friedensschluß gelten, bringt die Festsetzung
der Demarkationslinie die größte Gefahr mit
sich, daß das Posener Land in der Zwischen¬
zeit gründlichster Polonisierung anheimfällt.
Wir müssen daher durchaus die Forderung
aussprechen, daß alles daran gesetzt wird,
daß dieser Zustand wieder beseitigt wird und
das bisher deutsche Gebiet unversehrt beim
Reiche bleibt.
Die Ortsgruppe Bromverg der Deutsche»
Volkspartei telegraphierte am 20. Februar
an die Nationalversammlung:
Die in den Waffenstillstandsbedingungen
festgesetzte Demarkationslinie zerreißt blühende
Kultur, wirtschaftlichen Hochstand, begründetes
geschichtliches Anrecht der Deutschen in der
Ostmark. Auch wird der Bevölkerungsstand¬
punkt nicht berücksichtigt; Wohl aber sind an¬
maßende Übergriffe Polnischen Landfriedens-
brucheS belohnt. Die übriggebliebenen kläg¬
lichen deutschen Randfetzen sind wirtschaftlich
so lebensunmöglich, daß es nnr ein entrüstetes
Nein geben kann.
Die Deutsche Volkspartei Ortsgruppe
Vromberg erhebt mit 90(0 Wählern gegen
diese schmachvolle Festsetzung flammend Ein¬
spruch und behauptet ihren alten Standpunkt,
die ganze Provinz für das Reich zu fordern.
Am 19. Februar richtete der Deutsche
Volksrat Fordon und Umgegend an die
Nationalversammlung, den Ministerpräsidenten
Scheidemann und die deuische Waffenstillstands¬
kommission folgendes Protest-Telegramm:
Die deutschen Volksräte der Stadt Fordon
(Weichsel) und der benachbarten 12 Land¬
gemeinden erheben flammenden Einspruch
gegen die allem nationalen Ehrgefühl hohn¬
sprechenden und den Beschlüssen der Friedens¬
konferenz vorgreifenden neuen Waffenstill¬
standsbedingungen. Sie erwarten auf das
bestimmteste, daß dem natürlichen Rechte, auf¬
rührerische Landeseinwohner in ihre Schranken
zurückweisen und sie nötigenfalls gewaltsam
zur Ruhe zwingen zu dürfen, Geltung ver¬
schafft werde.
Der Deutsche Bolksrat Ratel sandte an
die Nationaltiersammlung, Reichsregierung
und Wassönstillstandskommission folgende
Drahtung:
Die deutsche Bevölkerung Ratels hat durch
die Annahme der uns diktierten neuen Waffen¬
stillstandsbedingungen den Eindruck gewonnen,
daß diese Bedingungen von Männern angenom¬
men wurden, die über die wahren Verhältnisse
in unserer Ostmark vollständig im Unklaren
sind. Gerade uns in Ratel, die wir wiederholt
durch Polnische Mitbürger überfallen worden
sind, ist es unverständlich, wie man es hin¬
nehmen konnte, daß von einer deutschen
Offensive gesprochen wurde. Wir vermissen
den ernsten Willen der Negierung, wichtige
wirtschaftliche Gebiete dem Deutschen Reiche
zu erhalten und sehen mit größter Besorgnis
unsere deutschen Mitbewohner der Provinz
Posen dem Haß und der Wut polnischer, den
Händen ihrer Führer entglittener, zügelloser
Banden ausgesetzt. Die Polen haben bisher
keinen Vertrag gehalten. Es steht daher zu
befürchten, daß auf Grund weiterer polnischer
Feindseligkeiten ein neuer Waffcnstillstands-
vertrag auch uns in die Demarkationslinie
einschließt. Wir protestieren daher gegen die
Annahme der Waffenstillstandsbedingungen
und hoffen, daß ein wirklicher Friede uns
und unsere deutschen Brüder in dem jetzt von
uns losgerissenen Gebiete nicht unter Pulnische
Knechtschaft bringt.
Von der Waffenstillstandskommission in
Syra ist beim Deutschen Volksrat Ratel
daraufhin folgendes Telegramm eingetroffen:
Der Protest der deutschen Bevölkerung
Ratels ist der interalliierten Waffenstillstands¬
kommission zur Kenntnis gebracht worden.
Die deutsche Waffenstillstandskommission tut
alles, was in ihrer Macht steht, um die be¬
rechtigten deutschen Interessen in der Provinz
Posen zu wahren, gez Frhr. v. Hammerstein.
Der Deutsche Volksrat und der Deutsche
Arbriterrat von Hohcnsalza drahteten am
18. Februar an die Nationalversammlung,
den Ministerpräsidenten Scheidemann und
die Waffenstillstandskommission:
Die deutsche Bevölkerung Hohensalzas er¬
hebt einmütig Einspruch gegen die in den
Waffenstillstandsbedingungen kundgewordene
Absicht der Regierung, die militärischen Ab-
wehrmaßnaHmen zu unserer Befreiung von
der polnischen Zwangsherrschaft einzustellen.
Die Demarkationslinie, die durch den zu¬
fälligen gegenwärtigen Stand der militärischen
Ereignisse bestimmt ist, trägt den Stempel
der Willkürlichkeit an der Stirne und bedroht
die Provinz Posen mit einer Zerreißung in
wirtschaftlich und kulturell nicht lebensfähige
Teile. Durch die Zerschneidung der wichtigsten
Verkehrsader unserer Heimat wird das Er¬
werbsleben der deutschen wie auch der pol¬
nischen Bevölkerung unserer Stadt gleichmäßig
gelähmt. Die treue Arbeit, die unsere Väter
im Dienst der deutschen Sache in der Ostmark
geleistet haben, verpflichtet das deutsche Volk,
uns nicht der Verelendung in einem lebens¬
unfähigen Polenstaate Preiszugeben.
Auf den Protest des Deutschen Boltsrates
und des Deutschen Arbeitcrrates Hohcnsalza
ist folgende Antwort der Waffcnstillstanos-
kommissioll in Spaa eingegangen:
Der Einspruch der deutschen Bevölkerung
Hohensalzas ist hier verwertet worden. Wenn
alles, was deutsch ist, laut seine Stimme für
das Deutschtum erhebt und opferwillig dafür
eintritt, muß es gelingen, den deutschen Besitz
zu erhalten. gez. Frhr. v. Hammerstein.
Aus Looscns erging am 20. Februar
folgende Drahtung:
Der Deutsche Volksrat des Bezirks Lobsens
empfindet die Waffenstillstandsbedingungen als
eine unerhörte Vergewaltigung des Deutsch¬
tums im Osten, er legt daher Verwahrung
ein gegen die Preisgabe deutschen Bodens.
Er erwartet, daß alles daran gesetzt wird,
unsere Heimatprovinz dem Deutschen Reiche
zu erhalten und das; die Einstellung der
Polnischen Feindseligkeiten erzwungen wird.
Die Schubiner Deutschen telegraphierten
am 21. Februar an die Nationalversammlung
und an den Neichsminister Erzberger:
Schubin und Umgegend, zum Netzedistrikt
gehörend, noch immer von Polen besetzt.
Hunderte Flüchtlinge, aller Habe bar, seit
Wochen von den Angehörigen getrennt, er¬
bitten Rückkehr unter Garantie persönlicher
Freiheit und des Eigentums zu ermöglichen.
Aus Kolmar i. P. wurde um die ma߬
gebenden Stellen am 19. Februar gedrahtet:
Die Bedingungen des Waffenstillstandes
bedeuten, wenn erhoben zu Friedensbe¬
dingungen, für 500 000 Deutsche der Provinz
Posen Vergewaltigung und Untergang. Der
seit 300 Jahren deutschen Kreisstadt Kolmar
sind alle Lebensbedingungen von Süden ab¬
geschnitten. Der Deutsche Volksrat des Kreises
Kolmar in Posen mit 15 000 Mitgliedern
steht nach wie vor auf den von beiden Seiten
anerkannten Grundsätzen des Wilsonschen
Rechtsfriedens. Es kann deshalb die Zuge¬
hörigkeit der Provinz Posen nur durch Volks¬
abstimmung entschieden werden.
Der Deutsche Volksrnt. Fratzke, Rektor.
Der Deutsche Frauenrat. Ursula Hübinger.
Der Deutsche Volksrat Schönlante, Stadt
und Land/ erließ folgenden Protest:
Schönlcmke, 1,9. Februar. Die deutsche
Stadt Schönlcmke in Posen erhebt in ein¬
mütigem Protest aller ihrer Bürger ihre
Stimme. Vor unserer Stadt liegen die Pol¬
nischen Linien. Unser überwiegend deutscher
Kreis ist zerrissen, die Kreisstadt besetzt, die
Behörden verjagt. Der neue Waffenstillstand
gibt diesem Unrecht Dauer, er schützt unsere
deutschen Dörfer nicht vor Gewalttat, er
hindert uns nur, den deutschen Brüdern zu
helfen, die offenbares Unrecht leiden. Bleibt
das Unrecht, so wird im Ostland jetzt ein
Haß gesät, der einst mehr Geschlechtern Ver¬
derben bringt, als uns allein. Wir mahnen
und warnen alle die, die für die Zukunft zu
Die vereinigten deutschen Bolksriite der
Westkreise Posens sandten am 17. Februar
an die Nationalversammlung in Weimar, an
Generalfeldmarschall von Hindenburg, an die
preußische und an die Reichsregierung fol¬
gende Drahtung:
In Widerspruch mit dem 13. Artikel
Wilsons greifen die neuen Bedingungen des
Waffenstillstandes in das Schicksal der Pro¬
vinz Posen schon vor der Friedenskonferenz
ein. Die heute auf gastlichen schlesischen Boden
in Sagan versammelten deutschen Volksräte
Westposens erheben dagegen laut Einspruch.
Wir bedauern, daß tapfer verteidigte deutsche
Städte wie Berthchen, Neutomischel und Birn¬
baum der Polnischen Raubgier kampflos
überantwortet werden und die für das
ganze Wirtschaftsleben des Reiches wich¬
tige Bahnlinie Breslau—Rawitsch—Lissa—
Berthchen—Berlin Preisgegeben wird. Wir
verlangen, das dieser Verzicht auf der
Friedenskonferenz wieder rückgängig gemacht
wird und von den Wilsonschen Bedingungen
unter keinen Umständen zuungunsten des
deutschen Teiles der Provinz abgewichen wird.
Wir haben in berechtigter Abwehr der pol¬
nischen Übergriffe neue schwere Opfer an Gut
und Blut für unsere Heimat gebracht und
dadurch ein heiliges Anrecht, gehört zu
werden.
Der Arbeiterrat und Vollzugsausschuß
Meserih drahtete am 18. Februar an die
Reichsregierung und die Waffenstillstands-
kommission:
Deutsche haben den Frieden in der Provinz
Posen nicht gestört. Andere Informationen
der Entente falsch. Werden Demarkations¬
linie, soweit sie dem heutigen Besitzstande
'entspricht, trotz starker Bedenken respektieren.
Nach bisherigem Verhalten der Polen ist an¬
zunehmen, daß sie sich, wie bisher, stets an
diese Anordnungen nicht kehren werden, zu¬
mal Polnischer Volksrat bekannt gemacht hat,
daß er Regierung Warschau nicht anerkenne.
Behalten uns daher unbedingt vor, Über¬
griffe der Polen auf daS Nachdrücklichste mit
Waffengewalt zurückzuweisen, und Grenzschutz
aufrecht zu erhalten. Entente muß Vertreter
nach hier schicken, Warschau hat keinen Zweck.
Erheben auch jetzt schon Einspruch gegen
etwaige Absicht, Demarkationslinie als spätere
Grenze festzulegen, da dadurch Punkt 13 von
Wilson verletzt würde.
Auf dea Protest des Arveitcrrates Meserii?
lief folgende Antwort der Waffenstillstands-
kommission ein:
Die Deutsche Waffenstillstandskommission
Spaa begrüßt den Einspruch des Arbeiter¬
rates Meseritz als wertvolle Unterstützung in
ihrem Kampfe für die deutschen Interessen.
Über die Protestkundgebungen in Birn¬
baum, die einen so erfreulichen Erfolg zellig¬
em, berichtet die „Meseritzer Kreiszeitung"
vom 25, Februar:
Besonderen Anklang werden folgende Be¬
schlüsse des Vertrauensrates der gesamten
Truppen des Grenzschutzes Birnbaum,
sowie des Offizierkorps des Grenzschutzab«
Schnittes Birnbaum finden:
Seit Unterzeichnung des Waffenstillstandes
im Noveniber 191,8 hat bei den einzelnen
Terminen zur Verlängerung des Waffenstill¬
stands Marschall Fons dem deutschen Volke
Bedingungen gestellt, die an Rücksichtslosigkeit
die eine die andere übertraf. Die rücksichts¬
loseste aber, Peitschenhiebe für das deutsche
Volk, ist die letzte. Wir Deutsche sollen mit
Gewehr bei Fuß zusehen, wie Polnische
Räuber» und Mörderbanden, die zu einer
Zeit, da der Welt Völkerfriede und ähnliches
vorgegaukelt wird, über urdeutsche Lande
herfallen, deutsche Bürger niedermetzeln,
deutschen Besitz brandschatzen und unendliche,
nicht zu ersetzende Kulturwerke zerstören.
Damit nicht genug, sollen wir nun auch noch
deutschen Boden, für den teures Blut ge¬
flossen, kampflos diesen Polnischen Räuber¬
banden überlassen. Nein, nie und nimmer.
Eine Regierung, die dem zustimmt, ist keine
deutsche Regierung. Die deutschen Männer
und Jünglinge, die aus allen Teilen des
weiten deutschen Vaterlandes zum Grenz¬
schutz geeilt sind, um heiligen deutschen Boden
zu verteidigen, deutsche Frauen und Kinder,
deutsche Art und deutsches Recht zu schützen
und zu schirmen, erklären:
Mag uns befehlen, wer will, wir bleiben
in den von uns besetzten Stellungen. So¬
lange wir noch eine Patrone haben, solange
noch ein Lebensfunke in uns ist, betritt kein
Pole unsere jetzige Stellung. Nur über die
Leichen von taufenden und abertcmsenden
deutscher Männer geht der Weg in die von
Fons befohlene Stellung. Will Fons es aber
zum Äußersten kommen lassen, will er Deutsch¬
land vollständig zu Grunde richten, dann sind
auch wir zum-Äußersten entschlossen. Dann
werden wir dem Bolschewismus die Tore
öffnen und mit ihm zusammen Europa über¬
schwemmen, dann dürfte auch für Fons und
seine auf Größenwahn aufgebaute Jmperator-
stellung die Stunde geschlagen haben.
Im Namen des Vertrauensrates der gesamten,
Truppen des Grenzschutzes Birnbaum.
Die gesamte Bevölkerung der Stadt und
des Kreises Birnbaum, soweit er noch nicht
von den Polen besetzt ist, in Zahl von etwa
300l) Personen, hat sich heute in einer spon¬
tanen Kundgebung in Wahrung ihres Selbst¬
bestimmungsrechts einmütig auf den Stand¬
punkt gestellt, daß ihr Gebiet unbedingt deutsch
bleiben,müsse und der Grenzschutz auf keinen
Fall von seiner innegehaltenen Linie zurück¬
weichen würde. Ebenso haben die Ver¬
trauensmänner aller Formationen des
Grenzschutzabschnittes Birnbaum einstimmig
erklärt, keinen Fuß breit deutschen Bodens
der Willkür der Polen überlassen zu wollen.
Das gesamte Offizierkorps betrachtet es
deshalb als Ehrensache, keinen Schritt kampf¬
los zurückzuweichen und die jetzige deutsche
Linie bis zum letzten Atemzuge zu halten.
Dies haben wir der Bürgerschaft ver¬
sprochen, dies werden wir unter Einsatz der
eigenen Person unbedingt halten.
Im Namen des Offizierkorps des Grenz¬
schutzabschnittes Birnbaum.
. Auf die Birnvaumer Kundgebungen er¬
folgten folgende Antworten:
Telegramm aus Weimar, 21. Februar. '
Billige feierliches Gelöbnis, aus den ein¬
gezogenen Stellungen, wie sie am 16. d. M.
waren, nicht zu weichen. Demarkationslinie
gilt auch für Polen. Dies ausdrücklich von
Marschall Fons anerkannt. Polen dürfen diese
nicht überschreiten. Demarkationslinie prä-
judiziert in keiner Weise Friedensvertrag.
Von Wilsons Programm wird kein Punkt
Telegramm vom Auswärtigen Amt, Berlin.
Trotz dringender Vorstellung ist es nicht
gelungen, die Demarkationslinie jenseits der
Stadt Birnbaum zu legen. Der deutschen
Bevölkerung muß anheimgegeben werden, durch
energische Proteste das Selbstbestimmungs¬
recht für sich in Anspruch zu nehmen und so
den deutschen Friedensunterhändlern die beste
Waffe für den Kampf um den Verbleib der
Stadt beim deutschen Reiche in die Hand zu
Telegramm von dem Generalkommando
6. Armeekorps, Glogau.
Ihr Telegramm vom 19. Februar ist an
das Armee-Ober-Kommando Süd weiter¬
gegeben. Das Generalkommando hat sofort
nach Bekanntwerden der Demarkationslinie
beim Armee-Oder-Kommando und bei der
Obersten HerreSleitung beantragt, daß Birn¬
baum in deutscher Hand bleibt und wird
weiter mit Nachdruck dafür eintreten.
Telegramm des Deutschnationalen
Abgeordneten derNationalversammlung Osler
(Grabitz, Kr. Birnbaum).
Soeben Rücksprache mit Staatssekretär
Erzberger. Sticht zurückgehen. Birnbaum
unter allen Umständen besetzt halten komme
gez. Osler.
Über das Ergebnis dieser Proteste be¬
richtet das „Berl. Tageblatt" vom 26.Februar:
Wie die Oberste Heeresleitung mitteilt,
nahmen die Verhandlungen mit dem fran¬
zösischen General Dupont, dem Führer der
Ententekommission, die nach dem Osten zur
Festsetzung der Demarkationslinie entsandt
worden ist, einen günstigen Verlauf. Man
kann schon jetzt sagen, daß Birnbaum außer¬
halb der Demarkationslinie liegen und in
deutschem Besitz bleiben wird. Wahrscheinlich
wird der Status, wie er jetzt besteht, als
Demarkationslinie festgehalten.
Die deutschen Landgemeinden Lewitzhau-
land, Sawade, Lubenhauländ, Blake (Kreis
Meseritzj haben folgende Entschließung gefaßt
und an die Nationalversammlung sowie an
den Generalfeldmarschall von Hindenburg
abgesandt:
Die bisher von deutscher Besatzung gegen
polnische Angriffe verteidigten und gehaltenen
aus rein Deutschen bestehenden Gemeinden
Lewitzhauland, Sawade, Lubenhauländ, Blake
protestieren gegen die nach den Waffenstill¬
standsbedingungen in Aussicht stehende An-
gliederung an Polen. Wir erwarten, daß
die Demarkationslinie östlich unserer Ge¬
meinden geht. Wir haben uns bisher mit
Erfolg gegen die Polen behauptet und wollen
auch fernerhin deutsch bleiben.
Auf ein in einer Versammlung in Sagan
an Reichsminister Erzberger gerichtetes Tele¬
gramm, daß alle Schritte ergriffen werden
sollten, um die Abtrennung der Provinz Posen
vom Deutschen Reiche abzuwenden, erklärt
Minister Erzberger in einem Antwort¬
telegramm: Es ist ausdrücklich ausgemacht
und von Marschall Fons zugestanden worden,
daß die neuen Waffenstillstandsbedingungen
in keiner Weise der Friedenskonferenz vor¬
greifen, sondern daß sie lediglich militärische
Angelegenheiten behandeln, und von den
Wilsonschen Bedingungen unier keinen Um¬
ständen zuungunsten des deutschen Teiles der
Provinz Posen abgewichen werde.
Der deutsche Volksrat von Tirschtiegcl
sandte am 19. Februar folgendes Telegramm
an Minister Erzberger, Weimar:
Durch die neuen Waffenstillstandsbedin¬
gungen sollen viele rein deutsche Gebiete den
plündernden Polen auf Gnade oder Ungnade
preisgegeben werden, darunter auch teilweise
unser deutscher Kreis Meseritz, der von
deutschen Truppen besetzt ist. Die gesamte
Bevölkerung von Tirschtiegel und Umgegend
Protestiert energisch gegen diese, den Wilson¬
schen Grundsätzen zuwiderlaufende Vergewal¬
tigung und zwar zugleich für die bereits von
den aufständischen Polen widerrechtlich be-
setzten deutschen Nachbarkreise. Wir verlangen,
daß die von unsern Truppen jetzt besetzten
Stellungen als Demarkationslinie gelten.
Wir sind deutsch, wollen deutsch bleiben
und stehen dafür ein bis zum letzten Atem-
zugel Das Vink der bei der Verteidigung
ihrer Heimat gefallenen Brüder darf nicht
umsonst geflossen seinl
Am 20. Februar erhielt der Deutsche
Bolksrat Tirschtiegel folgende Antwort-
drahtung: Depesche erhalten. Besetzte Gebiete
werden Polen nicht auf Gnade oder Ungnade
übergeben. Alliierten haben tnelmehr Schutz
der Deutschen in den geräumten Gebieten
übernommen. Demarkationslinie greift end¬
gültigen Friedensverhandlungen nicht vor.
Hätte die Ostmark meinen seit mehreren
Monaten geäußerten dringenden Wünschen
auf eigene Organisation militärischer Ver¬
teidigung entsprochen, würde anderes Resultat
erreicht Morden sein.
Darauf sandte der Deutsche Voltsrat
Tirschticgrl folgende Gca,cniinßcrungcn:
Minister Erzberger, Weimar.
Schlußsatz Antwort W. 362 vom 20. Fe¬
bruar hier sehr befremdet. Beweist völlige
Unkenntnis hiesiger Lage. Haben uns von
Anfang an gegen Polen organisiert und sie
bisher von unserem Gebiete ferngehalten.
Wenn Regierung mehr Interesse für uns,
wäre Resultat ein anderes. Fühlen uns
durch Vorwurf nicht getroffen. Trotz Waffen¬
stillstandes greifen Polen weiter an, rauben
und plündern weiter Protokoll folgt.
Diesem Telegrammwechsel fügt der
Deutsche Volksrat in einer Zuschrift an die
„Vossische Zeitung" noch folgende Bemer¬
kungen bei: „Was wir von dem Alliierten¬
schutz halten, ersparen wir uns zu sagen. Ein
Grenzschutz bestand bald nach der Revolution,
die pvsenschen Garnisonen waren auch belegt.
Sehr bald wurden aber auf Grund von Ver¬
handlungen zwischen Berlin und Posen die
reindeutschen Soldaten nach Hause.entlassen
und durch „Kaczmareks" (--- Polnische Sol¬
daten) ersetzt. Die heimkehrenden Truppen¬
teile wurden Prompt von den Polnischen
Soldatenräten und Truppen des 6. A. K.
entwaffnet. Wie sollten wir da „eigene
militärische Verteidigung" organisieren?
Sollten wir mit Schützenbüchsen gegen die
von den Polen geraubten Maschinengewehre
und Artillerie kämpfen oder mit Knüppeln?
Als Ende November v. I. Vertreter der
reindeutschen acht Randkreise Posens in Berlin
waren, wurden sie aus Selbsthilfe verwiesen,
Lieferung von Waffen und Munition aber
glatt abgelehnt."
Die Deutschen in der Stadt Berthchen
haben am 17. Februar an die Nationalver¬
sammlung und die Reichsregierung in Weimar
eine Drahtung gerichtet, in der es heißt:
Die Gesamtheit der deutschen Bürger der
Stadt Berthchen erhebt flammenden Ein¬
spruch gegen die Einbeziehung Bentschens
in das Gebiet westlich der Demarkationslinie.
Berthchen ist der Ausgangspunkt von sechs
Bahnstrecken, der wichtigste Eisenbahnknoten¬
punkt Westposens. Völlige Abhängigkeit des
Eisenbahnverkehrs zwischen reindeutschen Ge¬
bieten von polnischer Willkür wäre die Folge.
Drei Fünftel der Einwohnerschaft Bentschens
ist deutsch. Schützt uns deutsche Einwohner
des hiesigen, in harten Kämpfen siegreich
verteidigten Gebiets gegen polnische Grausam¬
keit und Willkür.
Das reindeutsche, bei Berthchen gelegene
Dorf Strese Protestierte ebenfalls gegen die
drohende Gefahr, polnischer Willkür ausge¬
liefert zu werden. Was von polnischer Will¬
kür und Grausamkeit zu erwarten ist, habe
Strese in der Schreckensnacht des 11. Januar
erfahren.
Der Deutsche Volksrat in Culmsce ver¬
öffentlichte am 20. Februar folgenden Not¬
schrei:
Nach Siegen, die die ganze Welt in
Erstaunen und Verwunderung gesetzt haben,
brach Deutschland zusammen. Heute sind
wir gezwungen, unsere heilige Heimaterde
gegen fremde Eroberungsgelüste mit dem
Wort und der Schrift zu verteidigen. Wie
im Westen Elsaß-Lothringen — uraltes
deutsches Land — wieder vom Reiche los¬
gerissen werden soll, so sind im Osten die
Polen bestrebt, unzweifelhaft deutsches Land
mit einer unzweifelhaft deutschen Bevölkerung
vom Mutterlande loszureißen. Auch die
Provinz Westpreußen soll Polnischer Lünder-
gier zum Opfer fallen. Ganz Westpreußen
aber ist deutsches Land mit weit überwiegend
deutscher Bevölkerung. Einen Schlag in das
Gesicht der Gerechtigkeit würde dieser Länder¬
raub bedeuten. Das heutige Gebiet der
Provinz Westpreußen ist von 1230 an von
dem deutschen Ritterorden erobert worden.
Polen bewohnten dieses Gebiet damals nicht
und auch heute noch bilden sie hier die
Minderheit. 1 100 000 Deutsche und nur
000 000 Polen und Kaschuben bewohnen
diese Provinz. Zweihundert Jahre lang
<bon 1669 bis 1772) ist Westpreußen polnische
Provinz gewesen, Wider den Willen seiner
Bevölkerung, Wider Recht und feierlichst ver¬
briefte Versprechungen.
^ Als wir in dem hinter uns liegenden
Weltkriege von Sieg zu Sieg eilten, als wir
Russisch-Polen von den russischen Heeren und
Herren mit deutschem Blute befreiten, jubelten
uns die Polen zu und erklärten, ihr Schick¬
sal unlöslich mit dem Schicksule Deutschlands
verbinden zu wollen. Sie balMn ihren
Schwur vergessen, sie haben treulos ihr Wort
gebrochen. Von der deutschen Provinz
Posen haben sie Wider Recht und Gerechtig¬
keit und bevor die Friedenskonferenz über
das Schicksal dieser Provinz entschieden hat,
Besitz ergr sser.
Sie wissen es Wohl, daß auch die
Provinz Posen nicht unzweifelhaft polnisches
Land ist. Deutsch ist die geschichtliche Ent¬
wicklung dieser Provinz. Deutsche gründeten
ihre Städte und Dörfer, deutsche Ein¬
wanderer, von polnischen Königen ins Land
gerufen, brachten diese Provinz zu hoher
Blute Und was die Provinz Posen heute
ist, verdankt sie ihren deutschen Bewohnein,
die, über 800s!00 Seelen stark, fast die
Hälfte der Provinz ausmachen, und verdankt
ste der Fürsorge des Deutschen Reiches.
Unzweifelhaft deutsches Gebiet soll vom
deutschen Mutterlande losgerissen werden.
Völker der Erde I Wir Deutschen rufen es
°und zu, daß deutsch auch diese beiden Pro¬
vinzen sind. Wir wollen Deutsche bleiben
Wir wollen vom deutschen Mutterlands nicht
losgerissen werden. Nie werden wir auf¬
hören zu Protestieren, wenn uns Unrecht
geschehen sollte. Unseren Kindern und
Kiuoeskindern wollen Wir eS überliefern,
daß deutsch auch diese Provinzen sind. Ein
heiliges Vermächtnis soll es den spätesten
Enkeln sein, die Rückgabe der deutschen Ost-
»irrten zu fordern.
Nur Unkenntnis oder Lüge werden be¬
haupten, daß die Provinzen Westpreußen
und Posen nicht unzweifelhaft deutsches Laun
se»d und eine nicht unzweifelhaft deutsche
Bevölkerung aufweise». Auch viele dundert-
Wrsend Polen, die in diesen Provinzen
wohnen, sind nur Polonisierte Deutsche, sind
also Deutsche ihrer Abstammung nach, die nur
die Polnische Muttersprache angenommen haben.
Völker der Erde hört unsl Wir fordern
Recht und Gerechtigkeit für uns, nichts
weiter. Wir sind bereit, Gut und Blut für
unsere Freiheit zu opfern. Mag rücksichts¬
lose Gewalt auch zu unseren Ungunsten ent¬
scheiden, mögen Recht und Gerechtigkeit von
den Siegern gebeugt werden, nie werden
wir aufhören, an einen endlichen Sieg
unserer gerechten Forderungen zu glauben.
Und dieser Glaube wird uns stark machen
und wird uns mit Zuversicht an einen end¬
lichen Sieg deS deutschen Rechts erfüllen.
Aber wir wenden uns vertrauensvoll an
euch, ihr Völker. Ihr werdet es nicht dulden,
daß unser offensichtliches Recht brutaler
Gewalt zum Opfer fällt. Völker der Erde,
bedenkt, daß auch euch unser Schicksal treffen
kann. Wollt ihr alsdann Gerechtigkeit finden,
dann vorhelft uns jetzt zu unseren Rechten.
Auch Preußische Polen wenden sich gegen
den Anschluß an das neue Polen. In der
am 12. Februar 1919 in Comprachlschütz,
Kreis OPPeln, abgehaltenen Versammlung
polnischsprechender Männer und Frauen ist
laut amtlichen Protokoll von den etwa 350
Versammelten einstimmig folgende Ent¬
schließung angenommen worden: Zahlreiche
Männer und Frauen aus der Gemeinde
Comprachtschütz, welche sich heute hier ver¬
sammelt haben, erklären hiermit, daß sie frei
und ungehindert ihre Muttersprache ge¬
brauchen, ihre Religion ausüben und wie
bisher bei ihrer schlesischen Heimat verbleiben
wollen. Sie erheben feierlich Einspruch gegen
die von großpolnischer Seite unternommenen
Versuche, Oberschlesien oder Teile davon dem
neuzngründenden polnischen Reiche einzuver¬
leiben. Sie erblicken allein in dem Verbleib
bei Deutschland die Gewähr für Aufrechter¬
haltung ihrer .Kultur. Diese Entschließung
wird als Beschluß der Versammelten dem
Auswärtigen Amt zur Kenntnis gebracht.
, Eine gleichartige Entschließung ist auch
von der Gemeinde Chmiellowitz, Kreis Oppel»,
angenommen worden.
Die „Ostdeutsche Rundschau" ?ir. 60 vom
28. Februar schrei t:
Der Verkauf deutschen Grund und Bodens
an Polen nimmt hier in Bromberg in be¬
sorgniserregender Weise zu. Gefördert wird
dieser Verrat am Deutschtum durch eine weit
verzweigte Propaganda der Polen, denen kein
Preis zu hoch ist, um ihre nationalpolitischen
Pläne zu verwirklichen und dem deutschen
Charakter der Stadt Bromberg nach und
nach ein polnisches Gepräge zu geben. An¬
gesichts der beschämenden Lauheit und Gleich¬
gültigkeit vieler Deutschen können wir an alle
Haus- und Grundbesitzer nur die dringende
Mahnung richten, in dieser schweren Zeit ihr
Deutschtum nicht im Stiche zu lassen, sondern
treu auszuhalten auf ihrem heimatlichen Be¬
sitztum, Wer ohne zwingenden Grund dennoch
an Polen verlauft, der versündigt sich aufs
schwerste an seinem Vaterland und muß
gewärtig sein, von seinen deutschen Volks¬
genossen verachtet zu werden. Bei unserem
derzeitigen niedrigen Geldstand ist überdies
die Veräußerung von Grund und Boden eine
Unllughett, die sich bitter rächen kann.
Die „Deutsche Zeitung" Ur. 83 vom
20. Februar berichtet:
Die interfraktionelle Ostmarkenkommission
in Weimar hat die Richtlinien für ein Pro¬
gramm der Ostmarkenpolitik festgesetzt. Diese
Richtlinien werden zunächst Gegenstand der
Beratungen der einzelnen Fraktionen sein.
Die interfraktionelle Kommission legte fol¬
genden Entwurf vor:
Die Nationalversammlung fordert:
1. daß die Reichs- und preußische Re¬
gierung unverzüglich alle Mittel anwendet,
die geeignet sind, die östlichen Provinzen in
dem im Waffenstillstandsvertrag vom 11. No¬
vember 1918 vorgesehenen Zustand der un¬
veränderten Grenzen bis 1. August 1914
aufrecht zu erhalten. Die Nationalversamm¬
lung stellt fest, daß die uns durch den Ver¬
trag vom 16. Februar 1919 aufgezwungene
Demarkationslinie in der Provinz Posen als
eine rein militärische Maßnahme bezeichnet
Wird, welche der Entscheidung über die Poli¬
tische Zugehörigkeit der betreffenden Gebiete
nicht vorgreift. Sie stellt ferner fest, daß
innerhalb der Demarkationslinie Gebiete
liegen, die im Sinne von Punkt 13 der
Wilsonnote als unbestreitbar deutsch anzu¬
sehen sind;
2. sie erwartet von der Regierung, daß
sie ihrerseits weitere Übergriffe der Polen
abwehrt und der Entente gegenüber darauf
dringt, daß diese entsprechend der in dem
Abkommen vom 16. Februar 1919 über¬
nommenen Verpflichtung, die Polen an jeg¬
licher Verletzung der Demarkationslinie
verhin^re;
3, und 4. die Nationalversammlung ver¬
wahrt sich nachdrücklichst gegen alle Bestre¬
bungen, welche darauf hinzielen, Teile Ost¬
preußens mit neuen litauischen und preu¬
ßischen Staaten zu vereinigen und fordert
die Regierung auf, bei den Friedensverhand¬
lungen auf den urdeutschen Charakter der
litauischen und masurischen Teile Ostpreußens
und auf ihre siebenhundertjährige ununter¬
brochene Zugehö igkeit zu Preußen-Deutsch¬
land hinzuweisen. Die Loslösung dieser
Gebiete vom Deutschen Reiche würde den
von Wilson formulierten Grundsätzen direkt
zuwiderlaufen;
5. die Nationalversammlung erwartet auf
das bestimmteste, daß entsprechend den
Wilsonschen Grundsätzen Westpreußen und
Oberschlesien dem Deutschen Reiche erhalten
bleiben, da sie ethnographisch, Politisch, wirt¬
schaftlich und kulturell unbestreitbar deutsch
sind;
6. die Nationalversammlung fordert von
der Negierung, daß sie alle Mittel aufwendet,
um Angriffe bolschewistischer Truppen und
Banden auf die östlichen Provinzen Deutsch¬
lands abzuwehren und alle waffenfähigen
deutschen Männer zum Eintritt in die frei¬
willige Bolkswehr zu veranlassen.
Die „DeutscheAllgemeine Zeitung" Ur. 86
Vom 19. Februar erinnert an die unlösbaren
Schwierigkeiten, die das Posener Denar-
kationsproblem bereits im Jahre 1348 ge¬
macht hat und fährt dann fort:
Daß wir aus militärischen Gründen auf
die Festung Posen ohne schwerste Bedrohung
der Reichshauptstadt nicht verzichten können,
ist selbst von linksstehender Seite offen zu¬
gegeben worden, die 1843 sowohl wie jetzt
sür die nationalen Interessen des ostmärkischen
Deutschtums ein verblüff nid geringes Ver¬
ständnis gezeigt hat. Daß der Netzedistrikt
und die Westposener Kreise trotz ihres Pol¬
nischen Einschlages nach Kultur und Wirt¬
schaft, mit dem Präsidenten Wilson zu reden,
unzweifelhaft deutschen Charakter tragen,
kann kein Kenner der Verhältnisse leugnen.
Da wir aber überhaupt in der Provinz
Posen von Polen nicht viel mehr als das
nackte Land überkommen haben, da mit den
führenden Schichten zugleich alles, was auf
diesem Boden gebaut, was in ihn gesenkt
und gepflanzt ist, unermüdlichem deutschem
Erfindungsgeist, zähem deutschem Fleiße, nicht
zum geringen Teile auch der Initiative der
preußischen Krone Dasein, Blüte und Ge¬
deihen verdankt, ist jeder polnische Versuch,
Teile der Provinz Posen in ihrem heutigen
konkreten Bestände als „geraubten Teil" des
verlotterten alten Polenstaates von ehedem
zu reklamieren, als Versuch grober Täuschung
und brutaler Vergewaltigung anzusprechen.
Worauf die Polen im Preußischen Staate,
also diesseits so gut wie jenseits der heute
vorgeschlagenen Demarkationslinie, einen
wohlgegründeten Anspruch haben, ist eine
weitgehende kulturelle Autonomie und eine
weilherzige Berücksichtigung ihrer nationalen
Eigenart. Der loyalsten Berücksichtigung
dieser Ansprüche können sie im neuen demo¬
kratischen Preußen und Deutschland sicher
sein. Alles, was darüber hinausgeht, ist
ein schmählicher Versuch, die gegenwärtige
politische Ohnmacht Deutschlands zu gewalt¬
samen Gebiets-Neuregelungen auszunutzen,
die die Gewähr der Dauer nicht in sich
tragen, sondern mit Naturnotwendigkeit zu
dauernden politischen Verwicklungen und
damit zu einer schweren Gefährdung des
europäischen Friedens führen müssen. Weit
entfernt auch nur dem Wortlaute des
Wilsonsprograinms zu entsprechen, laufen
die allein durch das rachsüchtige Frankreich
gestützten Ansprüche der preußischen Polen
auch dem Geiste dieses Programms auf das
tiefste zuwider.
Unter der Überschrift: „Ein Bündnis mit
Polen — das Gebot der Stunde" bringt
die „Germania" in Ur. 73 vom 14. Februar
aus Parlamentarischen Kreisen eine Zuschrift,
in der der Verfasser den Gedanken bekämpft,
daß Preußen und Polen grundsätzlich und
historisch Feinde seien, und in der er zu dem
Schluß kommt, daß nur ein Bündnis der
beiden Länder sie vor der gemeinsamen Ge¬
fahr retten könnte, in der sie in diesem Augen¬
blicke schweben.
Der Verfasser setzt auseinander, daß die
feindliche ' Stimmung, die Polen gegen
Deutschland beseele, aus der Hakatistischen
Politik, dem „Kulturkampf" und der Aus¬
rottungspolitik Preußens entstanden sei, und
daß die Militärverwaltung während des
Krieges in Polen nichts getan habe, um
diese Stimmung zu heben. Von einer Be¬
freiung Polens könne keine Rede sein, im
Gegenteil sei das alte System der Polenbe¬
kämpfung nur wieder aufgefrischt worden.
Der Schreiber der Zuschrift benutzt nun die
Gelegenheit derVerhandlungen des Preußischen
Ministeriums mit den Polenführern, um
beiden folgende Mahnung zuzurufen:
„Die Entscheidung mit den Waffen zu
suchen, liegt weder im Interesse Deutschlands,
noch Polens. Beide Länder haden unendlich
durch den Krieg gelitten und müssen an ihren
inneren Aufbau denken. In beiden Ländern
herrschen zurzeit wüste Parteikämpfe und
beide Länder sind von den russischen Bol-
schewiki bedroht. Eine möglichst baldige
Verständigung zwischen Preußen und Polen
ist deshalb dringend geboten. Und sie ist
nicht aussichtslos. Die Polen sollten doch
bedenken, daß die von unseren damaligen
Machthabern betriebene Gewaltpolitik der
H katisien nicht dem Willen des weitaus
größten Teiles des deutschen Volkes ent¬
sprochen hat. Wenn diese Erkenntnis sich
vollzieht und dann der wohlverstündige Haß
gegen die Deutschen ruhigen und vernünftigen
Erwägungen Platz machen kann, dann wage
ich im Nevolulionsjahr 1919 mit einem
ähnlichen Vorschlag hervorzutreten, wie der
Von mir am Anfang dieses Aufsatzes er-
Währte Politiker des Revolutionsjahres 1843
es getan hat. Zwischen Preußen und Polen
muß nicht nur eine Verständigung herbeige¬
führt werden, sondern ein Bündnis ge¬
schlossen werden. Um dieses zu ermöglichen,
muß zunächst die Provinz Posen eine selbst¬
ständige Republik werden. An wen sich
dieselbe anschließen will, kann ihrem Selbst¬
bestimmungsrecht vorbehalten bleiben, denn
es würde voreilig sein, zu glauben, daß
man sich für Kongreßpolen entscheiden wird.
Auch sollte letzterem ein Zugang zum Meere
ermöglicht werden. Wie das geschehen könnte,
bedarf in diesem Augenblick keiner weiteren
Erörterung. Selbstverständliche Voraussetzung
wäre, daß auch Kongreßpolen und Galizien
autonome Republiken würden. Dasselbe
müßte der Fall sein mit Litauen und dem
Baltikum. Wenn die sämtlichen genannten
Länder untereinander und mit Deutschland
durch ein Bündnis verbunden wären, so
würde das nicht nur für die Verhältnisse
dieser Länder, sondern für das gesamte
Europa glückverheißend sein."
Zu den deutschen Protestkundgebungen
äußert sich der Bromberger „Dziennik Byd-
gosky" vom 20. Februar auf folgende Weise:
„Up ewig ungedeckt." Der deutsche
Volksrat in Bromberg hat nach Weimar, an
die Waffenstillstandskommission in Spaa und
an Scheidemann ein Telegramm gesandt, in
welchem er zwar seine Freude darüber zum
Ausdruck bringt, daß infolge der Durch¬
führung der Demarkationslinie Bromberg
beim „Mutterlande" verbleibt, aber trotzdem
gegen die Trennung mit den übrigen Deut¬
schen im Posenschen protestiert und seine
Solidarität mit denselben erklärt. Das
Deutschtum in Bromberg stellt für die
Friedensverhandlungen die Richtschnur auf,
daß es für ewig mit dem Rest der Deutschen
in der Posener Provinz vereinigt bleiben will:
„Up ewig ungedeckt".
Ruhig, ruhig, ihr Herren Hakatisten. Ihr
werdet bestimmt „ungedeckt" sein, aber — in
Polen. Wenn es euch nicht gefallen sollte, so
könnt ihr euch wo anders euren Sitz wählen
und dort „up ewig ungedeckt" summen.
Wilem (Spottwort gegen Kaiser Wilhelm)
wird euch helfen.
Der Posener „DziennikPoznanski" schreibt
in Ur. 45 vom 23, Februar 1Se9:
Anträge von Dmowski. „L'JndePendance
Polonaise" bringt den Wortlaut der Anklage,
welche den Schluß des Exposö von Dmowski
vor den Vertretern der Entente bildeten.
Diese Anträge lauteten:
1. Die Frage der deutschen Gefahr: Es
ist unerläßlich, daß man die Deutschen mit
ihrem Vorwärtsdrängen nach dem Osten auf¬
hält, was man durch eine einfache Forderung
der Verbündeten erzielen könnte. Es ist
auch nötig, in dem Waffenstillstand, der er¬
neuert werden soll, diejenigen Bedingungen
festzulegen, welche der Polnischen Bevölkerung
die Garantie geben, daß sie nicht verfolgt
werden wird und in Ruhe den Beschluß der
Friedenskonferenz erwarten kann.
2. Es ist unbedingt notwendig, daß man
den Weg über Danzig für den Transport
von Munition, Waffen und Lebensmitteln
eröffnet. Der Artikel des Waffenstillstands¬
vertrags, welcher den Verbündeten freie
Durchfahrt von Danzig nach Thorn gestattet,
muß auch erfüllt werden. Dies kann man
erreichen, wenn die Bahnstrecke von Entente¬
militär okkupiert wird, oder wenn eine
Garantie gegeben wird, daß die Polen freie
Durchfahrt bekommen, während welcher sie
nicht belästigt werden. Es ist dies unbedingt
notwendig, damit die Armee des Generals
Hnller, welcher so ungeduldig im Lande er¬
wartet wird, abgeschickt werden kann. Die
Polen fordern gleichfalls, daß man ihnen
Kleidung, Waffen und Munition für die in
der Bildung begriffene Armee schickt. Menschen¬
material ist genug da, es fehlt jedoch das,
was zu ihrer Eqmpierung nötig ist.
3. Die Lage in Ostgalizien muß gleich¬
falls geregelt werden. Lemberg wird dort
fortwährend von den Ukrainern angegriffen,
die Polen könnten sich wehren und Ordnung
im Lande einführen, wenn sie die notwendigen
Kleidungs-, Munitions- und Waffenvorräte
für die polnische Armee hätten.
Der „Dziennik Bydgosky" Ur. 46 vom
23. November 1919 schreibt:
Die Entente wird Polen das ganze deutsche
Teilungsgebiet zusammen mit Oberschlesien
zurückgeben. Während der Verhandlungen in
Sachen der Verlängerung des Waffenstill¬
standes hat Marschall Fons anfänglich eine
Linie bestimmt, die auch ganz Oberschlesien
von Preußen abtrennte. Später zeigte er sich
auf die Bitten der Deutschen damit ein¬
verstanden, daß die Polen borläufig nur das
behalten sollen, was sie mit Gewalt weg¬
genommen haben (Anm. d. Red. d. Ztg.:
Später werden sie den Nest dessen erhalten,
was ihnen gehört).
Das Unterkommissariat für Schlesien lHerr
Rechtsanwalt Czapla in Beuthen) gibt ein
umfangreiches Schreiben in dieser Sache be¬
kannt, um die Bevölkerung darüber aufzu¬
klären. Der Endpassus desselben lautet
folgendermaßen:
Die anfängliche Forderung der Entente
betreffs der Demarkationslinie (der militä¬
rischen) erklärt ihr Vorhaben schon heute cmsge-
zeichnetin bezug aufdas Schicksal Oberschlesiens.
Die anfangs erwähnte Linie von Drozki
im Sycower Kreis, durch Kupp bis zur
Mündung der Malapcme in die Oder ist
dieselbe, welche die Ländereien in dem Milizer,
Sycower, Oleski und Oppelner Kreise mit
überwiegend polnischer Bevölkerung abgrenzt.
Alles, was östlich von dieser Linie liegt, soll
also den Preußen abgenommen werden. Es
ist bemerkenswert, daß Marschall Fons sich
genau nach unserer Nationalitätenkarte richtet,
wie diese z. B. von unseren größten Forschern
auf diesem Gebiete, dem Geistlichen Gregor
aus Tworkowv im Kreise Ratibor und dem
Professor Römer aus Lemberg, der jetzt in
Paris weilt, auf der Karte seines polnischen
Atlasses angegeben wird; die weitere „grüne
Linie" aber muß ihre weitere Fortsetzung von
der Mündung der Ponwa bis zur Oder sein
und im Westen des Kreises durch den Nie-
wodliner und Pradnicer Kreis gehen und
weiter noch einen Teil des Kreises Ratibor
bis zur tschechischen Grenze umfassen, all dies
soweit dort polnische Bevölkerung wohnt. Die
Ländereien, die also östlich von dieser Linie
liegen, müssen also als uns zuerkannte Pol¬
nische Ländereien angesehen werden.
Schließlich wird ja zwar die Friedens¬
konferenz entscheiden, aber schon heute ist die
Sache sozusagen beschlossen! Oberschlesien
war, ist und wird Polnisch bleiben.
Zur Festsetzung der Demarkationslinie be¬
merkt der „Kurjer Poznanski", daß schon die
Vertreter des Polnischen Obersten Volksrates
die Bestimmung einer Demarkationslinie vor¬
schlugen. Die deutsche Regierung verlangte
darauf die Zurückziehung der Polnischen
Truppen, was einer Ablehnung des Vor¬
schlages gleichkam. Da schon damals der
Negierung das Verlangen der Entente bekannt
war, die Feindseligkeiten einzustellen, so muß
man annehmen, daß die Negierung es vorzog,
dem Befehl der Entente zu gehorchen, als
sich mit den Polnischen „Aufrührern" zu
einigen. Die Demarkationslinie ist gleich¬
laufend mit den Polnisch-deutschen Stellungen
vom 6. d. Mes. Die ersten Vorschläge
Fonds waren günstigere, denn sie umfaßten
auch die Kreise Kreuzburg und Oels. Man
muß betonen, daß die Demarkationslinie eine
rein militärische ist, welche die Politischen
Grenzen, welche die Friedenskonferenz be¬
stimmen wird, in nichts berührt. Die Polen
werden im Interesse der Vermeidung weiteren
Blutvergießens sich den von der Entente
diktierten Waffenstillstandsbedingungen an¬
passen. Auch die deutsche Regierung wird
Wohl nachgeben. Es ist aber zweifelhaft, ob
der „Heimatsschutz" sich diesem Befehle unter¬
ordnen wird. Die Regierungsform auf den
vorläufig den Polen bestimmten Gebieten ist
in den Bestimmungen nicht bezeichnet. Das
bedeutet, daß der jetzige Tatbestand anerkannt
wird. Es bleiben allerdings noch die be¬
gründeten Forderungen unserer Brüder in
Ost- und Westpreußen und Oberschlesien übrig.
Wir werden nicht aufhören, weiterhin an diese
zu erinnern.
Ein sehr anschauliches Bild von der nach¬
gerade über jedes vernünftige Maß weit
hinausgehenden polnischen Begehrlichkeit
nach fremdem Land entwirft der „Kurjer
Poznans«", der in zwei Abhandlungen, die
in den Nummern 24 und 25 zu lesen sind
und einen Dr. Brzög zum Verfasser haben,
als Südgrenze des Polnischen Staates die
Karpathen in ihrer ganzen Ausdehnung
fordert.
Diese Grenze, so heißt es da, müßte an
Rumänien stoßen, mit dem sich Polen zweifel¬
los verbünden und Handelsbeziehungen an¬
knüpfen werde, wodurch es auch eine günstige
Verbindung mit dem Schwarzen Meere er¬
langen könnte. Durch die an die Karpathen
sich anlehnende Grenze würde Polen gleich¬
zeitig eine unmittelbare Verbindung mit dem
westlichen Slawentum und Rußland bis zu
dem tief nach Asien reichenden östlichen Koloß
herstellen, dessen ungeheure Rohstoffmengen
auf allen Wegen nach dem Westen fließen
würden. Nicht zu übersehen seien serner die
schiffbaren Flüsse Dnjestr und Pruth, deren
Läufe für den Verkehr und Handel Polens
von ungeheurer Bedeutung seien. Durch die
Karpathengrenze würden die in Ostgalizien
befindlichen Petroleumquellen und Kalilager
in den Besitz Polens gelangen, wobei von
besonderem Wert das Kali sei, dessen vor¬
zügliche Qualität eine erfolgreiche Konkurlenz
mit dem deutschen Kali ermöglichen würde.
Die Ostgrenze Polens müßte an die
Pinfker Sümpfe stoßen und von da in süd¬
licher Richtung über Luninies — Sarny —
Duvno—Rowno bis Berdiczew, Proskurow,
Winica und in nördlicher Richtung in gerader
Linie über Litauen und Weißrußland bis
zur Polozker Linie verlaufen. Da Polen
voraussichilich keine eigenen Kolonien haben
werde, müsse es eine solche Ausdehnung
haben, daß die Polnischen Rückwanderer aus
Amerika und Westfalen es hinfort nicht nichr
nötig hätten, „nach Sachsen" zu gehen, son¬
dern, ohne sich mißhandeln zu lassen und
ohne den Deutschen zu dienen, im eigenen
Lande Erwerb finden würden, insbesondere
in Wolhynien und Podolien, wo die großen
staatlichen Latifundien ein vorzügliches An¬
siedelungsgelände wären.
Die Entscheidung über die Grenzen
Polens dui fe nicht der Klugheit der Politiker
und Statistiker auf dem Friedenskongreß
überlassen weiden, sondern die Polen müßten
ihre Wünsche schon heute durch Erkämpfung
der Grenzen, die ihnen unerläßlich erschien en,
unterstützen. Nicht umsonst leisteten Deutsch¬
land und Osterreich den Nuthenen in den
Kämpfen um das reiche Ostgalizien, die
sog. „österreichische Ukraine", Beistand. Auch
die Polen müßten dieses wichtige Moment
verstehen. Die Westgrenze sei als für die
Polen günstig entschieden zu betrachten; ihre
ganze Wehrmacht der drei Teilgebiete müsse
zum entscheidenden Kampf um die Polnische
Ostgrenze verwendet werden. Denn in der
endgültigen Regelung dieser Grenze bestehe
für die Polnische Sache zugleich die größte
Gefahr und der größte Triumph.
Die Schriftleitung des „KurjerPoznanski"
macht zu diesen größenwahnsinnigen Aus¬
führungen zwar hinsichtlich der Ostgrenze
einige bescheidene Vorbehalte, läßt aber im
übrigen keinen Zweifel daran, daß ste in
ihnen eine brauchbare Grundlage zu ernsten
Erörterungen sieht.
Daß nicht der gesamte Verband von
blinder Polenfreundlichkeit erfüllt ist, zeigt
ein Aussatz im „Manchester Guardian" vom
18. Februar 1919. Darin heißt es über
den Gegenstand „Deutsche und Polen":
Wie viele, fragen wir uns, werden sich
Wohl gewahr, daß, wenn die Zeitungen von
dem deutschen Angriff gegen die Polen sprechen,
der wahre Sachverhalt der ist, daß die Polen
einen großen Teil deutschen Gebiets über¬
rannt haben, und das Vorgehen der Deutschen
nur ein Versuch ist, sie zurückzudrängen oder
sie daran zu hindern, noch weiter vorzugehen.
Die Provinz Posen, wo die Polen einge¬
brochen sind, ist seit über hundert Jahre
deutsch oder Preußisch gewesen, und wenn sie
auch an vielen Stellen von Polen bewohnt
ist, welche die Deutschen vergebens zu ver¬
deutschen bemüht waren, trifft dies doch nicht
überall zu, und auf jeden Fall haben die
Polen kein Recht, den Beschlüssen der Friedens¬
konferenz vorzugreifen und ein Gebiet zu
überrennen, welches einen einheitlichen Teil
des deutschen Staates bildet.
Zweifellos würde der größte Teil der
Provinz Posen an das wiedererrichtete Polen
kommen; den deutschen Widerstand gegen den
Polnischen Überfall jedoch als einen Angriff
der Deutschen gegen die Polen hinzustellen,
ist schnöde Heuchelei. Trotzdem befleißigen
sich nahezu alle Zeitungen und Reuter in
seinen amtlichen Telegrammen dieser heuch¬
lerischen Sprache, Es mag Wohl unbequem
sein, die Polen aus dein von ihn^n unrecht¬
mäßigerweise besetzten Gebiet wieder heraus¬
zubekommen, aber weshalb wird dies nicht
zugestanden, anstatt vorzugehen, daß Deutsch-
land, das schon genügend Verbrechen auf dem
Gewissen habe, sich nun eines neuen schuldig
gemacht hätte, und darüber entsetzt die Hände
zu ringen?
der jüngsten Bedingungen des Waffenstill¬
stands bestimmt, d.iß den Polen alles, was
von ihnen besetzt wurde, zuerkannt werden
soll. Wurde ihnen auch gesagt, wie die
Deutschen berechtigterweise fragen, daß sie
ihre Hand nun ebenfalls nicht mehr weiter
ausstrecken dürfen, und wenn schon eine Linie
festgesetzt wird, diese von beiden Seiten inne¬
gehalten werden muß?
würden. Und dennoch wurde da als eine
Danzig und Polen. Von zuverlässiger
Seite läge sich die „Post" aus Warschau
melden, daß auf der imernationalen Sozia-
listenkonferenz in Bern in der polnischen
Angelegenheit die folgende Entschließung
gefußt wurde: „Bei der Errichtung eines
unabhängigen Polens, das entsprechend den
vierzehn Punkten Wilsons die Teile mit
einer zweifellos Polnischen Bevölkerung um¬
fassen soll, muß die Grenzfestsetzung im
deutsche» Osten auf Grund einer Volks¬
abstimmung in den national- und sprach¬
gemischten Gebieten erfolgen. Die Sprach¬
grenze Deutschlands erfordert Vermeidung
einer Abtrennn g Ost- und Westpreutzens
und widerstreitet der Zusprechung eines
Landstreifens bis zur Ostsee an die Polen.
Die Weichsel wird für Polen ein sicherer
und freier Zugang zum Meere durch das
deutsche Danzig unter Aussicht des Völker¬
bundes werden." Auch auf der Pariser
Konferenz hat man sich mit der Frage be-
schäftigt. Wie dein „Tag" aus Basel tele¬
graphiert wird, meldet darüber das italienische
Blatt „Jtolia": Die Polnische Regierung
verlangte auf der letzten Sitzung der P.iriser
Konferenz, daß die neuen Waffenstillstands¬
bedingungen für die Deutschen die Besatzung
von Danzig einhalten sollten. Die alliierten
Vertreter haben jedoch dieses Polnische An¬
Ansinnen abgewiesen.
General DuvvntS Mission. Ueber den
Aufenthalt des Generals Dupont in Posen
entnehmen wir einer Mitteilung von matz¬
gebender polnischer Seite folgende Einzel¬
heiten:
„General Dupont wünschte sich zu über¬
zeugen, ob die Polen bereit wären, den
Kampf mit den Deutschen einzustellen und
steh l,er Entscheidung des Marschalls Fons
mnstclMch der Bildung einer DemarkationS-
Ume zu fügen. Es stellte sich als not¬
wendig heraus, die an allen Kampfabschnitten
vestehenden, Verhältnisse genau zu Prüfen
und einen Überblick über die Gebiete zu ge-
winnen, die zu räumen und die anderseits
zu besetzen seien. Auch der Gedanke, eine
neutrale Zone auf beiden Seile» der De¬
markationslinie zu schaffen, wurde erwogen.
Die Polnischen Zivil- und Militärbehörden
brachten hinsichtlich der vom Morschall Fons
diüierten Bedingungen Wünsche zum Aus-
t>und. die von den Interessen der polnischen
Be ölkerung eingegeben waren. General
Dupont versprach, diese Wünsche den ma߬
gebenden Instanzen vorzulegen. Angesichts
der Disziplinlosigkeit des Heimcilschutze's seien
alle Änderungen in der Kampflinie un¬
vorteilhaft und zwar sowohl vom Stand¬
punkte der militärische» Interessen als auch
mit Rüasicht auf das Wohl der Bevölkerung.
Außerdem schilderte das Kommissariat des
Polnischen Obersten Volksrates dem General
Dupont die beklagenswerte Lage der polni¬
schen Bevölkerung außerhalb der Kampflinie
in Schlesien. West- und Ostpreußen, wie im
inneren Deutschland. Das Kommissariat
richtete zu Händen des Generals Dupont
die genau begründete Bitte an die Koalition,
sich der polnischen Mitbrüder anzunehmen
und ihnen politische Freiheit, insbesondere
aber freien Verkehr mit den gesamten
übrigen Polen und den rechtmäßigen polni¬
schen Behörden zu gewährleisten."
Aus vielen Ortschaften Westpreußens
laufen Nachrichten ein, daß die polnischen
Kricacrvercine unter Leitung von Offizieren
und Unteroffizieren exorzieren und regel¬
rechte Felddienstübungen abhalten, also eine
Tätigkeit entfalten, die weit über das Ziel
der Voltswehren hinausgeht. Aus einem
auigefundenen Aufruf, der im Januar den
leitenden polnischen Stellen Westpreußens
zugesandt wurde, ist die Aufgabe dieser
Polnischen K-iegervereine klar ersichtlich,
denn hier wird ausdrücklich zur Bildung
einer polnischen Armee aufgefordert. Schon
jetzt haben die Polen sämtliche öffentlichen
Ämter auf dem Papier besetzt. Als Ober¬
landesgerichtspräsident ist der Rechtsanwalt
Laszewski in Aussicht genommen, Post und
Bahn dem Leutnant Paszotta übertragen.
Wie sicher die Polen ihrer Sache sind, be¬
weist, daß der Oberbefehlshaber Pilsudski
in Warschau bereits einen Oberbefehlshaber
für Westpreußen bestimmt hat und auch
den Rechtsanwalt Wawrowski beauftragt
hat, das Militärgerichtswesen in Westpreußen
zu organisieren. (Kreuzztg. v. 25. Febr.)
Polnische Freigebigkeit mit Lebens-
mitteln. Unter Hinweis auf die schwere
Notlage ihres Landes haben sich die Polen
bekanntlich von der Entente Lebensmittel er¬
bettelt. Mit diesen betreiben sie nunmehr eine
recht seltsame Verwendung. Sie suchen, wie
uns aus zuverlässiger Quelle bekannt wird,
allenthalben an der Front die Moral unserer
Grenzschntztruppen zu untergraben, indem
sie sie mit Lebensmitteln bestechen und ihnen
sogar den Schmuggel mit Lebensmitteln zum
Zweck der Propaganda unter der Zivil«
bevölkerung diesseits der Demarkationslinie
erleichtern. Dieser unter Vernachlässigung
der eigenen Landsleute betriebene Mißbrauch
ist für die unsoziale Gesinnung der Polen
ebenso bezeichnend, wie für die Skrupel-
losigkeit, mit der sie auf deutschem Boden
auf' Bauernfängerei ausziehen.
Zwangsweise Enteignung der deutschen
Ansiedler in den polnischen Gebieten. Einer
uns zugegangenen zuverlässigen Privatnach¬
richt zufolge hat die polnische Regierung
einen bereits fertiggestellten Feldzugsplan,
um deutsche Ansiedler im deutsch polnischen
Gebiet, nicht nur von ihrer Scholle zu vor¬
treiben, sondern gleichzeitig auch völlig
mittellos zu machen. Sie will den Stand¬
punkt einnehmen, daß dem Ansiedler das Land
von der Ansiedlungskommission zu einem
unter dem realen Wert stehenden Preise
überlassen worden sei, ferner daß die quuten-
weise auf Jahre verteilte Amortisation-rente
bei etwaigem Uebergang des Landes in
Polnische Staatsoberho'heit gleich fällig Ware.
Der Ansiedler würde demnach die Differenz
zwischen Ucberlassungswert und realem Wert
schulden und müßte diese Schuld sofort be¬
gleichen. Einen Ausgleich würde die polnische
Negierung dem Ansiedler lassen: Er kann
verlaufend Aber der Verkaufspreis den er
erzielt, gehört wiederum dem Staat. Denn
das etwaige Plus des Verkaufspreises über
den seinerzeitigen Ueberlassungswert hinaus,
stellt nach polnischer Auffassung einen dem
Staat geschuldeten Differenzbetrag dar. Tat¬
sächlich bleibt der Ansiedler also, wenn er
verkauft, ohne Ar und Halm, ohne Geld
und Gut.
Die Ansiedlungsgesetzgebung war eine
Auswirkung nicht lediglich unserer Ostmarken¬
politik, sondern ebensosehr der sozialen
Richtung, die seit zwei Dezennien die
preußische Agrarpolitik beeinflußte. Aehnlich
wie das Rentengutgesetz für andere preußische
Provinzen kam das Ansiedlungsgesetz im
Osten- dem wirtschaftlich Tüchtigen aber
Schwachen, d. h. Unvermögenden zugute —
auf Kosten nicht nur des polnischen, sondern
auch des deutschen Großgrundbesitzers. All¬
deutscher Überlieferung gemäß, entgegen dem
römischen'Recht, das den Grund und Boden
nicht von der beweglichen Sache unterscheidet,
wurde hier dem kleinen Mann im Grund¬
besitz die „soziale Position" geschaffen. Weil
der Erwerber unvermögend war, wurde der
Kaufpreis zum größeren Teil gestundet; da¬
mit der Staalskredit nicht mißbraucht winde,
wurde nur der wirtschaftlich Tüchtige zuge¬
lassen, eine wahrhaft agrardemokralische Re¬
gelung, die Landarbeit durch Landeigen¬
tun? lohnt.
Unsere weltpolitischen Gegner spielen die
Rolle von Vorkämpfern für das „Selbst-
bestimmungsrecht": Der Schwache soll vom
Starken nicht vergewaltigt. Recht nicht von
Macht erdrückt werden. ' Der Gedanke ist
schön, doch nur die Tat Kulturerrungenschaft.
Die ostdeutschen Ansiedler sind wirtschaftlich
schutzbedürftige Existenzen; sie wären es noch
mehr im Rahmen eines Polnischen StantS-
wesens. Mit Wahl und Erwerb des Bodens,
mit Arbeit und Rentenzahlung haben sie
„Selbstbestimmung" geübt. — Wird die
Entente dieses Recht der Selbstbestimmung
schützen, das ausgeübt, damit el warben,
verbrieft im heimatlichen Boden für die An¬
siedler eingetragen ist?
Wir erfahren hierzu, daß die Kommission
für die Demarkationslinie sich kaun, mit
dieser Frage beschäftigen dürfte, da sie in
großen Zügen nur die Frage der allgemeinen
Verwaltung und der speziellen Verwciltungs-
zwcige bearbeiten wird. Sich des Rechts
der deutschen Ansiedler anzunehmen, dürfte
also die Pflicht der Waffenstillstandskommission
und der späteren Friedensdelegation sein.
Wohnsitz der Kaschuben. Die Kaschuben wohnen im nordwestlichen Teile
der Provinz Westpreußen, den Kreisen Putzig, Neustadt, Karthaus, der nordwest¬
lichen Ecke des Kreises'Danziger Höhe, dem westlichen Teile des Kreises Bereut,
dem nördlichen Teile des .Kreises Konitz und dem nordöstlichen Teile des Kreises
Schlochau, sowie als versprengte Reste in den Kreisen Bülow, Lauenburg und
Stolp der Provinz Pommern. > In den Kreisen Bereut und Konitz grenzen sie
an polnische Stämme, und zwar im Kreise Bereut an die sogenannten Kociewiaken,
im Kreise Konitz an die Borowiakeu, sonst sind sie von Deutschen umschlossen, die
auch vielfach mit ihnen im Gemenge wohnen.
Sprache. Die Sprache der Kaschuben, die am reinsten in den nördlichen
Gegenden erhalten ist, weist auf eine Zugehörigkeit zu den sonst ausgestorbenen
Ostseewenden, deren östlichsten Zweig sie bilden. Nach Süden geht die Sprache
allmählich in den borowiakischen Dialekt des Polnischen über, vom kociewiakischen
bleibt sie scharf geschieden. Die links der Weichsel in Westpreußen gesprochene
Dialekte waren den kaschubischen früher weit ähnlicher als jetzt. Wir haben es
also, in, diesen Gegenden mit polonisierten Kaschuben zu tun. Das Kaschnbische,
das Ostseewendische und das Polnische bilden zusammen die westslawische Sprach¬
familie des Lechlschen, wobei nach den neuesten Forschungen im Gegensatz zu der
von polnischen Gelehrten vielfach behaupteten Ansicht, das Kaschubische sei ledig¬
lich ein polnischer Dialekt, die sprachliche Selbständigkeit des Ostseewendisch-
Kaschubischen gegenüber dem Polnischen einwandfrei festgestellt ist.
Geschichte der Kaschubei. Die Geschichte, der Kaschubei, die zeitweise
auch als Ostpommern oder Pommerellen bezeichnet wurde und gegen¬
wärtig im wesentlichen zur preußischen Provinz Mestpreußen gehört, gliedert sich
>n folgende große Zeitabschnitte:
Die Pommern (Kaschuben) wohnen zwischen Ostsee, Weichsel und Netze
und grenzen hier an die Polen.
Etwa um die Wende des Jahres 1000 beginnt für Ostpommern oder die
Kaschubei die geschichtliche Zeit. 997 wird zum ersten Male Danzig genannt.
Damals standen Ost- und Westpommern unter polnischer Oberhoheit, bildeten
aber keine polnischen Provinzen, sondern hatten ihre eigenen Fürstengeschlechter
behalten, die die polnische Lehnsoberhoh-eit anerkannten. Doch auch diese
Abhängigkeit ertrugen sie nur widerwillig und benutzten die erste Gelegenheit,
um sie abzuschütteln. , Den Westpommern gelang dies schon im Jahre 1013, auch
Ostpommern scheint sich damals losgerissen zu haben. In der zweiten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts zerfiel Ostpommern in zwei Gebiete. Das eine
umfasste das Land, das begrenzt wird von Weichsel, Breche, der Konitz-
Schlochauer Kreisgrenze, «der 'westpreußisch-ponim-erschett Grenze und der Leba,
das andere umfasst die heutigen pommerschen Kreise Stolp, Schlawe, Bülow und
Rummelsburg und von Westpreußen den zwischen Breche, K-annonka und
Küddow liegenden Teil, früher auch noch die Kastellanei Reitet, d. h. den .Kreis
Flatow und den nördlichen Teil der Provinz Posen bis zur Netze. Nicht zu
Pommern gehörte die Kastellanei Wyscegrod, d. h. der zwischen Weichsel und
Brahe liegende Teil der Provinz Posen. Der Kampf um Ostpommern wogte hin
und her, bei jedem Niedergange der Polnischen Macht erhoben sich die Pommern
und suchten sich die Netzegrenze zu sichern, wenn die polnische Macht erstarkte,
kam der Rückschlag. Noch verwickelter .wurde die Sachlage durch das Eingreifen
der Dänen, die im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts die Kastellaneren
Schlawe und Stolp besetzten und den Danziger Fürsten M-estwin den Ersten zum
Lehnseid zwangen. Dessen Sohn Swantopolk befreite sich jedoch von der
polnischen Herrschaft und entriß den Dänen die Kastellanei Stolp. Das
Schlawer Besitztum fiel ihm durch Erbschaft zu, nur der dauernde Erwerb der
Kastellanei Nabel gelang ihm nicht. Mestwin der Zweite, der Nachfolger
Swantopolks, musste das Mewer Gebiet an den Deutschen Orden abtreten. Er
suchte Schutz durch Unterwerfung unter die Lehnsoberhoheit des Markgrafen von
Brandenburg, vermachte aber sein Reich an Przemyslav von Polen. So fiel
Ostpommern nach feinem Tode an Polen. Dadurch wurde es aber in die
polnischen Parteikämpfe hereingezogen. Durch unzufriedene Graste herbei¬
gerufen, nvachten dann die Brandenburger Markgrafen ihr Lehnsrecht geltend
und rückten -in das Land ein. Der Teutsche Orden besetzte als Verbündeter
Polens die Stadt Danzig, -wandte sich dann aber gegen Polen, eroberte das ganze
Land und erwarb von "den Brandenburgern den Rechtsanspruch darauf. So
wurde Ostpommern mit Ausnahme der Kastellaneien Stolp und sah-la-we ein
Teil des Ordensstaates. Die Bedeutung -dieser ersten Periode seiner Geschichte
für den kafchnbischen Volksstamm besteht darin, das ihm ein Teil seines Gebietes
verloren ging. Die Kastellanei Ratel, ursprünglich ein Teil Ostpommerns und
von Kafchuben bewohnt, fiel an Polen und -blieb einstweilen mit ihm vereinigt.
Die Folge war, daß dort -die Polonisierung frühzeitig einsetzte und das ursprüng¬
liche k-aschubische V-olkstum verdrängte.
Die Herrschaft des Deutschen Ordens brachte der Kaschubei eine reiche
Blüte, Recht und Gesetz'kamen wieder zur Geltung, der wirtschaftliche Zustand
besserte sich, eine nationale Bedrängun-g fand nicht' statt. Allerdings führte der
Orden zahlreiche Kolonist-en ins Land,-das war jedoch nichts Neues, denn schon
unter den einheimischen Fürsten hatten die von ihrer Gründung an deutschen
Klöster Oliva und Pogutken-Pelplin das Recht bekommen, ihre großen
Besitzungen mit Deutschen zu besiedeln, dasselbe Recht war auch anderen Grund '
besitzern verliehen und die Städte Danzig und Dirsch-an waren als deutsche
Städte gegründet. Dem kaschubischen Volkstum drohte eine viel größere Gefahr
als von den -Deutschen -von feiten der Polen. Die letzten Jahre der Ordens¬
herrschaft, in denen die Macht des Ordens niederging, waren durch Kriege mit
Polen und Hussiten angefüllt, die das Land in eine 'Wüste verwandelten. Im
Frieden von Thorn 1466 fiel das Land an Polen.
Den früheren Wohlstand hat die .Kaschubei nnter polnischer Herrschaft nicht
wieder erlangt, vielmehr verarmte die Bevölkerung mehr und mehr und kam
in drückende Abhängigkeit von dem Grundherrn. Die 'Erinnerung daran hat
sich bis heute noch im kaschubischen Volke erhalten. Schon seit der Herrschaft des
Ordens, der neben Deutschen auch Polen ansiedelte, drang das Polnische
kolonisatorisch vor und verdrängte das Kaschubische. Die Ergebnisse dieser
Polonisierung ursprünglich nicht polnischer Gegenden war die Entstehung der
polnischen Dialekte desBorowiakischen und Kociewiakischen.
1772 kam Ostpommern oder Pommerellen ebenso wie der Netzedistrikt
unter Preußische Herrschaft. Es war damals ein bis zum äußerst herunter
gekommenes Land, die Bewohner lebten in drückender Abhängigkeit von den
Grundherren, Schulbildung fehlte fast ganz, ein finsterer Aberglaube beherrschte
die Seelen. Die preußische Herrschaft hob die Landeskultur, baute das Verkehrs¬
netz aus, schaffte die Erbuntertänigkeit ab und machte aus recht- und besitzlosen
Leibeigenen freie Besitzer ihres Landes. Es wurden Schulen eingerichtet und die
Schulpflicht eingeführt. Von den Kaschuben wurde dies auch anerkannt und mau
hätte sie zu treuen Anhängern des preußischen Staates machen können, wenn die
preußische Regierung nicht schwere Behandluugsf«hier begangen hätte. Man hat
es nie verstanden, die Kaschuben dem polnischen Einfluß zu entziehen, sondern
verstärkte selber diesen Einfluß, indem man alle Maßnahmen, die gegen die
Polen notwendig wurden, auch gegen die Kaschuben richtete und dadurch beide
völlig getrennten Volksstämme zusamnienschweißte. Den Vorteil davon hatte
oas Polentum, das zunehmend das Kaschubeutum aussog. Dabei hat es keines'
Wegs an Reaktionen von feiten des letzteren gefehlt, aber diese wurden von der
Regierung entweder nicht beachtet oder sogar bekämpft.
neuerliche Fortschritte der Polonisicrung der Kaschuben. Unter
diesen Umständen hat die Polonisiernng der Kaschuben mit dem Ende
der polnischen Herrschaft nicht aufgehört, sonder» sogar Fortschritte
gemacht, indem sie aus einer unbewußten zu einer bewußten und Plan-
mäßigen wurde. Dabei bedient sich das Polentum der Mittel, die ihm der
Äaat selber lieferte. Vor allem ist es die Kirche, die der Polonisiernng dient,
dann die Zeitung und das Bersnmmlungs- und Vereinswesen, meist unter
durchaus harmlosen Deckmantel. Dabei geht die Polonisiernng auf zwei Wegen
vor: einmal 'flößt sie dem Kaschuben die polnische Gesinnung ein, wobei er
äußerlich in Sprache und Sitte Kaschube bleibt, innerlich aber zum Polen wird.
^)der sie gewinnt >den Kaschuben zur Annahme der polnischen Sprache, indem
ne in ihm das Gefühl erweckt, daß der Kaschube dem Polen gegenüber eine unter ¬
geordnete Stellung einnimmt. Dies bedeutet die vollständige Polonisiernng.
Hhr unterliegt vor allem der Gebildete, da es eine kaschubische Schriftsprache
»icht gibt. Daneben schreitet auch die unbewußte Polonisierung der Sprache vor.
Die kaschubischen Dialekte im Grenzgebiet des Kreises Konitz nähern sich immer
nichr dem Polnischen an. Die deutschen .Kolonisten der Ordenszeit haben ihr
Deutschtum mir da erhalten, wo sie in geschlossenen Massen angesiedelt wurden,
sonst sind sie im Kaschubeutum oder im Polentum aufgegangen oder wurden
wieder verdrängt. ' Auch einige ursprünglich deutsche Klöster wie Oliva und
Pelplin waren allmählich Polnisch geworden und hatten die Polonisierung ihrer
Hintersassen befördert. Die deutsche Ansiedlungstätigteit der letzten Jahrzehnte
I.deckt noch so in den Anfängen, daß sich ihre Wirkung nicht abschließend über-
leben läßt.
Die„DsutscheAllgemeineZsitung"Ur.12S
vom 15. März veröffentlicht einen Bericht, den
Herr Ernest Denis, Referent für Polen in
der dem Ministerium der auswärtigen An¬
gelegenheiten in Paris zugeteilten Polnischen
Kommission, seiner vorgesetzten Behörde er¬
stattet hat. Der Bericht lautet in Übersetzung
folgendermaßen:
Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten.
23. Dezember 1918.
Die ethnographischen Verhältnisse als ma߬
gebende Grundlage für die Rückerstattung
der deutsch-polnischen Gebiete »n Polen.
Unter all den territorialen Problemen,
die dieser „Krieg für die Freiheit" auf¬
geworfen hat, ist das Problem „Polen'" eines
der brennend wichtigsten geworden. Sowohl
ideologische Gesichtspunkte, wie die traditio¬
nelle Freundschaft mit Frankreich, ferner die
Rolle, die Polen bei der Vernichtung der
beiden Zentren der Gewalt und der Unter¬
drückung, der russischen und deutschen Kaiser¬
reiche, spielte, die geographische Lage, die
Polen zum Bollwerk gegen die Barbaren
Asiens macht, alle diese Gesichtspunkte ver¬
langen von uns gebieterisch die Wahrung
der Polnischen Interessen. ,
Kein anderes Land, das diesem großen
Kreuzzuge seine Entstehung verdankt, den
die freien Völker für das Wohl der Schwester-
nationen und der ganzen bisher durch will¬
kürliche Gewalt bedrückten Menschheit geführt
haben, gibt ein klareres und genaueres Bild
straffer Geschlossenheit aller national-polnischen
Elemente in den bisher an Polen noch nicht
zurückerstatteten Gebieten, das nach den Be¬
stimmungen des Waffenstillstandsvertrages
alle Polnischen Gebiete einheitlich umfassen
soll, als gerade die Provinz Posen.
Diese Gebietsteile bilden einen Teil
Preußisch-Polens, und die Berechtigung ihrer
„Desllnnexion"wird größtenteils vonDeutsch-
land bestritten. Hier sind indes Zahlen, die
uns genau erkennen lassen, wie weit man das
Nationalitätsprinzip — das einzige Kriterium
bei Streitigkeiten zwischen Völkern — auf
den Teil der groß-polnischen Nation zur An¬
wendung bringen kann, der sich entgegen
jedem Recht und jeder Gerechtigkeit noch
immer unter der Sklaverei seines jetzt dahin¬
siechenden hundertjährigen Bedrückers, deo
verhaßten Preußens, befindet.
Die polnischen Gebiete, die Preußen zum
Teil noch zu behalten versucht, sind fast voll¬
ständig und in der Mehrzahl der Kreise vor¬
herrschend polnisch. Nur die Grenzgebiete
des alten Russisch-Polen haben aus rein
militärischen Gründen eine verhältnismäßig
starke deutsche Kolonisation erfahren. Im
Innern dieser im übrigen rein polnischen
Gebiete gibt ^ es zwar auch einige deutsche
Zentren, hie und da einige eingestreute
Enklaven und vereinzelte deutsche Gruppen,
die jedoch bei genauer Anwendung des Natio¬
nalitäten-Prinzips ohne jede Bedeutung sind.
Preußisch-Polen zerfällt in folgende vier
Teile:
1. Posen, 1815 aus den beiden Bezirken
des Großherzogtums Warschau-Posen und
Bromberg gebildet.
2. Westpreußen mit den beiden Regie¬
rungsbezirken Danzig und Marienwerder.
3. Ostpreußen mit dem Regierungsbezirk
Altenstein, einem Teil des Regierungsbezirks
Gumbinnen und dem Kreise Oletzko.
4. Schlesien, Regierungsbezirk Oppeln
(in Oberschlesien) und dem Regierungsbezirk
Breslau mit den Kreisen Groß-Wartenberg
und Namslau.
umsaßt 27 Kreise; von diesen haben 18 eine
polnische Bevölkerung in Höhe von 75 Prozent,
während in den übrigen ö Kreisen die pol¬
nische Bevölkerung mehr als 5V Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmacht und in de«
3 letzten Kreisen weniger als 50 Prozent
beträgt.
Das GroßherzogtuM Posen kann demnach
mit vollem Recht als ein überwiegend pol¬
nisches Gebiet angesehen Und in seiner <V»»
samtheit Großpolen zugeteilt werden.
Das Verhältnis der Bevölkerung Posens
innerhalb der einzelnen Kreise ist folgendes:
Nur die drei letzten Kreise — schmale be¬
deutungslose Gebietsstreifen — können von
den Deutschen beansprucht werben, jedoch
nur unter der Bedingung einer weitgehenden
lokalen Autonomie sür die polnische Be¬
völkerung. Der Rest muß insgesamt Grosz-
polen angehören, und alle polnischen Güter,
die auf Grund des Gesetzes vom 19 April 1909
enteignet worden sind, müssen ihren früheren
Besitzern unverändert zurückgegeben werden.
'
(auch Königlich Preußen genannt) umfaßt
«wolf Kreise, in denen die polnische Be¬
völkerung unbestreitbar überwiegt (mehr als
fünfzig Prozent) und zehn Kreise, in denen
ste weniger als fünfzig Prozent, zuweilen
sogar nur einen unbedeutenden Teil der
Gesamtbevölkerung ausmacht. ES muß zu¬
gegeben werden, daß gerade in Westpreußen
^e Festlegung der polnisch - preußischen
Grenze, wenn man sich an das ethnographische
Prinzip halten will, großen Schwierigkeiten
begegnet.
Die Kreise, die an das Meer grenzen,
haben in der Mehrzahl nur eine Polnische
Minderheit; diese Schwierigkeiten müssen
indessen unter allen Umständen auf eine
Weise gelöst werden, die den Ansprüchen
der Polen auf einen freien Zutritt zur
Weichselmündung, auf den Hafen von Danzig
und den ganzen Küstenstrich, die sogenannt?
Kassubei, günstig ist, einschließlich des
Kreises Putzig, mit einer polnischen Majorität
von 69,1 Prozent, aber auch einschließlich
der angrenzenden Kreise Karthaus und
Neustadt, wiewohl der letztere in Wirklich¬
keit nur 48 Prozent Polnische Bevölkerung
aufweist.
Die geographische Lage dieser Kreise ist
überall die, daß jede, andere Lösung als die
einer einfachen und glatten Rückgabe den
Interessen Polens und seiner wirtschaftlichen
Entwicklung nachteilig sein würde, mit der
wir im Hinblick auf den starken Absatz der
französischen Industrie auf den Märkten des
Ostens rechnen müssen. -
In der Annahme, daß die ritterliche
polnische Nation augenblicklich ein Element
der Ordnung zwischen dem bolschewistischen
Rußland und dem desorganisierten und zer¬
fallenden Deutschland bildet, kann die Not¬
wendigkeit, die gesetzliche Ordnung in de
Kreisen mit gemischier Bevölkerung aufrecht¬
zuerhalten, mit Fug und Recht den Grund
zu einer polnischen Besatzung geben, die dort
mehr oder weniger lang vorübergehend
dauern wird. Diese zeitweilige Besetzung
Wird in dem ersten und bedeutungsvollsten
Zeitpunkt des wirtschaftlichen Aufschwungs
Großpolens diesem einen freien Zutritt zum
Meer und zur Küste sichern und die Mög¬
lichkeit bieten, günstige Bedingungen für eine
endgültige Einverleibung dieser gemischt¬
sprachlichen Kreise in ihr Mutterland zu
schaffen. Folgendes ist das Verhältnis der
polnischen Bevölkerung zur Gesamtbe¬
völkerung in den Kreisen Westpreußens:
Diese Gebiete müssen insgesamt dem
Polnischen Staate einverleibt werden, unter
Zubilligung einer lokalen Autonomie für die
Preußische Bevölkerung.
Dieser Kreis hat zwar nur eine polnische
Minderheit, er ist aber von rein polnischen
Gebieten eingeschlossen und kann daher unter
keinen Umständen ausgeschlossen werden.
^Zu der schlesischen Frage handelt es sich
hauptsächlich darum, die Rechte Polens auf
Oberschlesien festzustellen, wo vom ethno¬
graphischen Gesichtspunkt aus die Rechte der
Polnischen Bevölkerung unbestreitbar sind.
Die polnische Bevölkerung verteilt sich
folgendermaßen:
Die oben genannten achtzehn Kreise und
die beiden Kreise des Regierungsbezirks
(Breslau) Namslau und Groß Wartenberg
müssen unbedingt Großpolen angehören; die
Städte, die in ihnen liegen, enthalten in
Wirklichkeit nur eine Polnische Minderheit
bei einer Bevölkerung, die sich aus germani¬
sierten Polen zusammensetzt. Diese Städte
müssen aber das Los der Nachbargebiete
teilen und auch wieder Polnisch werden.
In Wahrheit ist die ganze Bevölkerung
der drei Schlesien polnischen Stammes, aber
die Germanisierung in Nieder- und Mittel¬
schlesien ist so durchgreifend, das; es sehr
schwierig sein würde, die streng-ethno¬
graphischen Gesichtspunkte für die Rückgabe
ein Polen geltend zu machen.
Dazu schreibt die „Deutsche Allgemeine
Zeitung":
Oberflächlicher, als es in dieser Denk¬
schrift geschieht, kann man mit den Tatsachen
kaum umspringen. Sie behauptet, die Provinz
Posen gäbe ein besonders klares Bild eines
geschlossenen polnischen Gebietes. Eine be¬
wußt falsche Behauptung. Wie ein geschlossenes
Sprachgebiet aussieht, geht etwa aus einer
Sprachenkarte Böhmens hervor, wo fast alle
Gerichtsbezirke des Nordrandes mehr als
»S Prozent Deutsche haben. Würde man
den gleichen Maßstab an Posen anlegen
(d. h. auch nur Bezirke von 95 Prozent als
rein polnisch betrachten und dabei ohne Rück¬
sicht auf die Kreisgrenzen sprachliche Bezirke
bilden), so wird sich ergeben, daß es ein
derartiges geschlossenes polnisches Sprach¬
gebiet in Posen, wie es das deutsche in
Böhmen ist, nicht gibt; es sind nur im Süd¬
westen von Posen aus Ostrowo zu vereinzelte
polnische Inseln mit über 96 Prozent Polen
vorhanden. Sie haben untereinander zum
Teil keinen Zusammenhang. Es ist ein Jnsel-
»ewirr, das auf der Karte alles andere als
den Eindruck der Geschlossenheit macht.
Richtig ist, daß das Deutschtum im
Regierungsbezirk Posen, von dem die Denk¬
schrift nur spricht, in der Minderheit ist.
Eine Minderheit allerdings, die über 400000
Köpfe umfaßt. Aber diese Minderheit ist dem
Polentum kulturell überlegen; ihr gehört
64.06 Prozent des Grund und Bodens (auf
Grund des Gesetzes von 1909 sind nur
1200 Hektar enteignet) und an Einkommen-
neuer zahlt sie 11,09 Mark, die Polen aber
"ur 3,02 Mark auf den Kopf der Bevölkerung.
Kann man bei einer solchen Minderheit, wie
^ die französische Denkschrift tut, von „einigen
einzelnen deutschen Enklaven und vereinzelten
bedeutungslosen deutschen Gruppen" sprechen?
Und was soll man bum sagen, wenn die
Denkschrift Kreise wie Bomst, Birnbaum,
Neutomischel und Rawitsch den Polen zu¬
spricht, meer weil die Polnische Bevölkerung
hier wenig über 60 Prozent ausmacht? In
Birnbaum z, B. sind 81 Prozent des Grund
und Bodens deutsch, in Neutomischel und
Bomst je 64,05 Prozent; von dem Einkommen-
stoueraufkommen zahlen die Polen in Bomst
nur 86,77 Prozent, in Neutomischel 23,8L
Prozent und in Birnbaum gar nur 16,06
ProzentI Kann man solche Kreise unbestreit¬
bar Polnisch nennen, nur weil in den letzten
Jahren — Neutomischel, Bomst und Birnbaum
hatten noch 1890 eine deutsche Majorität —
eine kleine Verschiebung zugunsten des Polen-
tums eingetreten ist?
Die Abtretung Westpreußens mit ethno¬
graphischen Gründen zu rechtfertigen, wagt
der Verfasser gar nicht. Er spricht ganz
offen aus, daß abgesehen vom Kreise Putzig
(auch dort sind die Anwohner der Küste
übrigens kaschubisierte Deutsche) kein Kreis,
der an die See stößt, eine Polnische Mehr¬
heit hat, daß aber die wirtschaftlichen Inter¬
essen Frankreichs (sie!) die Abgabe der Küsten¬
kreise an Polen erforderlich mache. Die
wirtschaftlichen Interessen, welche die Denk¬
schrift für die Entscheidung der Zukunft
Posens gänzlich ignoriert, sind also hier mit
einem Male ausschlaggebend und die ethno¬
graphischen Verhältnisse, die für Posen allein
entscheidend sein sollen, gelten hier gar nichts!
Wahrlich eine gerechte Art und Weise, die
Lösung des Problems nach Wunsch zu ge¬
stalten. Zu diesem Plan paßt es auch vor
züglich, daß man Westpreußen durch die
Polen besetzen will, um unterdessen „günstiger«
Bedingungen für eine endgültige Einver¬
leibung dieser gemischtsprachlichen Kreise in
ihr Mutterland zu schaffen", d. h. das Land
in der Zwischenzeit kräftig mit brutaler Ge¬
walt zu polonifleren.
Danach überrascht es auch nicht, wenn
die Denkschrift die wirtschaftlichen Verhältnisse
Oberschlesiens, den rein deutschen Ursprung
und den deutschen Charakter der dortigen
Industrie, mit Stillschweigen übergeht. Aber
auch die Zahlen, die die Denkschrift für
Oppeln — und ebenso für Altenstein —
anführt, beweisen nichts. Der Bezirk Alten¬
stein hat überhaupt niemals zu Polen ge¬
hört. Ursprünglich Polnische Namen sind
dort nicht vorhanden. Ausdrücke wie Olsztyn
und Uanborsk sind, wie auf der Hand liegt,
lediglich Übersetzungen von Altenstein und
Johannisburg. Die Kreise Groß-Wartenberg
und Namslau, die die Denkschrift noch aus
dem Bezirk Breslau in das polnische Gebiet
einbezieht, haben nur 33 Prozent bezw.
20 Prozent Polen, sind also weit von einer
polnischen Majorität entfernt. Im übrigen
ist die dortige polnische Bevölkerung, die
ebensowenig wie die Masuren hochpolnisch,
sondern den sogenannten wasserpolnischen
Dialekt spricht, seit 7V2 Jahrhunderten von
Polen getrennt; alle Traditionen dorthin
sind abgerissen. Erst in den letzten dreißig
Jahren ist von Posen her eine national-
Polnische Agitation nach Oberschlesien hinein¬
getragen; sie ist, da sie zugleich die Klassen¬
gegensätze rücksichtslos ausgenutzt hat, nicht
ganz erfolglos geblieben, hat aber die Masse
der oberschlesischen Wasserpolen nicht ergriffen.
1912 haben die Polen nur 93000 Stimmen
erhalten (von 303000 abgegebenen Stimmen)
und bei den Wahlen zur konstituierenden
Nationalversammlung sind, obwohl die Polen
Stimmenthaltung Proklamiert hatten, trotz
allem bolschewistischen Terror 674000 Wahl¬
berechtigte (60 Prozent) zur Urne gegangen,
von denen höchstens 480000 deutsche Wahl¬
berechtigte waren. Die Mehrheit der ober¬
schlesischen Bevölkerung ist demnach nicht
Polnisch gesinnt.
Auf die Gesinnung der Bevölkerung kommt
es doch aber an, wenn das Selbstbestim¬
mungsrecht der Völker in die Wirklichkeit
umgesetzt werden soll, und es ist beachtens¬
wert, dasz die französische Denkschrift davon
überhaupt nicht spricht.
Auf die Frage einer Volksabstimmung im
Osten geht ein Artikel von Prof. Dr. Herr¬
mann im „Berliner Tageblatt" Ur. 111 vom
1L. Mürz wie folgt ein:
Polen und Deutschen festzustellen, daß der
Wilsonsche Grundsatz von „unbestreitbar Pol¬
nischen" Gebieten in keinem Teile der Pro¬
vinz rein zur Anwendung kommen kann.
Der Regierungsbezirk Bromberg zählte im
Jahre 19 !0 50 Proz., der Regierungsbezirk
Posen 38,2 Proz. Deutsche. Im Brvmverger
Bezirk gibt es Kreise mit über 70, ja 8V Proz.
Deutschen und nur 4 Kreise unter 3V Proz.
Deutschen, während im Regierungebezirk
Posen der deuische Anteil in den einzelnen
Kreisen zwischen 10,9 und 92 Proz. schwankt.
In den sämtlichen Städten der Provinz zu¬
sammen wohnen mehr Deutsche als Polen,
selbst dann, wenn man Militär und Beamte
in Abzug bringt, und die Zahl der Deutschen
in allen über S0 Proz. Polen zählenden Kreisen
ist größer als die Zahl der Polen in den
über 50 Proz. Deutsche zählenden Kreisen.
Schon aus den wenigen hier gegebenen
Anregungen erwachsen der Negierung hoch-
bedeutsame und , schwierige Aufgaben. Sie
wird hoffentlich selbst den Wunsch haben, sie
nicht lediglich bureaukratisch, sondern unter
starker Beteiligung derer, um deren Wohl
und Wehe es datiei geht, zu lösen. Die in
den letzten Monaten überall geschaffenen
Volksräte bieten der Negierung "neben den
für die Nationalversammlung gewählten Ver¬
tretern geeignete Mitarbeiter in Fülle dar.
sgg
Mit wachsender Spannung haben 850 000 Deutsche in der Provinz Posen
die Tagung der Nationalversammlung verfolgt. Trotz aller bisherigen Ent¬
täuschungen hat jeder von uns gehofft, daß doch endlich einmal all die Notschreie
die von den Deutschen Volksräten, den deutschen Gemeinden und all den anderen
deutschen Organisationen der Ostmark dauernd an all die Verantwortlicher Stellen
gerichtet wurden, Widerhall in der Nationalversammlung finden würden — nichts
ist bisher erfolgt. In dumpfer Verzweiflung fragen wir uns: sind wir denn
endgültig verraten und verkauft? Auch dem größten Optimisten ist wohl jetzt
jeder Zweifel geschwunden, daß geheime Abmachungen bestehen müssen, die uns
polnischer Willkür verschachert haben! Wir wollen jetzt die Wahrheit wissen und
verlangen, daß die Regierung in der Nationalversammlung uns sagt, was wir
von ihr zu erwarten haben! Sind wir hier, die wir auf altem deutschen Kultur¬
land- tapfer aushielten, denn schlechter als unsere österreichischen Brüder, denen
ganz Deutschland jubelnd die Hand entgegenstreckt? Ist es schon vergessen, daß
in den letzten schweren Kämpfen im Westen es gerade die Söhne des Ostens
waren, die lobend erwähnt wurden? Wer hielt bei Noeselare und Deinze den
übermächtigen Gegner immer wieder im Schach? Und das der Dank? Deutsches
Volk, weißt du es, daß Söhne aller deiner Stämme hier deutsche Art und deutsche
Kultur als Ansiedler, Besitzer, Beamte und Arbeiter hochgehalten haben? West¬
falen, Bayern, Pfälzer, Hannoveraner, Sachsen, Württemberger, Rheinländer,
Thüringer und wo sie alle herstammen — sie alle standen als deutsche Pioniere
hier im fernen Osten und vertrauten darauf, daß Deutschland geschlossen hinter
ihnen stand und ihnen ihr Recht auf ihr Deutschtum sicherte.
Deutsche Arbeiter, wißt ihr, woher das Vieh kam, dessen Fleisch euch im
Frieden nährte? Eine Nacht auf einem Bahnhof hätte euch gezeigt, woher die
endlosen Güterzüge mit Rindern, Schweinen und Schafen kamen. Wißt ihr,
woher die Kartoffeln kamen, die euch in den harten Kriegsjahren durchhalfen?
Die Ostmark hat sie für euch gebaut!
'
Wißt ihr, daß die größten Zuckerfabriken in der Provinz Posen und West-
preußen liegen? Kennt ihr die Namen Culmsee, Kruschwitz, Montwy, Opalenitza,
Pakosch, Ratel, die euch den größten Teil eures Zuckers lieferten?
Kennt ihr die schwarze Erde Kujawiens, jener Weizen- und Rübenkammer
des Ostens?
Wißt ihr, daß von 700 Dampfpflügen im Deutschen Reich allein 198 in
der Provinz Posen arbeiten?
Wißt ihr, daß die Polen bereits 10000 Zentner Mehl und 30 000 Zentner
Kartoffeln, die für euch bestimmt waren, nach Russisch-Polen geschafft haben?
Das sind Zahlen aus polnischen Zeitungen, wieviel mag es erst in Wirklich¬
keit sein!!
Herr Reichspräsident Ebert, wir fragen Sie, was hat die Regierung getan,
um diese Mengen dem deutschen Volk zu erhalten? Was hat die Negierung
getan, um die Provinz Posen, diese Nahrungsmittelquelle, dem deutschen Volke
zu erhalten? Bisher nichts I I
Wissen Sie, wie das Volk hier denkt? „Zu einer Negierung, die nichts
für uns übrig hat, die sich als Volksregierung nicht einmal die Mühe genommen
hat, sich über die Stimmung des Volkes und die wahren Verhältnisse hier zu
orientieren, die lediglich aus die vollständig falschen Berichte der gänzlich landes¬
unkundigen Herren von Gerlach und Hirsch sich gestützt hat, aber alle Notschreie
der deutschen Bevölkerung unbeachtet ließ — zu einer solchen Regierung können
wir kein Vertrauen haben! Einer solchen Negierung weigern wir die Steuern
und Abgaben, und lieber lassen wir die Bolschewisten ins Land, als daß wir
polnisch werden."
Wir sind keine Reaktionäre, Herr Präsident! Wir haben in unseren Volks¬
räten alle Parteien und alle Stände vertreten, vom Arbeiter bis Großgrund¬
besitzer. Aber unser deutsches Hemd sitzt uns allen näher als der Parteirock!
Wir sind jederzeit bereit, einem Vertreter der Regierung jede gewünschte Auskunft
über die hiesigen Verhältnisse zu geben! Setzen Sie den Herrn von Gerlach oder
den Herrn Minister Hirsch acht Tage^nach Ratel und lassen Sie ihn täglich trotz
des Waffenstillstandes 15 Zentimeter-Haubitzgranaten schmecken und beide Herren
werden von ihrem Optimismus und dem Wahn, day. eine polnische Gefahr kaum
noch besteht, schnell geheilt sein! Weiß die Regierung, daß Tausende deutscher
Bauern, Besitzer und Ansiedler vor polnischem Haß und polnischer Willkür von
Haus und Hof haben flüchten müssen, daß ihr Vieh, ihr ganzer Besitz ihnen
genommen wird, daß diese Armen nicht wissen, wovon sie leben sollen? Was
gedenkt die Negierung für diese Leute zu, tun? Im Wsten bekämpft man den
Bolschewismus, will man ihn hier künstlich züchten? Was soll aus den Beamten
werden, die als Vorkämpfer für das Deutschtum besonders bedroht sind? Es hat
früher doch genug Vertreter der Negierung gegeben, die die Verhältnisse in der
Provinz Posen genau gekannt haben, es gibt auch erschöpfende Statistiker, viel¬
leicht orientiert sich die Negierung einmal genau über die katastrophalen Fr'gen,
die das Aufgeben der Provinz Posen für den Westen, besonders für die Ernas ,ing
der Millionen Arbeiter zur Folge haben muß.
Und ihr, deutsche Brüder, im Westen und Süden, wacht auf und werft die
falschen Ansichten über den Osten von euch! Auch der Verfasser dieser Zeilen ist
Süddeutscher und weiß, wie wenige sich ein Bild von der Fruchtbarkeit der
Provinz Posen und ihrer hochentwickelten Landwirtschaft machen können! Wie oft
habe ich's verächtlich sagen hören, daß die Kartoffeln hier als Spalierobst gezogen
würden und die Gegend nichts hervorbrächte als Sand. Kienäpfel und polnische
Schnorrer. Hütet euch, daß die Erkenntnis vom Wert des Ostens für unsere
Volksernährung nicht zu spät kommt!
Und wollt ihr stillschweigend dulden, daß 850 000 gute Deutsche von den
Polen, die in der Kultur doch weit unter ihnen stehen und alles, was sie haben
und können lediglich deutscher Kultur, deutschem Vorbild und deutscher'Ordnung
verdanken, unterdrückt werden? Es ist ein historischer Grundsatz, den auch
Präsident Wilson vertritt, daß dem Volk, das die Kulturarbeit geleistet hat, auch
das Land gehört. Darum erhebt eure Stimmen im ganzen Reich und legt
energischen Protest ein bei der Waffenstillstandskommission und der Reichsregierung
gegen die Abtrennung der Provinz Posen. Und wer uns mit der Tat helfen
will, trete ein in unseren Grenzschutz. >
Wir haben allezeit treu zum Deutschen Reich gestanden und wollen deutsch
bleiben für alle Zeit.
Deutsches Reich und deutsches Volk, erzeigt uns nun Treue um Treue:
Helft uns Ostmärtern!
Der Deutsche Volksrat für den Nehcdistrikt.
Berichte über den Berlins der Ver¬
handlungen. Die Verhandlungen füllten die
Demarkationslinie gegen die Polen genau
festsetzen und die aus dem Trierer Abkommen
vom 16. Februar für das von den Polen
besetzte deutsche Gebiet sich ergebenden Wirt-
fchafls-, Verkehrs- und Verwallungsfragen
regeln. Die deutsche Kommilsion bestand aus
Freiherrn von Rechenberg, Dr. Drews (früherer
Minister des Innern), Generalmajor Dommes
als Missionsmitgliedern, ferner Rittmeister
von Brentano-Tremezzo, Negierungsass.ssor
Krahner-Möllenberg, Majore von Falken¬
hausen und Böhm, Herrn Schobert (von der
Obersten Heeresleitung), Oberst Schuhmacher
«ins dem Kriegsministerium, Legationssekretär
von Heutig (Dolmetscher), Pressevertreter
Müller-Neudorf.
Auf feiten der Entente bestand die
Kommission aus dem französischen Botschafter
Nvulens als Vorsitzenden, dem französischen
General Dupont, dem großbritannischen Ge¬
sandten urit bevollmächtigten Minister Howard,
dem italienischen Gesandten und bevoll¬
mächtigten MinisterMontagna.demilalienischen
General Nomey, dem General Kermann als
Vertreter der Vereinigten Staaten und dem
General Niessel, Den Herren stand ein großer
Stab von Adjutanten und Offizieren zur
Seite.
Als Ort der Verhandlungen war Brom¬
berg vereinbart.
In der ersten Zusammenkunft der inter-
allierten und deutschen Kommission zur
Regelung der Ostfragen auf dem Bahnhof
Kreuz am ö. März erklärte General Dommes,
der Vertreter der deutschen O, H, L,, daß
deutscherseits der Befehl zur Einstellung der
Feindseligkeiten bereits erteilt worden ist.
Aus Anlaß sowohl deutscher wie Polnischer
Klagen über die Nichteinhaltung des Waffen¬
stillstandes wurde beschlossen, auf beiden
Seilen eine Untersuchungskommission, be¬
stehend aus je drei Offizieren, einzusetzen,
welche alle Fälle von Verletzungen des Ver¬
trages prüfen, das Material sammeln und
ihren Hauptkommissionen vorlegen sollen.
Diese beiderseitigen Unterkommissionen sollen
gleichzeitig die Frage der Festsetzung der
Demarkationslinie bearbeiten.
Am 6. März abends trafen, in Bromberg
eine Reihe deutscher Vertreter der Waffen¬
stillstands kommission, des Auswärtigen Armes,
der O. H L. und der Preußischen Verwaltung
ein. Bis tief in die Nacht hinein fanden
Besprechungen im engsten Kreise mit Ver¬
tretern der Zivil- und Militärbehörden statt.
Am 6, März um 9 Uhr wurde im Regierungs-
gebäude unter Leitung des Regierungs¬
präsidenten eine Sitzung abgehalten, in der
die Führer der deutschen Abordnung, Wirk¬
licher Geh. Rat Gouverneur a, D. Freiherr
von Rechenborg und inaktiver Staat-?minister
Drews, die Wünsche der deutschen Bevölkerung
entgegennahmen. Erschienen waren Vertreter
des Arbeiier- und Soldatenrats, der Militär-
und Zivilbehörden, der Landkreise Brombsrg,
Wirsitz und Czarnikau, der Stadt Ratel, der
Handels-, der Handwerkskammer und stell¬
vertretenden Landwirtschaftskammer, des
Deutschen Volksruts, des Deutschen Bürger-
rctts, der Beamtenverbände, sowie der
Flüchtlingskommissar. Um 12 Uhr empfingen
die Exzellenzen von Rechenberg und Drews
eine aus drei Herren bestehende Polnische
Abordnung, die Polnische Wünsche zum Vor¬
trag brachte.
Berlin, 12. März. (Amtlich).
. . . Da sich die alliierten Vertreter entgegen
der getroffenen Vereinbarung weigerten, in
Bromberg zu verhandeln und kroß der
deutschen Einsprüche auf ihrem Standpunkt
behnriten, einigte man sich schließlich auf
Posen als Verhandlrmgsvrt. Die inter¬
alliierte Kommission reiste von Kreuz direkt
nach Posen. Die deutsche Kommission begab
sich zunächst nach Bromoerg. Am Nachmittag
des 6. März trat sie dann über Kreuz die
Reise nach Posen an. Beim Betreten des
von den Polen besetzten deutschen Ge¬
bietes wurden die deutschen Vertreter unter
scharfe militärische Bewachung gestellt und
denselben Freiheitsbeschränkungen unter¬
worfen, die für d e ersten Verhandlungen in
Trier seitens des Marschalls Fons angeordnet
Worden waren. Die Fahrt der deutschen
Kommission vom Bahnhof Posen nach dem
ihr zugewiesenen Quartier erfolgte in offenen
Droschken unter militärischer Begleitung. Im
Hotel warden die deutschen Delegierten so-
fort durch ein starkes Postenaufgebot von der
Außenwelt abgeschnitten. Selbst der Ver¬
kehr innerhalb des Hotels mit Vertretern der
dortigen deutschen Behörden sowie Telephon¬
gespräche waren nur im Beisein polnische^
Offiziere erlaubt. Freiherr von Rechenberg,
der Vorsitzende der deutschen Kommission,
legte sofort gegen diese unwürdige Behand¬
lung bei Noulens, dem Vorsitzenden der
interalliierten Kommission, wie dies in Trier
eb.nfalls geschehen war, scharfen Protest ein
und erklärte, die deutsche» Vertreter würden
an der für Freitag, den 7. März, anberaumten
Sitzung nicht teilnehmen, wenn die Polnischen
Anordnungen bestehen blieben. Auch die
deutsche WaffönstUlstandskommission in Spaa
erhob auf Anordnung des Neichsministers
Erzberger bei Undank Einspruch gegen das
Polnische Vorgehen. Nachdem hierauf die
Polnischen Maßnahmen zum Teil rückgängig
gemacht worden waren, haben die Sitzungen
der beiderseitigen Kommissionen am 7. März
im Schloß ihren Anfang genommen. Bericht¬
erstattung über die weiteren Sitzungen bleibt
vorbehalten, bis die bisher bestehenden
Schwierigkeiten der Nachrichtenübermittlung
behoben sein werden.
' Zurzeit finden nur Verhandlungen, auf
dem Gebiet des Verkehrswesens, der Ver¬
waltung und des Wirtschaftslebens statt. Die
militärischen Verhandlungen mußten ausge¬
setzt werden, da vorerst unüberbrückbare
Divergenzen eingetreten sind.
In den Verhandlungen zwischen den
deutschen und den interalliierten Unterhändlern
in Posen wurde zunächst beschlossen, das zu
bearbeitende Material einer militärischen und
einer zivilem Unterkommission zur Beratung
zu überweisen. Die Arbeiten der Unter¬
kommissionen stießen von vornherein auf
große Schwierigkeiten, da der Telegramm-
und Telephonverkehr der deutschen Mitglieder
mit der Heimat dauernde Stockungen und
Verzögerungen erlitt. Eine entschiedene
Wendung zum Besseren ist hierin trotz aller
deutschen Bemühungen noch nicht eingetreten.
Die militärische Nnterkommission trat noch
um 7. März zu einer Sitzung zusammen.
Der Vorschlag der Alliierten, an der Demar¬
kationslinie eine neutrale Zone von einem
Kilometer Breite festzusetzen, wurde im Prinzip
angenommen. Doch kam es bezüglich der
weiteren alliierten Forderungen, von dieser
Zone aus die Artillerie auf 20 Kilometer
zurückzunehmen, zu keiner Einigung. Es
zeigte sich überhaupt, daß die Ententevertreter
entschlossen find, keinerlei Konzessionen zu
machen und die Bedingungen einfach zu
diktieren. Jeder deutsche Einwand wurde in
schärfster Form damit abgelehnt, daß die
Polen Verbündete der Entente seien und
diese die Aufgabe haben, Ruhe und Ordnung
zu schaffen. Als bis zum 10. März keine
Einigung über die Hauptfragen erzielt worden
war, reisten die militärischen Mitglieder der
deutschen Kommission von Posen ab, um sich
mit der Obersten Heeresleitung in Verbindung
zu setzen.
Wann die militärischen Verhandlungen
wieder aufgenommen werden, steht noch nicht
fest. Evenso ist es noch unbestimmt, ob in
der Unterkommission oder direkt in der Haupt-
kommission weiter über die militärischen
Fragen verhandelt werden wird.
Auch die Arbeiten der zivilem Unter¬
kommission, welche die Verkehrs-, Wirtschafts¬
und Geiselfragen behandeln, haben bisher
noch zu keinem Ergebnis geführt.
,
, Ueber die Behandlung, welche der deut¬
schen Kommission in der deutschen Stube
Posen durch die Polen Widersahren ist, er¬
hob General von Hammerstein auf Grund
eines Telegramms in der Vollsitzung vom
3. März1l)19 in Spaa scharfen Protest und
verlangte, daß der Kommission Freiheit der
Bewegung und des telephonischen Verkehrs
gewährt werde. Er erklärte weiter, >daß er
auf diese Frage später eingehen werde.
In der Vollsitzung vom 11. März in
Spaa forderte General von Hammerstein in
einer Note nochmals eine andere Behand¬
lung der deutschen Kommission in Posen
und außerdem die Gewährung der notwen¬
digen Verbindungen, damit sie arbeitsfähig
gemacht werde. Sodann Protestierte er in
der gleichen Note gegen Äußerungen des
Botschafters Noulens in einer Begrüßungs¬
ansprache an die Polnischen Behörden, von
denen die deutsche Kommission funkentele¬
graphisch Kenntnis erhalten hat. Noulens
hat erklärt, daß er sich in Posen in einem
Teile Polens befinde. Die deutsche Note
weist darauf hin, daß solche Äußerungen ge¬
eignet seien, auf das Verhalten und auf die
Ansprüche der Polen in unerwünschten
Sinne einzuwirken.
Auf die Entgegnung Undanks, daß die
ganze Frage wenig bedeutungsvoll sei, da
sich die deutschen Angaben auf einen Funk¬
spruch gründeten und über Posen die
Friedenskonferenz entscheiden werde, verlas
General von Hammerstein ein Telegramm,
aus dem hervorgeht, daß die betreffende
Äußerung Noulens bei einem offiziellen
Empfang durch die Polnischen Behörden vor
dem Bahnhof Posen vor einer großen Menge
gefallen ist. General von Hammerstein erklärte,
er sale dah>?r seinem Einspruch gegen die
Haltung des Botschafters Noulens, die den
Abmachungen nicht entspricht, nichts hinzu¬
zufügen.
Nach einigen Tagen Unterbrechung haben
die Verhandlungen in Posen am Is. März
ihren Fortgang genommen. Die militärischen
Mitglieder der deutschen Kommisston sind
zurückgekehrt.
In der Sitzung der militärischen Unter¬
kommission machte der französische General
Niessel den Vorschlag, die deutsche und Pol¬
nische Artillerie solle statt auf 20 Kilometer
nur auf 10 Kilometer von der vorgeschlagenen
neutralen Zone zurückgezogen werden. Ein
deutscher Gegenvorschlag, die Artillerie auf
beiden Seiten auf 6 Kilometer Entfernung
zurückzunehmen, wurde rundweg abgelehnt.
Als sich schließlich Freiherr von Nechenverg
bereit zeigte zur Einigung über die 1V Kilo¬
meter-Zurücknahme, verlangten die alliierten
Vertreter plötzlich, daß die Deutschen auf
der ganzen Front nur 10 Batterien in einer
Entfernung von je 40 Kilometer von ein¬
ander beibehalten dürften. Eine Einigung
war deshalb unmöglich.
Ferner verlangten die alliierten Vertreter
rascheste Entscheidung über die Landung der
polnischen Division in Danzig und deren
Transport nach Polen; andernfalls würde
Danzig besetzt werden. Der Vorsitzende der
deutschen Kommisston protestierte dagegen
»ut erklärte in einer Note, die Danziger
Frage gehöre nicht zur Zuständigkeit der
Kommissionsverhmidlungen und könne nach
dem Standpunkt der deutschen Negierung
nur in Spaa entschieden werden. Hierauf
verlas Botschafter Noulens einen Auftrag
der alliierten Regierungen, in Posen über
diese Frage zu verhandeln.
Schon in einer früheren Sitzung hatten
die alliierten Vertreter in nicht mitzzuver-
stehendcr Absicht die Neigung geäußert, daß
die deutschen Truppen um der Polenfront
keine regulären Truppen seien, sondern wilde
Freischaren nach Art der Komitatschibanden.
Von deutscher Seite war diese Unterstellung
mit aller Schärfe zurückgewiesen worden.
In der Vollsitzung am 15. März wiederholte
der französische General Niessel diese Be¬
hauptung und verlangte die Zurücknahme der
Freiwilligen-Verbände. Er schob die Schuld
an dem dauernde» Geplänkel und den kleinen
Kämpfen an der Polenfront auf sie, da es
undisziplierte Truppen seien, die sich auf
eigene Faust andauernd Übergriffe erlaubten.
In der Frage der Besetzung der Kom¬
mission, der die Entscheidung bei Beschwerde
über ungerechte Behandlung von Deutschen
oder Polen innerhalb der Demarkationslinie
obliegen soll, ist eine Einigung noch nicht
erzielt worden. Die Alliierten verlangen die
Besetzung dieser Kommission nur durch alliierte
Vertreter, während von deutscher Seite die
Besetzung mit Deutschen und Alliierten unter
dem Vorsitz eines Neutralen gefordert wird.
Die Verhandlungen in Posen stehen vor
der Entscheidung.
Die Verhandlungen der Unterkom¬
misstonen der deutschen Waffenstillstandskom¬
mission mit der interalliierten Kommission
zurFestsetzung der Ausführungsbestimmungen
für die militärische Demarkationslinie send
gestern früh in Posen abgebrochen worden.
Es war für den Augenblick nicht möglich,
zu einer Einigung zu gelangen, namentlich
über die sogenannte paritätische Oberkom¬
mission. Diese sollte als Beschwerdeinstanz
dienen für die Paritätskommisstonen. Diesen
letzteren war zur Aufgabe gesetzt, eine voll¬
kommen paritätische Behandlung der Deut¬
schen und Polen beiderseits der Demarkations¬
linie ohne Unterschied der Nationalität in
Bezug auf Schutz des Lebens, der persönlichen
Freiheit, des Eigentums und der Ausübung
des Berufs oder der öffentlichen Rechte zu
garantieren.
Die paritätische Oberkommission sollte sich
nach dem deutschen Vorschlag zusammensetzen
aus je einem von der preußischen Negierung
und der internationalen Kommission ernann¬
ten Mitglied, sowie einem neutralen Borsitzen¬
den, welcher entweder vom Bundespräsidenten
der Schweiz oder dem Papst ernannt werden
sollte. Die, Alliierten hatten demgegenüber
eine andere Zusammensetzung empfohlen,
nämlich einen Alliierten, einen Deutschen,
einen Polen und zwei noch zu kooptierende
Mitglieder, so daß unter allen Umständen
die alliierten die Mehrheit gehabt hätten.
Als endgültiger Vorschlag blieb dann von
beiden Seiten bestehen auf der deutschen
Seite der Plan, den Vorsitzenden durch den
Papst ernennen zu lassen, auf der Entente¬
seite die Absicht, die Wahl des Vorsitzenden
der internationalen permanenten Waffenstill¬
standskommission in Spaa zu übertragen.
Die deutsche Regierung sah die Interessen
der Deutschen bei einem zahlenmäßigen
ÜberwiegenderEntentenichtgesichert, während
die interalliierte Kommission wiederum durch
leinen Neutralen und auch durch den Papst
nicht den Vorsitzenden ausgewählt wissen
wollte. Von deutscher Seite ist nichts un¬
versucht geblieben, um namentlich den Vor¬
schlag des von Päpstlicher Seite aus zu
wählenden Vorsitzenden in besonders ein¬
dringlicher Form den Polen nahebringen zu
lassen, worauf aber aus formalen Gründen
der Vorsitzende der interalliierten Kommission,
Botschafter Noulens, nicht eingehen zu können
glaubte und die Verhandlungen abbrach.
Der Abbruch der Verhandlungen ist für
die deutschen Interessen kein Verlust, da auch
die von der Entente gemachten militärischen
Borschläge den deutschen Ansprüchen nicht
genügen.
Die Note, durch welche Botschafter Nou¬
lens. der Vorsitzende der interalliierten
Kommission in Posen, dem Vorsitzenden der
deutschen Unterkommission. Freiherrn von
Rechenberg, den Abbruch der Verhandlungen
mitteilte, lautet in der Übersetzung folgender¬
maßen:
„Herr PräsidentI Ich habe gestern abend
den Brief erhalten, in welchem Sie mich
davon in Kenntnis setzten, daß Ihre Regie¬
rung, bevor Sie eins definitive Entscheidung
trifft, bezüglich des Modus der Ernennung
für die paritätische Oberkommission in Posen,
die im Titel IV, Artikel I. Z 2 vorgesehen
ist, es wünscht, die Polnische Behörde mit
einer Anfrage zu befassen, die von dem Herrn
Minister Erzberger ausgeht.
Die internationale interalliierte Kom¬
mission, welche als äußerste Frist für den
Abschluß der Verhandlungen den 18. Sep¬
tember Mitternacht festgesetzt hat, kann sich
nicht bei diesem neuen Vorschlag aufhalten.
Er wäre übrigens in jeder Sachlage un¬
zulässig gewesen, weil die Besprechungen
einzig und allein zwischen Ihrer Delegation
und der unsrigen geführt worden sind, allein
im Sinne unserer bezüglichen Regierungen.
Die deutsche Negierung hat die Lösung
schon zu lange hinausgeschoben. Sie ist zu
verschiedenen Malen zurückgekommen auf die
Abmachungen, welche ohne Schwierigkeiten
von ihrer Delegation angenommen worden
waren. Sie hat zuerst ihre Delegierten unter
dem Vorwand zurückberufen, mit ihnen zu
beraten und hat sie dann, ohne genügende
Weisungen, zurückgeschickt.
Die deutsche O. H. L. hat ihrerseits die
Dinge kompliziert dadurch, daß sie ihrem zu¬
ständigen Vertreter, dem General von Dam¬
mes, untersagt hat, das Abkommen zu unter¬
zeichnen, welches unter seiner Mitwirkung
redigiert worden war. Die militärischen
Behörden scheinen es demnach abzulehnen,
mit der Zivilgewalt einig zu gehen. ,
Schließlich hat auch Herr Minister Erz¬
berger darauf bestanden, in eine Waffenstill¬
standskommission einen Vertreter des Papstes
oder der Schweizer Eidgenossenschaft ein¬
zuführen, und auf die Garantie, welche wir
ihm dadurch gegeben haben, daß wir die
Wahl (des Vorsitzenden) durch die inter¬
nationale permanente Waffsnstillstandskom-
mission in Spaa vornehmen lassen wollen,
antwortet er ungeachtet Ihrer Zustimmung
mit einem augenscheinlich unannehmbaren
Angebot.
Die interallierte Kommission kann sich
nicht länger zu einer Taktik hergeben, welche
die Absicht durchblicken läßt, den Verpflich¬
tungen auszuweichen, welche sich für die
deutsche Negierung aus dem Artikel l des
Waffenstillstandsabkommens vom Is, Februar
1919 ergeben. Sie betrachtet daher ihre
Mission als beendigt und wird Posen heute
abend verlassen. Die Polnische Regierung
ist benachrichtigt und wird in Benehmen mit
Euerer Exzellenz alle Maßnahmen treffen,
welche die Abreise der deutschen Delegation
von heute ab ermöglichen. Um den alliierten
Regierungen zu gestatten, den versöhnlichen
Geist zu würdigen, welcher unsere Kom¬
mission ständig beseelt hat, richten wir an
sie den Vorschlag des Vertragsentwurfes,
dessen Abschrift beigefügt ist, indem wir bitten,
ihn dann Marschall Fons zu übermitteln, als
Teil der Ausführurigsbestimmungen des all¬
gemeinen Waffenstillstandes."
Der Empfang dcrEntentevcrtretcr. Unter
den Augen der deutschen Behörden widmet der
Bromberger „Dziennik Bydgoski" vom
5. März der feindlichen Kommission folgende,
den Ereignissen freilich etwas vorgreifende
Begrüßungsworte:
Wir begrüßen Euchl
Die Vertreter der Entente kommen zu
uns. Sie erscheinen bei uns als Re¬
präsentanten derjenigen Mächte, welche die
Macht des preußischen Militarismus zermalmt
und eine neue Ordnung geschaffen haben.
Nicht die -brutale Kraft, sondern Recht und
Gerechtigkeit sollen von jetzt ab in der Welt
regieren. Deshalb legen sie den Bedrückern
Zügel an und bringen den Bedrückten Freiheit.
Es ist eine ganz natürliche Sache, daß
wir als ein seit eineinhalb Jahrhunderten
durch die Preußen bedrucktes Volk mit großer
Freude diejenigen begrüßen, die uns die
gute Nachricht von einer besseren Zukunft
bringen. Wir glauben nämlich, daß ihre
Ankunft allein schon eine Milderung in unserer
Lage, die in letzter Zeit direkt unerträglich
geworden ist, bringen werde.
Als die einzigen rechtmäßigen
Wirte dieser Stadt, als ferner die
eingeborenen Söhne dieses Polni¬
schen Landes begrüßen wir die Ver¬
treter der Entente in Bromberg.
Durch das fremde Element sind wir
an die Seite geschoben worden, haben
uns aber von unseren Rechten nie losgesagt.
Und heute, wo die Deutschen sich Mühe
geben, unserer Stadt einen rein deutschen
Charakter zu geben, stehen wir fast dreißig¬
tausend Mann stark in Bromberg und stellen
fest, angesichts der ganzen Welt, daß wir
da sind, daß wir Gerechtigkeit und
Wiedergutmachung des historischen
Unrechts verlangen.
Wir können die hohen und uns so lieben
Gäste nicht durch öffentliche Aufrufe, Heraus¬
hängen von Nationalbannern begrüßen.
Jedes Anzeichen äußerer Freude wäre mit
einer Gefahr für uns verbunden, aber wir
zweifeln nicht, daß sich eine Gelegenheit
bieten wird, der Entente den Beweis- zu
geben, wie hoch unsere Zahl ist, und daß
wir uns als ein Teil des ganzen polnischen
Volkes fühlen, sowie, daß wir nicht daran
denken, unser historisches Anrecht an dieses
polnische Land Preiszugeben.
Im Namen sämtlicher Polen in Brom-
berg und dem Netzedistrikt bringen wir hier¬
mit den hohen Gästen Ausdrücke der Huldi¬
gung und Freude dar, daß wir sie in den
Mauern unserer Stadt sehen können. Wir
vereinigen uns sämtlich in einem einzigen
Ruf, in welchem unsere ganzen Gefühle ent¬
halten sind: Es lebe die Entente!
Der festliche Empfang, den die inter¬
alliierte Kommission in der deutschen Stadt
Posen gefunden hat, wurde durch folgenden
Aufruf des Polnischen Volksrats ein¬
geleitet:
An die Bevölkerung der Stadt Posen!
Morgen am Sonnabend um 8 Uhr vor¬
mittags wird eine große Ententemission nach
unserer Stadt kommen. Diese Mission setzt
sich zusammen aus bekannten Vertretern Frank¬
reichs, Italiens, Englands und der Vereinigten
Staaten von Amerika.
Seit dem Augenblicke des Eintritts dieser
Mächte in den jetzigen Krieg, haben wir Polen
im bisherigen preußischen Teilgebiete sie als
unsere Verbündeten und Freunde angesehen.
Wenn sie also heute zu uns kommen und
in den Mauern unserer Stadt, in der alten
großpolnischen Burg, der Residenz unseres
ganzen Gebietes weilen werden, erfüllt unsere
Herzen, eine große Freude,, das; wir diese
loben Gäste begrüßen können. Wir wollen
dies beredt nach außen zeigen, indem wir
unserer Stadt ein feiertägliches Aussehen
geben. Zu Ehren unserer Freunde sollen alle
öffentlichen Gebäude polnische Flaggen heraus¬
hängen, ganz Posen soll überhaupt einen
feierlichen Anstrich bekommen, indem es die
Vertreter der Entente mit polnischen und zu¬
gleich mit ihren eigenen Farben, den fran¬
zösischen, italienischen, englischen und ameri¬
kanischen begrüßt. Am Sonntag nachmittag
wird die feierliche Begrüßung der Gäste im
historischen Posener Rathaus stattfinden; die
verschiedenen Vereinigungen und Zünfte
Werden mit ihren Bannern ein Spalier vom
gewesenen kaiserlichen Schlosse bis zum Alten
Markt bilden. Weitere Einzelheiten werden
in den Zeitschriften oder besonderen Bekannt¬
machungen zur Kenntnis gebracht werden.
Einwohner und Einwohnerinnen von Posen I
Haltet überall musterhafte Ordnung, richtet
Euch genau und gehorsam wie echte Bürger
"ach den Verfügungen unserer polnischen Be¬
hörden, damit unsere Gäste durch diesen Besuch
bei uns den besten Eindruck davontragenI
Diesen Aufruf versteht der „Dziennik
Poznanski" vom 1, März mit folgendem
Kommentar:
Posen bereitet sich vor für eine würdige
Aufnahme der Ententemission.
Morgen werden die hohen Reprä¬
sentanten Englands, Frankreichs, der Ver¬
einigten Staaten und Italiens in unserer
Stadt erscheinen, um unsere Verhältnisse
kennen zu lernen und die in Warschau be¬
gonnenen Verhandlungen weiterzuführen.
Unser Volk und die Allgemeinheit wird
die hohen Gäste mit Freude und Eifer be¬
grüßen, sowie nur ein von Ketten befreites
seine Erretter begrüßen kann, tie¬
sigen, die ihm nicht nur die Freiheit zurück¬
gegeben haben, sondern die außerdem mit
Freundschaft und Hilfe zu ihm kommen, um
°le eroberte Freiheit zu verankern und für
»mener zu sichern.
Augenscheinlich muß sich unser Volk anch
indicsem feierlichen Moment vergegenwärtigen,
daß sein weiteres Schicksal vor allen Dingen
von ihm selbst, seiner Energie, Vernunft und
Ausdauer abhängig ist, die es dem Wieder¬
aufbau seiner unabhängigen Existenz widmen
wird. Dieser Wiederaufbau wird ihm aber
durch die Hilfe der mächtigen Entente, deren
Vertreter zu uns kommen, ermöglicht und
erleichtert werden.
Der,,Knrjer Poznanski" vom g, März
schreibt in einem BegrüßungSartikel^ der für
die Loyalität der Polen seit Kriegsbeginn
dokumentarisch ist, unter anderem wie folgt:
„Die feierlich ausgeschmückte Burg deS
Przemyslaw begrüßt heute außergewöhnlich
hohe Gäste in ihren Mauern. ES kommen
zu uns die Vertreter der siegreichen Mächte
der Entente, Männer, die sich berühmt ge¬
macht haben durch ihren Verstand und Poli¬
tische Erfahrung, es kommen Generäle, die
sich einen Namen gemacht haben durch die
Heldentaten ihrer Armeen. . . .
ES ist das für uns ein freudiger und
bedeutungsvoller Augenblick, daß wir die
Vertreter derjenigen Mächte bei uns emp¬
fangen können, mit denen uns Gefühle herz¬
licher Freundschaft und heißer Dankbarkeit
verbinden. Vom ersten Moment des Krieges
an wandten sich die Sympathieen der Polen
im preußischen Teilgebiete elementcirisch denen
zu, von deren Seite sie einzig und allein
eine Befreiung hoffen konnten. Als das
nationale Leben unter der Wucht des Krieg?-
Zustandes, welches auch so schon eingeschränkt
war, ganz und gar kraftlos gemacht wurde,
wandte sich der Polnische Gedanke nach Westen
und schöpfte aus den Waffentaten der Entente
Trost und Kraft. Die Kriegsgeschichte der
heldenhaften Armee der Alliierten erweckte
Wohl nirgends außerhalb der Grenzen der
Ententemächte einen derartigen Widerhall wie
bei uns. Jede strategische Bewegung wurde
von uns mit zitterndem Herzen verfolgt: die
Erfolge der Entente waren unsere Erfolge,
ihre Niederlagen unsere Niederlagen, Traurig¬
keit und Freude, Sorge und Triumph teilte»
Wir mit jedem Schlag unseres Herzens.
Und über alles erhob sich der Glaube
an den endgültigen Sieg der Verbün¬
deten. Wir waren so fest überzeugt, daß die
Sache, für die ihre Armee kämpft, heilig
und gerecht ist, daß ein Zweifel an ihrem
Erfolg gleichbedeutend gewesen wäre mit
einem Zweifel an der sittlichen Ordnung der
Welt. Wir glaubten an den Sieg derjenigen,
die wir für unsere Bundesgenossen ansahen,
und glaubten, daß dieser Sieg uns eine
Befreiung aus dem Joche des barbarischen
Eroberers bringen werde.
Die Tapferkeit des Polnischen Soldaten,
welcher eilte, die angegriffene nationale Ehre
zu verteidigen, brachte es mit sich, daß wir
die heute ankommenden Gäste als Wirte und
Herrscher dieses Landes begrüßen können.
Die Hand des preußischen Söldners wird
heute die Banner der Entente nicht mehr
herunterreißen, mit welchen wir als Zeichen
der Freude unsere Häuser geschmückt haben!"
Über die Empfangssestlichkeiten geben die
„Pvssner Neuesten Nachrichten" vom
4 März folgenden zusammenfassenden Bericht:
Auf allen öffentlichen Gebäuden war die
polnische Fahne gehißt, auch auf dem Flaggen¬
mast des Schlosses, auf dem bisher die Note-
Kreuzfahne wehte, wurde gestern mittag das
polnische Adler-Banner aufgezogen. Zahl¬
reiche Häuser tragen Fahnenschmuck in den
polnischen und Entente-Farben. Vormittags
Uhr fand auf dem Wilhelmsplatz (jetzt
Freiheitsplatz) eine militärische Feier statt;
rings um den Platz hatten etwa zweitausend
Mann Aufstellung genommen, darunter ein
Ulanenregiment. In der Mitte des Platzes
fuhren die vier einzuweihenden Batterien mit
zusammen vierzehn Geschützen (darunter eine
schwere Mörserbatterie zu zwei Geschützen)
auf. Auch die Vertreter des Obersten Pol¬
nischen Volksraies waren zu der Feier er¬
schienen. Kurz nach it^/z Uhr begann, von
der polnischen Bevölkerung wiederum lebhaft
begrüßt, die Auffahrt der Ententevertreter,
zusammen 23 Herren. Der Wilhelmsplatz
selbst war für das Publikum abgesperrt,
Mannschaften der Bürgerwehr hielten die
Ordnung aufrecht. Unter Führung des Ge¬
neralleutnants Dowbür Musnicki schritten die
Delegierten, mit dem französischen General
Niessel an der Spitze, die Front der auf¬
gestellten Truppen ab, worauf die Weihe der
vier Batterien durch den Feldgeistlichen
Dykiert stattfand. Hieran schloß sich ein
Vorbeimarsch der Soldaten an der Südseite
des Wilhelmplatzes. Mehrere Flieger kreisten
gleichzeitig während der Feier über der
inneren Stadt und über dem Platz, wobei
einer derselben einen Sturzflug ausführte.
Während nunmehr die Vertreter der Polni¬
schen Behörden mit dem Kommissariat des
Obersten Polnischen Volksrats sich nach dem
Alten Rathaus begaben — polnische Vereine,
Innungen und stones bildeten Spalier —
unternahmen die Mitglieder der Delegation
eine Rundfahrt durch die Stadt und trafen
kurz vor 1 Uhr ebenfalls im Alten Rathaus
ein. In dessen „Goldenen Saal" wurden
sie von dem Stadtpräsidenten v. Drewski
namens der Stadt begrüßt. Kommissar
Poszwinski hielt sodann von dem Balkon des
ersten Stockwerks eine Ansprache, auf die
Botschafter Noulens antwortete. Gegen 2 Uhr
traten die Ententevertreter die Rückfahrt nach
dem Schloß an. Abends 7 Uhr fand hier
im großen Saal ein offizielles Bankett statt.
Bei dieser Gelegenheit hielt Kommissar Kor-
fanty an die Vertreter Frankreichs, Englands,
Italiens und der Vereinigten Staaten eine
längere Ansprache.
Die Balkonrede Poszwinskis hatte
nach einem Bericht des „Dzienn. Pozn." vom
4. März folgenden Wortlaut:
Als im Juli 1se4 sich die ersten Signale
des Weltkrieges bemerkbar machten, als im
August die ersten Schüsse fielen, fühlte unser
Volk, daß sich ihm der entscheidende Augen¬
blick naht. Die Bitten unserer Dichter, welche
um einen großen Krieg der Völker gebetet
haben, um einen Krieg, welcher die Un¬
gerechtigkeit der Welt brechen, dagegen neue
Zeiten küren sollte, sowie neue Leute, die
Herrschaft des Rechts, der Gerechtigkeit, Frei¬
heit und Verbrüderung der Nationen, ver¬
wirklicht sich jetzt.
Vom ersten Augenblicke an wußte unser
Volk, auf welche Seite eS sich stellen solle.
Und um so bemerkenswerter ist jene Über¬
zeugung und jener Glaube, daß wenn in
gewissen Schichten der polnische Gedanke
herumirrte, der einzig und unveränderlich
war, so war derselbe treu und ständig beim
Volke, also beim Stamme einer jeden Nation.
Es kamen Nachrichten über die Siege der
Deutschen, schon schien es, daß unter der
Wucht der deutschen Faust die Völker des
Westens fallen werden. Unser Volk blieb sich
treu, es ließ sich vom Schein nicht hinreißen,
denn es glaubte daran, daß die Gerechtigkeit
und Freiheit siegen muß, daß sie siegen muß
"ach Hekatomben von Opfern, nach einem
Meer von Blut und Tränen. Und mit
diesem unverbrüchlichen Glauben hielt auch
s>:in sicheres Bewußtsein stand, daß die Idee
der Freiheit und des Rechts, deren tapfere
Vorkämpfer die Entente, also Frankreich,
England, Italien und die Vereinigten Staaten
waren, über die brutale deutsche Idee der
Macht über das Recht siegen muß.
Die tapferen, siegreichen Kämpfer an der
Marne, auf den Feldern Flanderns, an der
Mosel, in der Champagne, bei Verdun und
um der Piave haben trotz dem veränderlichen
Äriegsglück Wunder von Tapferkeit, Wunder
l'on Heldentum und Aufopferung, sowie Eifer
und Glauben von feiten der Entente hervor¬
gerufen, daß von ihnen eine übermächtige
Kraft ausging, welche schwache und bedrückte
Völker zur Ausdauer anregte. Es war das
die Kraft, welche unseren Glauben stärkte.
Wir wußten nämlich, daß hohe Ideale dort
T>Um waren, für die man sein Blut und
sein Leben gibt. Und als der greise aber
5U gleicher Zeit jugendliche Ministerpräsident
Tlemenceau und Pichon, als Lloyd George,
Orlando und zuletzt der edle Präsident Wilson
das Wort „Polen" aussprachen, fühlten wir,
daß in denselben Tat und Willen enthalten
'se, daß Polen auferstehe.
Dr. Krysiewiecz hielt eine französische
Begrüßungsrede, in der er u. a. sagte:
»Meine HerrenI Ich habe die Ehre, Sie,
Kehrte Herren, im Namen des Obersten
Bollsrates zu begrüßen, welcher während
der jetzigen Übergangszeit bis zum Beschluß
d°s Friedenskongresses die Vertretung aller
Polen, des bisherigen preußischen Teilgebietes
darstellt.
Sie befinden sich hier auf dem Grund
und Boden desjenigen Teiles Polens, auf
welchem vor tausend Jahren die Wiege des
polnischen Reiches stand. Von dem Zerfall
"2 Polnischen Reiches beginnend, mußte
dieser Teil Polens den ganzen furchtbaren
Kampf mit der germanischen Übermacht tragen.
Sie haben in diesem Weltkriege, welcher,
wie Sie sich überzeugt haben, noch nicht zu
Ende ist, erkannt, welchen Zwecken die Macht
und die Kraft des Deutschen Reiches diente
und welche Methoden sie angewendet hat.
Deshalb können Sie auf Grund dieser
eigenen Erfahrungen sich unsere Leiden wäh¬
rend dieser Sklavenzeit vorstellen.
Wenn wir trotzdem widerstanden haben
und heute als Wirte dieser Ländereien Sie
begrüßen können, so wollen Sie darin, bitte,
das Maß unserer Widerstandskraft und be¬
rechtigten Titels der Angehörigkeit zum
freien vereinigten Polen sehen."
Weiter erwähnte Dr. Krysiewicz, daß die
Gäste begrüßt werden als Vertreter der
Entente, die Recht und Gerechtigkeit für alle
bedrängten Völker bringt und jetzt als
Siegerin die Möglichkeit habe, ihr politisches
Programm zu erfüllen, was den Polen die
Überzeugung gebe, daß ihre Sache eine
richtige Beurteilung und eine gute Lösung
für ihr Vaterland seitens der Alliierten be¬
kommen werde. Die Rede schloß mit einem
Hochruf auf die Mächte der Entente.
In Beantwortung dieser Ansprache hielt
Botschafter Noulens eine Rede, die un¬
gefähr die folgenden Worte enthielt:
„Ich danke Ihnen im Namen meiner
Kollegen und in meinem eigenen Namen für
die sympathischen Worte der Begrüßung. Sie
haben richtig daran erinnert, daß wir hier
auf polnischem Boden stehen, von wo die
Dynastie der Piaster hervorgegangen ist, wo
die großartige Entwicklung Polens ihren An¬
fang genommen hat. Der Freiheit beraubt,
haben Sie, meine Herren, Kraft und Aus¬
dauer dem Erbfeinde gegenüber bewiesen.
Die Polen sind auf diesem Boden ein Vor¬
posten, an welchem die deutschen Wellen zer¬
bersten. Der Feind, welcher es verstanden
hat, sich wieder zu organisieren, ist unser
Gegner, aber noch in größerem Maße auch
der Ihrige. In Ihrem Auftreten haben Sie
außer großer Seelenstärke auch die Weisheit
der Beherrschung gezeigt, welche sogar den
Feinden imponierte. Dieses Land, welches
in der Vergangenheit solche große Bedeutung
für Polen hatte, ist auch in Zukunft dem
polnischen Volke nötig, zu welchem es zurück¬
kehren muß." ^
Korfanty führte in seiner Bankett¬
rede aus:
„Das Polnische Volk durchlebt jetzt einen
der wichtigsten historischen Augenblicke, in¬
dem es in seinem Lande die Vertreter der
siegreichen Entente begrüßt, welche ihm
Freiheit, Unabhängigkeit und Vereinigung
bringt, um welche wir gekümpst und seit
über U)0 Jahren gebetet haben.
Meine Herren Repräsentanten des schönen
und heroischen Frankreichs! Im Namen
dieses Teils des polnischen Volkes, welches
seit über einem Jahrhundert das schwere
Joch des größten Freiheitsfeindes ertragen
mußte und zum Teil noch erträgt, habe ich
die Ehre, Sie auf dem Landesstrich zu be¬
grüßen, welche die Wiege des Volkes und
des Polnisches Reiches ist. Unsere Herzen
haben sich immer zu Euch gewendet, da
gemeinsame Ideale und alte Bande der
Freundschaft Polen und Frankreich verbinden.
Das edle französische Blut wurde seit
Jahrhunderten auf der ganzen Welt für
die Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung
vergossen und die Polen sind stolz, daß sie
Schulter an Schulter mit den Franzosen
um den Sieg dieser Prinzipien gekämpft
haben und noch kämpfen. Als der -brutale
Preuße in verräterischer Weise das schöne
Frankreich und das gemarterte Belgien an¬
griff, als jene Horden die glücklichen Städte
und Städtchen unseres Vaterlandes ver¬
nichteten, our Euer Schmerz auch unser
Schmerz, Eure Tränen auch unsere Tränen
aber ebenso wie Ihr stark und stolz wäret,
und nie die Hoffnung aufgegeben habt, so
haben auch wir Polen immer an den Sieg
der Gerechtigkeit über die brutale Kraft und
Sklaventum geglaubt. Dank den französi¬
schen Waffen ist die Welt von der größten
Katastrophe befreit worden, welche ihr ge¬
droht hat.
Dank Eurem Siege ist auch ein freies,
unabhängiges, vereinigtes Polen entstanden.
Wir wünschen, daß ein stetes Bündnis
zwischen Frankreich und Polen, gestützt auf
das Prinzip unserer siegreichen Ideale, stetig
währen möge.
Meine Herren Vertreter aus Italien! '
Ihr habt den Kampf für Eure Freiheit,
Unabhängigkeit und Vereinigung begonnen,
die besten Söhne unseres Vaterlandes
stellten sich unter Eure Banner, um gegen
den gemeinsamen Feind zu kämpfen.
Es existiert eine seltene Analogie zwischen
Ihren und unseren Bemühungen zur Wieder¬
erreichung der Freiheit. Wir werden nie
vergessen, daß während dieses schrecklichen
Krieges, welchen der Preußische Militarismus
verursacht hat, das italienische Volk das erste
War, welches durch sein Parlament ein freies
und vereinigtes Puter verlangte.
Das italienische Blut, welches so reichlich
vergossen wurde, auch für die Befreiung
Polens, wird ein edler Zement sein, welcher
die Freundschaft zwischen Italien und Polen
für immer kitten wird".
Proteste gegen die Zusammensetzung der
deutschen Kommission. Der Ausschuß und
die Delegierten-Versammlung des Bürgcr-
rats von Bromberg und den Vororten ver¬
treten in der Frage der Wnffenstillstands-
und Friedensverhandlungen folgenden Stand-
Punkt:
Die deutschen Polen haben, den Augen¬
blick der Revolution benutzend, widerrechtlich
im Aufstand Gebiete erobert, die unter dem
Einfluß deutscher Kultur zur hohen Blüte
gelangt und für die Ernährung des west¬
lichen Teiles des preußischen Staates un¬
bedingt nötig sind. ES wird gefordert, daß
seitens der Entente keine Bedingungen auf¬
gestellt werden, die eine Vergewaltigung der'
historischen, völkerrechtlichen und völkische»
Tatsachen bedeuten würden. Die Deutschen
haben, um weiteres Blutvergießen zu ver¬
meiden, sich dem Abschluß eiues Waffenstill¬
standes im Osten gebeugt, sind aber nicht
gewillt, ihre Rechte kampflos preiszugeben,
selbst auf die Gefahr eines Einmarsches der
Entente hin. Wenn Frankreich, von un¬
ergründlichen Haß und feindseligsten Ne-°
vanchegedanken gegen das deutsche Volk erfüllt,
die Vernichtung desselben Müll, wird das
deutsche Volk von wahnsinniger Verzweiflung,
deren Erscheinungen überall zu beobachtet
sind, und von Hunger getrieben dein Bol¬
schewismus anheimfallen. Die französische»
Heere werden von diesem Geiste angesteckt
und ganz Europa der Schauplatz der fürchter¬
lichsten Weltkatastrophe werden, für die die
Verantwortung allein die Entente trägt.
Die Deutschen der Ostmark erkennen klar,
das; die seitens unserer Gegner jetzt vertretene
Anschauung, daß alles, was im Jahre 1772
in polnischer Hand gewesen ist, wieder pol¬
nisch werden müsse, nichts anderes bedeutet,
uls die Absicht, Preußen wirtschaftlich zu
ruinieren und das deutsche Volk unter den
Einfluß einer Suggestion zu bringen, unter
der es sich mit dem Gedanken der Poloni-
sierung größerer Teile Preußens allmählich
'abfinden soll. Die Deutschen werden, durch
die Erfahrungen seit dem Oktober-Waffen¬
stillstand mit der Entente gewitzt, dieser
Suggestion nicht erliegen, sondern weisen jede
dahin zielende Absicht einmütig zurück. Die
Möglichkeit wirtschaftlicher und sonstiger Zu¬
sammenarbeit zwischen Deutschen und Polen in
p'cußischen Gebietsteilen hat sich als durchführ¬
bar erwiesen. Ein großer Teil der preußischen
Polen verlangt, in klarer Erkenntnis, daß ein
Zusammenschluß mit dem früheren russischen
Polen Zustände für die jetzt deutschen Polen
schaffen wird, die sie in jeder Beziehung wirt¬
schaftlich um Jahrzehnte zurückwerfen werden,
daß die weitere Zugehörigkeit Posens zum
Deutschen Reiche gewährleistet wird.
Das deutsche Volk, das nicht besiegt ist,
Sündern den Kampf aus Mangel um Roh¬
stoffen und Hunger hat einstellen müssen, ver¬
langt seinerseits, daß die deutschen Polen, die
"ach Schluß des Weltkrieges und Abschluß
des Waffenstillstandes mit der Entente den
Aufstand erregt haben, mit ihrer Forderung
"ach deutschem Besitz zurückgewiesen werden.
Wird die Entente widerrechtlich die Annexion
Pahens oder eines Teiles desselben oder
anderer Gebietsteile Preußens dekretieren, so
Kird damit ein offenkundiger Necht-Zbruch ge¬
schaffen, der in der Geschichte ewig gebraut-
"wrkt erscheinen wird; denn die russischen
Polen haben im November l9Is gelobt, zu
Deutschland im Kampf gegen die Entente zu
stehen. Nur so ist die Schaffung des selb¬
ständigen Staatengebildes Polen möglich
gewesen.
Die Grenze muß von Männern festgelegt
°eben, die die gründlichste Kenntnis der
lokalen Verhältnisse besitzen. Dazu erscheinen
nicht genügend unterrichtete Regierungs¬
vertreter nicht geeignet. Insbesondere wird
zur Vertretung der deutschen Interessen ver¬
langt, daß aufrechte, feste und nicht von
vornherein durch PolnischeFamilienbeziehungen
beeinflußte deutsche Männer die Unterhand¬
lungen führen bezw. an ihnen teilnehmen.
Unsere Unterhändler müssen die Machtmittel/
die wir noch in den Händen haben, aus¬
zuspielen bereit sein. Wer von vornherein
auf dem Standpunkt steht, uns seien infolge
unserer Beziehungen zur Entente die Hände
gebunden, ist kein Unterhändler; er muß von
seinem Platze fort!
Eine kraftvolle Entschließung wurde am
11. März in der Brombcrner Ortsgruppe
der Deutsche» Volkspmtci angenommen und
an die Reichsregierung, die Nalionalveisamm-
lung und den Minister Erzberger gesamte.
Sie lautet:
Die deutsche Ostmark ist nicht der Über¬
zeugung, daß die Waffenstillstandskommission
die deutschen Interessen gegenüber den ziel¬
bewußter Machenschaften unserer Feinde ge¬
bührend wahrnimmt. Eine tausendtöpsige
Versammlung der Deutschen Volkspartei
fordert insbesondere nach Bekanntwerden der
Auffassungen Nechenbergs über politische
Notwendigkeiten im Osten seine sofortige
Abberufung. Sie fordert deshalb weiterhin
seine Ersetzung durch einen Mann, dessen
deutsche Gesinnung unzweifelhaft feststeht
und von dem man nach seiner ganzen Ver¬
gangenheit ein völliges Vertrautsein mit den
Verhältnissen und Bedürfnissen der deutschen
Ostmark erwarten kann. Denn es Handelt
sich für uns nicht allein um Befreiung von
einer gegenwärtigen Sorge, sondern auch
um Wahrung unverbrüchlicher deutscher Rechte
für die Zukunft.
In der Sitzung des Bromber^er Arbeiter¬
und Soldntenrats vom 11. März machte der
Vorsitzende Langrock einige Mitteilungen.
Danach habe der Vollzugsausschuß bei der
am vorigen Donnerstag auf der hiesigen
Regierung statigefundenen Konferenz mit der
jetzt in Posen befindlichen deutschen Kom¬
mission den Eindruck gewonnen, daß die
hierfür bestimmten Männer zum Teil nickt
die nötige Sachkenntnis besitzen, um die
deutschen Forderungen den Polen gegenüber
zur Geltung zu bringen, es wäre angebrachter
gewesen, mehr bodenständige Leute auszu¬
wählen.
Die Stadtverordnetenversammlung von
Vromverg nahm in ihrer Sitzung vom
13.März einstimmig folgende Erschließung an:
Provinz, vor allem der unbesetzten Teile,
über die deutschen Interessen und Forderungen
auf das eingehendste unterrichten."
Die deutschen Volksräte von Fvrdon und
Umgebung erheben von neuem unter Hin¬
weis auf die Erläuterungen Wilsons zu
seinen vierzehn Punkten nachdrücklichst Ein¬
spruch dagegen, daß auch nur ein Fuß breit
Landes unserer Heimniprovinz Posen ab¬
getreten werde. Wir verlangen, daß unsere
deutschen Interessen bei den Verhandlungen
in Posen energischer vertreten werden, nötigen¬
falls unter Preisgabe des für unsere deutsche
Sache scheinbar nicht geeigneten Freiherrn
von Rechenberg möge uns die Negierung
doch endlich einen Mann mit deutschem Herzen
und festem Rücken senden.
An das Auswärtige Amt.sandte der deutsche
Vvlksrat Wirsitz folgendes Telegramm:
Herkunft und Persönlichkeit des Freiherrn
von Rechenberg sowie seine Stellungnahme
zur Polenfrage in der Waffenstillstands¬
kommission beunruhigen uns stark; wir ver¬
langen sofortige Ersetzung durch eine geeig¬
netere Persönlichkeit. Von dieser Forderung
erhält die Presse Nachricht.
h
Im Vordergründe der Interessen stehen
allenthalben die,,Verhandlungen in Posen.
Die folgenden Äußerungen ergänzen das
dokumentarische Material, das wir im Vor¬
stehenden zusammengestellt haben.
Zur Verlegung der Kommissionsberatungen
von Bromberg noch Posen schreibt die Brom-
berger „Ostdeutsche Presse" vom 7. März:
Die Bromberger Konferenzen sind gestern
nachmittag plötzlich angesagt worden. Die
interalliierte Kommission, die aus Posen kam,
und die deutsche Delegation, die auf dem
Wege von Berlin nach Bromberg war, haben
sich gestern in Kreuz getroffen und hatten
dort eine mehrstündige Besprechung, worauf
die Vertreter der Alliierten nach Posen zurück¬
kehrten, während die deutschen Delegierten
ihre Reise hierher fortsetzten.
Was die Bromberger Verhandlungen ver¬
eitelt hat, wissen wir nicht, vermutlich hat die
Posener Zeitung mit ihrer Information recht,
Wenn sie schreibt, die Vertreter der Alliierten
wünschten an eineni anderen Orte, und zwar
an einem solchen in einer neutralen Zone,
zu verhandeln, dessen Festsetzung alsbald er-
folgen dürfte. Da Bivinbeig als Verhaus
lungsort sicherlich nicht ohne Einverständnis
der interalliierten Kommission bestinmit lvoi den
war, so ist nur anzunehmen, daß die neue
Entschließung der Alliierten auf Posener
polnische Einflüsse zurückzuführen ist. Man
fürchtete vielleicht in Posen, daß die Vertreter
der Alliierten hier in deutschfreundlichem
Sinne infiziert werden könnten.
Übrigens: wo ist hier eine neutrale Zcme-
an der die Besprechungen stattfinden konnten-'
Wir kennen keine, und können auch nicht an'
nehmen, daß man, um den Posener Waffen¬
stillstand herzustellen — um diesen handelt es
sich doch in erster Linie — deshalb etwa nao
Dänemark oder Schweden reisen wird. D>'6
könnte nur in der Absicht geschen, die soch°
hinzuhalten, was wir vorläufig noch »ich»
annehmen wollen.
Die deutschon Delegierten sind gestern
abend hier eingetroffen. Heute vormittag
fand in? Regierungsgebäude eine längere
Besprechung statt, an der auch Vertreter
anderer Behörden teilnehmen und die bei
Schlich der Redaktion noch fortdauerte. Über
den Gegenstand der Besprechung und ihr
Ergebnis sind wir heute nicht in der Lage,
etwas mitzuteilen.
Die Posener Rede von Nimlcns kritisiert
die Osto. Rundschau Vom ö. März in
folgenden Ausführungen:
Bei der Würdigung dieser Worte, die
sich im Munde des'Führers einer Friedens¬
misston recht sonderbar nusnehmen, wird
mau zunächst gut tun, die französischen Sym¬
pathien für die Polen in Betracht zu ziehen,
immerhin sind sie für uns Deutsche — ge¬
sprochen auf deutschem Boden — von einer
Unfreundlichkeit, die jede Hoffnung auf eine
gerechte Behandlung durch unsere Feinde
ausschließt. Als erschwerend fällt dabei ins
Gewicht, das der Botschafter bei diesem
offiziellen Anlasse nicht nur seine eigene An¬
sicht, sondern auch die der französischen Re¬
gierung zum Ausdruck gebracht hat. Be¬
niner solchen Denkungsart müßte man alle
weiteren Verhandlungen von vornherein für
völlig nutzlos halten, wenn es nicht den
oeuischeu Behörden in Bromberg gelingen
wird, durch mannhaftes Auftreten' unsere
Gegner eines Besseren zu belehren.
Daß die Entente üoer Polen in vielen
Dingen vollkommen falsch und einseitig
unterrichtet ist, ist längst bekannt, und die
Posener Rede des Botschafters Noulens be¬
stätigt dies nur. Schon die geschichtliche
Erinnerung an die „große Familie der
Piaster", vermag, so schmeichelhaft sie auch
den polnischen Zuhörern ins Ohr geklungen
haben mag, der neueren Forschung nicht
standzuhalten, denn Piast, der „Hirte" und
Landmann, ist nichts weiter als eine Sagen¬
gestalt und eine Erfindung der höfischen
«olksphantasie. Das Herrschergeschlecht der
^nöten ist erst mit Mieslo I. in das Licht
der polnischen Geschichte getreten, der es
uicht gelungen ist, die polnische Herkunft der
Piaster nachzuweisen, denn wir wissen längst
emwmidfrei, das Mieslo einen zweiten, ge-
lchlchtlich beglaubigten deutschen Namen hatte:
Bcigo, der „Taghelle". Mieslo war land¬
enden Ursprungs. Germane, wahrscheinlich
^paue oder Normanne. Noch bis in das
1^- Jahrhundert ist die Kunde von dem
Doppelnamen des Begründers des Polen-
reiches erhalten geblieben. Mit fremden
^Negern hat also der germanische MieSko,
n^^lec Pvleniönig und Stammvater der
' ^ Land an der Oder und Weichsel
5/ ""Zwölfen. Mit dem polnischen Ur-
,pu ng der Piaster ist es somit nichts, und
"»ente daher angesichts der obigen Worte
des französischen Botschafters nichts schaden,
wenn die Entente von deutscher Seite etwas
mehr über die geschichtliche und kulturelle
Entwickelung Polens aufgeklärt würde, um
zu erkennen, daß der deutsche Einfluß, der
schon machtvoll an die Eingangspforte der
Geschichte Polens gepocht hat, sich durch alle
Jahrhunderte bis' zur Gegenwart lebens¬
kräftig erhalten hat. Ihm' verdankten die
Polen ihre geschichtliche Blütezeit in den ver¬
gangenen Jahrhunderten, ihm verdanken sie
auch ihre heutige kulturelle und wirtschasi-
lichs Erstarkung. Darüber sollten sich vor
allen Dingen diejenigen klar sein, die jetzt
berufen sind,' über die politischen und win-
schafllichen Verhältnisse dieses heiß um¬
strittenen Landesteiles zu entscheiden und
ihm Ruhe und Frieden wiederzngeven.
An der Führung der Verhandlungen in
Posen übt die „Deutsche Tnneszcitn»^" vom
Z5. März folgende scharfe Kritik. Die amt¬
liche Darstellung über die Behandlung
unserer deutschen Unterhändler ergeht sich in
beweglichen Klagen und bekundet ungemischte
Entrüstung. So wenig wir auch nur im
entferntesten das Verhalten der alliizrten
Vertreter im Bunde mit den polnischen Land¬
friedensbrechern rechtfertigen wollen, so nn-
nmgätiglich scheint es uns doch, schon jetzt
die Frage auszuwerfen, ob auch von feiten
unserer Unterhändler tatsächlich alles ge¬
schehen ist, was in ihren Kräften steht, um
ein derart schamloses Umspringen mit der
deutschen Würde und den deutschen Lebens-
notwendigkeiteu von feiten unserer Feinde
zu verhindern. Recht bemerkenswert ist in
diesem Zusammenhang eine Meldung der
„Deutschen Allgemeinen Zeitung" aus Broni-
berg, wonach der Vorsitzende des Bromberger
Soldatenrates im Namen des Vollzugsaus¬
schusses erklärte, daß dieser bei einer neu-
lichen Konferenz mit der jetzt in Posen be¬
findlichen Kommission den Eindruck gewonnen
habe, daß die sür die Kommission bestimmten
Männer nicht genügend Sachkenntnis besitzen,
um die deutschen Forderungen den Polen
gegenüber zur Geltung zu bringen. Dieses
Urteil kann nicht weiter verwundern, wenn
man bedenkt, daß der Vorsitzende der Kom¬
mission, Freiherr von Rechenberg, bekannilich
ein Günstling des vielgewandten Herrn Erz^
berger, süddeutscher Kaiholik, und dem Ver¬
neinen nach sogar Sohn einer Polnischen
Mutter ist. Die Schwächlichkeit der deutschen
Abordnung wurde bereits offenbar, als sie
sich entgegen den ursprünglichen Verein¬
barungen dem Wunsche der Gegenseite fügte,
die Verhandlungen nach Posen, zu verlegen.
Dem Befremden darüber gibt auch ein Protest¬
telegramm Ausdruck, das die Berliner Ver-
tretung von 500 deutschen Volksräten Po.sens
in deren Auftrag um die maßgebenden Stellen
versendet. Daß die Verhandlungen, wie
wir aus dem Osten hören, dabei auch von
selten der deutschen Abordnung in französischer
Sprache geführt worden sind, paßt in das
gesamte Bild. Zur schärfsten Kritik aber
fordert die Tntsache heraus, das, unfere
deutschen Unterhändler die Verhandlungen
in Posen weiter geführt haben, obgleich- die
nach authentischen Äußerungen auch der
Alliierten fortbestehende Staatsoberhoheit des
des Deutschen Reiches in den gegenwärtig
von Aufrührern besetzten Teilen Posens von
der feindlichen Abordnung mißachtet wurde.
Diese Tatsache bietet'allen Anlaß, nach den
Unterlagen zu fragen, auf Grund deren
Reichsminister Erzberger in der Nationalver¬
sammlung jene beschwichtigende Aeutzeiung
getan hat, wonach auch die Alliierten der
Demarkationslinie eine rein militärische Be¬
deutung beimessen, die keinerlei politische
.Folgewirkung nach sich zöge und den Friedens-
verhandlungen nicht Vorgriffe. Zu dieser
von Erzberger angeführten Äußerung des
Marschalls Fons sieht das Verhalten der
alliierten Unterhändler inPusen inschreiendem
Widerspruch. Es ist sehr zu fragen, ob der
lediglich formelle Protest der deutschen Kom¬
missionen, gegen alle der fortbestehenden
deutschen Souveränität auch im besetzten
Teile Posens huhnsprechenden Maßnahmen
unserer Gegner auch nur dem Mindestmaß
an Würde und Kraft entspricht, das wir aus
dem großen Schiffbruche gerettet haben sollten.
Auch die „Voss. Zehe." lehnt das Verhalten
der deutschen Unterhändler in Ur. 145 vom
20. März wie folgt ab:
Das vorliegende Material genügt nicht
für eine abschließende Beurteilung der Posener
Verhandlungen/ Zweifellos, sind von der
Gegenteile verschiedene nickt leicht zu er¬
füllende Bedingungen gestellt worden. In
dem amtlichen Bericht wird in diesem Zu¬
sammenhang auf die militärischen Beoin-
gnngen hingewiesen. Dennoch scheinen diese
ein "Hindernis sür den Abschluß des Ab-
lommens nicht gebildet zu haben, da sie von
der deutscheu, Kommission ja schließlich an-
genoniniiN wenden sind. Das Bedenk n der
deutschen Unterhändler wegen der nicht gleich¬
mäßig zuscunmem eietzten Oberkommission
war sicher gerechtfertigt. Das deutsche Mit¬
glied dieser Kommission würde vermutlich
durch die beiden anderen Mitglieder ständig
majorisiert worden sein.
Sehr bedenklich sind aber die Mittel, mit
denen die deutschen Unterhändler ihren
Standpunkt durchzusetzen versucht haben.
Hier muß daran erinnert werden, daß das
den Posener Verhandlungen zugrunde lie¬
gende Abkommen von Trier über die De¬
markationslinie einen rein militärischen Cha¬
rakter besitzt, und nach dem Zugeständnis der
Entente keinerlei politische Pröjninz schaffen
soll. Die Entente hat es deshalb durchaus
korrekt vermieden, die bisher dem Deutschen
Reich zugehörigen und in einer Aufstanos-
bewegung befindlichen Polen den Vertretern
der deutschen Regierung als gleichberechtigte
Unke'Händler gegenüberzustellen. Die Ver¬
handlungen der Unterkommissiou wurden
vielmehr genau so wie in Trier und Spaa,
nur zwischen den vorher kriegführenden
Mächten geführt. Die deutschen Unterhänd¬
ler aber haben den Versuch gemacht, ihrer¬
seits diese polnischen Vertreter in die Ver¬
handlungen hineinzuziehen. Sie haben also,
sicher unbewußt, das Risiko auf sich genommen,
um eines augenblicklichen Verhandlung?-
vorteils willen, das von der Gegenseite »er-
miedene Präjudiz für den staatlichen Charakter
der bisher aufständischen Landesieile um
Haaresbreite herbeizuführen.
Dieser Versuch, dem französischen Einfluß
in der Ententekommissio.n mir jeden Preis
Verbündete entgegenzusetzen und vor der
absolut in twendigen Auseinandersetzung mit
dem französischen Vertreter irgendwie aus-
zubiegen, ist ein neues Symptom für
einen alten politischen Fehler. Es
braucht nicht wiederholt zu werden, daß
die «Stellung Frankreichs und seiner Vertreter
bei allen Verhandlungen von der ganzen
Entente gebilligt und gestützt wird. Dennoch
ist es ebenso richtig, daß in- allen Grenz¬
sragen, mögen sie im Omen oder im Westen
liegen, Frankreich seinen führenden Einfluß
gellend macht. Es kann nur wiederholt
weiden, was vor kurzem schon an dieser
Stelle betont wurde, daß dieser Einfluß nicht
durch fremde Hilfe gebrochen werden kaun,
sondern daß die Schwierigkeiten, die bei jeder
neuen Auseinandersetzung immer wieder auf¬
tauchen, nur durch eine offene, von wirklichem
Verstäudiguugswillen getragene Politik gegen¬
über Frankreich selbst in günstigem suae'
gewendet werden kann.
Das wiederholt erwähnte polnische Sammelwerk „Polen" stellt am Beginn
seiner statistischen Darlegungen fest (S, 63), daß „die qualitative Bedeutung der
einzelnen Nationalitäten keineswegs immer der numenschen proportional" sei.
Dieser Satz verdient ungelenke Zustimmung. Er trifft besonders auf die Industrie
und das Gewerbe zu; denn hier ist nicht die blende Zahl der gewerblich Täligen,
sondern in ungleich höherem Matze ihre wirtschaftliche Stellung und Kraft von
Bedeutung.
Der Sitz von Industrie, Handel und Verkehr sind überwiegend die Städte.
^Wo waren in der Provinz Posen 44640 industrielle und gewerbliche Selbständige,
^etriebs-, Geschäftsletter, überhaupt Personen in leitender Stellung vorhanden;
^avon saßen nur 15338, also etwas mehr als V- auf dem Lande. Das wirt¬
schaftliche Leben in der Provinz, soweit es gewerblicher Natur ist, konzentriert sich
?tho durchaus in den Städten. — Die Siädte in Posen und Westpreußen sind
überwiegend deutsch. Das Sammelwerk „Polen" eikennt für Wesipieußen an,
^ß „die Städte und Seehäfen schon zur Zeit der polnischen Herrschaft in ziemlich
^»dem Grade deutschen Charakter" trugen, meint aber kurz darauf, daß „die
Städte bei der wi-tschafilüren Rückstänoigkeit der Provinz nicht so sehr Lcbens-
Zentren des ganzen Landes als vielmehr lui fluch aufgepfropfte Beamtensiedlungen"
wen. (S. 71 und 73) Diese letzte Behauptung namentlich schlägt den Tatsachen
of Gesicht. Der deutsche Charakter der S-litte ist historisch begründet. Polen
hat in seiner Geschichte ja nie ein eigens Bürgertum hervorgebracht; Deutsche
uno Juden waren stets die Träger städtischen Lebens in Polen; erst in den letzten
Jahrzehnten ist ein polnisches Bürgertum in Preußisch-Polen allmählich entstanden.
Gerade die wlstprerißischcn Städte haben in der Tat immer „in ziemlich hohem
^rate deutschen Charakter" gehabt, zum Teil, wie etwa Danzig, sind sie stets rein
deutsch gewesen; gerade dies ist eine der Hauplfolgen der laugen deutschen Ver¬
gangenheit, die
und
Me
Agent deutsch/^Für'die Städte "inVganzen zeigt sich dasselbe- 498000 Deutschen
Prozent) standen nur 94000 Polen in den Städten gegenüber. Auch in der
Provinz Posen liegen die Verhältnisse ähnlich, obwohl die geographischen Verhält¬
nisse hier der städtischen Entwicklung weniger günstig sind, und auch die historische«
Grundlage», wie die deutsche Ordenszeit sie in Westpreußen legte,, dafür fehlen.
Ab>r auch hier wohnen i» den Städte» 869000 Deutsche und 35l000 Polen.
Namentlich in den Städten des Regierungsbezirks Bromberg überwiegt daS
deutsche Element', denn hier sind 158000 Deutsche neben 105000 Polen vorhanden.
Wie wir sehen, ist im Negierungcbezirk Vromberg das Deutschtum der Zahl nach
im ganzen mindesten« ebenso stark wie das Polentum, in den Städten und Land¬
gemeinden ihm überlegen; nur iri den Gutsbezirken bleibt es hinter ihm zurück.
In den Städten des Regierungsbezirks Posen habe» dagegen die Polen die Mehr¬
zahl, wenn auch bei weitem nicht in dem Maße wie auf dem Platte» Lande
(247000 Polen gegen 212000 Deutsche). Unter den vielen Städten der Provinz
Pvs'.in haben nur 8 über 10000 Einwohner; davon sind 5 überwiegend deutsch,
so vor allem Bromberg (82 Prozent), dann Schneidemühl, Lissa. Nawitsch und
Krotoschin, die bis auf Krotoschin sämtlich über 80 Prozent Deutsche haben. Eine
polnische Mehrheit, aber eine wesentlich kleinere, haben Posen (57 Prozent Polen),
Ostcowo (54 Prozent) und Gnesen (61 Prozent).
Selbst bei den posenschen Städten handelt eS sich keineswegs um „künstlich
aufgeprvpfte Beamtensiedlungen". Will um» sie schon künstlich nennen, so sind
sie großenteils künstliche königliche und grundherrliche Schöpfungen aus der
polnischen Zeit; aber daS Beamtentum spielt in ihrer Einwohnerschuft nicht die
entscheidende Rolle. Bei den Bernfszählungen ist das Militär- und Beamtentum,
in einer besondere» Bernfsavteiluug („Militär-, Hof-, Staats-, Kominimal-,
.Airchendienst und freie Berufe") gezählt. In dieser Berufsabteilung, deren An¬
gehörige zu V» in den Städten wohnen, wäre» 1905 i» den Städten der ganzen
Provinz Posen nur 85890 männliche deutsche Erwerbstätige vorhanden, daneben
3508 Polen. Im ganzen aber waren 1905 in den Städten der Provinz Po'en
von der über 15 Jahre alten männlichen Bevölkerung erwerbsiütig: 121820 Deutsche
und 86222 Polen. Abzüglich jener Berufsabteilung, die das Militär und die
Beamten umfaßt, bleiben also 85980 männliche deutsche Erwerbstätige und
82714 polnische Also auch ohne Militär und Beamtentum ist selbst in den
Städten der Provinz Posen das erwerbslütige deutsche Element dem polnischen
überlegen. Für die Provinz Westpreußen ist eS gar nicht nötig, diesen Nachweis
zu erbringen; denn dort stehen in allen Städte» zusammen nach, Abzug deS
Militärs, des Beamtentums und der freien Berufe 120000 deutschen Erwerbs¬
tätigen nur 22000 politische Erwerbstätige gegenüber.
Wir wollen im Folgenden mit sicheren Gründen, vor allein mit Zahlen')
nachweisen, daß die Sendt Berthchen im Sinne von Punkt 18 des Wilwn'schen
Progran ins unzweifelhaft deutsch ist. Wir führen diesen Nachweis mit Rücksicht
ans die Friedensverhmidlungen, durch welche die staatlichen Verhältnisse unseres
Ostens nach dem Selbstbestinunungsrccht der Völker geregelt werden sott.
Es wohnten in Berthchen:
Die Verschlechterung von 1870 ab wird erklärt
Wir Deutsche sind in Berthchen die Bodenständigen und Eingesessenen! die
Polen sind die Zugewanderten.
Von den Beutschener Familien sind ununterbrochen in Berthchen ansässig:
Die 1755 begonnenen Protokollbücher der Tischler-, Schmiede-, Schlosser¬
und Stellmacherinnungen sind in deutscher Sprache geführt. Die Meister waren
sämtlich deutsch. — Die Bäckerinnung hatte unter 13 Meistern, die Müllerinnung
unter 12 Meistern je einen Polen. Die Schneiderinnung zählte unter 13 Mil--
gliedern 2 Polen.
Berthchen ist demnach keine „künstlich aufgepfropfte Beamtensiedlung",
sondern seit Jahrhunderten urdeutsch.
Berthchen gehend zu dem fast ganz deutschen Kreise Meseritz, der nach der
Volkszählung von 1910 umfaßt:.
Aus der beigefügten Karte 1:200 000 geht hervor, daß auch der Land-
twnzeibezirk (Distrikt Berthchen) nicht nur westlich der Stadt, sondern ganz besonders
^>es nach Osten hin einen überwiegend deutschen Charakter trägt. Nach der
^ottszähluiig von 1910 hat der Landpolizeibezirk Berthchen (ausschließlich Stadt)c>d->0 Deutsche, 4223 Polen, d h, 57 Proz. Deutsche.
. Noch stärker betont ist der deuiscke Charakter der nördlich, östlich und südlich
anschließenden Landpolizeibezirke. Nach der Volkszählung von 1910 hat der nörd-
We Landpulizcibezirk (Tirschtiegel) einschließlich Stadt Tirschtiegel: 7307 Deutsche,
Polen, d. h. 90 Proz. Deuische; der südliche (UnrpKstadt) einschließlich der
Awdte Unruhstadt, Kopniö und Bomst 7646 Deutsche, 3975 Polen, d. h. 66 Proz.
Zutsche,
Für die Gegend südöstlich Berthchen kann der Demarkationslinie wegen
Material nicht beigebracht werden. Weiter nach Osten zu nimmt der Prozentsatz
der deutschen Bevölkerung nicht etwa ab, sondern im Gegenteil zu. Denn bei
Friedenhorst beginnt ein rein deutsches Bevölterungsmasnv, welches die ganze
Südhälfte des Kreises Neutomischel mit der reindeutscben Stadt Neutomischel und dem
Nordtetl des Kreises Bomst umfaßt. Es sind die um 1712 gegründeten Hauländereien.
Benischen ist also nicht ethnographisch strittiges Raubgebiet, sondern unlös¬
barer Bestandteil altdeutschen Landes.
Das Verhältnis ist früher vor dem Eisenbahnbau (1370) und vor dem
Einsetzen der Polonisierungsbestrebungen der Bank Luovwy und des Marcinkowsti-
Vereins noch günstiger für uns Deutsche gewesen.
Das beweisen die Feststellungen der Berufs- und Betriebs ^ählung vom
Jahre 1907. Es waren 325 Haupibetriebe vorhanden, davon waren 233 in
deutschen, 42 in polnischen Händen. Von diesen 325 Hauptbetrieben waren
Alleinbetriebe (d. h. allein vom Inhaber und ohne Motor betrieben) 119, davon
waren 83 deuisch. 36 polnisch.
Die Wirtschaf!lich wichtigere 2. Gruppe, die der Mitinhaber--, Gehilfen- und
Motorbetriebe, ist fast ausschließlich deutsch.
Es waren vorhanden:
. Von unseren Ärzten sind 4 deutsch, einer polnisch; der Rechtsanwalt,
Apotheker, die Direktoren der Großunternehmen (llberlandzentrale, Stärkefabrik)
Und deutsch,?) Eine polnische Intelligenz ist nicht vorhanden.
Von den Kindern, welche die städtische höhere Schule besuchten, waren:
Für den ganz deutschen Charakter der Stadt und ihrer Umgegend spricht
°und folgende Tatsache:
„ . In Bentscken wurden in den Jahren 1383 bis 1914 20 736 Notariatsakte
»Usgenommen. Darunter befanden sich 1028 Akte, bei denen es der Zuziehung
Dolmetschers der polnischen Sprache bedürfte. Das entspricht einem Prozent¬
satz von 5, Von den polnischen Notariatsakten entfielen nur 37 auf Beteiligte
I^^labt^Ventschen, was einen Prozentsatz von 0,18 ergibt.
Bei den Reichstagswahlen 1912 (allgemeine, geheime, gleiche und direkte
Wahl) wurden im Stimmbezirk Stadt Berthchen abgegeben:
Die Ergebnisse der Nationalversammlungswahlen können, nicht herangezogen»
werden, da die Gefechislcilung des Abschnitts Berthchen die Abhaltung der Wahl
im südlichen.Stadtteil untersagte. Aber daß unser völkisches Bewußtsein heute
lebendiger ist denn je, beweist die Tatsache, daß die Petition der Männer und
Frauen des Kreises Meseritz vom Dezember vorigen Jahres um Verbleiben im
deutschen Reiche in Berthchen allein trotz der Abwesenheit vieler Feldgrauer über
1600 Unterschriften fand. Und als der deutsche Volksrat Westposens die Deutschen
Ende Dezember l918 zur Wahl von Abgeordneten für einen dentschen Volkstag
aufforderte (die Wahl fand nach dem freiesten Wahlrecht der Welt, dem zur
Nationalversammlung, flau), da haben sich an dieser Wahl von 1842 deutschen
Wahlberechtigten aus Berthchen (Männer und Frauen über 20 Jahr) 1231 an
der Wahl beteiligt.
Berthchen ist deutsch und will bei Deutschland bleiben!
neuerliche Kreis-Vvlksratöwnhlen.
Ein Südgau der deutschen Volksräte
Westpreußens wurde in einer Vertreterver-
sammlung gegründet, die am Is, März in
Thorn ini Artushof unter Vorsitz des Amts¬
richters Thieme-Culm stattfand. Der Süd¬
gau umfaßt die Kreise Thorn Stadt und Land,
Culm, Schweiz, Briefen, Strasburg und
Löbauund hat seinen Sitz in Thorn. Der ge¬
schäftsführende Vorstand besteht aus den
Herren Kreisbaumeister Krause, Fabrikbesitzer
AdolfKrciuse-Thorn undStadtsekretärKriebel-
Culmsee. Der weitere Borstand setzt sich aus
Delegierten der einzelnen Kreise zusammen.
Zum Schluß wurde ein Telegramm an die
Rsichsregierung abgesandt, in dem unter Hin¬
weis darauf, daß bei den Wassenstillstands-
verhcmdlungen in Posen die Abtretung
einzelner Kreise der Provinz Posen zur Er¬
örterung stehen soll, gegen die Preisgabe
ostmärkischen Grund und Bodens engergisch
protestiert wird.
, Bromvcrn. Im Zeichen der AufklärungS-
und Festigungsarbeit am deutschen Wesen
stand der Lichtbildervortrag, den Sonntag
nachmittag der Deutsche Volksrat in der
Hindenburg-Oberrealschule veranstalte««. Vor
einer dichtgedrängten Zuhörerschaft unternahm
es der Kunstschriftstever Karl Meißner aus
Berlin, vom Vorsitzenden Prorektor Dr. Hille,
als ehemaliger Schriftführer desDürerbundeS
und als derzeitiger Mitarbeiter der Deutschen
Vereinigung in ihrer Geschäftestelle Bromberg
begrüßt, „Deutsche Art in deutscher Kunst"
zu zeigen. Der Redner führte seine Hörer¬
schaft zu Höhepunkten deutscher Malerei im
19. Jahrhundert, in dessen Welt die Gegen¬
wart sich noch wie Mensch zu Mensch einzr^
fühlen vermag, zu Schwind, Richter und
Nethel. Was Redner im Anfang des Vor-
trages versprochen halte/ den Herbeige-
kommenen eine stille Stunde zu bereiten, die
für den harten Kampf draußen stärken soll,
hat er redlich erfüllt. Gestärkten Herzens
v.'.it, wie der Vorsitzende Dr. H>lie im Schlu߬
wort betonte, mit dem Willen zum Leben
und Sichdurchsetzen als Deutsche, ging die
Versammlung auseinander.
Die überaus bedeutsame Rede, die der
Borsitzende des Brombcrger VxllzugsauS-
, «usschusses Stößel in dessen Sitzung vom
2S, März gehalten hat und die auszugsweise
in der gesamten Reichspresse größte Beachtung
gesunden hat, enthielt nach dem -ausführ¬
lichen Bericht der Bromberger sozialdemo-
kratischen „Volksstimme" vom 27. März
folgende Ausführungen:
Der Redner erinnerte daran, daß die
Polnische Frage nicht vom inncrpolitischen,
sondern vom auszerpolitischen Standpunkt
aus beurteilt werden muß, Erzberger hat
leider bei den letzten Waffenstillstandsver¬
handlungen die Polnische Frage in denW.lsfen-
stillstand mit aufnehmen lassen und die in
unserem eigenen Lande befindliche polnische
Bevölkerung ist uns als feindliche Macht
oktroyiert worden. Frankreich fühlt sich mit
unseren polnischen Mitbürgern als verbündete
Macht, die Frage muß jetzt also von inter¬
nationalen Gesichtspunkten aus beurteilt
werden. Fons hat den Polen die Provinzen
Posen und Westpreußen versprochen. Er hat
weiter die völlige Zerrüttung unseres Reiches
im Auge. Nicht nur hier im Osten, auch
im Westen Deutschlands unterstützt er Ab-
sonderungsbestrebungen. Deutschland soll
eben unter allenUniständen geschwächt werden.
Wir haben erklärt, daß unsere militärische
Macht zusammengebrochen ist und wir nicht
darandenken, den Kampf gegen die Entente
wieder aufzunehmen. Frankreich scheint uns
das aber nicht glauben zu wollen. Es fragt
sich nun, ob ein solcher Frieden, wie ihn die
Entente uns vorzuschreiben gedenkt, über¬
haupt abgeschlossen werden kann. Erfreu¬
licherweise ist sich die Bevölkerung darüber
klar, daß ein Wiederaufbau Deutschlands in
40 bis ö0 Jahren nicht stattfinden kann,
wenn die drückende Hand Frankreichs auf
uns lastet. Auch die Arbeiterklasse will nicht,
baß sie 40 bis ö0 Jahre arbeiten soll, um
die Sieger zu befriedigen. Es greift eine
tiefe Bewegung um sich, die sich von Tag
Z" Tag zuspitzt. Unsere Vertreter haben er¬
klärt, ehe wir einen solchen Frieden akzeptieren,
wollen wir lieber gar keinen Frieden haben.
Das ist auch der Standpunkt aller Arbeiter,
auch der hiesigen. Die besitzenden Klassen
werden in diesen Dingen freilich anderer
Ansicht sein. Die, arbeitende Klasse bildet
aber das Gros des deutschen Volkes und sie
wird zusammenstehen gegen ihre Bedrücker.
(Beifall.) Will die Entente uns die schärfsten
Bedingungen aufhalsen und die Arbeiter
öd Jahre Frondienste leisten lassen, so wird
diese die Arbeit niederlegen und dann sollen
sie kommen und sich selber die Werte schaffen.
(Lebhaftes Bravo I) — Die 30 0^0 Mann,
die in Danzig gelandet werden sollen, um
angeblich nach Polen weiterbefördert zu
werden, sie sollen nur Danzig besetzen.
Dadurch würde der Bürgerkrieg in West-
Preußen ausbrechen und mit Recht hat sich
die Bevölkerung Vagegen aufgelehnt. Wenn
die Emente zu Zwangsmaßnahmen greisen
will, so soll sie das tun. In Ungarn hat
sie das auch getan und wir erleben das
Schauspiel, daß die Negierung die Räte¬
republik ausgerufen hat. Dadurch sind die
Abmachungen mit der Entente erledigt. Man
verbündet sich also mit Nutzland, um sich
der Bedrücker zu erwehren. Diese Tatsachen
können an uns nicht vorübergehen. Wir
haben im Vollzugsausschuß dazu Stellung
genommen und sind zu dem Schluß ge¬
kommen, daß wir gegebenenfalls keine andere
Politik treiben könnten. — Czarnecki hat
uns vorgeworfen, wir treiben antipolnische
Politik. Es berührt eigentümlich, daß die
polnischen Arbeiterführer ihre Politik mit der
der polnischen Chauvinisten auf gleichen
Boden stellen. Dadurch sprechen sie aus,
daß sie Arbeiterinteressen nicht vertreten. —
Wenn die Polen ihre jetzt beliebte Sprache
gegen die frühere Regierung gerichtet hätten,
so hätte man das verstehen können. Wenn,
man das aber unserer heutigen sozialistischen
Negierung gegenüber tut, so ist das nur so
zu verstehen, daß die Polnischen Schlachzizeu
mit unseren sozialistischen Neuerungen nicht
einverstanden sind; sie wollen für Polen
keine demokratische Staatsform. Das nutz
ausgesprochen werden. Der Polnische Arbeiter
weitz nicht, wie die Dinge liegen. Er hätte
sonst keinen Grund, für diejenigen die Hand
ins Feuer zu legen, die ihn weiter bedrücken
wollen. — Die Aussichten, ein selbständiges
Polnisches Reich zu werden, werden von Tag
zu Tag geringer. Die Polen können ihre
Wünsche nicht durchführen, denn wir bieten
ihnen Widerstand. Wenn die Entente uns
Bedingungen aufzwingen wolle, können auch
wir uns mit dem russischen Reich Verbunden.
Die Situation wird von Tag zu Tag. klarer.
Wir haben nichts gegen den polnischen Ar¬
beiter und bekämpfen den polnischen Reak¬
tionär wie den deutschen. Wenn die polnische
Arbeiterschaft es will, weiden wir gemeinsam
arbeiten können. Treibt sie aber die Sache
so weiter, so wird der Bolschewismus die
Folge sein und dann wird sie nichts mehr
retten. Die russische Welle ist nicht aufzu¬
halten. Wenn Frankreich seine Nachsucht
Weiter so zum Ausdruck bringt, so wird eS
an seiner Niederträchtigkeit zugrunde gehen.
Wir richten an alle die Mahnung, daß sie
einig bleiben in jeder Beziehung, Sollte es
dahin kommen, daß wir es halten müssen
wie Ungarn, auch dann wollen wir zusammen¬
stehen. Ein so hochintelligentes Volk wie
es das deutsche ist, ist nicht gewillt, sich
dauernd in Knechtschaft zu begeben. (Bei¬
fall und Händeklatschen.) —
Gegen jede Zerstückelung des Reiches und
gegen jede Abtrennung von Gebietsteilen im
Osten wandte sich am 80. März eine Brom-
Scrger Kundgebung, die hinsichtlich der Zu¬
sammensetzung ihrer Teilnehmer wie des in
den Reden zum Ausdruck gekommenen un¬
beugsamen Willens ein Ereignis von größter
Tragweite bedeutet. Erschienen waren die
Vertreter der deutschen Volksräte aus der
Provinz Posen und Westpreußen gemeinsam
mit den Arbeiter- und Soldutenräten aus
den Orten des unbesetzten Teiles der Pro¬
vinz Posen und aus Wcstpreusjen.
Die Hauptrede hielt der Vorsitzende des
Arbeiter-und Soldatenrates Bromberg Stößel
(Mehiheitssoz.). Er brachte in seiner groß
angelegten Rede dieselben Gedanken mit
Wucht zum Ausdruck, die er in seiner (oben
wiedergegebenen) Ansprache an die ostmär¬
kischen Arbeiterräte bekanntgegeben hatte.
Goheimrat Cleinow von der Deutschen
Vereinigung wandte sich an die deutschen
Volksräte, die Mahnungen Stößels zur Einig¬
keit des ganzen Volkes ins Land hinauf¬
zutragen und forderte die Schaffung einer
Iriegstüchtigen Armee (Bravo und Hände¬
klatschen). Die Rekruten müßten moralisch
auf den Kampf vorbereitet werden. Alle
übrigen Redner, darunter die Vertreter der
Soldatenräte, gaben Erklärungen ab, die
Truppen des Grenzschutzes und die Bevölkerung
brennen darauf, die geraubten Gebietsteil«
wiederzunehmen. Aber sie dürfen nicht, dn
sie von oben daran gehindert werden, obwohl
die Polen überall den Waffenstillstand ge¬
brochen haben. Der Vertreter Kolmars schlug
vor, nur bis zu einem bestimmten Tag zu
warten mit der Wiedereinnahme der von den
Polen geraubten Gebietsteile, Mit tosenden
Beifall wurde nachstehende Entschließung an¬
genommen:
Der am 30. März 1919 zusammengetretene
Kongreß von Arbeiter- und Soldatenräten
und deutschen Volksräten von Stadt und
Land des unbesetzten Teiles der Provinz
Posen und Vertretern Westpreußens für über
IV2 Millionen Einwohner aller Städte er¬
hebt einmütiger Protest gegen die Abtretung
deutscher Gebietsteile, insbesondere hinsichtlich
der Ostgrenze. Durch Zulassung der Ein¬
beziehung des Polenausstandes in die Waffen¬
stillstandsverhandlungen ist dem Deutschen
Reich ein neuer Feind geschaffen worden, der
das gesamte Wirtschaftsinteresse des Deutschen
Reiches gefährdet, als offizieller Verbündeter
mit den Ententemächten den Vernichtungs-
kampf gegen Deutschland unter Bruch des
Waffenstillstandes vom 1. November vom Osten
des Deutschen Reiches her wieder ausge¬
nommen hat. Als Beweis dafür gilt auch das
Ansinnen der beabsichtigten Landung der polni¬
schen Truppen in Danzig. DerKongreß prote¬
stiert mit aller Entschiedenheit gegen derartige.
Vergewaltigungen und die Absicht der En¬
tente, innerhalb unserer Landesgrenzen ein
Polnisches Reich zu errichten, .welches die
schwersten Gefahren für das Lebensinteress-
des gesamten Deutschen Reiches nach sich
ziehen muß. Der Kongreß fordert die so¬
fortige Aufhebung der Demarkationslinie, um
das durch die Kämpfe zerschlagene Wirt¬
schaftsleben und den Verkehr wiederherzu¬
stellen.
In einer gemeinsamen Kundgebung «vier
deutschen Vereinigungen und Verbünde
Bromvergs am 31. März führte u. a, der
Mehrheitssozialist Wolff folgendes aus: Die
Drohungen der Entente haben wir als Vor¬
boten dessen anzusehen, was über uns kommen
soll. Die Polenlandungen in Danzig geschehen
nur aus dem Grunde, um Westpreußen und
Teile von Posen zu besetzen. Die Landung
in Danzig würde auch den Polenaufstand in
Bromberg bedeuten. Das müssen wir ver¬
hindern. Wir müssen uns die Frage vor¬
legen, ob wir den Dingen, die kommen, ge¬
wachsen sind, oder ob wir uns gefallen lassen,
was die Entente verlangt. Da können wir
nur sagen: Unmöglich, dje Forderungen der
Entente zu erfüllen. Wir müssen als Deutsche
noch einmal alle Kräfte zusammenfassen, um
dem Gegner zu sagen: Bis hierher und nicht
weiter.
Ratel. Zur Erledigung der jetzt sovielen
ernsten und wichtigen Fragen sind regelmäßige
wöchentliche Sitzungen anberaumt worden.
Jeden Montag tagt die Vertretung abends
8 Uhr bei Heller.
Ein Vortrag für die Flüchtlinge aus
Steinburg und Brückenkopf übernimmt Herr
Naskel.
Der Natter Volksrat legt besonderen
Wert darauf, daß Mitglieder regelmäßig den
Stadtverordnetensitzungen beiwohnen. Zu
Vertretern werden 4 Personen dahin entsandt.
Die Werbearbeit schreitet rüstig vorwärts,
auch unter den Arbeiterständen, so unter den
Bahnarbeitern der Zuckerfabrik. Dauernd
mehrt sich die Zahl der Mitglieder. Eisen-
-re hat 176, Suchary 110, Alliirten 93 und
«rlau 136 Mitglieder.
Lovsens. Durch den Zusammenschluß
aller hiesigen Deutschen im Deutschen Volks¬
rat hat das anmaßende Verhalten der Polen
Merklich nachgelassen. Zu Neujahr war
unsere Stadt einem Polnischen Ortskomman¬
danten mit polnischer Bürgerwehr unterstellt.
Durch fortgesetztes Drängen des deutschen
Volksrats kam es zu einem Uebereinkommen
Mit den Polen, es wurde eine pariiätische
Bürgerwehr mit 11 deutschen und polnischen
bezahlten Wachtleuten unter einem deutschen
Kommandanten gebildet. Zwischen den
deutschen und den Polnischen Mitgliedern
der Wehr bestanden dauernd Streitigkeiten,
so daß wir beschlossen, eine deutsche Wehr zu
bilden im Anschluß an den deutschen Vvlls-
rat. Diese Wehr besteht aus etwa 200 Mono,
und ist dem Militärkommando Schneidemühl
unterstellt. Mittellose Mitglieder erhalten
Bezahlung. Die gemischte Wehr wurde ent¬
waffnet. Da der Vorsitzende des Arbeiter¬
und Soldatenrates Glowacki, die Seele des
handelnden Polentums, verhaftet wurde, ist
es bisher zu neuen Unruhen nicht gekommen.
Angesichts der Tätigkeit des Deutschen Volks¬
rats wagen es die Polen nicht mehr, agressiv
vorzugehen. Unsere Wehr würde jeden
Pulses niederschlagen.
Güntergost. Der Deutsche Voltsrat
Güntergost hielt Mitte März eine gut besuchte
Sitzung ab, in der den Mitgliedern über die
Lage der Ostmark und über die Tätigkeit
der Deutschen Vereinigung Bericht erstattet
wurde. Zur Verlesung kamen verschiedene
Rundschreiben sowie der Pressebericht der
Deutschen Vereinigung. Das Verhalten der
Polen im hiesigen Bezirk kann als ruhig
bezeichnet werden. Bei verschiedenen beab¬
sichtigten Verkäufen von Grundstücken scheint
die Angst vor den Polen der Grund zu sein
oder doch stark dabei mitzusprechen.
Der Deutsche Volksrat Güntergost sandte
an die Reichsregierung und an die National¬
versammlung in Weimar ein Proteft-
telegramm.
Deutscher Bvlksrat Fordon und Um¬
gebung. Zu der am 1L. März einberufenen
Versammlung des Deutschen Volksrates, die
Herr Lehrer Glander leitete, war Herr Carl
Meißner aus Vromberg erschienen. Die
Ausführungen dieses Herrn über die bereits
geleistete Arbeit der Deutschen Vereinigung,
seine Mitteilungen über die augenblickliche
Lage in der Ostmark und seine anfeuernden
Worte für das Deutschtum erfüllten alle
Teilnehmer, zu denen auch die Lehrer und
Lehrerinnen des hiesigen Lehrervereins ge¬
hörten, mit neuem Mut. — Wie in anderen
Orten, so tritt auch hier die Gefahr auf, daß
deutscher Besitz in polnische Hände übergeht.
Durch das Eingreifen einiger Volksräte auf
dem Lande konnte mehrmals der Verkauf
von Grundstücken an Polen verhindert werden.
In den meisten Fällen ist es aber sehr
schwer, die gefährdeten Grundstücke für das
Deutschtum zu retten.
Die Sitzung des VolksrateS beschloß ein¬
stimmig ein P r o t e se t e l e g r a um gegen
polnische Ansprüche auf das Weichselgebiet
an den Ministerpräsidenten Scheidemann, an
den Minister Graf Brockourff-Nantzau und
an das Ministerium des Innern zu senden.
Der Bollsrat besteht ans zehn Vertretern
der Mitglieder, und zwar sind aus den
Kreisen der Beamten, des größeren und
Heineren Grundbesitzes, der Handwerker und
der Arbeiter je zwei Vertreter entnommen.
Filehne. Die deutsche VnlksratSbewegung
ist einen erfreulichen Schritt vorwärts ge-
kommen durch den Zusammenschluß des
Deutschtums im Kreise Filehne, Dort haben
sich im Deutschen Volksrat die Deutschnati¬
onale Volkspartei, die Deutsche demokratische
Partei, die socialdemokratische Partei und
die Christliche Volkspartei, ebenso die Orts¬
gruppen des Ostmarkenvereins in Filehne
und in Krenz und Umgegend zusammen¬
getan.
Kolmar i. P. Zum 3. März hatte der
deutsche Volksrat eine Volksversammlung ins
Hindenburg-Hotel einberufen. Herr Justiz¬
rat Raphael eröffnete die gut besuchte Ver¬
sammlung und erteilte Herrn Rektor Frntzke
das Wort. Dieser beleuchtete zunächst kurz
die Ereignisse seit der Revolution, kam auf
die-Vorgänge im Kreise Kolmar zu sprechen
und gedachte in warmen Worten derer, die
in treuer Pflichterfüllung für die Heimat ihr
Leben gelassen, gelitten und gestritten haben.
Die Versammelten ehrten das Gedächtnis
der Gefallenen durch Erheben von den
Plätzen. Hierauf beleuchtete Frau Professor
Hübinger die Tätigkeit der deutschen Frauen¬
räte in der Provinz, betonte, daß die Frau
unter den durch den Krieg hervorgerufenen
Verhältnissen sich im öffentlichen Leben be¬
tätigen müsse und forderte zum Schluß die
Arveitnehmcrinnen auf, den: Frauenrat bei¬
zutreten, damit dieser die Interessen aller
Schichten wirksam vertreten könne. Herr
Fratzle berichtete sodann über das Wirken
der deutschen Vollsräte und des hiesige«.
Volksrates im besonderen. Redner erging
sich über die Waffenstillstandsverhnndlungen,
hob hervor, daß die Keuschen Volksräte in
den von den Polen besetzten Gebieten weiter¬
hin bestehen, dankte Herrn Vikar Westphal,
der als Vertreter des abwesenden Vorsitzenden
der hiesigen Nada Ludowa sich große Ver¬
dienste um den bürgerlichen Frieden durch
tatkräftige Unterstützung der dahingehender
Bestrebungen des deutschen Volksrates er¬
worben hat, gab bekannt, welche Fords-
rnngen die Vertreter Kolmars auf der am
3. Februar in Schneidemühl stattgefundenen
Ministerkonferenz erhoben haben, um die
hier herrschende Arbeitsnot zu lindern, teilte
ferner mit, daß auf die Bemühungen des
deutschen Volksrates hin Inhaftierungen von
Polen unterlassen wurden und sprach den
Militärbehörden für dieses Entgegenkommen
seinen Dank aus. Hiermit war der erste
Punkt der Tagesordnung erschöpft. Zu
Punkt 2 referierte ebenfalls Herr Rektor
Fratzke. Er führte aus, daß die Deutschen
den Polen gegenüber den bürgerlichen Frieden
wahren wollen, aber alles für das Ver¬
bleiben des Kreises Kolmar beim Deutsche«
Reich tun müssen, verlas dann eine Denk¬
schrift, in der die Entwicklung des Deutsch¬
tums im Kreise Kolmar geschildert wird, die
Die Deutschen Volksräte in Schöndorf,
Klein - Bartelsee, Neu-Beelitz und
Schön Hagen hielten am 16. März in dex
Aula des Evangelischen Seminars eine Mit¬
gliederversammlung ab. In dieser sprach
der Hauptschriflführer der Deutschen Ver¬
einigung, Herr Kuhlwein über die politische
Gesamtlage und die Tätigkeit der Deutschen
Vereinigung. Der Redner betonte hierbei be¬
sonders, daß die Bestrebungen der-Lereinigung
und der ihr angegliederten Deutschen Volksräte,
nur dann weiteren Erfolg haben könnten,
wenn, der Aufbau auf breitester demokratischer
Grundlage beruhe, und forderte daher die
Mitglieder zu kräftigster Kleinarbeit in ihren
engeren Bezirken auf. Diesen Anregungen
wurde in der folgenden Aussprache allseitig
zugestimmt und demgemäß beschlossen, in
den nächsten Tagen in den einzelnen Ort¬
schaften Versammlungen zu veranstalten. Am
Freitag 2i. und Sonntag, 23. d.Mls. sollen
diese Versammlungen in Schönhagen, zugleich
für Bartelsee und in Schöndorf, zugleich für
Neu-Beelitz, stattfinden.
sunt dem Ergebnis der im Dezember statt-
gefundenen nationalen Abstimmung dem
Protest beigefügt werden soll. Außerdem
wurde in einem besonderen Protest dagegen
Stellung genommen, daß die Polen
in den besetzten Gebieten des
KreisesSteue r n beitreiben. Herr
Justizrat Raphael legte hierauf die unten
folgende Resolution vor, die einstimmig an¬
genommen wurde.
1. Das Ergebnis einer nationalen
Abstimmung über die zukünftige Zu¬
gehörigkeit des Kreises Kolmar i. P;
2. Eine kurze Darstellung der Geschichte
des Kreises .Kolmar i. P. nach seiner deutsch¬
nationalen Entwicklung;
3. Ein Protest des deutschen Volksrats
des Kreises Kolmar i. P gegen eine Einver¬
leibung des Kreises in den polnischen Staats-
t'erbaut, den eine nur2,Mürz 1Se9 abgehaltene
Volksversammlung einstimmig wie folgt be¬
schlossen hat:
Wir stehen nach wie vor auf dem Wilson-
schen Programm des SelbstbestimmnngSrechts
der Völker und haben in diesem Sinne eine
Abstimmung herbeigeführt, .deren Ergebnis
mis Material unter Ur. 1 überreicht wird. Der
Kreis hat 45 000 Einwohner. Hierbon haben
wehr als 11000 Erwachsene, über zwanzig
Jahre, sich unbedingt für das Verbleiben
im deutschen Reichsverband erklärt. Da die
Abstimmung in den von den Polen besetzten
Gebieten unterbunden wurde, entspricht das
Ergebnis der Gesamtzahl der deutschen
Eingesessenen von 36000 Seelen. Nach
»llsn früheren Volkszählungen sind stets
über 80 Prozent der Bevölkerung als
deutsch ermittelt worden. Über 80 Prozent
des Grund und Bodens befinden sich in
deutsche» Händen. Die gesamte Industrie
ist deutsch.
Wie aus Anlage 2 ersichtlich, besitzt der
Kreis eine alte deutsche Kultur.
Wir können das Streben der Polen, die
Rega als strategische Grenze zu gewinnen,
nicht anerkennen, da wir auf dem Boden des
Wilsonschen Borschlages des Völkerbundes
stehen, wonach von Natur befestigte Grenzen
in Zukunft keine Bedeutung haben werden.
Wir müßten es als eine schwere Vergewal¬
tigung ansehen, wenn durch den Friedens¬
kongreß 80 Prozent Deutscher 20 Prozent
Polen untergeordnet würden. Damit würden
Zustände geschaffen werden, die den Keim zu
ewigen Unruhen in sich tragen und zu un¬
absehbaren Folgen führen und insofern auch
den heißersehnten Weltfrieden dauernd ge¬
fährden würden.
Danzig. Nachdem in Marienburg am
2. März die Gründung des Deutschen Volks¬
rats von Westpreußen unter dem Vorsitz des
ArchivratS Dr. Kaufmann-Danzig als Vor¬
sitzenden und AmtsgerichlsratHoffmann-Neuen-
burg, Fabrikant Krause-Thorn und Pfarrer
Müller-Schönsee als Beisitzer erfolgt war,
fand am 23. März in Danzig eine zweite
Tagung statt. Nachdem die Teilnehmer sich
bereits am Vorabend im Danziger Hof zu
einer zwanglosen Zusammenkunft vereinigt
hatten, wurde die Hauptsitzung am Sonntag
früh im Artushof durch eine Begrüßungs¬
ansprache des Vorsitzenden Archivrat Kauf¬
mann eröffnet, der sich noch die Begrüßungs'
reden des Oberpräsidenten der Provinz West-
Preußen v. Jagow und des Oberbürger¬
meisters von Danzig Dr. Süden anschlössen.
Alsdann ergriff Archivrnt Dr. Kaufmann das
Wort zu einem interessanten wissenschaftlichen
Vortrag, der die historischen Ansprüche der
Polen auf Westpreußen schlagkräftig wider¬
legte. Die anschließenden Berichte der Ob¬
männer der einzelnen Deutschen Volksräte
brachten ein interessantes Material über die
Stimmung in der Provinz zusammen. Nach
Schluß der Vormittagssitzung fand eine von
60 000 Personen besuchte eindrucksvolle Kund¬
gebung unter Beteiligung aller Parteien bis
zur äußersten Linken statt, in der Dauzigs
deutsche Einwohnerschaft gegen die drohende
Vergewaltigung durch den Polnischen Im¬
perialismus protestierte. Unter den zahl¬
reichen Tischreden, die bei dem gemeinsamen
Mittagsessen der Volksratsverlreter gehalten
wurden, lösten insbesondere die warmen
Worte des Arbeitervertreters Ewert-Danzig
lebhaften Beifall aus, der den Zusammen-
stürz der chinesischen Mauer des Kastengeistes
und Standesdünkels begrüßte. In der nach¬
folgenden geschäftlichen Sitzung kam die
Entschlossenheit aller Kreise der deutschen
Bevölkerung Westpreußens zu entschiedenem
Ausdruck, den Bergewaltigungsabsichten der
Polen, insbesondere der Landung Polnischer
Truppen den äußersten Widerstand mit den
letzten Mitteln entgegenzusetzen.
Culm. Unser Deutscher Volksrat wurde
im Anschluß an zwei große, gut besuchte
Versammlungen am 2t. Dezember v. I.
gegründet. In unserem Bezirk liegen die
Verhältnisse für Culm selbst verhältnismäßig
einfach, doch ist gerade in unseren Kreisen
die Arbeit auf dein Lande ungemein erschwert.
Die Arbeit in unserem Kreise vollzieht sich
folgendermaßen: Zunächst werden die Ver¬
trauensmänner mit Listen herumgeschickt, um
festzustellen, wieviel Leute dem Deutschen
Volkskunde beitreten wallen, da diese Listen
bei der dem Friedensschluß wahrscheinlich
vorausgehenden Volksabstimmung oder direkt
beim Auswärtigen Amt für die Friedens¬
verhandlungen gebraucht werden dürften.
Visher sind bei uns etwa 6000—6000 Deutsche
auf dem Lande festgestellt worden. Außer¬
dem wird durch diese Listen auch für die
Zeichnung von Beiträgen geworben, und da
haben wir die betrübende Erfahrung machen
müssen, daß die sogenannten „kleinen Leute"
ihr letztes Scherflein zeichnen, die Vermögenden
aber zu Zeichnungen nur schwer zu bewegen
sind.
Da Culm selbst für die Landbewohner
unseres Kreises nur schwer zu erreichen ist,
haben wir für jede Gemeinde einen Gemeinde¬
volksrat gegründet, der in der Gemeinde die¬
selben Aufgaben zu erfüllen hat, wie ein
Volksrat für größere Verbände.
Culmsee. Der deutsche Volksrat in
Culmsee veranstaltete am Sonntag eine stark
besuchte Volksversammlung, in der Männer
und Frauen aller Parteien den Gedanken
des Zusammenschlusses zum Schutze der
deutschen Kultur nach den eindrucksvoller
Ausführungen des Schriftstellers Karl Arthur
Vollrath begeistert ausgriffen.
Thorn. Das Deutschtum vereinigen,
nicht gegen die Polen, mit denen wir in
Zukunft paritätisch leben werden, sondern für
uns arbeiten, die guten Kräfte im Volke
wieder wecken, das deutsche Selbstbewußtsei»
stärken, eine „Sozialisierung der Politik" in
der Selbstverwaltung erstreben — das waren
einige der Leitsätze, die Geheimer Regierungs-
rat Cleinow in der Aula des Thorner
Gymnasiums vor geladenen Gästen ent¬
wickelte. Unsere im Krieg verwilderte Jugend,
aber auch die älteren Jahrgänge müssen wir
wieder zur Arbeit erziehen. Nur durch die
„Moralität der Arbeit" könne unser um sein
Alles kämpfendes Volk gesunden. Um der
drohenden Auswanderung zuvorzukommen,
sei es nötig, das Kleinsiedelungswesen auf dem
Lande rasch zu entwickeln und zwar in Haus¬
bau- und Dorfanlage unter wesentlich
schlichterer Formen als früher. In der
Stadt aber müßten vor allem Kastengeist
und Parteiclique fallen und die Deutschen
aller Stände zusammenrücken, um zunächst
einmal über die. gemeinsamen Nöte der
engeren Heimat sich auszusprechen. Der
Vorschlag des Redners, die Arbeit in der
engeren Heimat aufzubauen und auch in
Thorn statt des einen großen VolksrateS ein?
Anzahl kleinere Volksrüte — etwa acht —
für Stadt und Vorstädte zu bilden, fand
die Beistimmung der Versammelten und aller
Redner. Eine zweite Versammlung im
Stadtverordnetensaal, am Tage darauf, zu
der auch Vertreter der Gewerkschaften und
der Sozialdemokrntie erschienen waren, über¬
trug die Neuorganisation, die rasche Fort¬
schritte machen dürfte, dem Vollzugsausschuß
des bisherigen Volksrates. Zustimmende
Erklärungen der deutschen Arbeitervertrete^
verhießen zwar naturgemäß nicht korporativen
Beitritt der Organisation, aber doch bereit¬
willige Mitarbeit.
Am folgenden Tage fand eine Besprechung
mit Großgrundbesitzern des Landkreises
Thorn statt, in der die Bildung von Volks-
räten auf dem Lande unter Beteiligung der
Arbeiter und die Siedelungssragen besprochen
wurde. Ein Ausschuß wurde gebildet, der
die weitere Arbeit zu leisten haben wird.
Zu einer kraftvollen Kundgebung gestnliete
sich die am 20. März vom Deutschen Volks¬
rat Thorn in den Biktoriapark von allen
Parteien einberufene Volksversammlung, in
der Geheimrat Cleinow von der Deutschen
Vereinigung und der Sozialdemokrat Voll¬
rath die Hauptreden hielten. Es waren
annähernd achttausend Personen in den
Sälen und Anlagen versammelt, die zwei
Stunden trotz der fünf Grad Kälte aus¬
hielten. Cleinow gab ein Bild über die Lage
und die drohenden Gefahren. Er bezeichnete
besonders die Anarchie, die nicht nur in der
Arbeiterschaft, sondern in allen Kreisen der
Bevölkerung Platz gegriffen habe, als die
größte Gefahr, und neben ihr die inkonse¬
quente Haltung der Regierung in den Friedens-
frngen. Bei Besprechung der Polenfrage hob
der Redner besonders nachdrücklich hervor,
daß keine Macht und kein Friedensspruch die
Tatsache aus der Welt schaffen könne, daß
Polen und Deutsche seit Jahrhunderten auf¬
einander angewiesen sind und Jahrhunderte
aufeinander angewiesen bleiben werden. Es
müsse daher unbedingt auf einen Ausgleich
der widerstrebenden nationalen Interessen
hingewirkt werden. Diese mit lebhafter Zu¬
stimmung aufgenommenen Ausführungen er¬
zeugten aus der Versammlung heraus einen
Beschluß, der als Ultimatum an die Polnischen
Volksverführer und deren französischen Freunde
angesehen werden muß. Es heißt darin, de>S
Muß der polnischen Übergriffe sei voll.
Sollte die Absicht, polnische Truppen in West-
Preußen einrücken zu lassen, durchgeführt
werden, so müßte eine blutige Katastrophe
eintreten, hinter der selbst die Schrecken des
Weltkrieges verblassen würden. Nur mit
Mühe könne die bäuerliche Bevölkerung durch
die Rsgierungsorgane zurückgehalten werden,
?ur Selbsthilfe zu greifen. Die Thorncr
Arbeiterschaft denke nicht daran, sich durch
Pulnische Machtansprüche aus ihren Arbeits¬
stellen drängen zu lassen, sie werde sie mit
allen Mitteln verteidigen. Als Graf Brock-
dorff-Rantzau aus der Versammlung heraus
kritisiert wurde und Cleinow darauf hinwies,
daß dieser tatkräftig und zäh an den Grund¬
lagen, auf denen die Friedensverhandlungen
eingeleitet worden sind, festgehalten habe,
alo
sich brausende Zustimmung. Es herrschte
Einigkeit darüber, daß die Negierung nur
solche Friedensunterhändler bezeichnen dürfe,
die tatsächlich auf dem Boden der Wilson-
schen Leitsätze stehen, in deren Geist ein¬
gedrungen sind und die moralischen und
geistigen Fähigkeiten und Kräfte besitzen, sie
zu verteidigen. In diesem Sinne wurde eine
Enischließung an die Negierung und an die
Waffenstillstandsrommission gerichtet, serner
wurde einstimmig der Zusammenschluß aller
Deutschen zur Deutschen Vereinigung nicht
mit der Spitze gegen die Polen, sondern zum
Zwecke des inneren Wiederaufbaues des
deutschen Volkstums, sowie die Einrichtung
deutscher örtlicher Volksräte nach den Vor¬
schlägen Cleinows beschlossen. Die unter
tosenden Beifall gefaßte Entschließung lautet: „Annähernd achttausend deutsche Männer
und Frauen Thorrs aller Parteien haben
mit Befremden von dem Verlaufe der Ver¬
handlungen in Posen Kenntnis genommen
und daraus ersehen, daß Wilsons Noten, die
doch die Grundlage unserer ganzen Friedens¬
politik bilden, bei gewissen Unterhändlern in
Vergessenheit geraten sind. Wir fordern von
der Negierung, daß sie nur solche Personen
mit der verantwortungsvollen Arbeit am
Frieden betraue, die befähigt sind, die Ab¬
weichung von Wilsons Grundsätzen bei Polen
und Franzosen zu verhindern. Wir werden
mit Gut und Blut hinter der Regierung
stehen, die treu an Wilsons Grundsätzen fest¬
hält, und damit das Deutschtum der Ostmark
am kräftigsten verteidigen. Für Katastrophen,
die jede Abkehr von Wilsons Grundsätzen
nach sich ziehen muß, lehnen wir die Ver¬
antwortung ab." Als wichtigsten Erfolg der großen Volks¬
versammlung in Thorn vom 20. März können
wir mitteilen, daß sich im Landkreise Thorn
etwa fünfzehn Arbeitsausschüsse zur Gründung
Deutscher Vollsräte gebildet haben. Außer¬
dem hat die Arbeiterschaft von Podgorz die
Gründung eines Deutschen Volksrates in die
Hand genommen.
s im Sinne der Wilsonnvte arbeite, erhob
Ein für alle Teilnehmer der machtvollen
Danziger Kundgebung vom 23, März außer¬
ordentlich belustigender Bericht in der Dan-
ziger „Gazeta Gdaiifw" vom SS, März
verdient es um deswillen, was er widerwillig
oder unbewußt zugibt, als Dokument einer
breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu
werden:
»Die Beerdigung des deutschen Danzigs
fand am Sonntag bei sehr zahlreicher Teil¬
nahme der rechtgläubigen Deutschen statt.
Aus dem Heumarkt hatten sich ein Paar
tausend! aller derjenigen versammelt, die
„kerndeutsch" sind. Es wurde gleichzeitig
eine ganze Reihe von Reden gehalten. Der
ungemeine Frost hatte die Nasen rot gefärbt,
und der unerträgliche Wind war so ungeneigt
zu diesem Begräbnis aller deutschen Hoff¬
nungen auf Danzig, daß er blies, als wäre
er dazu angestellt, und deshalb könnte man
schon auf zwanzig Schritte nichts mehr von
dem hören, was jeder einzelne Redner von
der Zugehörigkeit zu Deutschland sprach.
Jeder konnte nur erraten, daß Danzig eine
urdeutsche Stadt ist und in Ewigkeit bleibt.
Ameni ES war auch kein außerordentliches
Interesse vorhanden.
Nach der wahrhaft amerikanischen Reklame
der letzten Tage, die hier in Danzig von
deutscher Seite veranstaltet wurde, kannte
man glauben, daß der arme Heumarkt von
der deutschen Demonstration zerspringen
würde, weil er nicht alle Deutschen fassen
wird. Indessen sammelten sich auf dem
Heumarkt von den 200 000 Deutschen, die
hier in Danzig nach der deutschen Statistik
sein müssen, nur ein paar tausend. Darunter
befanden sich auch noch sehr viele neugierige
Polen, auch Amerikaner und Franzosen von den
hier weilenden Kommissionen. Das meiste
Interesse zeigten die Amerikaner; sie kauften
Broschüren und nahmen die deutschen Auf¬
rufe entgegen, die bei dieser Gelegenheit
trotz des großen Papiermangels verkauft und
reichlich verteilt wurden.
Die Stimmung war traurig, geradezu
bedrückt, und wa?> am wichtigsten ist: >d!«
Teilnehmer an dem Protest schienen meistens
auf dein Markt zu stehen wie Leute, die
dazu gezwungen worden sind, denen es schon
ganz gleich ist, ob eS so oder anders werden
wird. Es war nicht zu ersehen, daß >nefer
unbedingte Protest ihre Ansicht sei. Es liotze«
sich auch Stimmen hören: „Hauptfachs, d.es
Wir was zu fressen bekommenI" — als die
Rede von neuern weiteren „Durchhalten" war.
Dieses Durchholten hat das Boll schon fatt.
Denn es hat genug Beweise, wie. oft und
lange, nämlich während aller Kriegsjahre, es
betrogen wurde.
Übrigens: Wenn nicht die Sozialiste«
wären, die ihre Leute amtlich aufgefordert
hatten, wären sehr wenige dagewesen; denn
die Sozialisten fanden sich massenweise, wie
auf Kommando, ein.
Schade, daß ihre Politik mit einemmale
so schwarz-weiß-rot geworden istl Ohne sie
hätten sich alle alldeutschen Kropftauben aus¬
drücklich überzeugt, wie wenig sie in Danzig
bedeuten.
Aber auch in den Sozialisten scheint dies«
Patriotische Stimmung nicht tief zu sitzen.
Denn ein deutscher Patriot kroch auf das
Denkmal des Kaisers Wilhelm und wollte
ihm das Haupt bekränzen. Er hatte aber
seine Kräfte nur nach seiner Absicht gemessen:
denn er konnte nicht hinaufklettern und hing
deshalb den Kranz dem Denkmalsroß des
Kaisers an die Füße. Als man zuletzt an¬
fing, das Lied „Deutschland, Deutschland
über alles" zu singen, da klang das Lied
etwas elendiglich trotz des Orchesters, das
vorbereitet war, ime zum Zeichen, daß
Deutschland schon nicht mehr über alles ist,
denn nach den Prophetischen Worten der
„Rotte" von Maria Konopnicka ist der Nitter-
kopf von den hochmütigen Höhen in Staub und'
Asche herabgestürzt.
Augenzeugen versichern uns, daß nur
Kinder und alte Weiber sangen, und jener
Sozialist hat es sich so überlegt, daß er auf
da» Denkmal kroch und den Kranz dem
Pferd von den Faßer herunternahm.
Diejenigen Deutschen, die es für passender
hielten, während der Feier in den Restaurants
zu sitze», sagten: „Das ist ja alles umsonst!
Heute Protestiert man, morgen landen die
polnischen Truppen und übermorgen haben
wir in aller Ruhe den von den polnischen
Truppen über Danzig verhängten Belage¬
rungszustand," Diese Deutschen haben sicht¬
lich die richtige Erkenntnis und sind deshalb
>er Wahrheit am nächsten/'
^ Der liberale „Manchester Gunrdiim"
schreibt: Die Erfahrung zeigt, das; ungerechte
Aebietsregelungen letzten Endes demjenigen,
i»on dem sie ausgehen, weder Schutz noch
Nutzen bringen. Die deutsche Republik der
Zukunft wird, wenn sie gerecht und mit
Müßigung behandelt wird, noch ein friedliches
»ut, deisöhnendes Mitglied der europäischen
Staatenfamilis werden. Wir sollen el uns
doppelt und dreifach überlogen, ob wir eine
solche Entwicklung unmöglich machen sollten.
Die englische Arbeiterwochenschrift „The
Herald" vom 29. März schreibt: Danzig
bleibt noch immer der Schlüssel zur Lage.
Wenn Danzig den Polen gegeben wird, wird
Deutschland den Frieden nicht unterzeichnen,
und es wird in Mitteleuropa auf unbestimmte
Zeit ein chaotischer Zustand herrschen. Die
Reaktionäre und Imperialisten in ganz Europa
wogen noch so sehr über die bolschewistische
Gefahr klagen, die Rettung Ungarns von der
Schreckensherrschaft, die Befreiung der Zivili¬
sation predigen, und einen großen Ver-
wchtnngsfeldzug gegen das Sowjet-System
fordern, der Zehnerrat möge „Schritte tun",
Pläne entwerfen und sich über Maßregeln
einigen, schließlich werden doch die Arbeiter
entscheiden müssen. Werden sie zugeben, daß
ste noch einmal unter die Waffen gerufen
werden? Werden sie sich d am hergeben, sich
Zu Tausenden umbringen zu lassen, damit
Danzig. eine polnische Stadt und eine Basis
der Alliierten gegen die Bolschewismen wird?
Oder werden sie sich ein für alle Mal für
die Selbstbestimmung, gegen Annexion und
Plünderung und für den Frieden in Europa
erklären? An anderer Stelle schreibt das
Blatt: Bei den Alliierten dämmert jetzt end¬
lich die Erkenntnis auf, daß sie bei dem
Wiederaufbau Europas die Hilfe Deutsch¬
lands nötig haben.
Der Pariser Korrespondent des „Herald'"
berichtet, er sei in der Lage mitzuteilen, das;
Llohd George weder für die Lostrennung
von fast zwei Millionen Deutschen von ihrem
Baterlande ist, um den Polen einen Korridor
zur See zu »erschaffen, noch für die Annexion
des Saarbeckens. Lloyd George, schreibt der
Korrespondent, sei sich völlig bewußt, daß dus
Saarbecken mehr deutsch ist, als Gro߬
britannien britisch, und daß die Auslieferung
an die Franzosen den vollständigen Verzicht
auf die ausgesprochenen Ideale der Alliierten
bedeuten würde.
Die französische Presse vom 31. März
bringt den Text des Notenwechsels wegen
Danzig und stellt mit Sorge fest, daß
Deutschlands Trotz wiederum die Stellung
von Sieger und Besiegten verschoben habe.
Das deutsche Angebot, Stettin, Königsberg
oder Memel als Landungsplatz für die Pol¬
nischen Truppen anzunehmen, sei so geschickt,
daß man die Angelegenheit nicht auf die
Spitze treiben könne. Je länger der Friede
hinausgeschoben werde, desto weniger werde
Deutschland zur Nachgiebigkeit bereit sein.
Die Pariser Ausgabe der stets sehr gut
über amerikanische Ansfnssnng unterrichteten
„Chiknstocr Tribune" vom 30. März teilt
mit, daß Wilson die Berechtigung des deut¬
schen Standpunktes in der Danziger Frage
voll anerkenne. Die Truppen werden daher
in anderen Häfen landen. 30 Schiffe von
je etwa 6^ 00 Tonnen und weniger als
18 Fuß Tiefgang werden bereits zusammen¬
gestellt, da die tieferen Fahrtrinnen in Stettin
und Königsberg noch mincnverseucht siud und
daher mir flache Seiteukanäle benutzt werden
können.
Entrechtung deutscher Beamten in Posen.
Auf Anordnung des Kommissariats des
Obersten polnischen Volksrats gibt der Ober-
postdirektor in Posen bekannt, daß diejenigen
Beamten und Unterbeamten, welche im
Grenzschutz Dienst getan haben, unter keiner
Bedingung wieder eingestellt werden, und
daß deren Angehörigen sämtliche Unter¬
stützungen entzogen werden. Das gleiche gilt
für dienigen Beamten, deren Söhne das
21. Lebensjahr noch nicht überschritten und
ebenfalls im Grenzschutz Dienst getan oder
noch Dienst tun.
Den Polen fehlt es an Lehrkräften. Der
oberste Polnische Volksrat hat sich gezwungen
gesehen, seinen Erlaß über Absetzung aller
deutschen Oberlehrer und Studienassessoren
aufzuheben. Der Grund ist auf die Erkenntnis
zurückzuführen, daß es den Polen nach dem
1. April derart an Lehrkräften fehlen würde,
daß der Schulbetrieb vollständig eingestellt
werden müßte.
Polnische Amtssprache. Auf Anordnung
des Kreis- und Stadtkommandanten zuHohen-
salza ist in der Stadt und Kreis Hohensalza
die Amtssprache polnisch. Sie kann deshalb
bei sämtlichen Behörden schriftlich wie münd¬
lich angewendet werden. Beamte, die sich
dieser Verfügung widersetzen, werden mit
Verweisung aus dem Amte bzw. mit Geld¬
strafe bis 600 Mark oder mit einer und der
anderen Strafe bestraft.
Stadtverordnctenwnhlen in Posen. Bei
den Stadtverordnetenwahlen in Posen er¬
hielten die Deutschen 23 780 Stimmen, die
Nationaljuden 1692, die Polen os 694, die
Sozialdemokraten 2650, ein Wilder 557.
Die Deutschen erhielten also 28 Prozent, die
Nationaljuden 2 Prozent, zusammen also
30 Prozent. An Mandaten erhalten durch
diese Wahlen die Polen 41, die Deutschen 17,
die Sozialdemokraten 1, d'le Juden 1. Unter
den in Polen herrschenden politischen Zwangs¬
zuständen muß dieses Ergebnis für die Deut¬
schen als recht günstig angesehen werden, da
zweifellos viele von ihnen aus begreiflichen
Gründen nicht zur Wahl gegangen sind bzw.
nicht zur Wahl gehen konnten.
Feldmarschall von Hindenburg gab einmal vor Jahren einem jungen Offizier,
der sich bei ihm als dem Kommandierenden bis 4. Armeekorps zu melden hatte,
folgendes mit auf den Lebensweg: „Schenken Sie Beachtung jedem, der es im
Leven zu etwas gebracht hat. Möge Ihnen auch mancher Zug im Charakterbilds
eines solchen Mannes unsympathisch erscheinen. Sie müssen sich dessen bewußt
bleiben, daß nur gewisse starke Eigenschaften ihn emporgeoracht haben können."
Sollte dieser Gedanke nicht heule eine ganz besonders gründliche Beachtung
verdienen? Heute, wo alles um uns geborsten erscheint? Sehen wir nicht aller¬
orten auf der politischen Arena Männer mit uns fremden und vielfach unsym¬
pathischen Zügen an den höchsten Stellen, die menschlichem Streben erreichbar
sind? Sind diese Männer alle wirklich nur vom revolutionären Zufall empor¬
gehoben? Dazu verdammt, durch ebensolchen Zufall beseitigt zu werden?
Wenn wir ehrlich sind, so müssen wir uns eingestehen, daß die meisten von
denen, die heute am Reichssteuer stehen, langsam in mühevoller, harter und selbst¬
loser Arbeit den, steilen Fels zur Macht emporgeklommen sind, und daß sie sich
als uneischrockene Kämpfer erwiesen haben. Hat sie auch die revolutionäre Welle
Zuletzt hochgetragen, so doch nicht als Treibholz, sondern als starke zielbewußte
Schwimmer, die ihr Element, die Revolution, zu meistern verstehen.
Wie oft ging der Ruf nach starken Persönlichkeiten ins Land!
Seien wir klug und weisen wir die Starken unseres Volkes nicht zurück,
Lediglich weil ihre Züge verzerrt erscheinen und erst allgemeiner Zusammenbrach
sie uns sichtbar machen konnte! Sie sind im Augenblick die stärksten Schößlinge
unseres Volksbaumes.
Die Lehre Hindenburgs führt uns zum Verstehen und zeigt uns Wege zum
Aufstieg für das ganze Volk. Denn:
„Kraft ist die Parole des Lebens!"
„Nationale Bestrebungen müssen Beachtung finden! Die Völker sollen
fortan, nur mit ihrer eigenen Zustimmung beherrscht und regiert werden. Das
Selbstbestimmungsrecht ist keine Phrase. Alles, was den Frieden berührt, berührt
dle Menschheit, und nichts ist als feststehend anzusehen, was durch militärische
Macht festgesetzt ist, wenn es unrecht festgesetzt war."
Wilson an den Kongreß am 11. Februar 1918.
„Durch das ganze von mir dargelegte Programm läuft ein in die Augen
springender Grundsatz. Es ist der Grundsatz der Gerechtigkeit gegen alle Völker
und Nationalitäten und gegenüber ihrem Recht, unter den gleichen Bedingungen
der Freiheit und Sicherheit miteinander zu leben, seien sie stark oder schwach.
Wenn dieser Grundsatz nicht die Unterlage bildet kann kein Bau des inter>
,
Wilson, am 3. Januar 1918. nationalen Rechtes bestehen."
Den folgenden Ausführungen sind die Ergebnisse der Volkszählung von 1910
zugrunde gelegt. Die preußische Nationalitülenstatistik ist von den Polen vielfach
angefochten worden, zuletzt von I. Frejlich, I^a Ltruetui e nationale nie la poloZiiL,
l»eucliäte! 1918. Die Vorwürfe lassen sich in der Hauptsache in drei Punkte
zusammenfassen. Zunächst sei es nicht berechtigt, die Kaschuben — von den
Masuren sehen wir hier ab — als besonderen Volksstcunm zu zählen. Aber auch
Frejlich kann nicht bestrebten, daß vom philologischen Standpunkte das Kaschubische
allerdings als besonderes Idiom betrachtet werden kann; man ist deshalb auch
berechtigt, es gesondert statistisch zu erfassen. Politisch ist es allerdings schwer,
Polen und Kaschuben voneinander zu scheiden; eine langjährige politische Beein¬
flussung, die Gemeinsamkeit der Konfession (auch die Kaschuben sind römisch¬
katholisch), die polnische Kirchensprache hat die dialektischen Unterschiede überbrückt
und die Kaschuben größtenteils politisch, an die Seite der Polen geführt. Immerhin
ist es wichtig zu betonen, daß lediglich das Kaschubische in den Kreisen Putzig
und Neustadt an die Küste stößt, daß die polnische Sprache aber nirgends die
See erreicht. Dabei sind die Kaschuben das ärmlichste und rückständigste Be-
völkcrungselement in ganz Posen und Westpreußen; und der Umstand, daß dieser
zurückgebliebene Vvlrsstamm bei dem entlegenen Putzig auf 50 Kilometer Länge
ans Meer grenzt, reicht jedenfalls nicht aus, politische Ansprüche auf die im
übrigen rein deutsche Meeresküste zu begründen. Da es aber, wie gesagt, politisch
schwer ist, Polen und Kaschuben zu sondern, sind die Kaschuben im Folgenden
stets ausnahmslos den Polen zugezählt. Damit ist zugleich in einem der wesent¬
lichsten Punkte der zweite Vorwurf beseitigt, der gegen die preußische Nationaliiäten-
statistik erhoben wird: nämlich, daß die Zählung durch politische Einflüsse gefälscht
werde. Frejlich geht so weit, zu behaupten, die Zahlen der preußischen Natio¬
nalitätenstatistik seien „absolut falsch". Den Beweis dafür tritt er aber nicht an;
er würde ihm auch nicht gelingen; im Gegenteil, wir werden sehen, daß alle
Parnllelzahlen die Richtigkeit der deutschen Volkszählung bestätigen. Frejlich
beschränkt sich darauf, zu wiederholen, was schon vor dem Kriege von deutscher
Seite, von Professor L. Bernhard (im Vorwort zu dem Buche: Die Polen in
Oberschlesien, Berlin 1914) ausgesprochen ist, daß politische Einflüsse das Z chlungs-
ergelmis färben können, indem der einzelne Zähler nach seinem subjektiven
Ermessen die Eintragungen aus der Zählkarte zu beeinflussen oder nbuländern
sucht. Nun ist die Zählung aber eine „Selbstzählung" der Bevölkerung, und die
Bevölkerung wird auch nachdrücklich darauf hingewiesen. So heißt es z. B. auf
dem Umschlag deS Zählbriefes, den die HanLhaltungsvorstiinde vor der Zahlung
erhalten: „die Zählpapiere sind möglichst stets vom Haushallsvorstande selbst aus¬
zufüllen." Und der Minister des Innern sagt in der Anweisung für die Behörden:
„Als oberster Grundsatz gilt, die Haushaltsvorstände zu verpflichten, die über die
Personen ihrer Haushaltung verlangten Angaben auf den Zählpapicren tunlichst
selbst zu liefern." Immerhin kommen Fälle, in denen der Zähler auf die Ein¬
tragungen des Haushallsvorstandes unerlaubten Einfluß zu nehmen sucht, zweifellos
vor; und sie kommen dort am leichtesten vor, wo, wie bei Polen und Kaschuben,
die Grenzen außerordentlich flüssig sind und der Einwirkung des Zählers ein
verhältnismäßig großer Spielraum bleibt. Daraus erklärt sich das Schwanken
in den Angaben über die Zcchl der Kaschuben, das Bernhard zum Ausgansspunkt
seiner Kritik nackt. Durch Addition von Polen und Kaschuben wird aber, wie
gesagt, im Folgenden diese Fehlerguelle ausgeschaltet. Im übrigen aber spielt der
Einfluß einzelner Zähler gerade in Posen und Westpreußen eine, nennenswerte
grolle sicher nicht. Dazu ist der Nationalitätenkampf dort viel zu scharf; jeder
weiß genau, auf welche Seite er gehört, und die polnische Agitation, die vor
jeder Volkszählung alle Volksgenossen aufs eindringlichste auffordert, nur polnisch
als Muttersprache anzugeben, rüttelt auch die Säumigen mit Erfolg wach. Das
beweisen — und damit kommen wir zum dritten Hauptvorwurf. der gegen die
Preußische Volkszählung erhoben wird — die niedrigen Zahlen der „Zwei¬
sprachigen" in Posen und auch in Westpreußen. In Posen sind 1910 nur
11796 Zweisprachige oder 0.S6 Prozent gezählt, in Westpreußen 19192 oder
1,13 Prozent. Daß die Zahl der Zweisprachigen in Westpreußen höher ist als
in Posen, erklärt sich ohne weiteres aus der weniger scharfen Zuspitzung der
nationalen Gegensätze; je schärfer die Gegensätze, um so mehr wird jeder zur
klaren Stellungnahme gezwungen; aus demselben Grunde sind die Zahlen der
Zweisprachigen in Oberschlesien und Ostpreußen wiederum erheblich höher als in
Westpreußen. Frejljch nennt die Zahl, die sich im ganzen an Zweisprachigen im preu¬
ßischen Osten ergibt (ca. 140000), eine„philologische und statistische Ungeheuerlichkeit".
Aber er übersieht dabei, daß die Zweisprachigkeit der gemischtsprachigen Gegenden
etwas sehr häufiges ist, daß dort viele Personen von Jugend auf zwei — oder
wie es etwa in Litauen nicht selten vorkommt — auch drei Sprachen gleich gut
beherrschen und einfach nicht imstande sind, eine bestimmte Sprache als Mutter¬
sprache zu bezeichnen. Deshalb haben die Zahlen der Zweisprachigen in Preußen
durchaus nichts Auffälliges, um so weniger, als sie im Einklang mit den tatsäch¬
lichen Verhältnissen dort am höchsten sind, wo, wie in Oberschlesien und Ostpreußen,
die nationalen Gegensätze am schwächsten und die Grenzen zwischen Denlschtrnn
und Polentum oder Masurentum infolgedessen am flüssigsten sind. Wenn Frejlich
schließlich meint, daß auch die Polen den Zweisprachigen zugerechnet seien, die
bei der Zählung angegeben hätten, das Deutsche zu beherrschen, so ist das eine
bewußt falsche Behauptung; denn auch Bernhard stellt ausdrücklich fest, daß die
Zusntzfrage, die 1910 an die polnischen Einsprachigen gerichtet wurde („ob sie der
deutschen Sprache mächtig seien"), mit der Zweisprachigkeit nichts zu tun hat.
Das beweist vor allem der Umstand, daß die Zählung von 1910 für die Zwei¬
sprachigen und für die, welche diese Frage mit „ja" beantwortet haben, ganz
verschiedene Zahlen ergeben hat. Es waren 1910 vorhanden:
' Wollte also die preußische Statistik die Zahl der Zweisprachigen durch jene
Zuscitzfrage erhöhen, so könnte sie für die Zweisprachigen mit gan^ anderen Zahlen
aufwarten!
Wohin sind min die Zweisprachigen zu rechnen? Die Polen wollen sie
^schließlich sich zuzählen. Das geht nicht an; denn einmal sind die Zwei-
lprachigeii nicht ausschließlich polnischer Herkunft; nach den Familiennamen zu
Merken, stammen etwa 70 Prozent der Doppelsprachigen von Polen ab. Dann
wollen diese Zweisprachigen auch nicht als Polen gerechnet sein; denn
wer trotz der lebhaften polnischen Agitation, nur das Polnische als Mattersprache
anzugeben, ausdrücklich polnisch und deutsch als Muttersprache bezeichnet, bekundet
damit, aus welchen Motiven auch immer, daß er sich nicht mehr bloß als Pole,
sondern ebensosehr als Deutscher fühlt. Die Zweisprachigen befinden sich guten
Teils in einem Germanisierungsprozeß: das niedriger stehende Polentum nimmt
mit dem sozialen Aufstieg zum Teil die demsche Kultur an, insbesondere in Ober¬
schlesien geht dieser Prozeß, durch den Nationalitätenkawpf erst wenig gehemmt,
noch in großem Umfange vor sich. Das erklärt wieder, daß dort die Zahl der
Zweisprachigen wesentlich größer ist als in Posen und Westpreuszen. So könnte
man diese Zweisprachigen, die sich vom Polentum losgelöst haben ^und im Begriffe
sind, im Deutschtum aufzugehen, mit vollem Recht den Deutschen zuzählen Nur
um ganz objektiv zu sein und das Bild nicht etwa zugunsten der Deutschen zu
verschieben, ist das im Folgenden nicht gescheh n, sondern die Zweisprachigen sind
je zur Hälfte Deutschen und Polen zugeieilt.
Nun wird von polnischen Statistikern meist auf die preußische „Schul¬
statistik" von 1911 Bezug genommen, um die Unrichtigkeit der Volkszählung von
1910 zu beweisen. Danach seien z, B. in der Provinz Posen 70 Prozent der
Schulkinder polnisch, woraus dann weiter gefolgert wird, daß nicht 61 Prozent
der Bevölkerung, wie die Volkszählung ergeben habe, polnisch sei, sondern
70 Prozent. In zahlreichen Artikeln sind pvlnischerseits diese Zahlen der preußischen
„Schulstatistik" benutzt, um den höheren Anteil des polnischen Elements an der
Bevölkerung nachzuweisen. Aber es ist völlig irreführend, die Zahlen der „Schul¬
statistik" in dieser Weise zu verallgemeinern. Zunächst handelt es sich bei der
fraglichen preußischen Erhebung vom 24. Mai 1911 gar nicht um eine „Schnl-
stalistik", sondern nur um eine Volksschulstatistik. Das ist ein erheblicher Unter¬
schied; denn da die Polen, wie später noch näher gezeigt werden soll, überwiegend
die Unterschicht in den gemischtsprachigen Bezirken bilden ist der Prozentsatz ihrer
Kinder in den Volksschulen allein naturgemäß größer als in allen Schulen
zusammen. Umgekehrt machen die deutschen Kinder 78 Prozent der Schüler und
Schülerinnen der höheren Lehranstalten aus. Es wäre ebenso falsch, diese Zahl
zu verallgemeinern und zu sagen, 78 Prozent der Bevölkerung sind deutsch. Es
kommt aber noch ein Weiteres hinzu. Da die Polen, durchschnittlich mehr Kinder
als die Deutschen haben, find sie in den jüngeren Altersklassen stärker vertreten.
1905 standen im Alter von sechs bis vierzehn Jahren 18,6 Prozent der deutschen
Bevölkerung, dagegen 21.7 Prozent der Polen. Eine Statistik, die nur diese
Altersklasse berücksichtigt, ist abo immer um etwa 3 Prozent günstiger für die
Polen als Zahlen, die die gesamte Bevölkerung umfassen. Das geben auch
polnische Statistiker zu, z. B. Professor v. Römer, der in seinem „Statistischen
Jahrbuch Polens", Krakau 1917, S. 33 auch darauf hinweist, daß der Prozentsatz
der Schulkinder bei den Polen aus dem angeführten Grunde stets um etwa
3 Prozent höher ist. Will man also aus den Zahlen für die Volksschulkinder Schlüsse
auf die Bevökerung im ganzen ziehen, so nutz man zunächst diese 3 Prozent
absetzen. Berücksichtigt man dann weiter, daß es sich bei der Erhebung von 1911,
wie gesagt, nicht um sämtliche Schulen, sondern nur um die Volksschulen gehandelt
hat, so schmilzt die Differenz zwischen der Volkszählung, die in der Provinz Posen
61 Prozent Polen ergab, und der Volksschulstatistik, nach der 70 Prozent polnische
Schulkinder vorhanden waren, sehr zusammen. Die beiden Zählungen führen
vielmehr im wesentlichen zu demselben Ergebnis. Die Volksschulstatistik bestätigt
somit die Nichtigkeit der Volkszählung von 1910. Die folgenden Zahlen tonnen
es deshalb für sich in Anspruch nehmen, daß sie die zahlenmäßige Stärke der
beiden Nationalitäten in Posen und Westpreuszen richtig wiedergeben.
Die Polen begründen ihre Ansprüche auf Litauen und Ostgalizien vor
allem damit, dasz sie im Grundbesitz in jenen Gebieten eine große Überlegenheit
halten; denn der Bevölkerung nach haben sie ja weder in Litauen noch in Ost-
galizien die Majorität. Dem Grundbesitz kommt also in ihren Augen entscheidende
Bedeutung zu. In Posen nun soll nach polnischer Behauptung mindestens die
Hälfte des Grund und Bodens in der Hand der Polen sein „Von dem gesamten
Prmatbesitz", sagt das polnische Sammelwerk „Polen" Seite 522, gehört den
Polen 1284 000 Ira. den Deutschen 917 000 da, den Polen also 58,4 Prozent.
Rechne man zum deutschen Besitzstand noch den Besitz des Staates und der An-
siedlungskommission, zum polnischen Besitzstand hingegen den Besitz der Kirche
hinzu, so erhalten wir 1402 M0 kia deutschen und 1 346 000 kia (49 Prozent)
Polnischen Besitzes. Mit anderen Worten: Trotz der Annrengungen des Staates
baben die Polen die Hälfte des gesamten Bodens im Großherzogtum Posen
behalten." Diese Behauptung trifft nicht zu, im Gegenteil, der deutsche Besitz ist
in Posen und erst recht in Westpreußen erheblich umfangreicher als der polnische.
Das läßt sich sowohl für den Besitz der gesamten deutschen Hand wie für den
deutschen Privatbesitz allein nachweisen.
Gegenüber den falsch ausgemachten Statistiker des Sammelwerks „Posen", das
für Posen ein Übergewicht polnischen Besitzes herausrechnet, sei festgestellt, daß in
der Provinz Posen der gesamte deutsche ländliche Grundbesitz 58,71 Prozent, in
Westpreußen 75,94 Prozent betrügt. Für die vier Regierungsbezirke ergibt sich
folgendes Bild:
Im Weichscltal von Thorn bis Danzig ist in den Landkreisen durchschnittlich
wehr als 75 Prozent deutsch. Einzeln gerechnet haben die Kreise Bromberg und
Hohensalza fast 75 Prozent deutschen Besitz, in den Kreisen Danziger Niederung
und Elbing gibt es überhaupt keinen polnischen Besitz, im Danziger Höhe nur
6-l8 Prozent! Erweist sich also schon nach der Zahl, wie wir neulich sahen, die
polnische Brücke -zum Meer als eine schwache Konstruktion: dem Vesitzverhältnis
"ach, auf Grund dessen die Polen doch in Littauer und Ostgalizien ihr Recht
verlangen, ist sie überhaupt nicht vorhanden.
Der deutsche Privatbesitz, natürlich einschließlich der von der deutschen
Änsiedelungskomnnssion erworbenen Nentengüter, beträgt in Posen 53,7 Prozent.
„Westpreußen 69.6 Prozent des gesamten Pnvatbesitzes. Vom ländlichen Grund-
"nutz überhaupt gehört in Posen deutscher Privathand 47,8 Prozent, den Polen
^.6 Prozent. In Westpreußen aber ist 55 Prozent des ganzen Landes deutscher
und in,r 24 i Prozent polnischer Privaibesitz. Auch in den Kreisen des Netze-
°Mnkles ist vom Privatbesitz reichlich zwei Drittel deutsch. (Wir stützen uns in
A^l Angaben im wesentlichen auf die treffliche Schrift von Dr. Moritz Weiß.
!^le Stellung der Deutschen in Posen und Westpreußen". Verlag von Wilhelm
^reve, Be.lin 1919.)
d,i ^ hierbei auch nur eine Zahl, die den Polen ein Vorrecht gäbe? Die
"mischen Zahlen sind in Posen 10 Prozent, in Westpreützen 26 Prozent höher
iber Privatbesitzanteil. ans Grund dessen der Pole in Ostgalizien und Littauer
uoesherrliche Rechte geltend macht. In den drei littauischen Gouvernements Kowno,
und Wilna rechnet das Sammelwerk „Polen" 42.1 Prozent polnischen
und heraus I Und auch das nur dadurch, daß es nicht nur den littauischen
welßruthenischen Landadel, sondern sogar den Weißruthenischen Bauern, soweit
er römisch-katholisch ist, einfach „polemisiert". In Ostgalizien ist der Pole mit
43,9 Prozent Privatbesitz dem Rutheuen, der 46 Prozent hat, unterlegen, und
trotzdem scheint ihm dort recht, was ihm bei so viel günstigeren Zahlen für den
Deutschen in Posen nicht billig scheint.
Ja, die Sache geht noch weiter! In Ostgalizien hat nämlich der Pole vom
bäuerlichen Kleinbisitz nur 219 Prozent. In der Provinz Posen aber ist der
Kleinbesitz, der doch dem Lande wesentlich stärker den Charakter gibt, als der
Großgrundbesitz, überwiegend in deutscher Hand. 53,8 Prozent sind deutsches,
nur 46,2 Prozent polnisches Bauernland. '
Die Provinzialhauptstadt Posen zählte nach der Volkszählung von 1910
156 691 Einwohner. Davon waren 65 319 deutsch. 89 351 polnisch, 1333 zwei¬
sprachig. 688 fremdsprachig. Verteilt man die zweisprachigen je zur Hälfte auf
die Deutschen und Polen, so waren 65 985 deutsch und 90 018 polnisch, oder
42 1 Prozent deutsch, 57,4 Prozent polnisch. Das Verhältnis der deutschen zur
polnischen Bevölkerung ist wie 3:4. Seiner Einwohnerzahl nach ist also die
Stadt Posen anscheinend polnisch. Der nationale Charakter wird aber nicht allein
dnrch die rohe Kopfzahl der Nationalitäten, sondern in höherem Grade durch die
Kulturverhältnisse, das wirtschaftliche Leben und den Besitzstand bestimmt. Posen
ist aber in seiner Kultur und seinen wirtschaftlichen Verhältnissennach rein deutsch.
Seit Wochen, d. h, nach dem Beginn des polnischen Aufstandes ist die Stadt mit
einem gewissen polnischen Firnis überzogen durch die Entfernung der
deutschen Hoheitszeichen, der preußischen und deutschen Adler und der deutschen
Aufschriften und-ihre Ersetzung durch polnische, Posen ist als deutsche Stadt im
Jahre 1253 von Deutschen aus Guben nach Magdeburgischen Rechte gegründet
worden und hat den Charakter als deutsche Stadt bis zum heutigen Tage bewahrt.
1793 wurde es preußische Stadt und zählte damals 12 599 Einwohner. Handel
und Gewerbe hat stets in deutschen Händen gelegen. Die alteingesessene, boden-
ständige Bürgerschaft ist stets deutsch gewesen und ist es noch heute. Die polnische
Warschauer Zeitung schrieb 1862 aus Posen: „Das polnische Publikum wendet
seit länger als einem Jahrzehnt seine ganze Kundschaft nach Möglichkeit nur den
Kaufleuten. Gewerbsmeistern und Handwerkern seiner eigenen Nationalität zu,
um das fremde Element nicht zu bereichern. Unglücklicherweise ist jene Möglich¬
keit noch sehr unvollständig und beschränkt, weil es viele der alltäglichsten, nn-
umgänglichsten Lebensbedürfnisse gibt, für deren Befriedigung keine polnischen
Handwerker und Gewerksleute vorhanden sind. Man findet in der Stadt Posen
auch keinen einzigen polnischen Namen, keinen einzigen Polen unter den Gerbern,
Schleifern, Kammachern, Kürschnern, Mechanikern, Möbelhändlern, Mützenmachern,
Nattern, Posamentierern, Seilern. Tuchmachern und Uhrmachern; nnr 1 Seifen¬
sieder, 1 Handschuhmacher, 1 Glaser. 1 Färber und 1 Gelbgießer polnischer Na¬
tionalität ist zu finden, von solchen Gewerbsanstalten, welche für die Befriedigung
des Bedarfs und Geschmacks des reicheren und anspruchsvolleren Publikums
arbeiten, wie z. B. von photographischen Anstalten, Spiegel- und Pianoforto-
fabriken und -Niederlagen und Galantcriewarenhgndlungen zu geschweige!!-
Die Vermögensverhältnisse waren damals so ungleich, daß Einkommensteuer
nur 89 Polen, dagegen 537 Deutsche zahlten. Posen hatte im Jahre 1861
51253 Einwohner. Nach der amtlichen Bevölkerungsaufnahuie waren 34 580
Deutsche und 16 673 Polen; beider Landessprachen waren 22 390. bloß des
Deutschen 21 108, bloß des Polnischen 7755 mächtig. 1390 waren 49 Prozent
deutsch und 50 Prozent polnisch, der Nest andere. 1900 waren 44 Prozent deutsch
und 55.8 Prozent polnisch.
So ist Posen seiner Entstehung und Geschichte nach eine deutsche Stadt.
In der Geschichte und der Nationalität der Einwohnerzahl wurzelt auch die Kultur-
Das alte deutsche Posen umfaßte die Gegend von der Wilhelmstraße bis zur
Warthe mit dem alten Markt, als Mittelpunkt die Altstadt. Das Posen der
preußischen Zeit bis 1871 hat den Wilhelmsplatz zum Zentrum und reichte bis
?u dem ehemaligen Feftungsgelände. Das moderne Posen seit Gründung des
Deutschen Reiches sind seine ehemaligen Vorstädte Jersttz und ist. Lcizarus und
das Entfestigungsgelände mit dem Kaiserschloß. Je jünger die Staditeile, desto
deutscher sind sie. Das Polentum ist von den allen polnischen Vorstädten Dom¬
insel und Schrodke langsam in die Altstadt eingedrungen und bildet heute dort
den größeren Teil der Bevölkerung. Das Anwachsen zu einer Stadt von über
100000 Einwohnern verdankt Posen erst den Eingemeindungen und der Deutsch¬
tumspolitik der Staatsregierung. Damit setzte die großartige Epoche der Ent¬
wickelung der Stadt ein. Die zielbewußte Pflege der geistigen und kulturellen
Interessen der Einwohnerschaft lag schon seit IM in den Händen der zahl¬
reichen deutschen wissenschaftlichen und künstlerischen Vereine, während auf
polnischer Seite die Gründung des polnischen Museums und des „Vereins der
Freunde der Wissenschaften", der einzwen wissenschaftlichen polnischen Institute,
erst viele Jahrzehnte später erfolgte/ 1896 nahm die Provinzialverwaltung und
die Staatsregierung die Leitung dieser wissenschaftlichen und künstlerischen Be¬
wegungen in die Hand. Das führte 1899 zur Gründung des Hygienischen
Institutes-, es folgte 1902 die Kaiser Wilhelm-Bibliothek, 1904 das Kaiser
Friedrich-Provinzialmuseum, das ebenfalls dem Zusammenwirken von Staat,
Provinz und Stadt seine Entstehung verdankt. Die interessanteste der neuen
Einrichtungen, die Akademie, die als eine Hochschule der ganzen gebildeten Be¬
völkerung eine Art Volkshochschule der Stadt, ja der Provinz gedacht war, trat
bereits November 1903 ins Leben, nachdem die zahlreichen wissenschaftlichen und
künstlerischen Vereine zur „Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft" zu¬
sammengeschlossen worden waren. Auch das neue Stadttheater auf dem Ent¬
festigungsgelände verdankt seine Gründung dem Zusammenwirken von Staat und
Stadt- Nach der Niederlegung der alten Festungswälle, die 1902 begann, wurde
durch die Erschließung des Festungsgeländes neues Bauland geschaffen, auf dem heute
Posens schönster und rein deutscher Stadtteil steht. Gleichzeitig erfolgte durch den
Staat die Trockenlegung und Erschließung der Gemarkung Solalsch, auf der in wenigen
Jahren ein neuer rein deutscher Stadtteil entstanden ist. Das prächtige Kaiser¬
schloß auf dem Entfestigungsgebiet wurde ebenfalls vom preußischen Staate geschaffen.
Auch die Schulen, Gymnasien und die vier Lyceen und Oberlycecn, welch
letztere Schöpfungen privater Initiative sind, und andere Bildungsanstalten, wie
die Maschinenbauschule und Baugewerkschule sind deutsche Gründungen. Besteht
doch nur eine einzige polnische höhere Töchterschule. Es ist bezeichnend, daß die
Schüler aller höheren Lehranstalten Posens schätzungsweise zum mindestens
75 Prozent deutsch sind, während die Schüler der Volksschulen bereits 1878 zu
63 Prozent polnisch waren.
Ader nicht bloß seiner alten Kultur nach ist Posen eine deutsche Stadt,
sondern auch much den wirischafilichen Leistungen seiner Einwohnerschaft. Von
2693 Wohnhäusern gehören 16l9 den Deutschen (54,6 Prozent) und die Gcbäude-
steuer beweist, daß die wertvolleren Grundstücke deutscher Besitz sind; von den
Gebäudesteuererträgnissen vor dem Kriege brachten die Deutschen 460126 Mark
(M Prozent), die Polen nur 309 903 Mark (40 Prozent) auf. Noch deutlicher
U'ne die wirtschaftliche Überlegenheit der Deutschen in den Gewerbesteuerleistungen
M Tage. Es zahlten
Der deutsche Gewerbestand überwiegt also den polnischen nicht blosz der
Kopfzahl nach, er übertrifft ihn in seinen Leistungen um mehr als das Vierfache.
1885/86 war der Anteil am Gewerbesteueraufkommen bei den Deutschen
86,3 Prozent, bei den Polen 13,6 Prozent; 1896/97 war der deutsche Anteil
86 8 Prozent, der polnische 13,1 Prozent. Von eingetragenen Firmen waren
bereits 1894 760 deutsch und nur 115 polnisch. Ähnlich liegen und lagen die
Verhältnisse bet den Einkommen- und den übrigen Steuern. Schon 1880 brachten
die Deutschen an Gemeindesteuern 376 394 Mark, die Polen nur 96 775 Mark
auf. (Vgl. Jaffe. Die Stadt Posen unter preußischer Herrschaft, S. 310). Aus
diesen Sieuerverhältnissen ergibt sich ohne weiteres, daß die deutsche Einwohner¬
schaft die Oberschicht und den größeren Teil der Mittelschicht bildet, während die
polnische Bevölkerung leistungsunfähig ist und in der Hauptsache die Unterschicht
bildet. Daraus ergab sich von selbst, daß die Stadtverordnetenversammlung sich
die längste Zeit aus 48 Deutschen und 12 Polen zusammensetzte. Alle polnischen
Stadtverordneten sind Mandantaren der III. Wahlklasse. Es fehlt in der Siade
Posen vollständig ein polnisches Patriziat. Von den größeren.industriellen Unter¬
nehmungen ist nur eine Maschinenfabrik, eine Zigarettenfabrik und eine Dünge¬
mittelfabrik in polnischer Hand, alle anderen, insbesondere z. B, alle Großmühien
in deutscher Hand. Ebenso ist es im Handel. Alle bedeutenden Geschäfte des
Groß- und Detailhandels sind deutsch.
So liegt auf deutscher Seite das wirtschaftliche und kulturelle Übergewicht.
Berücksichtigt man aber nicht nur die bloße Bevölkerungszahl, sondern auch die
soziale, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Bevölkerung, so ist ohne
weiteres der Schluß berechtigt: Posen ist eine deutsche Stadt.
In der kurzen Zeit der polnischen Besetzung der Provinz versuchten die
Polen wie das Land, so erst recht die Stadt Posen rasch und gewaltsam zu
polonisieren. Sie haben die deutsche Bevölkerung eingeschüchtert, drangsaliert und
boykottiert und so viele deutsche Gewerbetreibende zum Verkauf ihrer Grundstücke
und Geschäfte an Polen gedrängt. So ist das erste Speditionsgeschäft Carl Hartig
mit einem bedeutenden Grundstückskomplex in die Hände einer polnischen Aktien-
Gesellschaft übergegangen. Das erste Konsektionsgeschäft von Petersdorf ist eben¬
falls von einer polnischen Gesellschaft gekauft worden. Der wohlhabende Bäcker
Leute hat Geschäft und Grundstück an Polen verkaufen müssen, ebenso der Gold¬
schmied Nehfeld und viele andere. Wie die eingangs angeführten Bevölkerungs-
ziffern ergaben, hat sich die polnische Bevölkerung der Stadt Posen im Laufe der
Jahre beträchtlich vermehrt. Das ist ein Veweis, daß die Politik der preußischen
Regierung die Entwicklung der polnischen Bevölkerung nicht hintenangehalün hat,
während das Polentum sofort zu Gewaltmaßuahmen greift, so bald es die Macht
in der Hand hat.
Sollte die Stadt Posen mit einem Teile der Provinz an den polnischen
Staat fallen, dann ist der Rückgang der Stadt besiegelt. Das kapitalkräftige und
leistungsfähige Deutschtum wird ihr deu Rücken kehren. Die Grundstücke müssen
im Werte sinken, da die Stadt ihre natürlichen Verkehrsverbindungen verliert.
Sie wird auf die Bedeutung etwa von Kalisch herabsinken, eine polnische Pro-
vinzialstadt werden, die nicht einmal eine direkte Verbindung mit der Hauptstadt
Warschau hat. Die Loslösung der Provinz Posen von Preußen bedeutet so nicht blosz
für diese, sondern erst recht für die Stadt Posen eine wirtschaftliche Katastrophe.
Aus dem Berichte Ottos von Bamberg, des Apostels der Pommern über
eine Reise nach Gnesen — um das Jahr 1100 — erhellt, daß Asch als einzige
Siedelung im Kreise Kolmar bestand. Auch um 1200 ist es trotz der Privilegien,
die Odonicz den Zisterzienser-Klöstern Leubus und Heinrichau für die Kolonisation
des Landes zu beiden Seiten der Netze gab, zu keiner Besudelung gekommen.
Um 1233 erklärte Erzbischof Vizentius von Gnesen, kein Mensch wisse sich zu er¬
innern, daß in dieser Gegend — gemeint ist das Land zu beiden Seiten der
Netze — je ein Bodenbau stattgefunden habe. Erst im Jahre 1288 wurde Jcik-
torowo und Prof-Kowoermühle — beides unweit Samotschin — von Bogi-lauZ
von Asch gegründet und mit Deutschen besiedelt. Alles andere Land des Kreises
bleibt „Maurunga", d. h. Land der ungebrochenen Grasnarbe. Und wenn heute
das Deutschtum südlich der Netze im Umfange des Kreises Kolmar weiter vor¬
greift, als irgend wo anders auf der ganzen Linie, so ist es hauptsächlich dem
Umstände zu verdanken, daß das Land gänzlich unbesied.le war.
1434 wurde Kolmar „zu Magdeburgisch", d. h. deutschem Recht gegründet.
Das Magdeburgische Recht wurde, wie geschichtlich erwiesen, nur istüdten mit
ganz oder doch überwiegend deutscher Bevölkerung gewährt.
Ende des 16. Jahrhunderts setzte eine durchgreifende Besiedelung des Landes
ein; es entstanden die im weiten Halbkreise nach Süden und Westen hin liegen-
den Holländer und Schulzendörfer. 1597 gründeten die ehrbaren Johann Borth
und Martin Schwerte als Holländerdorf Asch-Hauland. Um dieselbe Zeit ent¬
standen auf die Veranlassung des Starosten Stanislaus von Gorka aus Asch die
Schulzendörfer Erpel und Schönfeld, auf Veranlassung seines Nachfolgers
Potulicki Stöwen und Stüsselsdorf. Um das Jahr 1600 wurden ferner die
Schnlzendörfer Kahlstädt, Jänkendorf und Gramsdorf ins Leben gerufen. 1637
grüdeten Daniel und Paul Arndt Podanin, wo drei Jahre später schon eine
evangelische Kirche bestand. In größeren Zwischenräumen entstanden Natlaj (1674),
Hermstal (1730), Knarrhütte (1730). Strelitz (1753), Podstvlitz (1700). Strosewo
(1750) und Braknitz.
Seit 1656 besteht in der Stadt Kolmar eine blühende deutsche Tuchmacher¬
industrie. Im Tuchmacbermnungsbuch von 1665 werden 31 deutsche Namen,
or folgenden Buch 1772 203 deutsche Tuchweber genannt. 1671 findet sich die
erste deutsche Eintragung in das Jnnungsbuch und im folgenden Jahre (1672)
letzt ein starker Zuzug deutscher Tuchweber ein, in corpore vom Grundherrn
herbeigerufen.
Im Jahre 1718 ist ein Deutscher Besitzer der Stadtmühle.
Um 1726 verkehrt der Grundherr Matthias von Grudzinski mit den Bürgern
der Stadt Kolmar in deutscher Sprache und erläßt seine Verfügungen deuisch
(Urkunde von 1726).
1754 Gründung der Schützengilde (Urkunde deutsch).
„ Mau kann wohl mit Recht behaupten, daß Kolmar im Jahre 1772 zu den
^labten mit überwiegend deutscher Bevölkerung gehörte, zum mindesten, daß das
Öffentliche Leben in Stadt und Kreis durch das Deutschtum beherrscht wurde,
^aran hat auch die starke polnische .Kolonisation bis heute nichts ändern können.
Über 80 Prozent der Bevölkerung sind deutsch I
. . Danzig, die „Königin der Weichsel", hat im Laufe seiner bis tief in das
^ächnte Jahrhundert zurückreichenden Geschichte' eine Reihe von Blütezeiten
Rede. Diese Blütezeiten verdankt die Stadt dem Gedeihen seines weitaus
?lchtigsten Erwerbszweiges, des Handels. An der Mündung der großen Wasscr-
d,^^ gelegen, die, aus dem westlichen Galizien kommend, Polen und Westpreußen
j-^abströmt. hat es Jahrhunderte hindurch die Ein- und Ausfuhr eines weiten bis
l nach Nußland und Ungarn reichenden Hinterlandes beherrscht,"
sehr - ^"^^ ^ ^ Bedeutung der^roßen Ströme sür die Verkchrsbeziehungen
mia?'e-" sind," und für Danzig mußte sich dieser Wettbewerb besonders stark geltend
"chen, weil für die Verbesserung des Fahrwassers der Weichsel auf russischerZurückgegangen, seit ihnen die Schienenwege als Wettbewerber an die Seite
Seite so gut wie nichts getan wurde, während die ganz oder wenigstens in ihrem
schiffbaren Mittel- und Unterlaufe deutschen Ströme der Oder, der Elbe, der Weser
und des Rheins sich der eingehenden Fürsorge des Staates erfreuten.
Begünstigt wird der Verkehr Danzigs durch die überaus glückliche Gestaltung
seines Hafens. Die Danziger Bucht liegt unter dem Schutze der Halbinsel Hela
und dadurch ist der Umsegelung eine Sicherheit gewährleistet, wie sie nicht leicht
wieder zu finden ist. Der Hafen ist, weil an einem 27 Kilometer oberhalb Neu-'
fahrwosfer durch Schleusen abgesperrten Mündungsarin der Weichsel gelegen, frei
Von jeder Strömung. Diese ganze 27 Kilometer lange Wasserfläche, die „Tote
Weichsel", mit ihren Abzweigungen bietet ebenso für den Seeschisfsverkehr wie
für den Binnenschiffahrtsverkchr, wie schließlich auch für den Holzverkehr, und
zwar sowohl für die Lagerung wie für die Verladung von Holz, die denkbar
geeignetesten Bedingungen dar.
Von wesentlicher Bedeutung ist ferner die nahe Lage Danzigs zur See.
Man denke an den mehr als 4(> Kilometer langen Weg der Schiffe von Pillau
durch das,Frische Haff nach Königsberg, an die noch größeren Entfernungen
zwischen Swinemünde und Stettin, zwischen Kuxhaven und Hamburg, zwischen
Bremerhaven und Bremen usw. und vergleiche damit die Kürze des Hafcnrcviers
in Danzig. Wie schwierig ist es für Königsberg und Stettin im Winter den
Hafenvcrlchr von Eishivdernissen freizuhalten, während für Danzig ebenso wegen
feines kurzen Reviers die Frage sich so einfach löst, daß praktisch Danzig als
völlig eisfreier Hafen angesehen werden kann.
Von großer Bedeutung ist für den Handelsverkehr Danzigs der Umstand,
daß sich die Stadt eines Freibezirkö erfreut. Hier kann ohne jede zollamtliche
Aufficht der Umschlag von Waren besorgt werden. Die Forderung Polens einen
freien Zugang zum Meere zu erhalten, ist durch das Bestehen dieses Freibezirks
zum größten Teil bereits erfüllt. Denn wie jeder andere Verkehr, so kann sich
in ihm auch der polnische in völlig freier Weise abspielen. In Frage könnte
allerdings kommen, ob der Freibezirk dem nach Friedensschluß zu erwartenden
größeren Verkehr gewachsen ist. Von Nußland wurde seit je eine bewußt verkehrs¬
feindliche Politik betrieben. Von dem Polnischen Staat darf wohl angenommen
werden, daß er mit dieser Politik brechen wird, und dann würde allerdings der
Danziger Freibezirk, über den sich doch ein großer Teil der polnischen, Ein- und
Ausfuhr bewegen wird, nicht genügen. Hier werden sich aber Mittel und Wege
finden, um dem Danziger Freibezirk die erforderliche Liistnngsfähigkeit zu geben.
Schafft man dann noch nach dem Vorbild der Nheinakte eine Weichselakle, die
die freie Schiffahrt ans der Weichsel gewährleistet — tatsächlich hat sie ans deutscher
Seite schon von jeher bestanden — und werden entsprechende Bestimmungen auch
für den Eisenbahnverkehr getroffen, so läßt sich die Wilsonsche Forderung, daß
Polen einen freien und gesicherten Zugang zum Meere erhallen soll, erfüllen, ohne
das ebenfalls von Wilson anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker den
Deutschen in Wesipreußcn gegenüber in gröblichster Weise dadurch zu verletzen,
daß man Westpreußen und insbesondere Danzig zwangsweise und gegen ihren
ausgesprochenen Willen polnisch macht.
Danzigs Ausfuhr bestand — jetzt ruht der Seeverkehr so gilt wie ganz —
vorzugsweise aus den Bodenerzeugnissen seines Hinterlandes und aus Fabrikaten,
die aus den Urprvdukten unmittelbar gewonnen werden. Sie gilt daher nament¬
lich den Artikeln Getreide, Olsaaten. Mehl. Zucker. Melasse und Holz. Ziel der
Ausfuhr waren vorzugsweise die westeuropäischen Häfen, vornehmlich die englischen
und die niederländischen und belgischen.
Die Zahlen des Danziger Ausfuhrhandels haben von je ein starkes Aus
und Ab gezeigt. Es liegt das in der Natur dieses Teiles seines Handels be¬
gründet: er war groß oder klein, je nachdem die Getreide- und Zuckerrüvenernte
in seinem Hinterkante und je nachdem der Holzeinschlag im Winter und die
Waldabfuhr zu den Vcrflößungsstellen groß oder klein waren.
Ganz anders der Einfuhrhandel. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit den
Gütern des täglichen Verbrauchs in Stadt und Hinterland, und die Zunahme
der Bevölkerung, die sich vor dein Kriege in unserm Hinterkante allenthalben
zeigte, drückte sich u. ni. in den stetig steigenden Ziffern unseres Einfuhrhandels aus.
Seinem Umfange nach war der bedeutendste Seeeinfuhrartikel englische Stein¬
kohle. Sie beherrsche früher den Danziger Markt ausschließlich. Dann fing
Oberschlesien an, sich in einem von Jahr zu Jahr wachsenden Maße an der
Kvhlenversorgung Danzigs und unserer Küstengegend zu beteiligen, und bet
Ausbruch des Krieges teilten sich England und Oberschlesien fast zu gleichen Teilen
in unsere Kohlenversorgung. Bedeutend ist die Einfuhr von Heringen. Auch in
diesem Ariitel hat England von jeher den hervorragendsten Platz eingenommen
und ihn unmittelbar bis zum Kriege behauptet. Namentlich das polnische Industrie¬
gebiet bezog englische Heringe in großen Mengen über Danzig. Die Versorgung
unseres Hinterlandes mit Kolonialwaren vollzog sich in der Hauptsache über See
von Hamburg aus. In zweiter Reihe kam Bremen in Betracht, und einen starken
Anteil an der Einfuhr hatten auch London, Kopenhagen und Rotterdam. Wichtig
waren ferner der Eigenhandel Danzigs mit Wein, Petroleum, Salz und Eisen¬
waren. Den größten Raum in der Einfuhr Danzigs nahm aber der Speditions-
Handel ein. Ihm gehörte ein großer Teil der umfangreichen Einfuhr von Drogen,
Gerbstoffen, Chemikalien und künstlichen Düngemitteln und rohen Nindhäuten.
Ein Teil dieser Einfuhr kam unmittelbar von Südamerika, ein anderer als Teil¬
ladung von Hamburg hierher.
Häufig freilich ist schwer festzustellen, was Eigenhandel ist und was Spe¬
ditionshandel. Diese Frage ist aber auch von verhältnismäßig untergeordneter
Bedeutung. Die Hauptsache ist die Gesamtgüterbewegung: wenn viel eingeführt
wird, so entsteht Angebot von Schiffsraum zur Ausfuhr, und ein großer Schiffs¬
verkehr bringt immer die günstigsten Ladungsverhültnisse.
Die obige kurze Übersicht über Danzigs Handel hat gezeigt, daß er sich
seewärts zwar in der Hauptsache mit europäischen Häfen abspielt, daß er aber
auch über transozeanische Beziehungen verfügt und binnenwäris seine Fäden über
sein provinzielles Hinterland hinaus nach Polen und den weiten Gebieten Ru߬
lands, sowie nach Galizien, Ungarn und den Balkanländern spinnt. Der Danziger
Kaufmann selbst aber wurzelt, wie eine am 28. Februar d. I. im altehrwürdigen
Artushof abgehaltene, von der Danziger Kaufmannschaft fast restlos besuchte
Versammlung erklärte, unentreißbar im Boden der deutschen Kultur und weist
daher jeden Gedanken der politischen Abtrennung Danzigs von Deutschland und
des Übertritts zu einer anderen staatlichen Gemeinschaft als unerträglich und von
schwerer Zukunftsgefayren zurück. Danzigs Handel gehört der gewerbsfleißigen
Welt, Danzigs Boden dem deutschen Vaterlande."
Zu der in Ur. 3 der „Mitteilungen"
lvieoergegcbencn Denkschrift von Denis ver¬
öffentlicht die Deutsche All>,. Zeitung Ur. es5
l'an 31. Mürz folgende wertvollen Aus¬
führungen aus der Feder des Brombcrgcr
Oberbüruermcistcrs Dr. Mihlaff, die sich im
besonderen mit den Entstellungen der Ver¬
hältnisse des NetzedistriktS befassen.
Über die Verhältnisse im Osten herrscht
soviel Unklarheit, daß man nicht genug tun
5ann, die tatsächlichen Verhältnisse ins rechte
Licht zu stellen, auch auf die Gefahr hin,
das; man bekannte Sachen nochmals wieder¬
holt. Einen besonderen Anlaß zu einigen
Bemerkungen über den Netzedistrikt, der sich
im wesentlichen mit dem Regierungsbezirk
Bromberg deckt, gibt wieder einmal die in
Ur. 126 dieser Zeitung veröffentlichte Denk¬
schrift des Herrn Denis, Referent für Polen
in der dem französischen Ministerium der
auswärtigen Angelegenheiten zugeteilten
polnischen Kommission. Über Posen, „1815
aus den beiden Bezirken des Großherzogtums
Warschau, Posen und Bromberg gebildet,"
heißt es in der Denkschrift:
„Das Großhorzogtum Posen umfaßt
27 Kreise; von diesen haben 18 polnische
Bevölkerung in Höhe von 75 Prozent,
während in den übrigen 6 Kreisen die polni¬
sche Bevölkerung mehr als 60 Prozent der
Gosamtbevölkerung ausmacht und in den drei
letzten Kreisen weniger als 80 Prozent
beträgt. Das Großherzogtum Posen kann
demnach mit vollem Recht als ein über¬
wiegend polnisches Gebiet angesehen und
in seiner Gesamtheit Großpolen zugeteilt
werden."
Die in dieser Darstellung liegende Irre¬
führung des unbefangenen Lesers übersteigt
denn doch das Erlaubte. Der nicht die
Einzelheiten beherrschende Leser muß natür¬
lich glauben, daß die Anführungen über die
27 Kreise und deren Nationalität die ganze
Provinz Posen umfassen/ und er muß zu der
Ausfassung kommen, daß das über den
nationalen Charakter der Provinz Posen
ausgesprochene Urteil, rein zahlenmäßig be¬
trachtet, eine gewisse Berechtigung habe.
Ju^ Wirklichkeit sind aber nur diejenigen
Kreise, die zum Regierungsbezirk Posen ge¬
hören, berücksichtigt, die den Polen ungünsti¬
gen Nationnlitätsverhältnisse des Bezirks
Bromberg werden einfach verschwiegen, weil
deren Miteinbeziehung den schönen Schluß
„daß das Großherzogtum Posen mit vollem
Recht als überwiegend polnisches Gebiet an¬
gesehen und in seiner Gesamtheit Großpolen
zugeteilt werden müsse," sehr unangenehm
stört.
Der Netzedistrikt war schon während des
Bestehens des polnischen Reiches dank der
ganz besonders intensiven Besiedelung seiner
Städte und Dorffluren durch deutsche Kolo¬
nisten der deutschen Kultur gewonnen. Es
war daher auch innerlich begründet, daß,
als Preußen 1772 bei der ersten Teilung
Polens Westpreußen erwarb, auch der Nstze-
distrikt gleichzeitig mit Westpreußen zu
Preußen kam, während der Posener Bezirk
zu „Südpreußen" erst bei der zweiten Teilung
Polens, 1793, also erst 21 Jahre später, von
Preußen hinzuerworben wurde. Und diesen
deutschen Charakter hat der Netzedistrikt auch
weiter immer behalten. Das deutsche Bürger¬
tum und Bauerntum im Netzedistrikt durfte
sich dabei von den ersten Jahren seiner Zu¬
gehörigkeit zu Preußen an, wo Friedrich der
Große mit der ungeheuren Tatkraft feiner
Staatskunst binnen weniger als 2 Jahren
durch den Bromberger Kanal die Wasser¬
verbindung zwischen Oder und Weichsel schuf,
bis in die Gegenwart hinein der besonderen
Unterstützung des Preußischen Staates er¬
freuen. Der Bromberger Bezirk war und-
blieb so bis in die Gegenwart stets der Hort
des Deutschtums in der Provinz Posen.
Vor allem war die schöne Stadt Bromberg
mit ihren 86 Prozent Deutschen stets ein be¬
sonderes Kleinod des Deutschtums.
Aber auch der ganze übrige Netzedistcikt
ist ganz und gar deutsch geblieben, und zwar
selbst nach den reinen Einwohnerzahlen, in
denen sich natürlich das kulturelle Übergewicht
der deutschen Kultur gegenüber den die
unterste Bevölkerungsschicht bildenden Polen
nicht ausdrückt.
Man muß dabei zur richtigen Beurteilung
zurückgehen auf die alten Grenzen des Netze¬
distrikts, die sich mit dem Regierungsbezirk
Bromberg nicht ganz decken- Die einzelnen
Kreise des Netzedistrikts — die nur mit
einem kleineren Teile ihres Gebietes zum
alten Netzedistrikt gehörenden Kreise sind da¬
bei nicht berücksichtigt — enthielten 1910:
und der Gesamtbezirk 63,4 Proz. Deutsche.
Dadurch, daß aus Gründen der Ver¬
waltung der Regierungsbezirk Bromberg
anders abgegrenzt wurde, indem im Norden
die jetzt westpreußischen Kreise Deutsch-Krone
und Flatow, die fast ganz deutsch sind, ab¬
gezweigt und im Süden eine ganze Reihe
stark polnischer Kreise, vor allem die ganz
überwiegend Polnischen Kreise Wongrowitz,
Gnesen, Witkowo, hinzukamen, ist das Zahlen¬
verhältnis zwischen Deutschen und Polen zu¬
ungunsten der Deutschen verschoben. Aber
auch selbst in der verordnungsmüßigen Ab¬
grenzung hat der Bezirk Bromberg immer
noch über SO Prozent Deutsche.
Mehr noch als die Zahlen wiegen aber
schließlich die Kulturwerte. Wem, der je im
Osten war, sollten jemals Zweifel darüber
gekommen sein, daß der Netzedistrikt und
seine Hauptstadt Bromberg rein deutsche Ge¬
biete sind? Die blühenden Städte, in denen
Gewerbefleitz und reges geistiges Leben mit¬
einander wetteifern und die hinter den
Städten in den anderen Teilen des Reichs
in nichts nachstehen, zeugen von frischer,
vorwärtsstrebender Bürgerkraft, und ebenso
zeugt die blühende Landeskultur von der
zähen Kraft des deutschen Bauern, der in
unablässigem Kampf mit der Natur aus der
wilden Wasserwildnis an Netze und Brahe
weithin fruchtbare Flächen der Kultur ge¬
wonnen hat.
Wenn Herr Denis also berichtete: „daß
das Großherzogtum Posen nach dem von
ihm angeführten Zahlen mit Recht als ein
überwiegend polnisches Gebiet angesehen
werden könne", so schlägt das den Tatsachen
kratz ins Gesicht. Hier ist deutsches Land
und deutsche Kultur, und Deutschland hat
ein Recht, dies Land, das es nicht durch das
Schwert des Eroberers, fondern ausschließlich
durch die überlegene Kraft deutscher Arbeit
sich gewonnen hat, auch in Zukunft sein eigen
zu nennen. Mag Wilson den Polen Polnisches
Land zusprechen, auf der anderen Seite gilt
der Satz: Was deutsch ist, muß unter allen
Umständen deutsch bleiben.
Zur Richtigstellung der Problemlage in
Oberschlesien bringt die D. Allg. Ztg.
Ur. ig? vom 21. März folgendes Ein¬
gesandt:
Der Einsender bezieht sich auf das amt¬
liche Quellenmaterial der Volkszählung von
1910 und stellt die beträchtlichen Abweichungen
zugunsten der polnischen Ansprüche fest.
Danach ergibt sich folgendes:
Der Einsender schreibt dazu:
„Da diese Abweichungen sich fast alle in
einer Richtung bewegen, nämlich zugunsten
der polnischen Ansprüche, so fällt es schwer,
nicht on einen absichtlichen „Irrtum" zu
glauben. Auch darauf möchte ich noch hin¬
weisen, daß von den 1 169 340 Einwohnern
Oberschlesiens, welche 1910 das Polnische als
Muttersprache angaben, 767 000 des
Deutschen mächtig waren." Wir möchten
noch hinzufügen, daß die Angabe der Polni¬
schen Muttersprache in vielen Fällen, wie
hier wiederholt hervorgehoben wurde, durch¬
aus nicht immer mit einem Bekenntnis zum
Polentum identisch ist.
Über die Lage in Westpreußen erhallen
wir folgende Darstellung:
,Jn der Denkschrift, die Ernest Denis, der
Referent für Polen, in der dem Ministerium
des Auswärtigen in Paris zugeteilten Polni¬
schen Kommission verfaßt hat (vgl. Mit¬
teilungen Ur. 3 S. 28 ff.), sind Angaben
über die völkischen Verhältnisse in West-
Preußen enthalten, die infolge ihrer UnVoll¬
ständigkeit irreführend sind. Er spricht von
zwölf Kreisen mit polnischer Mehrheit und
von zehn Kreisen mit deutscher Mehrheit.
Diese letztere Zahl ist falsch. Sieben Kreise,
in denen die Deutschen die Mehrheit haben,
fehlen in der Zusammenstellung. Tatsächlich
haben von den neunundzwanzig Kreisen der
Provinz Westpreußen siebzehn eine deutsche
Mehrheit und nur zwölf eine slavische, d. h.
eine an» Polen und Kaschuben bestehende.
Die Polen machen diesen Unterschied nicht,
obwohl sich die Kaschuben völkisch und sprach¬
lich deutlich von ihnen unterscheiden. Die
Kaschuben stehen den Wenden näher als den
Polen, und das Kaschubische ist eine mit dem
Polnischen zwar vorwandte, aber deutlich
von ihm unterschiedene Sprache.
Da die Denkschrift die polnischen For¬
derungen auf weite Gebieie Westpreußens
mit völkischen Beweisen nicht erhärten kann,
verzichtet der Verfasser darauf, verläßt den
Recht?Standpunkt und erhebt seine Ansprüche
lediglich mit der Gebärde des Eroberers.
Als dürftige Begründung nennt er die
Rücksicht auf die wirtschaftliche Entwicklung
Polens und auf die Einfuhr der französischen
Jndustrieerzeugnisse. Als ob diese Einfuhr
über einen deutschen Hafen nicht ebenso gut
erfolgen kannt Und die wirtschaftliche Stärke
der Polen hat sich in Westpreußen der der
Deutschen stark unterlegen gezeigt, wie die
Zahlen des „Statistischen Jahrbuches Polens"
(Krakau 1917) ergeben.
Während auf 10» Einwohner ne West¬
preußen 36 Slaven entfallen, sind unter
100 Verufttüttgen nur 29,6 Slaven. Die
überwiegende Zahl aller Betriebe ist in
deutschen Händen (82,36 Prozent deutsche,
14,65 Prozent polnische). Auch nach den auf
den .Kopf der Bevölkerung berechneten Beträgen
der Gemeindesteuer stellen die Deutschen in
Westpreußen die den Polen weit überlegenen
wirtschaftlichen Kräfte. In den Landkreisen mit
deutscher Mehrheit ergibt sich ein Durchschnitt
von 14,12 Marr sin den Stadtkreisen ist er
noch erheblich höher), in den Landkreisen mit
polnischer Mehrheit dagegen nur ein Durch¬
schnitt von 9,33 Mark. Besonders zu be¬
achten sind die Ergebnisse der Kreise Pr.
Stargard und Konitz; in ihnen finden wir
folgende Sätze:
Diese zahlenmäßigen Verhältnisse be¬
weisen die wirtschaftliche Überlegenheit der
Deutschen über die Polen. Eine Poloni-
sierung des Landes würde seinen wirtschaft¬
lichen Rückgang unabweisbar zur Folge haben.
Zu den geschichtlichen und kulturellen
Gründen treten die völkischen und Wirtschaft-'
lichen, aus denen Danzig und Westpreußen
deutsch bleiben müssen.
Die politischen Kurse der Deutschen Ber¬
einigung in Bromberg. Im Anfang war
das Wort, das planvolle, lichtschaffende
Wort, das der Tat vorhergeht und ihr
den Weg zeigt. Wir stehen an einem An¬
fang, vor dem Neuaufbau Deutschlands. Es
ist Zeit an die Arbeit zu gehen, deshalb ist
das wegweisende Woct am Platze. Dies
und nichts anderes war die Bedeutung der
Politischen Kurse, die die deutsche Vereinigung
in Vromberg vom 26. bis 29. März abge¬
halten hat. Die Hörer dieser Kurse sind
Männer aller Parteirichtungen gewesen, die
ihre Kraft der Mitarbeit am gemeinsamen
Besten widmen wollen. Männer des Arbeiter¬
standes und des Bürgertums traten als
Redner und Lehrer auf. Gerade aus diesem
Zusammenklang hat sich der größte Gewinn
des weitschnuenden Unternehmens ergeben.
Es ist ein Boden gefunden für die Zu¬
sammenarbeit aller Deutschen. Nicht eine
Klasse oder eine Partei kann uns aus dein
jetzigen Elend herausführen, das ganze Volk
muß zusammenstehen, Mann für Mann. Ju
diesem Gedanken fanden sich die Aurführungen
des Begründers der Kurse, des Geh. Re°
gierungsrnts Cleiuows, des Superintendenten
Brinckmann, des Rektor Hille, des Herrn
Bochen, des Vorsitzenden des Vollzugsaus¬
schusses der Bromberger A,- und S.-Räte,
Stoeßel und vieler anderer,
Herr Cleinow sprach über des Deutschen
Reiches auswärtige Politik, von 1»7l, bis
zum Zusammenbruch 19Is, Er legte dar,
Wienach der Reichsgründung 187t die Reichs¬
leitung es nicht vermochte eine gemeinsame
Parole für das ganze Volk — auch in den
Tagen Msmnrcks nicht — auszugeben, wie
sich vielmehr dessen Bestrebungen und Kräfte
in wirtschaftlichen und politischen Sonder-
bestrebungen zersplittert hätten, so daß bei
Kriegsausbruch das deutsche Voll Wohl ge¬
fühlsmäßig vereint dastand, seine auseinander¬
strebenden Kräfte aber dem furchtbaren Druck
der Feinde nicht auf die Dauer widerstehen
konnte». Nur die Vereinigung aller Volks¬
kräfte kann helfen. Aufbauen müssen wir
dabei auf der Grundlage der Arbeilsgemein-
schast, die sich als die breiteste und trcig-
söhigste bisher erwiesen hat. Es sind dies
die Gewerkschaften, sowohl die freien, wie die
christlichen. , .
HerrStoeßel hob diesen Einigungsgedanken
M seiner Betrachtung „Wohin gehört Polen?"
besonder? für die Ostmark herbor, und gab seiner
Zuversicht mit folgendenWorte» Ausdruck: „Die
großpulnischen, nationalistischen Ziele müssen
dann, wenn wir deutschen Kreise zusammen¬
stehen, einig bleiben und Schulter an Schulter
SU den Waffen greifen, an dem geeinten
Zutschen Geist zerschellenI" Immer wieder
betonte er in seinen Worten, daß wir mit
dem polnischen Volke in Frieden und Freund¬
schaft leben wollen und daß sich unsere Ab¬
wehr nur gegen die Hetzer und Chauvinisten
richtete, die das Volk in den Aufstand hiuein-
gepeitscht hätten. Superintendent Brinck-
manuS Vortrag über das Parteiwesen zeigte
den Weg zu neuem Aufstieg in polnischer
Schulung im Kampf gegen den faulen
Pessimismus und die Wiedererweckung deS
Glaubens an die Kräfte deS deutschen Volks-
tums. Von den Schwächen des immer noch
allzu unpolitischen Deutschen sprach mich
Prorektor Dr. Hille in seinem Vortrag über
Volkstum und Staat, wies aber auf die
Fortschrittlichen Errungenschaften Preußens
im 19. Jahrhundert hin.
Die staatsrechtliche, naturrechtliche, kultu¬
relle und wirtschaftliche Zugehörigkeit Posens
zu Deutschland beleuchtete Professor Aoamek
mit überzeugender Klarheit.
Dr. Mar, Hildebert Bochen entwickelte
das Verhältnis des sozialdemokratischen
Parteilebens zum Gesamtsystem des Sozia-
lismus und des Sozialismus zum liberalen
Individualismus.
So sind diese Kurse eine gute Schmiede
geistiger Waffen und deutscher Willenshärtung
gewesen. Die Männer, die mit dem Rüst¬
zeug dieser Gedanken an die Arbeit in der
Ostmark gehen, sind Pioniere eines neuen
geeinigten Deutschlands. In ihrem Lager
sind Deutschlands Fahnen. Möge die Tat
halten, was das Wort vorheißt.
Deutsche Männer zum polnischen Kriegs-
dienst gezwungen. Es geht ein Sturm dnrch
die Ostmark und fegt allen feige« Kleinmut
s°re, wie in alter Zeit verkünden Flammen¬
stöße durch das ganze Land das Nahen der
Gefahr. So stammen jetzt Stadt um Stadt
die Protestkundgebungen der Posener Deutschen
"uf. Die Augen aufi Posen ist in GefahrI
Wir alle hier sind in Gefahr, polnisch zu
werden. — Und doch gibt es noch Leute, die
gottergeben und gemütlich die Angen zu-
«wehen »ub sich mit ihrer Lieblingslitanei
trösten, „eS wird schon nicht so schlimm
werden". Die unausrottbaren Mieser wollen
nicht uns ihrem Behagen gerissen werden
und beschwichtigen sich mit spärlichem Trost:
„Leben müssen uns die Puter doch schließlich
auch lassen" — leben ja, aber wie! Es
gibt viele, die sich noch gar nicht bis in die
letzten Konsequenzen hinein vorgestellt haben,
waS es heißt, Polen zu werden, Bürger
eines Staates, der Deutschland nicht nur
fremd, sondern schlechthin feindlich ist. Wird
deutsches Lund Polnisch, so ist damit Feind,
schcift gesetzt zwischen beiden Ländern, und
der neue Krieg, in dem Deutschland sich das
Geraubte zurückholen wird, ist unvermeidlich.
Und was wird mit den Posener Deutschen
in einem solchen Kriege geschehen? Schon
jetzt haben die Polen sich nicht gescheut, die
Deutschen im Aufruhrgebiet, die doch deutsche
Staatsbürger sind, als polnische Wehr-
Pflichtige zu erklären. Eure Verordnung des
Obersten polnischen Volksrates aus den ersten
Tagen des Februar stempelt sämtliche wehr¬
fähige Männer, Deutsche wie Polen, zu An¬
gehörigen der polnischen Straz-Ludowci, die
gleichzeitig den Charakter einer Truppe er¬
hielt und dem polnischen Heere eingegliedert
wurde. Von jeder Person wurde außerdem
eine Wehrsteusr in Höhe der Hälfte der
Staatseinkommensteuer erhoben. Es laufen
jetzt aus verschiedenen Kreisen des Aufstands¬
gebietes Meldungen ein, dasz tatsächlich die
wehrfähigen Deutschen die Gestellungsbefehle
erhalten. Vielleicht will man sie an der
windigen Lemberger oder Bolschewistenfront
verwenden. Wer ist aber noch so harmlos,
anzunehmen, das; - die Polen, wenn sie erst
ihre Herrschaft jahrelang befestigt haben
sollten, sich die Deutschen, zu Soldaten ge¬
borenen jungen Männern, für ihr Heer ent¬
gehen lassen werden. Ein Heer werden sie
brauchen, und zwar ein starkes Heer, denn
weder Deutschland noch Rußland werden
Verlust größerer Gebiete verschmerzen noch
verzeihen. So würden in einem solchen
Kriege die Posener Deutschen gegen ihr
Mutterland stehen müssen. Manche, die in
der Lage hierzu sind, werden sich vielleicht
durch erdrückende Wehrsteuern davon frei¬
laufen können. Sie würden aber beargwohnt,
drangsaliert und interniert werden. Es sind
dies keine Phantasiebilder, sondern unaus¬
weichliche Wirklichkeit, auf die die Posener
Deutschen zutreiben, wenn sie zu Polen ge¬
schlagen werden sollten.
wir einheitlich Mann für Mann, so retten
wir uns und die heranwachsende Jugend der
Provinz vor dem Schicksal, vielleicht einmal
die Waffen gegen Deutschland in die Hand
gedrückt zu bekommen.
Vor uns liegende untrügliche Beweise,
nämlich die Polnisch-deutschen Aufforderungen
im Original und im besetzten Gebiet er¬
scheinende Polnische Kreisblätter (wie
„Wongrowitzer Kreisblatt" Ur. 23 vom
22. März 1919) bestätigen, daß die Polen
in diesen Tagen alle deutschen Männer des
besetzten Gebietes im Alter von 18—S0
Jahren zum sofortigen Eintritt i'n die pol¬
nische Militärformation „Straz - Ludowa"
gezwungen haben. Wer den Aufforderungen
der Polen nicht sofort nachkommt, wird mit
Geldstrafe bis zu 300 Mark oder bis zu
6 Wochen Gefängnis bestraft. Das bedeutet,
die Polen zwingen deutsche Männer, die
Waffe gegen ihr Baterland zu erhebenI Zur
Bestreitung der Kosten der genannten mili¬
tärischen Formation wird durch eine Ver¬
ordnung von allen Personen ein einmaliger
Beitrag in Höhe der Hülste der jährlichen
Siaatseinkvmmensteuer und der Hälfte der
durch die Staatsbehörde festgesetzten Ge¬
werbesteuer erhoben. Da die Deutschen be¬
kanntlich den Hauptanteil der Steuerleistung
in der Provinz Polen tragen, so sind sie jetzt
dazu verurteilt, den Posen die Kosten ihrer
militärischen Einrichtungen zu decken.
Wir können gegen das infame Vorgehen
der Polen einstweilen nur protestieren. Aber
der Ruf der deutschen Männer im besetzten
Gebiet um Schutz und Hilfe darf nichl un°
gehört Verhalten. Die Regierung muß tun,
was in ihren Kräften steht, um diesem nichts-
würdigen Verfahren der Polen gegenüber
entsprechende Maßnahmen sofort zu treffen
und ungesäumt Vergeltung zu üben.
Noch kann ein großer Teil der Ostmärker
die Waffen für Deutschland erheben. Stehen
Einst klang es durch die deutschen Lande: „Nach Ostland wollen wir reiten" —
es waren die Jahrhunderte, in denen deutsche Bauern, deutsche Bürger in dichten
Scharen ihre Wohnst litten, die ihnen zu eng geworden waren, verließen und dies¬
seits der Elbe sich eine neue Heimat suchten. Im zwölften Jahrhundert setzte diese
Wanderung ein. Ende des vierzehnten Jahrhunderts war das Land bis zur Oder
u» wesentlichen besetzt und in den wehrhaften Weichselstädten eine Vorpostenlinie
deutscher Wesensart bis in die Weichselgegend vorgeschoben. Zu jener Zeit ent¬
standen im Lande Posen die meisten der jetzt noch vorhandenen Städte, voran
Gnesen (vor 1243), Pvwidz, Meseritz, Kostschin. Hohensalza, die deutsche Stadt
Posen l12K3), Fraustadt, Sabrina, Rogcisen, Sander, Gostyn usw., später Brom¬
berg (1348) u. a, denen polnische Herrscher deutsches (Magdeburger) Stadtrecht
verliehen. Diese vielleicht großartigste Kolonisation aller Zeiten war eine vom
einheitlichen Willen und Gefühl des ganzen deutschen Volkes getragene Bewegung.
Gitter und Mönch, Bauer und Städter gleichmäßig umfassend, steckte sie sich
sowohl ideale wie wirtschaftliche Ziele und fand in beiden ihre Rechnung.
Nicht nur gewann damals das deutsche Volk den Raum in Mitteleuropa, dessen
es bedürfte, um zu seiner jetzigen Größe und Geltung zu gelangen. Es zog auch
retche Vorteile aus den kolonisierten Gebieten, deren Erträgnisse es verdoppelte
und im Austausch mit den eigenen Erzeugnissen und denen der übrigen Welt sich
nutzbar machte.
Die Verschiebung der weltwirtschaftlichen Verhältnisse durch die Entdeckung
des Seeweges nach Indien und von Amerika änderte die Stellung der deutschen
-^Mschaft zum Osten. Handel und Gewerbe verfielen und damit lockerten sich
Ani) die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der deutschen Städte in
^pfer zum deutschen Kernlande. Die Bauern, ihres Rückhalts an den Städten
geraubt, gerieten unter die Hörigkeit des polnischen Adels. Der Friede von
^horn (14M) war der äußere Ausdruck des deutschen Niedergangs. Süd dieser
hört der Nordosten auf, eine Rolle im Gesamtleben deS deutschen Volkes zu
lplelen. Zwar erlebte die Provinz Posen nach denk Dreißigjährigen Kriege eine
nweue deutsche Einwanderung in die allmählicher Polonisierung anheimfallenden
Städte und in ihrem Gefolge auch den Zuzug zahlreicher bäuerlicher Ansiedler,
zumal in das Netzetal und in die Kreise Bromberg und Hohensalza. Nawitsch,
Schwersenz, Grätz, Schlichtingsheim, Unruhstadt und andere Städte, an vier¬
hundert Dörfer wurden gegründet. Aber diese neue Welle deutscher Einwanderung
war keine Lebensäußerung der Gesamtnation. Sie kam aus den angrenzenden
Provinzen Schlesien und Brandenburg und aus Holland. Sie wurde in das
Land getragen, fast ohne daß die deutsche Nation in ihrer Gesamtheit davon Notiz
nahm. So ist es im großen und ganzen bis heute geblieben. Wohl zog die
Netzckolonisierung des großen Königs in ihrer Genialität die Aufmerksamkeit des
zeugenöisischen Europas ans sich, aber das innere Verhältnis Deutschlands zu
seinem Osten wurde dadurch nicht geändert, auch nicht durch das Werk der An¬
siedelungskommission, die bis zum Jahre 1909 zehntausend neue Bauernstelleu
schuf, dazu aber nur ein starkes Drittel aus dem Westen des Reiches herbei¬
zuziehen vermochte.
Erst der Weltkrieg mit seinen wirtschaftlichen Erfahrungen hat hier Wandel
geschaffen. Er, hat gezeigt, welch wichtige Rolle der Osten im Haushalt der
Nation spielt. Posen ist mit den übrigen östlichen Provinzen vorwiegend ein
Agrarland. 54,1 Prozent seiner Bevölkerung nähren sich von der Landwirtschaft
und den ihr verwandten Berufen. Während aber von der Bevölkerung Deutsch¬
lands in Posen nur 3.23 Prozent auf 5,36 Prozent der Flüche des Deutschen
Reiches leben, erzeugt die Provinz von der Gesamtproduktion des Reiches an
Weizen 4 Prozent, an Roggen 11,3 Prozent, an Gerste 8,4 Prozent, an Hafer
3,8 Prozent, an Kartoffeln 10,4 Prozent, an Zucker 13.6 Prozent. Aus dem
Vergleich dieser Ziffern ergibt sich die große Bedeutung Posens als Überschußgebiet
für das Deutsche Reich. Dieser Überschuß steigert sich in einzelnen Kreisen bis
zu zwei Dritteln ihrer gesamten Vrotkornernte. Bei den Kartoffeln und Zucker¬
rüben ist er noch größer. Dieser ganze Überschuß kommt bisher ausschließlich
dem industriellen und stark bevölkerten Mittel-und Westdeutschland zugute, dessen
agrarische Ergänzung die wie eine Spitze sich an ihr Gebiet heranschiebende und
durch westwärts laufende Wasserwege mit der, Oder in Verbindung stehende
Provinz Posen bildet. 1913 gingen aus der Provinz Posen auf der Eisenbahn
etwa 870000 Tonnen, daneben bereits 1908 auf den Binnenwasserstraßen
150000 Tonnen Agrarprodukte nach den übrigen Teilen Deutschlands. Auch nach
den westpreußischen Häfen werden viele tausend Tonnen Posenscher Agrarprodukte
jährlich zur Verschiffung nach Deutschland gebracht. Von der Ernte 1917 wurden
nicht weniger als 331521 Tonnen Brodgetreide, 45719 Tonnen Gerste und Hafer
und 18l41528 Zentner Kartoffeln 15 Prozent der Gesamtlieferung an das
Deutsche Reich abgegeben. Ebenso bedeutend ist die Ausfuhr von Saatgut. Allein
an Saatkartoffeln sind von der Ernte 1918 bisher 3,3—3,4 Millionen Zentner
nach West- und Süddeutschland befördert worden. Auch an Schlachtvieh hat die
Provinz in der Zeit vom 1. September 1917 bis 31. August 1918 335340 Stück
7,6 Prozent der gesamten in Preußen abgelieferten Menge aufgebracht. Diese
Zahlen sprechen für sich selbst. Sie zeigen aber auch deutlich, welch ungeheure
Wichtigkeit der Provinz Posen beim Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft
zukommt. Um seine Hauptindustrie wieder in Gang und auf die Höhe zu
bringen, bedarf Deutschland Baumwolle, Erze, Fette und andere Rohmaterialien
in ungeheurer Menge, die es in der Hauptsache nur von Übersee beziehen kann.
Je weniger es auf die Einfuhr von Brodgetreide und Futtermitteln angewiesen
ist, desto mehr Schiffsraum wird ihm zur Verfügung stehen. Daß es die erforder¬
lichen Rohmaterialien gleich im Beginn des Wiederaufbaues in ausreichender
Menge erhält, ist entscheidend dafür, ob Deutschland jemals wieder seine alte
Selbständigkeit im Wirtschaftsverkehr der Völker erringen wird. Es muß schon
um seiner Zukunft willen darauf bedacht sein, seinen Bedarf an Nahrungsmitteln,
soweit als irgend angängig, aus dem eigenen Lande zu befriedigen. Posen ist
die Provinz, die vor allem diese Aufgabe im Reich zu erfüllen hat. Ihr Verlust
müßte die dauernde Verkümmerung des deutschen Wirtschaftslebens zur Folge haben.
Der Kreis Birnbaum im nordwestlichen Teile der Provinz Posen enthält
die beiden Städte Birnbaum und Zirle, 31 Güter und 59 Landgemeinden. Die
Einwohnerzahl beträgt etwa 21 000—29 000 Seelen.
Der preußischen Verwaltung und dem preußischen Staat verdanken Stadt
und Koels Birnbaum ausschließlich ihre gegenwärtige hohe Kultur und wirt¬
schaftliche Blüte. Beim Übergang an Preußen 1793 befand sich der Kreis in
einem jammervollen Zustande von Unkultur und Mißwirtschaft. Nur die
deutscheu Tuchmacher in den beiden Städten Birnbaum und Zirle lebten in
WolM.mo, Alle damals in Birnbaum bestehenden Innungen haben in ihren
Stiftungsiirkunden deutschen Wortlaut. Schlimm sah es auf dein flachen Lande
aus, über das polnische Gutsherren geboten. Die Häuser waren nur Hütten,
der Viehbestand in schlechtester Beschaffenheit, die Wege in größter Unordnung,
die Wälder verwüstet. Nur der westliche Teil des Kreises Birnbaum machte
eine rühmliche Ausnahme. Diesen Teil mit Einschluß der Stadt Birnbaum,
den Vororten Lindenstadt und Gvoßdovf und mehreren Dörfern holte bereits im
Jahre 1597 der 'deutsche und evangelische Christoph von Unruh erworben. Er
und feine Nachkommen hatten die Herrschaft Birnbaum zu einem ganz deutschen
Besitztum gemacht.
Den nordöstlichen Teil des Kreises Birnbaum bildet die Herrschaft Zirle.
Diese Herrschaft, von der die Stadt Zirle schon damals überwiegend deutsch und
die Dörfer Neuzattum, Eichberg, Schönwald, Trenenwalde, Tuchollen, Katschlin
und Grabitz rein deutsch waren, erwarb im Jahre 1332 der preußische Fiskus,
der sie noch Hieute besitzt.
In den letzten hundert Jahren entwickelte sich der Kreis Birnbaum zu
großer Blüte, wovon der zuletzt für die Jahre 1888 bis 1904 erstattete Verwal¬
tungsbericht des Äcmdratsamts ein deutliches Bild abgibt. Auf Seite 4 dieses
Vevwaltnngsberichts ist ausdrücklich anerkannt: „Der Mutterisprache nach besteht
die Mehrzahl aus Deutschen. Im Osten und Süden wohnen Polen, die jedoch
fast ausnahmslos auch der deutschen Sprache mächtig sind."
Auch heute noch' ist der Kreis Birnbaum ganz überwiegend ein
deutscher Kreis.
Die Stadt Birnbaum ist feit nrdenklichen Zeiten deutsch, von Deutschen
gegründet und bis heute eine deutsche Stadt geblieben. Dr. Werner Reinhold
sagt in feiner 1848 erschienenen Chronik: „Die''Stadt Birnbaum bekam um 1200
putsche Einwohner." natlle schreibt in seiner 1910 -erschienenen Jubilänms-
Uhrrft: „Im Jahre 1400 ist der Ort sicherlich schon eine Stadt. Er heißt „oppi-
dum MSzichod" — also Stadt Mezichod in Der. Posn. 1400 Blatt 3 (Staats¬
archiv zu Polen). Dieser Umstand läßt darauf schließen, daß das Deutschtum sich
in dem polnischen Orte damals schon eine angesehene, ja führende Stellung zu
erringen gewußt hatte. Und das machte sich besonders auch bann geltend, d >ß
vie Deutschen dem polnischen Orte Miedgychod bald nach jener Zeit — also um
Jahr 1400 — den -deutschen Namen Birnbaum, welcher in gar keiner sach-
uchen Beziehung zu „Miedzychoo" steht, — Miedzhchod heißt Zwischcnweg - -
auMprägen vermocht haben. Der Ort ist zu einer deutschen Stadt gemacht
vordem durch einen der großen Ansiedlungszüge, welche schon vom 11. und 12.
Jahrhundert an ins Polenveich kamen, um sich hier eine neue Heimat zu
gründen.
>- Birnbaum und seine Umgebung ist noch heilte weit überwiegend, fast aus-
icytießlich deutsch.
Birnbaum Stadt und die westlich der 'Demarkationslinie gelegenen Orte
Mer nach der amtlichen Volkszählung 9989 Personen, davon 8437 mit dene-
n^s' 1662 mit polnischer Muttersprache, davon in der Stadt Birnbaum 5274-^Wren, und zwar 4525 -deutscher und 749 polnischer Zunge. Die Einwohner-
zahl des gesamten Kreises einschließlich des besetzten «Gebietes betrug am 1. De¬
zember 1910: 28 837, davon haben als Muttersprache angegeben: a) die deutsche
14 333, K) die polnische 14 513, andere 41.
Diese Zahlen der deutschen und polnischen Bevölkerung halten sich die.
Wage, wobei jedoch zu berücksichtigen bleibt, Daß noch im Jahre 1904 in dem
Verwaltungsbericht des Kreises Birnbaum gesagt werden konnte, daß die Zahl
der Deutschen im Kreise die überwiegende sei. Erst in den letzten Jahren ist
durch Abwanderung oeuisch^r Arbeite, devölkerung nach den in>'stirb>>n >>indnstrie-
orten und durch polnischen Nachzug das jetzige Zahlenverhältnis entstanden.
Das Schwergewicht schlägt jedoch sofort erheblich zugunsten des Deutschtums
über, wenn Besitz, steuerliche Leistungen und kulturelle Verhältnisse zum Ver¬
gleich herangezogen werden, wie die nachfolgenden Anglaben überzeugend be¬
weisen:
1. Stadt Birnbaum. Überwiegend deutscher Grundbesitz. Die Habt der
Wohnhäuser der Stadt Birnbaum beträgt 483; davon sind 453 ----- 92,8 Prozent
mit 11 052 Mark Gebäudesteuer in deutschem Besitz. Von dem unbebauten
Grundbesitz der Stadt sind 1421 Hektar — 99,3 Prozent in deutschem und nur
3 Hektar — 0,2 Prozent in polnischem Eigentum.
2. Unbesi'tzter Teil des Kreises Birnbaum. Hier stellt sich das Verhältnis
so, daß sämtlicher Grundbesitz, nämlich 23 813 Hektar — 99,99 Prozent in denk«
sehen und nnr 3 Hektar ------ 0,01 Prozent in polnischem Besitz sich befinden.
3. Ganzer Kreis Birnbaum. Von 64 378 Hektar Gesamtareal befinden sich
52 057 Hektar in deutschem und nur 12 231 Hektar in polnischem Besiiz. Also
über 80 Prozent in deutschem Besitz.
Das Deutschtum ist in Industrie und Gewerbe in führender Stellung,
sowohl in Zahl als in Bedeutung. Von 533 Hauptbetrieben der Stadt Birn¬
baum waren 482 — 90,4 Prozent in deutschem und nnr 51 ------- 9,6 Prozent in
polnischen Händen. Die polnischen Betriebe find nur solche kleiner Handwerker
und Krämer, die erst in den letzten Jahren eingewandert sind.
Die -Deutschen brachten fast allein -die Steuern lauf. An Einkommensteuer
zahlten die Deutschen in der Stadt Birnbaum 98,6 Prozent, die Polen 1,4 Pro¬
zent; im Kreise Birnbaum die Deutschen 84,8 Prozent, die Polen 15,2 Prozent;
an Gewerbesteuern in Stadt- und Landkreis Birnbaum die Deutschen 95,9 Pro¬
zent, die Polen 4,1-Prozent. Die Deutschen haben das kulturelle Übergewicht.
Wohlfahrtseinrichtungen, ein hochentwickeltes Schulwesen, die Anlage von
Straßen und Bahnnetzen, Regulierung der Warthe, soziale und industrielle Ein¬
richtungen aller Art — all das ist die Arbeit der Deutschen.
Aus all dem Angeführten ergibt sich, daß
der ganze Kreis Birnbaum überwiegend deutsch ist:
Sein Besitz und seine Bildung, sein Handel und sein Verkehr, seine Kultur und
seine Steuerkraft sind fast ausschließlich deutsch. Auch die polnischen Bewohner
des Kreises Birnbaum sind der Ansicht, daß der Kreis unzweifelhaft deutsches
Land ist. Sie verlangen in ihrer Mehrzahl keine Loslösung vom Reich. Zahl¬
reiche polnische Bauern und Arbeiter haben die Siegnungen unserer Kultur er¬
kannt und wiederholt erklärt, daß sie lieber beim Deutschen Reiche verbleiben,
als einem polnischen Staatswe-sen angehören wollen.
Birnbaum ist deutsch und will deutsch bleiben!
Der Kreis Nawitsch bildet einen nach Süden in die Provinz Schlesien hin¬
einspringenden Zipfel der Provinz Posen. Der ganze Charakter dieses Landstriches
ist schlesisch und nicht polnisch. Die deutschen Bewohner sprechen den schlesischen
^.Dialekt und neigen in Sitte und Kultur ausschließlich zu Schlesien.
Die Kreisstadt Nawitsch in der südwestlichen Ecke des Kreises, 2V- Kilometer
von der schlesischen Grenze gelegen, war von jeher eine kerndeutsche Stadt und
will es bleiben.
Die Stadt Nawitsch wurde zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Jahre
1639 gegründet von protestantischen Ansiedlern aus Schlesien, die ihres Glaubens
wegen verfolgt aus der Heimat abgewandert waren. Im Laufe d°r Jahrhunderte
hat sie trotz schwerer Heimsuchungen sich ihr Deutschtum treu bewahrt. Mehrere
Male im Verlauf der Geschichte standen die Bürger, gedrängt durch die Not der
Zeit, vor dein Entschluß, die Stadt aufzugeben und wieder nach Schlesien zurück¬
zuwandern. Doch die Liebe zu dem ererbten oder erarbeiteten Besitz ließ sie jedes¬
mal diesen Gedanken wieder ausgeben. Sie hielten ans und blieben; und auch
das heutige Geschlecht wird allen Stürmen Trotz bieten und treu zu seiner Scholle
halten.
Bürgermeister, Ratsherren und Schöffen in Nawitsch waren stets Deutsche.
Die noch vorhandene Bürgerrolle, die vom Gründungsjahr bis zur zweiten pol¬
nischen Tilung, durch die Nawitsch an Preußen kam, fortgeführt ist, enthält nur
deutsche Namen.
Unter den politischen Grundherren hat die Stadt, abgesehen von den ersten
Jahrzehnten, keine glücklichen Zeiten verlebt, da diese Herren die Stadt als ein
Ausbeutungsobjekt betrachteten und die Ursache wurden, daß sie sich in ungeheure
Schulden zu stürzen gezwungen war. Besonders der letzte Grundherr Graf
Myci-'lski zog Nawitsch in schwere finanzielle Bedrängnisse hinein, in dem er es
im Jahre 1776 zwang, Bürgschaft für seine ungeheuren Schulden zu übernehmen.
Infolgedessen kam es späterhin soweit, daß die Stadt für die Schulden ihres
Grundherrn gepfändet werden sollte. Nawitsch hat dann einen regelrechten Bankerott
erlebt und als im Jahre 1839 die Konkursmasse ausgeschüttet wurde, erlitten die
Gläubiaer einen Ausfall von 335000 Talern. Die Folge davon war. daß die
Stadt Nawitsch bis zur Verjährungsfrist — 50 Jahre lang bis 1890 — kein
Eigentum erwerben konnte, was für sie ein unermeßlicher Schaden war.
Das war die Folge der polnischen Wirtschaft. Unter Preußens Herrschaft
tst Nawitsch kräftig emporgeblüht.
Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich in Nawisch auch Polen nieder¬
gelassen, so daß die Stadt jetzt nicht mehr so rein deutsch ist, wie in den ver-
llossi'nen Jahrhunderten. Immerhin sind von den 11525 Einwohnern, die die
Stadt nach der Volkszählung von 1910 hatte, nur 1661 polnischer Nationalität.
Nawitsch ist also zu 86 Prozent deutsch.
Der deutsche Charakter der Stadt prägt sich am besten in folgenden
Zahlen aus:
Von 973 Wohngrundstücken sind nur 95 in politischer Hand, das ist weniger
als 10 Prozent. Von 1097 Hektar unbebauter Grundflüche sind nur 100 Hektar
'n Polnischen Besitz, das ist etwa 9 Prozent.
An Gebäudesteuern wurden gezahlt 24 339 Mark von deutschen, 1776 Mark
von Polen; also noch nicht 7 Prozent.
Gewaltig ist der Unterschied bei der Einkommensteuer. An Einkommen über
«000 Mark wurden gezahlt:
An Einkommen unter 3000 Mark;
. Im deutschen Besitz befinden sich 55 industrielle Anlagen, in polnischem Be-
!/Z nule einzige. Deutsche Handwerker sind 272 vorhanden, polnische 43; das ist
Ptwäent. Von Angestellten und Arbeitern sind deutsch 804. polnisch 133,°as ist 14 P^zene.
Am Jahresschluß 1918 hatte das Nawitscher Gymnasium 234 Schüler;
davon waren 34 polnisch, das ist 14 Prozent. Die höhere Mädchenschule wird
von 237 Schülerinnen besucht, wovon 11 polnischer Muttersprache sind, das ist
4'/2 Prozent. Ebenso sind von den Nawitscher Knaben, die die Bürgerschule be¬
suchen, nur 7 Prozent polnischer Nationalität.
Bemerkt sei noch, daß das Wasserwerk der Stadt Nawitsch auf schlesischen
Boden liegt, was bei einer Änderung der Landesgrenze verhängnisvoll wäre.
Fast rein deutsch, wie die Kreisstadt Nawitsch, sind auch die Städte Bvjanowo
und Sarne.
Von den 2290 Einwohnern der Stadt Bojanowo sind nur 2S7 polnisch,
also knapp 11 Prozent. Die Stadt Sarne hatte nach der Volkszählung von 1910
von 1293 Einwohnern nur 245 Polen, das ist 19 Prozent. In den beiden öst¬
lich gelegenen Städtchen Görchen und Jutroschin überwiegt zwar das polnische
Bevölkerungsclement, doch hat Görchen immerhin 34 Prozent und Jutroschin
42 Prozent deutsche Einwohner. Ebenso wie in Nawitsch. handelt es sich hier
um ein bodenständiges, nicht um ein zugewandertes Deutschtum, denn alle diese
Städte sind in früheren Jahrhunderten von deutschen Kolonisten gegründet
worden. Das Deutschtum ist mithin ebenso alt wie diese Städte selbst. Die
Polen dagegen sind zugewandert, was auch schon aus der Tatsache hervorgeht,
daß es im alten Polenreiche ein selbständiges polnisches Bürgertum gar nicht
gegeben hat.
Von den SO 240 Einwohnern des Kreises sind zwar nur 21260 deutscher
Nationalität, das ist 42 Prozent, doch wohnen die Deutschen durchweg in
geschlossenen Siedlungsgebieten längs der Wefigrcnze des Kreises in Fühlung
mit dem Kreise Guhrau, oder im Osten um Jutroschin in Fühlung mit dem
Kreise Militsch. Der ganze Westen des Kreises ist bis zu der Linie Zciwada-
Gußwitz -Altguhle-Gerlach- Konarzewo- Karolinental°Dombrocznafluß - Wicsenbach-
Neudorf bis auf den Bezirk des Rittergutes Laszczyw rein deutsch. Dieses Gebiet
ist auch von den Deutschen in schwersten Kämpfen gegen den Ansturm der Polen
gehalten worden. Nur Zawada und Karolinental sind augenblicklich von den
Polen besetzt.
Was wir Deutsche mit Einsatz unseres Lebens um den Preis blutiger
Opfer verteidigt haben, kann uns keine Macht der Welt wieder absprechen.
Die deutschen Einwohner dieses Westteils des Kreises haben, abgesperrt von
der Landeshauptstadt, am 3. und 4. Januar dieses Jahres ihren Anschluß an die
Provinz Schlesien erklärt.
Es geschah dies sowohl in öffentlichen Versammlungen, die von jausenden
deutscher Männer und Frauen besucht waren, als auch durch Beschluß der Stadt-
verordnetenkollegien oder der Gemeindevertretungen. Dieser Anschluß an Schlesien
ist vom Oberprnsidium und Zentralrat in Breslau anerkannt worden.
Durch Volksbeschluß hat sich also dieser Teil des Kreises Nawitsch von
Posen losgesagt; doch auch die Deutschen im östlichen Teile des Kreises wünschen
zur Provinz Schlesien geschlagen zu werden.
Stehen sie auch an Zahl gegenüber den dort seßhaften Polen zurück, so ist
doch auch dieser Teil des Kreises, wenn man neben den Vevölterungsverhältnisseu
den städtischen und ländlichen Grundbesitz, die Steuererträge, die wirtschaftlichen
und kulturellen Werte zugrunde legt, als deutsch anzusprechen.
Folgende Zahlen beweisen dies:
Im Kreise Rawitsch gibt es 194 gerichtlich eingetragene Handelsfirmen,
davon sind 189 deutsch und nur 36 polnisch.
Die Geldinstitute von Bedeutung befinden sich außer der polnischen Genossen¬
schaftsbank Ludowy alle in deutscher Hand, ebenso wie sämtliche Aktien der
Liegnitz-Nawitscher Eisenbahn, die als Kreisbahn mit den Flügelstrecken Görchen-
PakoSwalde und Görchen-Gostyn von außerordentlicher Bedeutung ist.
Das wirtschaftliche Leben des Kreises beruht auf dieser Bahn, die augen¬
blicklich unterbrochen ist. Die Betriebsleitung hat ihr rollendes Material vor
Nusbruch der Kämpfe zurückgeholt und wird es nicht eher wieder in Dienst stellen,
bis die polnischen Truppen aus dem Kreise zurückgezogen sind, so daß sie die
Sicherheit hat, ihr Material nicht zu verlieren.
Auch sonst ist das Wirtschaftsleben des Kreises völlig abhängig von dem
Westteil mit seinen Städten, von der Breslauer Bahn und dem schlesischen Hinter¬
land. Dies zeigt sich auch bei der Genossenschaftszuckerfabrik Görchen, deren
Anteile zum weitaus größten Teil in deutschem Besitz sind, und deren Genossen¬
schafter teilweise in Schlesien wohnen.
Die kulturelle Überlegenheit der Deutschen braucht nicht erst hervorgehoben
zu werden.
Es ist daher voll berechtigt, wenn die Deutschen des Kreises Nawitsch als
natürlichste Demarkationslinie die Nordgrenze des Kreises verlangen, zumal diese
Linie die geradeste Verbindung nach Zduny-Krotoschin ist und den durch den
Kreis Rawitsch gebildeten keilförmigen Vorsprung abschneidet.
Es sei noch hervorgehoben, daß im Kreise Listen gesammelt und an das
Auswärtige Amt in Berlin geschickt wurden, mit etwa 10 000 Unterschriften von
deutschen Kreisinsassen im wahlfähigen Alter, worin die Unterzeichneten erklären,
daß sie bei Preußen und beim Deutschen Reiche bleiben wollen.
Diese Forderung wurde wiederholt in Volksversammlungen und Massen¬
kundgebungen bekräftigt und der deutschen Reichsregierung durch Telegramme
übermittelt, so am 8. Dezember 1918, am 3. Januar 1919, am 26. Februar 1919.
In Anbetracht aller dieser Tatsachen halten die Deutschen im Kreise Rawitsch
es für selbstverständlich, daß sie beim Deutschen Reiche bleiben und fordern von
der Neichsregierung, daß sie energisch dafür eintritt.
Wir! geben nachstehend einen kurzen Über¬
blick über die kritischen Wochen, in denen
die Frage des Durchzugs der Truppen des
Generals Haller zur Entscheidung ge¬
kommen ist. Die Entente stützte sich bei
ihrem Verlangen, die Armee Haller in Danzig
landen zu lassen, auf den Artikel 16 des
Wnsfenslillstandsvertrages. Dieser Artikel
lautet:
„Die Alliierten sollen freien Zugang zu
den von den Deutschen an ihren Ostgrenzen
M'ämnten Gebieten haben, sowohl über
Ranzig mis auch über die Weichsel, um die
^°völkerungen dieser Gebiete verpflegen zu
können und zum Zweck der Aufrechterhaltung
Ordnung."
Aus dem Wortlaut des Artikels geht
hervor, daß ein Recht auf Landung in Danzig
aus ihm nicht hergeleitet werden kann. Die
deutsche Regierung und die Wnffenstillstands-
kommission vertraten von Anfang an diesen
Standpunkt, wiesen aber außerdem in steigen¬
dem Maße unter den: überwältigenden Druck
der Meldungen und Kundgebungen aus der
bedrohten Ostmark auf die Gefahren hin,
die eine Landung der Truppen in Danzig
haben mühten. In ihr, akutes Stadium
trat die Frage in der ersten Mürzwoche.
Die Warschauer interalliierte .Kommission
hatte am ö. März in Kreuz bei ihrem ersten
Zusammentreffen mit der deutschen Kom¬
mission zur Regelung der Ostfragen unter
Hinweis auf die vorgesehene Landung pol¬
nischer Truppen in Danzig die Zulassung
einer größeren alliierten Kommisston zur
Vorbereitung der Ausschiffung und des
Weitertransportes der Truppen verlangt:
Auf diese Forderung hin machte der Vor¬
sitzende der deutschen Waffenstillstandskom¬
mission in Spaa in der Sitzung vom 7. März
in einer Note die Alliierten nochmals dring¬
lich darauf aufmerksam, daß die Landung
stärkerer polnischer Kräfte in Danzig zweifel¬
los den Anlaß zu neuem Blutvergießen geben
würde. Auch die Lebeusmitteltransporte von
Danzig nach Polen würden durch die gleich?
zeitigen Truppentransporte erheblich beein¬
trächtigt werden. Mit besonderen! Nachdruck
betonte der deutsche Vorsitzende in der Note,
welch schwere Gefährdung der deutschen Ost¬
front gegenüber den russischen Bolschewisten
eintreten würde, wenn die rückwärtigen Ver¬
bindungen der deutschen Truppen im Osten
gestört würden. Er schlug daher vor, etwaige
Transporte polnischer Truppen in erster
Linie über Libau zu leiten. In zweiter
Linie kämen die ostpreußischen Häfen Meniel
und Pillau in Betracht. General Undank
versprach, die deutsche Note sofort nach Paris
Weiterzugeben.
Bei der Fortsetzung der Posener Ver¬
handlungen am 16. März verlangten die
alliierten Vertreter rascheste Entscheidung
über die Landung der polnischen Division
in Danzig und deren Transport nach Polen;
andernfalls würde Danzig besetzt werden.
Der Vorsitzende der deutschen Kommission
Protestierte dagegen und erklärte in einer
Note, die Danziger Frage gehöre nicht
zur Zuständigkeit der Kommissionsverhand¬
lungen und könne nach dem Standpunkt der
deutschen Negierung nur in Spaa entschieden
werden. Hierauf verlas Botschafter Noulens
einen Auftrag der alliierten Regierungen, in
Posen über diese Frage zu verhandeln.
In der Vollsitzung der Waffenstillstands-
lommission in Spaa vom Is. März teilte
Undank mit, daß die Entente den deutschen
Vorschlag ablehne, die Polnischen Truppen
statt in Danzig, in Königsberg, Memel oder
Libau zu landen. Die interalliierte Kom¬
mission in Warschau sei vielmehr beauftragt
worden, alle Vorbereitungen für die Landung
der Truppen in Danzig zu treffen. Die
deutsche Negierung werde zu diesem Zweck
ersucht, den Mitgliedern der Kommission die
dazu nötige Verkehrsfreiheit einzuräumen.
General v. Hammerstein wies daraus hin,
daß die deutsche Negierung ihren Standpunkt
in vorliegender Frage wiederholt kundgegeben
hat. Artikel 16 des Waffenstillstandsver-
trngeS vom 11. November 1918 gebe der
Entente nicht das Recht, die Landung der
polnischen Truppen in Danzig zu fordern.
Aber abgesehen von der Auslegung dieses
Artikels würde die Landung der Polnischen
Truppen Unruhe unter der Bevölkerung öst¬
lich der Weichsel hervorrufen, was dem Geist
dieser Bestimmung des Waffenstillstands-
vertrages widerspreche. Aus zahlreichen Mit¬
teilungen gehe hervor, daß die dortige pol¬
nische Minderheit die Landung als Signal
betrachten werde, um mit Unruhen und
Agitationen zu beginnen, v. Hammerstein
fuhr fort:
„Die deutsche Negierung hat mich offiziell
ermächtigt, zu erklären, daß sie eine Landung
polnischer Truppen in Danzig nicht wünscht.
Demgemäß ist es auch nicht erforderlich, daß
alliierte Offiziere die Frage dieser Landung
in Danzig Prüfen. Das Anerbieten der
Häfen Memel, Libau, Königsberg bleibt
bestehen."
Undank erwiderte, die vorgebrachten
Gründe für die Ausschaltung DanzigS könnten
von den Alliierten nicht angenommen werden.
Im übrigen könne diese Frage nicht gleich¬
zeitig in Spaa und Posen behandelt werden.
Die interalliierte Kommission in Posen besitze
die notwendigen Vollmachten zu ihrer Er¬
ledigung, und seine soeben gemachte Mit¬
teilung sei nur die Wiedergabe des Befehls,
den die Posener Kommission erhalten habe.
General v. Hammerstein betonte, daß
gegenwärtig in Danzig und Westpreußen
Ruhe herrsche. Eine Notwendigkeit, in Danzig
Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung
zu landen, könne also nicht anerkannt werden.
Die deutsche Negierung habe angeordnet, daß
sämtliche Fragen betreffend die Landung
polnischer Truppen in Danzig durch die
Waffenstillstandskommission in Spaa erledigt
werden, wie dies Artikel 34 des Wasfenstill-
standsvertrages vom 11. November 1913
vorsieht.
In der Sitzung der Wnffenstillstands-
kommission vom 20. März überreichte Undank
General von Hnmmerstein eine Note, in der
er seine an 19. März mündlich abgegebenen
Trklärungen über die Frage der Landung
Polnischer Truppen in Danzig schriftlich be¬
stätigte und ergänzte.
Die deutsche Negierung bestehe, Wie es in
der Note u. a. heißt, auf ihrem Recht, die An¬
gelegenheit nickt von der interalliierten Kom¬
mission in Warschau, sondern von der inter¬
nationalen WasfenstillstandSkonnnission in
Tpaa behandeln zu lassen. Die deutsche
Regierung könne keinesfalls die Landung in
Danzig und den Durch eng der polnischen
Truppen durch das national gemischte Land
Massen, Nicht nur die Rechtslage spreche
w diesem Fall unbedingt zugunsten der
deutschen Auffassung, sondern die von den
Alliierten geforderte Landung in Danzig
würde auch außerdem zu Ergebnissen führen,
die zu den von der Entente wiederholt ab¬
gegebenen Versicherungen im Gegensatze
stehen. Die Entente behauptet, sie wolle in
den östlich der Weichsel gelegenen Gebieten
ausschließlich die Ordnung erhalten und neues
Vlutvergieszen vermeiden. Die von ihr ge¬
forderte Maßnahme würde aber die in diesen
Landstrichen jetzt herrschende Ruhe stören,
'"dem das Auftreten der Polnischen Truppen
S>"n Versuch gewallsnmer blutiger Unter¬
drückung der unzweifelhaft deutschen Mehrheit
in Westpreußen führen würde.
Unter diesen Umständen könne die deutsche
regierung der Forderung nicht zustimmen,
alliierte und polnische Offiziere in den Ge-
leten östlich der Weichsel unbeschränkt und
unbeaufsichtigt reisen zu lassen. Es gebe
"^Paragraphen, der Deutschland dazu
h den Erfahrungen, welche
^utgeg ; " ' ^^""g bei ihrem früherenverpflichtet. Nach den Ersahrungen, welche
die deutsche Regieru
tgegenkommen in einem ähnlichen Falle
"'it Herrn Paderewski und Oberst Wade ge-
'"acht habe, müsse sie jetzt doppelt vorsichtig
Die deutsche Regierung sei jedoch he-
re>t, daß Äußerste zu tun. Sie werde jedenErdfall bereitw
um Bedingungen die Reisen zu de-^U'zelfali bereitwillig prüfen, ob und unterwelch?
stimmte» i
für die"« Zwecken ohne Gefahr
können Ordnung zugelassen werden
Undank nahm die Note mit der Be¬
merkung entgegen, er werde sie sofort Fons
übermitteln. Die Note habe den Vorzug,
klar zu sein, indem sie die deutliche kategorische
Ablehnung aller Vorschläge und Forderungen
der alliierten und assoziierten Regierungen
enthalte. Sie schaffe sonnt eine tatsächliche
Lage, die in entsprechender Weise behandelt
werden würde.
Am 26. März abends ging dem Vor¬
sitzenden der Deutschen Waffenstillstands«-
kommission in Spaa folgende Note des
französischen Vorsitzenden, des Generals
Nudnnt, zu:
In Übereinstimmung mit der Euischeiduug
des Obersten Knegsrntes der alliierten und
assoziierten Regierungen wird General Nudnnt
in Ausführung der Klausel 16 des Waffen¬
stillstandes vom 11. November 19l8 fordern,
daß die Deutschen gestatten, daß die Armee
des Generals Haller, welche ein Teil der
alliierten Armeen ist, durch Danzig in Rich¬
tung auf Polen frei durchmaschiere mit dem
Zweck, dort die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Die Deutschen werden sich weiterhin ver¬
pflichten, alle Erleichterungen sür die vorüber¬
gehenden Einrichtungen jeder Art zu geben,
die für die durch diesen Hafenplatz mar¬
schierenden Truppen notwendig sind. Jede
Weigerung, diesen Forderungen zu entsprechen,
wird als ein Bruch des Waffenstillstandes
durch die Deutschen angesehen werden. In¬
folgedessen bitte ich Sie, von der deutschen,
Regierung die Vollmachten zu verlangen, die
nötig sind, um die Art und Weise der Aus¬
führung dringendst und ans Grund gegen¬
seitigen Übereinkommens zu regeln.
Die Antwortnote der deutschen Regierung
wurde nach eingehender Beratung im Kabinett
und unter Zuziehung der Parteiführer der
Nationalversammlung fertiggestellt. Sie hat
folgenden Wortlaut:
Gemäß Artikel 16 des Waffenstillstands-
vertrages vom 11. November 1918 hat sich
die deutsche Regierung verpflichtet, den
Alliierten freien Zugang über Danzig und
die Weichsel zur Aufrechterhaltung der Ord¬
nung in den Gebieten des ehemaligen russi¬
schen Reiches zu gewähren. Bei Abschluß
dieses Vertrages gingen wir jedenfalls davon
aus, daß es sich nur um freien Durchzug für
alliierte Truppen handeln könne, nicht aber
um Polnische. Die deutsche Regierung hat
sich nicht verpflichtet, freien Zugang für eine
Polnische Armee über Danzig durch West-
Preußen zu geben. In dieser Auffassung
sieht die deutsche Regierung sich bestärkt durch
die bekannten Vorkommnisse bei der Ge¬
währung freien Geleits für den polnischen
Ministerpräsidenten Paderewski, Herr Padc-
rewski hat unter grober Verletzung der ge¬
währten Gastfreundschaft auf deutschem Boden
in Posen das Zeichen zum Aufruhr und
Bürgerkrieg gegeben. Bei seiner Anwesenheit
in Danzig im Dezember 1918 sagte er:
„Wenn die Polnischen Divisionen aus
Frankreich und Italien erst einmal in
Danzig sind, so werden Danzig und ganz
Westpreußen Polnisch werden."
In der gesamten Polnischen Öffentlichkeit
wird auch die Armee Hnllor als polnische
Armee bezeichnet. Seit dem Abschluß deS
Waffenstillstandes vom 11. November 1913
hat sich zudem die Gesamtlage in Posen,
Westpreußen und Danzig völlig verändert.
Es würde nach den bekannten Vorgängen in
Posen durch eine Landung polnischer Truppen
in Danzig die Ordnung in Westpreußen aufs
schwerste gefährdet werden. Niemand kann
die Verantwortung übernehmen, daß die
polnische Minderheit in Westpreußen ruhig
bleibt, wenn die Armee Haller in Danzig
landet. Nach den der deutschen Negierung
täglich zugehenden zahlreichen Kundgebungen
der deutschen Mehrheit in Westpreußen muß
aber auch damit gerechnet werden, daß
die deutsche Mehrheit gegenüber Polnischen
Angrissen gewaltsamen Widerstand leisten
wird. Heute herrscht in diesen Gebieten
Ruhe und Sicherheit, wenn aber die ge¬
forderte Landung nach dem heutigen Stand
der Dinge zum blutigen Kampf in diesen
Gebieten führt, so wird außerdem die deutsche
Ostfront gegen den russischen Bolschewismus
gefährdet. Die geringen deutschen Kräfte,
welche die Sowjettruppen zurückhalten, Hütten
dann im Rücken gleichfalls den Feind und
würden zwischen zwei Feuer geraten. Dein
Bolschewismus ist dann der Weg nach West¬
preußen und Polen frei. Die deutsche Re¬
gierung kann nach eingehender Prüfung eine
Matznahme nicht verantworten, die ohne
Schaffung ausreichender Garantien den
Bürgerkrieg im eigenen Land hervorrufen
muß. Dagegen ist die deutsche Negierung
nach wie vor bereit, die Landung der Armee
Haller in Stettin, Königsberg, Memel oder
Libau mit allen Mitteln zu erleichtern und
dadurch die Absicht der Alliierten, die Ord¬
nung in Polen aufrecht zu erhalten, mit
allen Kräften zu unterstützen. Die deutsche
Negierung erklärt sich ausdrücklich bereit, alle
Einrichtungen für die rascheste Landung
und die Durchreise der Armee Haller nach
Polen zu gewährleisten. Diese Wege führen
auch eisenbahntechnisch schneller und ohne
jede Störung der Lebensmittelzufuhr nach
Polen zum Ziele. Um die in der Note von
Marschall Fons gewünschten Vollmachten zur
Regelung der Art und Weise der Ausführung
der Landung auf Grund gegenseitigen Über¬
einkommens erteilen zu können, ersucht die
deutsche Regierung um alsbaldige Mitteilung
über folgende Punkte:
1. Zusammensetzung der Armee des Ge¬
nerals Haller und Stärke derselben.
2. Zeitpunkt der Landung der Armee
Haller.
Z. Angabe der Zeitdauer' der Durch-
beförderung der Armee Haller bis nach Polen-
4. Welche Gewähr könnten die alliierten
und assoziierten Mächte dafür bieten, daß
nicht die Armee des Generals Haller oder
ein Teil derselben sich an politischen Kund¬
gebungen oder an etwaigen Aufständen der
Polnischen Minderheit nach dein Vorgang bei
der Anwesenheit des Polnischen Minister¬
präsidenten Paderewski in Posen beteiligt
oder solche mit Sicherheit zu erwartenden
bedauerlichen Ereignisse hervorruft?
Unterdessen war an die deutsche Reichs-
regierung eine Ausforderung gelangt, eine»
Bevollmächtigten zu Persönlichen Verhand¬
lungen über die Streitfrage nach Spaa zu
entsenden. Von der deutschen Regierung
wurde der Neichsminister Erzberger bevoll¬
mächtigt.
Neichsminister Erzberger traf am 2. Apr^
gegen 6 Uhr nachmittags in Spaa ein.
seiner Begleitung befanden sich als Vertreter
deS Auswärtigen Amtes der Unterstacits-
sckretär Freiherr Langwerth von Simmern,
ferner als Leiter der Zentralstelle des deut¬
schen Grenzschutzes Ost der Major im Ge-
nernlstabe Freiherr von Willisen, dann der
Vorsitzende der Unterkommission für Trans¬
portwesen bei der Deutschen Waffenstillstands¬
kommission in Spaci Major ini Generalsto.be
von Boettischer, der Oberbürgermeister der
Stadt Danzig sahen, sowie als Vertreter
der Waffenstillstandskommission Berlin die
Referenten Dr. Hemmer und Dr. Driesen.
Die Verhandlungen fanden am 3. und
4. April statt. Ihr Ergebnis war folgendes
Abkommen:
I. Aus dem Artikel 16 des Waffenstill¬
standsabkommens vom 11. November 1913
ergibt sich für Deutschland die Verpflichtung,
den Durchmarsch alliierter Streitlüste über
Danzig zuzulassen, und infolgedessen nach
der Auffassung der Alliierten auch der Truppen
des Generals Haller.
II. die deutsche Negierung hat folgende
"nie Transportwege vorgeschlagen:
1. von Stettin über Kreuz, Richtung
Posen—Warschau,
2. von Pillau—Königsberg und Memel
über Korschen—Lyck—Grajewo,
3. überKoblenz - Gießen—Cassel—Halle
^Eilenburg, und über
Frankfurt - Main —Bebra—Erfurt—Leip.
i5>g—Eilenburg, dann weiter über Cottbus—
Lissa-Kalisch.
Die deutsche Negierung gewährleistet
ö>e vollkommene Sicherheit dieser Transport¬
wege. Auf der Gegenseite werden Maß-
'nehmen ergriffen werden, damit die auf dem
Transport dach deutsches Gebiet befindlichen
Truppen alles unterlassen, was Unruhe in
ver Bevölkerung hervorrufen könnte.
Die Transporte werden, gegen den
April beginnen und ungefähr zwei
Monate dauern.
Die beförderten Polnischen Truppen sind
tur die Aufrechterhaltung der Ordnung gemäß
Artikel ig des Wnffenftillstandsabkommens
d°'n ii. November 1918 bestimmt.
IV. Die Durchführung der Transporte
^d durch einen Zusatzvertrag zu diesem
Protokoll geregelt.
V. Sollten bei dem Transport über die
von der deutschen Negierung vorgeschlagenen
Verkehrswege ernste Schwierigkeiten entstehen,
welche die deutsche Negierung, nachdem sie
von den alliierten und assoziierten Re¬
gierungen benachrichtigt ist, nicht zu beseitigen
vermag, so behält sich Marschnll Fons, der
Höchstknmmandierende der alliierten Armeen,
das Recht vor, auf die Transporte zurück¬
zukommen, die im Artikel IlZ des Waffen¬
stillstandsabkommens vom 11. November
vorgesehen sind, und zwar nach Aus¬
führungsbestimmungen und mit Garantien,
die durch die Internationale Permanente
Waffenstillstandskommifsion festgesetzt sind.
Zu diefem Hauptabkvmmen wurde fol¬
gendes Zusatzabkommen getroffen, daS die
Einzelheiten des Durchzugs regelt (auszugs¬
weise) :
I. Die Transporte werden stattfinden
auf einem der folgenden Wege:
Der Oberbefehlshaber der alliierten
Armeen wird zunächst die Linie a bean¬
spruchen.
Der Beginn der Bewegung wird so bald
als möglich, wenigstens 4 Tage vorher, den
deutschen Behörden durch Vermittlung der
ständigen interalliierten Waffenstillstandskom¬
mission im Falle der Verwendung der einen
oder der anderen Linie mitgeteilt. Die
Transporte können vom 16. April ab be¬
ginnen und werden ungefähr zwei Monate
dauern.
II. Die Organisation der Transporte
im einzelnen wird durch eine gemischte Kom¬
mission in Spaa geregelt. Für die Trans-
Porte b und e werden Gencralstabsoffiziere
der alliierten Armeen in Stettin und Königs¬
berg gemeinsam mit den zuständigen deutschen
Behörden die Bewegungen regeln.
III. Militärische Maßnahmen: Die
Truppen werden in geschlossenen Zügen mit
ihrer Munition und ihren Lebensmitteln
befördert. Die Soldaten werden ihre Muni¬
tion nicht bei sich tragen; diese wird viel-
mehr in einem Waggon des Zuges beför¬
dert; der Wagen wird plombiert. Die Ver¬
bindung zwischen dem technischen Eisenbahn-
personal, dem allein die Wahrnehmung des
technischen Dienstes auf den Transportstrecken
obliegt, und den Transportführern erfolgt
durch Vermittlung von Offizieren der alli¬
ierten Armeen, die gleichzeitig die Verbin¬
dung zwischen den Truppen und den deutschen
Militärbehörden herzustellen haben.
Alle Maßnahmen werden durch das alli¬
ierte Oberkommando getroffen werden, um
Zw,ischenfälle zwischen der Truppe und der
Bevölkerung zu vermeiden. Die deutschen
Behörden werden ihrerseits gegenüber der
Bevölkerung alle erforderlichen Polizsimafz-
nähmen treffen, die geeignet sind, Kund¬
gebungen und Unordnung aller Art zu ver¬
meiden. Aufenthalte von längerer Dauer
werden während der ganzen Fahrt einge¬
richtet. Die Truppen dürfen nicht die durch
besondere Anweisung befohlenen Grenzen
verlasse». In den Häfen Stettin und Pillau-
Königsberg wird auf den Kais ein Platz
abgegrenzt werden, von dem sich die Aus¬
ladekommandos nicht entfernen dürfen. Die
dem Lebensmittel- und Munitionsnachschub
dienenden Transporte laufen über Stettin.
IV. Technische Maßnahmen: Die Trans¬
porte werden grundsätzlich durch Züge in der
einheitlichen Zusammensetzung von 60 Wagen
(100 Achsen) ausgeführt. Das rollende
Material wird auf der Linie a von den
Alliierten, auf den Linien d und c von-
Deutschland gestellt. Die zur Verladung in
die Eisenbahn in den Häfen erforderlichen
Materialien werden von Deutschland geliefert.
Die nötigen Lokomotiven werden ans den
von deutschem Personal betriebenen Strecken
von Deutschland geliefert; Kohlen und
Schmiermittel werden von Deutschland ge¬
liefert. Das Zugpersonal wird auf den vor¬
deutschen Personal betriebenen Sirecken von
Deutschland gestellt.
V. Bezahlung: Deutschland werden die
Transportkosten entsprechend den in Kraft
befindlichen Militärtanfen der deutschen
Eisenbahnen, die Gesamtsumme der auf aus¬
drückliche Forderung der Alliierten wirklich
erfolgten Ausgaben aus Anlaß des von
Deutschland durchgeführten Transports, der
Wert der von den Truppen verursachten
Schäden vergütet.
Damit wurde die erste dringende Gefahr
behoben. An diesem Ergebnis hat das ein¬
mütige Zusammenstehen aller Deutschen der
Ostmark den Hauptanteil. Größte Wachsam¬
keit ist aber weiter Vonnöten, da in dem
Artikel 5 des Abkommens der Entente eine
höchst gefährliche Waffe zur Verfügung steht.
Über die Fülle der deutschen.Kundgebungen
auch nur auszugsweise zu berichten, ist un¬
möglich. Pressestimmen zur Danziger Frage,
insbesondere Polnische, bringen wir in der
nächsten Nummer der „Mitteilungen".
Auch die ostpreußische Nachbarprovinz,
dersn südlicher Teil ebenfalls durch pol¬
nischen Gebietshunger bedroht ist, hat in
einer machtvollen Kundgebung am 30.
März sich mit dem Deutschtum West¬
preußens und Posens solidarisch erklärt
Niivd gegen die Abtretung Danzigs, des
Weichscltales und überhaupt deutschen
Landes «n Polen entschiedensten Einspruch
erhoben. Aus den zahlreichen Reden, die
unter freiem Himmel bor einer viel¬
tausendköpfigen Menge gehalten wurden,
geben wir die folgenden wieder.
Nach einleitenden Worten sprach der
Reichskommissar für die besetzten Gebiete
des Ostens, August W innig, etwa da»
folgende:
All die Tausende, die heute hier t«^
sammcngekommen sind, beseelt ein Ge¬
danke. Sonst gehen sie alle mit ihrem
Denken und Meinen auseinander: Der
eine denkt trauernd an das alte Reich in
seiner Macht und seinem Reichtum, nu^
seiner Gebundenheit mit seinen Stcmdek-
unterschieden, mit seinen weitausschauen¬
den Plänen und seinen weltpolitisches
Hoffnungen. Der andere blickt stolz trotz
aller Not des Augenblicks auf das Ergeb¬
nis der großen Umwandlung, die sich in
Deutschland vollzogen hat und sichert da¬
nach, den Geist der neuen Ordnung weiter
zu bilden und wirksam zu macheu, und ist
willens, abseits aller Machtgcdanken eine
neue Lebensform für Land und Volk zu
finden. Ja, wenn alle, die hier ver¬
sammelt sind, ihre Ansichten und Wünsche
für die deutsche Zukunft aussprechen woll¬
ten — es würde wahrlich keinen Einklang
ergeben. Wir würden finden, daß wir
uns darin zu weit von einander entfernen,
daß die äußersten Flügel sich kaum noch
sehen können. Und doch sind wir heule,
so viele unser sind, in einem Gedanken
einig und in diesem einen Gedanken hier
zusammen gekommen: Es soll kein deut¬
sches Land polnisch werden!
Wir haben uns zusammengefunden,
>oeil die Not der Stunde zu groß ist, um
weiter unseren kleinen Hader aufzutragen.
Was nützt uns aller Streit der Mei¬
nungen über die Allsgestaltung und Aus¬
schmückung unseres Hauses, wenn wir die
Kroße Gefahr nicht abwenden können, daß
der wahnsinnige Übermut der Sieger
Kauze Flügel dieses Hauses uns entreißt
^ daß er uns den Grund nimmt, auf
wir wieder aufbauen müssen?
Wie furchtbar hat das Schicksal uns
^schlagen! Unsere Waffen, unsere Eisen¬
bahnen, unsere Pflüge, unsere Schiffe
hat man uns genommen. Unser Gold hat
Man unserer Verfügung entzogen. Unsere
klefcingenen Brüder quält man, und wir
können ihnen nicht helfen. Im Westen
^ni man uns altes deutsches Land ent¬
reißen. Schwarze Banden vom Senegal
bevormm-idem dort deutsches Volk. Nun
^'ni man uns auch im Osten alte, längst
dem Reichskörper verwachsene Glie-
er abtrennen. Was in Jahrhunderten
^urch deutschen Geist und deutsche Arbeit
putsch.geworden ist, das will uns wahn-
Nniiiger Übermut nehmen. Uns will
non es nehmen und es einem Volke
u°ben, das bisher nur das bewiesen hat,
daß es nicht staatenbildend ist. Millionen
deutscher Bürger sollen der Herrschaft
eines unerzogenen übermütigen Volkes
ausgeliefert werden. Blühende, durch
deutsche Arbeit blühend gemachte Gefilde
und Städte sollen im polnischen Schmutz
ersticken, durch polnisches Unvermögen zu¬
grunde gehen. Ich spreche hier und heule
nicht von dem künftigen Verhältnis un¬
seres Landes zu Polen. Aber das ist ge¬
wiß, es kann nie etwas anderes als tiefste
Feindschaft zwischen uns und einem pol¬
nischen Staate herrschen, dem deutsche Ge¬
biete zugesprochen worden sind. Ich spreche
auch nicht von dem Rechte, das wir im
Frieden haben wollen. Wir haben im,
Herbst die Waffen niedergelegt, ver¬
trauend auf das Wort Wilsons, der uns
einen Frieden der Gerechiigteit verhieß.
Wir mögen nach dein, was man uns
bisher angetan hat, nicht mehr an dies
Wort denken. Es wird für olle andern
Völker Gerechtigkeit geben, aber nicht für
uns. Uns will und wird man so tief
Herabdrücken, wie man kann, wie es die
Gegensätze der Sieger und unser Wider¬
stand zulassen. Aber ich spreche von der
Hoffnung der Völker, daß jetzt allendlich
das blutige Vernichten beendet sein soll
— daß die Menschheit nun den Frieden er¬
hält, der ihr Gelegenheit geben soll, ihre
zerrüttete Kultur wieder auszurichten.
Von dieser Hoffnung will ich sprechen uno
saigen: Es gibt keinen Danerfrieden, wenn
deutsches Land polnisch wird!
Nie, nie, nie werden wir uns mit der
Wegnahme deutschen Landes abfinden,
und stets kann es für uns nnr das eine
Ziel geben: Es wieder zu gewinnen.
Wir müssen aber wissen, daß die Dinge
für uns ungünstig stehen. Fehler, began¬
gen von einem Manne, den der liebe Gott
in seinem Zorn einmal für einige Wochen
in die preußische Regierung geschickt hatte,
haben Tatsachen geschaffen, die uns heute
in der Provinz Posen im Wege liegen.
Jene charakterlose Nachgiebigkeit hat den
Übermut der Polen so wachsen lassen,
daß sie jetzt die Hand nach Danzig und
Westpreußen .ausstrecken. Wir können den
Polen nur sagen: Hände weg von Danzig!
Das wollen wir so laut und deutlich
sagen, daß man es auch in Paris hört.
Dies „Hände weg!" rufe ich den Polen
und Polenfreulnden zu, nicht nur als einen
Protest, sondern als eine Warnung. Ich
bin gestern und vorgestern in Danzig ge¬
wesen und bin gewiß — es herrscht dort
ein Geist, der eine Landung polnischer
Scharen zu einem recht gefährlichen Ex¬
periment machen würde. Und dieser Geist
wird zur Tat werden, wenn man es trotz
aller Warnungen wagen würde.
Seien auch wir in Ostpreußen einig
in diesenr Geiste. Wir wollen keinen Frie¬
den, der deutsches Land polnisch macht.
Die deutsche Hand sollte verdorren, die
einen solchen Frieden unterschreibt. Und
das schöne ostpreußische Land, dieser ur¬
alte, felsenfeste, sturmerprobte und doch
letzte Damm einer Kultur, die nicht nur,
was deutscher Zunge ist, sondern über¬
haupt was Menschenantlitz trägt, zur
Ehre gereichen sollte, dieser stets opfer¬
willige Vorposten der europäischem Zivi¬
lisation soll vom Mutterlande abgeschnürt
werden. Das soll geschehen gerade in dem
Augenblicke, in dem das gemeinsame euro¬
päische Kulturwerk von einer neuen un¬
geheuren Gescchr bedroht wird, von der
Gefahr durch den Drachen des Kooialis-
rrins asiaticnis verschlungen zu werden.
In dieser tragischen Stunde seiner
an Zeiten der Nöte und Opfer, aber auch
an Zeiten des erhebenden Ruhmes über¬
reichen Geschichte blickt das deutsche Volk
geschlossen und entschlossen ins Antlitz
seiner Feinde und in die Zukunft. Das
jetzige Geschlecht wird sich seiner Vor¬
ahnen würdig zeigen, jener Menschen ger¬
manischen Blutes, die die frech geworde¬
nen Römer bezwangen, die den mongo¬
lischen Horden die Stirn boten, die die
Leiden des dreißigjährigen Krieges über¬
wanden, und die noch vor einem Jahr¬
hundert aus dem Nichts der napoleo¬
nischen Herrschaft schon einmal die über¬
menschliche Probe der Selbstbefreiung vor
der Welt und der Geschichte geliefert haben.
Nein, Borposten wollen wir bleiben,,
aber verlorener Posten wollen wir nicht
werden! Und deshalb bitte ich Sie, mir
mir in den Ruf einzustimmen: „Das
einige, freie deutsche Vaterland, es lebe
hoch!"
Hoch! Hoch! Viele tausend Stimmen
gaben begeistert Antwort.
Oberpräsident v. W a t o et i, den eben¬
falls eine mehrtausendköpfige Menge um¬
stand, führte folgendes aus:
In SchicksalstWen, wie solche die
deutsche Ostmark jetzt durchlebt, soll man
immer bestrebt sein, die Gefahren, die uns
'bedrohen, nicht als Einzelerscheinungen,
sondern als Teile des ganzen Wclt-
igesichehens zu !betyachten. Ostpreußen's
deutsches Schicksal ist von jeher von den
Beziehungen zu dem uns an einer langen,
ungeschützten Landgrenze berührenden
Slawentum abhängig gewesen. Das rus¬
sische Riesenreich war nach der Einver¬
leibung des größten Teils von Polen zur
Vormacht des gesamten Slawentums ge¬
worden. Wie jede im Innern unter dein
starken Druck eines absoluten Herrschers
stehende Großmacht wurde Rußland auf
den Weg ständiger Ausdehnung! seine?
Riesengebietes, ständiger Unterwerfung
neuer Stämme gedrängt. Rußland war,
ebenso wie in etwas anderer Art Eng¬
land und Frankreich, ein Staat imperia¬
listischer, auf gewaltsame Eroberung auf¬
gehender Expansionspolitik, also der Po-
litik, die das im Frieden jahrelang vor¬
bereitete, und im Kriege bis zur Voll¬
endung aufgebaute Lügensystem unserer
Feinde dem deutschen Volke wahrheits¬
widrig angedichtet hatte.
Unser deutsches, vor allem unser ost¬
preußisches Schicksal, hing davon ab,
die russische Ausdehnungssucht sich >mel?r
nach Europa gegen uns und unsere öst¬
reichischen Verbündeten oder nach Asien
gegen Indien und Japan richtete. Der
meisterhafte Schachzug Englands, die
russische Eroberungslust nach Nordosten >it
das Interessengebiet Japans abzulenken,
und dort durch Japan Heer und Flotte
gründlich niederschlagen zu lassen, lenkte
die russische Ausdchnungssucht endgültig
nach Westen. Der Gedanke des Pcmslawis-
nius, der Bildung eines vom russischen
Zarentum geführten, olle mit den Sla¬
wen im Gemenge lebenden fremden Volks¬
teile rücksichtslos unterdrückenden sla¬
wischen Weltreiches verbreitete sich durch
russische Schlauheit und den russischen
Rubel über ganz Osteuropa. Im Bunde
mit den rachedürstenden französischen
Imperialisten, und wohlwollend unter¬
stützt durch die machtlüsternen, klugen
Weltpolitiker in London, rüstete sich das
russische Zarentum zum Entscheidungs¬
kampf. Mit Bangigkeit sahen wir Ost¬
preußen, wie Rußland mit französischem
Gelde und unter französischer Aufsicht im¬
mer neue Wasserplätze und neneKriegs-
eisenbahnen an unsere Grenze trug, wie
es immer gewaltiger, immer besser aus¬
gerüstete Heeresmassen an unserer Grenze
versammelte. Wir ahnten, daß es zum
Entscheidungskampf um unsere Existenz
kommen würde. Der Krieg kam. In
vierjährigen Heldentum des Kämpfens
und Leidens haben wir die slawischen
Völker vom Joche des Zarentnms be¬
reit, bis wir der Übermacht unserer
Feinde erlagen. Nach jener Befreiung ist
°on uns der Versuch gemacht worden, mit
der nach Westen hinneigenden Minderheit
pes Polenvolkes ein Bündnis anzubah¬
nen, das uns vom Alp des Pcmslawis-
Mus befreien sollte. Der Versuch ist ge¬
scheitert. Er mußte scheitern, weil er auf
den Gedanken der Dankbarkeit der Völker
gegründet war und weil nur deutsche
Harmlosigkeit im Weltgeschehen auf die
Danruci^jr der Völker bauen konnte. Alle
schönen Worte vom Kampf nicht gegen das
Zutsche Bol^ sondern nur gegen die deut-
icheu Herrscher, vom Selbstbestimmungs-
recht der Völker, mit denen die Führer
"Nserer Feinde während des Krieges un-
^e innere Geschlossenheit zu zermürben
gewußt haben, sind vergessen, nachdem ihr
^weck erreicht ist. Glatte Macht- und
Serrschbegier. rücksichtsloseUnterdrückungs-
'"ehe gegen alles, was deutsch ist. tritt
"us entgegen. Das Deutschtum unserer
Ostmark >vor allem soll zerstückelt, unter¬
worfen und vernichtet werden. Gerade
wir in Ostpreußen müssen, wenn wir als
Glied des Deutschen Reiches lebensfähig
bleiben wollen, auf ein gut nachbarliches
Verhältnis ebenso zu Rußland, Litauen
und dem Baltenlande, wie auch zu dem
durch uns zur Selbständigkeit gelangren
Polnischen Staatswesen entscheidenoen
Wert legen. Die augenblickliche Gemein¬
samkeit unserer Front mit den Polen
gegen den russischen Bolschewismus sollte
verständigerweise ein Symbol der in dein
beiderseitigen Interesse liegenden guten
Nachbarschaft sein. Wir müssen unserer¬
seits alles daran setzen, um durch Ent¬
gegenkommen zu erreichen, daß die Einsicht
auch in Polen über die jetzt alles be¬
herrschende Glut nationaler Leidenschaft
einmal siegt.
Aber gerave weil ein künftiges, gut¬
nachbarliches Verhältnis auch unser Le¬
bensbedürfnis ist, müssen wir jene Ent¬
scheidung verhindern, die zurzeit irre¬
geleitete polnische Ländergier fordert und
die das Verhältnis zwischen! Dentschen
und Polen für ewig vergiften müßte.
Die Absplitterung von Teilen unserer
Provinz, die trotz fremder Muttersprache
eines Teiles ihrer Bewohner seit Jahr¬
hunderten deutsch gewesen sind, die deutsch
fühlen und erklärt haben, deutsch bleiben
zu wollen fiir Kinder und Kindeskinder,
die Abschneidung Ostpreußens vom Reich
durch Polnischwerden Danzigs und eines
Gebiets von dort bis nach Posen, die
Unterwerfung von Hunderttausenden, ja
von Millionen Deutscher unter polnische
Herrschaft, alles das wären Eingriffe, die
unseren Lebensnerv treffen/ unsere Le¬
bensfähigkeit .vernichten und denen wir
uns deshalb mit der letzten Kraft ein¬
mütig und geschlossen entgegenstellen
müssen und werden. Unsere westpreu-
- ßischen Brüder haben den Entschluß be¬
kundet, ihr Letztes daran zu setzen, um
dies Unheil von sich abzuwenden. In
dieser Stunde vereinigen sich Ostpreußen
in allen Kreisen und Gemeinden, Männer
und Frauen aller Parteien und aller Be-
rechtS der Völker, das vom Präsidenten
Wilson als Grundbedingung für den
Frieden verkündet worden war. 4^ Jahre
lang ist von der Entente dieses Selbst¬
bestimmungsrecht der Welt als Kriegsziel
verkündet worden. Allein im Vertrauen
auf dieses Recht hat das deutsche Volk sich
zum Frieden bereit erklärt. Durch die
Abtretung des deutschen Danzig und der
Weichselnfer oder mich nur durch die
Schaffung, einer polnischen Etappenstraße
würde Ostpreußen vom Deutschen Reiche
abgeschnitten und dem russischen Bolsche¬
wismus in die Arme getrieben werden.
Das erste Stück der alten zivilisierten
Welt würde damit der russischen Noten
Armee zum Opfer fallen.
rufsstände zur Kundgabe des gleichen
unverbrüchlichen Entschlusses. Unsere
Kundgebung soll den Männern, die für die
Zukunft Deutschlands in dieser Schick¬
salsstunde verantwortlich sind, die Ent¬
schlußkraft stärken. Sie soll über die Gren¬
zen drimgien zu den Machthabern und zu.
den Völkern unserer Feinde und der
Polen selbst, und soll ihnen klar machen,
daß sie Verderben säen für alle Zukunft,
wenn sie die nationale Existenz von Mil¬
lionen Deutscher vernichten wollen. Sie
sollen empfinden, daß die Deutschen in
der Ostmark auch nach allem Furchtbaren,
was sie gelitten haben, entschlossen sind,
lieber unterzugehen als in ewiger Knecht¬
schaft zu leben.
Dieser Riesenerfolg Lenins und Trotzkis,
der den Untergang unserer Heimat be¬
deutete, würde dem Gedanken der bolsche¬
wistischen Weltrevolution in erhöhter
Weise vorwärts helfen und damit alle
zivilisierten Staaten der Erde in den
Grundfesten ihrer Kultur erschüiteni.
Ein Jubelruf waren die diese Rede
endendmachenden Hochrufe.
Ähnlich diesen Reden klangen auch
die der anderen Herren aus; ihnen allen
aber war das eine gemein: schmerz¬
bitterster Groll, der, herausempfunden
aus me>esse erschreckten Herzen, brennen¬
den Zorn in die Lager all derer wirft, die
einem bis in möglichste Not geratenen
Volke auch noch das Letzte, die allschützende
Heimat, nehmen wollen. Mütter, die um
die Zukunft ihres Hauses und der ihrer
Kinder bebten, hörte man, aufgehend in
den Reden, verhalten schluchzen. — Und
wieder war's die rechte Faust, die wie um
einen Halt suchend, sich zuckend ballte! —
Ostpreußen fordert daher im eigenen
und allgemeinen Interesse aller Kultur-
staaten der Erde, daß Danzig und das
Weichseltal bei Deutschland verbleiben,
und daß Ostpreußen niemals zum Gegen¬
stand polnischer Annektionsfordernngen ge¬
macht werde. Deshalb Hände weg von
Ostpreußen. Ostpreußen ist deutsch durch
700jährige Kultur und soll es auch blei¬
ben. Eine Besitznahme westpreußisD'''
Gebietsteile oder eine Abtretung ostpreu¬
ßischen Bodens wäre ein maßloser Ein¬
griff in die Reichseinheit, geigen den wu'
ebenso scharf Verwahrung einlegen, Wie
gegen eine Landung polnischer TruPpeN'
Als Wiuensatt, der hier im In¬
nersten empörten versammelten Menschen¬
massen, wurde dann von allen Rednern
folgende Entschließung verlesen, die unter
Zustimmung der Protestversammlung an
Wilson und die Regierungen und Völker
aller zivilisierten Staaten der Welt mit¬
tels Funkspruch übermittelt wurde:
Auch die Anhänger der Unabhängiges
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
hatten im Gewerkschaftshause eine Ver¬
sammlung anberaumt, die sehr gut besucht
war. Deren Protest fand seine Spi^
ebenfalls in der Auflehnung gegen p^"
mische Anmaßung, führte dann allerdings
noch ans, daß, um den Ententeimperialis-
mus erfolgreich abdämmen und ihn letzten E»de
ganz vernichten zu können, ein Bündnis >n>
dem Sowjet-Nußland Verbindung wäre.
An den Präsidenten Wilson und die
Regierungen und Völker aller zivilisierten
Regierungen und Völker der Welt!
Die Entente beabsichtigt den Polen
das zu 97 Prozent deutsche Danzig und einen
IM Kilometer breiten Streifen beider¬
seits der Weichsel von Thorn bis Dan¬
zig zu überlassen. Dies bedeutet wiederum
grobe Mißachtung des Selbstbestimmungs-
Die Provinz Posen umhabe keinerlei wirtschaftlich abgeschlossene Gebietsein-
heiten mit unzweifelhaft polnischer Vvlksmchrheit, Dank diesem Ergebnis einer
unbestechlichen Statistik müßten die polnischen Loslösungsbestrcbungen in den be¬
kannten Forderungen der Wilsonschen Punkte keine Stütze finden. "Polnische Ver¬
drehungskunst versucht nicht allein, an dieser Tatsache zu deuteln, sondern versteift
sich des weiteren, ebenso unter Berufung auf den Geist der Wilsonschen Thesen,
auf die Gründe historischer Gerechtigkeit: Weil die Provinz Posen jahrhunderte.-
wng zu dem polnischen Reiche gehört habe, verlange nach ihrer Meinung der
geschichtliche Gerechtigkeitssinn die völlige Wiederherstellung der Grenzen von 1772.
Der Appell an historische Ansprüche ist bei den nach Beendigung des Welt¬
krieges neu entstandenen Staaten sehr beliebt. Er erfreut sich desgleichen bei der
feindlichen und neutralen öffentlichen Meinung ausgesprochener Sympathien,
weil er auf den ersten Blick ebenso einleuchtend wie gerechtfertigt erscheint. Bei
näherer Untersuchung ergibt sich jedoch die Oberflächlichkeit einer derartigen An¬
schauung, sobald diese allein die Geschichtszahlen berücksichtigt, ohne den kultur¬
geschichtlichen Ursachen auf den Grund zu gehen, die sich innerhalb einer geschichl-
uchen und an sich unbestrittenen Zeitspanne begeben haben.
"
Zunächst gibt die Berufung auf .historische Grenzen an sich schon einen
lehr schwankenden Halt. Bei den wechselvollen Schicksalen, die wohl sämtliche
Lander im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben, ist es äußerst fragwürdig,
welches denn das geschichtliche Normaljahr sein soll, das die endgültigen Grenzen
eines Landes für ewige Zeiten festzulegen bestimmt ist. Jahreszahlen allein
Konnten hiernach schwerlich eine befriedigende Antwort geben. Was beispielsweise den
^etzedistrikt anbelangt, so wäre es eine heikle Sache, nur aus reiner Geschichtskenntnis
heraus zu entscheiden, ob diesesGebiet den germanischen Stämmen„vonNechts wegen"
Zukäme, weil sie zu Beginn unse,,er Zeitrechnung dort ansässig waren, oder den Polen,
Ac einige Jahrhunderte später die Germanen daraus verdrängten, oder etwa den
Sommern, die zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert ihre Herrschaft
sMweilig bis über den Südrand des Netzebruchs ausgedehnt hatten. Jede der
^er Parteien könnte schließlich nur das gleiche-Recht für sich in Anspruch nehmen,
o?s Recht des Eroberers, der heute doch so sehr verpönt ist — die Germanen
^elleicht noch ein stärkeres Recht, nämlich das des geschichtlichen Ureinwohners.
Der preußische Staat, der seit 1772 — unter Weglassung der kurzen napoleonischen
Episode — die Reihe der Besitzer schließt, könnte in diesem Falle sich sogar als
Rechtsnachfolger der ersten und alleinigen rechtmüßigen Eigentümer betrachten.
Die heutigen völkerrechtlichen Anschauungen, soweit sie unparteiisch und
vorurteilsfrei sind, kennen aber besser fundierte Rechte, als die Berufung auf
geschichtliche Besitzergreifungen, die, wie aus obigem hervorgeht, jeder Interessent
nach seinen Ansprüchen umzumodeln und auszulegen imstande ist, nämlich die
Rechte, die einem Volke die von ihm geleistete wirtschaftliche und kulturelle
Erschließung eines Landes gibt, das also, was die französische Ausdrucksweise als
„friedliche Durchdringung" im Gegensatz zur „nackten Eroberung" benennt. Nicht
die Nation hat danach Anspruch auf ein Land und ein Herrschaftsrecht auf dessen
Bewohner, die erobert und ihren Besitz festhält, sondern die durch emsige wirt¬
schaftliche und kulturelle Arbeit das Land besiedelt und erschließt, ihm den Stempel
ihres Geistes aufdrückt und somit auf dem Wege der allgemeinen Entwicklung der
Menschheit fortschreitet. Legt man diesen Maßstab, den Engländer und Franzosen,
sobald es sich um ihre Interessen handelt, ausdrücklich als berechtigt anerkennen,
auch in unserem Falle an, so ergibt sich ein Bild, das sowohl dem deutschen
Ansprüche, wie der Forderung historischer Gerechtigkeit Genüge tut.
Deutsche Ansiedler sind es, die im Jahre 1346, gerufen von dem polnischen
König Kasimir, die Stadt Bromberg — bis dahin bestand daselbst nur eine
Burg — von Grund auf erbaut, besiedelt und zur Blüte gebracht haben. Deutsche
Sitte und deutsches Recht wurde seit dieser Zeit im Netzedistrikt heimisch und setzte
sich an die Stelle roher barbarisch-polnischer Unkultur. Deutsche Arbeit und
Tüchtigkeit ferner ermöglichten seit 1772 einen abermaligen Aufschwung dieses
durch polnische Mißwirtschaft wiederum an den Rand wirtschaftlichen und kulturellen
Zusammenbruchs gelangten Gebietes.
Deutscher Geist hat das Posener Land befruchtet; seine Segnungen sind
dem polnischen Volke in gleichem Maße zugute gekommen und haben es vor
weiterer Versumpfung bewahrt.
Was will gegen diese unumstößliche Wahrheit die Berufung auf die
„historischen Grenzen" besagen I
Unser ist das Land, denn unser war die Arbeit! '
In anschaulicher Weise wird auf der beiliegenden Karte nachgewiesen, daß
eine unbestreitbare polnische Bevölkerung in keinem einzigen der 25 Landkreise
Westpreußens vorhanden ist, denn wenn selbst der ungünstigste Kreis Löbau noch
21 Prozent Deutsche, also über ein Fünftel der Bevölkerung enthält, so kann selbst
er unmöglich als unbestreitbar (indisputably) polnisch, wie es in den 14 Artikeln
Wilsons gefordert wird, angesprochen werden. Außer in ihm betragen nur noch
in zwei Kreisen, Karthaus und Pr. Stargard, die Deutschen weniger als 30 Prozent,
aber mehr als ein Viertel der ganzen Bevölkerung. Zwischen 30 und 35 Prozent haben
drei Kreise, Strasburg, Tuchel und Putzig. Alle anderen zählen über 40 Prozent,
und zwar sechs zwischen 42 und 49 und nicht weniger als dreizehn zwischen 50
und 100 Prozent. In den Kreisen der vier großen, über 20000 Einwohner
zählenden Städte vollends ist die deutsche Mehrheit ganz gewaltig. Sie beträgt
in Elbing 100 Prozent, in Danzig 97 Prozent, in Graudenz 85 Prozent und
selbst in dem nahe an der polnischen Grenze gelegenen Thorn noch 66 Prozent.
Es ist daher ganz selbstverständlich, daß für Westpreußen eine Volksabstimmung
überhaupt nicht in Frage kommt. Denn abgesehen davon, daß die deutsche
Bevölkerung in ihrer Gesamtheit fast zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht,
nämlich aus rund 1700000 Einwohner rund 1100000, ist auch ihre Verteilung über
das ganze Land hin so gleichmäßig, daß in siebzehn von neunundzwanzig Kreisen
eine deutsche Mehrheit vorhanden ist, in sechs eine starke Minderheit von 42 b:s
44 Prozent, und daß die drei einzigen Kreise, in denen die deutsche Bevölkerung
weniger als 30 Prozent beträgt, wie vereinzelte Inseln aus dem Meere auftauchen-
Aber auch die drei wichtigsten Behauptungen der Polen werden schlagend
widerlegt, einmal daß Danzig auf slawischen Boden liege, eigentlich nur eine
„germanisierte" Slawenstadt und rings von Slawen umgeben sei. Und dann die
ebenso unwahre Behauptung, das; die Polen das Meer in geschlossenem Bestände
erreichen, und endlich daß die Weichsel fast durchweg durch polnisches Land fließe
und daher zu Polen gehöre. Zunächst leuchtet ein, daß eine Stadt wie Danzig.
die selbst 97 Prozent Deutsche und nur höchstens 2 bis 3 Prozent Polen und
Kaschuben enthalt und die nach allen Seiten hin von einer ganz überwiegend
deuischen Bevölkerung umgeben ist, nur in einem Gehirne, das die Wahrheit nicht
erkennen will, sich als slawisch spiegeln kann. Denn sowohl der Kreis Danzig-Höhe
und Niederung als der von Dirschau, die um Danzig herumliegen, zeigen
gewaltige deutsche Mehrheiten von 65 bis 99 Prozent.
Ebenso unwahr ist aber auch die zweite Behauptung. Denn nirgend
erreichen die Slawen das Meer im geschlossenen Bestände. Wie die Karte zeigt,
ziehen sich drei breite Brücken deutschen Landes und Volkes von Westen nach
Osten und trennen die südlich gelegenen Polen von der See und den einzigen
am Meer gelegenen kaschublschen Kreis Putzig von den andern.
Daß die Weichsel von ihrem Eintritts in Westpreußen an bis zur See
überwiegend durch deutsches Land fließt, lehrt ein flüchtiger Blick auf die Karte.
Also auch hier stehen wie in allen übrigen Punkten die polnischen
Behauptungen auf sehr schwachen Füßen und können für sich nicht die geringste
Berechtigung in Anspruch nehmen.
Wir beginnen nachstehend den Abdruck einer vom Deutschen
Volksrot Bromberg herausgegebenen Denkschrift aus der Feder Professor
Karl Adameks.
Besitztitel Preußens. Zu den heute von
den Polen als altes polnisches Staatsgebiet in
Anspruch genommenen Landesteilen Preußens
gehört auch der Netzedistrikt. Er bildete einen
Teil des Gebietes, das Friedrich der Zweite
in der ersten polnischen Teilung erwarb und
wurde im Osten begrenzt durch die Weichsel
von südlich Schulitz bis südlich Culm. Von
dort zog seine Grenze in flachem, nach Süden
geöffnetem Bogen bis zur pommerschen
Grenze nördlich Jastrow, folgte dann der
pommerschen und brnndenburgischen Grenze
bis südlich der Dragemündung und schloß
im Süden ein die Stadtteile von Filehne,
Nadolin, Vudzin, Margouin, Exin, Zum,
Gousawa, Mogilno, Gembitz, Strelno und
Argenau. Die Frage ist, mit welchem Recht
nehmen die Polen heute dies Gebiet für
sich in Anspruch bzw. mit welchem Recht
wird dieser Anspruch von deutscher Seite
bestritien. Es handelt sich zunächst um eine
staatsrechtliche Frage. Das Gebiet ist bis
1772 ein Bestandteil des Königreichs Polen
gewesen. Als damals der zu locker gefügte
Polnische Staat dem russischen Ausdehnung?"-
bestreben keinen Widerstand entgegenzusetzen
vermochte, griff auch Friedrich der Zweite
zu, um durch die Besitzergreifung polnischen
Gebietes die notwendige Verbindung zwischen
seinen Stammlanden und Ostpreußen her¬
zustelle». Im Herbst 1772 schließt er einen
Vertrag mit Nußland, in dein ihm das
später Westpreußen genannte Gebiet, das
alte Pommerellen, zugesprochen wird und
weiter südlich das Gebiet bis zur Netze.
Tntsächlich griff Friedrich nach Süden über
die Netze hinaus. Aus dem Vertrage mit
Nußland konnte Preußen naturgemäß keinen
rechtsgültigen Besitztilel herleiten. Ein solcher
wird aber für Preußen geschaffen durch die
am 1. September 1773 erfolgende Genehmi¬
gung der Abtretung Westpreußens und des
Netzedistrikts an den König von Preußen.
Danach wird der Netzedistritt nicht nur tat¬
sächlich, sondern auch staatsrechtlich ein Be¬
standteil des Königreichs Preußen. Allerdings
fällt unter den so erworbenen Besitztilel nicht
der südlichste Teil des Gebietes, ein Stück
der Woiwodschaft Inowraclaw, das Friedrich
erst 1774 besetzt und für das er erst am
22. Mai 1776 die Huldigung empfängt.
Auch dieser Besitz ist aber von Polen später
nicht angefochten worden. Für den größten,
südlichen Teil des Netzedistrikts gibt nun
Preußen im Tilsiter Frieden sein Besitzrecht
wieder auf. Er fällt mit Süd- und Reu¬
ostpreußen an das neu gebildete Großherzog¬
tum Warschau. Bei der Neuordnung der
europäischen Verhältnisse durch den Wiener
Kongreß wünscht Preußen die vorzugsweise
Von Polen bevölkerten Teile seines früheren
Polnischen Besitzes nicht zurückzunehmen und
fordert nur den Netzedistrikt als überwiegend
deutsch bevölkertes Gebiet. Es sollte heute
nicht unerwähnt bleiben, daß eS damals
gerade England und Frankreich sind, die,
um eine zu große Stärkung Rußlands be¬
sorgt, Preußen damals drängen, mehr Pol¬
nisches Gebiet zurückzunehmen. Im Oktober
1814 äußerte der englische Bevollmächtigte,
Lord Castlereagh, in einer Note, er begreife
nicht, warum Preußen sich nicht auf Kosten
eines Gegners schadlos halte, der nach den
Prinzipien des Völkerrechts die Gesamtheit
seiner politischen Rechte eingebüßt habe.
Der Franzose Tolleyrand meinte in einer
Note vom 19. Dezember 1314, die Polnische
Frage sei nur eine einfache Angelegenheit
der Teilung und Grenzfestsetzungen, die die
beteiligten Staaten unter sich abzumachen
hätten. Friedrich Wilhelm der Dritte gibt
schließlich widerwillig nach, und so kommt
bereits am 31. Dezember 1814 ein Beschluß
sämtlicher Großmächte zustande, Polen unter
Osterreich, Preußen und Nußland zu teilen.
In der Kongreß-Hauptakte vom 9. Juli 181S
wird dann der 1807 abgetretene Teil des
alten Netzedistrikts und das übrige Gebiet
der heutigen Provinz Posen zu „voll¬
kommenem Eigentum" zugesprochen. Es
handelte sich also nicht, wie von polnischer
Seite später behauptet wurde, um die
Schaffung einer Personalunion, sondern um
<une völlige Einverleibung in das „Eigen¬
tum" des Königs, d. h. in den preußischen
Staat, denn nach der Auffassung der ab¬
solutistischen Zeit, die auf dem Wiener
Kongreß noch rein vertreten ist, ist das
Staatsgebiet Eigentum des Fürsten. Der
König hat allerdings später den Titel eines
„Großherzogs von Posen" angenommen, das
konnte aber staatsrechtlich nichts anderes be¬
deuten, als die Führung des Herzogtitsls
Von Preußen oder des Titels des Grafen
von der Mark. Die Führung solcher Unter¬
titel hat bei den Preußischen Königen immer
nur historische Bedeutung gehabt. Auch daß
Friedrich Wilhelm in dem Fürsten Radziwill
einen Statthalter für Posen ernannte, hatte
keinen anderen Sinn als den eines freund¬
lichen Entgegenkommens ohne weitere Folge¬
rungen, denn neben den Statthalter wurde
ein Oberpräsident gesetzt und somit das neue
Gebiet ganz als Provinz des preußischen
Staates behandelt. Auch daß an den
Staatsgebäuden Posens der preußische Adler
den Weißen polnischen Adler im Biustschilde
trägt, ändert nichts daran. Das Wappen¬
zeichen ist eben der preußische Adler, und
der Polnische im Brustschild hat heraldisch
nur den Sinn, daß Polnisches Gebiet in
Preußisches einverleibt ist.
So ist die durch die Wiener^ Kongreß-
Hauptalte bestimmte Einverleibung tatsächlich
vollzogen und damit rechtskräftig geworden.
Auch der 1807 verloren gegangene Teil des
Netzedistrikts ist damit in aller Form des
gültigen Staatsrechtes aufs neue ein Be¬
standteil des Preußischen Staates geworden.
Auf zwei Titeln ruht mithin das Besitzrecht
Preußens am Netzedistrikt: für den kleineren
nördlichen Teil auf dem Beschluß des Pol¬
nischen Reichstages vom 1. September 1773,
für den größeren südlichen auf der Wiener
Kongreß-Hauptakte vom 9. Juli 1815. Beide
Beschlüsse sind ihrerzeit von allen Beteiligten
als rechtskräftig und rechtsverbindlich be¬
trachtet und von keiner befugten Seite an¬
gefochten worden. Die Bevölkerung des
Netzedistrikts hat beide Male die Huldigung
ohne Vorbehalt geleistet. Nach formalen
Recht kann mithin nur der preußische Staat
als Besitzer dieses Gebietes in Frage kommen.
(Fortsetzung folgt.)
In der Nummer 1/2 der Mitteilungen
brachten wir auf Seite 7 eine Karte der im
Waffenstillstandsvertrag vereinbarten De¬
markationslinie. Fälschlicherweise geht die
in der Karte eingezeichnete Demarkations¬
linie im Westen der Stadt Birnbaum vorbei.
Tatsächlich war ja auch zunächst festgesetzt
worden, daß die Stadt Birnbaum innerhalb
des polnischen Okkupationsgebietes liegen
soll. Es ist aber nachträglich den Be¬
mühungen des deutschen Kreisvolksrates
Birnbaum gelungen, durchzusetzen, daß die
Demarkationslinie nunmehr etwa acht Kilo¬
meter östlich der Stadt verläuft.
Fortschritte der Volksratsvewcgung. Die
Deutschen Volksräte marschieren I Es geht mit
Riesenschritten vorwärts. Unheildrohende Ge¬
fahr hat den nationalen Gedanken aufs neue
entfacht, das Deutschtum findet sich, schließt sich
zusammen. Noch gibt es kleine Reibungen mit
dem Parteiegoismus von einst, von rechts und
links wird die sich mächtig ausdehnende Volks¬
ratsbewegung von einzelnen durch die aus
alter Gewohnheit noch auf der Nase sitzende
Parteibrille argwöhnisch angesehen. Kleine
Geister sind es, sie haben mit ihrem Politischen
Krämerstnn noch nicht den Ernst der Zeit
und die aus diesem Ernst entsprungene
Pflicht jedes einzelnen, der sein Volkstum
liebt, begriffen. Und sein Volkstum liebt
jeder. Der Arbeiter und Bauer, der Kauf¬
mann und der Beamte, der Soldat und der
Handwerker ist vor allem anderen zuerst
Deutscher. In diesem Punkte sind sie eins.
In dieser Übereinstimmung sammelt sie zu
Schutz und Trutz gegen jede fremdstämmige
Einwirkung der Deutsche Volksrat.
Lassen wir den Eigenbrödlern und Kurz¬
sichtigen ruhig noch Zeit zur Überlegung,
die großen Massen ohne Unterschied der
Partei haben bereits erkannt, daß die Rettung
ihres Volkstums nur in den Deutschen Volks¬
räten liegt. Daher auch die große Aus¬
breitung des Volksratsgedankens in den
letzten Wochen. Aus der großen Zahl der
Neugründungen von Deutschen Volksräten
in den letztvergangenen Tagen verzeichnen
wir heute folgende:
In allen Orten herrscht freudige Be¬
geisterung für den Zusammenschluß, ein
Beweis, wie die Deutschen der Ostmark die
Sammlung in den Volksräten als Bedürfnis
der gegenwärtigen Stunde empfinde». Nun
ebenso freudig an die ArbeitI Verschließe
keinem das Tor, er sei nach Berus und
Partei wer er auch sein möge. Zieht die
Tüchtigen, die geistig regen aus allen Ständen
heran zur Arbeit für das deutsche Volkstum.
Der deutsche Volksrat Filchne sandte an
die Waffenstillstandskommisston, an das Aus¬
wärtige Amt und an das Eisenbahn¬
ministerium nachstehendes Telegramm:
Im Hinblick auf den demnächst zu er¬
wartenden Durchzug der Hallerschen Truppen
durch Kreuz hat sich im Kreise Filehne eine
große Beunruhigung verbreitet in der Be¬
fürchtung, die polnischen Truppen könnten
womöglich eigenmächtig den Bahnhof Kreuz
und damit die Ostbahn in ihre Gewalt
bringen oder die nahen polnischen auf¬
ständischen Truppen, die schon jetzt eine
Bedrohung unseres Kreises bilden, in ge¬
fährlicher Weise verstärken. Wir bitten daher
dringend, dafür zu sorgen, daß ein Unsere-
halt des Transportes aus irgend einem
Grunde in Kreuz unterbleibt und daß Sicher¬
heiten von der Entente verlangt werden
dahingehend, daß die Hallerschen Truppen
nichts gegen die unbesetzten Teile der Pro¬
vinz Posen unternehmen.
Lissa i. Posen, 9. April. Folgendes Tele-
gramm wurde an das Auswärtige Amt,
Berlin, Reichsregierung Weimar und an den
Abg. Beuermcmn (Nationalversammlung) ab¬
gesandt:
Die Deutschen West- und Südposens und
die auf treuer Wacht gegen die Polen
stehenden Heimatschutztruppen erheben in
vollster Einmütigkeit gegen die Absicht, die
polnischen Divisionen des Generals Haller,
in die viele aus der Provinz Posen ge¬
bürtige ehemals dem deutschen Heere ange¬
hörende und in französische Kriegsgefangen¬
schaft geratene Polen eingereiht sind, über
Lissa zu transportieren, den schärfsten Ein¬
spruch. Was für Danzig geltend gemacht
worden ist, gilt noch vielmehr für Lissa.
Die deutsche Bevölkerung, die ihr alles im
Kampfe gegen die Polen eingesetzt, sich noch
heute bis zu dieser Stunde gemeinsam mit dem
Heimatschutz trotz des Waffenstillstandes der
fortgesetzten Angriffe der Polen zu erwehren
hat und mit dem größten Mißtrauen der Über¬
führung der die Polenfront verstärkenden
polnischen Divisionen entgegensieht, ist aufs
tiefste beunruhigt über die Nachgiebigkeit
der Negierung der Entente gegenüber, ist
entrüstet über die Leichtfertigkeit des Ver¬
treters der Regierung, der ohne Kenntnis
oder Berücksichtigung der Stimmung des
bauschen Volkes und der Heimatschutztruppen,
Vereinbarungen mit der Entente trifft, die
uns alle, die wir uns preisgegeben glauben
müssen, zur Selbsthilfe treiben muß. In
letzter Stunde mahnen wir die Negierung,
die Vereinbarung, die polnischen Divisionen
Über Lissa zu überführen, rückgängig zu
Machen. Wir müssen sonst der Negierung die
Verantwortung für eine Volkserhebung, für
°u>en Widerstand der Garnisonen des Heimat-
ichutzes und für einen Kampf um Sein oder
Nichtsein zuschieben, deren Wucht und Folgen
undt einzudämmen und unabsehbar wären.
Beim Deutschen Volksrat in Lissa ging
folgendes Telegramm der Deutschen Waffen-
stillstandskommission ein:
Seitens der Entente ist volle Garantie
gegeben, daß die Hallerschen Divistonen nicht
innerhalb der Reichsgrenzen von 1914,
sondern nur zur Aufrechterhaltung der
Ordnung in den von Deutschland geräumten,
ehemals russischen Gebieten verwendet werden.
Schärfste Manneszucht der Truppen, Unter¬
lassung aller nationalistischen Kundgebungen
sind in jeder Beziehung gewährleistet.
Transporte werden von besonders ausge¬
wählten Begleitoffizieren der Entente be¬
gleitet, die für Durchführung der getroffenen
Vereinbarungen verantwortlich sind und mit
den deutschen Bahnhofskommandanten zu¬
sammenarbeiten. Im vaterländischen Interesse
liegt es, daß die Durchführung der Trans¬
porte glatt erfolgt und daß ihnen keinerlei
Hindernisse in den Weg gelegt werden, be¬
sonders auch jegliche Kundgebung von
deutscher Seite gegen die Polnischen Truppen
unterbleibt. Alles muß getan werden, da¬
mit die aus vaterländischer Gesinnung ge¬
borenen Befürchtungen nicht zu Schritten
führen, die die schwersten Folgen für den
deutschen Osten und unser Vaterland haben
könnten. Überall bitte ich zu verbreiten,
daß Befürchtungen für die Heimat aus An¬
laß der Transporte polnischer Truppen durch
Deutschland unbegründet sind und die
größte Zurückhaltung gegenüber diesen
Transporten vaterländische Pflicht ist.
Am 28. März d. I. sandte der Deutsche
Volksrat Fordo» an das Auswärtige Amt,
Ministerpräsident Scheidemann und an die
Waffenstillstandskommission folgenden Protest:
„Dadurch, daß Reichsminister Erzberger auf
der Versammlung am Sonntag, den 23. März,
keine ausreichende Antwort über das Schicksal
Posens geben konnte, ist die Unruhe der
Bevölkerung des Netzedistrikts erschrecklich
gesteigert worden. Die Neichsregierung sei
dessen gewiß, daß eine Preisgabe unserer
Heimat mit blutigem Kampfe beantwortet
werden wird. Haben wir vier Jahre hindurch
für unsere Heimat gekämpft, so kämpfen wir
weiter."
Darauf ging folgende Antwort ein:
Dem deutschen Volksrate Fordons und
der Umgegend spreche ich für die dem Aus¬
wärtigen Amt unter dem 23. März tele¬
graphisch übersandte Protestkundgebung gegen
die Gewaltpolitik unserer Feinde den ver¬
bindlichsten Dank aus. Ich bitte versichert
zu sein, daß die Rsichsregierung nach wie
vor ausschließlich die von ihr angenommenen
14 Punkte Wilsons als Grundlage für die
Friedensverhandlungen anerkannt und jeden
Versuch einer Vergewaltigung deutscher Inter¬
essen und deutscher Rechte mit aller Bestimmt¬
heit zurückweisen wird. Das Auswärtige Amt
begrüßt deshalb die in überwältigender Fülle
eingehenden Kundgebungen der Bevölkerung
mit besonderer Genugtuung, da unsere Unter¬
händler auf der Friedenskonferenz nur dann
Aussicht haben, ihrer schweren Aufgabe ge¬
recht zu werden, wenn sie den Nachweis zu
erbringen vermögen, daß die berechtigten
Ansprüche der Neichsregierung von dem un¬
erschütterlichen Willen des gesamten deutschen
Balles getragen werden.
Nach diesen Grundsätzen kann für den
von einer vorwiegend deutschen Bevölkerung
bewohnten Netzedistrikt keine Gefahr bestehen,
wofern im Falle der Anwendung des Selbst-
bestimmungsrechtes auf die Regelung der
territorialen Zugehörigkeitsfrage des Netze¬
distrikts jeder wahlberechtigte Deutsche, ob
Mann oder Frau, sich seiner Verantwortung
voll bewußt ist und sich durch keine Gründe
abhalten läßt, am Wahltage seiner Wahl-
Pflicht zu genügen. Es ist mit in erster
Linie Aufgabe der Behörden und Verbände
der lokalen Näteorganisationen und Berufs¬
vertretungen usw., die breiten Massen recht¬
zeitig darüber zu belehren, daß nicht weniger
als die Erhaltung ihrer völkischen, wirtschaft¬
lichen und kulturellen Existenz auf dem Spiele
steht. Auch muß der vielverbreiteten, durch¬
aus irrigen Auffassung entgegengetreten
werden, daß die Loslösung,vom Deutschen
Reiche für den betroffenen Bevölkerungsteil
eine Besserstellung im Bezug von Lebens¬
mitteln und Rohstoffen, sowie eine Befreiung
von den Kriegsschulden und Entschädigungs¬
verpflichtungen des alten Vaterlandes mit
Lobscns, den 28. März 1919. In einer
von etwa 300 Deutschen aus Lobsens und
Umgegend besuchten Versammlung wurde
folgende Kundgebung beschlossen und an das
Auswärtige Amt und Ministerium des Innern
gedrahtet:
ErzbergerS Haltung begründet ernste Be¬
fürchtung, daß Posener Land von Reichs-
regiermig Preisgegeben werden wird. Der
Netzedistrikt ist deutsch und muß deutsch
bleiben. Deutschland kann einen Frieden,
der uns zur Abtretung zwingt, nicht an¬
nehmen, denn Auslieferung der Ostmark an
Polen bedeutet Niederreißung des letzten
Dammes gegen den Bolschewismus. Wir
Deutschen von Lobsens und Umgegend wollen
uns nicht vergewaltigen lassen, sondern
fordern das Selbstbestimmungsrecht für uns.
Wir sind bereit, mit Gut und Blut für die
Erhaltung unserer Heimat einzutreten.
Deutscher Volksrat des Bezirks Lobsens.
An das Ministerium des Innern und an
die Oberste Heeresleitung:
„Erzberger will uns an Polen ver¬
schachern. Das lassen wir uns nicht gefallen.
Wir bleiben deutsch I Und wenn man unsere
Liebe zum deutschen Vaterlande nicht achtet,
werden wir aus eigener Kraft für Ehre und
Bestand unserer Heimat einzutreten wissen.
Auswärtiges Amt, Berlin.
Der Deutsche Bauernrnt des Kreises
Hohcnsalza Nord ist empört über ErzbergerS
Preisgabe der Provinz Posen. Wir erwarten,
daß die Regierung das von unseren Vor¬
fahren aus polnischer Unkultur zu deutscher
Kultur gebrachte und seit Jahrhunderten
gegen das Polentum zäh verteidigte Land
dem Deutschtum unbedingt erhält. Wir
sind entschlossen, in aller Zukunft unsere
Heimat mit Waffengewalt zu schützen.
Reichspräsident Ebert, Berlin.
Der schmähliche Verrat eines Neichs-
ministers am ostmärkischen Deutschtum hat
hier äußerste Erbitterung hervorgerufen.
Ä2 rein deutsche Ortschaften mit rund 60000
Einwohnern erwarten, daß die Negierung
mit allen Mitteln die Ostmark vor Polnischer
Sklaverei bewahrt. Wir sind Deutsche und
wollen Deutsche bleiben.
Reichsministerprästdent Scheidemann, .
Weimar.
Ungefähr 600 bei einer Versammlung
des deutscheu Volksrats anwesende deutsche
Frauen und Männer von Wisset und Um¬
gegend fordern die Reichsregierung dringend
auf, keinen Friedensvertrag zu unterzeichnen,
in dem auch nur ein Fuß deutschen Bodens
von unserem Vaterlande losgetrennt werden
sollte; desgleichen legen sie schärfsten Protest
ein gegen jede Landung polnischer Truppen
in Danzig, da sie darin die größte Gefahr
für die Ruhe und Sicherheit in Westpreuszen
und in der Provinz Posen erblicken.
Außerdem machen sie darauf aufmerk¬
sam, daß wenn die Regierung gegen den
Willen der deutschen Ostmärker deutsche
Lande an Polen abtreten würde, sie sich so¬
fort aus eigener Machtvollkommenheit gegen
«in Eindringen der Polen zur Wehr setzen
würden und eine Regierung, die so wenig
festen Willen, so wenig Nationalgefühl be¬
sitzt, als zu Recht bestehend, nicht mehr an¬
erkennen könnten.
Die deutschen BoMriite von Wisse! und
Umgegend.
Der Deutsche Volksrat Seehof sandte an
die Neichsregierung folgende Kundgebung:
Zweihundert deutsche Männer und Frauen
von Seehos, Kuman und Blugowo erheben
Lammenden Widerspruch dagegen, daß sie
wie das Vieh an Polen verschachert werden
oller. Als Pioniere der Ostmark stehen wir
treu hinter einer Regierung, die Naiional-
gefühl, festen Willen und deutsche Kraft be-
Weist, müßten uns aber von einer Negierung
abwenden, die uns Deutsche der Ostmark
verkauft und verrät. — An die Waffen-
stillstandskommission ging ein ähnliches Tele¬
gramm.
Danzig-Langfuhr, den 29. März l919.
In gemeinsamer Abwehr polnischer Gefahr
fordern wir, daß die Ostmark dem Reiche
erhalten bleibe. Wir bestehen auf dem Selbst¬
bestimmungsrecht der Völker und werden
daher keinen Friedensvertrag anerkennen,
der über unseren Willen hinweggeht. West¬
preußen und der Netzedistrikt: up ewig
ungedeckt.
Wodek, 30. März 1919. Die neuge-
gründeten Bolksräte der Grünflicßniedernng,
der die Ortschaften Altendvrf, Bergbruch,
Bismarkstreu, Erika, Groß-Wodek, Grünlirch,
Grünthal, Grünweiler, Jarken, Jesuitenbruch,
Johannisdorf, Kempa, Klein-Wodek. Feu-
linden, Steinfurt, Waldeshausen, Waldesruh,
Weißenberg, Weisenau, mit jetzt bereits über
15V0 Mitgliedern angeschlossen sind, erklären,
daß sie rin Gut und Blut Schulter an
Schulter mit der hier stehenden neunten
Freiwilligen-Kompagnie Grenzschutz Ost für
das Deutschtum ihrer Heimat eintreten
werden. Lieber tot als Polnisch.
Reichsminister Scheidemann, Weimar.
Deutsche Vereinigung Kreuz und Um¬
gegend bedauert lebhaft gerüchtweise bevor¬
stehenden Rücktritt des Grafen Rantzau und
protestiert aufs schärfste gegen Ersetzung
durch Erzberger.
Es fand daher in unserer Stadt eine
imposante Versammlung statt, die mit der
entsprechenden Resolution, die Rückgabe
Danzigs fordernd, schloß. Nach der Ver¬
sammlung begab sich daS Volk dicht gedrängt
vor das Schloß, der Sitz der Alliierten-
Mission, um dort für die Sache Danzigs zu
demonstrieren. Am anderen Tage, am Montag
abend, wiederholte sich der Aufzug. Eine
vieltausendköpfige Menge versammelte sich auf
dem Alten Markt, um sich mit Standarten
und Fahnen unter Absingen von Liedern
nach dem Platz vor dem Schlosse zu begeben,
wo nach entsprechenden Ansprachen des Ab¬
geordneten Nowicki und des PfarrersLudwiczak
sich nicht endenwollende Hochrufe erhoben.
Darauf begab sich der Zug zum Mickiwicz-
denkmal, wo wieder Ansprachen und Hochrufe
erschollen, dann zog er durch die Alleen und
die Neue Straße zum Alten Markt, von wo
sich die Teilnehmer dieser Prächtigen und im¬
posanten Kundgebung nach Hause zerstreuten.
Überflüssig ist es hinzuzufügen, daß alles in
der musterhaftesten Ordnung verlief. Es
war auch keine deutsche Polizei da, die mit
ihrem hochmütigen und provozierenden Aus-
treten die Bevölkerung hätte Provozieren
können. Die Deutschen, die zufällig in die
Woge deS dicht gedrängt vorwärtsschreitenden
Volkes gerieten, unterhielten sich ruhig und
von keinem belästigt auf Deutsch. Es war
weder unsere Polizei da, noch die Volkswchr,
mit einem Wort niemand, der ex okticio die
Ordnung aufrecht erhielt. Die Bevölkerung
selbst sah auf Ordnung und bewahrte sie so
musterhaft, wie es sich für ein folgsames
und ruhiges Volk gehört.
Jetzt weiß wenigstens die Alliiertenmission
vollständig, welches der Standpunkt des Pol¬
nischen Volkes in der Sache Danzigs ist.
Auch die Vertreter der deutschen Regierung
daven ihn erfahren, die gerade zu der Zeit,
als der Zug vor das Schloß kam, mit ^der
Misston über die Demarkationslinie und mit
dieser Frage zusammenhängende Angelegen¬
heiten konferierten. Jeder, der Augen hatte,
konnte die Polnischen Forderungen mit großen
Wir geben nachstehend einige Polnische
Presseäußerungen zur Danziger Frage. Zu¬
nächst eine Auslassung aus der Zeit vor den
Verhandlungen in Spaa, die in ihrer Mischung
aus Geschichtsklitterung, Anmaßung und rüh¬
renden Unschuldsbeteuerungen ein schönes
Bild polnischer Sinnesart gibt.
Unter dem Zeichen Danzig. Mr ver¬
gangene Sonntag und die folgenden Tage
standen in ganz Polen unter dem Zeichen
Danzig.
Es gingen nämlich beunruhigende Ge¬
rüchte, daß für Polen die Wiederkehr Dan zigs,
das geraubt ist durch Preußen gegen alles
göttliche und menschliche Recht, zweifelhaft sei.
Es genügte das, um in ganz Polen die
allergrößte Sorge hervorzurufen um unsere
schöne Burg am Meer, die dasteht wie der
Schlüssel zu unserm Lande. Es genügt das,
um auch die Trägsten in Bewegung zu
bringen und das Gewissen des ganzen Volkes
zu elektrisieren.
Um den Gefühlen und Wünschen des
Volkes Ausdruck zu geben, erging im ganzen
Lande die Parole, den 9. März einer großen
Kundgebung zu weihen, die in einer deut¬
lichen und keinen Zweifel lassenden Weise der
Welt zeigen sollte, was alles das Polnische
Volk in der Sache Danzig von der Friedens¬
konferenz erhofft und was es kategorisch fordert.
Es fanden also an diesem Tage überall
große Versammlungen und Kundgebungs¬
aufzüge statt. Die Zeitungen weihten der
Sache Danzig eigene Nummern. Die
städtischen Räte und Korporationen aller Art
veröffentlichten entsprechende Aufrufe und
Resolutionen.
Und unser Landesteil ließ sich nicht durch
andere überholen. Posen, das in seinen
Mauern die große interalliierte Mission be¬
herbergt, benutzte umso eifriger dieMöglichkeit,
die Alliierten mit den Gefühlen und Wünschen
des Volkes bekannt zu machen.
Buchstaben auf umhergetragenen Tafeln lesen.
Und diese verkündeten, daß wir ein Polen
mit eigener Küste und mit Danzig wollen,
wo aus allen Polnischen Ländern Polen, ein
unteilbares und unabhängiges Polen entstehen
soll, wie es war und wie es sein muß, wenn
ein dauerhafter Frieden im Osten Europas
anbrechen soll.
„Stadt Danzig einst unser, wird unser
sein!" Ohne dies würde Polen wie ein
Haus ohne Riegel sein. Und vielmehr wie
ein Haus, das eine fremde Hand hält. Und
dazu eine feindliche Hand.
Danzig ist unser. Nicht allein deswegen,
daß es geographisch zu Polen gehört und
darauf angewiesen ist, nicht allein deswegen,
daß es für Polen durchaus und unabweisbar
notwendig ist, sondern vor allem deswegen,
daß wir ein Recht darauf haben, das kein
gewaltsamer Raub, kein Beschluß ändern und
vernichten kann.
Die Stadt entstand nach Polnischer Über¬
lieferung in der Frühzeit unserer Geschichte.
Erst im Jahre 1309 stahlen sie uns die
Kreuzritter und behielten sie anderthalb Jahr¬
hunderte, in schrecklicher Weise die dortige
Bevölkerung bedrückend. Sie ergab sich frei¬
willig, gutwillig und freudig dem Polnischen
Könige, und von da ab blieb Danzig drei
Jahrhunderte bei Polen. Und obgleich
Deutsche sie in beträchtlichem sehr vielmehr
Überwiegendem Maße bewohnten, wehrten sie
sich mit bewaffneter Hand gegen den König
°on Preußen, der bei der zweiten Teilung
unseres Vaterlandes in ihren unrechtmäßigen
besitz kam.
Es gehört sich daher, daß jetzt, wo nach
dem fürchterlichen Kriege ein Gerechtigkeits¬
friede kommen soll, der Friede wieder gut¬
machen muß auch die in der Vergangenheit
durch gekrönte Straßenräuber, die sich weder
^or Geld, noch vor den Menschen, noch vor
°u Flüchen ganzer Geschlechter fürchteten,
^geführten Schuftigkeiten, es gehört sich,
°aß den Urenkeln der damaligen Wortbrecher
"ud Diebe die unrechtmäßige Beute abge¬
nommen und dem rechtmäßigen Besitzer zu¬
rückgegeben wird. Wenn es anders kommen
Ki ^ uns aber nicht einen Augen-
nck ernsthaft in den Kopf will — wäre das
'ches anderes als die Legalisierung der Ge¬
walt und Räuberei, als der Anreiz zu ähn¬
lichen Taten in der Zukunft. ES wäre das
eine absolut und rücksichtslos unmoralische Tat
und durchaus gefährlich für diezukünftige fried¬
liche Entwickelung Europas. Denn kein Pole
könnte jemals auf Danzig verzichten, im
Gegenteil müßte Polen mit allen Kräften,
standhaft und andauernd, danach streben,
ein so wichtiges Eigentum wieder zu ge¬
winnen. Und es ist zu sehen, welches die
Früchte eines derartigen Strebens sind. Be¬
trachten wir sie eingehend. Dieser Krieg
entstand eigentlich als Folge der Vergewalti¬
gung der lebendigsten und ernstesten Rechte
einzelner Völker. Und selbst seine unmittel¬
bare Ursache steht vor solch einer Verge¬
waltigung. Wir wissen, daß er in Serbien
begann, dem beständig der Zugang zum
Meer verwehrt wurde, und das, wenn es
leben sollte, den Zugang erhalten mußte.
Kann es in der Welt irgend einen ver¬
ständigen Menschen geben, der glauben sollte,
daß Polen, das soviel größer ist, soviel vor¬
geschrittener und soviel mächtiger ist als
Serbien, sich vom Meer abschneiden lassen
würde? Daß es sich mit einem elenden
Weichselweg, mit einer internationalisierten
Eisenbahn und einem garantierten Vertrage,
den der hochmütige Deutsche früher oder
später für einen Fetzen Papier, den Schilling
nicht wert, erklärt, zufrieden geben wird?
Nein. Polen gibt sich damit nicht zufrieden
und kann sich damit nicht zufrieden geben.
Polen muß und wird einen freien und
sicheren Zugang zum Meer haben. Und
solchen gesicherten Zugang kann ihm nur eine
eigene Küste geben.
GeWitz. Danzig ist heute leider zu neun
zehnteln eine deutsche Stadt. Das Polnische
Element ist dort nur schwach vertreten. Das
bewirkte die schändliche deutsche Ausrottungs-
Politik. Aber erinnern wir uns, daß die
nächste Umgegend DcmzigS polnisch ist. Er¬
innern wir uns, daß die Deutschheit Dcmzigs
im staatsrechtlichen Sinne des Wortes künst¬
lich und unnatürlich ist.
Dafür, daß Danzig bei Deutschland
bleibt — und wie dies ohne Vergewaltigung
der Rechte der es umgebende« polnischen
Bevölkerung geschehen kann, sagen die Deut¬
schen nicht — erklären sich nur die Hakatisten.
Die verständige Danziger Bevölkerung, die
Danziger Kaufleute blasen unter dem Haka¬
tistischen Terror in dasselbe Horn. Möge
nur bis Friedenskonferenz uns Danzig zuer¬
kennen, und die Welt wird sich bald über¬
zeugen, daß die alten Polnischen Traditionen
neu aufleben. Und sie leben um so sicherer
und so früher auf, je früher sich die Dnnziger
überzeugen, daß sie bei der Vereinigung mit
den Polen ein gutes Geschäft machen und
nicht den mindesten Abbruch an ihrer Natio¬
nalität erleiden.
Wir Polen denken nicht daran, die Dan-
ziger zu bedrücken. Wir werden ihnen alles
geben, was ihnen gehört. Sprache, Kultur,
ncuioiiale und Selbstverwaltungsrechte werden
leine Veränderung erfahren. In Gottes
Ruinen mögen sie weiter Deutsche bleiben.
Kein Pole streckt die Hand nach fremdem
Gut ans, sei es moralisch, sei es materielles.
Aber mit Polen, mit dem Anschluß an Polen
müssen sie sich befreunden und werden sie sich
befreunden. Daß es so sein wird, dafür
liefert die Geschichte genügend Beispiele. Es
liefert sie auch die Gegenwart, wenn auch
nur ein Zeugnis der Vertreter der Deutschen
im Warschauer Reichstag.
So sehen wir mit jedem Gedanken in die
Zukunft.
Wir glauben nicht allein, daß Dnnzig
Polen zuerkannt wird, sondern wir glauben
auch, daß es sich in nicht zu langer Zeit mit
seinem Schickial zufrieden geben wird, und
wieder das werden wird, was es während
seiner ganzen langen polnischen Vergangen¬
heit war, eine der treuesten Städte unserer
ruhmreichen Republik.
„StadtDnnzig wird unser,wird wiederunser!"
Die polnische Presse zeigt sich' jetzt nach
dem Spaaer Abkommen nicht mehr ängstlich
bemüht, die Hoffnungen und Erwartungen
zu enthüllen, den der Polnische Imperialis¬
mus an die beabsichtigte Landung der Haller-
Armee in Danzig geknüpft hatte. Enttäuschung
und Wut, aber auch Ansporn zu weiterer
Hoffnungsfreudigkeit, sogar Hinweis auf
Selbsthilfe und versteckte Drohung spiegelt
sich in ihren Artikeln Wider. Aus allem
klingt das Leitmotiv: Die Haller-Armee
sollte Danzig polnisch werden lassen, es ist
vorderhand nicht gelungen, doch noch ist
keineswegs alle Hoffnung Vorbeil
Am zuversichtlichsten ist dabei „Goniec
Wielkopolski" (Posen) vom S. d. M.: „Noch
etwas Geduld, denn unsere Angelegenheit
ist bereits gewonnen. Der größte Teil der
Mächte ist auf unserer Seite und auch unser
gutes Recht." (Das erste Argument scheint
das stärkere zu seinl) In Ur. 82 vom
8. d. M. hofft dasselbe Blatt, daß die
inneren Schwierigkeiten Dentschland außer¬
standsetzen werden, den Transport der Haller-
Armee quer durch das Land zu bewerkstelligen.
Dann muß die Armee doch über Danzig
kommen. Die Zeitung fährt fort: „Übrigens
— d. h. wenn letzterer Fall Wider Erwarten
nicht eintreten sollte — ist die Sache Danzigs,
obwohl die Deutschen triumphieren, daß es
deutsch ist und bleiben muß, noch keineswegs
erledigt — diese Frage wird durch den
Friedensvertrag mit oder ohne die Deutschen
entschieden werden!"
Der „Wielkopolanin" in Posen — Ur. 32
vom 8. d. M. — findet mit dem vorläufigen
Verzicht aus die Landung in Dnnzig auch
das polnische Besitzrecht ernstlich bedroht:
„Es bedeutet zwar nicht, daß die An¬
gelegenheit Danzigs endgültig zu unseren
Ungunsten entschieden ist, man darf sich aber
nicht täuschen, daß Danzig für uns nicht nur
in ernster, sondern sogar in sehr ernster
Weise bedroht ist!"
Interessant ist die folgende Schluß-
bemerkung des Blattes auch in einer anderen
Beziehung:
„Weiterhin ist das eine diplomatische
Niederlage Frankreichs. . . Schließlich zeigt
es sich, daß die Politik des polnischen Obersten
Volksrates eine Politik der Täuschungen
gewesen ist. Der politische Instinkt des
Volkes erfaßt die Lage besser als die opti¬
mistische und dabei unentschlossene Politik
deS Obersten polnischen Volksratcs. . -I
"
der Danziger Angelegenheit, der ein Erfolg
der deutschen Diplomaten sei und die öffent¬
liche Meinung in Polen ernstlich beunruhige-
Die Armee Haller komme zwar doch nach
Polen, doch müsse die Negierung ihre Wach"
sanken verdoppeln. Wie das Blatt dies
meint, geht aus einem Leitartikel in der
Ur. 81 hervor, der in nicht mißzuverstehen¬
der Weise „Das letzte Argument" über¬
schrieben ist. Ultimi r-rtio, der Appell an
die Waffen, „nichtsdestoweniger müssen wir
uns die ewige Wahrheit vor Augen halten,
daß nur in eigener Kraft und in dem Bewußt¬
sein, sich die Bedingungen eines Daseins
auszukämpfen, daß sich mit unseren Bedürf¬
nissen vereinbaren laßt, die Hauptunterlagen
unserer staatlichen und nationalen Zukunft
enthalten sind".
Die Krönung des ganzen bildet der in
Ur. 82 des „Gonice Wielkopvlski" vom 3. d. M.
enthaltene Aufruf des Kommissariats des
Obersten Polnischen Volksrates, der zu der
Lösung der Danziger Frage Stellung nimmt.
Über das Schicksal Danzigs sei damit noch
nicht entschieden. „Nicht nur unsere histo¬
rischen Rechte sprechen für uns. nicht nur
der unerschütterliche Wille deS Volkes, sondern
auch der bisher <?) starke Glaube an unsere
Verbündeten, mit denen vor einer Woche
der Landtag in Warschau einstimmig einen
Bund auf Leben und Tod eingegangen ist."
Die Hauptsache bleibe zunächst, daß die so
dringend benötigten Truppen des Generals
Haller kommen. Danzig müsse auf jeden
Fall polnisch werden. „Hoch die Herzen,
denn es sollen die Truppen Hallers kommenI"
Demission Lloyd Georges. Warschau.
lP- N. T,) Der gestrige „Przeshad Wiec-
Zoray" läßt sich aus Paris von seinem
eigenen Korrespondenten berichten:
General Haller, wie ich aus vollständig
authentischer Quelle erfahre, ist stark unzu¬
frieden mit dem Beschluß, daß seine Truppen
"icht über Danzig nach Polen reisen sollen.
Die ganze französische Presse ohne Ausnahme,
wirst den alliierten Regierungen die Ver¬
handlungen in Spaci vor und sieht darin
d°n Beweis augenscheinlicher Schwachheit
Entente. Nicht anders verhält sich die
°"glisch«> Presse, die außerdem den Minister¬
präsidenten Englands, Lloyd George, sehr
>lark angreift. Lloyd George wird gezwungen
werden, sein Abschiedsgesuch einzureichen und
Zurückzutreten.
Die Pariser Bevölkerung hat Herrn Pa-
derewski ohne Unterschied der Partei und der
Stände als den Chef der Polnischen Re¬
gierung mit nie dagewesenen Enthusiasmus
begrüßt.
Unter der Überschrift „Der Stand der
polnischen Frage" bringt die Zeitung ver¬
schiedene Pressestimmen. Darunter schreibt
sie u. a.:
Oberst Tonsson schreibt im „Petit Jour¬
nal" in Sachen Danzigs: Ein großer Schritt
vorwärts wird in den Tagen gemacht werden,
in welchen die Friedenskonferenz endlich
verstanden haben wird, daß es unmöglich
ist, nach dem Nativnalitätsnprinzip in dem
Teil Europas, welcher von gemischter Be¬
völkerung bewohnt wird, Grenzen zu be¬
stimmen, und daß es ihre Pflicht ist, ein
starkes Polen zu schaffen.
In Sachen Danzigs gibt die Zeitung
verschiedene Pressestimmen an und sagt u. a.
zum Schlüsse: „Man muß noch auf einen
Satz aufmerksam machen, der sich in der
französischen Note des Generals Undank vom
28. März an Erzbergerchefindet. Man spricht
dort von der Genehmigung einer Überführung
der interalliierten Armee des General Haller,
welche nach Polen geht, nur um „dort die
Ordnung aufrecht zu erhalten". — Was soll
das heißen? fragt die Zeitung, wir können
doch nicht für einen Augenblick annehmen,
daß die Truppen des General Haller dem
Vaterlande mit solchem Vorbehalt zurück¬
gegeben werden.
Die Frage der Zukunft Danzigs ist in
SPna nicht endgültig erledigt worden. Wir
erinnern uns an die Worte der Deklaration,
mit welcher die Kvngreßmission kaum vor
einer Woche Polen anerkannt hat. Das
polnische Volk hat von feiten der Entenle-
regieruugen sowie der mit ihnen verbundenen
Mächte ein formelles Versprechen erhalten,
daß es einen Zutritt zum Meere erhalten
wird und niemand kann an der vollständigen
Verwirklichung dieses Versprechens zweifeln.
Der Ministerpräsident Paderewski über
die Polnische Lage. (P- A. T.-Havas.)
Während seiner Reise erklärte Paderewski
dem Vertreter der Agentur Havas, daß er
ca. 15 Tage in Paris bleiben will, da die
jetzige Lage Polens nicht seine Anwesenheit
durchaus verlange. Mit Rücksicht auf die
äußerste Empfindlichkeit der öffentlichen Mei¬
nung, sagte Paderewskj, würden alle un¬
günstigen Nachrichten über irgendwelche
Vorkommnisse im Lande starken Widerhall
haben, und sofort ausgenutzt werden seitens
der Opposition gegen diejenigen, die zu¬
sammen die jetzige Ordnung der Dinge
verteidigen. Unser: grundsätzlichen For¬
derungen bezwecken Danzig zusammen mit
der Seeküste, das Teschener Schlesien und
Lemberg an Polen anzugliedern. Der Besitz
Danzigs ist für uns eine Existenzfrage, da
ohne diese Stadt der Zutritt Polens zum
Meer erstickt würde. Die Geschichte beweist,
daß zwischen Polen und Deutschland kein
dauerndes Kondominium existieren könne.
Man muß also diese Frage klar erledigen
und Danzig vollständig der einen oder der
anderen Partei übergeben. Die Gerechtigkeit
fordert, daß man Polen das zuerkennt, was
während vergangener Jahrhunderte sein
Eigentum gewesen ist. Polen würde die
Aussicht, daß die Gebiete unter fremde
Herrschaft kommen, welche mit Herz, Mund
und Vergangenheit verbunden sind mit dem
Mutterlande und immer nur in der Hoffnung
auf einen Befreiungskrieg lebten, welchen alle
polnischen Dichter Prophezeiten, nicht ertragen.
Das Polnische Volk befand sich bis zum
jetzigen Moment ständig in patriotischer
Wallung, die sich heute in gefährliche Zweifel
umwandeln könnte, wenn nicht alle Hoff¬
nungen in Erfüllung gingen, zu welchen
Polen durch seine Leiden, Tapferkeit und
gehabtenBemühungen undOpfer berechtigt ist.
(Wessen Tapferkeit verdankt eigentlich der
neue Polenstaat sein Leben? Anm. d. Red.)
Eine wertvolle Ergänzung für das Ver¬
ständnis der Pariser Verhandlungen über
die Danziger Frage bildet nachstehender Be¬
ratungsbericht (vom 20. März) des „Kurjer
Warszawski" (nach Krz.-Ztg. 156 v. 5. April).
Cambon: „Wir müßten Polen nicht
nur diese Meeresküste zusichern, sondern
gleichfalls einen gewissen Zugang zu ihr in
wirtschaftlicher und strategischer Hinsicht.
Daher liegt die unbedingte Notwendigkeit
vor, innerhalb der Grenzen der Polnischen
Gebiete Landstriche einzuschließen, die durch
eine verhältnismäßig zahlreiche Bevölkerung
deutscher Nationalität bewohnt werden. Vor
allen Dingen hat die Kommission für polnische
Angelegenheiten einstimmig für notwendig
erkannt, dem neuen Staate Marienwerder
anzuschließen. Es ist dies ein wichtiger
Punkt, der den Flußlauf der Weichsel be¬
herrscht; seine Überlassung,an die Deutschen
würde der Überlassung der Kontrolle über
die Verkehrslinien Polens an sie gleich¬
kommen."
Lloyd George: „Nach der durch die
Kommission für polnische Angelegenheiten
vorgelegten Karte wird der polnische Staat
fast zwei Millionen Bevölkerung deutscher
Nationalität umfassen. Ich bin genötigt,
die Aufmerksamkeit des Obersten Rates
dringend auf die Gefahr zu lenken, mit der
eine solche Lösung in der nahen Zukunft
drohen wird. Wir werden auf diese Weise
mit einem Male den deutschen Jrredentis-
mus in Polen schaffen, einen doppelten
Jrredentismus seitens der Deutschen, die
Ostpreußen bewohnen und von der Mark
Brandenburg losgerissen sind, sowie selbst¬
verständlich auch unter denjenigen, denen die
polnische Staatszugehörigkeit mit Gewalt
aufgezwungen werden würde."
Cambon: „Ich lenke die Aufmerksam¬
keit darauf, daß der Beschluß, über den ich
berichte, einstimmig durch alle Mitglieder
der polnischen Kommission gefaßt ist, die
fünf große Mächte vertreten. Wir haben
diese Frage allseitig geprüft. Nach unserer
Ansicht wäre es ganz ungerecht, die An¬
wesenheit einer gewissen Anzahl von Deutschen
im polnischen Gebiete als entscheidend sür
die Bestimmung der zukünftigen Staats¬
grenzen anzusehen. Lassen sie uns nicht
vergessen, daß sich diese Deutschen infolge
der Jmmigrations- und Ansiedlungspolitik
Preußens in den geschichtlichen polnischen
Gebieten befinden. Die Anerkennung ihrer
Rechte auf dieses Gebiet wäre die Anerkennung
einer geschichtlichen Gewalttat."
Lloyd George: „Man muß mit der
vollendeten Tatsache rechnen, und daher be¬
stehe ich bei dem Gedanken, Polen die
Weichsel und die Eisenbahnlinie Thorn—
Danzig auszuliefern, ohne eine Annexion
der durch deutsche Bevölkerung bewohnten
Gebiete/'
Marsch all Fons: „Meine Pflicht ist es
hier, den militärischen Gesichtspunkt zu ver¬
teidigen. Wenn die Deutschen in einigen
Jahren Polen überfallen — wer wird es
verteidigen? , . . (Stillschweigen unier den
Versammelten.) Ich glaube, ich zweifle so¬
gar nicht daran, dasz Frankreich dem Ver¬
bündeten Volke zu Hilfe eilen wird, aber
ehe diese Hilfe kommt, nutz Polen die
Möglichkeit hoben, sich selbst zu verteidigen.
Meine Herren, die strategische Schwächung
des zukünftigen Polens wäre unsererseits
ein riesiger Fehler. Es ist notwendig, dasz
sich der Weg Danzig — Warschau stets in
Polnischer Hand befindet, Seine Garantie¬
rung durch Verträge hat im Falle des
Kriegsausbruchs nicht den geringsten Wert.
Ein anderer Vorschlag, als der durch die
Kommission für polnische Angelegenheiten
einmütig beschlossene ist nicht anzunehmen.
Es ist nötig, daß Polen seinen Korridor nach
Frankreich mit Gewalt verteidigen kann."
Präsident Wilson: „Die Beschlüsse
der Kommission für Polnische Angelegenheiten
stehen bis zu einem gewissen Grade im
Gegensatz zu meinen allgemeinen Grund¬
sätzen und Anschauungen. Ich gebe es jedoch
zu, daß es eine andere Lösung dieser Frage
nicht geben kann. Daher erkläre ich auch,
daß ich der Ratifizierung dieses Vorschlages
im Namen der Vereinigten Staaten zu¬
stimme."
Lloyd George: „Ich schlage jedoch vor,
daß vor der Annahme des endgültigen Be¬
schlusses die Kommission für polnische An¬
gelegenheiten ihre Beschlüsse einer neuen
Prüfung unterzieht im Sinne der hier durch
mich angeführten Bemerkung/'
Clemenceau: „Herr Cambon, wieviel
Zeit würde die Kommission zur Sichtung
und endgültigen Abfassung ihres Berichtes
gebrauchen?"
Cambon: „Die Kommission hat den
heute vorgelegten Bericht als endgültig auf¬
gefaßt. Eine Sitzung wird genügen, um
die durch den Obersten Rat gemachten Be¬
merkungen und Vorschläge zu diskutieren."
Clemenceau: „Wir bitten die Kom¬
mission also, einen wiederholten Bericht vor¬
zulegen. Indessen werden wir uns der end¬
gültigen Resolution enthalten."
Die Armee Haller. Die Truppen des
Generals Haller setzen sich aus folgenden
drei Bestandteilen zusammen: 1. Polen, die
aus der französischen Armee ausgeschieden
sind, 2. Polen, die sich als österreichische
Kriegsgefangene in Italien befanden, 3. Polen,
die aus dem englischen und besonders ameri¬
kanischen Heere durch Demobilmachung aus¬
geschieden sind. Bis jetzt sind fertig gebildet
die erste, zweite und dritte Infanteriedivision
"ud ein Kavallerieregiment. Mindestens die
doppelte Zahl von Divisionen ist in der
^ildung begriffen. Diese Truppen befanden
^1 bisher in der Gegend von Bayonne
^eurthe et Moselle). Zu den polnischen
puppen kommt noch schwere Artillerie mit
^"-nzösischen Mannschaften in Polnischer
Uniform. Die Franzosen haben sich in
jeder Hinsicht eine ausschlaggebende Stellung
gesichert; alle höheren Kommandostellen vom
Oberstleutnant an aufwärts sind mit Fran¬
zosen besetzt. Die Stärke der Hallerschen
Armee ist auf etwa 86000 Mann zu veran¬
schlagen, davon sind die Hälfte amerikanische
Polen (nach neueren Nachrichten mehr).
Polnische Anmaßung. Der Polnische
Volksrat der Stadt Posen sandte an den
Präsidenten Wilson ein Telegramm, in dem
es u. a. heißt:
„Die Stadt Danzig gehörte bis zum
Jahre 1703 zu Polen und seine Bevölkerung
sah immer in der Zugehörigkeit zu Polen
die Gewähr für eine günstige wirtschaftliche
Entwicklung. Wir sind überzeugt, daß auch
die jetzige friedliche Bevölkerung DcmzigS mit
Ausnahme einiger eingewanderter Chauvi¬
nisten nur von dem Anschluß an das tolerante
Polen eine glückliche Zukunft für die Stadt
erhoffen kann. Berücksichtigt man ferner die
Lage Danzigs in einer ethnographisch unbe¬
streitbar polnischen Gegend, dann muß als
ausgeschlossen gellen, daß der Anschluß
Danzigs an Polen eine deutsche Jrredenta
zur Folge haben könnte. (DaS herzige Ver¬
trauen auf die Gutmütigkeit des deutschen
Michels steht in scherzhaftem Gegensatz zu
der sonst von den Polen stets behaupteten
Boshaftigkeit und Hinterhältigkeit der Deut¬
schen. (Anm. d. Red.) Wie Polen sich
nicht in der wünschenswerten Weise entwickeln
kann, wenn ihm Danzig vorenthalten bleibt,
so ist auch für die Entwicklung Danzigs, das
an der Mündung der polnischen Weichsel liegt,
eine enge Verbindung mit Polen Voraus¬
setzung. Für Preußen, das an der Ostsee
und an der Nordsee mehrere Höfen besitzt,
ist die Beibehaltung Danzigs keine Lebens¬
frage, Polen aber niüßte, wenn ihm jetzt der
einzige natürliche Zugang zum Meere vor¬
enthalten wird, immer danach streben, daß
dieses ihm angetcme Unrecht wieder gut¬
gemacht werde. Unsere berechtigten Ansprüche
auf einen Zugang zum Meer können durch eine
halbe Lösung dieser Frage nicht zum
Schweigen gebracht werden. Darum — und
weil Polen unbedingt eine unmittelbare von
jeder fremden Macht unabhängige Verbindung
mit den Demokratien des Westens haben
muß — haben wir das feste Vertrauen, daß
Sie, Herr Präsident, dem berechtigten Ver¬
langen Polens nach dem Besitz einer eigenen
Küste mit Danzig Ihre Anerkennung nicht
versagen werden."
Ein Telegramm mit gleichem Inhalt
wurde von dem Polnischen Volksrat auch an
Lloyd George gesandt.
Einige Fragen und Antworten zur Nachdenken.
Weshalb soll nach polnischer Meinung Westpreußen polnisch werden?
Weil es schon einmal, von 1869—1772 polnische Provinz gewesen ist.
Was hat Westpreußen als polnische Provinz erlebt?
Daß aus dem reichen Ordenslande ein armes Land wurde, daß die freien
deutschen Bauern zu Leibeigenen der im Ausland lebenden reichen polnischen
Adligen wurden; daß durch .Krankheit und Hunger die ehemals dichtbevölkerten
Gebiete und die Städte verödeten und entvölkert wurden; daß infolge des Elends
die Bevölkerung Tieren ähnlicher sah als Menschen.
Womit begründen die Polen ihre Ansprüche aus Westpreußen?
Mit dem Programm des Präsidenten Wilson, in dessen dreizehnten Punkt
heißt: „Es soll ein polnischer Staat gebildet werden, der alle Gebiete umfaßt,
d>e von unbestreitbar polnischen Nationalitäten bewohnt sind, usw."
Ast Westpreußen ein unbestreitbar politisches Gebiet?
Nein; denn von seinen 1703744 Einwohnern im Jahre 1910 waren deutsch
1097 943, polnisch aber nur 475 853, der Nest mit 107 199 sind Kassuben —
"verwandte der märkischen Wenden, keine Polen.
Es kommen also in Westpreußen auf 100 Polen 231 Deutsche, oder von
l00 Einwohnern Westpreußens sind 65 deutsch.
Was bezwecken die Polen, wenn sie in ihren und den ausländischen Zeitungen
uniner von dem polnischen Westpreußen schreiben?
Sie wollen der Welt etwas vormachen. Uns Deutsche aber wollen sie
^schüchtern; denn sie glauben, daß uns der verlorene Krieg und die Revolution
wehrws gemacht hat, daß wir gegen die 475 000 Polen nichts ausrichten
Mulm, Sie wollen uns aber auch mit Versprechungen, die nichts sind als eitel
^ugen, verlocken, damit wir unser Deutschtum vergessen sollen.
Wie schützen wir uns gegen die Polen?
Nur dadurch, daß wir uns fest zusammenschließen und tagtäglich aller Welt
zurufen:
Wir Deutschen Westpreußens wollen für alle Zeit bei Deutschland bleiben!
Posen — deutsches Land
Was Posen betrifft, so ist es die deutsche Arbeit, die die Grenze zu ziehen
hat, nicht alte Dokumente, weder die von der dritten Teilung Polens noch von
der ersten Schlacht bei Tannenberg. Wo deutsche Kultur und Arbeit den Ausschlag
gibt, ist das Land deutsch. (Preußischer Minister des Innern Heine am 27. April.)
Gegenüber dem Anspruch der Polen auf Teile des preußischen Staates muß
die Frage erhoben werden, auf welches Recht die Polen ihre Forderungen stützen.
Die staatsrechtliche Zugehörigkeit der fraglichen Gebiete zu Preußen kann nicht
bestritten werden. Im Herbst 1772 schloß Friedrich der Zweite beim Zerfall
Polens einen Vertrag all Rußland, in dem ihm Westpreußen und das Gebiet
bis zur Netze zugesprochen wurde.
Der polnische Reichstag genehmigte diese Abtretung durch Beschluß vom
ersten September 1773. Für den größten südlichen Teil des Netzedistrikts gab
Preußen dann im Tilsiter Frieden sein Besitzrecht wieder auf.
Auf dem Wiener Kongreß aber waren es gerade England und Frankreich,
die Preußen drängten, mehr polnisches Gebiet zurückzunehmen. So kam bereits
am 31, Dezember 1814 ein Beschluß sämtlicher Großmächte zustande, Polen unter
Österreich, Preußen und Rußland zu teilen. In der Kongreß-Hauptakte vom
neunten Juli 1815 wird dann der 1807 abgetretene Teil des alten Netze¬
distrikts und das übrige Gebiet der heutigen Provinz Posen Preußen zu voll¬
kommenem Eigentum des Königs, d. h. des preußischen Staates, zugesprochen.
Aas zwei Titeln ruht mithin das Besitzrecht Preußens an Posen; für den
nördlichen Teil des Netzedistrikts auf dem Beschluß des polnischen Reichstages vom
ersten September 1773, für den übrigen Teil der Provinz auf der Wiener
Kongreß-Hauptakte vom neunten Juli 1815. Beide Beschlüsse sind von allen
Beteiligten als rechtsverbindlich betrachtet und von keiner befugten Seite an¬
gefochten worden.
Das „Journal de Geneve" gibt an der Hand der bisherigen Pariser
Veröffentlichungen und aus Grund eigener Informationen in großen Umrissen
die Friedensbedingungen wieder, die unsere Friedensunterhändler in Versailles
erwarten. Auch die Regelung der Ostfrage wird darin vorgezeichnet. Polen soll
in den ungefähren Grenzen von 1772, vergrößert durch polnische Distrikte in
Oberschlesien, wiederhergestellt werden. Alle diese Bestimmungen sind — wie sich
nach der jetzigen Lage wohl annehmen läßt — nicht endgültig, sondern stellen sich
als Vorschläge hin, die wir zu erörtern haben. Inwieweit aber die Entente
unsere Gegenvorschläge in Berücksichtigung ziehen wird, läßt sich jetzt schon aus
dem Grunde nicht ermessen, weil noch unbestimmt bleibt, wie groß der Spielraum
für die Verhandlungsmöglichkeit sein wird.
Was für ein Schicksal der Ostmark, insbesondere Posen, in Versailles
harrt, läßt sich aus der obigen Meldung des Genfer Blattes ungefähr ahnen-
Auf Schlimmes sind wir ja gefaßt. Großen Überraschungen werden wir bei
unseren Berechnungen also nicht ausgesetzt sein. Was dem Posener Lande aber
noch verborgen ist, das ist — der Standpunkt unserer Regierung. Geht sie mit
dem Entschluß nach Versailles, die Deutscherhaltung der gesamten Provinz Posen
zu erkämpfen, oder nicht? Das ist die Frage, auf die die Posener Deutschen
noch keine eindeutige Antwort erhalten haben. Auch hier muß man versuchen,
sich aus mehr oder minder amtlichen Auslassungen ein annäherndes Bild zu
verschaffen."
Der „Vorwärts schreibt in seiner Ur. 203 vom 22. April, daß Deutsch¬
land bereit ist, „Gebiete aufzugeben, deren Bevölkerung ein Verbleiben im politischen
Machtbereich des alten Reiches nicht wünscht." Sollte sich diese Fassung auf
Elsaß Lothringen beziehen, so wäre sie unglücklich gewählt, wahrscheinlicher bleibt,
daß dabei auf den Osten angespielt wird. Gleich darauf wird weiter ausgeführt,
daß jedoch nur dann ein Friede annehmbar wäre, wenn nicht deutsches Gebiet
Wider seinen Willen unter fremde Herrschaft gebracht wird. Dem Positiven des
ersten Zugeständnisses wird dabei nur in dem anderen Satze das gleiche in
negativer Form hinzugefügt: Gebietsteile sollen abgetreten werden, wenn die
Bevölkerung es wünscht, aber nicht gegen ihren Willen. Eine Lösung des Problems
bietet diese Auslassung demnach keineswegs, da weiter im Unklaren bleibt, ob
bezüglich des Posener Landes, das doch als untrennbares Ganzes zu behandeln
ist, dem deutschen oder dem polnischen Willen Rechnung getragen werden soll.
Bleibt demnach die Äußerung des amtlich inspirierten „Vorwärts" für den
Versuch völlig untauglich, den Regierungsstandpunkt herauszukonstruieren, so wird
die Sachlage etwas klarer, wenn das Telegramm des preußischen Ministers des
Innern an den Volksrat in Berthchen herangezogen wird, in dem es heißt: „Die
preußische Regierung wird auch hinsichtlich der Provinz Posen sich mit allen
Mitteln dafür einsetzen, daß der Bestand des Staates erhalten bleibt, und daß
ledenfalls kein Gebiet unzweifelhaft deutschen Volkstums unter die Gewalt eines
anderen Staates fällt!"
Der Standpunkt der — wohlgemerkt preußischen, nicht deutschen — Regierung
würde völlig befriedigend wirken, wenn nicht der Vordersatz durch den Nachsatz
eingeschränkt worden wäre. Unbedingte Festigkeit spricht auch aus dieser Erklärung
ducht, da sie die minder günstige Möglichkeit offen läßt, daß auf einen Teil Posens
verzichtet werden könnte oder müßte.
Unzweideutig dagegen spricht sich der Reichsschatzminister Gothein in dem
Leitartikel des „Berliner Tageblattes" — Ur. 180 vom 23. April — aus:
„Nirgends im Osten Deutschlands gibt es Gebiete, die von einer unzweifel¬
haft polnischen Bevölkerung bewohnt sind, auch die jetzt außerhalb der Demarkations¬
linie liegenden Teile Posens sind zum guten Teil überwiegend deutsch. Aus
d^n Zusammenhang mit Deutschland gerissen, würden sie aufs schwerste leiden,
würden sie in jenen Zustand der Unkultur zurücksinken, in demi sich die weitesten
Teile Polens und Galiziens befinden."
^ , Dies ist die Äußerung einer amtlichen Persönlichkeit, eines Angehörigen der
.eichsregierung, aber immer noch keine amtliche Erklärung der Negierung im
eigentlichen Sinne. Erfreulich bleibt sie aber in zweifacher Hinsicht: Sie vertritt
'e Interessen der gesamten Provinz Posen und begründet den eingenommenen
^tcnrdpunkt. Darauf kommt es aber an. Bei der Programmlosigkeit, die sonst
Regierungspolitik hinsichtlich der Ausführbarkeit der uns verpflichtenden
AUwnpunkte kennzeichnet, ist dies ein bedeutsamer Fortschritt. Die Äußerung
otheins gibt auch den Fingerzeig dafür, wie die Sache hier im Osten eigentlich
Zufassen ist. Gothein geht von der gesamten Ostmark aus, vom Ganzen, nicht
svtteinzelnen Teilen. In ersteren Fehler ist jede der bezüglich Posen so
bat " Regierungserklärungen gefallen; diese klammern sich an die Tatsache,
dem ^ innerhalb Posens einige überwiegend polnische Kreise gibt, die nun nach
angenommenen Wilsonprogramm wohl oder übel abgetreten werden müßten,
wobei sie völlig den Zusammenhang übersehen, völlig den leitenden Gesichtspunkt
außer acht lassen, das Interesse des Ganzen. In dieser Beziehung können
wir die Ausführungen Golheins ergänzen: Die gesamte Ostmark ist überwiegend
deutsch; Teile mit Polnischer Volksmehrheit bilden mit der gesamte» Ostmark
ein untrennbares Ganzes, aus dem sie nur zum Schaden der Gesamtheit und
zu ihrem eigenen Nachteil herausgerissen werden könne». Die Regierungs¬
vertreter machen es umgekehrt: Sie erkennen die Loslösung der kleinen Gebiets¬
teile an und ebnen so den Weg für die weiteren Ansprüche der Polen, über¬
wiegend deutsche Gebiete hinzuzufordern, da sonst die abgetrennten nicht bestehen
könnten. Auch zur Ausführung der an sich vielleicht klaren Wilsonschen Punkte
gehört die vorherige Ausarbeitung eines übersichtlichen Planes, der nnter einem
leitenden Gedanken aufzustellen ist. Wäre das Programm Wilsons wirklich so
einfach, daß man nur auf die Landkarten mit der Bevölkerungstabelle zu tippen
brauchte, so vermöchte man nicht einzusehen, warum die alliierte Friedenskonferenz
sich bis jetzt das monatelange Kopfzerbrechen verursacht hätte.
Jetzt, wo die Unterhändler im Begriffe stehen, den Zug nach Versailles zu
besteigen, wird der amtliche deutsche Gegenentwurf eines Völkerbundes veröffentlicht.
Abschnitt VII, Artikel 54, dieses Entwurfes handelt von dem Schutze der nationalen
Minderheiten innerhalb eines Reiches. Die Veröffentlichung dieses Entwurfes ist
der bescheidene Anfang zu einer Politik, die wir ständig ersehnt und gefordert
haben; Stellungnahme zu der praktischen Ausführung der Wilsonschen Punkte.
Nicht schweigen und warten, bis das verschleierte Bild von Versailles enthüllt
wird. Wie gefestigt stäuben wir da, wenn wir zu dem Abschnitt VII dieses Ent¬
wurfes gleichzeitig einen Vorschlag über die Sicherung der polnischen
Minderheiten in der deutschen Ostmark der Öffentlichkeit übergeben hätten!
Und zwar einen Gegenvorschlag, der die Ostmark nicht zerreißt, sondern integral
deutsch läßt, der aber trotzdem berechtigten polnischen Wünschen im Sinne der
Wilsonschen Thesen völlige Befreiung verheißt! Die Negierung hätte mancherlei
damit gewonnen: Das Vertrauen der Ostmark und eine günstige Platt¬
form, von der aus weitere Verhandlungen möglich erschienen.
Im Jahre ISIS wurde in Warschau von
der lmion proAressisto ?vio»aiss eine Karte
(Larts cle la repartition als la Population
Polonaise clans ses limites etbnoZrapdiclueiZ
et sur is conkuis) herausgegeben, die an¬
schaulich die Verbreitung des Polentums in
Osteuropa vergegenwärtigen soll. Sie umfaßt
das Gebiet von der Küste Kurlands bis nach
der Bukowina und von der Oder bis zum
Pripet (48—65 Grad nördlicher Breite und
16—23 Grad östlicher Länge). Die Slaats-
und Provinzialgrenzen Preußens sind mit
gelber, die Grenzen Galiziens mit blauer,
die Grenzen des ehemaligen Zarenreichs mit
grüner Farbe bezeichnet. Der prozentuale
Anteil der Polen an der Bevölkerung der
einzelnen Kreise ist in roter Färbung in vier¬
facher Tönung dargestellt, indem die Kreise
mit 60 und mehr Prozent rot, die mit weniger
.als 10 Prozent Polen ganz weiß gefärbt
sind und weitere Unterschiede die Gebiete mit
10—24, 26—34, 35—49 Prozent heraus¬
heben. Mit wenigen Ausnahmen sind nur
die Kreisstädte eingetragen.
Die Karte zeigt, daß die Grenzen der
Polnischen Bevölkerungsmehrheit im Osten
im wesentlichen mit den Grenzen von Kon-
greszpolen zusammenfallen. Nur bei Wilna
(nicht bei Kowno) liegt ein Gebiet mit knapper
polnischer Mehrheit (60,9 Prozent). J>»
Süden deckt sich die Grenze des Polnischen
Volkstums mit der Grenze Galiziens, wobei
der San die Ostgrenze bildet. Östlich davon
hat nur der Bezirk Lemberg 67,7 Prozent
Polen. Für Kongreßpvlcn ist bezeichnend,
daß dort nur ein einziger Kreis (Miechow)
mehr als 90 Prozent Polen aufweist.¬
Bei Betrachtung der West- und Nord
grenzen fallt zunächst auf, daß die Bezirks
mit Polnischer Mehrheit gewissermaßen lnppen°
förmig in das deutsche Gebiet hineinragen;
sie hängen untereinander gar nicht oder nur
auf ganz kurzen Strecken zusammen. So
wird das polnische Gebiet Schlesiens und
Posens nur durch das schmale Stück der
Grenze zwischen den Kreisen Kreuzburg und
Kempen verknüpft. Zwischen Posen und
Westpreußen findet sich gar keine Verbindung;
vielmehr ist hier eine breite Lücke vorhanden,
die durch die Kreise Thorn, Bromberg, Wirsitz,
Flatow, Kolmar, Czarnikau, Filehne und
Deutsch-Krone mit zum Teil starker deutscher
Mehrheit ausgefüllt wird. Im südlichen
West- und Ostpreußen bildet die polnische
Mehrheit, selbst wenn, wie es auf der Karte
fälschlich geschieht, die Masuren als Polen
gezahlt werden, nur einen schmalen Streifen
längs der Südgrenze.
DaS Polentum auf den: linken Weichsel¬
ufer steht mit der Bevölkerung von Kongreß-
Polen nur durch die Kreise Briefen und
Kulm — Thorn hat eine deutsche Mehrheit
von 64,6 Prozent — auf einer nur etwa
dreißig Kilometer langen Strecke in Verbin¬
dung; es tritt deutlich als Enklave im deut¬
scheu Lande in Erscheinung, Was um so
bemerkenswerter ist, als sonst die Polen, die
Tatsachen umkehrend, von deutschen Inseln
in der slawischen Flut zu sprechen Pflegen.
Durchaus unrichtig ist es aber, wenn die
Karte innerhalb Westpreußens ein geschlossenes
Gebiet mit Polnischer Mehrheit bis zur Küste
hin aufweist. Die Verfasser der Karte machen
sich einer bewußten Irreführung schuldig,
wenn sie auch den Kreis Neustadt mit der
dunkelroten Farbe bezeichnen, die für die
Bezirke mit 60 und mehr Prozent Polen
bestimmt ist; denn sie geben selbst an, daß
die Polen hier nur 49,7 Prozent der Ge¬
samtbevölkerung ausmachen. Aus der Art
der Farbenbezeichnung geht weiterhin nicht
hervor — und doch ist dies für eine gerechte
Entscheidung in nationaler Hinsicht erforder¬
lich — polnische Bevölkerung in
Westpreußen in fünf Kreisen (Briefen, Kulm,
Schwetz, Konitz, Bereut) nur eine sehr schwache
Mehrheit besitzt; sie ist hier nur um 1 bis
8 Prozent zahlreicher als die deutsche. Ferner
bleibt unberücksichtigt, daß in keinem Kreise
die polnische Mehrheit 78 Prozent übersteigt.
Als dreiste Fälschung muß es zurück¬
gewiesen werden, wenn nach polnischem Be¬
lieben die Kreisgrenzen verschoben werden.
Um den Eindruck zu erwecken, daß die Küste
überwiegend von Polen bewohnt ist, wird
die Grenze des Kreises Neustadt bis nach
Neufahrwasser zur Weichselmündung hin aus¬
gedehnt und auch Oliva, das zum Kreise
Danzig-Höhe gehört, mit den: umliegenden
Gebiet dort hineinbezogen. Ebenso falsch ist es,
wenn das Gebiet um Mewe, von der Ferse bis
zur Grenze des Kreises Dirschau, zum Kreise
Stargard gerechnet und deshalb überwiegend
polnisch dargestellt wird. Dieser Bezirk ge¬
hört vielmehr zum Kreise Marienwerder, der
eine deutsche Mehrheit von 62 Prozent auf¬
weist. Ganz willkürlich ist mit dem Gebiet
um Danzig verfahren. Wie bei Thorn,
Grand.euz und Elbing Stadt- und Landkreis
als ein Bezirk gerechnet werden, sind zwar
auch hier die Kreise Danzig Stadt und
Danzig Höhe zeichnerisch zusammengefaßt
Worden. Während aber sonst das Verhältnis
zwischen deutscher und Polnischer Bevölkerung
dementsprechend ungerechnet ist, wird hier
für den ganzen Bezirk die Prozentzahl der
Polen für den Kreis Danzig-Höhe (11 Pro¬
zent) angegeben und die Tatsache, daß in
der Stadt Danzig nur 3 Prozent, im Kreise
Danzig-Niederung gar nur 0,8 Prozent aus¬
machen, völlig verschwiegen. Nach Zeichnung
der Karte muß ein unbefangener Betrachter
annehmen, daß nicht nur die Stadt, sondern
auch das ganze Land an der Küste bis zum
Weichseldurchbruch bei Neusühr zu 11 Prozent
polnisch sind. Juc übrigen sei darauf hin¬
gewiesen, daß nach Angabe der Karte das
Polentum in den pommerschen Kreisen Bülow
und Lauenburg, die gegenwärtig auch leb¬
haft gefordert werden, nur 14,9 und 6,6 Pro¬
zent ausmacht I
Das sind die „wissenschaftlichen" Grund¬
lagen, auf die das „imperialistische" Polen¬
Durch die polnische Presse weht der Hauch
eines schrankenlosen Imperialismus. Es ist,
als ob einem angestauter Bergbach daS däm¬
merte Wehr entzogen wird, und er mit
ungehemmter Wucht sein Bett verläßt und
ins Uferlose sich ergießt. Der dem neu¬
erstandenen Polnischen Nationalismus durch
das Wilsonprogramm vorbezeichnete Weg
wird verlassen, hochfliegenden Zukunftsplänen
wird nachgejagt und über der an unserer
Ohnmacht großgewordenen Machtbegier wird
ganz und gar vergessen, daß Polen unser
Nachbar ist, mit dem es für später in beider¬
seitig erträglicher Weise schließlich auskommen
muß. Hieran denkt zurzeit noch niemand.
Polens Nachbar ist Frankreich. Das da¬
zwischenliegende Deutschland bildet für den
polnischen Emporkömmling eine „czuantitö
nügliZeable", gut genug dafür, daß man
daraus Milliardenentschädigungen, Material,
schließlich auch Menschen und Grund und
Boden herauspressen könnte.
Von Frankreich erhofft man alles. Der
Pole fühlt sich dem Franzosen kongenial, im
Haß gegen Deutschland und in der impe¬
rialistischen Gier. Das Fallen und Steigen
des Friedensbarometers in Paris wird mit
der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt, die
französische Politik spricht den Polnischen
Wünschen aus dem Herzen, Frankreichs Sache
ist die Polens. Beider Interessen decken sich
völlig in einem Punkte. Möglichste Schwächung
Deutschlands. Wer von den andern Alliierten
nicht blindlings diese französisch-polnische
Politik mitmacht, wer neben dem Standpunkt
des allmächtigen Siegers noch berücksichtigen
möchte, daß auch im eigenen Interesse eine
völlige Verstümmelung und Knechtung Deutsch¬
lands nicht erwünscht sein kann, gilt als Ver¬
räter an der heiligen polnischen Sache. Die
polnische Devise bleibt, mag Deutschland
sterben, wenn nur Polen das erhält, was es
als sein vermeintliches Recht betrachtet.
Dieses Recht fällt nicht mit dem Anspruch
zusammen, den Polen auf Grund der als
die Friedensbasis anzusehenden Wilsonschen
Punkte erheben darf. Die polnische Presse
ist freimütig genug, das Programm Wilsons
nicht im Sinne einer Beschränkung ihrer
nationalen Bestrebungen anzuerkennen. Sie
ist durchaus gegen die Anschauung, als ob
Polen, das — abgesehen von dem früheren
Schritt der Zenlralmächte — erst durch die
Festlegung der kriegführenden Mächte aus
das Wilsonprogramm einen internationalen
Anspruch auf Selbständigkeit hielt, irgendwie
daran gebunden sei. Polen verlangt schranken¬
lose Berücksichtigung seiner Ansprüche aus
eigenem Recht, unbekümmert darum, ob sie
mit den allgemeinen Forderungen Wilsons
auf Anerkennung des Nationalitätenprinzips
und des Selbstbestimmungsrechts der Völker
kollidieren. Ebensowenig wie Frankreich ist
Polen geneigt, zugunsten dieser beiden
Prinzipien irgendwelche Zugeständnisse zu
machen. Wenn die polnische Presse sich des
öfteren auf die Rechte Polens aus den Wil¬
sonschen Punkten beruft, so wird damit ent¬
weder nur ein Teil der Rechte begründet,
oder aber eS wird den Formulierungen
Wilsons eine extensive Auslegung gegeben,
die ihrem eigenen Sinn diametral entgegen¬
läuft.
Die Polnische Presse basiert ihre Ansprüche
zunächst auf das sogenannte „historische Recht".
Sie weiß sehr gut, daß dieses Recht, falls es
nicht in dem leeren Sinne einer billigen
Phrase, eines blenden sollenden Schlagwortes
gebraucht wird, der heutigen Anschauung
nicht mehr entspricht, daß gerade die Alliierten
gegen das „historische Roche" zugunsten des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker ins
Feld gezogen sind. Ihre These fordert die
Wiederherstellung des historischen Polens,
grundsätzlich des Reiches vor 1772, eines
Staates also, der in seiner damaligen Zu¬
sammensetzung kein Nationalstaat, sondern
ein aus verschiedenen Nationalitäten be¬
stehender und durch das Gesetz der Eroberung
zusammengehaltener Staat war. Mit anderen
Worten, es wird die Aufrichtung eines Zu¬
standes gefordert, den die von Wilson inspi¬
rierte Neuordnung der Weltverhültnisse für
immer beseitigt wissen möchte. Innerhalb
dieses wieder zu errichtenden StaatsgebildeS
kennt die Polnische Presse kein anderes
nationales Selbstbestimmungsrecht als das
eigene. Nicht die Völker in den einzelnen
Gebieten sollen über ihre Zukunft entscheiden,
sondern einzig und allein das Polnische Volk
hat nach Gutdünken darüber zu bestimmen,
was mit ihnen zu geschehen hat. Das ver¬
steht die polnische Presse unter dem Selbst¬
bestimmungsrecht, das es mithin nur für sich
in Anspruch nimmt und von dem nichts übrig
gelassen wird, als das Wort selbst. Der
„Wiarus Polski" führt dementsprechend
wörtlich ans:
Die Polnische Presse geht aber noch weiter.
Wird auf der einen Seite das Selbst-
bestimmungsrecht als lästig beiseite geschoben,
so greift sie auf der andern Seite das
Nationnlitätenprinzip heraus, ohne zu be¬
denken, daß es sozusagen nur die notwendige
Ergänzung des ersteren bildet, mit diesem
also steht und fällt. Aus Grund dieses
Prinzips werden die polnisch sprechenden
Teile Schlesiens verlangt, desgleichen Masuren,
Gebiete, die nicht zu dem Polen von 1772
gehört haben. Es ist hier nicht davon die
Rede, daß — um in die Polnische Redeweise
zu fallen — das Unrecht der Teilungen
Polens wieder gut zu machen wäre, sondern
mit dem preußischen Staate seit Jcchrhunder.
ten verwachsene Gebiete sollen herausgerissen
werden, weil die nationale Einheit des Pol¬
nischen Volkes es erfordere. Die Polnische
Presse stößt sich nicht daran, daß die über¬
wiegende Mehrzahl der Preußischen Masuren
sich völlig als Deutsche fühlt und nichts von
Polen wissen will, das Nationalitätenprinzip
muß ihnen vielmehr eingehämmert werden,
und wenn sie nicht von selbst darauf kommen
sollten, mittels eines gelinden Drucks unter
dem Schutze einer polnischen Armeel Das
stehende Leitmotiv ist immer, die Masuren
werden es schließlich schon einsehen, daß sie
Polen sind, wenn sie eS auch zurzeit noch
nicht wissen sollten. In beiden Fällen, so¬
wohl bezüglich Schlesiens wie Masurens, soll
das Rad der Geschichte um Jahrhunderte
zurückgedreht werden, im Grunde genommen
aber nicht zuliebe des Wilsonschen Nationali¬
tätenprinzips, sondern lediglich aus imperia¬
listischen Machthunger.
„Daraus folgt, daß weder Wilson noch
Lloyd George weder die deutsche noch die
verdeutschte Bevölkerung Schlesiens, Grosz-
Polens, des Danziger Pommerns, Ermlands
und Preußisch-Masowiens über die staatliche
Zugehörigkeit dieser Gebiete entscheiden
können, sondern daß dies das Polnische Boll
als der uralte Wirt dieser Ländereien tun
muß.
Und das polnische Volk will und kann
nicht erlauben, daß nur eine Polnische Hütte
unter der deutschen Herrschaft bleibt, da es
dadurch ihre Einwohner der Entartung aus¬
liefern würde, die gegen das natürliche Recht
und den Willen der Vorsehung ist."
Die Tatsache also, daß das polnische Volk
Zu irgend einer Zeit einmal einen Gebiets¬
teil besessen hat, ist ausreichend, um ihn zu¬
rückzufordern, und sollte selbst unter Tausenden
anderer nur eine einzige polnische Hütte sich
uoch dort befinden. Die Begründung mit
dem „natürlichen Recht" und dem „Willen
der Vorsehung" will dabei nichts anderes
s°in, als eine dekorative Verbrämung, es
handelt sich auch im Grunde genommen um
gar keinen rechtlichen Anspruch, sondern einzig
und allein um nationalistische Gewaltpolitik.
Mit den Wilsonschen Prinzipien haben
gleichfalls nichts die andern Stützpunkte der
polnischen Machtpolitik zu tun, die auf den
Begriffen der wirtschaftlichen Notwendigkeit
und Lebensfähigkeit des Polnischen Staates
beruhen. Neben dem Argument der „histori¬
schen Gerechtigkeit" ist es vor allem der
Hinweis auf die wirtschaftliche Notwendigkeit,
die die Polnische Presse ins Feld führt, um
das rein deutsche Danzig dem polnischen
Staate anzugliedern. Dieser Begriff ist im
Wilsonprogramm zwar nicht fremd, er ope¬
riert mit ihm aber nur in der Hinsicht, daß
Dem Gedanken, daß auch die Geschickte
fortschreitet und in ihr sich die Grenzen der
Völker und Territorien verschieben, wird
überhaupt nicht nachgegangen. Die Idee
einer geschichtlichen Entwicklung ist der Pol¬
nischen Presse fremd. Die Deutschen, die in
den beanspruchten Gebieten seit Jahrzehnten
°der Jahrhunderten wohnen, gelten als Ein¬
dringlinge, als Eingewanderte, die in ihrer
letzigen Heimat des Schutzes des Selbst-
Bestimmungsrechtes nicht teilhaftig sein dürfen.
ein wirtschaftlicher Ausgleich, nicht eine poli¬
tische Befriedigung erzielt werden solle. Für
die polnische Presse bedeutet jedoch die Er¬
füllung wirtschaftlicher Forderungen ohne
Weiteres auch eine Befriedigung rein ratio¬
nalistischer Ziele,
Ebensowenig wie die polnische Presse ge¬
willt ist, die Entwicklung der polnischen Frage
von der Berücksichtigung der Wilsonschen
Prinzipien abhängig zu machen, ebensowenig
ist sie entschlossen, etwa zu warten, bis die
Friedenskonferenz ihr Urteil — und zwar
gleichgültig auf welcher Grundlage — ge¬
sprochen haben wird. Die polnische Presse
fühlt, daß die restlose Erledigung ihrer
Wünsche ein langes Zögern nicht verträgt,
daß eine ruhige Nachprüfung ihrer Ansprüche
ihnen schließlich nachteilig sein könnte und
daß nur ein einziges Mittel sie mit einem
Schlage sicher zu stellen imstande ist: die
offne Gewalt. Dies bedingt aber schnelles
Handeln. Eine schwere Enttäuschung hat
die Polnische Presse durch die Wendung in
der Danziger Landungsfrage erlitten, auf
die in der angedeuteten Hinsicht die größten
Hoffnungen gesetzt waren. Damit gibt sie
aber noch nicht das Spiel vor dem Spruch
der Friedenskonferenz verloren, immer wieder
weist sie auf die Notwendigkeit hin, noch
Während der Friedensverhandlungen den
entscheidenden Gewaltschritt zu unternehmen.
Nur auf diese Weise könnte Preußen-Deutsch¬
land zur Erkenntnis seiner Ohnmacht (nicht
etwa seines Unrechts) gezwungen werden.
Die „Przyjaci ludu" (Graudenz) schreibt
wörtlich:
Wenn die Deutschen neben sich ein starkes
Polen erblicken, dessen Grenzen höchstens in
einer Entfernung von einigen hundert Kilo¬
metern von Berlin, der Residenz Deutschlands,
verläuft, die von Posen mit Lebensmitteln
versehen wird, werden sie unverzüglich zu
der Überzeugung gelangen, daß die Periode
der altdeutschen Größe zur Vergangenheit
gehört.
Es wäre unbestreitbar eine sträfliche
Unterlassung, diesen Äußerungen der Pol¬
nischen Presse kein Gewicht beizumessen. Sie
spricht nicht zu ihren Lesern allein, sie ver¬
schafft sich Gehör bei unseren Feinden, denen
sie unermüdlich ihre Argumente vor die Augen
führt. Unablässig muß die deutsche Be¬
völkerung der Ostmark durch ihre Volksräte
auch ihre Stimme zu Gehör bringen. Es
wäre schwer gefehlt, wenn das Deutschtum
in diesem Kampf der Worte abseits stehen
wollte. Unser Ziel geht dahin, dem für die
deutsche Ostmark nur günstigen Wilson-
Programm zum Siege zu verhelfen und aus
diesem Grunde müssen wir alles daransetzen,
die Nichtigkeit der in der polnischen Presse
vorgebrachten Ansprüche vor dem Forum der
gesamten öffentlichen Meinung zu beweisen.
Aus Berthchen wird uns berichtet: Zu
einer Massenkundgebung am Ostersonntag
hatte die Ortsgruppe Berthchen des deutschen
Heimatbundes Posener Flüchtlinge aufge¬
fordert. Mehr als 2000 Männer und Frauen
aller Berufsstände folgten diesem Rufe und
marschierten unter Vorantritt des gesammten
hiesigen Grenzschutzes in geschlossenem Zuge
unter Absingen Patriotischer Lieder vom
Bahnhof nach dem Marktplatz. Es war
ein Zug, wie ihn unsere Stadt nach der
Versicherung alteingesessener Bürger in so
imposanter Größe noch nie gesehen hatte.
Was Wollten diese Tausende? Was ver¬
anlaßte sie, in letzter Stunde, da die Würfel
über unser Schicksal fallen, nocli einmal
Zeugnis abzulegen für das Deutschtum, zu
bekennen, daß die Heimatprovinz nicht dem
deutschen Reiche geraubt würde, daß die
Negierung nur einen Frieden unterschreibe,
der uns die posensche Heimat, den Tausenden
von Flüchtlingen, die Haus und Hof haben
verlassen müssen, wiedergeben und die
Hunderttausend«: von Volksgenossen, die
unter Polnischen Joche schmachten, erlöst.
Wir haben nicht nur ein geschichtliches Recht
auf die Provinz Posen, sondern auch ein
wirtschaftliches. Deutschland braucht die
Kornkammer, die ihm im Verlaufe der Re¬
volution durch schnöden Verrat und Unfähig¬
keit seiner Unterhändler entrissen worden
ist. Darum hat die Regierung, wenn sie
auf des Volkes Stimme hören will, gar keine
andere Wahl, als das Verbleiben Posens
beim Deutschen Reiche unbedingt zu fordern
und keinen Frieden zu schließen, der uns
entrechtet. Sollte es zum Äußersten kommen,
dann würde an der gesammten polnischen
Front der Kampf von neuem beginnen. Mit
Gewalt müßten wir uns holen, was uns
die Friedensunterhändler nicht erringen
konnten. Das mögen sich unsere Feinde
gesagt sein lassen. Wenn sie uns gänzlich
Zu zertreten beabsichtigen, wie es den An¬
schein hat — sie sollen und werden sich irren.
Unsere Front ist stark und unsere Kraft im
Wachsen. Von der Regierung müssen wir
verlangen, daß sie unsere Interessen nun¬
wehr mit der äußersten Energie vertritt.
Kuh selbst aber möge immer jener Geist er¬
füllen, der das Schweizer Volk beseelte, als
es seine Freiheit sich erkämpfte. „Wir wollen
sein ein freies Volk von Brüdern I"
Diese Gedanken waren es im wesent¬
lichen, die Herr Rechtsanwalt Kittel nach
einigen einleitenden Worten der Vertrauens-
wänner des hiesigen Grenzschutzbataillons,
des Herrn Schmidt, und der Ortsgruppe
des hiesigen Heimatbundes Posener Flücht¬
ige, Herrn Cedur, in längerer Rede zum
Ausdruck brachte. Daß die Versammlung
sich völlig mit dem Redner eins fühlte, be¬
wies sie dnrch ihre begeisterten Kundgebungen
während und am Schlüsse des Vortraget
Darauf wandte sich der Kommandeur des
hiesigen Grenzschutzes, Herr Oberleutnant
Rohleder, an die Versammlung und ins¬
besondere an die Kameraden des Grenz¬
schutzes. Er betonte vor allem die sittliche
Pflicht eines jeden, mitzuarbeiten und das
setzte herzugeben, wenn es gälte, das Heimat-
"ud zu befreien. Was wir in den vierein-
Mlb Kriegsjnhren geleistet haben wie kein
anderes Volk in der Geschichte, beweise unsere
gewaltige Kraft und gebe uns Mut und
Hoffnung für die Zukunft. Aber aufwachen
müssen wir und die Waffen, die wir in
falscher Sicherheit wieder beiseite gelegt
haben, aufs neue ergreifen und uns so stark
machen als es nur irgend möglich ist, damit
wieder, wenn die Stunde der Erlösung
unserer Heimatprovinz ruft, jeder auf seinem
Posten sei. — In diesen Appell an die
Wehrhaftmachung des Volkes gipfelten die
Ausführungen des Redners. Sie unterstützten
in wirksamer Weise das Vvrhergesagte und
verfehlten ihre Wirkung nicht. Schließlich
verlas Bürgermeister Buh ein vom Ministerium!
des Innern kürzlich eingegangenes Antwort¬
telegramm auf die von der Volksversammlung
Vom 29. März gefaßte Entschließung. In
diesem Telegramm wird zum Ausdruck ge¬
bracht, daß die Regierung auch bezüglich der
Provinz Posen dafür eintritt, daß der Be¬
stand des Staates erhalten bleibt, und daß
jedenfalls kein Gebiet unzweifelhaft deutschen
Volkstums unter die Gewalt eines anderen
Staates falle, sowie daß die preußische
Staatsregierung damit in voller Überein¬
stimmung mit der Neichsregierung stehe.
Der Redner knüpfte daran die Hoffnung,
daß es bei entschlossenem Vorgehen gelingen
würde, die ganze Provinz Posen wieder zu
gewinnen.
Von der Versammlung wurde darauf
folgende Entschließung, die an alle ma߬
gebenden Instanzen abgesandt werden soll,
einstimmig gut geheißen:
Ans Hilfe heischende Rufe der Posener
Flüchtlinge haben sich Tausende deutscher
Bürger in Berthchen, und Umgegend mit
ihren siegreichen treubewnhrten Grenzschutz,
ihren städtischen Vertretungen, den deutschen
Volksräten, Bürgerwehren und Frauen¬
vereinen heute zu einer gewaltigen Massen¬
kundgebung unter freiemHimmel in Berthchen
versammelt. Gestützt auf das durch die Ge¬
schichte verbriefte Recht der Zugehörigkeit
Posens zum Preußischen Staate verlangen
wir, daß Recht Recht bleibt. Das deutsche
Vaterland braucht die Provinz auch weiterhin
als Kornkammer und darf ihren Raub nie¬
mals zulassen, wenn es nicht wirtschaftlich
zugrunde gehen will. Deutsches Blut ist
um unsere teure Heimat geflossen. Tausende
haben, von den Polen Vertrieben, Haus und
Hof verlassen müssen. Sie alle sind gleich¬
wie ihre übrigen Landsleute von dem heiligen
Vorsatz beseelt, ihr Letztes herzugeben, um
den frevelhaften Raub gierigen Polenhänden
zu entreißen. Trotz des drohenden Gewalt¬
friedens fordern wir von der Negierung,
daß kein Fußbreit Landes von der Provinz
abgetrennt werde. Kraftvoller wie bisher
müssen die Posener Interessen vertreten wer¬
den. Mögen unsere Gegner in letzter Stunde
es sich gesagt sein lassen, daß alle Deutschen
Posens in dem Grenzschutz entschlossen sind,
die heimatliche Scholle bis zum letzten
Blutstropfen zu verteidigen und, wenn es
Not tut, Gewalt gegen Gewalt zu sehen.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende.
Der Deutsche Heimatbund Posener Flücht¬
linge (Ortsgruppe Berthchen), Der Gefechts¬
abschnitt Berthchen. Die städtischen Körper¬
schaften Berthchen. Der Deutsche Volksrat.
Die Bürgerwehr. Die vereinigten Frauen¬
vereine.
Nachdem das Lied „Deutschland, Deutsch¬
land über alles", das die mehrtausendköpfige
Menge begeistert sang, verklungen war, setzte
sich der Zug nach dem Friedhof in Bewegung,
um hier den im Kampfe um unsere Heimat
Gefallenen eine letzte stille Ehrung zu er¬
weisen. Es wurden von den Vertretern der
städtischen Körperschaften, des Grenzschutzes
und der Vereine eine große Zahl herrlicher
Kränze auf die zum Teil noch frischen Gräber
niedergelegt. Einige kurze Ansprachen
brachten das Gelöbnis zum Ausdruck, den
Toten die Treue zu halten und eS ihnen,
wenn die Stunde der Entscheidung schlägt,
nachzutun. Damit hatte die imposante
Kundgebung ihr Ende erreicht. Möge das
Ziel, das der Deutsche Heimatbund Posener
Flüchtlinge auf seine Fahne geschrieben hat,
recht bald zur Wahrheit werden.
Was für Aufgaben die Polnische sogenannte
Volkswehr hat, wozu sie bestimmt ist, kann
man leicht aus nachstehendem Leitartikel der
„Gazeta Polska" (Kosten) Ur. 7S vom 8. 4.
ersehen:
Die Volkswehr. In einigen Tagen wird
die Volkswehr des Kreises Kosten eine hohe
und erhebende Feier begehen. Nach An¬
hörung der heiligen Feldmesse angesichts
Gottes werden die Reihen der Volkswehr in
Anwesenheit des Obersten Kommandos der
Volkswehr und des polnischen Militärs ein
feierliches Gelöbnis ablegen, daß sie dem
Vaterlande treu dienen und im Notfalle das¬
selbe bis zum letzten Blutstropfen verteidigen
werden und daß sie in diesem Natioualdienste
Gehorsam unserer rechtmäßigen polnischen
Behörde versprechen, ebenso wie den von ihr
ernannten Befehlshabern.
Dieser feierliche Moment wird Wohl jedem
der Anteilnehmer die riesengroße und er¬
hebende Aufgabe vergegenwärtigen, welche
unsere Bolkswehr zu erfüllen hat.
Das neue Polen wird wieder aufgebaut
und erhebt sich nach langem Sklaventum
unter schweren und harten Bedingungen.
Seine Grenzen sind noch nicht festgelegt, und
doch muß man sie schon vor dem Feinde
schützen, der von allen Seiten hereinbringt,
nanus wiederum zu unterjochen oder während
des allgemeinen Weltchaos wenigstens ein
Stück des ewigen Polnischen Landes zu rauben.
Also greift die Blüte der polnischen Jugend
und der gereiften Männer, die vielleicht eben
erst aus dem vierjährigen Kriegsgetümmel
zurückgekommen sind, wieder zu den Waffen
und schützt durch die lebendige Mauer seines
Körpers das bedrohte geliebte Land, und
obgleich sie auf dem Felde des Ruhmes um¬
kommt, währt sie doch weiter aus und siegt.
DaS ist unser tapferes, wenn auch junges,
unser heldenhaftes polnisches Militär, unser
Ruhm und unser Stolz.
Und wenn diese lebendige Schanze auf
der KampfeSfront verblutet, bleibt denn dann
für diejenigen, welche zu Hause geblieben
sind, nichts mehr übrig zu tun, als nur
diese tapferen Krieger zu loben, um sodcinn
den üblichen Alltagsarbeiten nachzugehen?
Und wenn diese lebendige Mauer erschüttert
werden sollte, wer wird sie stützen? Wer
wird schließlich die innere Ordnung und
Ruhe sichern?
Das ist die Aufgabe der Volkswehr.
Die auf diesem Fundament erbaute Volks¬
wehr wird zum Schutze unserer Fronttruppen
einen zweiten lebendigen Schutzwall bilden,
an dem alle Versuche der äußern Feinde wie
auch der innern Umstürzler scheitern werden,
wenn sie auch bei uns ihre geistlose um¬
stürzlerische Arbeit sollten beginnen wollen.
Dann wird auch unsere Volkswehr der Ruhm
und Stolz unseres ganzen Volkes werden.
Unter der Überschrift: „An alle Ämter"
bringt die Zeitung einen Aufruf des Starvsten
Kittel, in welchem die polnischen Behörden
und Organisationen nicht nur in Posen,
sondern auch in der Provinz aufgefordert
werden, anzugeben, was für Stellungen bezw.
Unter frei werden könnten, um dieselben
mit den aus Deutschland zurückkehrenden
Auswanderern zu besetzen. Der Aufruf sagt
weiter, daß durch eine derartige Übersicht
vorhandener Stellungen es ein leichtes wäre,
auch Posten, die bisher von deutschen An¬
gestellten versehen wurden, mit Polen zu
besetzen.
Eventuelle Offerten wird gebeten mit An¬
gabe der genauen Bedingungen schleunigst an
das Reesigrationsdezernat beim Kommissariat
des G. P. V. in Posen zu senden.
Traurige Zustände. Unsere Bevölkerung
^wpört sich ganz gerechtfertigterweise, daß
keine Kohlen erhalte, ferner, daß man
^ schon seit zwei Monaten damit tröstet,
daß die Kohlen bereits auf dem Wege sind.
Aber wie stehen die Sachen? — Die
Warschauer Regierung hat sich verpflichtet,
Wagen Kohlen täglich zu senden. Sie
erhält dafür Kartoffeln und Saatgut. Die
Kartoffeln sind abgeschickt worden, tausend
unserer Eisenbahnwagen sind in Kongreß-
Polen, wir wissen auch, daß in den Kohlen¬
werken über tausend Waggons schon ge¬
forderter und bereits absandbereiter Kohlen
liegen. Die Kohlenbergwerke werden an¬
geblich aus diesem Grunde sogar die Pro¬
duktion verringern müssen.
Es sind dies sehr traurige Zustände, welche
unbedingt geändert werden müssen. Es ent¬
steht angeblich eine solche Situation, daß
wir hier Kohlen erhalten würden, aber die
Beamten im Königreich handeln, denn sie
wollen, daß ihnen für jeden Waggon Kohlen,
welchen sie uns hierher schicken, ein be¬
sonderes Trinkgeld gezahlt wird (Lapöwka),
wie das zu russischen Zeiten der Fall war,
wo man ohne Bestechung sich nicht vom
Platze rühren konnte. Die polnische Ne¬
gierung in Warschau muß da unbedingt
einschreiten. Ebenso müssen auch dis Ab-
geordneten im Polnischen Landtag diese
Angelegenheit näher betrachten. Das demo¬
ralisierende russische System wollen wir auf
keinen Fall in das neu zu bauende Polen
einführen. Dieses System muß auf Schritt
und Tritt ausgerottet werden.
Ein scharfes Gesetz gegen die Bestech¬
lichkeit der Beamte» und der Staats-
angestcllteu. Warschau. Der Abgeordnete
Glabinski und Genossen haben das Projekt
eines Gesetzes eingebracht, welches sich gegen
die Bestechlichkeit der Beamten und der
Staatsangestellten richtet. Das Projekt be¬
stimmt, daß der Beamte, dem Bestechlichkeit
nachgewiesen wird, sofort aus dem Dienste
gewiesen und sein Vermögen beschlag¬
nahmt wird.
Ein sehr scharfes Gesetz hat man auch
gegen die Wucherer eingebracht.
Die Verhaftung von Bolschewisten bei
der Arbeit. Aus Warschau wird mitgeteilt:
Vorgestern hat ein Wachtposten des Kom¬
missariats in der Wroniastraße einen Roll¬
wägen mit Leuten angehalten, die zwei
Ballen Papier fuhren. Es erwies stA daß
es ein Transport der kommunistischen
Zeitung „Gromada" war. Man verhaftete
Se. Lubelski und I. Gebalski. Die Druck-
schriften wurden beschlagnahmt zwecks Ver¬
nichtung. Lubelski hat sich, wie aus den
Beweispapieren zu ersehen ist, eben erst aus
Dombrowa-Cürnieza ähnelten lassen.
Gazeta Polska .Kosten) Ur. 82 vom 4. April.
Entdeckung einer bolschewistischen Or¬
ganisation. In Landtagskreisen wurde vor¬
gestern erzählt, daß auf einer der Stationen
bei Kowel vier verdächtige Personen, darunter
eine Frau, auf dem Wege aus Kiew von
den Behörden angehalten wurde. Die vor¬
genommene Revision brachte eine ganze
Menge belastender Beweise und Korre¬
spondenzen an verschiedene Personen in
Warschau, Ludim und im Dombrower
Kohlenbecken zutage. Man hat auf diese
Weise die Spur einer Organisation der
Sowjetagitatoren entdeckt, die in Polen tätig
sind. In Verbindung mit dieser Entdeckung
sind viele Verhaftungen vorgenommen worden.
DieZeitung berichtet über die Gründungs-
versttmmlung einer bürgerlichen Partei, die
am 14. April stattfand. Das Programm in
der Nationalitätenfrage lautet: Gegenüber
der deutschen Bevölkerung und nationalen
Minderheiten in Polen werden wir uns
durch eine Toleranz in Präzise um¬
schriebenen Grenzen leiten lassen, damit nicht
irgend ein Schade für das Interesse der
Nation entsteht. Wir verlangen 1. voll¬
ständige innerlich geistige und äußere Polo-
nisierung unserer Städte, 2. Entfernung der
deutschen Beamten und Ersetzung derselben
durch Pslen. Wir fordern schleunigste Po-
Ionisierung der Schulen durch Entfernung
aller Lehrer, welche die Sprache nicht be¬
herrschen, oder uns feindlich gesinnt sind.
(Toleranz in Präzise umschriebenen Grenzen
ist ein sehr hübscher Begriff Anm. d. Red.)
Bestechung «ut Protektion. Die in
Warschau erscheinende neue Wochenschrift
„Sprawa" charakterisiert die polnischen Be¬
amtenzustände folgendermaßen:
Das Bestechertum vernichtet unseren
Volksorganismus. Unsere Ämter, besonders
die Approvisationsämter, sind gefüllt mit
merkwürdigen Individuen, die bescheidene
Beamtengehältsr beziehen, trotzdem aber über
ihren Stand leben und Tausende für Luxus-
und Genußmittel ausgeben. Noch mehr die¬
jenigen, welche während der moskowitischen
Zeiten Mietlinge waren und dann in den
Preußischen Dienst traten, spielen heute in
den Polnischen Ämtern eine Rolle und rauben
alles, was sich rauben läßt. Es ist ein
öffentliches Geheimnis, daß viel Staatsgut,
welches sich in den Händen des Staates
befinden müßte, Privatleute besitzen und
dasselbe zu hohen Preisen dem Staate zu¬
rückverkaufen. (Militärmützen aus Stoffen,
die nur die Polnischen Ämter besitzen ) Es
ist möglich, daß die höheren Beamten sich
keine Mißgriffe zu schulden kommen lassen.
Sie achten aber zu wenig energisch darauf,
daß andere diese Mißgriffe nicht verschulden.
Der Bestechung folgt der Nepotismus.
Zu Zeiten der Moskowiter und Deutschen
konnte man eine Stellung nur durch Protek¬
tion erhalten. Dasselbe ist auch heute der
Fall. Eine Stellung ohne Protektion zu
erhalten, ist gar nicht denkbar. Nicht Quali¬
fikation, nicht Befähigung, sondern Bekannt¬
schaften und gute Verbindungen, oft auch
Parteizugehörigkeit, spielen die erste Rolle
und dienen als Beweis der besten Befähi¬
gung und Redlichkeit.
Ein schlechtes System reißt auf ver¬
schiedenen unsererNmter ein. Die Funktionäre,
die sich Mißgriffe zu schulden kommen lassen,
werden nicht ihrer Stellung enthoben, sondern
versetzt. — Vielleicht zur Strafe auf schlechtere
Posten? — Keineswegs. Mit größter Sorg¬
falt wird darauf geachtet, daß der redliche
Beamte auf den bisherigen Etat gestellt
bleibt. Noch ein Schritt und wir kommen
dahin, daß es bei uns so zugeht, wie im
zaristischen Rußland, daß die Übergriffe zu
Beförderungen führten, denn der angeklagte
Beamte wurde natürlich auf einen höheren
Posten versetzt. Angeblich soll einer unserer
Minister gesagt haben, als man ihn auf
diese Angelegenheit aufmerksam machte:
Wenn ich alle für Bestechung und Diebstahl
entfernen wollte, so bleibe ich ohne Beamte.
Der „Manchester Guardian" gegen die
polnischen Machtanspriiche. In der deutschen
Presse ist in einem kurzen Auszüge ein Ar¬
tikel des „Manchester Guardian" vom 15. März
wiedergegeben worden, der sich gegen die
unberechtigten polnischen Ansprüche und ihre
offensichtliche Verletzung des Nationalitäten-
grundsatzes wendet. Die „Deutsche Allg.
Zeitung" bringt den nachfolgenden Wortlaut
des Artikels-
„Die Frage über die Grenzen der Pol¬
nischen Republik wird demnächst vor der
Friedenskonferenz zur Entscheidung gelangen.
In dem „House os Lords" gab es eine kurze
Besprechung hierüber am Donnerstagabend,
während Lord Curzon einige nicht unbedeu¬
tende Bemerkungen machte. Lord Curzons
Bezugnahme auf die wichtige Angelegenheit
der Zukunft Danzigs ist auf verschiedene Art
und Weise wiedergegeben worden. Nach
einem Bericht soll er gesagt haben, „er hielte
es für wahrscheinlich, daß die endgültigen
Vereinbarungen die Übergabe des Danziger
Hafens an Polen einschließen würden". Ein
anderer Bericht sagt: „Die Zukunft Danzigs
sei eine Angelegenheit, die jetzt in Paris be¬
sprochen würde, und die Ansprüche Polens
würden sorgfältigst in Erwägung gezogen
werden." Der Widerspruch ist offensichtlich.
Wenn Lord Curzon bei seiner Meinung ge¬
blieben ist, so muß die zweite Wiedergabe
die richtigere sein, denn alle Berichte lauten
dahin, daß Lord Curzon Polen gemahnt
hätte, seiue Ansprüche innerhalb vernünftiger
Grenzen zu halten und nicht zu versuchen,
Nachbarvölker aufzunehmen, welch« keine
verwandtschaftlichen oder andere Beziehungen
zu den Polen hätten.
Wenn es irgend ein Gebiet gibt, aus
welches die Polen ihre Ansprüche erheben,
ohne eine Berechtigung dafür in der Ver¬
wandtschaft, der Sprache oder Gesinnung der
Bevölkerung zu haben, so ist es der Stadt-
"ut Landbezirk Danzig. Von den 160000
Einwohnern DcmzigS sind weniger als
^ Prozent Polen.' Danzig ist eine durchaus
deutsche Stadt; sie ist es seit Jahrhunderten
gewesen. Sie war stets deutsch in bezug auf
Nasse, Kultur und Sprache, während sie
°>um Teil der alten polnischen Republik
bildete'ver deutsche Charakter Danzigs ist
weht das Ergebnis der Teilung Polens und
^ gegen die Polen gerichteten Verfolgungs-
politik Preußens nach dieser Teilung. Der
Wol- und Landbezirk Danzig hat eine
weitere Bedeutung, denn diese beiden Distrikte
bilden einen Teil der deutschen Brücke, die
vorwiegend deutschen und sicher nicht Pol¬
nischen Charakter hat und welche die rein
deutschen Gebiete Ostpreußens mit dem
übrigen Deutschland, westlich der Weichsel,
verbindet. Wenn daher Danzig (Stadt und
Land) dem Polnischen Staat einverleibt
würde, dann würden nicht nur zahlreiche
Deutsche und deutsche Gebiete gegen ihren
Willen unter polnische Herrschaft kommen,
sondern es würde auch die ausgedehnte
deutsche Provinz Ostpreußen gänzlich von
dem übrigen Deutschland abgeschnitten werden.
Was für Vorwände sind dann also für eine
derartig offensichtliche Verletzung des Natio-
ualitätengrundsatzes vorhanden?
Es ist der Wahrheit gemäß behauptet
worden, daß Danzig der natürliche Hosen
Polens ist und- daß die Alliierten Polen einen
Zugang zur See versprochen haben. Zugang
zur See bedeutet nun nicht notwendigerweise
den Besitz eines Hafens, welcher nach Natio¬
nalität, Sprache und Denkweise der Ein¬
wohner einem anderen Volk gehört. Es
bedeutet vielmehr, daß volle und freie Ver¬
bindung rin der See herzustellen ist, und
zwar so gesichert, daß das Tor zur See nicht
je nach Laune eines anderen Staates geöffnet
oder geschlossen werden kann. Wir glauben,
daß die Alliierten auf alle Fälle Polen einen
Zugang zur See in diesem Sinne sichern
werden. Die Erwägung, daß Polen in einem
solchen Fall ein Staat ohne eine eigene Küste
sein würde, ist nicht von Belang, denn Polen
wird diese Eigentümlichkeit mit verschiedenen
anderen neuen wie alten Staaten teilen: mit
der Schweiz z. B., mit Böhmen; vielleicht
mit dein zukünftigen Araberstant und bis zu
einem bestimmten Grade mit dem Jugo¬
slawischen Staat, dessen Haupthafen am
Adrintischen Meer Trieft und Fiume sein
werden. Die Beschaffung eines freien Zu¬
gangs zur See für Staaten, die tatsächlich
oder Praktisch von der See getrennt sind, ist
eine der Hauptaufgaben der Friedenskonferenz,
eine Aufgabe, deren Lösung vornehmlich dem
Völkerbunde obliegen wird.
Die Einverleibung Danzigs in den Pol¬
nischen Staat wird auch durch historische Er¬
wägungen unterstützt. Es heißt, Danzig war
einmal ein Teil des Polnischen Staates und
sollte auch wieder ein Teil des polnischen
Staates sein. Die historische Begründung ist
überaus schwach. Die alte polnische Republik
hatte zur Zeit ihrer größten Ausdehnung
weite Gebiete eingeschlossen, die nach Natio¬
nalität, Religion und Sprache ihrer Bevölke¬
rungen damals wie heute unzweifelhaft nicht
polnisch waren. Die alte Republik Polen
war kein Nationalst»atz sie war ein zu¬
sammengesetztes Reich, welches in der Art
seines Aufbaues von dem ehemaligen öster¬
reichisch-ungarischen Reiche nicht zu unter¬
scheiden war; und wie hier, so war auch in
der alten Republik Polen die Mehrzahl der
Einwohner nicht Polen; und die Mehrzahl
der Polen wiederum waren Sklaven, die von
der Minderheit des polnischen Adels geknechtet
und ausgesogen wurden. Polnische Im¬
perialisten handeln unklug, wenn sie das sehr
häßliche Gespenst der alten Republik Polen
wieder ausgraben, aber es handelt sich hier
um ein größeres Objekt als Danzig.
Wenn Lord Curzon die Polen warnte,
ihre Ansprüche zu mäßigen, so dachte er
hierbei nicht nur an Danzig, sondern an viel
größere Gebiete. Dmowski wünscht aus
historischen Gründen die Errichtung eines
Polens mit einer 36 Millionen-Bevölkerung,
eines Polens, welches außer rein polnischen
Gebieten nicht nur Danzig, sondern Litauen,
Weißrußland, Schlesien, einen großen Teil
der Ukraine und Ostgalizien einschließen soll.
Unter 35 Millionen Einwohnern dieser aus¬
gedehnten Gebiete befinden sich nur 1ö Mil¬
lionen Polen. DaS Gebiet, welches eine
polnische Majorität aufweist, hat nur eine
Bevölkerung von 20 Millionen. Im übrigen
Teil des Landes bilden die Polen größten¬
teils eine ausgesprochene Minorität. Die von
Dmowski vorgebrachten polnischen Ansprüche
befinden sich also in schärfsten Widerspruch
mit dem Recht der Nationalitäten. Die Polen
behaupten manchmal, daß die nichtpolnischen
Gebiete, auf welche sie Ansprüche erheben, in
Wirklichkeit „nach Kultur wie Zivilisation
polnisch" seien. Damit wollen sie sagen, daß
die Aristokratie und die Großgrundbesitzer
Polen sind. Aber heutzutage ist es ebenso
verhängnisvoll, Leute als Abhängige des
Großgrundbesitzes zu behandeln wie als Ab¬
hängige der Kohlenbergwerke.
Nun zieht aber Dmowski noch eine weitere
Erwägung in Betracht, die für ein imperia¬
listisches Polen sprechen soll. Er meint, ein
starkes Polen würde Deutschland das Gegen¬
gewicht halten und in dieser Beziehung die
Stelle Rußlands einnehmen. Diese Stellung¬
nahme hat in der französischen Chauvinisten-
Presse und unter gleichdenkenden Leuten hier
großen Anklang gefunden: Inwieweit Kom¬
binationen dieser Art von Bestand sein werden,
soll hier nicht besprochen werden, aber Prä¬
sident Wilson hat schon darauf hingewiesen,
daß die Welt zwischen dem Gleichgewicht der
Mächte und demi Völkerbund zu wählen
haben wird.
Wenn wir durch das Opfer der Rechte
nichtpolnischer Bevölkerungen ein größeres
Polen errichten in der Hoffnung, Deutschland
dadurch in Schach zu halten, so bedeutet
dies Machtpolitik. Alle diejenigen, welche ein
solches Polen errichten wollen, untergraben
damit den Völkerbund. Darüber müssen wir
uns alle klar sein. Ein gerechter Frieden
muß auf dem Prinzip der Nationalitäten
gegründet sein. Der Aufbau eines Polen
und des östlichen Europas in absolutem Ein¬
klang mit dem Völkerrecht ist sicherlich mit
Schwierigkeiten verbunden. Denn in diesen
Gebieten sind verschiedene Nationalitäten un¬
trennbar durcheinander gewürfelt. Aber die
Friedenskonferenz muß es sich zur Aufgabe
machen, die Unterwerfung von nationalen
Majoritäten unter Minoritäten zu vermeiden
und die Rechte der Minoritäten zu schützen.
Auf diese Weise kann die Friedenskonferenz
ihrer Aufgabe so gerecht werden, wie es
von humanen Staatsmännern erwartet
werden kann."
, Die Armee Halter. Nunmehr sind be¬
reits über 15 000 Mann der Hallerschen
Armee auf polnischem Boden eingetroffen.
Nach einem Warschauer Funkspruch an Alle
gibt Haller die Gesamtzahl seiner Truppen
auf insgesamt 100 000 an.
Die ersten Transporte sind nach Galizien,
d. h. gegen die Ukrainer, in Marsch gesetzt
worden. Es ist aber möglich, daß spätere
Transporte der Hallerschen Armee in der
Provinz Posen verbleiben, zumal ein Teil
der Hallerschen Truppen nach dem Rückzug
der Bolschewiki in dem Nordabschnitt der
russisch-polnischen Front (d. h. bei und süd¬
lich Wilna) dort nicht mehr gebraucht wird.
Imi Zusammenhange damit gewinnen
Nachrichten an Bedeutung, nach denen in
Gnessn, Hohensalza, auch Rogasen usw.
Quartiere für Teile der Hallerschen Armee
vorbereitet werden.
Polnische Knndgevimgcn für Danzig.
General Haller traf mit seinem Stäbe am
Dienstag Bormittag in Warschau ein, wo
er von dem Minister des Innern, dem Nb-
Aeordneten Grabski und dem Stadtverord¬
neten Balinski empfangen wurde. Die An¬
kunft Hallers rief eine starke Kundgebung
hervor. Eine große Menge zog zur Woh¬
nung des französischen Gesandten unter Vor-
""tragung eines Transparents mit der Auf¬
schrift: „Wir stecken das Schwert nicht eher
die Scheide, bis Danzig unser ist." Auf
°">e Ansprache erwiderte der französische
Gesandte, daß er seiner Regierung die ge¬
rechten Wünsche der Polen übermitteln werde.
Nach einer weiteren Meldung desselben
glattes erklärte General Haller bei seinem
Erscheinen auf polnischem Boden, daß Danzig
Polen gehören müsse. Wegen Westpreußens
""d Schlesiens bedauerte er, daß sie nicht
eilt Beispiel Posens gefolgt seien, wodurch
^>e Fragen längst hätten gelöst sein können.
Wie aus Posen unter dem 23. April
sichtet wird, trifft General Haller im Laufe
^>er Woche dort ein, wo sich gegenwärtig
der französische General Henry, Vertreter
Fonds und Führer der Militärkommission der
Verbündeten in Polen, aufhält. Der Auf¬
enthalt General Henry hänge mit militäri¬
schen und Politischen Fragen zusammen.
General Halters Forderungen. General
Haller nahm am Ostersonntag in Krotoschin
während der Durchfahrt die Parade über
die dortigen Polnischen Truppen ab. Dabei
gab er nach dem „Dziennik Poznanski" fol¬
gende Erklärung ub: Was Danzig anlangt,
so gibt es nur einen Standpunkt: Danzig
gehört Polen und muß polnisch werden.
Was Schlesien und West- und Ostpreußen
anlangt, so muß man diesen Teilgebieten
zu Hilfe kommen. Wenn diese Länder den
Status erlangen wie jetzt das Großherzog¬
tum Posen, dann würde diese Frage schon
geklärt sein, („Lot.-Anz." 185 v. 26, April.»
Neue Drohungen Halters gegen Deutsch¬
land. Der polnische General Haller setzte
in einer Unterredung mit Vertretern des
Polnischen Korrespondenzburcaus seine
Drohungen gegen Deutschland fort. Seit
er polnischen Boden betreten habe, erkenne
er Pilsudski und die polnische Nationalver¬
sammlung als oberste Gewalten an. Mar¬
schall Fons unterstehe er nur nominell.
Polen werde der ganzen Welt den lauten
Schwur entgegenschleudern, daß es Danzig
niemals aufgeben werde. In Paris sei
man von den deutschen Lügen, Danzig und
den Ostseestrand als deutsch hinzustellen,
überzeugt. (Drahtmeldung d. „Voss. Ztg.".)
Polnische Verstärkungen an der poscnschen
Front. Zuverlässige Nachrichten von der
Polnischen Front besagen, daß an verschie¬
denen Abschnitten neue polnische Truppen
festgestellt worden sind. Es handelt sich
vermutlich um die Polnischen Legionäre, die
durch Eintreffen der Haller Truppen an der
Polnischen Ostfront freigeworden sind und
nun gegen Deutschland verwendet werden.
Die Posener Zeitung „Gonico Wielkopolski"
berichtet bereits, daß General Haller in
militärischer Angelegenheit von Warschau
nach Posen zurückkehre. Andere polnische
Blätter, wie auch der „Dziennik Poznanski",
schreiben, das wichtigste sei, daß die Haller
Truppen jetzt an der Verteidigung des
Vaterlandes gegen die Feinde teilnehmen
können, die es von allen Seiten umgeben.
Die polnische Flotte.
Warschau. Das Mitglied der Koalitions¬
kommission in Warschau, der englische Kapitän
der Flotte Nawlings besuchte in diesen Tagen
die Marineseltion im Kriegsministerium.
Nach gemeinschaftlicher Untersuchung der
Frage versicherte der Kapitän Nawlings dem
Chef der Sektion, daß er der englischen
Admiralität über alle materiellen Nöte der
polnischen Flotte sofort berichten wird.
England soll das Protektorat üverOstpreußen
übernehmen.
In den polnischen Blättern findet sich
folgende Nachricht: „Wie man hört, wird
England das Protektorat oder den Schutz
Ostpreußens, der baltischen Länder und des
ethnographischen Litauens übernehmen. Aus
Paris wird berichtet, daß die von den
Zeitungen angegebene Linie der Polnisch-
deutschen Grenze einige Berichtigungen erfährt,
und zwar wird beabsichtigt, den südwestlichen
Teil des Neuenburger Kreises sofort an
Polen anzugliedern, um Polen die Bahnlinie
Danzig—Mlawa—Warschau zu sichern. In
den übrigen Teilen des Neuenburger Kreises,
sowie der Altensteiner Negierung soll nach
Verlauf eines halben Jahres eine Abstimmung
stattfinden. Die französische Zeitung „Victoire"
gibt sodann ihre Meinung gegen das Volks¬
abstimmungsprojekt inErniland und Masuren
bekannt."
(Darauf läuft es hinaus, wenn Danzig
an Polen fiele und Ostpreußen vom Reich
getrennt werden sollte. Noch ist die Danziger
Gefahr nicht vorbei.)
Ein von den Polen erschossener Parlamentär.
Eine erschütternde Todesanzeige ver¬
öffentlicht der Chefredakteur der „Wiesbadener
Zeitung", Werner Grothus. Sie bringt zu¬
gleich Kunde von einem bisher unbekannt
gebliebenen Vorgang an der Ostfront. Die
Anzeige besagt:
„Aus dem Osten erhalten wir auf Um¬
wegen die erschütternde Nachricht, daß unser
gelieber Sohn und guter Bruder, der
Abiturient Hellm. Grothus, Viezefeldwebel
im Freiwilligen Jägerkorps Gieseler, am
Freitag, den 21. März d. I., an der West-
Preußisch-Polnischen Grenze im eben voll¬
endeten 19. Lebensjahre den Heldentod ge¬
storben ist. Unser braver Sohn war in
seiner heißen Vaterlandsliebe ein vorbildlicher
deutscher Junge. Seit 1917 stand er ununter¬
brochen in Ost oder West im Felde. Nach
Zusammenbruch der Westfront meldete er
sich unter weiterem Verzicht'auf jeden Heimat¬
urlaub als erster Freiwilliger beim Frei¬
willig en-Detachement Gieseler zum Schutz
der bedrohten Ostgrenzen Preußens. Jetzt
traf ihn eine Polnische Kugel beim Über¬
schreiten der Grenze als Parlamentär. Er
hat sein Blut als erster Gefallener des Frei¬
korps für die Unversehrtheit Preußens dcchin-
gegeben. Preußische Männer und Frauen,
und besonders du, preußische Jugend, laßt
euch von dem Toten nicht beschämenl"
Polnische Wahlniederlage in Altenstein.
In dem nach polnischer Behauptung
„unzweifelhaft Polnischen" Regierungsbezirk
Altenstein haben am 2. März die Neuwahlen
zu den Gemeindevertretungen auf Grund
des allgemeinen, gleichen und geheimen
Wahlrechts stattgefunden. Obwohl die natio¬
nal-Polnische Agitation im Wahlkampf ganz
unbehindert in aller Schärfe sich betätigen
konnte, bedeutet das Wahlergebnis eine ver¬
nichtende Niederlage des Polentums, das
nur ganz vereinzelt seine Kandidaten mit
geringen Minderheiten durchbringen konnte.
Besonders bezeichnend ist das Ergebnis in
der Stadt Altenstein, wo von rund 11l)0t1
abgegebenen Stimmen die Polen 667 auf
ihre Listen vereinigen konnten und damit
von 42 Sitzen einen für sich erhalten haben-
Dabei soll nach dem Nomerschen Jahrbuch
in der Stadt Altenstein das Polentum elf
Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das
Wahlergebnis beweist besser als alles andere,
wie wenig die ungebildeten, ihre Vereinigung
mit den Polen erstrebenden Bewohner des
Regierungsbezirkes Altenstein sich als Pole"
fühlen. Kreuzztg. Ur. 1V vom 29. Aprils
Die Friedensbedingungen sind heraus. Ihre Annahme wäre das Ende
Deutschlands, für die Ostmark die Bernichtnng des ostmärkischcn Deutschtums.
Aber die Fricocnsbedinguna.er sind noch nicht der Friede. An deutschem
^nkunftsglauben und am festen Willen des deutschen Volkes wird der Wahn¬
sinn der Feinde zuschanden werden.
Die deutsche Neichsrcgicrung und die deutsche Nationalversammlung
haben sich in feierlichster Weise darauf verpflichtet, nur einen Frieden anzn-
«ehincn, der mit den 14 Punkten Wilsons übereinstimmt. Die 14 Punkte
Wilsons bedeute» für uns Ostmarkdeutsche die Anerkennung unserer berech-
^genn Ansprüche. Wir fordern von der deutschen Regierung, das; sie nicht
Haares Breite von den 14 Punkten Wilsons abweicht. -
Wir fordern aber auch Treue um Treue vom gauzen deutschen Volk.
^>ne Preisgabe der Ostmarken wäre eine Schmach, die Jahrhunderte vom
Zutschen Namen nicht abzuwaschen vermöchten.
Die Friedrnsbcdingungcn sind noch nicht der Friede. Die deutsche
Regierung und das ganze deutsche Volk soll wissen, das; wir Ostmarkdeutsche
^ jedem Opfer entschlossen sind, nur nicht zum Opfer unseres Volkstums.
"ir verteidigen unser heiliges Recht mit allen Kräften und Mittel«, die uns
5« Gebote stehen.
Jetzt gilts Unerschrockenheit und ruhiges Blut bewahren. Wir lassen
'"s nicht einschüchtern. Mit klarem Blick und hartem Willen wollen wir in
kommenden Wochen, die über das Schicksal der deutschen Ostmark und
"'"'t des gauzen deutschen Volkes entscheiden, nur das eine Ziel verfolgen:
Die deutsche WumrK — deutsch.
Die polnische Presse in den nicht be¬
setzten prsuWchen Gebietsteilen unter¬
scheidet sich wesentlich von der deutschen
ostmärkischen Provinzpressc. Sie kann
selbstverständlich nicht das Niveau ,5er
Danziger, Bromberger und Graudenzec
Zeitungen erreichen, die das Sprachrohr
geschlossener, bedeutender Kulturzentren
sind — Mittelpunkte konzentrierter pol¬
nischer Kultur, die diese Städte eben für
das Deutschtum sind, besitzen die Pole"
in den nichtbesetzten Teilen nicht, über-"
wiegend Polnische städtische Sicdelungc"
von Rang und Namen gibt es nicht-
von Rtng und Namen gibt es nicht-
Diesen durch die Macht der Verhältnisse
nun einmal bedingten Nachtoil gleicht d>e
polnische Presse in einer Weise aus, dui
sie sogar vor der deutschen einen erheb"
lichen Vorsprung gewinnt, obwohl Sö^
noch dazu mit einem Leserstande rechne^
muß, der an Bildung und Verstand"!-
tief unter dem deutschen steht: Sie ist ein¬
heitlicher, zielstrebiger auf den einen,
alium 'Ausschlaggebenden Gesichtspunkt
redigiert, nämlich den nationalen. Diesem
Gesichtspunkte haben sich alle anderen
unterzuordnen; von der nationalen Warte
aus bewertet, verarbeitet und veröffent¬
licht die polnische Presse all die Nach¬
richten, die sie für ihre Leser geeignet
hält. Diese enge Einseitigkeit kann ihr
nicht schaden, da sie von vornherein nichts
weiter sein will, als Kampforgan für
die Erweckuig und Belebung des pol¬
nischen Chauvinismus in den engeren und
'engsten Provinziellen und lokalen Teilen.
Sie verzichtet darauf, über die Grenzen
Provinz, der Ostmarf, hinaus, und
sei es auch nur in geistiger oder kul¬
tureller Beziehung, irgend eine Bedeu¬
tung zu gewinnen, sie wviß ferner, daß
sie den Ansprüchen der polnischen In¬
telligenz nicht genügen könnte, sie ist aber
mit Recht überzeugt, daß der gebildete
polnische Leser mit dieser Tendenz aus
dem dem eigenen übergeordneten natio¬
nalen Interesse vollkommen einverstanden
ist, sie kann also auf seine Förderung und
Mitarbeit rechnen. Die chauvinistische
Engigkeit hebt die Polnische Presse aber
"und weit über den Stand der deutschen
Durchschnittspresse (etwa zwei Drittel der
so?^nannten kleinen Zeitungen) hinaus.
Diese beschränkt sich darauf, kritiklose
oder höchstens Don oinem —> meistens
farblosen — Parteistandpunkt (der na¬
turgemäß noch enger als der nationale
^t) aus redigierte Nachrichtenverbreitnng
5N üben, wobei in sehr vielen Fällen
wesentliche Inhalt der Blätter be¬
reits fix .und fertig aus Berlin bezogen
^>rd, und die lokale Redaktion nur nötig
^t, dazu noch die Inserate und kleineren
lokalen Neuigkeiten hinzuzudrucken. Die
Kraftlosigkeit dieser deutschen Blätter kann
auf die geistige und nationale Erziehung ihrer
^°ser keinen Einfluß ausüben. Für die Star-
^"us des nationalen Gedankens haben
°'ehe Blätter schon aus dem Grunde nichts
"brig, weil sie weder im Hinblick ans
die Mitarbeiterqualität noch auch tech¬
nisch befähigt sind, größere Artikel — die
für die Bildung der öffentlichen Mei¬
nung in Bezug auf die engere Heimat
von Einfluß sein können — zu verfassen,
geschweige denn zu drucken. Aber auch
der höher stehenden deutschen Presse fehlt
immer noch die Einsicht für ihre Haupt¬
aufgabe: Gegengewicht gegen die pol¬
irische Wühlarbeit. Vor allein mangelt es
an einer unbeteiligten, wohlinformierten
Stelle, von der aus die gesamten deutschen
Blätter schnellstens nach einem bestimmten Ge¬
sichtspunkt mit der Parole des Tages, mit
Stich- und Schlagworten inspiziert werden
können (etwa Presseamt der Ostmark). So
arbeitet der größte Teil der deutschen Presse —
ganz zu schweigen etwa von den in deutscher
Sprache erscheinenden Blättern, die wie
z. B. „Lobcnser Zeitung", in polnischem
Besitz sind — selbst bei bestem Willen
ziemlich planlos und erfolglos nebenein¬
ander.
Ganz anders die polnische. Auch sie
leidet an dem — auf finanziellem Grunde
beruhenden — Mangel einer zu selbst-
ständiger Arbeit befähigten Mitarbeiter-
schaft, sie füllt diese Lücke aber reichlich
dadurch aus, daß sie in lausgedehntem
Maße ans der großen polnischen Presse
Artikel übernimmt, die nach außen hin
als eigene frisiert werden. Daneben er¬
hält sie ganz ausgezeichnetes, für die be¬
stimmten lokalen Bedürfnisse berechnetes
Material zugesandt, das in der gleichen
Aufmachung veröffentlicht wird. Alle
Veröffentlichungen werden, wie schon ge¬
sagt, nur von dein e i n e n Gedanken be¬
herrscht, dem Chauvinismus.
Um die der polnischen Sprache nicht
kundige deutsche Bevölkerung für den pol¬
nischen Gedanken zu gewinnen, haben die
Polen in den letzten Monaten polnische
Blätter in deutscher Sprache gegrün¬
det, die in hoher Auflage in der Ostmark
vertrieben werden. Es sind dies: „Pol¬
nische Warte" (Danzig), „Polnische Nach¬
richten" (Altenstein), „Der Weiße Adler"
(Oppeln). Da letztgenanntes Blatt wegen
seiner .aufreizenden Sprache verboten
wurde, gab die in Oppeln erscheinende
polnische Zeitung dafür einfach eine Auf¬
lage in deutscher Uebersetzung heraus.
Ist die polnische Presse dergestalt für
die Werbung^ zum nationalen Gedanken
tatkräftiger als die deutsche, ihr überlege¬
ner, fo ist sie damit auch um so gefähr¬
licher für die Stellung des Deutschtums.
Der deutsche Gedanke, das deutsche Zu¬
sammengehörigkeitsgefühl, wird nicht an
einzelnen Stellen mit einzelnen Angrif¬
fen bedroht, sondern überall mit plan¬
mäßig geleiteter, unermüdlicher Klein¬
arbeit der an einer unsichtbaren Schnur
gelenkten polnischen mittleren, kleineren
und kleinsten Blätter zermürbt. Auf der
anderen Seite wird ebenso planmäßig der
Polnische Staatsgedanke, das Rachegefühl
gegen die deutschen Bedrücker in die
Köpfe der preußischen Staatsbürger pol¬
nischer Zunge eingehämmert, bis sie
schließlich der Massensuggestion der ein¬
heitlich redigierten polnischen Presse er¬
legen sind.
Mit Staatsanwaltschaft und Straf¬
gesetzbuch war dagegen schon in der Frie-
denszoit nicht viel auszurichten gewesen.
Gegen die langsame, in einzelnen und
unmerklichen Dosen erfolgende Brunnen-
Vergiftung waren die Mittel der staat¬
lichen Beaufsichtigung machtlos. An die
Wahl des wirksamsten Mittels, Schaffung
eines Gegengewichts durch eine leistungs¬
fähige deutsche Durchschnittspresse, wurde
Wohl nicht gedacht. Nun sind nach der
Revolution die letzten Schranken für eine
hemmlungslose Polnische Pressetätigkeit
gefallen, und die polnische Presse benutzt
diese Spanne Uebergangszeit bis zum
endgültigen Frieden, um in ihren Spal¬
ten wahre Orgien des Hasses gegen alles,
was deutsch ist, zu feiern, um Triumph¬
gesänge für den polnischen Nationalismus
und den feindlichen Imperialismus an¬
zustimmen. Die deutschen Behörden sind
müde und unsicher: das Gefühl dafür,
wo die Grenze des Erlaubten (der soge¬
nannten Freiheit) mit der Pflicht zur
Selbsterhaltung kollidiert, ist ins Wanken
Beraten. Ein fester Maßstab, der an die
einzelnen Dinge des Staats interesseS
heranzulegen wäre, fehlt bei der Unsicher¬
heit in den allgemeinsten Fracieu des
Staatswohles. Die Gehördenkompetenz
ist strittig, die Machtbefugnisse der Ar¬
beiter- und Soldatenräte sind nicht gesetz¬
lich festgelegt, und die Begriffe über das
Recht des notwendigen und Erforderlichen
schwanken.
Den Vorteil aus diesen Zuständen
zieht der schadenfrohe Dritte: die pol¬
nische Presse. Ihr früher in weiter
Fe>'ne liegendes Ziel: Schaffung eines
unabhängigen NationalstaateZ, ist in
greifbare Nähe gerückt, die verschwomme¬
nen Umrisse haben sich verdichtet, me
Wirklichkeit scheint mehr zu versprechen,
a'.s man zu hoffen gewagt hatt,., Die
Mittel zur Erreichung dieses Zieles haben
sich durch die völlige Bewegungsfreiheit
der Presse vervielfacht. Andererseits ist
es jetzt nicht damit getan, allgemeine
nationalistische Arbeit zu leiste-t sondern
e? heißt, bestimmte Wege zu we'her, wie
das Ziel am vollkommensten und am
schnellsten zu erreichen ist. Dem polnischen
Leserstande muß auf der einen Seite «in
ungeheures Maß von Haß und Ver¬
achtung gegen das Deutschtum und den
preußischen Staat, auf der anderen Seite
unermeßliche Liebe zu einem ihm nur
vom Hörensagen bekannten Großpoleu
und Verehrung und Dankbarkeit für „den
moralischen Nachbar" Frankreich einge¬
impft werden. Dies bedingt, daß die
freiheitlichen Bestrebungen im neueren
Deutschland ins Lächerliche und Verächt¬
liche gezogen und die Aeußerungen des
brutalen Machtegoismus Frankreichs als
gerechte Strafe für Deutschland und not¬
wendige Sicherung für Polen hingestellt
werden. Gleichzeitig wird dem polnische»
Leser ständig vor die Augen gehalten,
daß Deutschland auch nach seiner Nieder¬
lage noch immer nicht von seinem offen¬
baren Unrecht überzeugt sei und finsteren
Haß und Nacheplcine gegen Polen brüte-
Die Polen müßten daher auf der Hut
sein und alles für den geeigneten Mo¬
ment vorbereiten, Wo sie selbst zu ent¬
scheiden haben würden.
Als rücksichtslose Vorkämpfer in dieser
Hetze beteiligen sich in der Reihenfolge
ihrer Gefährlichkeit: „Gazetta Torunska"
lThorn). „Gazeta Gdanska" (Danzig),
„Prsyjaciel Lud»" (Graudenz), auch
„Gazeta Grndlsiadzka" (Graudenz), „Ga¬
zeta Chojnicka" (Konitz), „Gazeta Ols-
ztynska" (Altenstein), „Dziennik Ber¬
linski" (Berlin) und „Dziennik Byd-
Noski" (Bromberg). Dieser figuriert nicht
aus eigenem Willen an letzter Stelle, da
'hin die bösartigsten Giftzähne durch die
Stellung unter Vorzensur ausgebrochen
sind.
Ueber die einschlagende Methode
herrscht unter den polnischen Blättern
völlige Einstimmigkeit. Sie reagieren
auf sämtliche Angriffspunkte, die die Ver¬
hältnisse ihnen zu bieten scheinen, schlag¬
artig in der Aelchen Weise, ein Beweis,
daß sie einheitlich dirigiert werden.
Das erste Mittel ist die Diskre¬
ditierung des deutschen Ansehens bei
den Polen im Lande und von der ge¬
samten öffentlichen Meinung: Deutschland
^>rd eines geheimen Zusammengehens
^it den russischen Bolschewisten beschul-
d'lit, um gemeinsame Angriffsabsichtcn
tels!M Polen in die Wirklichkeit umsetzen
^ können. Die Kämpfe der deutschen
puppen gegen die Bolschewisten in Kur¬
land werden als Schemmanöver gebraut-
"^rkt, tatsächlich richteten sich alle an¬
glichen Verteidigungsmaßnahmen des
^enzschu^es Ost gegen Polen („Gazeta
Chojnicka"). Die anarchistischen und kom¬
munistischen Unruhen und Streiks in
H»kam sind selbstverständlich ans deutsche
Umtriebe zurückzuführen. („Gazeta Toi-
runska"^
Der deutsche Grenzschutz tai^gs der
cniarkativnslinie besteht tatsächlich auch
ans bolschewistischen Horden, die
/"in angeworbenen Soldaten sind Mor-
^' Plünderer, die es nur auf das Steh-
len und Rauben abgesehen haben und die
Bezeichnung „Soldaten" im Grunde nicht
verdienen. Die von ihnen begangenen
Grausamkeiten schreien zum Himmel.
Die Grenzschntzsoldaten sind aber
ebenso grausam wie feige. Die „Gazeta
Ddanska" (Ur. 20) vom 20. April kann
berichten, daß die wackeren Kassuben
den Grenzschutz mit Stöcken verprügelt
haben, und die wackeren „Helden des
Grenzschutzes", obwohl sie mit Hand¬
granaten bewaffnet waren, hinter einem
Zaune Zuflucht suchen mußten. Die
„Gazeta Gdanska" knüpft daran folgende
Bemerkung: „Möge also der Grenzschutz
nicht zu viel herumspielen, denn es könnte
ihm schlecht gehen, wenn die Stöcke, welche
von selbst schlagen, auf ihn aus dem Sack
herausspringen, wie davon in einem
Märchen gesprochen wird.
Die Deutschen kennen Wohl noch das
Märchen, in welchem der „Knüppel a>us
dem Sack" eine Rolle spielt? Wir können
>aider verraten, daß im Kassubenlande
dicke Stöcke wachsen und dort noch mäch¬
tigere Kerle vorhanden sind, gesund und
stark wie Eichen."
Obwohl die Zeitungrn sich durch ihre
offene Sprache selbst Lügen strafen, ge¬
bärden sie sich in ihren Artikeln, als ob
der Pole in Preußen völlig seiner Rcde-
und Preßfreiheit beraubt sei. Namentlich
in Bezug auf Westpreußen wird Stein
und Bein geklagt, daß sich in Preußen
nichts geändert habe und die alte Unter-
drückungspolitik fortdauere. Die Polen
allem müßten schweigen, während die
Deutschen reden könnten, und zum Be¬
weise dafür werden Proteste des unter¬
drückten Polentums an Wilson, Marschall
Fons von seiten der Volkskommissariate
in Danzig und Bromberg 'abgedruckt.
Die deutschen Proteste gegen die Ab¬
trennung der ostmärkischcn Gebietsteile
sind eitel bestellte Arbeit, von oben be¬
fohlen und von den an Gehorsam ge¬
wöhnten Deutschen mit tiefer Ergebenheit
ausgeführt. („Gazeta Torunska".) Die
Deutschen sammeln aber nicht allem auf
Befehl Unterschriften für derartige Pro¬
teste, sondern sie zwingen mit brutaler
Gewalt auch wirkliche Polen zur Unter¬
schrist oder erschwindeln solche durch Vor¬
spiegelung falscher Tatsachen oder erbetteln
sie wie bei den Kassuben und Masuren,
d!e doch nichts von den Deutschen wissen
wollen.
Die Deutschen sind heimtückisch und
grausam, sie planen blutigen Mord und
Ueberfall. In Thorn hat der „bekannte
Hakatist Geheimrat Cloinow" am
20. März öffentlich eine blutige Ab-
schlachtung sämtlicher Polen verlangt
(„Gazeta Torunska" Ur. 66 vom
22. März) und die „Gazeta Gdcmska"
Ä!r. 77 vom 3. April weis; von dem Plan
eines Polenprogroms in Danzig zu be¬
richten!
Die Deutschen stellen es immer so dar,
als ob sie sich in der Verteidigung be¬
fänden, und die Polen die Angreifer
wären: Das Gegenteil ist der Fall. Die
„Gazeta Torunska" Ur. 84 vom 13. April
bringt dazu als Beleg folgende Nachricht:
„Zwecks Nrccherinig d> s Polener Ge¬
bietes organisiert die deutsche Regierung
Freiwilligen-Abteilungen aus Deutschen,
die aus polnischen Gegenden geflüchtet
sind und fähig sind, Waffen zu tragen.
Es sollen das 60 000 Mann sein. Die
Angelegenheit wird auf Betreiben der
Regierung von dem bekannten Apostel
des Hakatismus, Geheimrat Cleinow, ge¬
leitet."
Die Polen ihrerseits sind ängstlich be¬
müht, den Waffenstillstand einzuhalten,
jedoch die Deutschen brechen ihn fort¬
während. Siehe „Przhjaoiel Ludu"
(Graudenz) Ur. 86, vom 17. April.
Im Posenschen werden die Truppen
des General Dowbor-Musnicki fortwäh¬
rend von den Abteilungen des „Grenz¬
schutzes" angegriffen, welcher sämtliche
Demarkationslinien verspottet. Obgleich
die deutschen Truppen immerwährend
angreifen und die Ortschaften mit Ar¬
tilleriefeuer vernichten, erscheinen lügne¬
rische deutsche Berichte, die vom Wolff-
burcau verbreitet werden, und in denen
man die Polen in frechster Weise des
Wasfenstillstandsbruches anklagt.
Es gehen auch Gerüchte, daß der
„Grenzschutz" plündert und sich benimmt
wie Tartarenhorden."
Die Deutschen behaupten natürlich,
daß die Polen angriffen, und sämtliche
polnischen Blätter haben dafür eine
stehende Rubrik: Lügnerische deutsche Be¬
richte über angeblichen polnischen Waffen¬
stillstandsbruch.
Mit diesen Mitteln wird nicht nur
eine Diskreditierung Deutschlands, son¬
dern auch die Ansammlung eines unge¬
heuren Hasses bei den preußischen
Polen bewirkt. Die beiden Graudenzer
Blätter senken die Keime des Hasses schon
in die Kindesseele, wofür eine besondere
Beilage, „Przhjaoiel Dziatwy" (der
Kinderfreund) herausgegeben wird. Kin-
derbriefe werden darin wiedergaben,-
die von unglaublichen deutschen Roh-
heiten zeugen. Ausmachung und Sprache
wendet sich geschickt an das kindliche Be¬
griffsvermögen. Reichen zur Erweckung
des Hasses die „örtlichen Behelfsmittel"
nicht aus, so wird aus ausländische Nach¬
richten zurückgegriffen. Vergl. „Gazeta
Torunska" (Thorn) Ur. 85 vom 15. April
1919:
Niederträchtige deutsche
Verbrechen. Luc>ebur, p/^l': „AM
Donnerstag kam in Lyon ein Zug aus
Lille und Roubaix mit 340 Kindern an,
die infolge des während der deutschen
Okkupation ertragenen Elends gehirn¬
krank geworden sind."
Diese bereits in andern polnischen
Zeitungen erschienene Mitteilung versieht
dieses Blatt mit folgendem Kommentar:
„In Belgien! ist auch eine Menge erwach"
heuer Personen während der Okkupation
irrsinnig geworden infolge der bestialische''
deutschen Schikanen. Viele Mütter, denen
die deutschen ^Verbrecher ihre Töchter n>it
Gewalt zu Arbeiten an die Front wegge¬
führt haben, haben Selbstmord begange»
oder sind irrsinnig geworden."
Der ,MrzYjaciel Ludu" Ur. 76 ovo
S. April entnimmt eine große Anleihe an»
den: „Journal des Debats" — d. h. sie
hat ,von der Zentvalleitung einen dics-
bcziiglichcn fertigen Artikel zugestellt er¬
halten — in dem die deutsche Grausamkeit
und Heuchelei eingehend dargelegt wird.
Die Zeitung „Journal des Debats"
druckt den Brief eines Polen >ab, welcher
Augenzeuge der zwischen Deutschen und
Polen stattgehabten Kämpfe im Süd-
Westen von Posen, unweit der schlesischen
Grenze wcir. „Die Stadt Obra ist von
allen Seiten umringt; die Deutschen
operieren quantitativ bedeutend mehr mit
Mftigcn Gasen als in Frankreich. Sie
vernichten Städte, Dörfer, die Saat, er¬
schlagen oder führen das Vieh weg. Sie
schlagen vor Freude in die Hände und
denken dabei, daß niemand die angerich¬
tete,, Schäden bezahlet: wird. Sie spotten
über die von der Entente erhaltene Note."
Dazu bemerkt die Redaktion: „Ja, die
Deutschen verspotten die Entente, das
wissen wir ganz gut."
„30 Kanonen," fügt unser Pole hin-
»n,, „beschießen das Schloß Ehobleniec,
wo verwundete Polen liegen. Eine tie¬
rische Raserei leitet alle ihre Taten und
die vier Jahre Krieg haben dieselben
noch nicht befriedigt. . . Wir sehnen uns
heiß nach der Ankunft der alliierten Kom¬
mission. . . Möge sie die unerhörten
^ügcn der deutschen Blätter mit dem
"Berliner Tageblatt" an der Spitze fest¬
stellen. . . . Fons ist vollständig in seinem
Rechte, daß er ähnelt nicht traut. Mau
'unß die Deutschen hören, wie sie was-
^ut ihrer Abendversammlungen sprechen.
Der Mist Wilhelms existiert immer
"och, nur uuter einem anderen Namen,
^in unbezähmter Haß ist in der preußi¬
schen Seele gegen die Franzosen und Po-
^n verblieben und wird fiir immer dort
bleiben.
Selbstverständlich spotten die Preußen
''Ah aus und verlachen uns, jedoch lacht
°" jenige am besten, der zuletzt lacht."
Unter der Ueberschrift „Instrumente
""löcher Kultur" beschreibt der „Dzien-
"'k Berlinski" (Berlin), Ur. 74, vom
2. Avril 1919 zwei Peitschen, die angeb¬
lich von den Bergleuten in Bieltzowieoe,
Kattowitzer Kreise, im dortigen früheren
Königlichen Bergwerk entdeckt worden
sind.
Die eine Peitsche soll einen halben
Meter lang und 3 Zentimeter stark sein,
die andere 55 Zentimeter lang und
2 Zentimeter stark. Sie sind aus schwerem
Gummi hergestellt und mit starkem Band¬
eisen umflochten. Am Ende einer jeden
Peitsche befindet sich ein aus Draht ge¬
flochtenes Ohr, um die Peitsche über die
Hand hängen zu können. Jedes dieser
Instrumente wiegt über 1 Pfund.
Der Artikel behauptet, daß diese Peit¬
schen für die polnischen Arbeiter bestimmt
gewesen seien und daß sie jetzt von den
Polen an das Nationalmuseum in Kra-
kau geschickt worden sind, um dort zu¬
sammen mit dem Wagen Drzyzala als
Andenken deutscher Schande aufbewahrt
zu werden."
Auch die Erweckung von Unruhe
und Erregung wird gefördert.
Die Protcstversammlung der ostmär¬
kischen Deutschen gegen die geplante Auf¬
klärung werde als Provokation der ruhi¬
gen (siehe Posen!) polnischen Bevölke¬
rung hingestellt („Gazeta Chojnicki",
Ur. 48 vom 10. April). Die gleiche Zei¬
tung stellt die Behauptung auf, daß diese
Kundgebungen nur einen Boycott des
polnischen Kaufmanns- und Handwerker¬
standes bezwecken und zu Gewnlttätigkeitn
gegen die Polen aufreizen.
Die „Gazeta Gdanska" hat es sich zur
Spezialanfgabe gemacht, Unruhe bei den
Kassuben zu verbreiten, während die
„Gazeta Olszthuska" dies für die Mn-
suren und Ermländer besorgt. Nachstehend
Probe aus letztgenannter Zeitung:
Ur. 42 vom 9. April: „Die deutschon
Schulzen sammeln von den polnischen
Mitgliedern der Gemeinde Orzechowo
Znstimmungserklärungen für Preußen
mit der Drohung, Widerstrebende wür¬
den später deutscherseits verfolgt."
Ur. 41 vom 6. April: „Unter die
deutsche Zivilbevölkerung Werden Waffen
verteilt, die gegen die Polen, falls sie sich
an diesen Zustimmungen nicht beteiligen
wollen, gebraucht werden sollen."
Ur. 38 vom 29. März: „In Lobau
wewen die Polen auf offenier Straße
belästigt, junge Mädchen wagen nicht
einmal, am hellen lichten Tage auszu¬
gehen."
Den- Polen wird die große Ge¬
fahr vorgespiegelt, daß die Deutschen
das von Wilson proklamierte Selbst¬
bestimmungsrecht der Völker nicht achten
werden. Sie gehen darauf aus, die Po¬
len um ihr Recht zu betrügen, sie wer¬
den bei einer etwa kommenden Volks¬
abstimmung d>le polnische Bevölkerung
so terrorisieren, daß sie von dem Rechte
der freien Stimmabgabe keinen Gebrauch
zu machen wagen würde, oder sie werden
das Wahlergebnis fälschen. Besonders
groß ist diese Gefahr in Westpreußen,
Ermland und Masuren. Daher muß un¬
bedingt gefordert werden, daß diese Ge¬
biete vorher von Ententetruppen besetzt
werden, damit der wahre Wille des
Volkes zum Ausdruck kommen könne. Die
Terrorisierung mancher alten polnischen
Volketeile sei sogar soweit vorgeschritten,
daß eine sofortige Abstimmung nicht
wünschenswert wäre. Erst nach min¬
destens 15jähriger Besetzung würden
z. B. d>le Masuren und Ermlcinder in der
Lage sein, unbeeinflußt von der verha߬
ten preußischen Vergangenheit sich frei
für die Zugehörigkeit zu Polen entschei¬
den zu können.
herrschende Regierung aufzufordern, sie
weist immer wieder darauf hin, daß die
Polen ihr Recht in Paris erhalten! wer¬
den, daß man warten müsse, aber aus
allen Artikeln läßt sie durchblicken, daß
die Polen auf unerwartete Wendungen
durch deutsche Tücke und Hinterlist ge¬
faßt' sein und sich deshalb bereit halten
müssen. Wozu? Die Antwort liegt nahe.
Sie ist aus der ganzen Tendenz der
polnischen Presse unschwer herauszulesen:
Das Beispiel der Posener nachzuahmen
und auf die Hilfe von Großpolen und
der Haller-Armee zu warten, um sich ihr
Recht selbst zu nehmen.
In Anbetracht der überaus kritischen
Zeitspanne, die die deutsche Ostmark jetzt
durchschreitet, fragt es sich, ob diese ge¬
fährliche Redefreiheit der polnischen Presse
noch länger geduldet werden könne. Im
besetzten Posen und in Kongreßpolen be¬
steht eine derartig weite Gegenseitigkeit
für die deutschen Zeitungen nicht. Sus-
pendicrungen und Unterdrückungen werden
>in weitesten Umfange geMh, und ti«
dortige deutsche Presse besitzt nicht einmal
das Recht der freien Kritik .geschweige
denn die Freiheit, etwa aufreizend und
versetzend zu wirken. Man muß sich doch
die Frage vorlegen,,ob wir uns nicht jode
Sicherung des Rückens verscherzen, wenn
wir zwar an der Front mit Gewehr bei
Fuß stehen, im Lande selbst jedoch ein«
zügellose polnische Presse das Deutsch¬
tum in schamloser verlogenster Weise in
den Staub zieht und versteckt und offen
auf den Aufruhr hinarbeitet. Die täg¬
lichen Schmäh- und Schandartikel ver*
giften nicht allein die polnischen Staats¬
bürger; das Gift sickert auch auf di-
deutschen Kreise durch. Durch eine zu¬
nächst unbewußte Massensuggestion wird
auch auf unserer Seite Wankelmut unb
Kleinmut gcoßgczüchtet, während auf der
anderen Seite auch die Gefahr naheliegt,
daß eine derartige Hetzpvesse die Kluft
zwischen Deutschen und Polen für ewige
Zeiten in unüberbrückbarer Weise erwei¬
tert. Das deutsch-polnische Problem,
Durch diese unermüdliche, immer¬
während gleichmäßige Bearbeitung ; der
polnischen Massen wird der Boden für
Erreichung des Hauptzieles geebnet, näm¬
lich Zusammenschluß aller Polen im noch
nicht besetzten Gebiete .zur bestmöglichsten
Ausnutzung der durch die Entwickelung
der politischen Verhältnisse oder den
Spruch der Friedenskonferenz zu schaffen¬
den Lage. Die polnische Presse vermeidet
es, »u offener Gewalt gegen die noch
einen rnoärrs vivsudi, für das nun ein¬
mal notwendige Zusammenleben der in¬
einander verschachtelten Volksteile zu
finden, wird unlösbar, was auf den Aus¬
gang der Friedensverhandlungen zu un-
seren Ungunsten einen »Schatten voraus¬
werfen wird. Die deutsche Bevölkerung
ferner, die sich des öfteren als von der
Regierung bereits verlassen, aufgegeben
betrachtet hat, fragt sich immer wieder,
ob sie denn keinen Anspruch auf Schutz
ihrer Ehre und Freiheit erheben darf,
wenn die polnische Presse sich tagtäglich
die gemeinsten Ausfälle und Versetzungen
gegen sie erlauben kann.
Es wäre deshalb schleunigst und -ein¬
dringlichst zu prüfen, in welcher Weise
die Regierung eine weitere Beunruhi¬
gung der polnischen und deutschen
Bevölkerung durch geeignete Maßnah¬
men gegen die polnische Presse verhindern
kann und muß.
,,OstdeutscheRundschau" vom 2. Mai Ur. 102.
Die Stunden der Entscheidung nahen.
Graf Brockdorff-Nantzau ist mit seinen Be¬
ratern nach Versailles abgereist, und in
kürzester Zeit wird Wohl bekannt werden,
was die Entente dem Deutschen Reiche und
deutschen Volke zugedacht hat.
Seid fest, unverzagt und stark!
bedingungen bedeutet noch gar nichts. Unsere
Deligierten werden verhandeln und nur
einem Frieden des Rechts zustimmen dürfen.
Die Bekanntgabe der Bedingungen ist noch
lange keine Festlegung. Darum laßt euch
durch nichts erschüttern, bewahret Gleichmut
und seid vorsichtig!
Aus fremdem Lande nach Polen . . .
In diesem Leitartikel sagt die Zeiiung
u. a.: Unsere Truppen kommen zurück und
als Verbündete der siegreichen Entente
werden sie während dieser Rückkehr das Land
des ewigen Feindes von einem Ende bis
zum anderen durchmessen. Die Rückkehr
über See und über Danzig haben die
Deutschen zwar verhindern können, dafür
hat sie aber die größte Schande getroffen:
Fremde, stegreiche Truppen gehen durch ihr
Land zum Beweise ihrer vollständigen
Niederlage.
Die Durchfahrt der Hallerschen Truppen
durch ganz Deutschland vernichtet es voll¬
ständig und gibt allen deutschen Stämmen
nacheinander den augenscheinlichsten Beweis
ihrer Schande als Strafe für die unbe-
zähmte Lust der Beherrschung der Welt-
Kein anderes Volk wäre Wohl eingegangen
ans solch eine Erniedrigung, es Hütte lieber
mit allen Kräften sich dagegen bemüht, daß
eine derartige Durchfahrt auf der kleinsten
Strecke seines Landes stattfindet. Die von
jedem Patriotismus und Nationalgefühl
Im Augenblicke, wo die von der Entente
beschlossenen Bedingungen des Vorfriedens¬
vertrages, besonders diejenigen, die unsere
Grenzen im Osten festlegen, bekannt werden,
gibt es für jeden Deutschen der Ostmark nur
«n Gebot, nur eine Pflicht: Sich nicht ver¬
blüffen lassen! Wären die Bedingungen noch
einmal so hart und schmerzlich: Wir Deutschen
in der Ostmark lassen uns nicht einschüchtern!
Wir bewahren in diesen Stunden unseren
festen Sinn, unsere aufrechte Haltung und
lassen uns durch die Bekanntgabe der Be¬
dingungen, auch wenn sie unsere Zukunft
^re treffen.sollten, nicht im geringsten er¬
schüttern.
Der Pole lauert nur auf den Augenblick
seelischen Erschütterung, wie seine
Presse beweist. Dumpfe Mutlosigkeit und
schwächliche Verzagtheit in diesem Augenblick
^°lie uns alles verlieren; aufrechter Sinn,
l°si« Mut und unser zäher Wille können
"lief gewinnen. Wir vertrauen auf unser
»Ales siecht. Die Bekanntgabe der Friedens-
entblößten Deutschen glauben jedoch, daß
sie auf solche Weise Danzig werden halten
können, dessen Herausgabe ihnen die Hab¬
gier in bezug auf die Weichselmnndung
gegen alle unsere Rechte nicht erlaubt.
Dieser Mangel an nationaler Würde muß
sie doch wohl ganz und gar vor den Augen
der ganzen Welt erniedrigen.
"
Die Angelegenheit Danzigs noch immer
unentschieden.
Nachdem die Zeitung hier den Bericht
des Berichterstatters des „Kurjer Warszawsti",
Korcib Kucharski, über die Stellungnahme
des Rates der Vier und der Entente im
allgemeinen in Sachen Danzigs bringt, er¬
wähnt sie weiter auch die Rede des Pol¬
nischen Ministerpräsidenten Paderewski in
Paris vor dem Rate der Vier und wiede»
soll sodann ein Interview des genannten
Berichterstatters mit Paderewski selbst. Da¬
nach soll Paderewski folgendes gesagt haben:
„Ich habe von der ganzen Angelegenheit
und von der ganzen Konferenz eher einen
guten Eindruck bekommen. Aber unter¬
streichen Sie vor allem, daß noch nichts be¬
schlossen ist. Aus diesem furchtbaren Chaos,
welches sich in Europa breit gemacht hat,
kann eine so prachtvolle und riesengroße
Sache, wie es ein mächtiges und unabhän¬
giges Polen ist, nicht auf den Schlag einer
Wünschelrute mit einem Mal entstehen."
Dazu sagt der Berichterstatter: Ich will
noch hinzufügen, daß die Stellung des
Landes in dieser Angelegenheit unseren ehr¬
würdigen Abgeordneten große Hilfe und
Dienste leisten kann. Es ist notwendig,
daß der Widerhall unserer Einmütigkeit,
aber auch gleichzeitig unseres bestimmten
Auftretens aus Warschau hierherkommt (d. h.
noch Paris — Anm. d. Übers.). Wir wollen
nicht ans das Urteil des höchsten Tribunals
mit bescheiden geneigtem Kopfe warten.
Unterstreichen wir in bescheidener aller rück¬
sichtsloser und würdiger Form unsere hei¬
ligsten Rechte.
Vergessen wir nicht, daß gerade in diesem
Augenblick unser Schicksal sich für alle Zeiten
bedeutend mehr entscheidet, als in den Jahren
179S, 1831 und 1863.
Erinnern wir uns an diese bewaffneten
Aufstände, die unsere Rechte mit Blut aus-
gehauen haben. Es ist die Sache unserer
öffentlichen Meinung, der Presse der Hand¬
werker, Fach- und Arbeitervereine, es ist
die Sache unseres allerhöchsten Landtages,
diese unsere Rechte festzustellen, sowie sie
angesichts der ganzen Welt laut auszu-
sprechen.
Wir wollen diesen Niesentriumph, welchen
heute die einmütige Stimme der Bolks-
massen darstellt, nicht leicht nehmen.
Möge die Welt erfahren: Lieber ein ver¬
zweifelter Marjch auf Danzig, als ein
Beugen des Nackens vor dem uns für alle
Zeiten schädigenden und ungerechten Urteil.
Ich hoffe in tiefster Seele, daß es zur
Anwendung dieses Nationaltriumphes nicht
kommen wird, wir müssen denselben aber
in Bereitschaft halten im Vertrauen, daß
heute neben uns ein Volk steht, welches
unsere Rechte versteht und diese Rechte
hartnäckig verteidigt, nämlich Frankreich.
Eindruck aus Posen. Die Polen sind
unruhig.
Unter diesem Titel bringt die Zeitung ein
Interview, welches der Redakteur des „Kurjer
Poznanski". Dr. Marchlevski, mit L. Brune,
dem Korrespondenten des Pariser „l'Jntran-
stgeant", am 2. April gehabt hat. Darin
heißt es u. a.:
Wie betrachtet man bei Euch die Frage
Danzigs? Wir hätten diese altehrwürdige
Stadt erobern können, welche der polnische
Weiße Adler so lange mit seinen Flügeln
beschützt hat; aber das Volk wartet be¬
waffnet, mit vollständigem Vertrauen auf
das Urteil des Kongresses. Die Enttäuschung
wäre furchtbar und ich kann den Lauf der
Ereignisse gar nicht voraussehen, w^um
Danzig deutsch bleiben sollte.
Welche» Eindruck bringen Sie aus Danzig
mit? In Warschau herrscht große Span¬
nung. Es handelt sich absolut gar nicht um
die bolschewistische Gefahr. Wenn dort eine
Aufgeregtheit der Gemüter und Nervenan¬
spannung herrscht, so wird das nur durch
die internationale Lage verursacht, welche
anfängt, drohend zu werden. Man muß
nach Polen gehen, um zu verstehen, daß
der Krieg lediglich im Westen zu Ende ist.
Wie lange wird er aber noch im Osten
dauern? Das weiß niemand, jeder nimmt
aler daran Anteil. Freiwillige bis zum
Alter von S5 Jahren hören nicht auf sich
zu melden. Gelegentlich des 125jährigen
Jubiläums Kodcinoszkis hat die Bevölkerung
die Truppen enthusiastisch begrüßt. Die
Bevölkerung benagt sich aber, daß sie Polen
immerwährend allein steht, angesichts einer
ganzen Reihe von Feinden auf allen Fronten.
Was haben Sie noch in Warschau ge»
sehen? Ich habe Blitze am Himmel ge¬
sehen und den dumpfen Donner des heran¬
nahenden Sturmes gehört . . .
General Haller über Danzig.
In einem Interview mit dem Vertreter
ses polnischen KorrcsPondenzbureauS sagte
'General Haller über Danzig wie folgt:
„Die Angelegenheit Danzigs? Diese
ist im jetzigen Augenblick in Paris noch
nicht entschieden. Es ist dies eine Frage
von so großer Wichtigkeit für uns und so
stritte verbunden mit unserer Zukunft, daß
ich keinen Augenblick an einer erfolgreichen
Entscheidung für uns in dieser Hinsicht
Zweifle. Ich habe die feste Überzeugung,
daß in diesem entscheidenden Moment das
ganze Volk sich zu einer großen mani¬
festierenden Anstrengung aufraffen wird,
welche unsere Rechte zu Danzig und der
ganzen polnischen Küste Pommerns doku-
wentiert. In Paris vergegenwärtigt man
steh zwar, daß die Deutschen lügen, wenn
^ Pommern und Danzig als durchweg
deutsche Ländereien darzustellen bemüht sind,
^ ist jedoch nötig, daß Polen seitens aller
seiner Teile eine einzige Stimme starken
Protestes infolge der deutschen Anmaßungen
"ut Treibereien erschallen läßt. Dort in
Paris haben wir wahre Freunde und dort
versteht man die ganze Gesetzmäßigkeit
Unserer Forderungen. Es ist bemerkens¬
wert, daß wir überall, wo wir während der
N°ise uns aufhalten mußten, von der Be¬
völkerung manifestationsartig empfangen
wurden und daß diese Bevölkerung uns
deutlich und spontan zu verstehen gab, daß
Danzig unser sein muß. Deshalb ist auch
zu erwarten, daß Polen, bevor die Ent¬
scheidung in Paris fällt, laut der ganzen
Welt die Eidesworte entgegenwirft, daß es
sich von Danzig nie lossagen könne."
„Betreffs meines Verhältnisses zum
Staatsoberhaupte? Dieses Verhältnis habe
ich in den Briefen an den Marschall des
Landtages und den Chef des Staates deutlich
unterstrichen. Mit dem Augenblick, wo ich
Polnischen Boden betreten habe, unterliege
ich der Macht des Staatschefs, der seine
Macht durch den Willen und in Verein¬
barung mit dem Landtage der Republik
ausübt. Ich bin der Diener meines Volkes
und erkenne hier in I. Paderowski die
größte Macht an, welche das Volk durch
seinen Landtag gegründet hat.
Das Verhältnis zu Marschall Fons?
nominell unterstehe ich seinem Befehl, d. h.
daß die Polnischen Truppen, die in Frank¬
reich weilen, seinem Befehle unterstehen.
Maischall Fons kann verschiedene Mittel und
Wege isles Transportes oder ihrer Be¬
stimmung anordnen, natürlich nach Ver¬
ständigung mit der Polnischen Regierung,
denn die polnische Armee ist als an¬
kämpfende, verbündete und freie Armee an¬
erkannt worden. Dieses Verhältnis wird
sich »äherumschreiben lassen bei der Schließung
einer Militärkonvention mit der Entente. Da¬
bei wird man auch über die Rolle des
General Henry sprechen können, der übrigens
die ehrenvolle Aufgabe hat im Organisieren
unserers Militärs nach dem Modell der
besten Muster des Westens mitzuwirken
(französisches System).
Eine Delegation Westprcuszcns in Paris.
„Gazeta Poranna" (Warschau) teilt mit:
Eine Polnische Delegation aus Danzig und
dem Kassubenlande ist nach Paris gekommen,
um das Polentum Danzigs zu verteidigen.
Die Delegation besteht aus zwei Bauern
und einem Vertreter der Intelligenz und ist
unter großen Schwierigkeiten bis nach Paris
durchgedrungen.
Die Polnische Seeflagge. Unter diesem
Titel erscheint jetzt ein Polnisches Monats¬
heft, welches, nach Angabe der Zeitung
polnischen Schiffahrtsfragen gewidmet ist.
Der Inhalt des ersten Heftes weist u, a.
folgende Titel auf: Kann man die Weichsel
sofort schiffbar machen? Die Entwicklungs-
gzschichte der Wasserwege, Die ökonomische
Bedeutung der Seeküste und eigener Häfen
für Polen. Manche Bedingungen gesunder
Entwicklung der nationalen Handelsflotte.
Das Polnische Wasserwegenetz. Polnisch
Pommern usw.
Unter dem Titel: Ein Tag, den ich nicht
vergesse", bringt die Zeitung einen längeren
Artikel, unterzeichnet von einem gewissen
Theodor Orlowski, in welchem Gespräche von
Polen mit den polnischen Hallerschen Truppen
gebracht werden. Darunter wird auch eine
Unterhaltung mit Haller gebracht; — der
Autor sagt: Auch ich näherte mich dem
General. „Herr General" — frage ich —
„was sagte man im Auslande, als wir be¬
gannen die Deutschen zu hauen?"
„Wir sagten: Endlich. Endlich haben
sich die Posener ans Werk gemacht." Der
General sagte das im Tone äußerster Er¬
leichterung. „Und wie wird es mit Danzig
und Oberschlesien sein, wenn die Deutschen
uns dasselbe nicht abgeben wollen?"
Der General gab darauf keine Antwort,
sondern faßte den Säbelkopf mit starkem
Griff und zog seine dichten Augenbrauen
über seiner Adlernase zusammen.
Noch eine Frage stellte ich dem Herrn
General, nämlich wann der jetzige Krieg
zu Ende sein wird. „Wenn das bis zum
Winter stattfindet, werden wir Gott danken
können", antwortete der General.
Berlin, 80. April.
Neichsminister Erzberger hat heute an
den Vorsitzenden der deutschen Kommission
in Spaa, General von Hammerstein, tele¬
graphisch mitgeteilt: Ersuche Sie, folgende
Note Marschall Fons zu überreichen: Der
deutschen Regierung sind in diesen Tagen
zuverlässige Meldungen darüber zugegangen,
daß die Polnische Armee beabsichtige, in den
nächsten Tagen einen militärischen Vorstoß
mit größeren Truppenmengen gegen deutsches
Gebiet in Posen und Oberschlesien zu unter¬
nehmen. Die Zusammenziehung polnischer
Truppen an der deutschen Grenze bekräftigt
die Nichtigkeit dieser Meldungen. Angesichts
des Umstandes, daß die alliierten und asso¬
ziierten Mächte gegenüber Deutschland die
bindende Verpflichtung übernommen haben,
daß Polen keinerlei kriegerische Handlungen
gegen Deutschland unternehmen werde, und
angesichts der weiteren Tatsache, daß Deutsch¬
land im Vertrauen auf diese bindende Zu¬
sage der Alliierten den Durchmarsch der Armee
des General Haller durch deutsches Gebiet
gestattet hat und gewährleistet, halte ich mich
für berechtigt und verpflichtet, den Ober-
kommandirenden der alliierten Armee, Herrn
Marschall Fons, hiervon in Kenntnis zu setzen.
Die deutsche Regierung ist überzeugt, daß
die alliierten und assoziierten Mächte alle?
aufbieten werden, um neues Blutvergießen,
das durch einen polnischen Angriff entstehen
könnte, zu verhindern. Es ist der deutschen
Negierung jedoch unmöglich, irgend eine
Garantie dafür zu übernehmen, daß der
Waffenstillstand zwischen Deutschland und
Polen aufrechterhalten wird, wenn die Polnische
Armee zum Angriff gegen deutsches Gebiet
übergehen sollte. Die deutsche Regierung
könnte nach einem solchen Angriff selbst¬
verständlich auch nicht mehr den weitere»
Durchtransport der Truppen der Armee Haller
zulassen. Sie müßte alle Folgen, welche aus
einem Polnischen Angriff auf deutsches Gebiet
erwachsen würden, ablehnen und weist auf
die tiefgehende Erregung der deutschen Be¬
völkerung in den Ostgebieten hin.
Auch der französische General Dupont in
Berlin ist von dem Tatbestande in Kenntnis
gesetzt und gebeten worden, sofort der inter¬
alliierten Kommission in Warschau Mitteilung
zu machen.
Erzberger über die polnische Gefahr.
In einer Sitzung des Friedensausschusses
gab Neichsminister Erzberger Aufschluß über
die Gründe, die zu der Note an Marschall
Fons über die drohende Angrisssgefahr von
feiten der Polen geführt haben. Die auf¬
reizende Rede, die General Haller noch auf
preußischem Gebiete, in Krotoschin, gehalten
hat und in der er, um eine vollendete Tatsache
zu schaffen, die Besetzung Westpreußens, Ober¬
schlesiens und von Teilen Ostpreußens durch
die Polen in Aussicht stellte, hat in weiten
Kreisen der Bevölkerung berechtigte Beun¬
ruhigung erweckt. Weitere Nachrichten über
Polnische Angrifssabsichten erhielt die Neichs-
regierung von den deutschen Volksgenossen,
die aus dem gesamten Gebiete hinter der
Demarkationslinie Vertrieben worden sind.
Endlich hat auch die Zentralpolizeistelle Ost
über die polnischen Offensivpläne berichtet.
Noch andere Quellen vertraulicher Art führte
Herr Erzberger an. Als militärische Gründe
bezeichnete er, daß sich seit dem Is. April
die Verletzungen des Waffenstillstandes von
polnischer Seite sehr stark gehäuft haben.
Es handelt sich dabei nicht um Plänkeleien,
sondern um Gefechte, in denen regelrechtes
Artillerie- und Maschinengewehrseuer in An¬
wendung gebracht wurden. Es ist weiter
bemerkenswert, daß Truppen der Armee
Voller, die ursprünglich für Chota und
Przemysl bestimmt waren, an die vber-
Wesische Grenze befördert worden sind. So
wurden u. a. bei Sosnowice zwei Regimenter
Polen mit Tanks festgestellt. Die mitgeführten
Tanks lassen deutlich darauf schließen, daß
^ sich um Angriffsabsichten der Polen handelt.
Endlich haben auch entlang der Demar¬
kationslinie unter den Polnischen Besatzungs-
^uppen in der letzten Zeit auffällige Ver¬
schiebungen und Verschärfungen stattgefunden,
ohne bestimmte Angriffsabsichten nicht zu
"klären sind.
Der Kriegsminister hob gleichfalls den
^-rUst 5»^,^ i,„>> s^Ne»der Lage hervor und stellte dann fest,
it der Verstärkung der Polen durch
-wee Haller das bisher bestehende
Gleichgewicht der Kräfte zu unseren Ungunsten
verschoben worden ist. Jedoch liegt sür den
Augenblick keine unmittelbare Gefahr vor,
der wir durch schnellsten Ausgleich der Kräfte
nicht begegnen könnten.
General Dupont hat auf die Note folgen¬
des Schreiben an RcichSministcr Erzberger
als Vorsitzenden der deutschen Wnffenstill-
stcmdskommission gerichtet:
„Ich beehre mich, Sie nachstehend von den
Mitteilungen in Kenntnis zu setzen, welche
der General Henry, Chef der französischen
Militürmission in Warschau, nnr heute tele¬
graphisch übermittelt hat. Die Gerüchte, die
Ihr Telegramm vom 1. Mai veranlaßt haben,
entbehren jeglicher Grundlage. Die Truppen¬
stärke an der Grenze Posens hat sich nicht
geändert. Sie können die Anwesenheit der
Truppen der Armee Haller in Richtung nach
Sosnowice vorbehaltlos dementieren. Was
zu dem letzteren Gerüchte Anlaß gegeben hat,
ist der Umstand, daß die Truppen dieser
Armee von Lodz aus über Czcnstochau—
Grauiyci—Cravovic (Czenstnchau—Granitza—
Kraknu) gegenwärtig in Marsch gesetzt sind.
Von hier aus setzen sie ihren Marsch nach
Osten fort; kein einziger Truppenkörpsr ist
auf der Fahrt ausgeladen worden."
Darauf antwortete Neichsminister Erz¬
berger am 3. Mai dem General Dupont:
„Euer Exzellenz beehre ich mich, den
Empfang Ihrer Mitteilungen vom 2. d. M.
zu bestätigen. Ich habe aus ihnen mit Ge¬
nugtuung gesehen, daß der Chef der franzö¬
sischen Militärmission in Warschau die Nach¬
richten über einen bevorstehenden Polnischen
Angriff und die Verwendung von Truppen
der Armee Haller in Posen für unzutreffend
erklärt. Meldungen über einen beabsichtigten
Angriff der Polen und über militärische Ma߬
nahmen, die als Angriffsvorbereitungen ge¬
deutet werden können, sind von außerordent¬
lich zahlreichen glaubwürdig erscheinenden
Seiten der Reichsregierung eingelaufen.
Sie gewannen eine besonders ernsthafte
Bedeutuug durch die Äußerungen des Generals
Haller, der in einer Rede in Krotoschin für
Schlesien, Ostpreußen und Westpreußen den¬
selben Zustand der Empörung forderte, wie
er in Posen eingetreten ist, und in einer
neueren Rede von den polnischen Residenzen
Wilnci, Lemberg, Teschen, Posen und Danzig,
sowie von der Befreiung der Polen in Schlesien
und Pommern gesprochen haben soll. Auch
einem Mitarbeiter des „Dziennik Pajawski"
gegenüber hat er sich cmgebliich in einem
Sinne geäußert, aus dem nur auf das Be¬
stehen kriegerischer Absichten gegen Deutsch¬
land geschlossen werden kann. Die Erregung
der deutschen Bevölkerung ist daher sehr groß
und macht eine Klärung der Situation un¬
bedingt erforderlich..
Ich hoffe, daß die durch Ihre dankens¬
werte Vermittlung erreichten Mitteilungen
des Chefs der französischen Mission in Warschau
zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen
Im Gegensatz zu dem Schreiben Duponts
geht dem „Lokalanzeiger" aus durchaus zuver¬
lässiger Quelle der folgende Brief aus der
Ostmark zu:
. . . Die Armee Haller besteht, nach zu¬
verlässigen Mitteilungen von polnischer Seite,
aus fast 80 000 Mann. Der größte Teil
sind Polen, die sich als Freiwillige bei
Bildung der Armee gemeldet haben; aber
auch viele Tausende von Mannschaften und
die meisten Offiziere verstehen kein Wort
Polnisch, so dasz sogar unsere Posener Polen
feststellen mußten, daß der Armee, soweit sie
bisher in der Provinz eingetroffen, der „echt
polnische Charakter" ermangle. Von den
polnischen Leuten der Armee sind die meisten
französische Untertanen, die aus der Polnischen
sogenannten „Emigration" stammen, etwa
8000 Mann sind amerikanische Polen, meistens
frühere Auswanderer aus Russisch-Polen,
etwa 2600 Mann sind ehemals Preußische
Soldaten, meist Desertierte oder Leute, die
im Laufe des Krieges in Gefangenschaft ge¬
rieten. Etwa 4000 Mann sind russische
Untertanen, unter ihnen recht zweifelhafte
Elemente, von der zarischen Regierung Aus¬
gewiesene, Verbannte und wegen begangener
Verbrechen flüchtig Gewordene. Aus Galizien
stammen etwa 12 000 Mann, und von den in
Italien lebenden Polen ist ein sogenanntes
„italienisches Bataillon" gebildet worden.
Desertionen, namentlich preußischer Polen,
die nach viereinhalbjähriger Abwesenheit auf
diesem Wege in die Heimat gelangt sind,
sind an der Tagesordnung. Die Bekleidung
der Leute ist feldgrau, nach französischem
Schnitt, die viereckige Konfederaika als Mütze,
Schnürschuhe und Wickelgamaschen. Die Be¬
waffnung ist nach jeder Richtung gut. Ge¬
schütze aller Kaliber, Flugzeuge, die alsbald
in Tätigkeit gesetzt worden sind, Lastautos,
sogar Tanks undPanzerzüge sind angekommen.
Die Geschütze sind französischen Ursprungs.
In Posen-Stadt ist ein Teil des Stabes der
Hallerschen Armee — französische, ameri¬
kanische, englische, italienische und belgische
Offiziere — und zweitausend Mann unter¬
gebracht. Ebenso sind in Gnesen, Hohensalza,
Ostrowo und Krotoschin mehrere tausend
Mann einquartiert worden. In Posen und
Gnesen sind von der Hallerschen Armee mit¬
gebrachte Waffen- und Munitionstransporte
zur Verfügung an der deutsch-Polnischen
Kampffront mitgenommen. Bereits am
23, April und den folgenden Tagen sind
etwa 11- bis 12 000 Mann der Hallerschen
Armee von Posen in der Richtung nach dein
Netzeabschnilt abgegangen, von denen ein
Teil an die Front in die Gegend von Argencm,
Hohensalza, Bromberg, Ratel geworfen, der
andere in dahinter liegende Ortschaften,
darunter in die Städte Bartschin, Schubin
und Exin, in Quartier gelegt worden ist;
auch schwere Geschütze sind in dem Abschnitt
in Stellung gebracht worden. In Hohensalza
sind mehrere Waggons mit Waffen und
Munition, vier Waggons mit Maschinenge¬
wehren und Mincnwerfern, sieben Kranken¬
wagen mit Schwestern und Ärzten eingetroffen,
auch die dortige polnische Zivilbevölkerung
ist bewaffnet worden. Ebenso haben im Ab¬
schnitt Filehne beträchtliche Truppenaus¬
ladungen stattgefunden. Gegenwärtig halten
die Polen auch eine besondere Musterung der
wehrpflichtigen Deutschen ab, die man wahr¬
scheinlich nach der erwarteten Unabhängigkeits-
erklärung der Provinz in die Polnische Armee
einstellen will. Was wir in der Provinz alle
befürchtet haben, und was Wohl auch die
Deutschen im Reichs, die die Polen kennen,
befürchten mußten, ist eingetroffen. So haben
Wir also durch die Hallersche Armee den Polen
gut ausgebildete und ausgerüstete Truppen
zugeführt, haben ihnen Waffen und Munition
geliefert und das alles, damit sie uns erfolg¬
reicher bekämpfen können. Die Dummheit
ist geschehen, was hilft dagegen der papierne
Protest Erzbergers an Fons.
besteht ans drei Polnischen Jägerregimentern,
einem Artillerie- und einem Kavallerie¬
regiment. Die erste Division ist über War¬
schau nach Chota befördert worden, die
zweite soll nach Zamosz befördert werden.
Offenbar haben die Hallerschen Truppen hier
die Aufgabe, den Ukrainern, die bei Lemberg
stehen, in die rechte Flanke zu fallen, um so
die Ukrainer zum Loslassen der Stadt zu
bewegen. Irgendwelche Nachrichten, daß
Truppen der Hallerschen Armee in Posen
verwendet werden sollen, liegen bis jetzt nicht
vor. Hier eingetroffene Nachrichten, nach
denen in Gnesen und Hohensalza Quartier
für die Hallersche Armee gemacht werden
sollte, können als zuverlässig nicht angesehen
werden. Soweit man hier unterrichtet ist,
bestand ursprünglich die Absicht, die folgenden
Transporte aus Frankreich bei Wilna ein¬
zusetzen. Ob das jetzt noch geschehen wird,
nachdem die Polen ohne die Armee Haller
dort größere Erfolge erzielt haben, ist unsicher.
Auch die nachstehend abgedruckten Nach¬
richten lassen den Beschwichtigungsversuch
Duponts, der auf Erzberger seinen Eindruck
offenbar nicht verfehlt hat, in einigermaßen
zweifelhaftem Lichte erscheinen.
Die Armee Haller als Druckmittel gegen
Deutschland.
Breslau, 2. Mai.
Von der Polnischen Grenze wird zuverlässig
berichtet: Die polnischen Truppen im Auf-
Marschgebiet entlang der schlesisch-Posenschen
Grenze wurden in den letzten Tagen auffällig
bedeutend verstärkt. So sind im Raume von
Dombrowa bis Posen in den letzten Tagen
KV000 Mann neue polnische Truppen auf¬
getaucht. Es besteht kein Zweifel, daß die
hier stehenden Polnischen Truppen auch durch
Formationen der Armee Haller massiert wer¬
den. Von Polnischer Seite wird offen erklärt,
daß die Armee Haller das östliche Haupt¬
druckmittel der Entente für den Fall bilden
soll, daß Deutschland die Friedensbedingungen
der Entente ablehnt.
Ein Telegramm Fonds an Haller.
Thorn, 3. Mai. Der Polnische General
Haller empfing von Fons ein Telegramm,
dessen Schluß, der polnischen Presse zufolge,
wörtlich lautet: „Morgen wird Deine Armee,
erstanden unter dem Schutze der französischen
Standarte, auf dem befreiten polnischen Boden
stehen, vereinigt mit dem Polenheer, das
schon lange für die Rechte der Freiheit und
Zivilisation kämpft. Ich zweifle keinen
Augenblick daran, daß diese Tapferen, jetzt
unter dem Banner des Weißen Adlers ver¬
einigt, mit goldenen Lettern der erhabenen
polnischen Geschichte ein neues Blatt hinzu¬
fügen werden. Meine herzlichsten Wünsche
begleiten Euch.""
Die Borbereitung des polnischen Angriffs.
(W. T, B.) 2. Mai. In den letzten
Tagen haben sich die Polen wiederum grober
Verletzungen der Demarkationslinie schuldig
gemacht, die sich nunmehr auch auf die Luft¬
ausklärung ausdehnen.
So erschienen über Oberschlesien am
26- April mehrere von Kongreß-Polen kom¬
mende Flugzeuge; ebenso waren südlich
Berthchen und südlich Birnb.um Polnische
Flugzeuge über deutschem Gebiet. Die leb¬
hafte Patrouillentätigkeit, vor allem im Netze-
Abschnitt, läßt die Vermutung eines großen
polnischen Angriffes immer mehr zutage treten.
Die Polnische Eroberungswut.
Der ukrainische Pressedienst verbreitet
folgende Mitteilung:
Wie aus Stanislau gemeldet wird, sind
Abteilungen der Truppen des Generals
Haller, die bekanntlich gegen die russisckien
Bolschewisten kämpfen sollten, an der Front
bei Lemberg erschienen und in den Kampf
gegen ukrainische Nationaltruppen eingetreten.
Der Aufmarsch der Armee Haller.
Von zuständiger Seite wird uns mit¬
teilt- Von der Hallerschen Armee haben
jetzt zwei Divisionen, zusammen 23 000
-^ann, Deutschland passiert. Jede Division
Die Hallerschen Divisionen sind also, wie
anch vorauszusehen war, unter Bruch der
eingegangenen Verpflichtungen sofort in den
Dienst des großpvlnischen Imperialismus
eingestellt und zur Unterwerfung der Ukrainer
in Ostgalizien entsandt worden. Gerade in
dem Augenblick, wo die Ukrainer im harten
Kampfe mit den russischen Bolschewisten
größere Erfolge zu erzielen begannen, er¬
scheinen hier die Polen als willkommene Ver¬
bündete der Bolschewisten und zwingen die
Ukrainer, die bis jetzt ohne jede auswärtige
Hilfe die ganze Last des schweren Kampfes
gegen die Sowjettruppen in der Ukraine ge¬
tragen haben, den Kampf gegen die letzteren
einzustellen und ihre Hauptkräfte wiederum
zur Verteidigung gegen den polnischen Er¬
oberungsfeldzug einzusetzen.
Die Polnische Bewegung in Oberschlesien.
Gleiwitz, 2. Mai.
Die Hoffnung der chauvinistischen Polen,
Soldaten Groß-Polens bald in Oberschlesien
einziehen zu sehen, veranlaßte einfältiges
Volk auf dem Lande, schon Vorbereitungen
zu Empfangsfestlichkeiten zu treffen. Es
wurden Ehrenpforten errichtet und die Häuser
mit Kränzen geschmückt. In Rybnik'wurde
gestern von 16 000 Polen eine große Demon¬
stration veranstaltet. In einer Versammlung
unter freiem Himmel forderte der Haupt¬
redner des Tages, Dr. Bialy, die Polen
auf, nur noch wenige Tage die Ruhe zu
bewahren, ein Kurier Paderewskis habe die
Nachricht gebracht, daß Oberschlesien mit Aus¬
nahme der Kreise Neustadt, Leobschütz, Reiße,
Falkenberg nach definitiven Beschluß der
Entente zu Polen komme.
Zu einer großen polnischen Demonstration
kam es in der Grenzstadt Myslowitz, an der
hauptsächlich bürgerliche Kreise beteiligt waren.
In den letzten Tagen sind die Polnischen
Kreise auch eifrig am Werke, unter den Berg-
und Hüttenarbeitern Polnische Kriegervereine
zu bilden. Diese Vereine sind zur Unter¬
stützung Polnischer Truppen bei einem even¬
tuellen Einmarsch in Oberschlesien bestimmt.
Über die Exzesse, die vom 23.—24. April
in Warschau gegen die Juden stattgefunden
haben, sind nähere Nachrichten vorhanden.
Aus den Berichten der Warschauer Zeitungen
geht hervor, daß in diesen Tagen kleinere
und größere Gruppen bewaffneter Soldaten
aus Posen in den Gassen des Judenviertels
herunizogen und unter dem Vorwande, nach
Waffen zu suchen, Wohnungen geplündert
und gegen die Bewohner Erpressungen ver¬
übt haben. In den Straßen selbst hielten
sie die Passanten an, mißhandelten sie und
plünderten sie aus. Da die Milizpatrouillen
gegen die Plünderer machtlos waren, wurden
auf Veranlassung des Magistrats auf Antrag
der jüdischen Abgeordneten größere Abtei¬
lungen gegen die „Posener" gesandt, die
schließlich ihrer Herr wurden. Der Kom¬
mandant der Posener Militürabteilung,
Leutnant Kabra, wurde verhaftet.
Thorn, 1. Mai.
Der polnische Generalstab meldet: Die
deutschen Truppen räumten Grodno, das
wir besetzten. Die Stadt ist ruhig. Die
Bolschewiki ziehen sich auf der ganzen Linie
hinter den Fluß Usza zurück. Die polnischen
Truppen folgten bis zur Linie Siemiowka,
Wiedma.
Thorn, 30. April.
16 000 deutsche Familien von entlassenen
Lehrern, Postbeamten, Eisenbahnbeamten
werden in den nächsten Tagen aus dem
Posenschen Aufstandsgebiet nach Thorn, Kreuz
und anderen Orten abgeschoben werden. Die
Stadt Thorn hat 6000 Familien aufzu¬
nehmen.
. In fremden Räumen, in einem Noiquartier, hat sich die Vertretung der
Nation zusammengefunden, wie eine letzte Schar Getreuer sich zusammenschließt,
wenn das Vaterland in höchster Gefahr ist. Alle sind erschienen, bis auf die
Elsasz-Lothringer. denen man das Recht hier vertreten zu sein jetzt schon abgenommen
hat, wie ihnen das Recht genommen werden soll in freier Abstimmung ihr Selbst¬
bestimmungsrecht auszuüben, und wenn ich in Ihren Reihen Kopf an Kopf die
Krrtreter aller deutschen Stämme und Länder sehe, die Eiwähllen vom Rheinland,
vom Saargebiet, von Oft- und Westpr^ußen, Posen, Schlesien, von Tanzig und
von Memel, neben den Abgeordneten der unbedrohten die Männer aus den
bedrohten Ländern und Provinzen, die — wenn der Wille unseier Gegner zum
Gesetz wird — zum letzten Male als Deutsche unter Deutschen tagen sollen, dann
weiß ich mich von Herzen eins mit Ihnen, in der Schwere und Weihe dieser
^kunde über der nur ein Gebot stehen darf: Wir gehören zusammen, wir müssen
beieinander bleiben, wir sind ein Fleisch und ein Vink und wer uns zu trennen
versucht, der schneidet mit mörderischen Messer in den lebendigen Leib des
deutscheu Volkes! ....
. Ich frage Sie, wer kann als ehrlicher Mann — ich will gar nicht sagen
al-z Deutscher — nur als ehrlicher, verlragstreuer Mann solche Bedingungen ein¬
gehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Kessel legt?
Und jetzt wende ich mich an unsere Feinde in einer Sprache, die auch sie
erstehen und sage: Remotes estote, inimici, ex osZibus ultor. Auch in Zukunft
werden deutsche Frauen Binder gebären und diese Kinder werden die Sklaven-
?» Zerbrechen und die Schmach abwaschen, die unserem deutscheu Antlitz
Zugefügt werden soll. Für uns gilt wie in glücklichen Tagen so auch heute das
das niemals der Ausdruck selbstsüchtiger NbeiHebung, sondern immer nur
„er ltefen Liebe zu unserer Heimat war: Deutschland, Deutschland über alles,
uvcr alles in der WeltI
Polen, Westpreußens Hinterland, ist wasserreich, doch verkehrsarm. Polen
und Westpreußen sind durch die Weichsel miteinander verknüpft. Sie stellt eine
große natürliche Verkehrsader dar. Ihre Zuflüsse durchdringen Polen tief ins
Land hinein. Den preußischen Ostprovinzen (Schlesien, Posen, West- rend Ostpreußen)
stehen nicht so viel Wasseradern (auf 100 Quadratkilometer 2,3 Kilometer) für
den Verkehr zur Verfügung wie Polen (3 6 Kilometer). Trotzdem beträgt ihre
Leistungsfähigkeit hier nur etwa den zehnten Teil gegenüber Preußen (260 Tonnen
auf einen Kilometer Wasserlauf gegen 2590 Tonnen), denn für die Schissbarkeit
wird nichts getan. Selten trifft man in den Städten Bollwerke an, und dann
nur auf geringe Strecken. Selbst die Weichsel fließt unreguliert dahin und bietet
der Dampfschiffahrt die größten Hindernisse dar. Weil in Polen nichts für die
Ströme getan wird, darum hängt auch die Regulierung der preußischen Weichsel
in der Luft. Die preußische Weichsel vermag nicht das zu leisten, was von ihr
zu erwarten ist.
Wie die Wasserstraßen Polens für den Verkehr nicht ausgenutzt werden
können, so genügen die Wege zu Lande in keiner Weise. Durch Straßen und
Eisenbahnen ist nur wenig für die Erschließung des Landes getan. An guten
Verkehrswegen weisen die preußischen Ostprovinzen auf gleichem Raum das Fünf¬
fache auf (34.6 Kilometer gegen 6,9 Kilometer auf 100 Quadratkilometer). Ebenso
ist das Verhältnis bei den Eisenbahnsträngen (11,8 Kilometer zu 2,7 Kilometer)
und im Eisenbahnfrachtverkehr (77 700 Tonnen zu 15 800 Tonnen). Dabei ist
Polen ein kleines, volkreiches Land, «seine Größe entspricht der der preußischen
Ostprovinzen, und dieses Land ist dichter besiedelt als Westpreußen. Es zählte
schon 1897 aus einen Quadratkilometer 74 Einwohner, während in Westpreußen
heute nur durchschnittlich 66 auf gleicher Fläche wohnen.
Die polnische Bevölkerung treibt hauptsächlich Landwirtschaft, der besonders
im Süden fruchtbarer Boden zur Verfügung steht. Die Industrie ist gering.
Außer auf Bergbau- und Hüttenwesen stützt sie sich nur auf Erträgnisse ans
Ackerbau und Viehzucht. Neben Branntwein- und Vierfabriken ist vor allem die
Zuckerindustrie zu nennen. Doch leistet eine deutsche Zuckerfabrik durchschnittlich
so viel wie zwei polnische (I90l eräugten 51 polnische Fabriken 115 000 Tonnen,
1902 393 deutsche Fabriken 1 900 000 Tonnen). In Westpreußen blüht die Zucker¬
herstellung besonders, Culmsee hat die größte Zuckerfabrik der Erde. Leinen- und
Tuchfabriken stammen meist von Deutschen. Fast die gesamte polnische Industrie
ist fremdem Fleiß zu danken, insbesondere deutschem. In Polen kamen 19l3 auf
100 Leute der Gesamtbevölkerung 5,5 Deutsche, in den Industriegebieten bis
zu 30 (Lodz), Von fast 10 Millionen Einwohnern arbeiteten 1912 etwa 300 000
in der Industrie. Der Wert des Ackerlandes in Polen ist an preußischen Verhält¬
nissen gemessen gering. In Westpreußen halte der Boden vor dem Kriegs durch-
schnittlich den dreifachen Wert gegenüber Polen (1140 Mark zu 330 Mark beim
Groß-, 1465 Mark zu 405 Mark beim Äleingrundbesitz für einen Hektar. Und
das erklärt sich sehr einfach.
Der Ackerbau wird nicht ausgenutzt. Der deutsche Bauer holte an Feld¬
früchten aus seinem Boden viel mehr heraus als der polnische. An Roggen.
Gerste, Hafer und Kartoffeln brachte deutscher Boden anderthalbmal mehr als
polnischer, an Weizen und Rüben gar das Doppelte. So verdiente auch der
polnische Landarbeiter in Preußen etwa das Doppelte von dem, was er in Polen
erhallen konnte.
Man hat berechnet, wieviel Feldfrüchte mehr die Polen schaffen könnten,
wenn ihre Landwirtschaft mit der deutschen (zum Beispiel in der Provinz Posen)
gleichen Schritt hielte. Da fehlt den Polen sehr viel. In dem Land von der
Größe unsrer vier Ostprovinzen bleiben die Ackererträgnisse so weit zurück, daß
die volle Jahresernte 1912 von dreien, nämlich Posen. West- und Ostpreußen,
an Weizen (585 000 Tonnen), Gerste (583 000 Tonnen), Hafer (1395 000 Tonnen)
und Kartoffeln (9 663 000 Tonnen) nötig wäre, um den Ausfall zu decken. Für
Roggen (1843 000 Tonnen) und Zuckerrüben (1114 000 Tonnen) genügten als
Ersatz noch nicht die Ernten von Ost> und Westpreußen.
Wie der Ackerbau gegen Deutschland einen außerordentlichen Tiefstand
ausweist, so auch die Viehzucht. Mit der Bewohnerzahl verglichen hat Westpreußen
Polen gegenüber den doppelten Bestand an Pferden (157 zu 88 auf 1000 Ein¬
wohner), den dreifachen an Rindern (413 zu 150), den vierfachen an Schafen und
Ziegen (288 zu 67) und den dreizehnfachen an Schweinen (540 zu 39).
Die Löhne in der Landwwschast sind etwa halb so hoch wie für polnische
Saisonarbeiter in Preußen.
Der Grund für diesen Tiefstand bei so zahlreicher Bevölkerung ist darin zu
suchen, daß die polnische Bevölkerung nicht zur Arbeit erzogen ist. Sie besitzt in
ihrer erdrückenden Mehrheit nicht den Trieb, mehr zu schaffen, als für ihr eigenes,
notdürftiges Durchkommen erforderlich ist. Sie lebt in Armut und Bedürfnis¬
losigkeit dahin. Was an Werten geschaffen wird, geschieht überwiegend durch
Ausländer (besonders Deutsche) und Juden.
Daß die Bevölkerung den Wert der Arbeit nicht erkannt hat, nimmt nicht
wunder. Wie einst das deutsche Volksschulwesen einen starken Antrieb seitens der
Landwirte erhielt, weil nur ein gebildeter Bauer, Arbeiter und Tagelöhner dos
Verständnis dafür haben kann, durch Neuerungen seine Arbeit fruchtbringender
zu gestalten, so erklärt sich der Tiefstand Polens aus der Unbildung des polnischen
Volkes. Während in Westpreußen von 1000 Einwohnern nur 5 weder lesen noch
schreiben konnten, und das waren zumeist zugewanderte Polen, sind es in Russisch-
Polen mehr als die Hälfte, nämlich 590. Von 1000 Einwohnern besuchten in
Westpreußen 186 die Volksschule, in Polen nur 28. Eine Fachschule entfällt bei
nun auf 5000 Einwohner oder 76 Quadratkilometer Landes, in Polen auf das
fünfzehnfache, nämlich 75 500 Einwohner oder 775 Quadratkilometer.
Ein Land mit so wenig schaffender Bevölkerung wie Polen kann natürlich
nur geringe Krttturaufgaben erfüllen. Die Sozialversicherungen sind in Polen erst
in der Einführung. Die Unfallversicherung gilt nur für gewerbliche Betriebe mit
wehr als dreißig Arbeitern ohne Triebkraft oder mehr als zwanzig Arbeitern mit
Triebkraft. Landwirtschaftliche und Bauarbeiter sind ganz ausgeschlossen. Es
besteht indes kein Zwang, der Unternehmer kann selbst entschädigen. Doch muß
bei Ansprüchen erst die Schuld des Besitzers nachgewiesen werden, außer der
Beschädigte gehörte zu Fabriken, Bergbau- und Hüttenwerken mit mehr als
sechzehn 'Personen.
Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung besteht nur bei Staatsbahneu,
Bergwerken und einigen öffentlichen Verwaltungen.
Krankenversicherung fehlt ganz. Jetzt liegt erst ein Entwurf vor.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bei Einverleibung Westpreußens
w Polen der Tiefstand Russisch-Polens im Wettbewerb nachteilig wirkt. Die
Bvdenpreise werden gedrückt, damit viele Hypotheken gefährdet- die Löhne sinken,
ebenso der Gelreidewert, die Sozialversicherung läßt sich nicht aufrecht erhalten.
Es verlohnt sich nicht mehr, die Landwirtschaft auf deutscher Höhe zu halten, oder
^ ist überhaupt nicht möglich, da das versetzte polnische Volk sich bestrebt, überall
dle Deutschen durch die minderwerteu Polen zu verdrängen. Als Handlanger sind
"le Deutschen willkommen, aber die Früchte wollen die Polen.
^. Dcmzigs Lage zu Polen läßt sich vergleichen mit der Rotterdams zu seinem
Anrierlande. Wie Rotterdam an der Rheinmündung, so liegt Danzig an der
^eichselmündung; wie Rotterdam politisch von seinem Hinterkante, dem deutschen
Rheingebiet, getrennt ist, so Danzig von Polen. Wäre es nicht vorteilhafter,
Danzig gehörte auch politisch zu seinem Hinterkante? Es hätte dann die Lage
Hamburgs, das als Hafen das ganze Mb- und einen Teil des Ostscegebiets
umfaßt. Hamburg mit 23 Millionen Tonnen (1911) ist mit Aniwerpen der
gröszte Hasen des europäischen Flstlandes. Mir Rotterdam mit 21 Millionen
Tonnen (1911) reicht außerordentlich nahe heran, dabei hat es Antwerpen noch
als Mitbewerber. Diese Häfen erhalten ihre Bedeutung durch die geordneten
Zustände im Hinterkante, durch die Emsigkeit der Bevölkerung, einer Bevölkerung,
die Haudelswerte schafft, die eine gewisse Wohlhabenheit errungen hat und mit ihr
Bedürfnisse, welche der Handel befriedigen muß. Das polnische Hinterland Danzigs
hingegen ist arm, nicht zur Arbeit erzogen, es schafft wenig Werte, hat geringe
Bedürfnisse. Dies zu ändern, ist Danz'g nicht in der Lage, sollte es gleich zu
Polen gehören. Denn nicht von der politischen Zugehörigkeit hängt die Blüte
eines Seehafens ab, sondern von dem Fleiß, dem Wohlstande und den Bedürf¬
nissen seines Hinterlandes.
Westpreußen ist im preußischen Staat eine arme Provinz. Sowohl an
Einkommensverhältnissen wie an Vermögen hält sie sich an der untersten Grenze
im Staat. Unter den zwölf Provinzen, dem Stadtkreis Berlin und den Hodl-n-
zollernschen Landen steht Westpreußen mit dem Erträgnis der Einkommensteuer
aus den Kopf der Bevölkerung an vorletzter, mit dem der Ergänzungssteuer
an letzter Stelle.
Während im preußischen Staate von 1000 Einwohnern (1912) 397 ein
Einkommen bis zu 900 Mark jährlich hatten, kamen im Regierungsbezirk Danzig
auf 1000 Einwohner 569, im Regierungsbezirk Marienmerder gar 654, also
gut zwei Drittel. Etwa ein Drittel der Bevölkerung hatte mehr als 900 Mark
Einkommen. Zur Erfüllung ihrer Kulturaufgaben muß die Provinz deshalb vom
preußischen Staat beträchtliche Zuschüsse erhalten. 16,6 Millionen Mark wandte
Westpreußen 1911 für die Volksschulen auf. dazu gab der Staat mehr als die
Hälfte: 8.5 Millionen Mark. Volks-, Mittel- und höhere Schulen erforderten
einen Aufwand von 21,614 Millionen Mark, davon allein 10,111 Millionen
aus Staatsmitteln. Die Zuschüsse, die der Provinzialverband für seine Aus¬
gaben 1903 erhielt, beliefen sich auf 3,2 Millionen Mark, fast die Hälfte seiner
Gesamteinnahmen.
Solch reiche Unterstützung ist nur möglich, weil die westlichen Provinzen
(Brandenburg, Sachsen, Schleswig-Holstein,' Hannover, Hessen-Nassau, Rhein¬
provinz und der Stadtkreis Berlin) dem Staate durch ihren Reichtum hohe
Einnahmen geben.
Würde Westpreußen polnisch, so fiele der hohe preußische Staa'szuschuß
fort. Aus eigenen Mitteln kann es seine Kultur nicht erhalten, geschweige gar
ausbauen. Und diese ungenügenden eigenen Mittel hätte es nicht einmal sür
sich zur Verfügung. Es müßte davon reichlich abgeben. Denn im polnischen
Staat wäre Westpreußen eine der reichsten Provinzen. Das Geld, das hier vom
Staat herausgeholt würde, müßte dazu dieren, die polnischen Gebiete in die
Höhe zu bringen, dort Verkehrswege zu bauen, die Wasserwege herzurichten,
Schulen zu gründen, den Polen zu Wohlstand zu verhelfen; denn aus eigenen
Mitteln können sie es nicht. Und dazu bürdet uns die Entente eine Milliarden¬
schuld auf, die der polnische Staat zu tragen nicht hilft I Durch Waffensiillstands-
verirag ist das gesamte deutsche Staatsvermögen beschlagnahmt. Altl's Staats¬
eigentum (Bahnen, Straßen, Gebäude, Schulen, Hochschulen) bürgt der Entente-
Sie duldet keine Beeinträchtigung, und sie hat die Mittel, die Bezahlung bei der
Abtrennung Westpreußens zu erzwingen.
Westpreußen muß diese Schuld mitnehmen I
Ohne Staatszuschuß, der eigenen ungenügenden Mittel zum Teil beraubt,
mit hohen Schulden belastet, ginge Westpreußen unier polnischer Herrschaft
zugrunoe, ehe die aufbauende Tätigkeit in Polen Früchte brächte.-
Denn die Erziehung einer Bevölkerung zur Arbeit erfordert Jahrhunderte
Wie jetzt die reichen preußischen Westprovinzen die ärmeren Ostprovinzen
stützen, so müßten, wenn polnisch, die deutschen Ostprovinzen das noch ärmere Polen
stützen. Deshalb hauptsächlich begehren die Polen Westpreußen, unser Land.
Durch deutsche Arbeit ist es in fast ISO Jahren zu hoher Blüte gelangt.
Jetzt kommt der Pole, setzt sich ins warme Nest und gibt euch einen Fußtritt.
Ihr durftet säen, die Polen wollen ernten.
Ratinrcchtliche Zugehörigkeit. Seit Aus¬
gang des achtzehnten Jahrhunderts tritt
neben die staatsrechtliche Auffassung der
absolutistischen Zeit, die das Staatsgebiet
als freies Eigentum deS Fürsten ansah,
«me neue naturrechtliche, die ihren Aus"
druck findet, in der Formel, daß die Be¬
völkerung eines Landgebietes über ihre staat¬
liche Zugehörigkeit selbst zu bestimmen habe.
Es ist die Formel, die sich Wilson für die
Friedensverhandlungen zu eigen gemacht.
Wohin würde der Netzedistrikl danach ge¬
hören? Die Frage ließe sich genau nur
durch eine Volksabstimmung beantworten.
Eine solche hat bisher nicht stattgefunden.
Es läßt sich aber ohne Schwierigkeit mit
Ziemlicher Sicherheit berechnen, wie sie aus¬
fallen würde. Nach der letzten Volkszählung
vor dem Kriege, der von 1910, zählt der
Regierungsbezirk Bromberg SO Prozent
Deutsche, 49,!) l Prozent Polen. Nun fällt
5er Regierungsbezirk Bromberg nicht ganz
wie dem eigentlichen Netzedistrikt zusammen,
umfaßt vielniehr erhebliche südlich davon ge¬
legene Gebietsteile, die eine stärkere polnische
Bevölkerung aufweisen als die nördlichen.
Es würde sich also für den eigentlichen Netze-
distr'le das Prozentverhältnis zugunsten der
Deutschen verschieben. Das voraussichtliche
Ergebnis einer Abstimmung darf nun aber
nicht aus der Bevölkerungszahl schlechthin
berechnet werden, sondern aus der Zahl der
Stimmberechtigten. Danach ergibt sich noch
e>ne weitere Verschiebung zugunsten des
Deutschtums. Im Jahre 1900 kamen ans
^as Tausend der in Preußen noch Nationali¬
st gezählten Bevölkerung Personen unter
16 Jahren bei den Deutschen 652,1, bei den
Polen 407,5. Die Polen haben also hier
einen Vorsprung von 56,4. Im Alter von
15 bis 80 Jahren sind auf je 1000 vor¬
handen 643,0 Deutsche, 58S.3 Polen. Hier
haben die Deutschen also einen Vorsprung
von 56,2 gewonnen, der bei der Stimmab¬
gabe naturgemäß zum Ausdruck kommen muß
und auch tatsächlich zum Ausdruck kam. Es
Waren bei der letzten Reichstagswahl im
Jahre 1912 im Regierungsbezirk Bromberg
vorhanden Wahlberechtigte 146061, abgegeben
wurden deutsche Stimmen 68 704, polnische
50 856. Bon der Gesamtzahl der abgegebenen
Stimmen entfallen mithin auf die Deutschen
57,4 Prozent gegen 60 Prozent der Bevölke¬
rung, auf die Polen 42,5 Prozent gegen
49,91 Prozent der Bevölkerung. Eine
Fälschung des Wahlergebnisses ist niemals er¬
wiesen, der Beweis dafür auch nicht einmal
versucht worden. Eine Wahlbeeinflussung
mußte bei den 1912 schon vorhandenen weitest-
gehenden Sicherungen der geheimen Stimm¬
abgabe wirkungslos bleiben. Die Erscheinung
erklärt sich auch ohne weiteres aus der durch
die Volkszählung erwiesenen Tatsache, daß
die Polnische Bevölkerung bis zur Erreichung
des Stimmrechlsalters wesentlich stärker ab¬
nimmt als die deutsche, und diese Tatsache
wieder findet ihre Erklärung darin, daß ein
großer Teil der Polnischen Bevölkerung eine
wesentlich ungünstigere Lebenshaltung hat als
die deutsche, daß infolgedessen bei jener die
Kindersterblichkeit großer ist als bei der
deutsche». Wird das Stimmrechtsalier bis
zuni vollendeten zwanzigsten Lebensjahre
herabgesetzt, so würde allerdings wieder eine
Verschiebung zugunsten der Polen eintreten.
Sie würde aber nur geringfügig sein. Die
Erteilung des Stimmrechts an die Frauen
dürfte an dem Prozentverhältnis kaum etwas
ändern. Geboren werden ja allgemein mehr
männliche als weibliche Kinder. In Kultur¬
staaten ändert sich nun allerdings das Ver¬
hältnis sehr bald so, daß schon unter den
Zwanzigjährigen ein Überschuß von Mädchen
vorhanden ist. Das trifft aber nicht zu auf
Gebiete mit überwiegend ländlicher Bevölke¬
rung, wie sie der Neyedistrikt ausweist. Hier
dürfte bis zur Vollendung des zwanzigsten
Lebensjahres allerhöchstens ein Ausgleich im
Verhältnis der Geschlechter eintreten. Es
würde mithin, wie behauptet, die Erteilung
des Stimmrechts an die Frauen das Prozent¬
verhältnis der Stimmen nicht beeinflussen.
Auch die zuletzt angegebenen Zahlen gelten
für den ganzen Regierungsbezirk. Eine Be¬
rechnung für den eigentlichen Netzedistrikt
würde auch bezüglich der Stimmenzahl eine
wesentliche Verschiebung zugunsten des
Deutschtums ergeben. Von den zum alten
Netzedistrikt gehörigen Kreise haben Deutsch-
Krone, Flatow, Filehne, Czarnikau, Kolmar,
Wirsitz und Bromberg über 50 Prozent
deutsche Bevölkerung, Schubin und Hohen-
salza über 4V Prozent. In den Städten
steigt die deutsche Bevölkerung auf über
80 Prozent, desgleichen ist die eigentliche
Netze- wie die Grünfließ-Niederung fast rein
deutsch besiedelt. Ergab schon eine Ab¬
stimmung im ganzen Regierungsbezirk 57,4
Prozent deutscher Stimmen, lo muß man
auch bei sehr vorsichtiger Schätzung an¬
nehmen, daß bei einer Abstimmung über die
staatliche Zugehörigkeit im eigentlichen Retze-
distrikt mindestens 60 Prozent aller Stimmen
sür das Deutschtum abgegeben würden, in
der Netze- und Grünfließ-Niedsrung einschlie߬
lich der daran liegenden Städte und Brom¬
bergs sicher über 8V Prozent. Es kann mit¬
hin gar keinem Zweifel unterliegen, daß dieser
Distrikt nach den Wilsonschen Grundsätzen als
zu Deutschland gehörig angesehen werden
muß. Ihn den Polen zusprechen zu wollen,
bedeutet für Wilson einen Schlag ins Gesicht.
Bon Polnischer Seite wird eingewendet,
die deutsche Bevölkerung , sei nicht boden¬
ständig, sei eingewandert. Ganz gewiß ist
sie eingewandert. Aber diese Einwanderung
hat bereits vor annähern 7d00 Jahren be¬
gonnen, und eine Bevölkerung, die so lange
auf demselben Boden sitzt, darf Wohl als
bodenständig bezeichnet werden. Dem
Schreiber dieser Zeilen ist eine Reihe deut¬
scher Bauernhöfe bekannt, die seit mehr als
L00 Jnhren nachweislich in derselben Familie
vererbt worden sind. Die meisten deutschen
Bauernhöfe sind ja in neuerer Zeit modern
aufgebaut. In fast allen deutschen Dörfern
finden sich aber auch noch Jahrhunderte alte
Holzhäuser, und auch , sie zeigen schon rein
niederdeutsche Bauart. Wohnung und Stall
finden sich unter demselben Dach. Fast durch¬
weg sieht man bei den deutschen Höfen ur¬
alten Baumschlng, was sich bei polnischen
nie findet. Die Städte sind alle nach deut¬
schem Recht gegründet, und ihre Gründungs¬
urkunden zeigen Daten aus dem dreizehnten,
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert.
Die deutsche Bevölkerung des Netzedistrikts
muß also zum sehr großen Teil als durchaus
bodenständig angesprochen werden. Auch in
dieser Hinsicht ist der Distrikt naturrechtlich
zweifellos deutsch.
Einen ganz eigenartigen Beweis für die
Alteingesessenheit der hiesigen deutschen Be¬
völkerung liefert noch ihre Sprache. In den
Städten wird ja ein reines Hochdeutsch ge¬
sprochen, auf dem Lande aber durchweg Platt¬
deutsch, und zwar ein Platt, das vielfach sehr
viel ältere Sprachformen zeigt, als man sonst
in niederdeutschen Gegenden findet. So
altes Sprachgut kann sich naturgemäß nur
halten bei einer schon lange eingesessener und
vom Ursprungsgebiet ihrer Sprache getrenn¬
ten Bevölkerung. Auch altes Lied- und
Spruchgut findet sich in der Bevölkerung des
Netzegebietes noch in viel größerer Menge als
im übrigen Niederdeutschland. Es gelang hier
in ganz kurzer Zeit, über 700Texte alter Volks¬
lieder zu sammeln, die zum Teil sehr alte
Form zeigten, ein Beweis für das unverfälschte
Deutschtum ihrer Bewohner und für die
Länge der Zeit, die seit deren Aus- bezw.
Einwanderung notwendigerweise verflossen
sein muß.
Kulturelle Zugehörigkeit. Die Ent¬
scheidung über staatliche Zugehörigkeit eines
Landgebietes mit gemischter Bevölkerung wird
nicht von dem Zahlenverhältnis der Bevölke¬
rung allein abhängig sein können. Man wird
notwendigerweise fragen müssen, was haben
beide Nationalitäten kulturell für dieses Gebiet
geleistet? Ein sittliches Recht kann sich auch
ein Volk erst durch seine Arbeit gewinnen. Wie
fanden nun die Deutschen den Netzedistrikt vor
und was haben sie aus ihm gemacht? Vom
dreizehnten bis achtzehnten Jahrhundert
wurden deutsche Bürger und Bauern von
den polnischen Königen in diese Gegenden
geholt, um ihnen ihre höhere Kultur
zu bringen, um sie durch diese höhere
Kultur ertragfähiger zu machen. Es war ja
keine nationale Vorliebe, die die polnischen
Könige und Herren die Deutschen rufen ließ;
es war ganz nüchterne wirtschaftliche Berech¬
nung. Und die Rechnung trog nicht. Der
deutsche Bauer brachte den Boden in weit
höhere Kultur und steigerte seine Rente um
das Mehrfache, der deutsche Handwerker er¬
möglichte eine Erhöhung der Lebenshaltung,
der deutsche Kaufmann belebte Handel und
Wandel. Die wirtschaftliche und kulturelle
Blüte Polens fällt zusammen mit der Blüte
der deutschen Siedelungen. In den inneren
Wirren Polens, in den Schwedenkriegen ist
diese Blüte zugrunde gegangen, und mit ihr
geht auch vieles von der deutschen Kultur zu»
gründe. Nur einige alte Baudenkmäler zeugen
noch davon. Was aber an alten Baudenk¬
mälern vorhanden ist, das zeigt durchweg
deutschen Charakter. Man darf ruhig be¬
haupten, daß es in Preußisch-Polen Denk¬
mäler spezifisch polnischen Charakters über¬
haupt nicht gibt. Selbst in Gnesen habe ich
wich vergeblich bemüht, solche zu finden. Es
kommt dann die Preußische Besitzergreifung
von 1772, und mit ihr setzt eine neue deutsche
Kulturarbeit ein, eine Kulturarbeit größten
Stils. Das ganze Gebiet des NetzcdistriktS
^findet sich damals in einer Verwahrlosung,
bon der wir uns heute kaum eine Vorstellung
wachen können. Selbst eine einst so bedeu¬
tende Stadt wie Bromberg liegt fast völlig
"de, in den kleineren Städten übersteigt die
^»si der „wüsten Stätten" vielfach die der
stehenden Häuser. Eine völlig verarmte Be¬
völkerung führt ein kümmerliches Dnsein.
Auf dein Lande ist der Boden durchweg in
schlechter Kultur, in den Niederungen vielfach
"«Sumpfe, weil die Regelung der Wasserläufe
gänzlich vernachlässigt war. Schulen gibt eS
«"f dem Lande überhaupt nicht. Die Rechts¬
verhältnisse sind allenthalben unsicher, ihre
Regelung mannigfacher Willkür ausgesetzt.
Da setzt die deutsche Arbeit ein, und in kurzer
Zeit schafft sie Ordnung im Lande. Ein
Strom deutscher Beamten, Bürger und
Bauern wird hierher geleitet und wirkt allent¬
halben befruchtend. Die Städte werden auf¬
gebaut, die Wasserläufe reguliert, der Goplo-
see gesenkt, und wo bisher wüstes Sumpfland
war, da wird ertragreicher Ackerboden ge¬
schaffen. Gewerbe und Handel beleben sich,
der Bromberger Kanal wird gebaut, und
schon nach ganz wenig Jahren zeigt das Land
ein völlig verändertes Aussehen, ist es ans
einer Wüstenei Kulturland geworden. Die
Bevölkerungszahl hebt sich von Jahr zu Jahr
überraschend schnell, Schulen werden allent¬
halben gegründet und wenigstens einiger¬
maßen ausreichend dotiert, die Rechtsverhält¬
nisse geordnet. Und alles, was geleistet wird,
wird durch Deutsche und nur durch Deutsche
geleistet. So wird der Netzedistrikt aufs
neue kulturell deutsches Gebiet. Es wäre ja
unverständig, wollte man dem Polentum
einen Vorwurf daraus machen, daß eS sich
an dieser Kulturarbeit nicht beteiligte. Man
darf nicht übersehen, daß das polnische Volk
unter den Schmedenkriegen und unter seinen
inneren Wirren länger zu leiden hatte als
das deutsche unter dem dreißigjährigen Kriege
und daß es in dieser Zeit seine Kräfte zur
Kulturarbeit weder verwenden noch entwickeln
konnte. Das ändert aber nichts an der Tat¬
sache, daß die ganze Kulturarbeit im Netze-
distrikt in jener Zeit von Deutschen allein
geleistet wurde. Erst gegen die Mitte deS
vorigen Jahrhunderts haben die Polen be¬
gonnen, sich an dieser Kulturarbeit überhaupt
zu beteiligen, erst da fangen sie an, den
Stand zu bilden, der bei den Nachbarvölkern
schon Jahrhunderte vorher der eigentliche
Träger' der Kultur geworden war, den
bürgerliche» Mittelstand. Es ist aller Achtung
wert, was sie in der kurzen Zeit auf diesem
Gebiete in zielbewußter Arbeit geleistet haben;
aber die Zeit ist eben doch viel zu kurz, als
daß sie den Vorsprung des deutschen Nach¬
barvolkes auch nur entfernt hätten einholen
können. So haben sie ganz naturgemäß auf
kulturellen Gebiet bis heute im Verhältnis
zu den übrigen europäischen Kulturvölkern
nur wenig zu leisten vermocht, haben sich
mehr aufnehmend als schöpferisch verhalten
müssen. So ist auch ganz naturgemäß die
Kultur des Netzedistrikts bis heute rein deutsch
geblieben. Deutsch sind die Bauformen der
Häuser, deutsch die Formen des Hausgerätes,
deutsch ist das ganze geistige Leben dieses
Gebietes. Selbst dem zweifellos begabten
polnischen Handwerker ist es bisher nicht
gelungen, die alten Formen slawischen Kunst¬
handwerks neu zu beleben und zu verwerten.
Überall im Netzedistrikt trifft man deutsches
und nur deutsches Kulturgut. Er gehört
kulturell zu Deutschland.
Wirtschaftliche Zugehörigkeit. Für die
Bestimmung der wirtschaftlichen Zugehörig¬
keit kommt ein Mehrfaches in Betracht:
erstens der Besitz an Grund und Boden,
zweitens der Besitz an beweglichem Ver¬
mögen, drittens der wirtschaftliche Zu¬
sammenhang mit den Grenzgebieten. Der
ländliche Grundbesitz im Regierungsbezirk
Bromberg umfaßte im Jahre 1914 insgesamt
1 086 346 Hektar. Davon waren in deut¬
schem Besitz 714 905 Hektar ^ 6S.81 Prozent,
in Polnischen 371441 Hektar ^ 34,19 Pro¬
zent. Auch dieses Zahlenverhältnis verschiebt
sich, wenn man die früher nicht zum Netze¬
distrikt gehörigen Kreise ab- und Deutsch-
Krone und Flatow zurechnet, wesentlich zu¬
gunsten des Deutschtums, würde dann etwa
75 Prozent gegen 25 Prozent betragen; selbst
im Kreise Hohensalza beträgt der deutsche
Besitz noch 68,33 Prozent. Es ist gerade
von polnischer Seite mit Rücksicht auf die
litauischen und ostgalizischen Verhältnisse der
Grundsatz aufgestellt worden, daß für die
Zugehörigkeit eines Gebietes der Grundbesitz
mit, ja in erster Linie entscheidend sei. Auf
den Netzedistrikt angewendet, ergibt dieser
Grundsatz mithin ein ihnen sehr ungünstiges
Resultat. Noch ungünstiger wird es bei Be¬
trachtung des privaten Grundbesitzes. Für
ihn ergibt sich in den einzelnen Kreisen des
Netzedistriktes ein Verhältnis von 36,84 bis
K5,69 Prozent in deutscher und 12,73 bis
4l,93 Prozent in polnischer Hand, dabei das
den Deutschen ungünstigste Verhältnis im
Kreise Schubin mit 48,11 Prozent in deutscher
und 41,93 Prozent in polnischer Hand. Nach
dem Maßstabe des ländlichen Grundbesitzes
ist also der ganze Netzedistrikt zweifellos
überwiegend deutsch; dabei ist noch zu be¬
achten, daß der deutsche Grundbesitz sich über¬
wiegend in bäuerlicher Hand, der Polnische
übel wiegend in der Hand von Großgrund¬
besitzern befindet. In den Städten des
Regierungsbezirks befinden sich 67 Prozent
der Grundstücke in deutscher Hand, im
eigentlichen Netzedistrikt wiederum entsprechend
mehr, selbst in Gnesen aber noch 51,3 Pro¬
zent. Die wirtschaftliche Bedeutung beider
Nationalitäten für den Bezirk ergibt sich noch
klarer aus den Steuerverhältnissen. Es
brachten 1914 im ganzen Regierungsbezirk
die Deutschen an Einkommensteuer auf
3 918 359 Mark 80,65 Prozent, die Polen
940 037 Mark ^ 19,35 Prozent. Es zeigt
sich somit eine ganz gewaltige Überlegenheit
der deutschen Bevölkerung in finanzieller
Leistungsfähigkeit. Das Verhältnis dürfte
sich während des Krieges dadurch etwas ver¬
schoben haben, daß die Polen nach Möglich¬
keit deutsches Metallgeld zurückhielten, das
heute einen größeren Wert hat als dus Pnpier.
Dem steht aber gegenüber eine größere Be¬
teiligung der Deutschen an den KriegS-
geschäften und damit ein Hereinbringen aller¬
dings nicht so wertvoller, aber größerer
Mengen von Zahlungsmitteln. Die Ver¬
schiebung dürfte also tatsächlich nur un¬
wesentlich sein. Es zeigt sich auch selbst im
Grundstückshandel noch keine Überlegenheit
der polnischen Kaufkraft trotz des starken
nationalen Antriebs zum Grunderwerb.
Die wirtschaftliche Zusammengehörigkeit
mit den Nachbargebieten ergibt sich für den
Netzedistrikt aus dem Weichsel-Oder-Wasserweg
und der ihm parallel laufenden Bahnstrecke
Thorn—Schneidemühl. Fast die gesamte
Personen- und Güterüewegung verläuft in
der Richtung Ost-West und umgekehrt, kettet
also den Distrikt wirtschaftlich an das west¬
liche deutsche Gebiet an. Die von Süde«
heranführenden Bahnstrecken haben eigentlich
nur die Bedeutung von örtlichen Zuführungs¬
strecken für die Hnuplliuie. Einzig von
Bromberg aus findet ein lebhafterer Verkehr
nach Süden statt, der sich aber in der Haupt¬
sache auch nur bis Kujawien erstreckt, da»
von hier aus mit Maschinen versorgt wird
und seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse da¬
für abgibt. Von Osten her kommt vorzugs¬
weise russisches Holz auf der Weichselstraße
herein. Das ganze Schwergewicht des wirt¬
schaftlichen Verkehrs neigt sich nach dem
Westen hin. So bildet der Netzedistrikt
ein von der übrigen Provinz fast abge¬
schlossenes, jedenfalls ein von ihr ziemlich
unabhängiges Gebiet, das eine Loslösung
vom Süden der Provinz weit eher ertragen
könnte, als eine Absperrung vom deutschen
Westen. In jeder Beziehung wird dies Ge¬
biet also wirtschaftlich nur zu Deutschland zu
rechnen sein. Deutsch ist es nach dem alten
Staatsrecht, deutsch nach modern naturrecht¬
licher Auffassung, deutsch nach seiner Kultur
und deutsch nach seinen gesamten wirischast-
lichen Verhältnissen. Es gibt nichts, schlechter¬
dings gar nichts, woraus ein polnisches
Stantswesen Besitzansprüche auf dieses Ge¬
biet herleiten könnte.
Und will man von allem anderen absehen,
so gibt es einen Beweis für die Zugehörig¬
keit des Netzedistrikts zu Deutschland, der
schlagender ist als alle anderen. Wäre seine
Bevölkerung Polnisch, so müßte es den Polen
ein leichtes sein, die Aufstandsbewegung auch
hierher zu verpflanzen. Gerade am Netze¬
distrikt bricht sich aber eine Polnische Auf¬
standswelle schon zum zweiten Male. Das
erstemal war es im Jahre 1848. Auch
damals fiel den Polen die ganze Provinz
zu, der Netzedistrikt hielt sich deutsch. Im
Januar I9t9 wurde die deutsche Bevölkerung
von der Polnischen Erhebung unter besonders
ungünstigen Umständen getroffen. Sie wurde
überrascht zu einer Zeit, als sie noch gelähmt
war von dem Eindruck der kurz vorhergehen¬
den verhängnisvollen Ereignisse. Trotzdem
haben sich die Bewohner des Netzedistrikts
sofort zum Widerstand eihoben, und ihr
Widerstand war so nachhaltig, daß die Polen
ihn bis heute nicht zu brechen vermochten.
Es ist dabei aber keineswegs der Grenzschutz
allein, der diesen Widerstand leistet; es sind
deutsche Bürger- und Bauernwehren hervor¬
ragend an ihm beteiligt. Eine Bevölkerung,
die so klar ihren Willen zum Deutschtum be¬
kannt hat, einem polnischen Staatswesen zu¬
sprechen zu wollen, dürste ein sehr bedenk¬
liches Unternehmen sein. Sie wird für den
Staat nicht nur, dem sie gewaltsam zugeteilt
wird, sie wird für den Frieden ganz Europas
eine ständige Gefahr. Ja, wer die Stimmung
dieser Bevölkerung kennt, der wird kaum
Zweifel darüber hegen, daß sie einer solchen
Zuteilung an ein polnisches Staatswesen
gewaltsam Widerstand entgegensetzen und eher
andere, vielleicht bedenklichere Verbindungen
eingehen würde als diese von ihr so leiden¬
schaftlich abgekehrte.
Der Deutsche Volksrat. Alle deutschen
Männer und Frauen über 18 Jahre ohne
Unterschied des Bekenntnisses, der Parteien
«ut Stände treten zur Deutschen Vereini¬
gung zusammen.
In ländlichen Bezirken schließen sich Ort¬
schaften, die zusammen t SO bis 230 Familien
zählen, gruppenweise zusammen. Größere
Städte, wie Bromverg, Thorn, Danzig, teile
man in entsprechende Bezirke.
Ist die Vereinigung der Deutschen eines
Bezirks oder Ortes erfolgt, so wird zur Wahl
des Volksrates dieser Vereinigung geschritten.
Es werden je nach der Größe dieser Ver¬
einigung drei und mehr Volksratsmitglieder
gewählt, und zwar möglichst aus allen Be¬
rufen.
Auf dem Lande wählt man Vertreter des
bäuerlichen und großen Grundbesitzes, land¬
wirtschaftliche Arbeiter, Gewerbetreibende und
Lehrer oder Pfarrer, sowie Beamte und An¬
gestellte.
In der Stadt müssen vertreten sein: Der
Kaufmann und Industrielle, der kleine Ge-
werbetreibende, die freien Berufe, alle Kate¬
gorien der Beamtenschaft und der Angestellten,
der Handwerker, der Arbeiter und der Heeres¬
angehörigen. Nach vollzogener Wahl des
Volksrats entfernen sich die Erschienenen bis
auf die Gewählten, Diese wählen nun aus
ihrer Mitte einen Obmann, derselbe ist gleich¬
zeitig Kreisdelegierter, außerdem werden je
nach der Größe der Bezirke ein bis zwei
weitere Kceisdelegierte gewählt.
Diese Kreisdelegierten bilden den Kreis¬
volksrat. Die Verhandlungen des Kreisvolks¬
rats sind öffentlich. Sobald eS der Fort¬
schritt der Organisation im Kreise gestattet,
tiersammeln sich die Kreisdelegierten und
wählen sich einen Obmann und 11 Mitglieder,
die zusammen den Arbeitsausschuß bilden.
Den Mitgliedern des Ausschusses sollen Reise¬
kosten und Aufwendungen ersetzt werden.
Der Kreisvolksrat unterhält ein ständiges
Bureau, das von einem Schriftführer verwaltet
wird, der nach Möglichkeit besoldet ist. Es
ist zu erstreben, einen Schriftführer im Haupt¬
amt auzustellon.
Zur Schaffung eines Kreisvermögens
zahlt grundsätzlich die ländliche Bevölkerung
0,ö0 Mark Pro Morgen, Gewerbetreibende,
Beamte, Arbeiter einen entsprechenden Teil
ihres Einkommens als einmaligen Beitrag.
Für nicht im Erwerb stehende Familienmit¬
glieder braucht ein Beitrag nicht erhoben zu
werden. Die Beiträge werden auf ein Konto
des Deutschen Volksrats des Stadt- oder
Landkreises eingezahlt und bleiben der Ver¬
wendung für die Bedürfnisse des Kreises vor¬
behalten. Ihre Verwaltung erfolgt durch den
Kreisvolksrat gemeinsam mit einem „Kassen-
Delegierten" des Zentralbureaus der Deut'
scheu Vereinigung.
Zweck der Deutschen Bolksriite. Der
Grundgedanke der Vol'sräte ist kein Kind
der jüngsten Revolution. Er findet sich bereits
in deit Schriften des Freiherrn vom Stein,
wurde von Fichte und Anibe vertreten und
ist von den Sozialdemokraten Adler und
Renner in Osterreich verwertet worden, um
das Deutschtum gegen den übermäßigen Druck
des Slawentums zu schützen. Diesem letzten
Zweck soll er zunächst in den gemischt¬
sprachigen Gebieten Deutschlands dienen. Er
soll eine Parallelorganisation zur wohl-
orgnnisierten Rada Luduwa der Polen sein.
Als solche hat er zunächst folgende Aufgaben:
Tätigkeit.
1. Erweckung und Stärkung des Zu¬
sammengehörigkeitsgefühls aller Deutschen ohne
Unterschied der Partei und des Standes.
2. Überwachung der Maßnahmen der
Behörde bezüglich ihrer Wirkung für das
Deutschtum.
5. Vorbereitung und örtliche Durchführung
von Maßnahmen, die das Deutschtum fördern,
den deutschen Besitz und die deutsche Wirt¬
schaft erhalten.
4. Schaffung eines Sprachrohres, durch
das auch die Wünsche des kleinen Mannes
und der abgelegensten Ortschaften zu den
höchsten Behörden dringen.
6. Verselbständigung des Politischen Ur¬
teils durch Politische Aufklärung, durch sach¬
liche wirtschaftlich-politische Vorträge unter
Ausschluß jeder Parteipolitik.
6. Gewinnung der -Frauen zur Betätigung
im deutschen Sinne und Anregung zur tätigen
Mitarbeit.
7. Pädagogische Vorträge über Jugend¬
erziehung und Gewinnung der Jugend für
ideelle Aufgaben.
8. Bevölkerungspolitik nach ethischen
Grundsätzen.
9. Nutzbarmachung der Ansiedelungsgesetze
für das Bedürfnis der deutschen Kriegsange¬
sessenen.
1V. Zusammenschluß der Deutschen für
die Wähle» im Kreise als Gegengewicht gegen
die Polen.
Der Deutsche Volksrat soll den wirtschaft-
licken Niedergang der Deutschen gegenüber
dem geschlossenen Polentum verhindern, soll
alle Deutschen wie in einer großen Familie
zusammenschmieden, allen Kastengeist ver¬
treiben, allen Ständen Freude an Kunst und
Wissenschaft bringen, und helfen, unser Volk
glücklich zu machen.
Solches Ziel ist nur erreichbar nach Über-
briicknng aller der Hindernisse, die sich trennend
zwischen die einzelnen Schichten des deutschen
Volkes geschoben haben. Darum keine
Soziulistentöterei, keinen Antisemitismus, keine
konfessionellen Gegensätze, keine Betonung des
Trennenden, sondern immerwährende Be¬
tonung aller derjenigen Lebensüußerungsn,
die uns als Deutsche verbinden.
Die Devise des Deutschtums soll sein:
Die Volkskundgevung in Meseritz. Auf
Veranlassung des Deutschen Heimatbundes
Posener Flüchtlinge (Ortsgruppe Meseritz)
hatten sich zu einer imposanten Kundgebung
am Ostersonntag mittags auf dem hiesigen
Marktplatz mehrere tausend Deutsche aus
Stadt und Land, die hiesigen Grenzschutz¬
truppen, der Landwehrverband, die Schützen¬
gilde, die Feuerwehr und der Eisenbahn¬
verein eingefunden, eine Menschenmenge, wie
sie der Marktplatz in Meseritz noch nie gesehen
hat. Grenzschutzsoldnt Eggert betonte in
seiner Rede den Vernichtungswillen der En¬
tente, der durch die Unterstützung der auf¬
ständischen Polen besonders kraß zutage trete.
Der Durchzug der Hallerschen Armee in
französischer Uniform mit französischem Kriegs¬
material empfindet jeder nach dem ab¬
geschlossenen Waffenstillstand als einen Faust¬
schlag ins Gesicht. Der Grenzschutz brennt
darauf, den Vormarsch zur Wiedereroberung
der Provinz Posen anzutreten und Tausende
deutscher Männer würden sich zweifellos an¬
schließen. Leider seien uns aber die Hände
gebunden. Die Provinz Posen müßten wir
als lebenswichtigen Teil Deutschlands wieder
erhalten und deshalb mit allen Mitteln auf
Erfüllung des Punktes 13 der Wilsonschen
Eätze dringen. Eine Volksabstimmung würde
klar erweisen, daß die Provinz kein unbestreit¬
bar polnisches Gebiet im Wilsonschen Sinne sei.
Mit den zahlreichen im Grenzschutz stehen¬
den Flüchtlingen würde sicher das ganze Volk
zusammenstehen, wenn der Punkt 13 nicht ge-
rechterweisezuunserenGunsten ausgelegt werde.
Bürgermeister Schlüter führt etwa aus:
Wir verlangen, daß die Provinz Posen beim
deutschen Reiche bleibt. Die Provinz ist
deutsches Land, und Punkt 13 wird nicht
erfüllt, wenn sie abgetreten wird. Wie würde
es uns unter Polnischer Herrschaft gehen?
Seht euch das Schicksal unserer Brüder im
besetzten Gebiet an, hört, was die Geflüchteten
erzählen! Sie konnten das Elend nicht mehr
aushalten, sie waren ihres Lebens nicht
mehr sicher.
Angesehene Posener Bürger sind interniert
worden, mit der lügenhaften Begründung, daß
die Polen hinter der Demarkationslinie vom
deutschen Haß veifolgt würden. Jeder von
euch weiß, daß das eine Lüge ist. Das ver¬
wahrloste Kongreßpalen soll jetzt mit deut¬
schen Mitteln aus der Provinz Posen wieder
aufgebaut werden. Man wird die Deutschen
wieder an-pressen und wenn sie das letzte
hergegeben haben, wird man sie wie eine
ausgedrückte Zitrone beiseite werfen. Wir
müssen mit ehernem Finger an die Regierungs¬
pforte klopfen und rufen: Regierung werde
hart! Schütze und schirme deine Kinder, die
den heiszen Wunsch haben, deutsch zu bleiben.
Unter Glockengeläut und Marschmusik zog
sodann die Menschenmenge in einem statt¬
lichen Zuge durch die mit Fahnen reich-
geschmückte Straße, Als der Zug wieder auf
dem Marktplatz angekommen, sprach Baurat
Henschke im Namen des Deutschen Volksrats
Meseritz etwa folgendes: Gebt uus die
Heimat wieder! Dieser gewaltige Ruf Zehn¬
tausender von Flüchtlingen aus der Provinz
Posen erschallt heute an der gesamten Posener
Front von Thorn bis Breslau. . Er darf
nicht ungehört verhallen! Und wir alle, die
Wir die Schmach der Preisgabe der Provinz
ebenso tief wie sie empfinden, stehen ge¬
schlossen hinter ihnen. In letzter Stunde
wollen wir, gestützt auf unser gutes Recht
und auf Punkt 13 der Wilsonnote, unseren
festen Willen bekunden: Unsere deutsche
Heimatprovinz muß deutsch bleiben und darf
vom Reiche nicht getrennt werden.
Soldat Kleinschmidt, Mitglied des Zentral-
soldntenrnts des 3. Armeekorps, führte etwa
aus: Die Nichtbefolgung des Punktes 13
würde neues Unglück heraufbeschwören.
Deutschland müsse jetzt seine letzte Kraft zum
Wiederaufbau verwenden, jeder einzelne müsse
daher das Seine tun, um das Wirtschafts¬
leben vor dem drohenden Zusammenbruch zu
bewahren. Der Redner verlas folgende Ent¬
schließung: Der Deutsche Heimatbund Posener
Flüchtlinge, Ortsgruppe Meseritz, hat sich
unter zahlreicher Beteiligung der einheimischen
Bevölkerung von Stadt und Land zu einem
großen Demonstrationszuge versammelt und
bekundet hierdurch seinen unbeugsamen Willen,
die Provinz Posen, seine Heimat, als deutsche
Provinz gemäß Punkt 13 des Wilsonschen
Programms unter allen Umständen dem
Deutschen Reiche zu erhalten. Als deutsche
Bürger verlangen wir von der Regierung,
daß sie unbedingt dafür eintritt, daß unsere
zurzeit verlorene deutsche Heimat beim
Friedensschluß wieder mit Deutschland ver¬
einigt wird.
Die Entschließung wurde unter lebhaften
Zurufen einstimmig angenommen und an die
maßgebenden Stellen telegraphisch gesandt.
Nach dem Gesang von Deutschland, Deutsch¬
land über alles, ging die Menge auseinander.
In einer Sitzung der Deutschen Volks-
rate des Sttdgaues der Provinz Wcstprcuszcn
wurde folgende Entschließung angenommen
und an den Reichswehrminister sowie an die
WaffenstillstandSkommissüm gesandt:
„Durch aufreizende Reden setzte sich Ge¬
neral Haller wiederholt über die Bedingungen
betr. Durchzugs Polnischer Truppen durch
deutsches Land hinweg. Die Demarkations¬
linie wird polnischerseits nicht beachtet. Die
Entente hat offenbar nicht die Macht oder
den Willen, dagegen einzuschreiten. Die
Südkreise der Provinz Westpreußen sind aufs
äußerste erbittert und erregt und begreifen
das Schweigen der Negierung nicht. Wir
fordern mit allem Nachdruck und Ernst, ein¬
mütig und entschlossen: Haller muß unter
allen Umständen gezwungen werden. Pro-
volationen jeglicher Art auf deutschem Hoheits¬
gebiet zu unterlassen, der Transport Pol¬
nischer Truppen und Munition muß auf
deutscher Straße unverzüglich eingestellt und
ganz Deutschland zum Schutze der Ost-
Provinzen aufgerufen werden. Erfüllt die
Regierung diese Forderung, die für uns und
ganz Deutschland Sein oder Nichtsein be¬
deutet, nicht, dann trägt sie allein die Ver¬
antwortung für alle daraus entstehenden
Folgen. Wir erneuern nochmals unseren
heiligen Schwur: Wir sind deutsch und wollen
deutsch bleiben, wir beugen uns nicht der
Gewalt, mag kommen, was da will.
Telegramm an den Preuß. Minister des
Innern.
Nach Fühlungnahme mit den ver¬
schiedenen Parteien des Bezirks Bromberg
-beehrt sich der Deutsche Volkörat, dem Herrn
Minister nachstehenden Stimmungsbericht zu
übermitteln:
Die bis jetztbekanntgewordenenFriedens-
bedingungen haben sogar die pessimistischsten
Befürchtungen hier übertroffen. Allgemein
äußert sich die Stimmung in Bromberg
dahin, daß die Erfüllung der Bedingungen
nicht allein unannehmbar, sondern unmög¬
lich ist. Die Bevölkerung Brombergs ver¬
mag nicht zu begreifen, wie die Abtrennung
dieser rein deutschen Stadt mit den Wilson-
prinzipien vereinbar sein soll. Die beab¬
sichtigte Knechtung von Millionen deutscher
Volksgenossen unter der sattsam bekannten
polnischen Willkürherrschaft ruft Abscheu un>
Empörung hervor. Die Bevölkerung ist der
Ansicht, daß das deutsche Volk schlimmere
Bedingungen als die gegenwärtigen selbst
bei brüsker Ablehnung nicht zu fürchte«
hätte, ferner daß das von der Entente im
Weigerungsfalle angedrohte Schicksal leicht
Wiege im Vergleich zu dem elenden Leben,
das Deutschland aus der Annahme dieses
Gewallfriedens noch fristen könnte. Brom-
berg ist bereit, bei dem deutschen Volke in
allen Folgen, die die Ablehnung des Frieden»
nach sich zöge, auszuharren und erneuert
in dieser schweren Stunde vor aller Welt
dieses Bekenntnis zum Deutschtum. Vrom-
berg erwartet von der Regierung, daß sie
diese Wünsche aller Welt zu Gehör bringt,
wobei sie versichert sein darf, daß sie bei
Ablehnung der Bedingungen die gesamte
Ostmark geschlossen hinter sich hat.
An das Auswärtige Amt.
Eingehende Fühlungnahme der Be«"
trauensmänner hiesiger Parteien hat ergebe«,
daß die Bevölkerung im Regierungsbejivk
Bromberg einmütig die Annahme der schimpf¬
lichen Versailler Friedensbedingungen ab¬
lehnt. Die angekündigte Versklavung von
Millionen Deutscher unter polnischer Will¬
kürherrschaft hat Abscheu und Empörung
hervorgerufen. Die Bevölkerung erwartet
von der Reichsregierung, daß sie einen der¬
artigen Frieden als unvereinbar mit dem
Wilson-Programm und als Vorstufe sicherer
Verelendung des gesamten deutschen Volks-
tums zurückweist. Die Bevölkerung gibt der
Negierung das feierliche Gelöbnis, daß sie
bereit ist, alle Folgen mitzutragen, die die
Ablehnung des Friedens nach sich ziehen
könnte.
An den Reichswehrminister Roste.
Die Bevölkerung des deutschen Re¬
gierungsbezirkes Bromberg hat die Versailler
Friedensbedingungen mit Abscheu und Em¬
pörung aufgenommen. Sie erwartet von
der Reichsregierung, daß sie einen Frieden
als unannehmbar von sich weist, der für
Millionen deutscher Volksgenossen Ver¬
sklavung unter Polnischer Willlürherrschnft
bedeutet. Bromberg ist bereit, genieinsam
mit dem deuischen Volk alle Folgen zu
tragen, die die Verweigerung der Unter¬
schrift nach sich ziehen könnte. Gegen jeden
polnischen Versuch, vor der endgültigen
Regelung der Friedensfrage hier eigen¬
mächtig vorzugehen, wird sich die Bevölke¬
rung mit den Waffen zur Wehr setzen. Sie
erwartet, daß die Reichsregierung für diesen
Fall alle Vorkehrungen getroffen hat und
schleunigst noch treffen wird, um die deutsche
Bevölkerung in den bedrohten Gebieten bei
diesem Abwehrkampf mit allen verfügbaren
militärischen Mitteln zu unterstützen.
Der deutsche Volksrat für Westpreußen
gibt folgende Kundgebung bekannt:
Angesichts der wahnwitzigen Friedens¬
vorschläge erklären wir mit aller Ruhe und
Entschiedenheit: Eine Negierung, die auf
Grund dieser Vorschläge Frieden schließen
wollte, würde die deutsche Bevölkerung West-
Preußens nicht anerkennen. Diese Vor¬
schläge bieten noch nicht einmal eine Grund-
Inge für Verhandlungen. Die deutsche Be¬
völkerung Westpreußens, die zwei Drittel
der Gesamtbevölkerung bildet, nimmt nur
einen Frieden an, der den Willen der Mehr¬
heit voll berücksichtigt. Über die Befriedigung
der wirtschaftlichen Bedürfnisse Polens läßt
sich verhandeln, über das Verbleiben West-
preußens bei Deutschland gibt es keine Ver¬
handlungen. Wir fordern sofortige Ma߬
nahmen für bewaffneten Widerstand.
An dicRcichsregicrnng, Staatsregierung,
Nationalversammlung. Bromberg, 11. Mai
1919. Eine auf Veranlassung der Deutschen
Vereinigung heute in Bromberg zusammen¬
getretene Versammlung von Vertretern zahl¬
reicher Provinzzeitungen Posens und West-
preußens beehrt sich, nach eingehender Aus¬
sprache folgende Entschließung zu übermitteln:
Die Provinzpresse als Ausdrucksorgan des
Volkswillens der engeren Bevölkerungskreise,
über deren wahre Meinung sie am unmittel¬
barsten unterrichtet ist, erhebt im Namen des
hinter ihr stehenden deutschen Volkstums
feierlichen Einspruch gegen die im Geivalt-
frieden angekündigte Loslrennung und Zer¬
stückelung der beiden Provinzen. Die deutsche
Provinzpresse bis hinunter zu dem mit be¬
scheidenen Mitteln im engsten Wirkungskreise
arbeitenden Blatte wird in diesen schweren
Tagen der Entscheidung ihr äußerstes daran
setzen, den deutschen Geist auch bei dem ge¬
ringsten Mann stark und lebendig zu halten
und die Widerstandskraft zu stählen. Indem
sie vor aller Welt ihr unverbrüchliches Ge¬
löbnis zum Deutschtum furchtlos erneuert,
verspricht sie, die Bemühungen der Regie¬
rung ans Erzielung eines wirklichen Nechl-
friedens mit Einsetzung aller Kraft zu unter¬
stützen, und sie verspricht ferner der Regierung
in allem, was da kommen möge, treu zur
Seite zu stehen, wenn die Vernichtung der
deutschen Volkskraft nicht anders mehr als
durch Ablehnung des Gewallfriedens abge¬
wendet werden könnte. Insbesondere fordern
wir die Regierung auf, nun auch in dem
ausständischen Teil der Provinz Posen die
Reichsgewnlt wieder herzustellen, nachdem die
anderen Ausstandsherde im Reiche erstickt sind.
Aus Bromberg richtete der DcutschcBolks-
rat Bromberg und Umgebung folgendes
Telegramm an die Neichsbehöroen:
„Der Deutsche Volksrat für Bromberg
und Umgebung erklärt im Hinblick auf
den Vertrags- und Rechtsbruch in den
unmöglichen Friedensbedingungen, dasz die
einzige Antwort auf den unerhörten feind¬
lichen Vernichtungswillen nur ein ent¬
schiedenes „Nein" mit darauffolgenden
Abbruch der Verhandlungen sein kann."
Er fordert von der Regierung, so zu ver¬
fahren, und weist darauf hin, daß das
Sclbstbestunmungsrecht der Deutschen Brom¬
bergs und des gesamten Netzedistrikts jetzt
erst recht nur eine Richtung kenne: Wir lassen
uns nicht wie Gegenstände oder wie Steine
in einem Spiel behandeln. Wir wollen so
berücksichtigt sein, wie es der weitaus über¬
wiegenden deutschen Bevölkerung zukommt.
Wir wollen deutsch bleiben, denn wir sind
es und haben das Anrecht darauf jahr¬
hundertelang erworben. Wir müssen zur
Waffe greifen und bis zum letzten Blutstropfen
Haus und Heimat verteidigen, wenn der
Bogen überspannt wird.
Fallstricke beim Verkauf deutschn»
Grundbesitzes.
Das Polnische Schatzamt Posen teilt
folgendes mit:
„Eine ganze Reihe deutscher Grundbesitzer,
Bauern und Ansiedler, die beabsichtigen, ihre
Grundstücke hierorts zu verkaufen und nach
Deutschland zurückzuwandern, hat an uns die
Frage gerichtet, ob es wahr wäre, daß die
polnischen Behörden denjenigen Teutschen,
die auswandern wollen, das Barvermögen
hier zurückbehalten werden. Wir können er¬
klären, daß dies nicht der Fall sein wird
zumal der Verkauf von ländlichem und
städtischem Besitz nicht gegen die polnischen
Belange verstößt. Im Gegenteil wird man
sowohl den Verkauf als auch die Mitnahme
des aus dem Verkaufe erlangten Barerlöses
keinerlei Ausnahmegesetzen unterwerfen. Es
ist selbstverständlich, daß nach Aufhebung aller
Ausnahmebestimmungen auch die auf An-
siedlungsgülern, Ansiedlungsrenlengülern usw.
eingetragene Polenklausel binnen kurzem ihre
Rechtsverbindlichkeit verlieren wird. Es ist
somit den Besitzern von Grundstücken, auf
denen die sogenannte Polenklausel lastet, er¬
laubt, diese Grundstücke an Polen zu ver¬
kaufen."
Aus dem ersten Teil dieser Erklärung
geht zunächst einmal hervor, mit welchem
Eifer die neuen Polnischen Herren in P>>sen
bestrebt sind, die bodenständige deutsche
Bauernschaft in Posen zum Verkauf ihres
Grundbesitzes zu bewegen, damit sie durch
Nachschieben polnischer Elemente die Provinz
dann noch stärker mit Polen durchsetzen können.
Man wird die deutschen Bauern und Guts¬
besitzer nur dringend in ihrem eigenen
Interesse warnen können, auf den loyalen
Ton der Polnischen Erklärung hin ihr Land
an die Polen zu verkaufen. Eine ganze An¬
zahl von gewichtigen Gründen spricht dafür,
daß die Deutschen, die auf das polnische An¬
erbieten eingingen, die Geschädigten sein
würden. Einmal würde gerüde jetzt, wo
infolge der Unsicherheit der ganzen Politischen
Lage, die viele ängstliche Landbewohner
deuischcr Ablunsi bewegt, dem Lande, das
deutsche Arbeit in die Höhe gebracht hat,
den Rücken zu kehren, und wo nun
auch die Polnischen Behörden direkt zum
Verkauf teuschen Grundbesitzes ermutigen,
der Preis, der beim Verkauf des Landes
erzielt werden kann, wesentlich niedriger sein
als in Zeiten geringen und nicht drängenden
Landangebotes. Ein deutscher Bauer, der
heute sein Land an die Polen verkaufte,
würde es daher zweifellos unter dein wahren
Wert bezahlt erhalten. Und ein anderes:
Die deutschen Bauern mögen nicht glauben,
daß man ihnen die Zahlung in einer Wäh¬
rung leisten werde, die sie in Deutschland
ohne Schaden verwerten können. Bei dem
Chaos, das in den Polnischen Finanzen
herrscht, ist es völlig unglaubhaft, daß etwaige
Landankäufe durch die Polen auch bar bezahlt
werden können. Vielmehr werden die Polen
hier zwei Fliegen mit einer Klappe zu
schlagen suchen, indem sie einmal den Deut¬
schen ihr schönes und intensiv bearbeitetes
Land ablocken und ihnen dazu Stücke der
Polnischen Schatzanweisungsanleihe, sür die
aus sehr naheliegenden Gründen bei der
Zeichnung vom Sparelpublikum keine sehr
große Vorliebe gezeigt worden ist, aufhängen.
Mit den Stücken dieser Polnischen Anleihe
aber, die rechtlich überhaupt keine Fundierung
besitzt und nach allen aus Posen kommenden
Mitteilungen schon längst bedeutend unter
Pari gesunken ist, könnten die bedauerns¬
werten Besitzer in Deutschland nicht das
Mindeste anfangen. Aber auch wenn die
Polen die Beträge in dem seit einigen Tagen
in Posen als gesetzliches Zahlungsmittel zu¬
gelassenen Kassenscheinen der Polnischen
Landesdarlehnskasse in Warschau bezahlten,
hätten die deutschen Bauern kein vollwertiges
Geld erhalten, denn die gerade jetzt vom
Polnischen Schatzamt angedrohten außer¬
ordentlich hohen Strafen für alle die, die
dieses gesetzliche Zahlungsmittel nicht oder
nur mit Disagio annehmen wollen, zeigen
sehr deutlich, mit welchem starken Mißtrauen
selbst die Polnische Bevölkerung dem Gelde
der Darlehnskasss seit deren Übergang aus
der deutschen in die Polnische Verwaltung
gegenübersteht.
Außerdem aber werden zweifellos die
deutschen Bauern und Grundbesitzer mit der
Herausführung des von ihnen gelösten Geldes
über die Demarkationslinie nicht so leichtes
Spiel haben, wie es die außerordentlich wohl¬
wollend klingende polnische Erklärung vor¬
spiegelt. Es besteht nämlich nach wie vor
das im März des Jahres erlassene Ausfuhr¬
verbot für Geld und Geldzeichen aus dem
von den polnischen Truppen besetzten Gebiet.
Die Deutschen müssen also mit der Wahr¬
scheinlichkeit rechnen, daß sie nach dem Ver¬
kauf ihrer Güter, wenn sie im Vertrauen
auf die oben wiedergegevene polnische Er¬
klärung mit ihrem Gelde nach Deutschland
gehen wollen, kaltblütig auf die Verfügung
vom März verwiesen werden, derzufolge
Zahlungsmittel nicht über die Grenze ge¬
bracht werden dürfen.
Was die Aufhebung der Polenklausel be¬
trifft, so ist es ohne weiteres klar, daß eine
einseitige Aushebung des im Grundbuch ein¬
getragenen Vermerks durch Dritte ohne Zu¬
stimmung des Berechtigten und des-Ver¬
pflichteten rechtlich ein Unding darstellt. Die
Polen zeigen ihre eigene Unsicherheit in dieser
Angelegenheit schon dadurch, daß sie sich in
ihrer Erklärung in Widerspruch verwickeln.
Im ersten Passus des zweiten Absatzes heißt
es, daß es selbstverständlich sei, daß die
Polenklausel „binnen kurzem ihre Wirksamkeit
verlieren werde". Dann aber im nächsten
Satze ist bereits davon die Rede, daß schon
jetzt der Verkauf von Grundstücken, auf denen
die Polenklausel lastet, erlaubt sei. Das
alles zeugt denn doch nicht gerade von Klar¬
heit und Sicherheit. Auch Praktisch wird
übrigens die Durchführung des Verkaufs
dieser Güter auf technische Schwierigkeiten
stoßen, deren die Polen vorderhand kaum
Herr werden dürften. Kein Grundbuchrichter
Wird die Verantwortung für die Mitwirkung
bei einer Eintragung bieten, die ihn
unter Umständen zivilrechtlich haftbar machen
könnte.
Die geplante Grenzziehung zu Polen.
Von einem Punkt etwa acht Kilometer östlich
Neustadt (Schlesien) nach Norden und bis
zur Spitze des Vorsprungs der Ostgrenze
des Kreises Falkenberg ungefähr drei Kilo¬
meter östlich Puschin: eine auf dem Gebiete
östlich von Zuelz zu ziehende Linie, von da
die Ostgrenze des Kreises Falkenberg, sodann
die Grenze zwischen Ober- und Mittelschlesien,
sodann die Westgrenze von Posen bis zur
Bartsch, sodann den Lauf dieses Flusses
stromabwärts; sodann Grenze zwischen Kreisen
Guhrau und Glogau nach Norden, sodann
Grenze Posens gegen Nordosten bis zu ihrem
Treffpunkt mit der Grenze zwischen Kreisen
Lissa und Fraustadt; von da nach Nordwesten
und bis zu einem auf der Straße zwischen
den Orten Unruhstadt und Kopnitz festzu¬
setzenden Punkte: eine Linie, die auf dem
Gebiete westlich der Ortschaften Geyersdorf,
Brenno, Allkloster, Klebel und östlich der
Orte Ulbersdorf, Buchwald, Ilgen, Lupitze,
Schwerter verläuft; von da nach Norden
und bis zum nördlichsten Punkt des Schlop-
sees: eine Linie, festzusetzen ans dem längs
der Mittellinie der Seen verlaufenden
Raume; wobei indessen die Stadt und Station
vonBentschen einschließlich derLinienkreuzung
Schwiebus—Berthchen und Züllichau—
Berthchen auf Polnischen Gebiet verbleiben;
von da nach Nordnordost und bis zum Treff-
Punkte der Grenzen Kreise Schwerin, Birn¬
baum und Meseritz: eine in dem Raume
östlich von Berthchen festzusetzende Linie; von
da und nach Norden die Grenze zwischen
Kreisen Schwerin und Birnbaum; sodann
nach Osten die Nordgrenze des Gouverne¬
ments Pos^'n; sodann nach Nordosten die
Grenze zwischen Kreisen Filehne und Czar-
nikau, sodann den Netzelcmf flußaufwärts,
sodann nach Norden die Ostgrenze des Kreises
Czarnikau bis zu seinem Treffpunkte mit
der Nordgrenze Posens von da nach Nord¬
osten und bis zu einem Punkte der Grenze
Posens, gelegen am äußersten Vorsprunge
ungefähr fünf Kilometer Westnordwest von
Schneidemühl: eine in dem Raume festzu¬
setzende Linie; von da die Grenze Posens
bis zu ihrem Treffpunkte mit Grenze zwischen
den Kreisen Flatow, Deutschkrone; von da
nach Nordosten und bis zur CSte 206 un¬
gefähr fünf Kilometer Westnordwest von
Konitz: eine in dem Raume ungefähr parallel
zur Eisenbahn Schneidemühl—Konitz und
ungefähr acht Kilometer westlich von dieser
festzusetzenden Linie, die im Westen der
Orte Annafeld, Gresonse, Friedland, Stein¬
born, Jenzuik, Niesewanz und östlich der
Orte Sakollno, Wengerz, Kursen, Radawnitz,
Lanken, Damnitz, Schlochau lunter Belassung
der Eisenbahn Hammerstein—Schlochau—
Prechlau), Lichtenhagen, Riehnau, verläuft;
von da nach Norden die Grenze zwischen den
Kreisen Konitz und Schlochau; sodann die
Grenze Westpreuszens bis zum äußersten
Norden des Vorsprunges ungefähr acht Kilo¬
meter südöstlich von Lauenburg; von da
nach Norden bis zur Ostsee: eine Linie in
dem Raume östlich der Dörfer Hohenfelde,
Snulin, Chottschow, der Mittellinie der
östlich dieser Ortschaften gelegenen Seen
folgend und über die Cüte 82 ungefähr
fünf Kilometer nordnordwest von Ossecken
verlaufend.
Danzig soll nach dem Plan der Entente eine freie Stadt werden. Bilder
aus aller deutscher Vergangenheit steigen auf, mittelalterliche Städteherrlichkeit,
deutsche Hanse, kraftvolles deutsches Bürgertum. Vielleicht hat die Entente darauf
spekuliert, aber sie hat, ganz abgesehen von der deutschen Gesinnung des Danzigers,
von dessen gesunder Einsicht doch eine allzu geringe Vorstellung gehabt. Das
klarste Bild, welche Stellung Danzig nach dem Willen der Entente künftig haben
soll, ergibt der Wortlaut der Friedensbedingungen, der nachfolgend wieder¬
gegeben wird:
Abschnitt XI.
Freie Stadt Danzig.
Artikel 100.
Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assozierten Hauptmächte
auf alle Rechte und Ansprüche auf das Gebiet, das von den nachstehend an¬
gegebenen Grenzen umschlossen ist:
von der Ostsee in südlicher Richtung bis zu dein Pnnkte, an dem die
Hauptschiffahrtswege der Nogat und der Weichsel zusammentreffen;
die ostpreußische Grenze, wie sie im Artikel 28 des II. Teiles (Grenzen
Deutschlands) des gegenwärtigen Vertrages beschrieben ist;
von dort den Hauptschiffahrtsweg der Weichsel talwärts bis zu einem
Punkt, der ungefähr 6V2 Kilometer nördlich der Dirschaucr Brücke liegt;
von dort in nordwestlicher Richtung bis zur Höhe 6, die IV2 Kilometer
südöstlich der .Kirche vou Guettard liegt:
eine im Gelände festzulegende Linie;
von dort in westlicher Nichiung bis zu dem Vorsprung, der durch die Grenze
des Kreises Berent 8> z Kilometer nordöstlich von Schöneck gebildet wird;
eine im Gelände festzulegende Linie, die zwischen Mühlbanz im Süden
und Nambellsch im Norden verläuft;
von dort in westlicher Richtung die Grenze des Kreises Verent bis zu der
Einbuchtung, die diese 6 Kilometer nordwestlich vou Schöneck bildet;
von dort bis zu einem auf der Mittellinie des Lonkener Sees liegenden
Punkte:
eine im Gelände festzulegende Linie, die nördlich von Neu-Fietz und
Schatarpi und südlich von Barenhütte und Lorken verläuft;
von dort die Mittellinie des Lonkener Sees bis zu seinem Nordende;
von dort bis zum Südende des Pollenziner Sees:
eine im Gelände festzusetzende Linie;
von dort der Mittellinie des Pollenziner Sees bis zu seinem Nordende;
von dort in nordöstlicher Richtung bis zu dem ungefähr 1 Kilometer
südlich der Kirche von Koliebken liegenden Punkt, an dem die Eisenbahn
Danzig—Neustadt einen Back) überschreitet:
eine im Gelände festzulegende Linie, die südöstlich von Kamehlen, Krissau,
Fidlin, Sulmin (Nichthof). Maltern, Schäferei und nordöstlich von Neuendorf,
Marschau, Czapielken, Hoch- und Klein-Kelpin, Pulvermühle, Nenneberg und
den Städten Oliva und Zoppot verläuft;
von dort der Lauf des oben erwähnten Baches bis zur Ostsee.
Die vorstehend beschriebenen Grenzen sind auf einer deutschen Karte im
Maßstab 1 zu 100 000, die dem gegenwärtigen Vertrag als Anlage 4 beigefügt
ist, eingezeichnet.
Artikel 101.
Eine Kommission, bestehend aus drei von den alliierten und assoziierten
Hauptmächten ernannten Mitgliedern, worunter sich ein Oberkommissar als
Präsident befindet, ferner aus einem von Deutschland und einem von Polen
ernannten Mitgliede, tritt binnen 14 Tagen nach Inkrafttreten des gegen¬
wärtigen Vertrages zusammen, um unter möglichster Berücksichtigung der be¬
stehenden Gemeindegrenzen die Grenzlinie für das vorstehend bezeichnete
Gebiet an Ort und Stelle festzulegen.
Artikel 102.
Die Stadt Danzig wird nebst dem im Artikel 100 bezeichneten Gebiet
zur Freien Stadt erklärt und unter den Schutz des Völkerbundes gestellt.
Artikel 103.
Die Verfassung der Freien Stadt Danzig wird im Einvernehmen mit
einem Oberkommissar des Völkerbundes von ordnungsgemäß ernannten Ver¬
tretern der Freien Stadt ausgearbeitet. Sie wird unter die Garantie des
Völkerbundes gestellt.
Dem Oberkommisscir fällt ferner die Ausgabe zu, in erster Instanz über
alle Streitigkeiten zu entscheiden, die sich zwischen Polen und der Freien Stadt
mit Bezug auf den gegenwärtigen Vertrag oder auf ergänzende Vereinbarungen
und Übereinkommen ergeben sollten.
Der Oberkommissar hat seinen Amtssitz in Danzig.
Artikel 104.
Ein Abkommen, dessen Bestimmungen von den alliierten und assoziierten
Hauptmächten festgesetzt werden, soll zwischen der polnischen Regierung und
der Freien Stadt Danzig abgeschlossen werden, um:
1. die Freie Stadt Danzig in das polnische Zollgebiet aufzunehmen und
die Errichtung einer Freizone im Hafen in die Wege zu leiten;
2. Polen die freie Benutzung und den Dienst der Wasserstraßen, Docks,
Binnenhäfen, Kais und sonstigen im Gebiete der Freien Stadt belegener, für
die Ein- und Ausfuhr Polens notwendiger Anlagen ohne irgendwelche Ein¬
schränkung zu gewährleisten;
3. Polen die Konirolle und Verwaltung der Weichsel sowie des gesamten
innerhalb der Grenzen der Freien Stadt befindlichen Eisenbahnnetzes, mit Aus-
nähme der Straßenbahnen und sonstiger hauptsächlich den Bedürfnissen der
Freien Stadt dienenden Eisenbahnen, ferner die Überwachung und Verwaltung
der Post-, Telegraphen- und Tclephonveroindungen zwischen Polen und dem
Hafen von Danzig zu sichern;
4. Polen das Recht zu sichern, die Wasserstraßen, Docks, Binnenhäfen,
Kais, Eisenbahnen und anderen obenerwähnten Anlagen und Verkehrsmittel
auszubauen und zu verbessern, sowie zu angemessenen Bedingungen Gelände
und anderes dafür notwendiges Eigentum zu mieten oder zu kaufen;
5. dafür zu sorgen, daß in der Freien Stadt Danzig keinerlei unter¬
schiedliche Behandlung der Bevölkerung zum Nachteil der polnischen Staats¬
angehörigen und anderer Personen polnischen Ursprungs oder polnischer
Muttersprache stattfindet;
6. der polnischen Regierung die Leitung der auswärtigen Angelegen-
heiten der Freien Stadt Danzig sowie den Schutz der Danziger Bürger im
Auslande zu übertragen.
Artikel 105.
Mit dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages werden die im Ge¬
biete der Freien Stadt Danzig wohnhaften deutschen Reichsangehörigen ohne
weiteres deren Bürger und verlieren die deutsche Reichsangehörigkeit.
' Artikel 106.
Während zweier Jahre nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages
haben die in dem A'eitel 100 bezeichneten Gebiete wohnhaften, über 18 Jahre
alten deutschen Reichsangehörigen die Befugnis, für die deutsche Reichsange¬
hörigkeit zu optieren.
Die Option des Ehemannes erstreckt sich auf die Ehefrau, die Option
der Eltern auf ihre unter 18 Jahre alten Kinder.
Die Personen, die das hier vorgesehene Optionsrecht ausgeübt haben,
müssen innerhalb der darauffolgenden zwölf Monate ihren Wohnsitz nach
Deutschland verlegen.
Sie dürfen das unbewegliche Vermögen, das sie im Gebiete der Freien
Stadt Danzig besitzen, behalten. Ihr bewegliches Vermögen jeglicher Art
können sie mitnehmen. Aus diesem Anlaß dürfen sie mit keinerlei Abgaben,
weder für die Ausfuhr noch für die Einfuhr, belastet werden.
Artikel 107.
Jeglicher Besitz des Deutschen Reiches oder eines deutschen Emzelstaatcs
im Gebiete der Freien Stadt Danzig wird den alliierten und assoziierten
Hauptmäch-en übertragen und von diesen, je nachdem sie es für recht und
billig halten, an die Freie Stadt oder den polnischen Staat weiter zediert.
Artikel 108.
In welchem Umfang und in welcher Art die Freie Stadt an den
finanziellen Lasten Deutschlands und Preußens teilzunehmen hat, wird nach
Maßgabe des Artikel 254 des Teiles IX (finanzielle Bestimmungen) des gegen¬
wärtigen Vertrages entschieden.
Alle anderen Fragen, die sich aus der im Artikel 100 vorgesehenen Gebiets¬
abtretung etwa ergeben, werden durch weitere Vereinbarungen geregelt werden.
Zu den vorstehenden Bedingungen nur einige Bemerkungen Die Verfassung
der „Freien Stadt Danzig" wird im Einvernehmen mit dem Oberkommissar des
Völkerbundes von ordnungsgemäß ernannten Vertretern der „Freien Stadt" aus¬
gearbeitet. Im „Einvernehmen", d. h. natürlich nach dem maßgeblichen Willen
des Obcrkommissars. , Ordnungsgemäß ernannte Vertreter", d. h. nach der
Ordnung, die von der Entente festgelegt wird. Die erste Voraussetzung einer
wahren Selbständigkeit ist damit ausgeschlossen. Die Bevölkerung der „Freien
Stadt Danzig" wird nicht in der Lage sein, sich nach eigenem Willen ihre Ver¬
fassung zu zimmern. Artikel 104 spricht von einem Abkommen, das zwischen der
polnischen Negierung und der „Freien Stadt Danzig" nach Festsetzung der Entente
abgeschlossen werden soll. Zum Wesen völkerrechtlicher Selbständigkeit gehört die
Vertragsfreiheit. Hier wird der Vertrag diktiert von der Entente; in welchem
Sinne er diktiert werden wird, kann nach den: Geist des ganzen Friedens¬
vorschlages keinem Zweifel unterliegen. Was soll nun in diesem Vertrag mit
Polen enthalten sein? Danzig gehört in das polnische Zollgebiet. Den Polen
steht die freie Benutzung sänulicher Verkehrsanlagen, die Kontrolle und Verwaltung
dieser Verkehrsanlagen, sowie der Weichsel zu. Sie können die erwähnten Verkehrs¬
anlagen ausbauen, Gelände kaufen, und schließlich steht der polnischen Regierung
die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten und der Schutz der Danziger Bürger
im Auslande zu. Man fragt sich vergeblich, wo bleibt die „Freie Stadt"? Danzig
hat als preußische Stadt eine umfangreichere Selbständigkeit in der Verwaltung
seiner Angelegenheiten als sie es als „Freie Stadt" haben soll. Auf alles, was
Danziger Fleiß und Danziger Selbständigkeit für die wirtschaftliche Entwicklung
der Stadt getan haben, sind die Polen in der Lage die Hand zu legen. Sie sind
in der Lage, Grundbesitz zu enteignen, und die Bestimmungen über Kontrolle und
Verwaltung, unter anderem auch der Post-, Telegraphen- und Telephonverbindnngen,
geben ihnen ein Druckmittel der Stadtverwaltung gegenüber in die Hand, gegen
das ein Widerstand nicht möglich sein wird. Aber nicht einmal auf kulturellen
Gebiete ist die Selbständigkeit hinreichend gewährleistet. Die Bestimmungen, die
dafür sorgen sollen, daß keine unterschiedliche Behandlung der Bevölkerung zum
Nachteil der polnischen Staatsangehörigen und aller Personen polnischer Mutter¬
sprache stattfinden, bieten die Möglichkeit zu einer Polonisierungspolitik, der gegen¬
über die „Freie Stadt" wehrlos sein muß. Durch die Uebertragung deS Schutzes
der Danziger im Ausland werden die Abhängigkeiten von Polen noch wesentlich
verstärkt.
Eine völlig nichtssagende Bestimmung ist auch die Erlaubnis für die
Danziger, die für Deutschland optieren, ihr unbewegliches Vermögen zu behalten;
denn es fehlen alle Bestimmungen über Freizügigkeit und über den Rechtsschutz
von Ausländern in der Stadt Danzig. Danziger Bürger, die also für Deutschland
optieren, aber glauben, ihr unbewegliches Vermögen weiter verwerten zu können,
haben nicht die geringste Sicherheit davor, in jeder Weise schikaniert und an der
Ausnutzung ihres Vermögens völlig verhindert zu werden.
So sieht die „Freie Stadt Danzig" aus. Es gehört etwas viel Naivität
dazu, anzunehmen, daß die Danziger Bevölkerung sich von diesem Trugbild locken
lassen wird. Die „Freie Stadt Danzig" ist ein Vasallenstaat Polens ohne jeden
Rechtsschutz. In der Bevölkerung Danzigs lebt noch der stolze deutsche Geist, dem
Danzig seine Blüte verdankt. An diesem deutschen Geist werden die wahnsinnigen
Absichten der Entente und der Polen scheitern.
Die unerhörten Friedensüedingungen von
Versailles ziehen im Westen der Provinz
Posen eine Grenze, die fast genau der ur¬
sprünglich geforderten falschen Demarkations¬
linie entspricht, die später ostwärts richtig
gestellt werden müszte. Ausschlaggebend sind
dabei offenbar überwiegend militärisch-strate¬
gische Gesichtspunkte gewesen, obgleich solche
Rücksichten bei Verwirklichung des Völker¬
bundes überflüssig wären.
Diese Festlegung der Gebietsgrenzen
steht mit den Grundsätzen des Wilsonschen
Programms in krassesten Widerspruch.
Für unsere Gegner ist bet der Grenz¬
forderung augenscheinlich nur das von den
Polen beigebrachte Material bestimmend
gewesen, das seinerzeit schon zu der falschen
Festsetzung der Demarkationslinie führte.
Dagegen ist unser gewissenhaft zusammen¬
gestelltes Material über die nationalen Ver¬
hältnisse unserer Gegend, wie wir es in
einzelnen Denkschriften der Städte Birnbaum,
Berthchen undTirschtiegel veröffentlicht haben,
nicht beachtet worden.
Deshalb ist es notwendig, auf dieses
Material im folgenden kurz noch einmal
hinzuweisen.
Wenn diese Zusammenstellung nur auf
Westposen^ d. h. auf die Kreise Meseritz,
Schwerin, Birnbaum, Bomstund Neutomischel,
eingeht, so bedeutet das nicht eine Änderung
des prinzipiellen Standpunktes, daß nach
den Wilsonschen Grundsätzen die ganze
Provinz Posen — vielleicht mit Ausnahme
einiger östlicher Grenzbezirke — deutsch
bleiben müßte. In unseren Ausführungen
beschränken wir uns nur deshalb, um den
besonders auffälligen Widerspruch der Ver-
sailler Forderungen mit Wilsons Programm
an den Verhältnissen unserer engeren Heimat
nachzuweisen.
In den Erläuterungen seines Friedens¬
programms vom 12. Februar 1918 sagt
Wilson, daß alle klar umschriebenen natio¬
nalen Ansprüche die weitestgehende Berück¬
sichtigung finden sollen.
Nationale Ansprüche lassen sich nur durch
Bevölkerungsziffern, im Besitzstand und in
dem Grade der Kultur begründen.
Bei Beachtung dieser fundamentalen
Grundlagen kann über den deutschen Charakter
der in geschlossenen! Zusammenhange liegen¬
den deutschen Gebiete obiger Kreise und ihr un¬
bedingtes Zugehörigkeitsrecht zum Deutschen
Reich auch nicht der mindeste Zweifel bestehen.
I. Wir sind unzweifelhaft deutsch, das zeigen
die Bevölkerungsziffern.
Im Jahre 1910 hatten die Kreise an
Bewohnern:
das sind deutsch: 67,63 Prozent; polnisch:
«2,37 Prozent.
Für die richtige Würdigung dieser Zahlen¬
verhältnisse sind folgende Tatsachen von
Wichtigkeit:
1. Der größte Teil der deutschen Bevölke¬
rung unserer Kreise bildet eine geschlossene
rein-deutsche Masse, in breitem festen Zu¬
sammenhang mit der deutschen gesamten Be¬
völkerung des Reiches überhaupt. Die Ost¬
grenze dieses geschlossenen deutschen Blocks
zieht sich im östlichen Teile des Kreises Birn¬
baum westlich Pinne über Neustadt b. P.
längs der Kleinbahn Neustadt b. P., Opale-
nitza bis an die Tore von Grätz, von dort
aus südlich bis an den Schnittpunkt der
Grenzen der Kreise Fraustadt und schmiege!.
Die in diesem Gebiet liegenden polnischen
Enklaven ändern an dem deutschen Charakter
unserer Kreise nichts. Hat doch sogar der
radikal polnische ..Kuryer Poznanski" Ende
Oktober 1918 diese Linie als die westliche
Grenze der polnischen Ansprüche bezeichnet.
2. Die Deutschen unserer Kreise sind über¬
wiegend Bauern, d. h. bodenständig, die
Polen zumeist Gutsarbeiter, d. h. meist
fluktuierend.
Im weitesten östlich liegenden Kreise Neu¬
tomischel sind z. B. im Polizeidistrikt Neu¬
tomischel vom bäuerlichen Besitz 9316 Hektar
Bauernland in deutscher Hand, dagegen nur
763 Hektar polnisch, also 92,6 Prozent deutsch.
Im ganzen Kreise des Distriktes Neustadt,
den wir jenseits der Linie gelassen haben,
welche das geschlossene deutsche Gebiet be¬
grenzt, sind 76,6 Prozent des Kleingrund¬
besitzes und 100 Prozent des Großgrund¬
besitzes in deutscher Hand. Daraus ergibt
sich, daß die polnische Landbevölkerung, die
hier etwa 30 Prozent beträgt, zum weitaus
überwiegenden Teile aus Gntsarbeitern be¬
steht. Daß die polnische Bevölkerung in den
Städten aber überhaupt keine Rolle spielt,
wird zum Beispiel bewiesen durch die Tat¬
sache, daß die neuen Stadtverordnetenwahlen
in dem von Polen besetzten Neutomischel
unter dem jetzigen Wahlrecht acht deutsche
und nur einen Polnischen Stadtverordneten
gebracht haben.
II. Wir sind unzweifelhaft deutsch, daS
beweisen die Besitzverhältnisse.
Der Grundbesitz der Kreise verteilt sich
wie folgt:
Für den Kreis Bomst, in dem die Ver¬
hältnisse ähnlich wie in Neutomischel liegen,
kann kein Material beigebracht werden, weil
die Kreisstadt von den Polen besetzt ist.
Besonders bemerkenswert ist, daß auch in
den umstrittenen Siädten Birnbaum, Bert-
hchen, Neutomischel und Tirschtiegel der Grund¬
besitz fast ganz deutsch ist. Der deutsche An¬
teil beträgt in Tirschtiegel und Neutomischel
etwa 99 Prozent, in Berthchen 82 Prozent,
in Birnbaum 99,08 Prozent.
Der geringe Polnische Besitz ist erst in den
letzten 20 Jahren entstanden, und zwar im
wesentlichen durch die polnischen Volksbanken
und die finanziellen Unterstützungen anderer
Institute, z. B. des Marcinkowski-Vereins.
Noch erheblich größer als der Anteil am
Grundbesitz sind hier die von den Deutschen
aufgebrachten Staats- und Kommunalsteuern.
«Näheres siehe die ausführlichen Denk¬
schriften von Birnbaum, Berthchen und
Meseritz.)
III. Wir sind unzweifelhaft deutsch,
das beweisen die kulturellen Verhältnisse.
Die Vertreter der freien Berufe der In¬
telligenz sind in unseren fünf Kreisen fast
ausschließlich deutsch. In Birnbaum z. B.
sind von vier Ärzten drei deutsch, die beiden
Rechtsanwälte, die beiden Thierärzte sind
deutsch; in Berthchen sind die Verhältnisse
genau ebenso.
Die höheren Schulen werden fast nur
von deutschen Schülern besucht; Polnische
Schulkinder sind eine seltene Ausnahme.
(1918 in Birnbaum z. B. 3 Prozent, in
Berthchen 5 Prozent.) Auch für den Volks¬
schulunterricht ist so gut gesorgt, daß z. B.
nur der Bruchteil eines Prozents Analpha¬
beten gezählt worden ist.
Fast sämtliche Wohlfahrtseinrichtungen
(Krankenhäuser, Siechenanstalten, Kinder¬
krippen, Spielschulen) sind Gründungen der
Deutschen und werden von deutschem Gelde
unterhalten. Ihre Segnungen kommen den
Angehörigen beider Nationalitäten in gleicher
Weise zugute.
Die ganze deutsche Bevölkerung der fünf
Kreise erklärt einmütig und mit unbeugsamer
Entschlossenheit:
Das Land, das unsere Väter besiedelt
haben, wird deutsch bleiben in seinem Volks-
tum, in seiner Kulturl Und an dieser un¬
bestreitbaren Tatsache kann und wird auch
keine diktierte Abtrennung und kein Papier
etwas ändern, selbst wenn es aus Versailles
kommt!
Aber wir wehren uns mit Verzweiflung
und Entschiedenheit dagegen „Auslands¬
deutsche" zu werden — wir wollen nicht von
unserem deutschen Vaterlande, als dessen
lebensnotwendiges Glied wir uns fühlen,
abgetrennt und einem uns wesensfremden
Staats- und Volkstum unterstellt werden.
Wir wollen auch weiterhin nicht bloß
zum deutschen Volk, sondern auch zum Deut¬
schen Reich gehören I An diesem Entschluß
werden wir festhalten, auch wenn wir die
größten Opfer bringen und zur Selbsthilfe
greifen müßten!
Die vereinigten deutschen Volksräte
der Kreise BiruSanm, Bomst, Meseritz,
Neutomischel und Schwerin.
Wir berichteten kürzlich über die Ent¬
sendung einer kassubisch-polnischen Abordnung
nach Paris. Wie diese veranlaßt worden ist,
geht aus der folgenden Abschrift eines Briefes
des polnischen Volksrats in Kulm hervor:
Ich erlaube mir zu meinen Ausführungen
auf der Konferenz im Kommissariat am
1V. d, Mes. betreffend Entsendung eines oder
mehrerer Informatoren nach Paris speziell
für Westpreußen und Danzig zurückzukommen.
Die Auslandsnachrichten der letzten Stunden
bestärken mich in meinen auf der Konferenz
geäußerten Ansichten.
Wenn die letzten Kundgebungen, die die
Presse Lloyd George zuschreibt, der Wahrheit
entsprechen, so erhellt daraus mehr als genug,
daß Lloyd George und seine Umgebung voll¬
ständig unzulänglich informiert ist über die
Verhältnisse in Westpreußen, oder die War¬
schauer und Posener haben in der West-
Preußischen Angelegenheit versagt.
Hat der sehr geehrte Herr Kommissar die
Sicherheit, daß die augenblicklichen Informa¬
toren auch die örtliche Verteilung der Polnischen
Bevölkerung genau kennen und daß sie ein
entsprechendes Material in der Hand haben?
Was für uns eine elementare Kenntnis ist —
wie z, B, daß die deutsche Mehrheit von un¬
gefähr 300 000 in Westpreußen, abgesehen
davon, daß sie zum großen Teil künstlich ge¬
schaffen ist, territorial so verteilt ist, daß nach
Abtrennung der Gegend von Elbing, Rosen¬
berg das Bevölkerungsresultat für beide
Nationalitäten gleichmäßig ausfällt, das eben
kann möglicherweise den jetzigen Informatoren
eine l'erre inLoZnita sein.
Danzig wiederum als eine Stadt, die
auf einem verhältnismäßig kleinen Gebiet
200 000 deutsche Einwohner vereinigt, kann
nicht als ein maßgebender Faktor gelten
für eine Sonderbehandlung innerhalb West¬
preußens; ebenso wie Konstantinopel nicht
Griechenland zufällt, obwohl dort 400 000
Griechen wohnen, sondern politisch dem
Territorium zufällt, auf dem es steht.
Wenn man die genannten Kreise und
Danzig abstreicht, dann haben wir in West-
Preußen sogar eine erhebliche Polnische Mehr¬
heit. Die deutsche Bevölkerung ist also auf
einige Punkte Westpreußens und auf Danzig
beschränkt.
Zuzugeben, daß in Westpreußen eine Pol¬
nische Minderheit besteht, ist also falsch, ge¬
radezu geeignet, die Koalition in eine irrige
Auffassung zu bringen. Die deutsche Mehr¬
heit kommt eben nur durch .die genannten
einzelnen Punkte zustande, die fast rein
deutsch sind.
Wenn die Kundgebung Lloyd Georges
auf Wahrheit beruht, dann wäre diese An¬
schauung offenbar irrig. Wäre es in Anbe-
betracht solcher Vorfälle nicht angebracht, eher
zu viel als zu wenig zu tun?
Es ist gleichgültig, wer und wieviel
Personen hinfahren — wenn nur alles getan
wird, was in unserer Möglichkeit steht.
Heute gerade lese ich in der „Gazette de
Lausanne" vom 21. März: „Heute ist eine
schlesische Deputation in Paris eingetroffen,
um der Konferenz die Aspirationen des
schlesischen Teils vorzutragen, der mit Polen
wieder vereinigt zu werden wünscht".
Sollte Westpreußen nicht das gleiche Recht
haben, ebenso vorzugehen wie Oberschlesien?
Victeant oonsules!
Vielleicht wird es heute noch nicht zu spät
sein, am 10. März war schon die höchste Zeit.
(Auch nach Abtrennung der Kreise Rosen¬
berg und Elbing. die rund 147 000 deutsche
Einwohner haben, ist die Mehrheit der Ein¬
wohner Westpreuß-us, entgegen den Behaup¬
tungen des Dr. Ossowski, unzweifelhaft deuisch.
Die Behauptung, daß die deutsche Mehrheit
künstlich geschaffen sei, ist an dieser Stelle
schon zu oft als falsch erwiesen, als daß sich
ein Eingehen darauf lohnte. Im übrigen ist
die Methode einmal wieder echt. Um einen
kümmerlichen Beweis für den angeblich Pol¬
nischen Charakter Wsstpreußens zu führen,
wird Danzig aus der Berechnung ausge¬
schaltet, was aber natürlich nicht hindert,
dieses selbe Danzig unter anderm Vormcmd
für Polen »u beanspruchen.)
Der Entschluß der Deutschen Bolksriite.
Bromberg, 16. Mai. Auf Einladung
der Deutschen Vereinigung hatten sich gestern
in Bromberg 300 Vertreter der Deutschen
Volksräte, die nach Ausweis ihrer Vollmachten
mehr als 600 Ortschaften der Provinzen
Posen und Westpreußen vertraten, versammelt,
um über das schwere Geschick zu beraten,
das der Versailler Gewaltfrieden den beiden
Provinzen bereiten will.
Geheimrat Cleinow legte in längerer,
von stürmischen Beifallskundgebungen unter¬
brochener Ansprache die Ziele der Volksrats¬
bewegung und die Auswirkungen der augen¬
blicklichen Politischen Lage auf die Ostmark
dar' Er führte unter anderem aus:
Die Volksratsbewegung erstrebe die
Zusammenfassung aller Deutschen der be¬
drohten Ostmark auf breiter demokratischer
Grundlage unter Ausschluß jeder Partei-
Politik und Parteiinteressen zur Sicherung
der Kulturgüter und der wirtschaftlichen
Interessen des deutschen Volkstums. Die
jetzige Stunde erfordere mehr denn je die
Einigkeit und Einheit des vom Polnischen
Vernichtungswillen bedrohten Deutschtums.
Der Versailler Gewaltfriede bedeutet das
langsame Hinsiechen des deutschen Volkes
und das Todesurteil für die deutsche Ost¬
mark. AlleKräfte müßten angespannt werden,
um die Widerstandskraft des Volkes gegen
die drohende Schmach nicht erlahmen zu
lassen. Nur wenn das deutsche Volk sich
auch in dieser gefährlichsten Stunde als
stark erweise, könnte es sich Freunde erwerben,
die ihm bei der Wiederaufrichtung behilflich
wären. Einem Leichnam aber — und der
Gewaltfriede bedeute für das deutsche Volk
den Tod — könnte niemand mehr helfen,
aber sehr wohl einem Schwerkranken, der
das Gift verschmäht und mit aller Willens¬
kraft nach einem Heilmittel langt. Dieses
Heilmittel sei der Widerstand gegen jeden
Frieden, der das deutsche Volk für immer
entkräften wolle.
Cleinow rechnete scharf mit dem hiesigen
angeblich mehrheitssozialdemokratischenFührer
Stoeßel ab, der sich durch sein schwankendes
und unaufrichtiges Verhalten nicht als
Wahrer Führer deS Volkes erweise. Hinter
seiner Politik stände auch nur ein kleiner
Bruchteil der Arbeiterschaft; ihre über¬
wiegende Mehrheit sei jedoch deutsch gesinnt
und wisse Wohl, daß sie nichts von dem
internationalen Proletariat, nichts von Pol¬
nischer Brüderlichkeit sondern alles von einem
starken sozialistischen Deutschland zu erwarten
habe. Es wäre Zeit, daß sich auch die
Bürgerschaft von dem Banne dieses Mannes
befreie, dem nur ihre Furcht zu seiner jetzigen
Stelle verholfen habe. Furcht habe große
Augen und mache aus kleinen Geistern große
Helden. Die Worte, die Stoeßel am
13. Mai im Vollzugsausschuß des A.« und
S.-Rates gesprochen habe, seien geeignet,
die Widerstandskraft der deutschen Be¬
völkerung Brombergs zu lähmen. Stoeßel
habe im eigenen Interesse gesprochen, nicht
zum Vorteil der großen deutschen Sache.
Cleinow forderte die Anwesenden auf, nicht
die kleinlichen materiellen Interessen im
Auge zu haben, sondern das große Ganze.
Komme die Stunde, wo die Regierung die
Verhandlungen abbrechen müsse, dann habe
jeder sich hinter die Regierung zu stellen,
seine Pflicht zu tun, und, wenn nötig, mit
der Waffe in der Hand. Cleinow warnte
dabei ausdrücklich, Provokationen zu begehen
oder feindliche Handlungen gegen polnische
Mitbürger zu unternehmen.
Im zweiten Teil der Tagung wurden
Organisationsfragen der Volksräte behandelt,
zum Friedensschluß und zu den sich aus
ihm ergebenden Möglichkeiten Stellung ge¬
nommen und wichtige Beschlüsse gefaßt. Die
Aussprache währte bis in die späten Abend¬
stunden. In der Auffassung über die Lage
und über die Abwendung aller Gefahren
bekundeten die Vertreter von Stadt und
Land Einmütigkeit und unbeugsame Ent¬
schlossenheit. In von hohem Ernst getragenen
Ausführungen bekannten sich die sozial¬
demokratischen Redner zu dem Standpunkt
des Referenten und forderten leidenschaftlich
das Zusammenstehen des ganzen Volkes
und die Unterstützung der Regierung.
Vom Ernst der Stunde wurden alle
Teilnehmer erfaßt, als Geheimrat Cleinow
vor der Abstimmung über die vorliegende
Entschließung feierlich jeden ermahnte, sich
nicht von der Stimmung im Saale, sondern
nur von der Verantwortung für das eigene
Schicksal und die Zukunft seiner Kinder
leiten zu lassen. Darauf wurde in geheimer
Abstimmung nachstehende Entschließung ein¬
stimmig angenommen:
„Wir dreihundert Vertreter der Ver¬
einigten Deutschen Volksräte aus mehr als
600 Ortschaften der Provinzen Posen und
Westpreußen sind heute in Bromberg zu¬
sammengetreten, um über das schwere
Schicksal zu beraten, das der Versailler Ge-
waltfriedcn den beiden deutschen Provinzen
bereiten will.
Im Namen von über zwei Millionen
Demschen erheben wir vor aller Welt feier¬
lichen Einspruch gegen die geplante Ver¬
gewaltigung des SelbstbcstimmungSrechts,
gegen die Absicht, zwei Millionen Angehörige
des deutschen Kulturvolkes der Rache und
dem Haß der fanatischen polnischen Nation
zu überlassen. Das deutsche Volk nutz im
Friedensverträge allen anderen Nationen
gleichgestellt sein. Wir erwarten und ver¬
langen daher, daß die Regierung einen
Frieden ablehnt, der ein Verbrechen an der
Zukunft des deutschen Volkes, an dem Volks-
tum der deutschen Ostmark ist. Die deutsche
Ostmark vertraut dem deutschen Volke, daß
es sie in dieser schweren Stunde nicht ver¬
lassen, nicht verraten wird. Wir sind ent¬
schlossen, unser Selvstbestimmungsrecht, um
das Wilson uns betrügen will, Praktisch mit
der Waffe in der Hand auszuüben und uns
gegen polnische Vergewaltigung unserer Ost¬
mark zu wehren. Wir erwarten, daß die
Regierung an der Reichsgewalt in der Ost¬
mark nicht rütteln lassen, sie aufrechterhalten
und dort wiederherstellen wird wo sie er¬
Deutsche Volksräte.
Unter demThema: Vernichtungsfriede, der
Friede und wir, hatte die Deutsche Vereini¬
gung Kreuz und Umgegend für Sonntag,
den 11. Mai, die Bewohner von Kreuz und
Umgegend zusammengerufen. Der gewählte
Saal erwies sich gar bald als viel zu klein.
So zog die Versammlung zu dem nahen
Mühlplan, um im Freien ihren Einspruch
gegen die Friedensbedingungen und ihrer
Treue zu Deutschland Ausdruck zu geben
und sich zu stärken für die kommenden
Kämpfe. Der Redner, Pastor Schulz-Kreuz,
führte zunächst aus, wie wir die Vorlagen
eines Friedens verlangen könnten auf Grund
der 14 Wilsonpunkte, die sich auf die Grund¬
sätze des Selvstbestimmungsrechts der Völker
und der Politischen und wirtschaftlichen Un¬
abhängigkeit aufbauten. Der vorgelegte
Friedensvertrag aber sei ein nacktester Ver-
nichtungtzfrieden ohne jede Spur von Recht
und Gerechtigkeit, diktiert von französischer
Rachsucht, englischem kalt berechnenden
Krämergeist und von Furcht vor dem deut¬
schen Geist. An den territorialen, politischen
und wirtschaftlichen Bedingungen, wurde
dann gezeigt, wie sie für uns die Ver¬
nichtung bedeuten. Was aber, so ist das
die Frage, sollen wir tun? Annehmbar
sind die Friedensbedingungen nicht, denn
sie sind unerträglich und unerfüllbar. So
können wir nicht unterschreiben. Aber einig
sein müssen wir, und völlig uns als Deutsche
fühlen. Geschlossen müssen wir hinter der
Regierung stehen in ihrem Streben, einen
Rechtsfrieden zu erreichen. Treu auch
müssen wir zu unsern deutschen Brüdern
stehen, die gewaltsam von uns getrennt
werden sollen. Und glauben müssen wir
an den schließlichen Sieg des Rechts und
an Deutschlands Zukunft. DaS ist das
einzige, was wir der Siegersaust der Feinde
entgegenstellen können. Das ist aber auch
ein Mittel von unendlicher Kraft. Mit
unserm Glauben aber müssen wir an die
Arbeit gehen statt dumpf zu verzweifeln,
aber stumpf uns zu ergeben, statt zu klagen
oder anzuklagen, damit durch zähe Geduld,
deutsche Treue und deutschen Fleiß Deutsch¬
land sittlich, wirtschaftlich und staatlich wieder
neu ersteht.
volle Versammlung ihren Abschluß.
An die Reichsregierung wurde folgende
Entschließung gesandt: „Tausende Bürger
von Kreuz und Umgegend haben heute sich
versammelt, flammenden Einspruch zu er¬
heben gegen die Friedensbedingungen unserer
Feinde, aus denen nichts als nacktester Ver¬
nichtungswille spricht. Einmütig stellen wir
uns hinter der Regierung bei ihrem Streben
durch Verhandlungen Bedingungen zu er¬
reichen, die einen Frieden des Rechts bringen.
Die jetzigen Bedingungen sind unannehmbar.
Sie bedeuten unsern Tod. Darum hoffen
und erwarten wir, daß die Negierung sie
nicht unterschreibt.
Uns Ostmärker drückt besondere Not.
Wir müssen Polnische Gewalttätigkeiten
fürchten. Wir brauchen sie nicht zu fürchten,
wenn der Armee Haller jeder weitere Durch¬
marsch verwehrt wird. Dazu fordern wir
die Regierung auf, sonst drohen ernsteste
Verwicklungen. Wir sind entschlossen, unsere
Heimat nimmermehr aufzugeben, unser
Volkstum uns nicht nehmen zu lassen.
Deutsch wollen wir bleiben, und wir glauben
an Deutschlands Zukunft.
Deutsch« Vereinigung Kreuz und Umgehend.
Mit dem Gesang des Liedes „Ich hab
mich ergeben" schloß die erhebende Feier.
Bromberg, 17. Mai. Die Deutsch- Ber¬
einigung erhielt aus Berlin nachstehendes
Telegramm:
Wie aus anderen bedrohten Städten
kommen auch aus Broniberg Nachrichten
über die niederdrückende Wirkung der feind¬
lichen Fciedensbedingungen. Aber wir haben
keine Zeit, den Mut sinken zu lassen, sondern
wir müssen mit aller Kraft einig dahin
wirken, daß die im schroffsten Gegensatz zu
den 14 Punkten des Präsidenten Wilson
stehenden Bedingungen geändert werden.
Im Namen der Regierung sende ich der
treuen deutschen Bevölkerung Brombergs und
des ganzen Netzedistrilts Grüße und das
Gelöbnis, das wir sest für die unveräußer¬
lichen Rechte aus den Wilsonschen Grund¬
sätzen eintreten werden.
Nicht eine Spur von dem neuen Geist,
von dem in den Kundgebungen Wilsons so
viel die Rede war, findet sich in diesen
Bedingungen. Sie sind rein machtpolitisch-
imperialistisch bestimmt: mehr Raum, nichr
Menschen, mehr Naturschätze, mehr Geld
wollen die anderen, die Gegner, als Sieges¬
beute davontragen. In den Grenzbestim¬
mungen waltet ausschließlich der Gesichts¬
punkt strategischer Sicherung, der Gegner
wird aller Abwehrmittel beraubt, und ihm
wird eine Kriegsentschädigung auferlegt in
einer Ausdehnung dieses Begriffs, wie sie
die Geschichte der Kriegskontributionen noch
nicht gesehen hat. Im Osten aber Polen I
Soweit die Grenzziehung, die da vorge¬
schrieben wird, überhaupt einen Sinn er¬
kennen läßt, ist sie nach rein strategischen
Gesichtspunkten geschehen. Sie schneidet rück¬
sichtslos deutsches Gebiet, manchmal direkt
deutschen Besitz, mitten durch — was sagte
Wilson: es dürften hier nicht Verhältnisse
geschaffen werden, die von vornherein natio¬
nale Reibungen mit sich brächtenI Längs
der Bartsch durch den Obrabruch und längs
der Tirschtiegler Seeulinie ist die Grenze
nur unter dem Gesichtspunkte strategischer
Sicherung gezogen, auch die Eisenbahn¬
knotenpunkte von Berthchen und Schneide-
mühl werden Polen zugewiesen. Deutschland
soll im Osten im ganzen 60 000 Quadrat¬
kilonieter und 6 V2 Millionen Menschen direkt
abtreten, davon 2Vz Millionen Deutsche,
3 Millionen Polen. Wir rechnen dabei
Danzig, das Freistaat sein soll, mit 300000
Deutschen und 22 000 Polen ein. Denn es
genügt, Artikel 104, Absatz 6 zu lesen:
Sicherung der Führung der auswärtigen
Geschäfte der Freistadt Danzig durch die
Polnische Negierung, um zu sehen, daß
Danzig nur der Form nach Freistadt, tat¬
sächlich eine von der Polnischen Politik und
Wirtschaft abhängige Stadt sein soll, deren
Gebiet zudem, wie die durch die Kreise
Bülow und Lauenburg gezogene Grenze
beweist, vom polnischen Staat selbst ganz
fest militärisch und strategisch umklammert
werde» soll. Aber auch hier ist die Möglich¬
keit geschaffen, durch eine Volksabstimmung
verhüllt noch mehr Gebiet zu annektieren:
den Nest der Kreise Stuhm, Rosenberg,
Marienburg, Marienwerder und den Regie¬
rungsbezirk Altenstein. Auch hier sind die
Formen der Volksabstimmung — Zurück¬
ziehung der deutschen Truppen und Behörden
usw. — so, das; die Entscheidung von vorn¬
herein feststehen muh. Gewiß, die Deutschen
sollen in ihren nationalen Rechten geschützt
werden, aber die Art, wie das geschieht,
bestimmen unsere Gegner in einem Vertrag
mit Polen, Deutschland hat dabei weder
etwas zu wünschen noch zu sagen, noch zu
kontrollieren; von einer Kontrolle des Schutzes
der Minderheiten ist überhaupt nirgends die
Rede. Rechnen wir diese Abstimmungs¬
gebiete noch hinzu, so soll Deutschland im
Osten verlieren 75 000 Quadratkilometer,
t>V« Millionen Menschen. Ein Viertel unserer
Kohlenproduktion verlören wir mit Ober--
Schlesien und in Posen und Westpreußen
Kornkammern, die mit ihrem Überschuß an
Lebensmitteln, hauptsächlich Getreide, Kar¬
toffeln und Zucker außer der eigenen Be¬
völkerung nach dem Friedensverbrauch 6 Mil¬
lionen, im Kriege 7 bis 8 Millionen Menschen
ernährten. Und die Weichsel samt ihrer
Mündung wäre vollständig dem Herrschafts¬
bereich Deutschlands entzogen.
Unsere Einkreisung im Osten. Wenn
die Friedensbedingungen, die uns die Entente
und ihre Verbündeten auferlegen wollen, im
Westen den Zweck haben, Deutschland so
zurückzudrängen und von wichtigen Nvhstofs-
gebieten abzuschließen, daß Frankreich glauben
kann, sein Uebergewicht auf eine ferne Zu¬
kunft gesichert zu haben und sich vor einer
wieder anwachsenden Zahl des deutschen
Volkes nicht mehr fürchten zu müssen, so
bilden die Bestimmungen, die wir sür den
Osten annehmen sollen, und die auf eine
völlige Einkreisung und Verstümmelung ab¬
zielen, die sinngemäße Vervollständigung.
Vor dem Kriege war das zarische Rußland
an unserer Ostgrenze die furchtbare Gefahr,
die beständig über uns hereinzubrechen drohte.
Durch den Verlauf des Krieges und die
unter seiner Wirkung entstandene russische
Revolution ist diese Gefahr beseitigt. Deutsche
Waffen haben das vom Zarismus nieder¬
gedrückte Polen befreit und einen polnischen
Staat aufgerichtet. Jetzt hat sich dieser neue
Staat gegen uns gewandt und Frankreich
und seinen Alliierten ist es gelungen, ihn,
dessen Gedeihen nur durch ein gutes Ein¬
vernehmen mit seinen Nachbarn verbürgt
werden kann, zu unserem grimmigen und
von wilder Machtgier verblendeten Feinde
zu machen. Wie ein Keil wird sich das neue
Polen zwischen deutsches Land hindurch bis
zur Ostsee vorschieben. Da der sogenannte
Freistaat Danzig, der unter der Bürgschaft
des Völkerbundes stehen wird, doch nur ein
Anhängsel Polens sein soll — seine Be¬
ziehungen zum Auslande und die Vortretung
seiner Bürger sollen von der Warschauer Ne¬
gierung mit besorgt werden — und Polen
in Danzig überhaupt viel freier und weniger
behindert wird schalten können, als in den
dreihundert Jahren der früheren Zugehörigkeit
Dcmzigs zu Polen die alte Polnische Republik
es durfte, so wird Polen über eine Küsten¬
strecke von rund 150 Kilometern verfügen.
Das ist sür einen freien Ausgang seines
Handels zum Meere genug, aber für einen
solchen brauchte Polen nicht den Besitz einer
ganz deutscheu Stadt mit deutscher Vergangen¬
heit. Ein verbürgter Weg auf der Weichsel,
dem auch eine freie und gesicherte Eisenbahn¬
verbindung zur Seite stehen könnte, würde
diesem Zweck vollkommen genügen. Aber
Polens Ehrgeiz wird, das ist bestimmt zu
vermuten, weitergehen. Es wird unter der
Gönnerschaft und mit Hilfe der Entente sich
eine wenn auch zunächst kleine Flotte zu
schaffen suchen, welche die Flagge mit dem
Weißen Adler fernen Küsten wird zeigen
sollen und deren Bestimmung es sein wird,
in der Ostsee ebenso sich in Deutschlands
Weichen zu setzen, wie es das auf einer
tausend oder mehr Kilometer langen Land¬
grenze tun wird. Für diesen Zweck aber
wird das Stück Danziger Bucht, das dem
neuen Polen als Geburtstagsgeschenk über¬
reicht wird, nicht genügen. Der polnische
Ausdehnungsdrang wird weiterstreben und
danach trachten, auch die Küste Ostpreußens,
das ohnehin vom Körper Deutschlands
rettungslos abgetrennt und von Polen weit
umklammert wird, sich anzueignen. Die
Rolle, die dem jungen Polen von der
Entente zugedacht ist, und die seine jetzigen
Machthaber, verblendet durch den gauklerischen
Trug eines neupolnischen Imperialismus,
übernommen haben, ist die eines Hetzhundes,
der dem von Westen her gestellten und fest¬
gehaltenen Deutschland beständig im Nacken
sitzen und dem der neue Tschechenstaat zu
demselben Zwecke helfend zur Seite treten soll.
Die in Pelplin (Westpreußen) erscheinende
polnische Zeitung „Piclgrzym" — Ur. 5t
vom 5. Mui — bringt nachstehenden offenen
Brief an den Oberpräsidenten von West¬
preußen Herrn von Jcigow. Dieser nicht
nur als polnisches Kulturdokument aufzu¬
fassende Brief lautet:
„Herr Jagow, stelle Dir vor, daß, sobald
in Paris unsere Zugehörigkeit zu Polen
bekanntgegeben wird, unsere Behörden an
Dir eine kleine Wiedervergeltungsprobe
versuchen werden, daß sie vor Deinem Hause
einen Haufen wilder Soldaten mitKarabinern,
Minenwerfern und Maschinengewehren auf¬
stellen werden. Stelle Dir nun vor, Herr
Jagow, daß solche Soldatenhorden bei Dir
eine Hausrevision veranstalten, nicht eine,
sondern mehrere, alle paar Tage, daß sie
Dir dabei drohen werden, den Revolver um
Kopf und Brust anlegen werden, Dir ins
Gesicht speien werden, Dich schlagen, mit
Fäusten bearbeiten, mit einem Wort, sich an
Dir weiden werden, ohne der vollständigen
Plünderung des Hauses usw. zu erwähnen.
Schließlich werden sie Dich mitnehmen und
Dich in irgendein Knechen oder in ein ver¬
laustes Gefangenlager stecken, wo sie Dir
Wasser mit Wrucken, oder Kartoffeln mit
Wasser und den ganzen Tag lang eine
Schnitte trockenen Brotes verabreichen werden.
Dort werden sie Dich ohne Untersuchung
ganze Wochen lang halten, und Du wirst
nur Schimpfworte hören. Von Zeit zu Zeit
werden sie, um Deine Nerven daran zu
gewöhnen, Dir an den Ohren herumsch!eßen,
vielleicht werden sie Dich auch ein bißchen
anschießen, und auf Deine Klagen werden
Dir die Behörden antworten: Sei zufrieden,
daß Du noch lebst. Natürlich wirst Du toll
werden über eine solche Behandlung, dann
werden sie Dir eine Jacke mit langen Ärmeln
anziehen und werden Dich nach Wejherow«
bringen. Öffentlich werden sie sagen: Dieser
Herr ist verrückt geworden. . . . Wenn Du
das lesen möchtest und verstehen, dann würdest
Du es Dir gewiß überlegen und andere
Anschauungen gewinnen. Und wisse, Herr
Jagow, daß dies erst ein Teil dieser „kleineren
Übel" ist, mit welchen Du uns in Deiner
.Weitherzigkeit' beschenktest . . ."
Die polnische Zeitung enthüllt damit
zweierlei: Die sonst ständig abgeleugnete
menschenunwürdige Behandlung deutscher
Internierter in den berüchtigten Polnischen
Sammellagern und die feste Absicht, die
deutschen Beamten in den etwa abgetretenen
Gebietsteilen entgegen allen öffentliche»
Beteuerungen bis auf das Blut zu peinigen.
Kundgebung an den deutschen Osten.
Berlin, 8. Mai. Die Neichsregierung und
die preußische Staatsregierung erlassen fol¬
gende Kundgebung an den deutschen Osten:
Die Reichsregierung hat nach der Be¬
kanntgabe der Friedensbedingungen zum
deutschen Volke gesprochen. Der Bevölkerung
der östlichen Provinzen Preußens noch ein
besonderes Wort!
Die Abtrennung Oberschlesiens vom
Reich, die Angliedenmg von drei über¬
wiegend deutschen Gebieten in Mittel- und
Niederschießen, in Posen, Wsstpreußen und
Pommern, die Loslösung der alten Hansa-
ftndt Danzig, dieser Pflanzstätte deutscher
Kultur, vom Reiche, sind Eingriffe in das
Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung
dieser Gebiete, die durch deutsche Arbeit
und deutsche Kultur das erwarben, was
heute ihre Vorzüge bildet. Diese Eingriffe
sind gänzlich unvereinbar mit den vom
Präsidenten Wilson vereinbarten Grund¬
sätzen. Die für südöstliche Teile der Provinz
Ostpreußen geforderte Abstimmung der Be¬
völkerung kann diesen Gewaltcharakter, der
mit den Rechten und der gegebenen Zusage
unvereinbar ist, nicht verhüllen.
Die geforderte Abtretung des Nordostens
der Provinz Ostpreußen tut nicht nur einer
Bevölkerung Gewalt an, die trotz der von
außen hereingetragenen Propaganda durch
und durch deutsch fühlt, sondern vervoll¬
ständigt zugleich die wirtschaftliche Ab¬
sperrung Deutschlands von den Gebieten
de» großrussischen Volkes; mit diesen in
ungehinderten Güteraustausch zu bleiben,
ist Voraussetzung zum Gedeihen beider
Völker.
Die Bevölkerung der östlichen Provinzen
Preußens soll überzeugt sein, daß die Ne¬
gierung der Republik das äußerste aufbieten
wird, um diese Gefahr abzuwehren. Dazu
ist jetzt mehr als je unbedingt nötig, daß
das Volk nationale Disziplin hält und in
Einheit und Vertrauen im Glauben an die
eigene Kraft und sein gutes Recht zu¬
sammensteht.
Danzig, 11. Mai. Der kommandierende
General des 17. Armeekorps und der Ober¬
präsident für Westpreußen haben gemein¬
schaftlich einen Werberuf an alle waffen¬
führenden Männer erlassen, um angesichts
der unerträglichen und unannehmbaren
FnedenSbedingungen für den Fall vorbereitet
zu sein, daß die Polen unsere Provinz an¬
greifen und zu erobern versuchen.
Fortgang der polnischen Offensive.
„Morningpost" meldet aus Warschau vom
16. Mai: Paderewski hat seine Entlassung
als Ministerpräsident gegeben; sie wurde
Vom Landtag nicht angenommen. Die Krise
ist darauf zurückzuführen, daß der Landtag
sich geweigert hat, das von Paderewski in
Paris gegebene Versprechen zur Einstellung
der polnischen Offensive zu unterstützen.
(Das bedeutet also, daß die polnische
Offensive ihren Fortgang nehmen soll.)
Die Arvciterriite
fiir daS Selbstbestimmungsrecht.
Bromberg, 10. Mai. Der Vollzugsaus¬
schuß des A.- und S.-Nates richtete an die
deutsche Friedensdelegation in Versailles und
an den Präsidenten Wilson nachstehendes
Telegramm:
„Der unterzeichnete Arbeiter- und Sol¬
datenrat als Vertretung aller erwerbstätigen
Kreise der Bevölkerung deS noch unbesetzten
Gebietes de! Regierungsbezirks Broniberg
Protestiert gegen den Gewaltfrieden, den man
unserem Reiche seitens der Entente auferlegen
will. Insbesondere Protestieren wir gegen
die Vergewaltigung der Bevölkerung unserer
Gebietsteile, durch die das in der Wilson-
Note anerkannte Selbstbestimmungsrecht der
Völker einfach aufgehoben und damit die
nackteste Gewalt über jedes Recht erhoben
wird.
Demonstrationssvnntag in OSerschlesicn.
Kattvwil,, 19. Mai. Am Sonntag, den
18. Mai, fanden in ganz Oberschlesien noch¬
mals gewaltige Protest- und Demonstrations-
umzüge gegen den Gkwaltfriedensentwurf
statt. Selbst das schlechte Wetter hielt die
oberschlesische Bevölkerung in ihrer Erregung
nicht ab, aus die Straße zu gehen, um laut
und einheitlich dem Notschrei, bei Deutsch¬
land zu bleiben, Geltung zu schaffen. In
großen Zentralen der Industrie, wie in
Kattowitz, Hindenburg usw. fanden gewaltige
Deinvnstrntiousumzüge statt. Die Bedeutung
dieses Demonstralionssonntags lag aber
darin, daß es Wohl kein noch so entlegenes
Nestchen oder Srlchen im Regierungsbezirk
Oppeln gab, wo die Einwohnerschaft sich
nicht zu Demvnstratiouszngen sammelte.
Nach den bei dem Staatskommissariat für
Oberschlesten eingelaufenen Nachrichten kann
man als begründet annehmen, daß von den
in Frage kommenden 1 200 000 Einwohnern
gut 1 000 000 ihren Willen bekundeten, auf
alle Fälle bei Deutschland verbleiben zu
wollen.
Hand in Hand mit diesen Berichten über
stattgefundene Demonstrations- und Protest¬
umzüge laufen fortgesetzt beim Staatskom-
mifsariat aus allen Bevölkerungskreisen und
aus allen Erwerbsschichten stürmisch gehaltene
Drahtungen ein, die die steigende Erregung
schildern und einmütig der Hoffnung Aus¬
druck geben, von der Regierung in dem
Wunsche, bei Deutschland zu bleiben, unter¬
stützt zu werden. Immer wieder muß her¬
vorgehoben werden, daß aus den Kreisen
der polnisch-sprechenden Arbeiterschaft sich
geradezu am lautesten der Ruf geltend
macht, nicht vom Deutschen Reiche losge¬
trennt zu werden. Es kommen aus den
sogenannten stockpolnischen Kreisen Kreuzburg
und Rosenberg die eindringlichsten und
markantesten Notschreie.
Die mährisch-sprechenden Oberschlesier
erklären in längeren Drahtungen aus den
verschiedensten Orten, wir fühlen vollkommen
deutsch und wollen mit unserer Heimat lieber
in Not und Tod aushalten als gegen unseren
Willen verschachert zu werden.
Padercwski über die geplanten Grenzen
Polens.
Aus Kraknu wird gemeldet: Im Senioren¬
konvent des polnischen Landtages erstattete
Paderewsti ein Exposö über die geplanten
Grenzen Polens und betonte, daß die
Entente noch vor zwei Monaten den Polen
bedeutend mehr zugedacht habe, als jetzt.
Nunmehr wolle sie das Naphthagebiet in
Galizien der Ukraine unter Kontrolle einer
internationalen Kommission überlassen. Die
neuen Vorschläge stützten sich auf Anträge
Bothas, die aber für die Polen unannehm¬
bar seien. England und Amerika hätten tat¬
sächlich gegen die Verwendung der Truppen
Hallers in Ostgalizien Verwahrung einge¬
legt. Polen müsse die Buglinie und das
Naphthagebiet in Galizien erhalten. Bezüg¬
lich der Ukraine sagte er, daß die Entente
an die Schaffung eines unabhängigen
ukrainischen Staates nicht denke. Eine ernste
Gefahr für Polen bilde die russische Frage.
Jswolski und Ssasonow entwickeln in Paris
eine sehr lei.haste Tätigkeit und die Entente
unterstütze sie in ihren Bestrebungen nach
Organisation eines bewaffneten Widerstandes
gegen die Bolschewiki und zum Sturze der¬
selben. Eine große Gefahr bilde auch das
Bestreben der Tschechen nach Erlangung einer
genieinsamen Grenze mit Rußland, das von
russischen Diplomaten unterstützt werde. Die
Entente sei leider geneigt, diese Wünsche zu
verwirklichen. Bezüglich Litauens und Wei߬
rußlands habe England besondere Pläne.
Es wolle sie zu föderalistischen Republiken
umwandeln mit einem Zugang zur Ostsee
über Liban, das unter englischer Kontrolle
stehen werde.
Ganz Westpveusjen im Belagerungszustand.
Thorn, 20. Mai. Ueber ganz West¬
preußen hat das Preußische Staatsministerium
den Belagerungszustand durch Außerkraft¬
setzung der Artikel 6. 6, 27, 29 und 80 der
Verfassung verhängt. Der Oberpräsident
hat darauf angeordnet: Haussuchungen und
Verhaftungen können von dazu berechtigten
Behörden und Beamten jederzeit vorge¬
nommen werden. Alle öffentlichen Ver¬
sammlungen sind mindestens 48 Stunden
vorher beim Landrat, in Stadtkreisen bei
den Ortspolizeibehörden unter Angabe des
O>es, der Zeit und der Veranstalter anzu¬
melden.
Vrombcrg, 19. Mai. Der Brmnberger
Ausschuß für den Rechtsfricden, der
aus Vertretern aller Parteien gebildet ist,
berief gestern eine Volksversammlung zum
Protest gegen den Erdrosselungsfriede», und
gegen die Abtrennung des Netzedistrittes ein.
Vor einer dichtgedrängten Menge sprach Pro¬
fessor Dr. Hille, Obmann des dentschen
Volksrates. Da nicht alle Erschienenen Platz
fanden, wurde nach Schluß der ersten Ver-
Sammlung eine weitere abgehalten, die eben¬
falls überfüllt war. Gleichzeitig tagte eine
Parallelversammlung. Nachstehende Kund¬
gebung, einstimmig beschlossen, wurde an
die Reichsregierung gedrahtet:
Die in drei Versammlungen zu Tausen¬
den vereinte Bevölkerung des von deutschem
Fleiße erbauten und durch deutsche Arbeit
wiedererstandenen Bromberg erhebt vor
dem Gewissen der Welt nachdrücklichst Ein¬
spruch dagegen, daß der von Versailles an¬
gekündigte Erdrosselungsfriede unsere Stadt
und den Netzedistrikt unter Mißachtung des
Selbstbestimmungsrechtes und des Natio¬
nalitätengrundsatzes dem polnischen Staat
ausliefern will. Dieser Gewaltschritt ist um
so unmöglicher, als Stadt und Land kern¬
deutsch fühlen und nicht wieder, wie ehe¬
dem, wirtschaftlicher und kultureller Ver¬
elendung unter der Polenherrschaft ausge¬
liefert werden wollen. Unser Selbstbestim¬
mungsrecht, unsere Vernunft weisen uns nach
Deutschland. Wir Bromberger erwarten von
der Regierung bestimmt, daß sie im Friedens-
vertrag unser unveräußerliches, heiliges Recht
auf die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich
nicht Preisgibt. Einen Friedensvorschlag,
der diesen Rechtsgrundsatz nicht enthält, lehne
die Negierung ab. Wir stehen treu zu ihr,
gewärtig ihres Rufes, aber auch gewillt,
alle Folgerungen aus einer Ablehnung der
unmöglichen, entehrenden, rechtlosen Friedens¬
bedingungen auf uns zu nehmen. Bromberg
und der Netzedistrikt sind deutsch und wollen
deutsch bleiben.
Polnisch als Amtssprache in Posen.
Die Polnischen Führer in Posen sowie
die Polnische Presse haben bekanntlich wieder¬
holt und in feierlicher Form erklärt, daß sie
die deutsche Bevölkerung in jeder Weise loyal
behandeln würden, daß insbesondere die
Amtssprache Polnisch und deutsch sein würde.
Nichts von diesen Versprechungen ist gehalten
worden. Die Amtssprache ist polnisch ge¬
worden. Antworten der Polnischen Behörden,
öffentliche Bekanntmachungen und dergleichen
erfolgen ausschließlich in Polnischer Sprache.
Alle Behörden haben auf Anordnung des
polnischen obersten Volksrates ausschließlich
Polnische Schilder, und zwar ist rote Schrift
auf weißem Grunde vorgeschrieben. Was
würden Wohl die Polen und ihre deutschen
Freunde im Reichs- und Landtage gesagt
haben, wenn die deutschen Behörden die An¬
bringung von Schildern nur in den deutschen
Landesfarben angeordnet hätten? Den
Deutschen der Stadt Posen ist vor den
Stadtverordnetenwahlen ausdrücklich die volle
Wahrung ihrer Rechte hinsichtlich der deutschen
Sprache zugesichert und den deutschen Stadt¬
verordneten versprochen worden, daß ihnen
kein Nachteil bei Ausübung ihrer Tätigkeit
durch Unkenntnis der Polnischen Sprache er¬
wachsen würde. Was aber geschah? Die
Verhandlungssprache in der Stadtverordneten¬
versammlung ist trotz des deutschen Protestes
ausschließlich polnisch, so daß die deutschen
Stadtverordneten nicht einmal wissen, über
welche Dinge verhandelt wird.
Kriegsmaterial für Polen über D«nzig.
Den Alliierten in Spaa ist am 8. Mai
folgende Note übermittelt worden:
„Nach amtlichen Meldungen will die
amerikanische LebenSmittelkommisfion für
Polen in Danzig außer Lebensmitteln auch
Sanitätsmaterial, Automobile, Gummi-
bereisungen, Nähmaschinen, Bekleidungsstoffe,
Werkzeuge und anderes für die polnische
Armee bestimmtes Kriegsmaterial in erheb¬
lichem Umfange über Danzig nach Polen
transportieren. Ohne deutsche Genehmigung
sind einige Transporte nach Polen bereits
abgegangen. Dieses Verhalten widerspricht
sämtlichen getroffenen Vereinbarungen. Die
deutsche Regierung erhebt hiergegen nach¬
drücklich Protest. DaS Deutsche Reich hat
sich verpflichtet, die Beförderung von Lebens¬
mitteln über Danzig nach Polen zuzulassen;
es hält diese Verpflichtung gewissenhaft ein.
Die Beförderung von Kriegsmaterial über
Danzig ist jedoch nach den bestehenden Ver¬
einbarungen unzulässig. Duz Beförderung
der Armee Haller mit ihrem Zubehör voll¬
zieht sich auf dem Landwege durch deutsches
Gebiet. Im Spaaer Abkommen ist für den
Nachschub der Armee Haller ausdrücklich
Stettin als AuSschisfungshafen bestimm^
worden. Die deutsche Regierung kann nicht
zulassen, daß nunmehr entgegen allen Ab¬
machungen in Dcinzig die Ausschiffung von
Kriegsmaterial erfolgt; sie wird die weiteren
Ausschiffungen desselben verhindern.
Dänischer Widerspruch gegen Brisaillcr
Geschenke.
Die dänische Negierungspresse veröffent¬
licht anläßlich der Entscheidung der Friedens¬
konferenz einen anscheinend inspirierten
Artikel, in dem es heißt:
„Die Entscheidung der Friedenskonferenz
bezüglich der Abstimmung in Schleswig hat
hier größte? Erstaunen hervorgerufen. Die
Bestimmung, daß auch in der sogenannten
dritten Zone, also in rein deutschem Gebiet,
gemeindeweise eine Abstimmung abgehalten
werden solle, steht in direktem Gegensatz
zum klar eingenommenen Standpunkt des
dänischen Reichstags, der dänischen Regie¬
rung und des nordschleswigschen Wähler¬
vereins. Der Beschluß der Friedenskonferenz
muß auf unterirdische Einflüsse seitens
dänischer Chauvinisten zurückgeführt werden.
Er ist eine direkte Fälschung des Selbst-
bestimmungsrechtS der Völker und ein Bruch
der Idee Wilsons. Es kann erwartet werden,
daß die Negierung und der Reichstag Däne¬
marks so nachdrücklich wie möglich hiergegen
protestieren werden."
Der frühere NeichstagSabgeordnete H. P.
Hauffer-Nörremölle äußerte sich im gleichen
Sinne. Die Erklärung über die Abstimmung
kam als eine vollständige Überraschung.
Südlich der Grenze der zweiten Zone
gibt es nur Deutsche, die nicht die
geringste Beziehung zu unserer Entwicklung
bewiesen haben. Sollte nun eine Ab¬
stimmung in diesem Gebiete Stimmen für
Dänemark ergeben, so ist es bestimmt nur
ein Ausdruck des größten Materialismus
oder von Bestrebungen, Schleswig als ein
Ganzes an Dänemark zu bringen und da¬
durch das deutsche Element zu stärken und
das Zusammengehörigkeitsverhältnis offen
zu halten, bis die Zeiten sich einmal für
Deutschland gebessert haben. Eine Ab¬
stimmung, die diese südlichen Gebiete zu
Dänemark brächte, würde einen Volks¬
zuwachs von etwa 400 000 Menschen be¬
deuten, von denen in Wirklichkeit nur
120 000 Dänen seien. Dies wäre ein
nationales Unglück sür unser Land, eine
neue Quelle von Zerstörung, die um jeden
Preis vermieden werden muß.
(Es wäre wünschenswert, daß unsere
Polnischen Nachbarn sich diese dänische Äuße¬
rung etwa? zu Herzen nehmen.)
Die Lage der Arbeiter unter Polenherrschaft.
Oppeln, 13. Mai. Wie aus zuverlässiger
Quelle aus Kattowitz mitgeteilt wird, sind im
Industriegebiet in Kongreßpolen an der
Grenze bereits französische Militäringenieure
und Sappeure bereit, um nach der Besitz¬
ergreifung Oberschlesiens die VerWallung
der oberschlesischen Industrie in die Hand
zu nehmen. Man beabsichtigt, Maßregeln,
ähnlich wie ini Saargobiet: zehnstündige
Arbeitszeit, strenger Arbeitszwang, stand¬
rechtliche Erschießungen und Unterdrückung
der sozialistischen Bewegung, die von den
Franzosen und Polen als bolschewistisch be¬
zeichnet wird. Ergänzend ist dazu zu
bemerken, daß vor kurzem die Abgesandten
der polnischen Berufsvereinigungen Ober¬
schlesiens die Warschauer Negierung über das
Schicksal der oberschlesischen Arbeiterschaft
befragt haben. Sie bekamen dort die Er¬
klärung, daß den oberschlesischen Industriellen
bindende Angebote über Aufrechterhaltung
der Privatwirtschaft gemacht worden seien
Gewisse Zugeständnisse an die Arbeiterschaft
wie z. B. die zurzett viel bekämpfte Ein¬
setzung von Sicherheitsleuten aus der Arbeiter¬
schaft zur Überwachung der Vorschriften,
müßten aber beseitigt werden.
Was verstehen die Polen unter Selbstbestimmungsrecht der Völker? Das
Recht, selbst zu bestimmen, was aus den Völkern werden soll, die polnischer
Chauvinismus für sich beansprucht.
Welches Land nennen die Polen unzweifelhaft polnisch? Alles Land, für
das auch nur der kleinste Zweifel besteht, ob nicht unter der Bevölkerung etwa
ein Pole ist.
Die Friedensbedingungen sind ein Kompromiß. Aber ein Kompromiß, der
dadurch zustande gekommen ist, daß schließlich jeder in den Vertragscntwus das
hineingeschrieben hat, was er von Deutschland haben will.
Die Entente weiß recht wohl, daß die Polen keine staatenbildenden Fähig¬
keiten haben, aber das ist es ja gerade, es soll eben in Europa keine lebenskräftigen
Staaten mehr geben.
Warum soll Danzig eine freie Stadt werden? Weil bei Einbeziehung
Danzigs selbst die Polen nicht bestreiten können, daß Westpreutzen unzweifelhaft
deutsch ist.
Nach Abschnitt 9 der Fiiedeni'forderungen der Entente sollen in großen
Teilen Ostpreußens sowie in den Kreisen Stuhm und Rosenberg und in den
situes der Nogat gelegenen Teilen des Kreises Marienburg sowie des Kreises
Marienwerder die Einwohner in einer Volksabstimmung ihrem Willen, ob sie zum
deutschen Reich oder zu Polen gehören wollen, Ausdruck geben. Da es von
erheblichem Interesse ist zu wissen, wie sich die Entente die Vornahme einer
solchen Abstimmung denkt, seien nachfolgend die wesentlichen Bestimmungen im
Wortlaut abgedruckt.
Neunter Abschnitt.
Ostpre u ß e n.
Artikel 94.
In der Zone zwischen der südlichen Grenze Ostpreußens, wie diese
Grenze in dein Artikel 28 des Teiles II (Grenzen Deutschlands) des gegen¬
wärtigen Vertrages festgesetzt ist, und der nachstehend beschriebenen Linie
werden die Einwohner aufgefordert werden, durch Abstimmung zu bestimmen,
welchem Staat sie angehören wollen:
West- und Nordgrenze des Regierungsbezirks Altenstein bis zu ihrem
Schnittpunkt mit der Grenze zwischen den Kreisen Oletzko und Angerburg; von
dort die Nordgrenze des Kreises Oletzko bis zu ihrem Schnittpunkt mit der alten
Grenze Ostpreußens.......
Artikel 95.
In einer Frist, die 14 Tage vom Inkrafttreten des gegenwärtigen Ver¬
trages an gerechnet nicht überschreiten darf, werden die deutschen Truppen
und Behörden aus der vorerwähnten Zone zurückgezogen. Bis die Räumung
vollzogen ist, werden sie sich jeder Erhebung von Geld, Naturalien und jeder
Maßnahme enthalten, die die materiellen Interessen des Landes beeinträchtigen
könnte.
Nach Ablauf der vorerwähnten Frist wird die genannte Zone unter die
Herrschaft einer internationalen Kommission von fünf Mitgliedern gestellt
werden, die von den Verbündeten und assoziierten Hauptmächten ernannt
werden. Die Kommission wird eine Generalvollmacht zur Verwaltung be¬
sitzen und wird insbesondere beauftragt sein, die Abstimmung vorzubereiten
und alte Maßnahmen zu treffen, die sie für notwendig erachten wird, um sie
zu einer freien, ehrlichen und geheimen zu machen. Die Kommission wird
auch jede nötige Vollmacht besitzen, um alle Fragen zu entscheiden, die aus
der Ausführung der gegenwärtigen Klauseln entstehen können. Die Kommission
wird alle zweckmäßigen Maßnahmen treffen, um sich bei der Ausübung ihrer
Funktionen durch Beamte unterstützen zu lassen, die sie selbst aus der örtlichen
Bevölkerung wählt. Ihre Beschlüsse werden durch Stimmenmehrheit gefaßt.
Das Recht auf Abstimmung wird jeder Person gewährt, die ohne Unter¬
schied des Geschlechts folgende Bedingungen erfüllt:
Jeder wird in der Gemeinde wählen, wo er seinen Wohnsitz hat oder
in der er geboren ist, wenn er nicht feinen Wohnsttz oder seinen Aufenthaltsort
in der genannten Zone hat.
Das Ergebnis der Abstimmung wird nach Gemeinden bestimmt werden
gemäß der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde.
Bei Abschluß der Abstimmung wird die Zahl der Stimmen in jeder
Gemeinde durch die Kommission den vel bündeten und assoziierte« Hauptmächten
mitgeteilt werden zugleich mit einem detaillierten Bericht über den Hergang
der Abstimmung und einnn Vorschlag über die Linie, welche in diesem Gebiete
als Grenze Ostpreußens unter Berücksichtigung des Willens der Einwohner, wie
er durch die Abstimmung zum Ausdruck gekommen ist, sowie der geographischen
und wirtschaftlichen Lage angenommen werden sollte. Die verbündeten und
assoziierten Hauptmächte werden dann die Grenze zwischen Ostpreußen und
Polen in dieser Gegend bestimmen.
Artikel 96 und 97 betrifft die Abstimmung in Teilen der Kreise Stuhm und
Marienburg. Im wesentlichen sind die Bestimmungen mit den vorstehenden gleich¬
lautend außer den folgenden Absätzen:
Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden in dieser Gegend
die Grenze zwischen Ostpreußen und Polen festsetzen, wobei sie Polen wenigstens
voll und ganz die Kontrolle dieses Abschnittes der Weichsel einschließlich des
östlichen Ufers überlassen, soweit dieses für die Regulierung und den Ausbau
des Flusses notwendig wäre. Deutschland verpflichtet sich, daß keinerlei
Befestigung zu irgendeiner Zeit in irgendeinem ^Teile des genannten Gebietes,
soweit es deutsch bleibt, errichtet werde.
Die Verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden zu gleicher Zeit
Bestimmungen treffen, welche der Bevölkerung Ostpreußens zum Besten ihrer
Interessen unter villigen Bedingungen den Zutritt zur Weichsel und ihre
Benutzung für sich, ihre Waren oder ihre Schiffe sichert.
Die Festlegung der Grenze und die vorstehenden Anordnungen werden
für alle beteiligten Parteien bindend sein.
Eine nähere Betrachtung der Bedingungen zeigt, daß, wo die Volksabstimmung
vorgesehen ist, die Art der Ausführung deu Gedanken des Selvstbestimmungsrechts zu
einer lächerlichen Farce werden läßt. stimmberechtigt sind nach den Bedingungen
nur Personen, die in dem betreffenden Gebiete entweder geboren sind, oder ihren
Wohnsitz seit einem Zeitpunkt dort haben, der von einer interalliierten Kommission
festzusetzen ist. Es ist das alte Lied, das wir von den Polen kennen. Das
Deutschtum in den Ostmarken soll nur etwas aufgepfropftes sein, nnr durch
künstliche Zuwanderung, veranlaßt durch die Politik der deutschen Regierung
dorthin gekommen sein. Nun ist an dieser Stelle schon oft in unzweifelhafter
Weise dargetan worden, daß historisch gesehen diese Behauptung falsch ist. Sie
liegt aber den Friedensbedinguncen in einer Form zugrunde, die zwar der
bewußt oder unbewußt oberflächlichen Art, in der die Entente auf die Polen¬
forderungen eingegangen ist, ein klassisches Zeugnis ausstellt, die aber darum nicht
weniger gefährlich ist. Die in Frage stehenden Gebiete sind seit Menschenaltern
und Jahrhunderten in steter organischer Einheit mit dem preußischen Stuaie und
dem deutschen Reiche verwachsen. Innerhalb des prcußiichen Staates und des
deutschen Reiches findet fortgesetzt ein erheblicher Austausch zwischen der
Bevölkerung der verschiedenen Landstriche statt, wie dies bei der Ncrtnr des
modernen Staates in allen Staaten der Fall ist. Durch Handel und Verkehr,
Gewerbe und Industrie werden größere Menschenmnssen fortlaufend innerhalb
der Grenzen des Reiches hin- und dergl schoben. Würde man unter diesem
Gesichtkpuutt eine Statistik im ganzen deutschen Reiche aufnehmen und behaup-er
wollen, daß alle die Einwohner, die nicht an ihrem Wohnort geboren sind, keine
bodenständige Bevölkerung sind, dann würde man erstaunen, wie wenig boden¬
ständige Bevölkerung es im ganzen deutschen Reiche gibt. Von diesem allgemeinen
Prozeß sind natürlich auch die östlichen Gebiete des deutschen Reiches ergriffen
worden. Hier den Teilen der Bevölkerung, die vermöge der allgemeinen wirt¬
schaftlichen und soziologischen Gesetze nicht in ihrem Wvlwort geboren sind, sondern
erst im Laufe der Zeit zugewandert sind, das Recht, über die Geschicke des Landes
mitzubestimmen, absprechen, bedeutet, diesen Teil der Bevölkerung vogelfrei erklären,
das organische Wachstum einer Bevölkerung wrtenuen und somit das Selbst-
bestimmungsrecht vergewaltigen. Es ist zwar vorgesehen, daß Personen, die vor
einem gewissen Zeitpunkt zugezogen sind, abstinunungsberechtigt sind. Bei der
Unterschrift des Vertrages wird Deutschland aber nicht wisse-;, welcher Zeitpunkt
festgesetzt wird. Es ist wie an hundert anderen Stellen des Vertrages, Deutsch¬
land verpflichtet sich zu Dingen, von deren Inhalt es noch nichts weiß, und es
kann wohl keinem Zweifel unterliegen, nach welchen» Geist die Festsetzung dieses
Zeitpunktes erfolgen wird.
Ein anderer Punkt ist die Bestimmung, daß die deutschen Truppen und
Behörden das Gebiet zu räumen haben, und daß die Verwaltung um einer
interalliierten Kommission übernommen wird, die die Abstimmung zu organisieren
hat und alle Maßnahmen treffen soll, die zur „Sicherung einer freien, unbeein¬
flußten und geheimen Stimmabgabe" für erforderlich gehalten werden. Es soll
also eine Behörde, deren polenfreundlicher und deutschfeindlicher Charakter einem
Zweifel nicht unterliegen kann, die Unparteilichkeit der Aostimmung gewährleisten.
Jedwede Garantien zum Schutze der Einwohner, die ihrem angestammten Vater¬
lande die Treue halten wollen, fehlen. Terror. Wahlbeeinflussung und Listen¬
fälschung ist Tür und Tor geöffnet. Aber es handelt sich ja um das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker. Wenn nun aber, trotz aller dieser grotesken
Bestimmungen, die Abstimmung zugunsten des deutschen Reiches ausfällt, dann
ist damit noch längst nicht gesagt, daß das Gebiet auch tatsächlich dem deutschen
Reich gelassen wird. Denn dann erst werden die alliierten und assoziierten
Hauptmächte unter Berücksichtigung zwar auch des von der Bevölkerung durch die
Abstimmung kundgegebenen Willens, aber auch der geographischen und wirtschaft¬
lichen Lage der einzelnen Ortschaften die Grenze ziehen. Der Pferdefuß ist nicht
zu verkennen. Was alles unier der Firma „Berücksichtigung geographischer
und wirtschaftlicher Interessen" von der Entente fertiggebracht werden kann,
zeigen ja die Bestimmungen über Westpreußen, Posen und Oberschlesien, wo rein
deutsche Gebiete ohne den fadenscheinigen Mantel der Volksabstimmung abgetreten
werden sollen.
Es ist bei solchen Bedingungen kaum einzusehen, warum die Entente sich
dos Scheinmäntelchen nicht auch für diese Gebiete umgehangen hat. Denn unter
diesen Bedingungen läßt sich überall das gewünschte Ergebnis erzielen. Wir
kennen die Polen und wissen, was sie unter Freiheit da verstehen, ivo sie die
Herrschaft haben Das Schicksal der Nuthenen in Galizien und unserer deutschen
Brüder in den: Posener Land östlich der Demarkationslinie zeigt es uns hin¬
reichend. Wir rönnen uns gut vorstellen, wie mir allen Mitteln von Zuckerbrod
und Peitsche bis zur brutalsten Gewalt das Ergebnis der Voltsabiiimmung, das
von der Entente und den Polen gewünscht wird, erzielt werden wird.
Die deutschen Ostmacken sind deutsch. Jcchrhuuderte lange Arbeit und
Kultur haben dem Land ihren Stempel aufgedrückt, und es unzweifelhaft deutsch
gemacht. Da bedarf es einer Volksabstimmung nicht. Von der deutschen Negierung
muß man erwarten, daß sie sich auf der Grundlage der Entente gar nicht in
Verhandlungen einläßt, oder gar die Anordnung einer Abstimmung unter den
von der Entente geplanten Modalitäten in weiteren Gebieten als einen Erfolg
ihrer Verhandlungskunst ansehen wird.
Es gibt nur eine sichere Grundlage. Unzweifelhaft polnisches Land gibt
es in den Grenzen des deutschen Reiches nicht. Das <Selbstbestimmungsrecht der
Völker ist dann am besten gewährleistet, wenn die deutschen Ostmarken beim
deutschen Reich bleiben.
Die Polen erheben neuerdings Ansprüche
auf den Besitz der pommerschen Kreise Lauen¬
burg und Bülow, und der Friedensverlrng,
den Deutschlands Feinde uns unterbreitet
haben, geht darauf bereitwilligst ein. Die
Polen suchen ihre Forderungen mit dem
Hinweis darauf zu begründen, daß König
Johann Kasimir im Vertrag von Bromberg
vom L. November 16ö7, durch den er die
beiden Kreise an den Großen Kurfürsten
abtrat, sich ihre Rückgabe an Polen aus¬
bedungen habe, falls die Herrschaft der
Hohenzollern ein Ende fände, und daß dieser
Fall durch die deutsche Revolution im No¬
vember eingetreten sei.
Diese Begründung ist jedoch in geschicht¬
licher und rechtlicher Hinsicht anfechtbar.
Im Sewember 1657 hatte sich die
Schwenkung der brandenburgischen Politik
nach Polen hin vollzogen. Der Große Kur¬
fürst, der bisher auf Seiten der Schweden
gefochten hatte, und vom König von Schweden
Karl Gustav, als souveräner Herzog von
Preußen und Ermland anerkannt war (Labiau
20. November 16S6), schloß zu Wehlau am
18. September 1657 ein Bündnis mit dem
Polnischen König Johann Kasimir. Unter
Verzicht auf die ihm von Schweden zu¬
gesicherten Polnischen Palatinate Posen,
Kalisch, Bcmcyck und Sieradz und auf Erm¬
land wurde seine Souveränität im Herzog¬
tum Preußen auch von seinem ehemaligen
Lehnsherrn, dem König von Polen, anerkannt.
Außerdem wurde ein gegenseitiges Schutz-
und Trutzbündnis geschlossen, wofür der Kur¬
fürst eine besondere Entschädigung erhalten
sollte. Zur näheren Vereinbarung hierüber
kamen der König und der Kurfürst Ende
Oktober in Bromberg zusammen. Zu dem
Vertrage, der am 6. November 1657 unter¬
zeichnet wurde, erhielt Friedrich Wilhelm
außer der Zusicherung der Stadt Elbing die
Starosteien Lauenburg und Bülow, die bis
1637 die Pommerschen Herzöge als pol¬
nisches Lehnen besessen hatten.
Der Vertrag wurde von den Ständen
Polens genehmigt, die Abtretung der
beiden Kreise somit von Krone und Volk
bestätigt.
Johann Kasimir trat in dem Vertrage
Lauenburg und Bülow in seinem und seiner
Nachfolger Namen an die Kurfürsten und
seine rechtmäßigen männlichen Nachkommen
auf ewige Zeiten zu Lehnrecht ab.
Die Stelle, auf die sich die Polen be¬
rufen, lautete in deutscher Übersetzung:
„Sollte aber der Durchlauchtigste Fürst und
Herr, Friedrich Wilhelm, Markgraf und Kur¬
fürst zu Brandenburg, Herzog in Preußen,
ohne gesetzliche männliche Lehnserben oder
der gesetzliche männliche Lehnserbe ohne
männliche Nachkommenschaft zu hinterlassen,
mit dem Tode abgehen und de>o Stamm
und gesetzliche männliche Nachkommenschaft
erlöschen: Alsdann sollen die vorbesagten
Schlösser und Städte Bülow und Lauenburg
mit allen ihren Gütern, Untertanen, Vasallen,
Nutznießungen, Freiheiten, Rechten, Hoheiten
und allem Zubehör, und zwar zu vollem
Rechte und Besitze ohne allen Einspruch an
Uns und die Uns nachfolgenden Könige von
Polen zurückfallen."
Wie aus diesen Worten deutlich ersichtlich
ist, bezog sich die in Erwägung gezogene
Rückgabe lediglich auf den Fall des Erlöschens
dos Hauses Hohenzollern; sie kam nur dann
in Frage, wenn der Kurfürst und seine Nach¬
kommen keine Rechtsnachfolger hinterlassen.
Die polnischen Ansprüche sind also schon,
wenn man sie auf die rein formelle Aus¬
legung des Vertrages beschränkt, nicht be¬
gründet. Die Bedingung, das Aussterben
des Hauses Hohenzollern, ist nicht einge¬
treten; vor allem aber ist zu beachten, daß
die Rückgabe ausdrücklich an „die uns nach¬
folgenden Könige von Polen" erfolgen sollte.
Durch die Aufhebung der Polnischen Königs¬
herrschaft von 1795 ist somit bereits die recht¬
liche Möglichkeit für den Heimfall des Lesmes
aufgehoben worden.
Aber unabhängig hiervon sind die Pol¬
nischen Ansprüche ans allgemeinen Gründen
völlig unhaltbar. Die Erbverbrüderungs-
verträge zwischen Fürsten und Fürstenfamilien
entstammen einer Zeit, in der der Staat
als Eigentum des Fürsten aufgefaßt wurde.
In dieser Zeit war es möglich, Länder mit
ihrer Bevölkerung zum Objekt fürstlicher
Rechtsgeschäfte zu machen. Mit der Ent¬
wicklung deS modernen Staatsbegriffes
wurden einmal die Fürsten zu Organen
der von ihnen beherrschten Staaten, und es
wuchsen ferner diese Staateil zu organischer
Einhcitzusammen. Erbverbrüderimgsverträge
können im modernen Staatsleben nur noch
soweit zu rechtlicher Bedeutung kommen, als
diese Verträge nach Maßgabe der Siaats-
verfassungen einen Einfluß auf die Thron¬
folge innerhalb dos Staates besitzen. Eine
Auseinanderreißnng zu organischer Einheit
erwachsener Staaten auf Grund privatfürst¬
licher Erbverbrüderungsverträge würde den
elementarsten Begriffen der Auffassung vom
modernen Staat Hohn sprechen.
Die polnischen Ansprüche schweben aber
weiter auch deswegen in der Luft, weil der
jetzige polnische Siaat unter keinem Gesichts¬
punkte als Rechtsnachfolger des im Jahre
1795 untergegangenen Polnischen Königreichs
aufgefaßt werden kann. Völkerrechtlich liegt
der Fall des Unterganges des polnischen
Staates besonders klar, denn wenn auch
die polnischen Teilungen als völkerrechtlich
allgemein gültig nicht anerkannt werden
sollten, so hat doch auf dem Wiener Kongreß
eine völlige territoriale Neuordnung Europas
statigefunden, und in der damals betroffenen
territorialen Regelung liegt eins formelle
völkerrechtliche unbestreitbare Anerkennung
des preußischen und entsprechend öster¬
reichischen und russischen Nechistitels auf die
ehemaligen Gebiete des Königreichs Polen.
Rechtsnachfolger in den in Frage kommen¬
den Gebieten sind also lediglich Preußen,
Österreich und Rußland. Der jetzt neu
entstandene polnische Staat ist eine völlig
neue Schöpfung, die zwar unter nationalen
Aspekten Verbindungen mit der Vergangen¬
heit aufzuweisen hat, die aber rechtlich durch
keine noch so geschickte juristische Rabulistik
in Verbindung mit dem untergegangenen
Königreich Polen des 18. Jahrhunderts ge¬
setzt werden kann.
Am 22. d, M. ist in Berlin eine Konferenz
der ostmärkischen Abgeordneten der National-
und Preußischen Landesversammlung zu¬
sammengetreten, die in der öffentlichen Mei¬
nung als eine Art Parlament des Ostens
bezeichnet wird. In der jetzigen Zeit vvrcms-
setzungsloser Illusionen ist es jedoch ange¬
bt acht, sich darüber klar zu sein, welche
praktische Tragweite der Schaffung des Ost-
Parlaments zukommt. Es scheint fast, als
ob man an den Zusammentritt der Parla¬
mentarier des Ostens Erwartungen knüpft,
die in der Folgezeit wie üblich enttäuscht
werden müßten. Zunächst muß geklärt wer¬
den, welche reale Größe hinter dem Begriff
„Ostmark" steht. Die „Ostmark" bedeutet
in der gegenwärtigen politischen Lage die
beiden am schwersten bedrohten Provinzen
Posen und Westpreußen, dazu ganz Ost¬
preußen, dessen intakt bleiben sollende Teile
gleichfalls von der geplanten Gewaltregelung
unmittelbar getroffen werden, und Over-
sch'chien. Was diese Gebieie zurzeit eint, ist
die drohende Gefahr: eine gemeinsame Or¬
ganisation besitzt die Ostmark als solche noch
nicht. Desgleichen liegt kein gemeinschaft¬
licher Plan vor, der ihr Verhalten als Ost¬
mark für die kommenden Tage der Ent¬
scheidung etwa regeln sollte. Ein Zusammen¬
schluß ist bis jetzt in keiner Weise erfolgt,
und in die Erscheinung ist die Zusammen¬
gehörigkeit der Ostmark lediglich durch die
in allen Teilen gleichmäßig einseyende
Reaktion gegen das vom Gewaltfrieden an¬
gekündigte Schicksal getreten, bzw. vor Be¬
kanntgabe der Friedensbedingungen durch die
Reaktion gegen die zutage tretenden Polni¬
schen Annektionsabfichien. Die treibende
Kraft, die diese Gegenwirkung auflöste, war
die Volksrntsbewegung. Auch diese Bewegung
muß verstanden werden. Als der November¬
sturm kam, als das öffentliche Interesse sich
in der Schaffung von Räten (Arbeiter- und
Soldatenräten) zersplitterte, als jeder nur
an seine Rechte, an die Rechte und Freiheiten
seiner Klasse dachte und niemand mehr an
die Freiheit des gesamten Volkes, zerfiel —
am folgenschwersten in Posen — das feste
Gefüge des preußischen Staates, der damit
dem Zugriff des nur um das gesamte Wohl
besorgten Polnischen Nationalismus offen¬
stand. Bei dem anfänglich gänzlichen Ver¬
sagen der Regierung entschwand das Ver¬
trauen der deutschen Bevölkerung zu ihr, die
instinkiiv nach einer anderen Stütze suchte
und sie in dem Vertrauen zu sich selbst auch
fand. Die Pflicht zur Selbsterhaltung und
damit auch die Pflicht gegenüber dem ge-.
fanden deutschen Volkstum bewog die vst-
märkische Bevölkerung — anfänglich nur die
Teile, die sich von dem Klassen- und Pariei-
taumel unberührt hielten — aus sich selbst
ein Gegengewicht gegen ihre Vernichtung
durch die polnische Gefahr und als Ersatz
für die verfallende Staatsautorität zu schaffen.
Die Bevölkerung erwählte sich in den Volks-
rä:en eigene Vertretungen und eigene Führer,
die ihre Rechte sowohl gegen die polnische
Gefahr wie gegen die Regierung wahrnehmen
sollten. Die Volksratsbewegung schuf, von
den einzelnen kleinen und kleinsten örtlichen
Kreisen angefangen, das, was im November
in die Brüche zu gehen drohte, nämlich das
Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen
als Deutsche ohne Unterschied der Partei
und ohne Berücksichtigung der Parteiinteressen.
Nicht Regierungsvertreter, nicht Parteien,
nicht Arbeiter- und Soldatenräte, auch nicht
Parlamentarier haben bis jetzt die Ostmark
vor dem schlimmsten gerettet, sondern die
deutsche Bevölkerung hat sich davor durch
eigene Kraft bewahrt, durch eigene Führer,
die Volksrüte. In Posen, Westpreußen und
Oberschlesien umfaßt die Vulksratsbewegung
eine jede Provinz einende Organisation.
Ostpreußen, das sich bis jetzt abseits von der
großen Gefahr dünkte, fängt nunmehr an,
sich auf sich selbst zu besinnen.
Nun ist unlängst bei einer Besprechung
von Persönlichkeiten in Danzig der Plan zur
Ausführung gestellt worden, die einzelnen
bisher nur in sich geschlossenen Provinzen
durch Schaffung einer Gesamivertretung zu
einem Zusammenschluß als Ostmark zu einen.
Zunächst also als Borstufe sollte dies durch
einen Zusammenschluß der ostmärkischen Par¬
lamentarier erfolgen. An sich wurde dieser
Beschluß in der Ostmark freudig begrüßt,
jedoch nur als Anfang der Ausführung dessen,
was nottut. Die Konferenz der Parlamen¬
tarier ist nnr als Symptom des vorhandenen
Einigungswillens anzusehen, nicht als seine
endgüliigs Verwirklichung. Was zurzeit bitter
nottut, ist eine tatsächliche „Zusammenfassung
aller Kräfte, die heute in der Ostmark für
die bedrohten Bezirke und für das bedrohte
Deutschtum tätig sind". Eine derartige Zu¬
sammenfassung aller Kräfte bildet eine Kon¬
ferenz allein von Parlamentariern nicht, sie
mußte durch die Führer der Volksrats-
bewegung, durch selbstgewählte Vertreter der
Volksräte ergänzt und damit auf eine Grund¬
lage gestellt werden, die ihr das restlose Ver¬
trauen der gesamten Bevölkerung ohne Unter¬
schied der Parteien sichert. Denn Parteien
und Parteihader gibt eS leider auch hier
genug, und Gegensätze werden sich auch bei
einer Parlamentarischen Zusammenkunft von
Parteiführern bemerkbar machen. Auch die
Volksratsbewegnug hat selbstverständlich ihre
Gegner, namentlich von der ganz linken
Seite, aber sie ist stärker als jede Partei,
denn ihr fehlen in ihren einzelnen Organen
die Gegensätze, die schon heute z. B. die den
sozialoemokralischen Parteien ungehörigen
Arbeiterräte eines Ortes von denen anderer
trennen.
Unser gefährlichster Feind ist nicht der
Pole, das ist vielmehr unsere innere Zer¬
rissenheit. Niemals ist sie in ihren unmittel¬
baren Folgen bedrohlicher als hier in der
Ostmark, wo es handgreiflich um das Ganze,
um unsere Existenz als Volk geht. Diese
Gegensätze zu überbrücken, ist das vornehmste
Ziel der Volksratsbewegung und aus diesen-
Grunde muß ihr unmittelbarer Anteil an
der Leitung gegeben werden.
Der erste Schritt zur Einigung der Ost¬
mark ist durch den Zusammentritt der
Abgeordneten geschehen, hoffen wir, daß
der zweite und entscheidende bald folgen
wird.
Eine gewaltige Volkskundgelumg in
Grnndcnz lösten die unerhörten Friedens«
bedingungen aus, die ein haßerfüllter Feind
dem deutschen Volke diktiert. T-otz aller
Ungewißheit über das Schicksal der Provinz
Westpccußen lasten mit ungeheurer Wucht
die Zeitereignisse auf allen Gemütern, und
der Gedanke, daß rei« deutsche Gebiete durch
einen Federstrich zu Polen geschlagen werden
sollen, zeitigt eine Empörung und eine Ent¬
schlossenheit, die dem deutschen Volke immer
zu eigen war, wenn es galt, fremdes Joch
abzuschütteln. Mit Begeisterung war deshalb
die Einwohnerschaft der Stadt Graudenz am
gestrigen Dienstag der Aufforderung des
Deutschen Volksrates gefolgt, um durch eine
Massenkundgebung Protest gegen jede Ver¬
sklavung der Ostmark zu erheben und das
Bekenntnis abzulegen, daß sie treu zum
Deutschtum halten und daß sie fordere, daß
das, was bisher deutsch war, auch deutsch
bleiben muß! Heute freilich ist die bange
Ungewißheit schon zur Tatsache geworden:
die Feinde verlangen, daß die fast rein
deutsche Stadt Graudenz ohne Volksab¬
stimmung ohne weiteres an Polen abgetreten
Werden kollll Erfreulich ist, daß dieses un¬
erhörte Verbrechen alle deutschen Parteien
wieder zu einer kompakten Masse zusammen¬
schmiedet; auch die heutige Zeit kennt nur
Deutsche und keine Parteien mehrt Wir
wollen nichts Unbilliges, wir wollen Gerechtig¬
keit, wir wollen deutsch bleiben, wie es uns
nach der Bevölkerungszahl zukommt I
Und dieser eine Gedanke beseelte gestern
die Tausende und Abertausende von Männern
in Graudenz, die im festen Tritt mit guter
Ordnung hinauszogen zum Exerzierplatz am
„Schwan", wo sie von einer vieltausend¬
köpfigen Menge erwartet wurden; keine
wehenden Fahnen, keine schreienden Plakate,
keine äußeren Zeichen wurden mitgeführt,
die Truppen, zum Teil im Stahlhelm, und
die Männer im Bürgerrock marschierten in
tiefem Ernst zur Versammlungsstätte. Zum
ersten Male trat auch die Stadtwehr geschlossen
und öffentlich auf und marschierte von drei
verschiedenen Punkten mit weit über 1000
Mann im Zuge. Eine ungeheure Menge'
hatte sich dort auf der weiten Fläche am
„Schwan" zusammengefunden, etwa 16 000
Männer und Frauen erhoben Protest gegen
einen Gewaltfrieden, gegen eine Abtretung
der Ostmark an die Polen. Diesmal dürfte
sich das Graudenzer Polenblatt kaum zu der
hämischen Bemerkung aufschwingen, daß bei
den „Graudenzer Manifestationen" immer
nur die klägliche Zahl von 3000 Beteiligten
aufzubringen sei. Die Einmütigkeit mag
aber den großpolnischen Machthabern weiter¬
hin bewiesen haben, daß das deutsche Volk
im Osten des Reiches kein lebloses Element
ist, das sich gleich einer Ware verschachern
läßt, sondern daß es sich um Männer und
Frauen handelt die alles daranzusetzen
gewillt sind, ihr Deutschtum zu verteidigen.
Während einige Flieger die Versammlung
überkreisten und Flugblätter abwarfen, sprach
Assessor Busse von einem Automobil mit weit¬
hinschallender Stimme:
Deutsche Männer, deutsche Frauen I
Die Stunde der Not ist da. Mit tausend
eisigen Fangarmen greift das Scheusal des
Völkerhasses und der unersättlichen Rachgier
an das deutsche Herz. Ausgesogen und aus¬
gepreßt sollen wir werden bis zum letzten
Tropfen Blut, vernichtet und ausgetilgt aus
dem Buche der Geschichte. Statt des Friedens
des Rechts und der Freiheit soll uns beschert
sein ein Frieden der Gewalt und der Knecht¬
schaft. Aus den Millionen deutscher Herzen
kommt darauf heute die einzig mögliche
Antwort, ein entschlossenes, unbeugsames
NeinI Allerorten erhebt sich der deutsche
Wille zum Recht, überall ertönt der Schrei
nach Gerechtigkeit. Vergessen ist aller Hader
der Parteien, verraucht ist die Streitlust der
letzten Monate. Einig und geschlossen steht
das Volk hinter seiner von ihm selbst er¬
wählten Negierung.
Besonders schwer und schier unfaßbar
hart ist das Schicksal, das uns Deutschen
der Ostmark zugedacht ist. Wir sollen auf¬
hören, zum Deutschen Reiche zu gehören,
unser lieber schöner Heimatboden, auf dem
jede Ackerfläche und jeder Pflasterstein.von
deutschem Geiste und deutschen: Wesen zeugt,
den jahrhundertlange treue deutsche Arbeit
zu herrlicher deutscher Blüte gebracht hat,
der ein unersetzlicher Teil unseres geliebten
Vaterlandes ist — er soll für immer der
Beutegier und der Ländersucht des slawischen
Nachbarvolkes zum Opfer fallen, mit seinem
majestätischen Strom, seinen alten Ordens¬
burgen, seinen gepflegten Städten, seinen
heimischen Dörfern. Das kann nicht sein,
das darf nicht sein. Mit banger Sorge
blicken wir auf jene Männer, die das Ver¬
trauen des Volkes auf die verantwortungs¬
vollste Stelle gehoben hat, und aus tiefstem
Herzen dringt heute unser Ruf an ihr Ohr:
Verratet uns nicht an das fremde Volk, gebt
uns nicht preis! Wir halten dem übrigen
Deutschland die Treue, wir verlangen und
erwarten auch, daß uns das Deutsche Reich
nicht im Stiche lüßtl
Nicht unbesonnenes Handeln fordern wir,
nicht tollkühnes, aussichtsloses und verderb¬
liches Wagnis, wohl aber fordern wir, daß
die Negierung handle nach jenem Dichter¬
wort: Wir wollen sein ein einzig Volk von
Brüdern, in keiner Not uns trennen und
GefahrI Deutschland hat sich verpflichtet
den Frieden zu schließen auf der Grundlage
jener 14 Punkts des Präsidenten der Ver¬
einigten Staaten von Amerika. Dieselbe
Verpflichtung aber haben auch unsere Gegner
unzweideutig auf sich genommen. Ein un°
glaublicher Wortbruch wäre eS, jene bindende
Zusage nicht einzulösen. So bringen wir
denn unsere Erwartungen in folgender Ent¬
schließung zum Ausdruck, die ich anzunehmen
bitte:
Die gesamte deutsche Bevölkerung der
Stadt Graudenz lehnt die jetzigen Friedens-
bedingungen ab und verlangt einen Frieden
auf Grund der 14 Wilsonschcn Punkte, einen
Frieden der Selbstbestimmung und des Rechtes.
Wir erwarten mit Bestimmtheit, daß die
Negierung unter keinen Umständen die deutsche
Ostmark Preisgibt. Deutscher Vvlksrat,
Mit Begeisterung gab die Versammlung
die Zustimmung, daß diese Resolution an
die Neichsregierung, die Preußische Negierung,
die Nationalversammlung, das Abgeordneten¬
haus und die Friedensdelegation abgesandt
Wird.
Bräusend stieg das „Jak" des Einver¬
ständnisses, und lebhafter Beifall dankte dem
Redner. Dann ordnete sich der gewaltige
Zug, in den die Kapellen der Graudenzer
Truppenteile eingetreten waren. Vor dem
Gouvernementsgcbäude angekommen, begab
sich eine Deputation, bestehend aus dem
Vorsitzenden des Deutschen Volksrates, Lehrer
Fritz, ferner Direktor Thilo Kieser, Ingenieur
Wittmeyer, ArbeiterratHankuudF.an Lautsch,
zu den: Gouverneur, Exzellenz von Mala-
chowski, und trug ihm die Wünsche der
Graudenzer Einwohnerschaft vor. Aus dem
ersten Stockwerk hielt der Gouverneur so¬
dann eine Ansprache, in der er ausführte:
Ihr habt alle die schmachvollen und
schamlosen Bedingungen gelesen, die die
Entente uns, dem deutschen Volke, anzubieten
gewagt hat. Große Stücke von Deutschland,
ja die besten sollen losgerissen werden. Fünf
Millionen Deutscher sollen anderen Staaten
als Kulturdünger einverleibt, die übrigen
Arbeiter, ja Sklaven der Völker der Entente
werden. Der Preußische Ministerpräsident
hat im Namen der übrigen Bundesstaaten
erklärt: ..Lieber tot als Sklav." Das muß
unsere Parole jetzt seinl Nachdem der
Ministerpräsident Scheidemann erklärt hat,
daß einen derartigen Frieden die Negierung
nie unterschreiben würde, und nachdem das
ganze deutsche Voll gegen diesen Schmach¬
frieden protestiert hat, ist es notwendig, der
Regierung zuzurufen, daß wir alle Mann
für Mann bereit sind, alles, unser Gut und
Blut, Ehre und Leben daranzusetzen, um das
geliebte Vaterland zu retten. Wir müssen
uns vorbereiten, auf den Ruf der Regierung
zu den Waffen zu greifen! Aller Parlei-
hnder muß schwinden, wir müssen sein ein
einzig Volk von Brüdern. Jeder, der eine
Waffe tragen kann, melde sich zu den Frei¬
willigen-Verbänden, und wer nicht mehr
ganz kämpfen kann, melde sich zur Stadt¬
wehr oder zu den Reserve-Grenzschutz-Kom-
Pagnien. Und Ihr, Ihr deutschen Frauen,
Euch rufe ich zu, die Wankelmütigen aufzu¬
rütteln zum einigen Kampf gegen Deutsch¬
lands Feinde. Dem heiligen Deutschland
gilt unser Ruf. Deutschland sonst
Jubelnd wurde in das Hoch eingestimmt
und spontan erscholl der Gesang des deutschen
Liedes „Deutschland, Deutschland über alles!"
Dann bewegte sich der Zug nach dem Rat¬
haus, wo die Deputation bei dem ersten
Bürgermeister den Willen der Einwohner¬
schaft kundgab.
Auf der Nathaustreppe hieltErsterBürger-
meister Dr, Peters eine Ansprache um die
Zugteilnehmer, in der er nach einem Hin¬
weis auf die Empörung, die auch die deutsche
Bürgerschaft von Graudenz ob der uns zu¬
gemuteten schmachvollen Friedensbedingungen
ergriffen habe, das, Gelöbnis ablegte, stets
treu zur deutschen Stadt Graudenz hallen
zu wollen.
Erster Bürgermeister Dr. Peters schloß
dann seine Ansprache mit einem begeistert
aufgenommenen dreifachen Hoch auf das
deutsche Vaterland, die deutsche Provinz Wesi-
prcußen und die deutsche Slave Graudenz.
Damit schloß die gewaltige, von großem
Ernst getragene Volkskundgebung.
Uber 11 000 Proteste aus der Ostmark
sind bisher an die Reichs- bezw. Staats-
regierung gelangt. Und die Kundgebungen
gehen weiter. Zahllos sind auch die Briefe,
die von einzelnen aus dem bedrohten Ge¬
biete und von Vertretern ganz entlegener
Orte bei der deutschen Vereinigung ein¬
treffen. Sie sprechen eine erschütternde
Sprache; es ist der Ruf um Hilfe vor dem
Untergehen im polnischen Sumpf, Nur
wenige Beispiele aus diesen Zuschriften. Aus
Erika: „In unserem Bezirk ist alles deutsch,
und alle wollen wir Deutsche bleiben, wir
wissen alle, was es heißt, unter polnische
Herrschaft kommen. Helft uns, daß dies ver¬
hindert wirbt" Aus Klein Wodet: „Einen
Gewaltfrieden, wie die Entente uns ihn geben
will, dürfen wir nicht unterschreiben. Geht
es nicht anders, so greifen auch wir zur
Waffe, um unser teures Heimatland zu ver¬
teidigen." Aus Sectors: ,>Nur zwei kleine
Polnische Büdner und eine Polnische Arbeiter¬
familie wohnen hier. Wir alle sind fest ent¬
schlossen, unser Leben für das Deutschtum zu
opfern. Lieber tot, als polnisch I Die Stim¬
mung ist wieder hoffnungsvoll."
Einer Reihe von Briefen entnehmen wir
ferner, daß die anfangs verzweifelte Stimmung
der Deutschen nach den Versammlungen der
Deutschen Volksräte und nach ihren auf¬
munternden Kundgebungen wieder hoffnungs-
freudig und zuversichtlich geworden ist.
Aus der großen Zahl der letzten Kund¬
gebungen seien noch folgende herausgegriffen:
Protest der Frauen und Mädchen.
Die deutschen Frauen und Mädchen von
Unkel n»d Umgegend, zusammengeschlossen
im Deutschen Frauenrat, dem Vaterländischen
Frauenverein und der Frauenhilfe, erheben
flammenden Einspruch gegen den Gewalt-
fmden, welcher unserem Volke aufgezwungen
werden soll.
Unsere Ostmark, deren Söhne das Polen¬
reich vom russischen Joch befreit haben, und
die nun zum Dank dafür vom Deutschen
Reich losgerissen und unter Polnische Herr¬
schaft kommen soll, ist von unseren Vor¬
fahren in fast isojähriger Arbeit zu der
hohen Blüte gebracht, in der sie sich jetzt be¬
findet, mit ihrem Schweiß haben sie den
Boden, gedüngt, auf dem wir leben, und der
muß deshalb deutsch bleiben. Wir Mütter,
Frauen und Schwestern der im jährigen
Kampf gefallener Helden wollen nach den
blutenden Herzens gebrachten Opfern keinen
Frieden, der uns außer Hab und Gut noch
die Ehre nimmt und uns zu Sklaven macht.
Nur für einen Wilsonfrieden!
An Ministerpräsidenten Scheidemann ging
folgendes Telegramm:
Der Deutsche Volksrat Falkenburg-Maxtnl
Protestiert energisch dagegen, daß deutsche
Arbeit und Kultur, deutsches Gut und Blut
dem fanatischen Polonismus ausgeliefert
werden soll. Wir waren deutsch und wollen
es immer bleiben.
An den Grafen Brockdorff-Rantzau:
Der Deutsche Aolksrat Falkenburg-Mnx-
tal erhebt scharfen Protest gegen die Annahme
des Gewaltfriedens, der nur aus Nachsucht
und Habgier diktiert uns für ewige Zeit zu
einem heimatlosen Bettelvolk machen will.
Wir wollen nicht zu Hörigen des Slawen¬
tums werden und stellen uns treu hinter die
Regierung. Nur einem Friedensvertrag, auf¬
gebaut auf Wilsons 14 Punkte, werden wir
zustimmen.
Bekenntnis der Treue.
Uuter dem Vorsitz des Lehrers Müller
fand in Erlau (Kreis Wirsitz) eine dichtge¬
füllte Versammlung statt, in der Herr G. Ku߬
mann aus Bromberg gegen den Gewalt¬
frieden sprach. An die zuständigen Stellen
ging nachstehende, einstimmig gefaßte Ent¬
schließung:
Wir Bewohner des deutschen Ortes Erlau
und der Umgegend danken der Reichs- und
Staatsregierung sür ihre Zusicherung, daß
der Schmachfrieden der Entente unannehm¬
bar ist und stehen geschlossen hinter ihr, wenn
die Verhandlungen abgebrochen werden und
die schwersten Entschlüsse zur Erzwingung
eines Rechtsfriedens gefaßt werden müssen.
Die Negierung darf sich auf uns verlassen,
wie wir uns auf ihr Wort verlassen. Jeden-
soll uns nichts und niemand davon abhalten,
praktisch unser Selbstbestimmungsrecht aus¬
zuüben — auch mit der Waffe in der Hand.
Die Bürgerwehr schließt sich diesem Be¬
kenntnis rückhaltlos an. Wir sind deutsch
und wollen unter allen Umständen als freie
Bürger im deutschen Mutterlande bleiben.
Knechten lassen wir uns nichtI"
„Wiarus Polski" (Bochum) Ur, 111 vom
16. Mai.
Ein polnisch-litauisches Bündnis? Die
Litauer haben in Paris den Vertretern Polens
die Unterzeichnung eines Bündnisses gegen
die Bolschowisten vorgeschlagen, wenn Polen
die litauische Republik anerkenne, welche
Kowno, Grodno, Wilna, einen Teil von
Suwnlki und Umgegend umfaßt.
von den Polen besetzten Gebiete sowie in
Neutomischel, Gnesen, Hohensalza, Wronke,
Mogilno, Schubin werden laut Mitteilung
der Zeitung vom 1. August neu verpachtet
und zwar in Polnische Hände.
Die Bekanntmachung fordert die Reflek¬
tanten auf, Offerten an die Administrations-
verwnltung in Posen, Kurfürstonring 4, zu
schicken.
Die feierliche Eröffnung der Posener
Universität hat heute am Mittwoch stattge¬
funden. Die Feier begann um Uhr
vormittags mit einer feierlichen Andacht im
Dom, die von dem Erzbischof zelebriert
wurde. Während der heiligen Messe hat der
Prälat Lukowski eine Predigt gehalten. Nach
dein Gottesdienst hat ein imposanter Umzug
aus dem Dome nach dem „Collegium Majus"
(dem früheren Schlosse) stattgefunden, wo
nach der Einweihung des Gebäudes durch
den Erzbischof die Eröffnungsfeier vor sich
ging. Infolge dieser Feierlichkeit ist in
unserer Stadt geflaggt worden.
Der Beschluß des Landtages in Sache»
Danzigs. Der Landtag hat gestern ein¬
stimmig folgenden Antrag des Herrn Kor-
fanty angenommen:
„Der Landtag stellt fest, dasz als un¬
widerrufliche Bedingung der Unabhängigkeit
und des Fortschritts Polens nicht nur der
Besitz Danzigs, sondern auch des ganzen
Gebietes angesehen wird, durch welches die
Warschau-Danziger Bahn geht, und zwar
auf der gradesten Linie Warschau—Mlawa—
Danzig. Die Rückgabe dieses Landes um
Polen verlangt nicht nur die historische Ge¬
rechtigkeit, sondern auch die Feststellung eines
dauernden Friedens, welcher auf der Völker¬
liga begründet ist."
Man hat beschlossen, diesen Entschluß
telegraphisch nach Paris zu schicken.
Um die Politik der Logik «ud der Tat.
Unter diesem Titel bringt die Zeitung einen
Artikel des Redakteurs des „Kurjer Cresto-
chonski" in welchem dieser u. a. sagt:
Polen ist endlich das Los beschieden
worden, zu einem ganzen wieder zusammen¬
gekittet zu werden. Der Feind hält sich noch
konvulsivisch in unseren Grenzmarken . .. Die
Kraft der Logik und der historischen Konse¬
quenzen muß jedoch das angefangene zu
Ende führen, dem auferwecklen Volke ist es
nicht leicht ein Schweigen aufzuerlegen. Der
Instinkt der Selbstverteidigung wird ihm
nötigenfalls erlauben/ sich zu Heldentaten
zum Schutz des Lebens aufzuraffen. . .
Obgleich die Sache sich von außen so dar¬
stellt, so macht uns doch der Gedanke traurig,
daß die Ausladung der inneren Energie
unseres Lebens sich nicht an die Linie der
Logik und der entscheidenden Tat hält. Ob¬
gleich wir äußerlich viel starken Willen und
Energie zeigen, so sind wir doch innerlich
schwach und befinden uns in einem gewissen
Chaos, welches uns nicht erlaubt, eine starke
Hand zu bilden, eiserne Konsequenzen und
entschlossene Willenskraft auszudrücken.
Ich denke dabei an die heutige sittliche
Auflösung auf dem Gebiete des allgemeinen
Gedankens, sow^e in dem gegenseitigen Ver-
Hältnisse der Leute unter sich, serner an die
Lockerung des Gerechtigkeit- und Nechts-
gefühls in allen Kreisen und Sphären un¬
serer Allgemeinheit, ein den Mangel ein¬
mütiger Tätigkeit zwischen den verschiedenen
polnischen Gebieten ... an die Korruption
des Beamtenstandes von oben bis nach unten
und an die Anämie der jetzigen Regierung,
welche sich fürchtet, oder es nicht versteht, die
Strömungen zu beherrschen, welche die Existenz
des noch jungen Stnatsorgcmismus bedrohen.
Diesen Zustand der Dinge muß man der
Geschwindigkeit zuschreiben, mit welcher sich
das Leben unseres Vaterlandes bewegt . . .
wir hatten keine Zeit, uns borzubereiten,
uns zu sammeln. Wir haben aus den poli¬
tischen Kämpfen und Leiden keine Lehren
gezogen, die uns jetzt erlauben würden, ent¬
sprechende Konsequenzen zu ziehen. . .
Jedoch kann dieser Zustand nicht so lange
dauern, mit Rücksicht auf die Zukunft und
auf die Gefahren der Jetztzeit, die uns von
allen Seiten drohen.
Wir müssen uns aufraffen, um die Kraft
unseres Willens zum Ausdruck zu bringen,
um alle Energie anzusammeln, deren wir
fähig sind, um uns an die Richtschnur der
Politik und der Tat zu halten. . .
Die Zeitung bringt unter dem Titel)
„Weitere Beschreibung der Reise unserer
Haller-Toldaten" u. a. folgendes: Aus Ka-
kolowo reisen wir um 9 Uhr weiter durch
Kobylin, Krotoschin und Ostrowo, von wo
wir nach einem einstündigem Aufenthalte
herzlichst Abschied nehmen, losfahren und am
nächsten Morgen in Kongreß-Polen erwachen.
Hier ist noch größere Armut wie in Sachsen.
Die Leute sind teilnahmslos, begrüßen uns
gar nicht. Lodz, eine schmutzige Stadt, Armut
und Bolschewismus. Einige Stunden lang
unterhalte ich mich mit Pseudoarbeitern:
ihre Anschauungen sind unklar, sie wissen
selbst nicht, was sie wollen. Sie verfluchen
die Juden, und Polen ist ihnen gleichgültig.
Der Einfluß der Moskowiter — Nihilismus
— ist das Gift, welches vielleicht noch lange
den Körper des Volkes mit seiner sprich¬
wörtlichen „sklavischen Uuproduktivitüt"
quälen wird, die allein die Eigenschaft des
unkultivierten Moskowiters ist. Nach War¬
schau kommen wir.mittags, derselbe nieder¬
schmetternde Eindruck: Kälte und Gleich¬
gültigkeit. Man hat uns in Ostrowo zu
Mitternacht bedeutend herzlicher bewill¬
kommnet, als in der Residenz Polens zur
Mittagszeit: Und das sind doch die ersten
Transporte der ersten Division. Ich bin ge¬
spannt, wie sie die nachfolgenden aufnehmen
werden. — — Wir sollten nach Motum
reisen, indessen fahren wir nach Demblin,
wo wir zu Mitternacht ankamen. Dann
Schlaf und Wecken schon in Chota. Wir
haben hier schon einen Teil unserer Truppen
angetroffen. Die Juden, waS hier gleich¬
bedeutend ist mit den Bolschewisten, von
denen 75 Prozent in der Stadt sind, wollten
sie nicht hineinlassen und haben sich mit be¬
waffneter Hand widersetzt. Man mußte über¬
zeugende Argumente anwenden und es ging,
obgleich es sich ohne Tote nicht machen ließ.
Wir sind jetzt aber in die traurigsten Ge¬
genden gekommen, in die Sümpfe. Zwar
sind es keine Sümpfe aus der Umgegend
von Pinsk, aber ähnliche. Abends am 24.
kamen wir in Kowoel an, wo wir auch vor¬
läufig verbleiben. Hier ist es genau so wie
in Chelm: ein Pole auf 18 Juden: Es ist
ganz schwarz davon! Und mit welchen
Augen sie uns und unsere Kanonen messen I
Das ist dabei nur die erste Batterie und alle
sechs Stunden kommt eine neue, bis jetzt
find schon 16 angekommen. Das Judentum
steckt seine Nase überall hinein und wie sie
herumquatschenI Das arbeitet den gcmzenTag
gar nicht, kocht nicht und ißt wahrscheinlich
auch nichts weiter außer Zwiebeln. Unsere
Pferde sind der Gegenstand ihrer größten
Entzückung — und man muß nicht nur zur
Nacht-, sondern auch zur Tageszeit doppelte
Wachen hinstellen. Ebenso bewundern sie
die Uniformen, obgleich dies unsere alten
Uniformen aus Frankreich find und jeder
von uns drei ganz neue Uniformen im
Magazin besitzt. Sie nennen uns „reiches
Militär", denn wir unterscheiden uns sehr
von unseren Vorgängern, den verarmten
Legionären und Geld hat auch jeder von
uns; allerdings zählt ein Frank ganze vier
Kronen. Wenn man mit Kronen zahlt, Sö
ist es hier sehr teuer, wenn man aber mit
Franks zahlt, so ist es nicht viel teurer wie
in Frankreich. Vorläufig verbleiben wir in
Kowel, ob für lange ist unbekannt, denn die
Bolschewisten find auf die Nachricht, daß
unser Milctär ankommt, gleich um 25 Kilo¬
meter zurückgegangen.
Der Untergang Deutschlands.
Die in Versailles der deutschen Abordnung
vorgelegten Friedensbedingungen sind für
Deutschland, welches bis zum letzten Augen¬
blick solche angenehmen Hoffnungen auf
Wilson hatte und jetzt so schändlich enttäuscht
worden ist, so schwer schmerzhaft und er¬
niedrigend, daß sie einemUntergange Deutsch¬
lands gleichen.
Am 8., einem schönen sonnigen Mai¬
morgen nach einigen kühlen und mürrischen
Tagen, verbreiteten sich Gerüchte über die
schweren Bedingungen in Berlin; in jenem
Berlin, welches sich gar nicht vergegenwärtigt,
was Deutschland trifft. Die Bevölkerung
dieser mächtigen und bis unlängst reichen
Preußischen und deutschen Residenz strömte
ans die Straßen, um sich an den Sonnen¬
strahlen zu erwärmen, um wie gewöhnlich
die bescheidenen Waren und Lebensmittel¬
artikel anzusehen, die mit hohen Preisen
ausgezeichnet find, füllte die Kaffeehäuser
und Straßen und kaufte auch wie gewöhnlich
von den Straßenhändlern die Zeitungen,
las sie, blieb aber teilnahmslos.
Kein Auflauf, kein Protest von elementarer
GewaltI Das Volk ist erstarrt ... zu Tode
gequält durch einen mehrjährigen Krieg,
erschreckt durch die blutigen Unruhen, welche
erst unlängst stattgefunden huben, aus¬
gehungert, mißtrauisch, weil so lange belogen,
verabschiedet es nicht schmerzerfüllt den
früheren Nahm und Macht der Waffen, das
Herz bricht ihm nicht, wo das Vaterland in
einen tiefen schwarzen Abgrund stürzt.
Wir Polen, obgleich unsere Gesichter
strahlen über die Nachricht, daß auf den
Trümmern der früheren Mächte ein wieder¬
geborenes und verjüngtes Polen aufersteht,
welches wir ersehnten und in der Tiefe
unserer Herzen bewahrten während aller
Jahre bürgerlichen Elends und politischen
Sklaventums, wir Polen, die wir aus Er¬
fahrung wissen, was es bedeutet, ein Volk
in Politische und wirtschaftliche Fesseln zu
legen, wir Polen wollen die Tragödie
Deutschlands trotz allen Unrechts verstehen,
welches wir von denen ertragen haben, die
ein ähnliches, vielleicht schlechteres Los als
das unsrige zu erwarten haben. . . .
Wo ist die stolze Macht geblieben, die
nicht aufhörte zu drohen und mit den Waffen
zu klirren, die Schwächere bedrückte, die sich
ein Lager auf fremden Federn bettete, auf
fremden Ländereien und in fremdem Hause?
Wo ist denn die Macht, die gleich einem
Sturm über die zahlreichen großen Gebiete
Frankreichs und Flanderns unseres lieben
Polens und desNuthenenlandes. des Estlandes,
Ukraine und der slavischen Ländereien des
Balkans gegangen ist? Wo sind die schlag¬
fertigen und sklavenmäßig disziplinierten,
zahlreichen Armeen, wo sind die prachtvollen
Höfe, wo ist der Glanz der so zahlreichen
Kronen?
Wo ist der Monarch, der zu Anfang des
Krieges rief, daß das eigene Volk zu nicht
dagewesenen Höhen des Glanzes und des
Reichtums führen und andere Völker zertreten
wird? Er ist schmählich ausgestoßen wie
andere, die weniger schuld als er, und er¬
wartet das Los, welches die Sieger ihm
noch vestimmen werden.
Nachrichten aus dem Königreich Pole».
Man schreibt uns: Bei Personen, die von
hier aus nach dem Königreich kommen,
machen die dortigen Verhältnisse anfangs
einen niederschmetternder Emoruck. Man
sieht große Ratlosigkeit und daraus Er¬
scheinungen der Desorganisation. Die Be¬
völkerung ist an Gehorsam nicht gewöhnt,
der Administrator fehlen erfahrene Vollzugs¬
organe, alle sehen das Schlechte und wünschen
seine baldige Besserung. „Mögen nur die
Leute aus dem Posenschen zu uns kommen,
sie werden bald Ordnung machen", sagte
mir ein Kaufmann und ein gerade an¬
wesender Zollbeamter fügte hinzu: „Vielleicht
wird es auch uns selbst inzwischen gelingen,
eine Gesundung durchzuführen."
Und diese Gesundung ist sehr notwendig.
Der Schleichhandel verbreitet sich im großen
Maßstabe und in manchen Ämtern herrscht
das Bestechungswesen. Wo man aber nur
von solchen Angelegenheiten gehört hat, dort
war immer ein Jude im Spiel, oder eine
ganze Baude Juden.
Aber vor allem die Armee, sie ist noch
nicht genügend bekleidet, sowie mit Waffen
und Munition versehen. Der Geist aber,
der darin herrscht ist ausgezeichnet. Einer
der Offiziere erzählt, daß noch kein Beispiel
einer Gehorsamsverweigerung vorgekommen
sei. Obgleich die bolschewistische Agitation
mittels Flugblätter in die Reihen der Sol-
daten dringen will, haben ihre Bemühungen
gar keinen Erfolg. Der Soldat ist stolz
über seine Siege, die er eben erst bei
Lemberg und Wilna errungen hat.
Hllller wird zu einem großen National¬
helden. Er ist in jedermanns Munde. Da¬
für verliert aber Piliudski an Sympathie
ungeachtet seiner letzten Kriegssrfolge....'..
Inzwischen steht man auch schon in der
Administration immer bessere Aspirationen.
Man beginnt den Kampf mit dem Schleich¬
handel. In den letzten Tagen wurden Re¬
visionen der Läden und jüdischen Lnger ver¬
anstaltet und eine Menge Lebensmittel, Tuch,
Tabak. Leder usw beschlagnahmt. Die ab¬
genommenen Waren sind sofort dem Militär
zur Verfügung gestellt worden.
Sie essen ganz weißes Brot ans Weizen¬
mehl. Von Zeit zu Zeit kommt auch Speck
und amerikanisches Schmalz an. Jetzt er¬
hofft man den Transport guten und billigen
Schuhwerks aus Amerika.
Alle leben in Erwartung großer hislvnscher
Ereignisse. Sie wissen, daß dem Volke eine
schwere vieljährige Arbeit bevorsteht, man
hört aber überall nur das eine: „Wir werden
durchhalten."
Deutschland vor der Entscheidung. Was
uns betrifft, so sind wir der Ansicht, daß die
Ostgrenzen Deutschlands zwar ungerecht sind,
aber nicht für Deutschland, sondern für Polen.
Der Friedensvertrag nimmt uns nämlich
solche Kreise ab, in denen wir noch zehn-
tausende von Landsleuten, reinpolnische
Dörfer und Kreise haben, die historisch immer
zu Polen gehörten. Weiter müssen in
Schlesien, welches sich immer Polnisch fühlt,
bei den Deutschen noch solche Kreise ver¬
bleiben wie der Shizower und der NanivS-
lowcr. Keine Trauer sollten die Deutschen
also verfügen, sondern sie sollten sich freuen,
daß sie nach diesem verbrecherischen Krieg,
welchen sie mit ihrem „heruntergeworfenen"
Wilhelm an der Spitze entfacht haben, von
der Hand der Gerechtigkeit nicht so getroffen
werden, wie es sein müßte. In Deutschland
melden sich verschiedene Stimmen. Was die
Deutschen machen werden, ob sie mit den
Friedensbedingungen einverstanden sein
werden oder nicht, ist noch nicht bekannt.
Wenn sie aber gleich den biblischen aus-
gestoßenen Engeln von Aufgeblasenheit und
Trotz aufgehetzt sich aufwiegeln sollten —
so würde das vielleicht sür uns nicht schlecht
sein. Denn dann würde man auch bei uns
Schwerter und Bajonette finden, um die
gegen die neu entstehende Ordnung der
Welt Aufgewiegelten zu zäumen, und würde
imstande sein auch diejenigen Landesieile
aus dem preußischen Joch zu erlösen, welche
die Friedenskonferenz noch außerhalb der
festgesetzten polnischen Grenzen läßt.
Das „Wohlwollen" der Entente für
Pole». Wer in den den Deutschen diktierten
Friedensbedingungen irgendwelches beson¬
dere Wohlwollen der Entente für das mit
ihr Verbündete Polen sehen will, würde es
umsonst suchen. Wir schrieben schon von
dem Uniecht, welches großen Gebieten unserer
Westmarken zugefügt wurde, worin wir eher
ein Wohlwollen für — den geschlagenen
deutschen Feind sehen müssen. Dasselbe be¬
trifft die Weichselmüudung, Danzig, den
Teil Polens, um welchen es jedem Polen am
meisten ging.
Man hat dort nicht eine „freie Stadt",
sondern einen ganzen freien Staat gebildet,
in dem das Deutschtum unteilbar regieren
wird. Diese Angelegenheit bespricht Herr Ch.
im Krakauer „Glos Narvdu" und sagt u. a.
folgendes: Könnten die Richter der Entente
uns dieses für uns unschätzbare Stückchen
Erde nicht abgeben, welches doch seit 10V0
Jahren uns gehört, welches der Preußische
Bandit uns gestohlen und dessen einheimische
Bevölkerung er ausgerottet und national
vergewaltigt oder nach seinen rheinischen
Bergwerken und Fabriken Hinansgetrieben
halt Um eine Handvoll Deutscher, von
denen die Hälfte slavische Namen trägt, —
die sichtbaren Spuren polnischer Herkunft —
nicht der Polnischen Macht zu übergebe», hat
in?.n das Interesse eines 25 Millionen zäh¬
lenden Volkes geopfert . . .
Warum hat man also das Interesse deS
Feindes höher gestellt als das unsrige? Wo
ist die Freundschaft sür Polen? Was könnte
die Entente, indem sie den Preußischen Im¬
perialismus liquidiert,', im Beihüllnis zu
uns noch weniger tun, ohne die Schlagworte
dem Spotte auszuliefern, welche vier Jahre
lang von den großen Männern der Entente
ausgesprochen wurden? Wir können doch
uicht darum beerdigt werden wie zuzeiten
Katharinas in diesem Europa, welches von
Wilson verwaltet wird. Wir beginnen ein
neues Stnatsleben unter folgenden Bedin¬
gungen: Die Weichsel wird im wichtigsten
Teil ihres Laufes nicht über Polnisches
Territorium fließen, denn auf ihr rechtes
Ufer wird sich Preußen stützen und ihre
Mündung wird überhaupt außerhalb des
Umfanges unserer Staatsgrenzen liegen. DaS
Recht des freien Gebrauches der Weichsel
seitens der Deutschen aus Ostpreußen bildet
auf dieser polnischen Arterie ein Konduminium
mit dem Feind. An der Mündung in die
Ostsee Pflanzt sich an der wichtigsten oder
besser einzig und allein für uns wichtigen
Stelle der Danziger Staat auf, der faktisch
sür Polen unabhängig ist und von den
Deutschen regiert wird. Durch einen schmalen
polnischen Korridor, welcher nach Putzig führt,
haben die Preußen linker- und die Preußen
rechterseits internationales freies „Transitum"
wie im eigenen Hause. Das genügt, um
sich als — Bundesgenosse der siegreichen
Entente zu fühlen.
Wir erwarten, daß der Kongreß Polen
einen Nahmen für die Arbeit geben wird.
Wir haben eine Plattform zum kämpfen
erobert. Denn wir werden kämpfen um
den tatsächlichen Austritt ins Meer, wie zu-
zeiteu der polnischen Könige, bis wir siegen.
In Sachen der Fußwanderungen. Seine
Exzellenz der Erzbischof und Metropolit hat
aus dem Ministerium für öffentliche Gesund¬
heitspflege folgenden Aufruf erhalten: ,
„Seit dem Zurücktreten der Olkupations-
behörden im Süden und Osten unseres
Landes verbreiten sich die Epidemien in
diesen Gegenden infolge furchtbarer Lebens¬
mittel- und sanitären Verhältnisse in schreck¬
lichster Weise. Die Ländereien am Bug sind
vom Flecktyphus heimgesucht. In manchen
Orten verfallen bis 60 Prozent der Be¬
völkerung dieser Krankheit, eS sind auch schon
bereits die Pocken erschienen, im Sommer
ist die Ruhr, vielleicht auch die Cholera zu
erwarten.
Das Ministerium für öffentlsche Gesund¬
heitspflege, in Sorge für das Wohlergehen
des ganzen Landes, macht alle möglichen
Anstrengungen, um die Epidemie zu lokali¬
sieren und sie durch Reisende nicht über¬
tragen zu lassen uach Bezirken, welche noch
nicht so stark ergriffen worden sind.
Angesichts des bevorstehenden Frühlings,
wenn ein allgemeiner Verkehr der Fu߬
wanderer nach der Jasna Gora beginnt, der
seitens der Okkupanten 4 Jahre lang unter¬
drückt wurde, droht dem Lande eine furcht¬
bare Gefahr der Verbreitung dieser er¬
schreckenden Krankheit bis zum Umfange der
mittelalterlichen Epidemien.
Um möglichst gute sanitäre Zustände für
die Fußwnndsrer zu schaffen, wird in Czen-
stochau auf Veranlassung des Ministeriunis
für öffentliche Gesundheitspflege und unier
Mitwirkung des Priors von Jnsna Gora ein
Komitee zum Schutze der Wanderer errichtet.
Das Ministerium hofft, daß im nächsten Jahre
die Fußwanderungen ohne Befürchtung
mnssenweiser Übertragung der Epidemie
werden stattfinden können. '
Es wäre erwünscht, daß auch die Feier
des Jubiläumsjahres ans der Jasna Gora
bis zu diesem Zeitpunkte verlegt werde.
Am 21. März d. I. fand in Czenstochau
eine Sitzung der Vertreter der Geistlichkeit
mit dem Weihbischof und mit dem Prior an
der Spitze sowie unter Anteilnahme der
medizinischen Gesellschaft, der Kreis- und
städtischen Behörden und wichtiger Vertreter
der Gesellschaft, stattum einKomitee zumSchutze
der Fiißwanderer zu wählen. Die Ver¬
sammelten faßten einstimmig folgenden Be¬
schluß:
„Angesichts der kläglichen sanitären Zu¬
stände im Lande, sowie angesichts der
herrschenden Flscklyphusepidemie und vor¬
aussichtlich eintretenden Cholera- und Ruhr-
epidcmie ist die Geistlichkeit zu bitten, nach
Verständigung mit dem Ministerium für
öffentliche Gesundheitspflege eine möglichst
umfangreiche Aktion vorzunehmen, um die
Fußwanderungen in diesem Jahre einzu¬
stellen/'
Weiter teilt die Zeitung mit, daß der
Erzbischof mit Rücksicht auf diese vorstehende
Mitteilung des Ministeriums allen Geistlichen
anbefohlen habe, sich an die Wünsche des
Ministeriums zu hallen.
Der polnische Seehandel. Der „Dziennik
Zwicskowy", welcher in Chicago erscheint, be¬
richtet, daß in New-Uork eine „Gesellschaft
zur Anbahnung Polnischer Schiffahrt" ge¬
gründet worden sei, und zwar mit einem
Giundkapitcil von 3 Millionen Dollar sowie
mit einen: Aktienkapital von 2ö Millionen
Dollar.
Die Zusammenstellung des polnischen
Landtages. Im Polnischen Landtage sind
die Sitze folgendermaßen verteilt: 129 Land¬
wirte, 18 Arbeiter, 14 Handwerker, 14 Guts¬
besitzer, Is Publizisten, Schriftsteller und
Journalisten, 17 Beamte, 9 Kaufleute und
Industrielle, 6 Ärzte, 10 Ingenieure, 28
Geistliche, 27 Juristen, 10 Professoren, 19
Mittelschullehrer, 6 Volksschullehrer, 14 freie
Berufe. Zusammen 333 Abgeordnete.
Der „Daily Mail"°Korrespondent Williams
sendet seinem Blatt einen umfangreichen Be¬
richt aus Beuthen in Oberschlesien, in dem
er seine Feststellungen an Ort und Stelle zu
folgenden drei Punkten Präzisiert:
1. Die volle Erkenntnis der Friedens¬
bedingungen hat das Naiionalgefühl einiger¬
maßen geweckt; das allgemeine nationale
Empfinden des heutigen Tages ist durchaus
gegen den Versailler Frieden gerichtet.
2. Deutschland findet nur langsam Männer,
auf die es sich verlassen kann.
3. Schlesien, mindestens aber Oberschlesien
würde die Aufnahme des Kampfes einer
freiwilligen Unterwerfung unter fremde Herr¬
schaft vorziehen.
Es ist eins weitentlegene Ecke, sagt der
Korrespondent, fügt aber hinzu, daß diese
verborgene Ecke bald das Slurmzentrum des
Weltfriedens werden dürste. Schon ver¬
schiedene epochemachende Ereignisse der Ge¬
schichte Preußens haben dort begonnen. Der
Korrespondent beschreibt dann eine Parade
des preußischen Militärs, die er von seinen:
Balkon aus beobachtet hat. Er erwähnt da¬
bei den einarmigen General Hofer, der den
ersten Gegenangriff gegen die Engländer bei
Cambrai geführt hat und schildert die diesem
General bereiteten Ovationen. Dann gibt
der Korrespondent eine Charakteristik des
jetzigen Obsrkommissars von Oberschlesien
Otto Hörsing, den er als den Roste jener
Gegend bezeichnet. Hörsing reise mehrere
Male in der Woche in einem Wagen dritter
Klasse im überfüllten Abteil nach Berlin, um
der Regierung seine Vorschläge zu unter¬
breiten. Hörsing hat eine Armee organisiert
und General Hofer an deren Spitze gesetzt.
Fürst Henckel v. Donnersmarck, einer der
großen Namen des alten Regimes, arbeitet
unter ihm, und nimmt seine Befehle in
Empfang. Er steht jetzt in engem Kontakt
mit den Kommissären von Posen und West¬
preußen. Diese Leute sind Bureaukraten
alten Stils. Trotzdem werden sie aber
schließlich doch Hörsings Plänen und Befehlen
bereitwillig Folge leisten.
Von polnischer Seite wird gegenwärtig vielfach die Meinung verbreitet, als
ob für Westpreußens Bestand eine enge Verknüpfung mit dem polnischen Wirt¬
schaftsleben notwendig sei. Es soll nicht geleugnet werden, daß geordnete politische
und wirtschaftliche Beziehungen den Handel zwischen dem deutschen Weichselgebiet
und seinein polnischen Hinterkante für beide Teile befruchten und beleben könnten.
Mit allem Nachdruck muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß die wirtschaft¬
lichen Beziehungen Westpreußens zum übrigen Deutschen Reiche weit engere sind
als zu Polen. Das Gedeihen der Provinz beruht auf der weiteren Zugehörigkeit
zum deutschen Wirtschafts- und Zollgebiet, aus dem es die wichtigsten El-zeugnisse
der westlichen Industrie bezieht, ohne daß jemals Polen einen hinreichenden Ersatz
hierfür bieten könnte. Westpreußen ist ein bedeutendes Absatzgebiet der wcst-
und mitteldeutschen Gewerbe, dessen Fortfall sich sogleich im gesamten Reich
bedeutsam bemerkbar machen würde. Noch schwerwiegender wäre jedoch der
Verlust der Ostmark für die künftige Ernährung des deutschen Volkes.
Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien stellen die größten AuSfuhr-
gebiete landwirtschaftlicher Erzeugnisse dar. Der Besitz der Ostmark ist somit für
das deutsche Volk unentbehrlich.
Der Gesamtgüterverkehr Westpreußens mit dem Deutschen Reiche ist sehr
umfangreich; er betrug nach den Aufzeichnungen des Statistischen Amtes über die
Güterbewegung auf deutschen Eisenbahnen in den Jahren 1913 (1912) 4916545
(4727443) Tonnen; davon entfielen auf die Einfuhr 3377583 (3059965) und
auf die Ausfuhr 1538960 (1667478) Tonnen.
Der Eisenbahngüterverkehr mit dem Auslande (Polen, Rußland) betrug
dagegen nur 640233 (989234) Tonnen? davon entfielen auf die Einfuhr 415828
(768034) Tonnen und auf die Ausfuhr 224405 (221250); der Güterverkehr mit
dem Auslande machte sonnt im Jahre 1913 nur etwa ein Achtel des inländischen
Verkehrs aus.
Ans diesen Zahlen geht deutlich hervor, wie stark Westpreußen mit dein
deutschen Gesamtwirtschaftsgebiet verbunden ist; zudem muß berücksichtigt werden,
daß d?r Güterverkehr mit dem Auslande, besonders mit Polen, vornehmlich auf
dem Durchgangshandel beruht. So gehen zwei Drittel der nach Westpreußen
eingeführten Heringe und drei Fünftel von dem in Westpreußen mit der Buhu
verscmdien Reis nach Polen und Nußland, während umgekehrt Danzig einen
beliebten Ausfuhrhafen für russisches Holz darstellt.
An dem Güterverkehr mit dem Reiche sind vornehmlich Ostpreußen, Schlesien,
Brandenburg, Pommern und Posen beteiligt. Der Gesamtgüterverkehr West¬
preußens mit Berlin belief sich 1913 auf 122515 Tonnen, mit dem Nuhrgebiet
auf 80500 Tonnen, mit dem Regierungsbezirk Magdeburg auf 60028 Tonnen
und mit dem Regierungsbezirk Merseburg auf 57325 Tonnen. Wird die durch-
schnittliche Tragfähigkeit eines Güterwagens auf 12 Tonnen berechnet, so würde
allein die Bewältigung des Güierverkehrs mit Berlin 10209 Gütermagen und die
des gesamten Güterverkehrs Westpreußens mit dem übngen Deutschen Reiche
sogar 401379 Güterwagen, d. h. rund 10000 Züge zu 40 Wagen erfordern.
Abgesehen von dem Bahnverkehr werden beträchtliche Warenmengen zu
Schiff ans- und eingeführt.
Im Durchschnitt der Jahre 1910—1913 betrug die Seeausfuhr aus Danzig
1062008 Tonnen. Da Westpreußen überwiegend Agrarland ist, entfielen hiervon
eiwa je ein Drittel auf Erzeugnisse des Acker-,' Garten- und Wiesenbaues
(390653 Tonnen) und auf Zucker, Sirup. Melasse (338664 Tonnen).
Das aus Danzig am geführte Getreide ist vornehmlich deutscher Herkunft;
in den Jahren 1910 und 1911 stammten nur etwa 22 bzw. 21 Prozent deS zur
Weiterverlaoung nach Danzig eingeführten Getreides aus dem Auslande.
Es wurden eingeliefert:
Ein großer Teil des aus Danzig seewärts ausgeführten Getreides geht nach
dem Auslande und trägt dadurch zur Hebung unserer Valuta bei. 1913 wurden
ausgeführt nach deutschen Häfen 44110 Tonnen, nach den Niederlanden
86257 Tonnen, nach Belgien 31994 Tonnen, nach Großbritannien 68184 Tonnen,
nach Norwegen 41240 Tonnen, nach Dänemark 35306 Tonnen, insgesamt
247091 Tonnen. Kleinere Beengen gingen nach Schweden, Finnland, Rußland,
Italien und Frankreich. Selbst wenn berücksichtigt wird, daß der größte Teil
des nach den Niederlanden und Belgien verfrachteten Getreides den Rhein auf¬
wärts nach Westdeutschland weiterbefördert wird, ging fast die Hälfte des 1913
seewärts ausgeführten Getreides nach dem Ausland.
Mit der Bahn wurden ferner vornehmlich ausgeführt Holz, Kleie, Zucker
und V>ih.
Der Versand von Holz erreichte 1913 (1912) eine Höhe von 348909
(306346) Tonnen; sie richtete sich vor allem nach Pommern, Berlin, Schlesien,
Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Westfalen.
Der Versand von Kleie belief sich auf 206162 (306546) Tonnen, besonders
nach Posen, Pommern, Brandenburg und innerhalb Westpreußens (59708 Tonnen).
Die Ausfuhr von Zucker.(roh und raffiniert) betrug 131994 (120644) Tonnen);
davon wurde der größte Te^I, 117113 (108580) Tonnen, nach den westpreußischen
Häfen Danzig und Elving zum Vcrsano verladen; der Rest ging nach Ostpreußen,
Pommern, Thüringen und Regierungsbezirk Breslau.
Die Ausfuhr von Vieh (Stiere, Ochsen, Kühe, Schafe, Schweine usw.)
betrug 1855130 (1983560) Stück, vor allem nach dem Regierungsbezirk Breslau.
Provinz Brandenburg und den Häfen. Die Vieheinfuhr belief sich auf nur 276785
(253890) Stück.
Wie weitaus die meisten Waren nach den übrigen Teilen des Deutschen
Reiches ausgeführt werden, so bezieht Westpreußen aus ihnen auch überwiegend
seinen Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen und Bodenschätzen. Selbst die Einfuhr
von Kolonial- und„ Materialwaren erfolgt nach Danzig zu etwa 90 Prozent aus
deutschen Häfen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Einfuhr von Roheisen,
Eisenwaren, Papier und Papierwaren, Drogen, Chemikalien und Baustoffen; nur
Steine werden vielfach aus lschweden bezogen.
Die Einfuhr von Braunkohlen, Briketts und Koth betrug in den Jahren
1913 (1912) 87937 (58078) Tonnen; hiervon wurden 1913 eingeführt aus der
Provinz Brandenburg mit Ausschluß von Berlin 82132 Tonnen. Andere Liefe-
rungsgebiete sind die Regierungsbezirke Breslau, Merseburg, Magdeburg sowie
die Rheinprovinz.
Die Einfuhr von Zement betrug 89617 (65716) Tonnen; hiervon lieferte
der Regierungsbezirk Oppeln 48016 Tonnen; weitere größere Mengen kamen
aus dem Regierungsbezirk Magdeburg nebst Anhalt, dem Regierungsbezirk Breslau
und den Provinzen Pommern, Brandenburg, Posen und Ostpreußen.
Die Einfuhr von Eisen und Stahl betrug 94296 (86115) Tonnen, und
zwar aus dem Regierungsbezirk Oppeln 39389 Tonnen, aus dem Nuhrgebiet
11665 Tonnen, der Nest kam aus der Rheinprovinz, Regierungsbezirk Breslau
und Berlin.
An verschiedenen Eisen- und Stahlwaren, Erzen und Eisenbahnschienen
wurden eingeführt 160444 (141983) Tonnen vornehmlich aus Schlesien, Branden¬
burg, Rheinprovinz, Nuhrgebiet und Saargebiet.
Die Bahneinfuhr von Steinkohlen belief sich auf 1527083 (1523225) Tonnen;
hiervon lieferte der Regierungsbezirk Oppeln 1470254 Tonnen, der Rest wnrds
aus dem Re gierungsbezirk Breslau, dem Nuhrgebiet und der Rheinprovinz bezogen.
Angesichts dieser bedeutenden Warenmengen, die nach Westpreußen ein¬
geführt bzw. aus Westpreußen ausgeführt wurden, kann kein Zweifel sein, daß
der Verlust der Provinz eine wesentliche Einbuße des deutschen Handels zur
Folge haben müßte.
Die wirtschaftliche Bedeutung Westpreußens für das deutsche Volk trat
besonders deutlich während des Krieges hervor. Mit Fug und Recht kann
behauptet werden, daß die Abtretung der deuischen Ostprovinzen sich sogleich in
jedem einzelnen Haushalt empfindlich bemerkbar machen würde. Die schon kurz
bemessenen Mengen an Lebensmitteln würden noch um ein Drittel bis ein Viertel
vermindert werden; lieferte doch die Ostmark, die Provinzen Ost- und West-
preußen, Posen und Schlesien. 38 Prozent der Gesamterzeugung des Deutschen
Reiches an Brodgetreide, 30 Prozent der Gesamterntemenge an Kartoffeln,
30 Prozent der reichsdeutschen Schweineumlage, 23 Prozent der Rinderumlage,
24 Prozent der Butterlieferungen und 27 Prozent der Nohzuckererzeugung. ES
darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß durch eine Abtretung West-
preußens auch die Provinz Ostpreußen von dem deutschen Wirtschaftsgebiete
getrennt wäre. Der Verlust der Ostmark würde den Zusammenbruch der deutschen
Volksernährung zur Folge haben.
An der Aufbringung der für das deutsche Volksleben unbedingt erforder¬
lichen Nahrungsstoffe ist Westpreußen in erheblichem Maße beteiligt. Während
die Provinz an Fläche nur 4 7 Prozent der Gesamtfläche des Reiches umfaßt,
schließt sie ein 7.3 Prozent der deutschen Erntefläche an Roggen und 6 Prozent
an Kartoffeln; und obwohl die Bevölkcrui g Westpreußens nur 2,6 Prozent der
Einwohnerzahl des Deutschen Reiches ausmacht, bringt.sie auf 9,1 Prozent der
deutschen Gesamterzcugung an Brodgetreide, 5,4 Prozent an Gerste, 5,6 Prozent
an Zucker und 6,2 Prozent an Kartoffeln. Unter den preußischen Provinzen
steh, Westpreußen an Fläche an achter Stelle, an Einwohnerzahl sogar an elfter
Sicile; hinsichtlich der Erntemenge an Roggen, Gerste, Kartoffeln befindet sie sich
dagegen schon an sechster Stelle.
In Westpreußen wird vorwiegend Ackerbau getrieben. Die Fläche der
Provinz beträgt 25554 Quadratkilometer, die Erntefläche an Roggen, Gerste,
Weizen und Hafer 7011 Quadratkilometer, an Kartoffeln 1677 Quadratkilometer;
ein Drittel des gesamten Bodens wird somit zum Anbau der wichtigsten Acker¬
früchte verwendet. Dazu kommt noch der Rübenbau, der ebenfalls recht
bedeutend ist.
Gewaltige Kartoffelmengen konnten der Volksernährung während des
Krieges zur Verfügung gestellt werden. Im Wirtschaftsjahre 1917/18 wurden in
Westpreußen insgesamt 33 Millionen Zentner Kartoffeln amtlich erfaßt. Davon
wurden den Kartoffelerzeugern zur Ernährung, Brotstreckung, als Saatgut, für
Brennereien und Siärkefabriken 15792521 Zentner belassen; als Saatgut wurden
ausgeführt 1692926 Zentner. Auf Grund der Auflagen der Neichskartoffelstelle
wurden abgeliefert 7254157 Zentner; von ihnen gingen 1353301 Zentner nach
Brandenburg, 1656338 Zentner nach dem Rheinland; weitere Mengen wurden
nach Schleswig-Holstein und Westfalen ausgeführt. Der Ernährung der Heimat
würden ferner noch zwei Millionen Zentner zugute kommen, die bisher an die
Heeresverwaltung abgeliefert werden mußten.
Nicht weniger ertragreich ist die Viehzucht der Provinz. Trotz der großen
Viehschlachtungen in den ersten Kriegsjahren befanden sich am 1. Juni 1917 in
Wesipreußen nahezu dreiviertel Millionen Stück Rindvieh, 357000 Schafe und
679000 Schweine. Von ihnen wurden im Jahre 1917 zum Verbrauche geliefert
246000 Rinder und Kälber, 71000 Schafe und 214000 Schweine, insgesamt
rund 531000 Stück Vieh. An die Kommunalverbände wurden nicht weniger als
99981 Kälber abgeliefert; insbesondere beruhte ein erheblicher Teil der Fleisch¬
versorgung Berlins auf der Lieferung Westpreußens. Weitere beträchtliche Mengen
gingen an die Heeresverwaltung. Im Jahre 1918 vermehrte sich sogar die Zahl
der ausgeführten Rinder um rund 35000 Stück. Außerdem trug die Viehwirt-
schast Westpreußens noch durch Lieferung von erheblichen Mengen Butter zur
Ernährung des deutschen Volkes bei. In den Jahren 1917 und 1913 wurden
insgesamt 83632 Zentner Butter ausgeführt, die hauptsächlich nach Berlin, Dresden
und Leipzig überwiesen wurden.
Westpreußen stellt somit ein unentbehrliches Glied des deutschen Wirtschasts-
torpers dar.
Gerade in der Zeit nach dem Friedensschluß, in der das deutsche Volk
zahlreiche Warenmengen gegen teuere Bezahlung vom Auslande wird beziehen
müssen, wird es dringend erforderlich sein, daß wir im eigenen Lande, soweit es
irgend möglich ist, unsere Lebensmittel selbst erzeugen, um unsere Volksernätirung
sicherzustellen. Dazu ist vor allem notwendig, daß unsere wichtigsten landwirt¬
schaftlichen Erzeugungsgebiete beim Reiche verbleiben. Ohne die deutsche Ostmark
ist das deutsche Volk dem Hungertode ausgesetzt oder zum ewigen Sklaven seiner
Feinde erniedrigt.
Zur Wahrung unseres Rechtes und um unserer Selbsterhaltung willen
müssen wir verlangen: Westpreußen ist deutsch und muß deutsch bleiben.
Der unzweifelhaft deutsche Kreis Meseritz,
welcher im Norden an die Kreise Schwerin
und Birnbaum, im Osten an den Kreis Neu-
tomischel und im Südosten an den Kreis
Bomst grenzt, liegt in dem Zipfel des Posener
Landes, der wie ein Keil in die. Provinz
Brandenburg hineinragt, die mit den Stern-
berger und Züllichau-Schwiebuser Gemar¬
kungen seine Nachbarschaft im Westen und
Südwesten bildet. Er ist 1152,8 Quadrat¬
kilometer groß und hat 63306 zum größten
Teil deutsche Einwohner. Die Polen, die sich
in den? Gebiete finden, wohnen borwiegend
im nördlichen und südöstlichen Teil. Im
Kreise liegen fünf Städte: Meseritz mit S990,
Berthchen mit 4473, Tirschtiegel mit 2386,
Betsche mit 1862 und Brätz mit 1381 Ein¬
wohnern. Der Verkehr wird durckl mehrere
Bahnlinien erleichtert. Bon der Kreisstadt
Meseritz strahlen fünf Schienenwege aus, die
im Norden nach Landsberg an der Warthe,
in nordöstlicher Richtung über Birnbaum—
Pinne, in südöstlicher über Berthchen nach
Posen führen und im Westen über Zielenzig—
Neppen oder im Süden über Paradies—
Topper den Reisenden nach Frankfurt an der
Oder und Berlin bringen. Der Osten wird
außerdem durch eine Bahn erschlossen, die in
vorwiegend nordsüdlicher Richtung die Städte
Birnbaum, Tirschtiegel und Berthchen ver¬
bindet. Ferner wird der Kreis von einer
großen Anzahl vorzüglicher Kunststraßen —
in Meseritz kreuzen fünf Chausseen — durch¬
quert, die einen Beweis deutscher Kultur und
Ordnung ablegen und sich durch herrliche
Wälder und reiche Fluren ziehen, die deut¬
scher Bauernfleiß zu einer gesegneten Korn-
und Kartoffelkammer gemacht hat.
Schon im Jahre 1006 hat, wie Bischof
Thietmar von Msrseburg über den Zug des
deutschen Königs Heinrich des Zweiten gegen die
Polen berichtet, die Stadt Meseritz bestanden.
Im Grenzgebiet zwischen Brandenburg, Pom¬
mern, Schlesien und Polen gelegen, hat die be-
festigteStadt stets eine besondere Bedeutung ge¬
habt und im Luafe der Jahrhunderte bei den
wechselvollen Kämpfen der Nachbarn öfter
den Besitzer gewechselt. Doch schon früh ist
ihre deutsche Eigenart hervorgetreten. So
erzählt Wuttke in seinem Städtebund des
Landes Posen, daß im Jahre 1248 der Bischof
Boguphal von Posen den Deutschen von
Meseritz den Zehnten auf zwei Jahre, nämlick
auf eben dieses und das folgende, erließ.
Im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts
stand Meseritz sogar unter brandenburgischer
Oberhoheit und zwar wahrscheinlich bereits
seit dem Interregnum in Polen 1289—1205.
Diese Tatsache bezeugen zwei Urkunden, von
denen die im Codex Diplvmatikus Branden-
burgensis ed. Phil. Wilh. Gercken Tom
1. Salzwedel 1769 unter Ur. ni.XVIl
S. 276^) wegen der noch weiter genannten
Ortschaften des Kreises Meseritz besondere
Beachtung portiere.
Nicht nur Stadt und Schloß Meseritz,
sondern das Land bis zur Seenkette, die
heute die Stellung des Heimatschutzes be¬
zeichnet, waren an Brandenburg gekommen.
Diese Zugehörigkeit dauerte zwar nur einige
Ja hrzehnte, doch hatte das Deutschtum, welches
im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts bei
der Hochflut der Einwanderung, die sich aus
dem germanischen Westen nach Polen ergosz
und „überall eine zum Besseren treibende
Kraft" in den posenschen Stadien hervorrief,
solche Stärkung erfahren, daß Meseritz,
namentlich nach der Verleihung des Magde¬
burgischen Rechts im Jahre 12S9, trotz aller
Wechselfälle in späteren Jahrhunderten seinen
deutschen Charakter stets bewahrte. Deutscher
Gewerbefleiß und Bürgerstnn hoben das An¬
sehen und die Wohlhabenheit unserer Heimat¬
stadt zu solcher Blüte, daß die Geschäftsver¬
bindungen der Tuchmacher sogar bis China
reichten und jährlich bis 60 000 Stück Tuch
in das Reich der Mitte gingen. Die be¬
zopften Söhne des Himmels kauften nur noch
solche Stoffe, die mit den Buchstaben I. I. V.
lBvllmcr) auf einer Vleikapsel als „Meseritz-
koe" bezeichnet waren. Trotz ihrer Zuge¬
hörigkeit zum Polnischen Königreiche hegte
und Pflegte die Stadt ihr deutsches Denken
und Fühlen. Groß war daher der Jubel
der Bevölkerung, als bei der zweiten Teilung
Polens auch Meseritz an Preußen kam, und
mit Herzlichkeit und Freude wurde am 3. Ok¬
tober 1793 der neue Landesherr, König
Friedrich Wilhelm der Zweite, am Mühltore
begrüßt.
Die Stadt Meseritz hat also einen voll¬
begründeten Anspruch auf dauernde Zuge¬
hörigkeit zum Deutschen Reiche. Sie ist nicht
nur jetzt eine vollständig deutsche Stadt,
sondern war dies bereis vor 700 Jahren.
Wie lebendig und kräftig sich diese Gesinnung
much in der unserer heutigen so ähnlichen
Zeit vor 60 Jahren gezeigt hat, läßt das
damalige Verhalten und Vorgehen der Bürger¬
schaft erkennen.
Wuttke schreibt darüber:
„In der Bewegung des Jahres 1848
trat Meseritz entschieden deutsch auf, und
Versuche, die Katholischen gegen die Protestan-
ten aufzureizen, hatten geringen Erfolg. Ein
„deutsches Komitee" bildete sich und drang
der Reorganisation gegenüber ans Abtren¬
nung voni Großhorzogthum Posen und Ein¬
verleibung in die Mark. Die dohinzielende
Bittschrift wurde „Mann für Mann" unter¬
zeichnet, die Dorfbewohner, sogar die Polen
drängten sich zum Beitritt. Auch die Städte
Tirschtiegel, Vrätz und Schwerin schlossen sich
an. Zugleich waffnete man sich, um die Er¬
klärungen, wenn es sein müßte, durch das
Schwert aufrecht zu erhalten.
Am 11. April wurde auch gegen den
Neorganisator Willisen erklärt und zwar
folgendes: „„Sie wollen uns trennen, für
immer trennen von unserm großen Bater¬
lande Deutschland? Sie wollen uns um
unsere höchste Hoffnung bringen, teilzu¬
nehmen an der großen Zukunft unseres Ge-
samtvnterlandes? Sie wollen uns einem
Volke unterwerfen, dessen Sprache, dessen
Sitten uns fremd sind, das laut erklärt hat,
an Deutschlands Zukunft sich nicht beteiligen
zu wollen? Herr General, wir halten et
für unsere heilige Pflicht, Ihnen offen und
unumwunden zu erklären, daß wir auch nicht
eine Stunde das hohe Gut entbehren wollen,
Preußen, welches in Deutschland aufgegangen
ist, und seinem erhabenen Königshause anzu¬
gehören, uns als Deutsche zu fühlen, von
deutschen Behörden regiert, als Soldaten von
Deutschen kommandiert zu werden, keiner
anderen Fahne zu folgen als einer deutschen,
mit deutschen Brüdern im Bunde für eine
rein deutsche Sache, daß wir keinen Augen¬
blick das höchste Gut entbehren wollen, im
Rate der Volksvertreter zu Berlin und in
der höchsten Reichsversammlung zu Frank¬
furt a. M. anzuraten, mit deutschen Brüdern
freie deutsche Männer zu sein.""
Gleichzeitig wurde öffentlich kundgegeben:
daß man die Regierung in Posen als unter
dem Einflüsse einer feindlichen Faktion stehend
ansehe und ihr, wenn sie das Meseritzer
Deutschtum gefährde, länger nicht Folg«
leisten könne. Ohne abzuwarten stellte
Meseritz selbst sich unter die Regierung in
Frankfurt a. O., ordnete am 17. April den
Gynmcisialdirettor Kerse nach Frankfurt a. M.
zum Fünfziger-Ausschuß ab und forderte die
Städte Fraustadt, Lissa, Bomst, Karge, Ra»
witsch, Birnbaum, Schwerin, Krotoschin, Neu-
tomischel, Bojanowo, Sarne, Punitz, Schlich-
tingsheim und Wollstein auf, sich mit ihm zu
einem „Central-Ausschuß sür den Westgürtel"
zu verständigen. Lissa versagte den Beitritt,
der Ausschuß kam aber am 26. April wirklich
zustande. So kräftig trat Meseritz auf,
als es sein Deutschtum zu wahren galt."
Müssen wir da heute nicht erst recht daran
festhalten, daß an dem Deutschtum der Stadt
nicht gerüttelt werde?
Auch in kultureller Hinsicht ist Meseritz
unstreitig die Führerin unter den Städten
des Westpvsener Landes. Es beherbergt drei
höhere Schulen, von denen das Staatliche
Gymnasium, als städtische Realschule schon
im Jahre 1833 gegründet und somit die viert-
ülieste der 27 Anstalten sür das höhere
Knabenschulwesen der Provinz ist; es hat
eine Reihe bedeutender Männer hervorgebracht
und als die älteste höhere Lehranstalt im
weiteren Umkreise stets eine ziemlich hohe
Besuchszisfer erreicht. Erst in den letzten Jahr¬
zehnten ist durch die Gründungen von Real¬
schulen und sogenannten Höheren Knaben¬
schulen in der Nachbarschaft die Schülerzahl
etwas gesunken. Ferner besteht hier seit 1379
eine (früher Königliche) Präparcmdenanstalt,
die ebenfalls weit und breit Schüler heran¬
zieht, die sich auf den Besuch eines Lehrer¬
seminars vorbereiten wollen. Die Städtische
Höhere Mädchenschule, die als Privatanstalt
ebenfalls schon im Jahre 1833 gegründet ist,
Hai in zehn Klassen 263 Schülerinnen und
bildet zugleich in den untersten drei Klassen
in welchen auch Knaben unterrichtet werden'
eine Vorschule für das Gymnasium. Ein be¬
sonderes Gepräge hat Meseritz bekommen,
seit im Fahre 187S hier statt des Kreis¬
gerichts ein Landgericht errichtet wurde, das
seinen Bezirk weit nach Osten und Süden
erstreckt.
So ist Meseritz, das aus einem Handel-
und gewerbetreibenden Platze früherer Jahr¬
hunderte durch die Versperrung der Verkehrs¬
wege nach dem Osten zu einem einfachen
Landstädtchen herabgesunken war, wieder zu
einer Beamtenstadt mit regsten, Geistesleben
geworden, zumal es als Knotenpunkt wichtiger
Eisenbahnen auch in dieser Beziehung von
vielen Beamten bewohnt ist. Als weitere
Behörden gibt es in Meseritz ein Postamt
1. Klasse, ein Hauptzollamt, eine Gewerbe-
und drei Bauinspekiionen. Doch darf man
die Stadt nicht als eine deutsche Beamten-
siedelung ansehen; denn die allmähliche Er¬
weiterung der einzelnen Behörden hat sich
folgerichtig aus den wachsenden wirtschaft¬
lichen und kulturellen Bedürfnissen ergeben.
Diese spiegeln sich auch in dem Zeitungs¬
wesen des Kreises Wider. In den beiden
größten Städten Meseritz und Berthchen
erscheinen je zwei Zeitungen, von denen die
„Meseritzer Kreiszeitung mit ihrer Neben¬
ausgabe „Bentschener Wochenblatt" eine Auf¬
lage von 7300 Stück erreicht hat und damit
die größte Kreiszeitung des deutschen Ostens ist.
Aber auch Industrie ist vorhanden. Nicht
nur als Sitz der Me>landzentrale Birnbaum-
Meseritz-Schwerin, sondern auch als Sitz
eines städtischen Elektrizitätswerles, zweier
Maschinenfabriken, mehrerer Dampfziegeleien,
Schneidemühlen usw. erinnert die Kreisstadt
an den deutschen Gewerbefleiß der Väter
und bezeugt damit ihre deutsche Überlieferung.
An Wohlfllhrtsanstalten weist Meseritz ein
Kreiskrankenhaus, eine Kinderbewahranstalt,
zwei Kinderhorte und mehrere Hospitäler für
alte Leute auf.
Also auch in kultureller Beziehung zeigt
Meseritz durchaus deutsche Art und deutsches
Wesen.
Die zweitwichtigste Stadt im Kreise ist
Berthchen, bekannt durch seinen großen Bahn¬
hof, einen der wichtigsten Eisenbahnknoten¬
punkte im deutschen Osten. Deutscher Volks¬
rat und städtische Behörden haben eine be¬
sondere Schrift herausgegeben: „Berthchen
eine deutsche Stadt", in welcher auf Grund
vorzüglichen statistischen Materials nachge¬
wiesen wird, daß der weitaus überwiegende
Teil der Bevölkerung deutsch ist und deutsch
sühlt. Es wird darin vor allem gezeigt, daß
Berthchen im Wilsonschen Sinne deutsch ist.
Ruch Tirschtiegel mit seiner Umgebung
ist reindeutsch. In einem Aufruf, den Stadt
und Land Tirschtiegel erlassen haben, um ihr
Deutschtum darzutun, heißt eS:
Tirschtiegel nebst den dazugehörigen Ort¬
schaften östlich der Obra mit rund 10 000
Einwohnern, nämlich den Dörfern Deutsch¬
höhe, Ziegelscheune, Lentschen, Amtskaßner'
Kupferhammer, Altvorwerk, Glashütte, Hütten-
haulcmd, Lubenhauland, Sawade, Blake,
Lewitzhauland, Kreuzwehr, Lewitz, Punken,
Neuschilln, Jablonke und Petershag ist seit
Jahrhunderten deutsches Land und von
Deutschen bewohnt. Nur 6 Prozent Polen
sind der deutschen Bevölkerung untermischt.
Schon vor der Völkerwanderung haben
hier deutsche Stämme gesessen und bereits
im zehnten und elften Jahrhundert haben
deutsche Kolonisten dieses Land dem Deutsch¬
tum zurückerobert. Wenn auch vorübergehend
unter polnischer Oberhoheit stehend, sind
Land und Leute doch stets deutsch geblieben
und haben deutsches Recht, deutsche Sprache,
Volksart und Sitte bis auf den heutigen
Tag unberührt bewahrt. Polnischen Ein¬
fluß ist es nie gelungen, die hier wohnenden
deutschen Ackerbauer, Bürger und Handwerker
zu Polonisieren. Polnische Schulen und
Kirchen haben nie bestanden. Der größte
Teil der Bewohner ist evangelisch, aber auch
der katholische Teil ist deutsch und weist alle
Polnischen Ansprüche auf diese Gegend auf
das schärfste zurück. Zahlreiche Original¬
urkunden, die uns aus jener Zeit vorliegen,
haben deutschen Wortlaut und Inhalt und
beweisen, daß Polnische Sprache und Kultur
hier nie Einfluß zu erlangen vermocht haben.
Neindeutsch hat sich auch die Bevölkerung
bis auf die heutige Zeit erhalten und weit
in den angrenzenden Kreis Neutomischel,
noch über die ebenfalls reindeutsche Stadt
Neutomischel hinaus, reicht unbestritten
deutsches Sprachgebiet.
Auch wirtschaftlich bildet unsere Gegend
einen wichtigen Faktor für die Volksernährung
und Industrie des deutschen Hinterlandes.
Unser Bezirk liefert 16000 gentner Körner¬
früchte und 100000 Zentner Kartoffeln. Die
weitausgedehnter Seen und Flußläufe geben
alljährlich mehrere tausend Zentner Fische
her, die besonders nach den Großstädten
Mitteldeutschlands, und insbesondere nach
Berlin gehen. Die großen Schilfrohrbestände
unserer Seen versorgen die Rohrwebereien
und sonstigen Rohrindustrien von fast ganz
Deutschland. Tirschtiegel ist ferner die Zen¬
trale des Korbweidenbaues im Osten des
Reiches, und liefert jährlich 300000 Zentner
wertvollsten Korbweidenmaterials. Die weit¬
ausgedehnter Waldungen beschäftigen viele
Schneidemühlen, welche den Westen mit
Schnittmaterial beliefern. Große Mengen
Grubenhölzer werden nach denKohlengebieten
Westfalens und Nied«'rschlesiens ausgeführt.
Der Grundbesitz befindet sich ausschließlich
in deutschen Händen, auch wird die Steuer¬
last nur von Deutschen getragen.
Wir können es daher nicht dulden, daß
unser geschichtlicher und wirtschaftlicher Zu¬
sammenhang mit dem westlichen Hinterkante
auch nur vorübergehend gestört werde. Es
gäbe keine größere Ungerechtigkeit in unserer
Zeit,' als wenn Landesteile, deren Volks-
tum, Sprache und Wirtschaft aufeinander
angewiesen sind, auseinandergerissen werden
sollten.
Das deutsche Volk, das im Vertrauen
auf die Wilsonschen Grundsätze die Waffen
niedergelegt hat, muß verlangen, daß das
Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung auch
auf unseren Kreis angewandt wird.
Die Stadt Betsche im Nordosten deS
Kreises, der einige Dörfer mit überwiegend
polnischer Bevölkerung aufweist, ist nach Ein¬
wohnerzahl, nach dem Stadtbilde, seinen
Sitten und Gewohnheiten ebenfalls eine
unbestreitbar deutsche Stadt. Auch Betsche
und Umgegend liefern deutsches Korn und
deutsche Kartoffeln in reichstem Maße, und
seine Moorkulturen zeigen deutschen Fleiß
und deutsche Tatkraft.
Brätz, unmittelbar an der branden¬
burgischen Grenze gelegen, hat reindeutschen
Charakter und weist nur 1 Prozent Polen
auf. Deutscher Handwerkerfleiß, besonders
Tuchmacherei und Schuhmacherei, haben dem
Städtchen sein deutsches Gepräge gegeben.
Ackerbau und Viehzucht liefern besonders in
Brätz bedeutsame Erträge.
Auch das flache Land des Kreises mit
seinen Dörfern, Gutsbezirken und einzelnen
Gehöften hat reindeutsches Gepräge. Überall
findet man ein ländliches Bild, das an die
Siedelungen der Mark, ja sogar Thüringens
erinnert. Breite, gepflasterte Straßentreffen
sich in der Mitte des Dorfes und bilden dort
einen weiten, von Linden umsäumten Anger,
auf dem im Sommer alt und jung nach
Feierabend sich tummelt und seine Feste be¬
geht/ Die Landstraßen sind fast durchweg
von Obstbäumen begleitet. Auch die deutsche
Mundort, Sitten und Gebräuche der Kreis¬
eingesessenen weisen nach der Mark hin, zeigen
aber auch im Süden schon etwas schleichen
Einschlag. Zusammenhängende polnische
Siedelungsgebiete gibt es im Kreise Meseritz
überhaupt nicht; nur im Norden und Süden
wohnen, mit Deutschen vermischt, Polnische
Minderheiten, die ihrer Zahl nach einen ge¬
ringen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung
ausmachen. Daß es sich hier nur um Sprach¬
inseln handelt, geht schon daraus hervor, daß
an der Ostgrenzs des Kreises ausschließlich
reindeutsche Gemeinden liegen, angrenzend
an die großen deutschen Hauländereibezirke
der Kreise Bomst und Neutomischel. Von
den größeren Dörfern des Kreises Meseritz
haben besondere Wichtigkeit erlangt Paradies
und Kainscht. Dieses versorgt mit seinen
Braunkohlengruben ein Kraftwert der Über-
landzentmle. Jenes beherbergt in den Ge¬
bäuden eines ehemaligen Cisterzienserklosters
ein deuisch-kntholisches Schullehrerseminar,
das seit wenigen Jahren dem Provinzial-
schnlkollegium der Mark unterstellt ist, um
dieser den nötigen Nachwuchs an katholischen
Lehrern zu sichern. In der Nähe der Kreis¬
stadt liegt noch die im Jahre 1904 nach mehr¬
jähriger Bauzeit eröffnete Provinzial-Irren¬
anstalt Obrawalde, die, nach modernsten
Grundsätzen errichtet, Wohl die wertvollste
und an Ausdehnung größte Anstalt der Pro¬
vinz Posen ist.
Auch an industriellen Anlagen fehlt es
auf dem Lande nicht. Neben den schon er¬
wähnten Braunkohlenwerken gibt es im
Kreise noch eine Anzahl von Ziegeleien,
Stärkefabriken, Brennereien und Schneide¬
mühlen, die ihrerseits bezeugen, welche reichen
Erträge der Kreis hervorbringt, welche dem
ganzen Deutschen Reiche zugute kommen.
Der Durchschnittsbrand der 19 Brennereien
betrug jährlich 123 000 Liter Spiritus.
So glauben wir den Nachweis erbracht
zu haben, daß der Kreis Meseritz mit seinen
Städten, Dörfern und Feldbreiten altes
deutsches Land ist, das nicht im entferntesten
unter Punkt 13 des Wilsonschon Programms
gebracht werden darf. Wir glauben aber
auch gezeigt zu haben, welche hohen Werte
an Kultur und Naturerzeugnissen dem deut¬
schen Volke verloren gingen, wenn sich die
gierigen Hände der länderhungrigen Polen
auch nach diesem teuren Gute ausstrecken
Würden. Wie die Einwohner des Kreises
in den Tagen des polnischen Ansturmes es auf
sich genommen haben, den heranbrandenden
Fluten des Gegners einen Damm zu setzen
an demi bisher jeder weitere Eroberungsver¬
such gescheitert ist, so sind sie auch weiter
bereit, ihr heiliges deutsches Heimatland mit
ihren Leibern vor der Abtrennung vom
großen Vaterlande zu bewahren.
Die Begeisterung für die hehre Sache, die
nicht wie das Strohfeuer hell flammt, dann
aber jäh zusammenbricht, sondern zunächst
unter der Asche zehrend weiterfrißt, würde
eines Tages mit furchtbarer Gewalt hervor¬
brechen, in deutschem Zorn das alte deutsche
Schwert wieder zücken und nicht dulden:
„daß unsere Erde
Wertlosen Lumpen gleich, zerfetzt, zerstückt
Den frechsten Räubern hingeworfen werde."
Diese Gesinnung der Ostmarideutschen nutz
aber ihren Widerhall finden in den Herzen
aller Landsleute im großen Deutschen Reichel
Tagung der Volksriite des Ostens in Danzig.
Nach den Beschlüssen der Marienburger
Tagung traten die gewählten Vertreter der
Volksräte aus Ost- . und Westpreußen und
des Netzedistriktes sowie des ostdeutschen
Heimatdienstes am 2. Juni in Danzig zu
gemeinsamer Besprechung zusammen und
konstituierten sich zu einem ständigen Volks-
rntsausschuß, der bis zur endgültigen Ent¬
scheidung ununterbrochen tagen wird. Mit
dem gleichfalls in Danzig zusammengetretenen
parlamentarischen Aktionsausschuß der Nord¬
gruppe der Ostmark wurde in Fühlung
getreten.
Die Verhandlungen des VolksratsauS--
Schusses brachten den einmütiger Willen der
hinter den Führern stehenden Volkskreise aus
Ost- und Westpreußen, dem Netzedistrikt und
den bedrohten Teilen Pommerns zum Aus¬
druck, sich angesichts der drohenden gemein¬
samen Gefahr eng zusammenzuschließen. In
der Aussprache wurde volle Übereinstimmung
über das Ziel und die Mittel zu seiner Er¬
reichung erzielt. Es herrschte völlige Einig¬
keit über die Notwendigkeit der Erhaltung
der ungeteilten Ostmark bei Deutschland und
über die Notwendigkeit eines auf breitester
demokratischer Grundlage zu erfolgenden
deutsch-polnischen Ausgleiches, der in einer
friedlichen Auseinandersetzung der aufeinander
angewiesenen deutschen und polnischen Be¬
völkerung bestehen müßte.
Der Hauptausschuß wird seine Haupt¬
aufgabe darin erblicken, die Bemühungen der
Reicheregierung, durch Verhandlungen die
Deutscherhaltuug der Ostmark zu erzielen,
mit allen Mitteln zu unterstützen und wird
die gesamten Kräfte der deutschen Bevölkerung
des Ostens zu diesem Zwecke einheitlich zu¬
sammenfassen.
An den Zentralvolksrat für Oberschlesien
in OPPeln, der sämtliche Parteien von der
äußersten Rechten bis zur unabhängigen
Richtung umfaßt, wurde nachstehendes Be¬
grüßungstelegramm abgesandt:
„Der in Danzig tagende Ausschuß der
Vereinigten Volksräte von Posen und West¬
preußen und des ostpreußischen Heimatdienstes
begrüßt den Zentralvolksrat für Oberschlesien
und erhofft von der Verwirklichung seines
Programms, das in jeder Beziehung auch
den Zielen des Volksratsausschusses entspricht,
die Deutscherhaltung des bedrohten Ober¬
schlesiens. Einigkeit und Zusammenschluß
ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit, sowie
rücksichtsloses Bekenntnis zum Deutschtum
sind unsere alleinige Rettung. Der Volks¬
ratsausschuß verspricht sich von engem Zu¬
sammenarbeiten mit dem Zentralvolksrat für
Oberschlesien die Bewahrung des Deutschtums
der gesamten Ostmark und ihre ungelenke
Erhaltung bei dem Deutschen Reiche."
Gros; - Morin, 1. Juni 1919. Folgende
Telegramme wuroen am 3l). Mai an die
Ne i es s r e g i er im>g obige sandt:
Berlin.
Der Deutsche Volrsrat Groß-Marin
Gen. legt hiermit schärfsten Protest gegen
die Lostrennung der Provinzen Posen ein.
Wir Deutschen waren es, die die Provinz
zu der hervorragenden Blüte brachten, in
der sie heute steht, und als Dank dafür sol¬
len wir ohne Rücksicht auf das Selbstbe¬
stimmungsrecht der Völker den Polen
unterjocht werden.
Niemals, Herr Präsident! Ein rechter
Führer Heimes Volkes .geht mit seinen
Leuten in bon> Tod, ehe er sie preisgibt.
Sollen wir schmachten wie im Kerker und
sehnsuchtsvoll über die Grenzen nach unse¬
rem geliebten Vaterlande hinüberschauen?
Berlin.
Heilige Empörung Wer die Lostcen-
nung unserer Heimat an den Polen hat
die Mitglieder des Deutschen Volksrate»
erfaßt. Wir legen energisch Protest gage»
diese Versklavung ein. Züsammenge-
schlossM mit Leib und Seele stehen wir fü.
unsere Heimat ein. Wir bitten den Herrn
Kriegsminister, uns nicht ohne weiteres
preiszugeben. Wir sind gewillt, Opfer zu
bringen und jede Verantwortung trogen
zu helfen. Lassen Sie, Herr Minister,
das Wort weiter gelten: Wer deutsches
Land begehrt, der hole es sich.
Versailles.
Die Provinz Posen soll polnisch sein?
Ist unsere durch Mühe und Fleiß in Kul¬
tur 'gebrachte Heimat verraten und ver¬
kauft? Ist das Wilsonprogramm als
Grundlage für den Frieden nicht beachtet
worden? Wir Ostmarken sind Deutsche
und bleiben es und stehen für unsere Hei¬
mat mit Gut und Blut ein. Nochmals,
lieber tot, als polnisch!
Der Deutsche Volksrat Argencm sandte
folaendes Telegramm an das Auswärtige
Amt, an die Nationalversammlung und
die Preußische Landesbersammlung -in
Berlin:
„Deutscher Volksrat der nahezu rein
deutschen Gemeinden Eichtal, Dombken,
Oberwalde bittet, Erdrosselungsfrieden
nicht zu unterzeichnen. Lieber den Tod,
als in Schmach und Schande dahinsiechen.
Wir sind zum Widerstand mit der Waffe
fest entschlossen. Posen soll deutsch bleiben.
Friedensbedingungen der Entente, nach denen
weite Gebiete, die überwiegend von Deut¬
schen bewohnt oder durch Arbeit zu ihrer
jetzigen Blüte gebracht worden sind, ohne
Befragung der Bevölkerung an die Polen
ausgeliefert werden sollen, haben im deutschen
Osten begreiflicherweise die äußerste Erbitte¬
rung hervorgerufen. In Oberschlesien, in
Westpreußen, in Posen denken die zwei¬
einhalb Millionen Deutsche, die unter die
Fremdherrschaft eines gehässigen und gewalt¬
tätiger Volkes gebracht werden sollen, mit
Entsetzen an ihr kommendes Schicksal und
fast allenthalben lehnt man sich dagegen auf.
So hat beispielsweise die Bürgerschaft der
ganz deutschen, dicht an der brandenburgischen
Grenze gelegenen Stadt Birnbaum, die durch
die Friedensbedingungen den Polen aus¬
geliefert werden soll, nachdem zuvor schon
der Kreisvolksrat in einer Entschließung bei
der Nationalversammlung und der Regierung
auf das schärfste und unier Androhung be¬
waffneter Selbsthilfe protestiert hatte, eine
Reservetruppe von mehreren hundert Mann
kriegsgeübter und mit der Waffe ausgebildeter
Mannschaften aufgestellt, die euischlossen sind,
im Verein mit dem Grenzschutz Birnbaum
und die umliegenden überwiegend deutschen
Dörfer -bis aufs äußerste zu verteidigen und
die Polen gewaltsam abzuwehren. Da das
Vorgehen von Birnbaum typisch für die
allgemeine Stimmung in der deutschen Ost¬
mark ist, so kann man ermessen, welche furcht¬
baren Folgen sich im Falle der gewaltsamen
Durchführung der Bedingungen ergeben
müssen.
Die Polen lassen die Maske fallen.
Schon erörtern sie in aller Öffentlichkeit die
Aussichten der Verpolnischnng Danzigs. Der
„Glos Lubarski" meint, daß durch die Ein¬
gliederung auch polnisch sprechender Gebiete
in den Freistaat Danzig die Aussichten der
Verpolnischung Danzigs beträchtlich erhöht
würden. Wenn Danzig auch als freie Stadt
Sitz der Provinz und der Regierung wird,
würden sofort Tausende von Polnischen Be¬
amtenfamilien hinströmen und, falls die
Provinzialbehöcden nach einer anderen Stadt
verlegt werden, entvölkere sich Danzig und
verliere seine Bedeutung, indem es nur noch
eine Handelsbedeutung als Polnischer Hafen
behalte. Die Handelsbedeutung Danzigs
aber werde nicht so sein, wie sie zur Zeit
der alten Republik war, als die Danziger
das Slapelrecht besaßen. Jetzt würden sie
dies Recht nicht haben, vielmehr die Polen
ihre Waren unmittelbar ans Ausland ver¬
kaufen und von diesem ohne Vermittelung
der Danziger Waren kaufen dürfen. Polen
werde unzweifelhaft den ganzen Auslands¬
handel verstaatlichen, sich durch Schaffung
einer eigenen Fluß- und Seeschiffahrt von
Danzig unabhängig machen, die Weichsel so
vertiefen, daß kleinere und mittlere Schiffs
bis Warschau bezw, Thorn, große wenigstens
bis Dirschau fahren können und vielleicht
auch die Halbinsel Hela durchstechen, um in
der Putziger Bucht einen Hafen für die
größten Ozeanschiffe zu bauen, in dem diese
dann anstatt in Danzig gelöscht werden.
Nun sind die deutschen Gegenvor¬
schläge gekommen. Und die Deutschen
im Osten können aus ihnen die Gewi߬
heit entnehmen, daß wir zu ihnen
halten wie sie zu uns. Wir wollen zu¬
sammenbleiben. Wir wollen die schwe¬
ren finanziellen Lasten auf uns nehmen,
mehr vielleicht, als den meisten heute
überhaupt tragbar erscheint — aber wir
wollen uns nicht blindlings zerstückeln
lassen. Das ist der Sinn des deutschen
Vorschlags. Die hundert Milliarden, bis
zu denen wir tatsächlich festgestellte Zi¬
vilschäden in Belgien und Nordfrankreich
allmählich zu ersetzen bereit sind, können
nur getragen werden, wenn wir wie im
Westen! so auch im Osten das Land und
die Menschen behalten, die zu uns ge-
hören — diese hundert Milliarden sind
auch ein Preis für diese Erhaltung,
furchtbar schwere Opfer müssen aller¬
dings auch hier nach den Verpflichtungen
des Waffenstillstandsvertrages und im
Sinne eines auch den Polen gerecht wer¬
denden Ausgleichs gebracht werden. So¬
weit die Provinz Posen unbestreitbar
polnischen Charakter trägt, sind wir zur
Abtretung, einschließlich der Hauptstadt
Posen, bereit; soweit westpreußische Ge¬
bietsteile unzweifelhaft polnisch besiedelt
sind, gilt von ihnen das Gleiche? und die
Volksabstimmung soll darüber entschei¬
den. Aber daß Oberschlesien uns ge¬
nommen, daß Ostpreußen vom deutschen
Gesamtkörper losgerissen, daß Danzig
unter dem Namen einer Freien Stadt
in Wahrheit den Polen ausgeliefert, daß
der reindeutsche Charakter großer Teile
Westpreußens in Frage gestellt werde
und die Nordkreise Ostpreußens mit Me¬
ine! loSaelöst werden sollen, das weist
Deutschland im sicheren Bewußtsein seines
guten Rechts zurück. Wir tun es mit einer
Feststellung, die die Welt aufhorchend
vernehmen wird: die ganze Grenzführung
im Osten in dem Entwurf der feindlichen
Friedensbedingungen ist, was die deut¬
sche Denkschrift für jederzeit beweisbar
erklärt, überhaupt nicht von dem Gesichts.
Punkt der Nationalität, sondern von dem
der strategischen Vorbereitung eines An¬
griffs auf deutsche Gebiete aus bestimmt
worden. Nur so ist das Unmögliche
möglich geworden, daß man gleichgültig
Millionen von Deutschen unter Mißach¬
tung ihrer primitivsten und selbstver¬
ständlichsten Rechie von ihrem Volke los¬
zureißen unternahm, um angeblich einer,
in Wahrheit viel kleineren Zahl von Po¬
len ihre Rechtsansprüche zu erfüllen. In
Posen. West- und Ostpreußen leben 3,öde
Millionen Deutsche, und wenn man
Schlesien noch hinzunimmt, sind es so¬
gar 7,36 Millionen — die kann man
nicht nach Belieben „verschieben wie
Steine auf einem Schachbrett."
In Wahrheit geht eben auch hier der
deutsche Gegenvorschlag bis an die
äußerste Grenze des Möglichen und viel¬
leicht darüber hinaus. Reinlich wie ein
Rechenexempel wird ja das deutsch-Pol¬
nische Problem niemals aufgehen; zu
sehr sind im ganzen Osten Menschen,
Landbesitz, Wirtschaftsarbeit und Staats¬
bedürfnisse in einer unentwirrbaren
Gemengelage durcheinandergewürfelt. Aber
was die deutsche Delegation vorschlägt,
das ist ein opfervoller Versuch, doch noch,
vielleicht im letzten Augenblicke, zu einem
für alle einigermaßen gerechten Ausgleich
mit den Polen zu gelangen. Darum
der Vorschlag, die Gebietsverteilung so
vorzunehmen, daß nicht mehr Deutsche
in das polnische Hoheitsgebiet fallen^ als
Polen in deutscher Staatsangehörigkeit
verbleiben, und umgekehrt; darum vor
allem das über den feindlichen Entwurf
weit hinausgehende Angebot, den Polen
nicht nur in Danzig, sondern auch noch
in Königsberg nndMemel Freihafen zu
gewähren, verbunden mit weitestgehenden
Konzessionen zur Sicherstellung ihres
Verkehrs auf Eisenbahnen und Flüssen.
Es ist wirklich der ehrliche Versuch eines
versöhnenden Ausgleichs, von dem man
meinen sollte, das neu entstehende Polen,
das ja schon bei seiner Geburt eine sehr
große Menge sehr großer Schwierigkenen
vor sich findet, hätte an ihm «man das
gleiche Interesse wie wir selbst.
Ob dieser Versuch gelingen wird,
weiß heute noch niemand zu sagen. Aber
die Möglichkeit, zu wirken, muß man
ihm lassen. Und das müssen heute auch
die Deutschen im Osten sich sagen. . . .
Auch für die Deutschen im Osten ist jetzt
Wartezeit, genau wie für uns alle. Denn
wir haben den Versuch gemacht, durch
unsere Gegenvorschläge zu Verhandlun¬
gen zu kommen — auf dieser Linie
müssen wir jetzt ehrlich bleiben, und
nichts darf geschehen, was die Wirkung
des Schrittes der deutschen Regierung
und der deutschen Delegation beeinträch¬
tigen könnte. Die Deutschen im Osten
haben schon etwas Entscheidendes er¬
reicht: sie haben sich selbst gefunden! Sie
wissen nun, daß sie zusammenstehen. Und
sie dürfen daraus die Sicherheit schöpfen,
daß es niemals, was auch geschähe, ge¬
lingen könnte, sie ihres Deutschtums
wirklich zu berauben. Diese Sicherheit
muß ihnen jetzt auch die Festigkeit geben,
in Ruhe und Selbstzucht abzuwarten, bis
die Entscheidungsstunde sällt.
Der Sonderberichterstatter des „Daily
Herald"
meldet seinem Blatte Einzelheiten über
die Reise, die er nach Westpreußen ge¬
macht hat, um die Stimmung unter der
dortigen Bevölkerung kennen zu lernen.
Er schreibt, er habe während seines dor¬
tigen Aufenthaltes überall nur deutsches
Kulturleben erblickt: Danzig sei eine
rein deutsche 'Stadt, in der keine Spur
von Polentum zu sehen sei. Von den
Provinzzeitungen seien 55 deutsch und 7
polnisch. Die äußerst gepflegten Bauern¬
höfe und Ländereien zwischen Danzig und
Marienwerder seien alle deutsch.
Auch der Korrespondent des „Man¬
chester Guardian"
berichtet seinem Blatte über seine Ein¬
drücke in Westpreußen. Er teilt mit.
Danzig sei ebenso eine deutsche Stadt,
wie Plymouth eine englische Stadt sei,
ab könne mit ebensowenig Berechtigung
polnisch genannt werden oder als zu
Polen gehörig bezeichnet werden wie
Manchester. Die 'ganze Gegend, die er
durchstreift habe, sei überall von einer
Bevölkerung bewohnt, von der zumeist
mehr als neun Zehntel Deutsche seien.
Nur weil die Staatsmänner in Paris
von der Manie des Mächtegleichgewich¬
tes besessen seien und vergessen hätten,
daß einige hundert Meilen von Paris
entfernt Millionen von Menschen ihrer
Rechte, ein natürliches Leben zu führen
beraubt werden sollen, wolle man durch
Errichtung des Korridors von Danzig
in einer vollkommen deutschen Gegend
ihr Leben vernichten und gleich von
gleich scheiden. Man brauche sich nur
einige Stunden an Ort und Stelle auf¬
zuhalten, um zu sehen, welche Katastrophe
sich vorbereite. Es herrsche eine leiden¬
schaftliche und entschlossene Stimmung.
"
Der Berichterstatter Desmond schil¬
dert in der „Daily News" vom ö. Juni
die herzerreißenden Eindrücke, die er auf
seiner Reise durch das an Polen abzu¬
tretende Gebiet und durch Danzig er¬
halten hat. Nirgends könne eine Be¬
völkerung durch öffentliche Kundgebung
ihren Willen, am Deutschtum festzuhal¬
ten, eindrucksvolleren Ausdruck geben.
Die Bevölkerung sei mindestens zu 80
v. H. deutsch, und das Land sei voll
von Stätten deutschen Fleißes, deut¬
scher Arbeit, deutscher Kunst und deut¬
scher Industrie. Wenn auch Polen die
Autonomie verdiene, so müsse es seine
Würdigkeit doch erst beweisen und in den
ausschließlich von Polen bewohnten Ge¬
bieten hätte es reichlich Gelegenheit hierzu.
Der Vertreter des norwegischen Re¬
gierungsorgans „Norskc Jntelligens-
sedler".
Herr I. Wcmkel aus Christiania, saßt
seine Eindrücke von der Informations¬
reise in der Provinz Posen in folgender
Weise zusammen: Ich halte es für ganz
ausgeschlossen, nach dem, was ich bis jetzt
gesehen, daß die Verscnller Friedensbe¬
dingungen in der polnischen Frage ohne
einen neuen Krieg angenommen werden.
Zusammen mit den hier weilenden En-
tenlejournalisten wurden wir heute von
der hiesigen Regierung mit polnischen
Politikern und Arbeiterführern bekannt¬
gemacht. Unter ihnen befand sich der
Justizrat v. Wierzbicki, der Gutsbesitzer
Szuman, der Rittergutsbesitzer v. Chla-
powski, der Redakteur Testa, der Ar¬
beiterführer Czarnecki. Dieses Zusam¬
mentreffen hat meinen Eindruck noch er¬
heblich verschärft, daß zwischen Polen und
Deutschen ein derart scharfer National-
unterschicd besteht, daß ohne Blutvergie¬
ßen eine Zwangsablösung der Deutschen
nicht möglich ist.
Die deutschen Gegenvorschläge sind in
Paris überreicht worden. Sie treten mit
allem Nachdruck und Ernst für das Verbleiben
der deutschen Landesteile im Osten beim
Reich ein. Sie führen den Nachweis, daß
weder Oberschlesien noch Westpreußen, weder
Danzig noch Memel von Deutschland los¬
gerissen werden dürfen, daß Ostpreußen nicht
verkümmern darf durch die Einschiebung eines
Polnischen Korridors zwischen deutsche Ge¬
bietsteile. Jetzt heißt es, diese Gegen¬
vorschläge zu unterstützen und viles zu ver¬
meiden, was ihre Wirkung beeinträchtigen
könnte. Wer heute dem Gegner einen Vor¬
wand für Einmarsch und gewaltsame Besitz¬
ergreifung liefert, macht sich gegen seinen
Willen zu ihrem Bundesgenossen.
Deutsche im Osten I Bewahret das Reich
vor dieser Lebensgefahr durch Ruhe und
Disziplin. Laßt keine unruhigen Köpfe das
Schicksal Deutschlands und vor allem des
deutschen Ostens gefährden. Verhandlungen
nicht Kampf, das muß jetzt die Parole sein
Werden unsere Gegenvorschläge abgelehnt, so
wirb die Reichsregierung ihre Entschlüsse für
Reich und Deutschtum so fassen, wie es für
das Leben des ganzen Volkes notwendig ist.
Wir kennen unsere Verantwortung für die
Gegenwart und die Zukunft.
Berlin, 30. Mai t919.
Zu
besonders machtvollen Kundgebungen zur
Deutscherhaltung Brombergs und des
Netzedistrikts gestaltete sich der Besuch von
neutralen, englischen und amerikanischen
Journalisten am 2. und 3. d, Mes. Kaum
war die Ankunft der fremden Besucher
bekannt geworden, a>is auch schon am
frühen Morsten große Mengen aller deut¬
schen Wevölkerungsschichten nach der Dan-
ziger Straße und dem Hotel Adler ström¬
ten, um in einer spontanen Kundgebung
für ihr Deutschtum zu demonstrieren.
Unter Absingen der. vaterländischen Wei¬
sen: „Deutschland, Deutschland über alles",
„O Deutschland hoch in Ehren", „Ich bin
ein Preuße" usw. zog die Menge durch
die Danziger und die umliegenden Stra¬
ßen und füllte den Friedrichsplatz rund
um das Denkmal Friedrichs des Großen
zu vielen Tausenden. Wo sich auch die
fremden Journalisten zeigten, tönte ihnen
das Bekenntnis aus dem Mund von Tau¬
senden entgegen: „Wir sind deutsch und
wollen deutsch 'bleiben."
Waren diese Kundgebungen schon am
ersten Tage außerordentlich eindrucksvoll,
so steigerten sie sich um zweiten Tage noch
ganz bedeutend. Ein Wald von schwarz¬
weiß-roten Fahnen und Tafeln, auf
welchen gegen die Abtrennung deutschen
Bodens protestiert wurde, wehten durch
die Straßen Brombergs, und wieder war
der Fricdrichsplatz der Zielpunkt, zu
welchem die Massen strömten. So gewal¬
tig war der Andrang, und das Gedränge,
daß die fremden Journalisten zum Teil
auf das vorgesehene Programm verzich¬
teten und eine längere Rundfahrt durch
die Stadt aufgaben. Deputationen aus
allein, Berufskreisen wurden in der Kunst¬
gewerbeschule empfangen und gaben ein¬
mütig ihrem Willen Ausdruck, unter
keinen Umständen vom Deutschen Reiche
getrennt zu werden.
Der Eindruck der Kundgebungen auf
die fremden Gäste ist nach ihren eigenen
Bemerkungen überwältigend gewesen, wie
aus verschiedenen Gesprächen hervorging.
Besonders tief war der Eindruck der
Großen Kinderscharen, dieser Verkörperung
deutscher Zukunft, die trotz Sturm und
Rogen nicht wichen und nicht wankten,
um immer wieder für ihr Deutschtum zu
zeugen Auch in anderen Orten, welche
die fremden Journalisten besuchten, haben
ähnliche großartige Kundgebungen statt¬
gefunden, so daß sie, wenn sie den Tat¬
sachen entsprechend Bericht erstatten, der
Überzeugung Ausdruck geben müssen: „Dies
Land ist deutsch und will deutsch bleiben."
Die militärische Lage an der posenschen
Front hat sich in den letzten Tagen zu
unseren Ungunsten gewendet. Von der
Hallerschen Armee sind bis jetzt 60 000
Mann auf polnischem Gebiet eingetroffen.
Die Polen befinden sich jetzt aber auch im
Besitze schwerer Geschütze, deren Mangel
auf polnischer Seite uns bisher sehr zn-
llatten kam. Sie 'haben schweres Geschütz
auch von Italien über Wien erhalten.
Die Gefahren, die uns von Kölnischer
Seite drohen, sind also wesentlich ge¬
stiegen. Die Verwendung der Hallerschen
Truppen gen>en Deutschland wäre allerdings
ganz vertragswidrig, denn die Polen soll¬
ten diese Truppen ausschließlich gegen die
Bolschewiki einsetzen. Eine solche Absickt
hat bei den Polen offenbar gar nicht be¬
standen, denn die Bolschewiki in der
Ukraine, ge>g>en die die Polen die Hallersche
Armee verwenden wollten, sind militärisch
gar nicht in der Lage, in Galizien einzu¬
fallen. Die Ukrainer sind militärisch viel¬
mehr längst erledigt, und die Polen ver¬
tu irklichen mit geringen Kräften dort jetzt
ihre rein imperialistischen^ Ziele. Sie
huben das Petroleuingebiet besetzt, melden
die Einnahme von Tarnopol und Dro-
hobicz und marschieren weiter östlich. Alle
Hallerschen Regimenter und auch andere
polnische Verbände, die an der Lemberger
Front gekämpft haben, befinden sich auf
dem Transport an die deutsche Ostgrenze.
Insgesamt sind von den sechs Hallerschen'
Divisionen —- über deren Qualität die
Urteile übrigens sehr verschieden lauten —
fünf durch Deutschland gereist. Auch nord-
lieb von Warschau machen sich Polnische
Truppenzusammelnziehungen bemerkbar.
(„Boss. Ztg." v. 30. Mai. Ur. 272.)
Berlin, 28. Mai. Der Betrieb auf der
Eifenbahnstrecke Kreuz-^Posen, auf der
allem der Verkehr mit dem gesamten pol¬
nischen Aufstands>gebiet vermittelt wurde,
ist am 23. vollständig eingestellt worden,
nachdem seit 20. der Personenverkehr ge¬
sperrt war. In der Gegend von Miala
sind die Schienen aufgerissen und die Tele¬
graphenleitungen zerstört worden. In¬
folgedessen hat der gesamte Post- und Tele¬
graphenverkehr mit dem von den Polen
besetzten Gebiet einstweilen eingestellt
werden müssen. Die unterwegs befind¬
lichen Sendungen werden zurückgeleitet
und an die Absender zurückgegebei werden.
OPPeln, 5. Juni. In Oberschlesien
haben sich alle Parteien zur Abwehr zu¬
sammengeschlossen. Diese Bewegung fand
gestern ihren Ausdruck in der Gründung
eines „Zentral-Volksrates für Ober¬
schlesien", in dein alle Parteien, von den
Deutschnationalen bis zu den Unabhän¬
gigen, zusammengeschlossen, find. Der
Zentral-Volksrat hat keine behördliche
Aufgabe, er kontrolliert nur die Behörden
im deutschen Sinne. Sein Programm ist
ein großzügiges Kulturprogramm. Man
will der oberschlesischen Bevölkerung die
Borzüge der deutschen Kultur nahebringen.
Der Zentral-Volksrat ist vorläufig als
Unterausschuß aller Oppelner Parteien
gegründet worden. Er besteht zunächst aus
fünf Mitgliedern und soll demnächst noch
ergänzt werden durch den Hinzutritt von
Abgesandten aller oberschlesischen Land¬
kreise. Vorläufig soll dieser Zentral-Volks¬
rat die nationale Stimmung, die jetzt in
Oberschlesien herrscht, weiter Pflegen und
erhalten.
Thorn, 9. Juni. Nachdem in letzter
Zeit wiederholt Anschläge auf das Ar¬
tilleriedepot und militärische Posten und
Anlagen von MarienbuW verübt worden
waren, wobei auch ein Mumtimisschupven
mit Manöverkartuschen in Brand gesetzt
Wurde, ist durch den kommandierender
General des 17. Armeekorps über den
Kreis Marvenburg der Belagerungszu¬
stand verhängt worden. Der gesamte ost¬
preußische Grenzverkehr nach Deutschland
innerhalb der Kreise Lyck, Marggrabowa
und Goldap, mit Ausnahme der Über¬
gänge bei Profilen und Czymochen. sind
auf Anordnung des Generalkommandos
Königsberg gesperrt worden.
Mehr als sieben Monate hat das deutsche Volk seit Beendigung der kriege-
rischen Handlungen darauf warien müssen, daß der Zwischenzustand zwischen
Krieg und Frieden in einem endgültigen Frieden seinen Abschluß finden sollte.
Nun haben wir den Abschluß, aber nach langer qualvoller und zermürbender Warte¬
zeit bedeutet er nichts anderes, als eine neue Frage an die Zukunft.
Wenn diese Zeilen gedruckt sein werden, dann ist in Weimar die Entscheidung
darüber gesallen, was wir den Forderungen der Feinde entgegensetzen werden.
Mit kaum erträglicher Spannung wartet die deutsche Ostmark aus die einzige
Antwort, die unseren Gegnern gebührt. Unser Standpunkt ist klar. Die Antwort
ist nut den Bedingungen der Gegner bereits' gegeben. Sie kann nur lauten „Nein".
Es scheint uns unmöglich, daß feierliche Erklärungen der Regierung und der
Parteien gebrochen werden sollten jetzt, wo es sich zeigen soll, daß hinter den Worten
auch der unbeugsame Wille zur Tat stand. Machen wir uns noch einmal die
Lage klar. Die Gegenvorschläge, die die deutsche Negierung auf die ersten
FnedcnVbedingungen der Entente formulirt hatte, waren ein unteilbares Ganzes,
ste stellten zugleich das äußerste Maß des Entgegenkommens dar, zu dem die Ne¬
gierung bereit war. Gewiß, das Unannehmbar der Regierung und Nationalver¬
sammlung nach dem Bekanntwerden der Bedingungen bezog sich auf „diesen"
Fitedensverlrag, und es wäre vielleicht ein Fall denkbar gewesen, indem man
darüber Hütte streiten können, ob die endgültigen Bedingungen sich von „diesen"
Bedingungen soweit entfernt hätten, daß man berechtigt sei, in die Erwägung
der Annahme der neuen Bedingungen einzutreten. Aber in ihrem blinden Ber-
uichlungswtllen hat die Entente uns die Entscheidung leicht gemacht. Die neuen
Bedingungen sind „diese" Bedingungen, deren Unannehmbarkeit für Negierung
und Nationalversammlung fraglos feststand. Es ist hier nicht nötig, in eine Er¬
örterung der wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen der Antwort unserer
Gegner einzutreten. Uns und jedem Deutschen genügt eins: B^i den Bestimmungen
über die Ostmarken besteht die einzige beachtenswerte Änderung in der Zu¬
billigung einer Abstimmung in Oberschlesien. Aber es soll nach dem Willen der
Eiilenie dabei bleiben, daß Posen und Westpreußen bedingungslos an den Pvlen-
staal abzutreten find. Und wenn die Entente in allen anderen Punkten restlos
aus die deutschen Gegenvorschläge eingegangen wäre, diese Forderung allein macht
es für jeoe deutsche Regierung zur unabweisbaren Pflicht, dem Friedensoorschlag
der Gegner ein durch nichts zu erschütterndes „Nein" entgegenzusetzen.
Wohl will uns die Größe der Verantwortung für die Entscheidungen, die
sich aus diesem „Nein" ergeben, zu Boden drücken. Und doch! Fast kommt es
uns an wie ein leises Aufatmen nach dem Druck der vergangenen Wochen.
Wir waren bereit, bis zum äußersten entgegenzukommen. Die Ostmarken blieben
fest hinter der Regierung stehen, obwohl es uns allen wie ein Verrat an uns
selbst und unseren Brüdern in den Ostmarken vorgekommen ist, daß wir einwilligen
sollten in die Abtretung auch nur eines Zolls deutschen Bodens. Wir haben nie
zugeben können, daß es innerhalb der deutschen Reichsgrenzen Gebiete gäbe, die
einen unzweifelhaft polnischen Charakter tragen. Wir haben stets auf dem Stand-.
Punkt gestanden, daß die Ostmarken als Ganzes genommen ihrer geographischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Siruktur nach zum deutschen Reich gehören, und
daß sie im übrigen weder rein deutsch noch rein polnisch sind. Aber wir waren
uns der Verantwortung gegen untere Volksgenossen bewußt. Wir waren bereit,
wenn auch mit blutendem Herzen, Opfer zu bringen, wenn ohne sie es nicht
möglich war, das deutsche Reich vor schwerer Not zu bewahren. Aber wir taten
das nicht freien Herzens. Es blieb der bohrende Gedanke: Hoden wir denn ein
Recht, Treue zu verlangen vom deutschen Volke zur deutschen Ostmark, wenn die
deutsche Ostmark sich selbst nicht die letz-e Treue hält?
Dieser inneren Qual sind wir jetzt enthoben. Wir wissen wieder, und wir
wollen dieses Wissen nie vertieren, daß die deutschen Ostmarken zusammengehören.
Und dafür sind wir dankbar, daß es uns erspart geblieben ist, denischcs Volkstum
zu verraten. Denn eS wäre Verrat gewesen, wenn er auch begangen wäre unter
dein schweren Druck der Not, unter dem tiefen Gefühl der Verantwortung gegen¬
über dem gesamten deutschen Volke.
Was wird nun werden? Seien wir nicht leichtfertig, sagen wir nicht, daß
wir froh sind, nun herauszukommen aus der Ungewißheit in die Zeit der frischen
Entschlüsse. Nein, seien wir nüchtern und ehrlich, und gestehen wir es uns
zu, daß wir vor einer Zukunft stehen, deren Dunkel kein menschliches Auge zu
durchgingen vermag. Aber diese Einsicht wird uns nicht trostlos machen.
Tausendmal haben wir es uns geschworen, das letzte einzusetzen für unser deutsches
Volkstum Vor uns und der ganzen Welt wären wir ehrlos, wenn wir jetzt,
wo die Schicksalsfrage in ihrer ganzen nackten Wirklichkeit an uns herantritt, feige
es nicht wagen würden, die Folgerungen aus unseren Schwüren zu ziehen. Wir
wissen es nicht, was kommen wird. Aber eins wissen wir: daß nnr das Volk
untergeht, das sich selber aufgibt. Und es kann keine schlimmere Form des Sich-
selberaufgebenS gedacht werden, als die Untreue gegen sich selbst. Sieben Wochen
lang haben wir erklärt: nein niemals. Und oll das soll Lüge, hohle Geste, Worte,
geboren aus Furcht, die eigene Schwäche und den eigenen fehlenden Willen zum
Leben zu verdecken, gewesen sein?
Wohl »tag auch unter uns Ostmarldentschen manch einer gewesen sein, der sich
gefragt hat, ob es nicht richtiger sei, weichend vor der Not den Vertrag zu unter¬
zeichnen und mit der Unterzeichnung das Gelübde zu tun, nur ein Ziel zu kennen;
diesen Veitrag zu zerreißen, sobald es möglich sei. Ader in unserer überwiegenden
Mehrheit haben wir den Mut zu diesem Spiel nicht finden können. Wir'haben
es mit deutscher Ehre und deutscher Sittlichkeit für unvereinbar geholten, zum-
,geben, was mir innerlich nie hätten zugeben können. Und aus dieser Überzeugung
heraus sind wir im vollen Gefühl seiner Bedeutung zu dem Entschluß gekommen,
nie in die Preisgabe der deutschen Ostmarken, und sei es auch nur durch eine
Unterschrift, einzuwilligen. Es wäre etwas, von dem unsere deutsche Seele sich
schwer würde erholen können, einsehen zu müssen, daß diese Wochen, in denen
wir uns in dem Willen zur Erhaltung unseres Deutschtums wiedergefunden haben
zu deutscher Einheit und deutschem Gemeinschaftsgefühl, nichts anderes gewesen
waren, vis der Rausch eines Mannes, der es nicht wagt, nach -dem Zusammen-
bruch seiner alten Existenz mit neuem Entschluß ein neues Dasein anzufangen,
sondern der sich im Trunko über seine wahre Lage hinwegtäuscht, um dann
schließlich eines Tages, wenn das kalte Elend ihn angrinst, doch zar Pistole zu
greifen, um einem Leben, das deshalb verpfuscht war. weil kein Wille es mehr
auf neue Bahnen bringen konnte, durch eine Kugel selbst ein Ende zu machen.
Wir wissen nicht, was kommen wird, aber die Zeit der Bedenken liegt
hinter uns. Wir haben nur das eine Ziel, unser Deutschtum zu erhalten mit
jedem Mittel, das deutscher Wagemut zu ersinnen weiß. Wir sind bereit, in jeder
Not zusammenzustehen mit dein ganzen deutschen Volke, denn wir wissen, daß
unser Ostmarkendeutschtum nur ein Zweig ist am Baume des großen deutschen
Volkstums. Und wenn wir in dieser Stunde tiefer als je empfinden, daß alles,
was wir sind und alles, was unserem Leben Bedeutung und Weihe verleiht, wir
unserem deutschen Volkstum verdanken, dann können wir nur- den eilten Gedanken
haben, wie bisher so auch in Zukunft den Lebenssaft zu ziehen aus dem Zu¬
sammenhang mit dem ganzen deutschen Volkstum.
Aber auch das deutsche Volk muß wissen, daß es seinen Leib verstümmelt,
wenn es uns preis gibt, und daß unsere Treue zum Deutschen Reich ihre Grenze
findet an der Treue zum deutschen Volkstum.
Wir geben nachstehend einen etwas ausführlichen Auszug aus der Mantel¬
note, um den Geist, aus dem sie entstanden ist, zu zeigen:
Die alliierten und assoziierten Mächte haben mit der ernstesten Aufmerksam¬
keit die Bemerkungen über die Fnedensbedingnngen geprüft, welche ihnen die
deutsche Delegation hat zugehen lassen.
Die deutsche Antwort protestiert gegen den Friedensvcrtrog, weil er einmal
im Widerspruch stehen soll mit den Bedingungen, welche die Grundlage des
Waffenstillstandes vom 11. November gebildet haben, und weil er ferner ein
Gewaltfriede ' und nicht ein Nechtsfriede sein soll. Der Protest der deutschen
Delegation beweist, daß diese die Lage verkennt, in der sich Deutschland heute
befindet- Die deutsche Delegation scheint zu meinen, daß Deutschland nur „einige
Opfer zu bringen hat, um den Frieden zu erlangen", als wenn dieser Friede
einzig und allein der Abschluß eines Kampfes um den Gewinn von Territorien
und Macht wäre- Infolgedessen halten es die alliierten und assoziierten Mächte
für notwendig, ihre Antwort mit einer genauen Darlegung ihres Urteils über den
Krieg zu beginnen, eines Urteils, welches tatsächlich das der Gesamtheit der
zivilisierten Welt ist.
I. Nach der Meinung der alliierten und assoziierten Mächte ist der Krieg,
der am 1. August 1914 ausgebrochen ist, das größte Verbrechen ge-M die
Menschheit und die Freiheit der Völker gewesen, welches je eine Nation, die' sich als
eine zivilisierte betrachtet, bewußt unternommen hat. Während langer Jahrs haben
die Machthaber Deutschlands, der preußischen Tradition getreu, ihre Anstrengungen
vervielfacht, um sich in Europa die Hegemonie zu sichern. Sie haben sich keines¬
wegs mit der Wohlfahrt und dem wachsenden Einfluß begnügt, welchen Deutsch¬
land mit Recht für sich beanspruchen konnte und welchen alle anderen Nationen
g'w-lit waren, ihm in der Gesellschaft freier und gleichberechtigter Völker zuzu¬
erkennen. Sie haben sich in die Lage versetzen wollen, ein geknechtetes Europa
ebenso zu beherrschen und zu tyrannisieren, wie sie ein geknechtetes Deutschland
beherrscht und es annisiert haben. Am ihr Ziel zu erreichen, haben sie mit allen
in ihrer Macht stehenden Mitteln die SinneSrichtunq ihrer Untertanen zu der
Dokkum erzogen, daß in den internationalen Angele-renheiten Macht Recht ist.
Sie haben memals aufgehört, die Rüstungen Deutschlands zu Lande und zu
Wasser zu entwickeln und die lügnerische Behauptung zu verbreiten, das? eine
solche Politik notwendig sei, weil die Nachbarn Deutschlands auf seinen Wohlstand
und seine Macht eifersüchtig seien. Sie haben versucht, anstatt Freundschaft,
Feindschaft und Mißtrauen zwischen den Ncuionen zu säen. Sie haben ein
Spionage- und Jntrigensystem entwickelt, welches sie in den Stand gesetzt hat,
innere Unruhen und Revolten hervorzurufen und sogar geheime Angrisfsvor-
bereitungen auf dem Territorium ihrer Nachbarn zu treffen, um im gegebenen
Augenblick sie mit mehr Sicherheit und Leichtigkeit vernichten zu können. Sie
haben Europa durch Gewaltandrohungen in einem Zustand der Gärung erhalten,
und als sie festgestellt haben, daß ihre Nachbarn entschlossen waren, ihren an¬
maßenden Plänen Widerstand zu leisten, haben sie sich entschlossen, ihre Vor¬
herrschaft durch Gewalt zu begründen, sobald ihre Vorbereitungen beendet waren.
Sie haben einen unterwürfigen Verbündeten ermutigt, Serbien den Krieg binnen
48 Stunden zu erklären, diesen Krieg, dessen Ziel die Kontrolle über den Balkan
war. Sie wußten sehr wohl, daß sich derselbe nicht lokalisieren lasse und ven allge¬
meinen Krieg entfesseln werde. Um diesen allgemeinen Krieg doppelt sicher zu machen,
b/rden sie sich jedem Versuche der Verständigung und der Konferenz entzogen, bis
es zu spät war und der Weltkrieg unvermeidlich geworden ist, jener Weltkrieg,
den sie geplant hatten und für den Deutschland allein unter den Nationen voll¬
ständig gerüstet und vorbereitet war. Die Verantwortlichkeit Deutschlands be¬
schränkt sich aber nicht auf die Tatsache, den Krieg gewollt - und enifesselt zu
haben. Deutschland ist in gleicher Weise für die wilde und unmenschliche Art
verantwortlich, in der es den Krieg geführt,hat.
Wiewohl Deutschland selbst einer der Garanten Belgiens war, haben seine
Machthaber die Neutralität dieses durchaus friedlichen Volkes verletzt, nachdem
sie feierlich versprochen hatten, sie zu respektieren. Nicht genug damit, haben sie
geflissentlich eine Reihe von Hinrichtungen und Brandstiftungen vorgenommen,
einzig und allein in der Absicht, die Bevölkerung zu terrorisieren und sie durch
den Schrecken ihrer Taten kirre zu machen. Die Deutschen waren es, die zuerst
giftige Gase angewandt haben, trotz der furchtbaren Leiden, die dieselben herbei¬
führen mußten. Sie waren es, die mit den Bombenabwürfen auf Städte und
den Fernbeichießungen derselbe!: angefangen haben und zwar ohne militärischen
Grund, einzig und allein in der Absicht, die Moral ihrer Gegner dadurch zu
erschüttern, daß sie Frauen und Kinder trafen. Sie waren es. die die Tauchboot¬
kampagne begannen, eine feeräuberische Mißachtung des Völkerrechtes, und so
eine große Anzahl unschuldiger Passagiere und Seeleute mitten im Weltmeere,
fern von jeder Hilfe, Wind und Wellen und, schlimmer noch, den Besatzungen
der Tauchboote preisgegeben, zum Tode verurteilten. Sie waren es, die mit
brutaler Wildheit Tausende von Männern und Frauen zur Sklaverei in fremde
Länder weggeschleppt haben. Sie waren es, die hinsichtlich der Kriegsgefangenen,
welche sie gemacht hatten, eine barbarische Behandlung, vor welcher die am
wenigsten zivilisierten Völker zurückgeschreckt wären, zugelassen haben. Die Haltung
Deutschlands ist fast ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit. Die schreck¬
liche Verantwortung, welche auf ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zusammen¬
fassen, daß wenigstens sieberr Millionen Tote in Europa in der Erde schlummern,
während mehr als zwanzig Millionen Lebende durch ihre Wunden und ihre
Leiden Zeugen dafür sind, daß Deutschland durch den Krieg seine Leidenschaft für
die Gewaltherrschaft hat befriedigen wollen. Die alliierten und assoziierten
Mächte glauben, daß sie die Schuldner derjenigen bleiben würden, welche alles
hingegeben haben, um die Freiheit der Welt zu retten, wenn sie einwilligten,
in diesem Kriege nicht ein Verbrechen gegen die Menschheit und gegen das Iiecht
zu erblicken. Diese Auffassung der alliierten und assoziierten Mächte ist mit voller
Deutlichkeit schon während des Krieges von den führenden Staatsmännern dieser
Mächte Deutschland dargelegt worden. Sie ist von dem Präsidenten Wilson in
seiner Rede vom 6. April 19l8 definiert worden und ausdrücklich und im einzelnen
von dem deutschen Volke als ein den Frieden leitendes Motiv angenommen
worden: „Mögen alle unsere Worte, meine Mitbürger, mögen alle unsere zu¬
künftigen Pläne und alle unsere Handlungen mit dieser Antwort im Einklang
stehen, bis daß die Majestät und die Kraft unserer vereinten Mächte den Geist
derer durchdringen und die brutale Kraft derer vernichten, welche, was wir lieben
und ehren, verspotten und verachten. Deutschland sagt erneut, daß die Kraft und
nur die Kraft entscheiden wird, ob Gerechtigkeit und Frieden die Angelegenheiten
deS Menschengeschlechts sichern sollen, ob dos Recht, so wie Amerika es versteht,
oder die Hegemonie, so wie Deutschland sie versteht, die Geschicke der Menschheit
Juden soll. Da gibt es wohl für sie nur eine einzige Antwort: Die Macht, die
Macht bis zum Äußersten, die Macht ohne Grenzen und ohne Ende, die richtende
und triumphierende Macht des Rechts, die das Recht zum Gesetz der Welt macht
und jede Gewaltherrschaft zu egoistischen Zwecken in den Staub zwingt."
Die gleiche Haltung ist deutlich zum Ausdruck gekommen in einer Rede des
Premierministers von Großbritannien vom 14, Dezember 1917: „Es gibt keine
Sicherheit in irgendeinem Lande, wenn die Strafe nicht mit Gewißh it folgt.
Es existiert kein Schutz für das Leben, für Gut und Geld in einem Staate, wo
der Verbrecher mächtiger ist als das Recht. Das internationale Recht bildet
keine Ausnahme und so lange man ihm nicht Genugtuung gewahrt hat, wird
der Frieden der Welt immer jeder Nation auf Gnade und Ungnade ausgeliefert
sein, der ihre Lehrmeister unaufhörlich den Glauben lehren, daß kein Verbrechen
so lange strafbar ist, als es die Größe und die Bereicherung des Landes zum
Gegenstand hat, dem jene Lehrmeister Untertan sind. In'der Weltgeschichte hat
es zuweilen verbrecherische Staaten gegeben. Wir haben in diesem Augenblick
mit einem solchen Staate zu tun. Es wird immer verbrecherische Staaten geben
bis zu dem Augenblick, wo die Früchte, die ein internationales Verbrechen ein¬
bringt, zu fragwürdig sein werden, um Nutzen zu bringen, und wo die Bestrafung
eines internationalen Verbrechens zu sicher sein wird, als daß dieses Verbrechen
noch Anziehungskraft hoben könnte." Dasselbe Prinzip ist deutlich dargelegt
worden in einer Rede des Herrn Clemenceau vom 17. September 1918: „Was
wollen sie (die französischen Soldaten), was wollen wir, wir selbst? Kämpfen
ohne Unterlaß und siegreich kämpfen bis zu der Stunde, wo der Feind begreifen
wird, daß kein Kompromiß möglich "ist zwischen einem solchen Verbrechen und
der Gerechtigkeit. Wir suchen nur den Frieden und wir wollen ihn gerecht und
dauerhaft, damit die künftigen Generationen gerettet seien von den entsetzlichen
Zuständen der Vergangenheit." Desgleichen hat Herr Orlando am 3. Oktober
1918 erklärt: „Wir werden den Frieden erhalten, wenn unsere Feinde anerkennen,
daß die Menschheit das Recht rend die Pflicht hat, sich gegen den Fortbestand der
Ursachen zu sichern, welche dieses entsetzliche Blutvergießen hervorgerufen haben,
und daß das Blut, das von Millionen Menschen vergossen ist, nicht nach Rache
schreit, sondern die Erfüllung des hohen Ideals verlangt, für welches dieses Vink
edelmütig vergossen ist. Selbst wenn es sich um eine gerechtfertigte Anwendung
des Wiedervergeltungsrechts handeln sollte, so denkt niemand daran, Methoden
brutaler Gewalt, anmaßender Herrschaft, oder Erstickung der Freiheit eines Volkes
anzuwenden, das heißt, eine Methode und eine Politik, welche die ganze Welt
gegen die Zentralmächte ausgebracht haben. Aber die ganze Welt wird aner¬
kennen, daß es zur Wiederherstellung der moralischen Ordnung nicht genügt, daß
derjenige, dem ein schändliches Unternehmen mißlingt, erklärt, er habe ans seinen
Plan verzichtet. Die Fragen, die in ihrem Wesensinhalt selbst das friedliche
Leben der Nationen berühren, müssen, wenn sie einmal gestellt sind, die Lösung
finden, welche die Gerechtigkeit fordert."
Also ist die Gerechtigkeit die einzig mögliche Basis zur Begleichung der
Rechnung dieses schrecklichen Krieges. Gerechtigkeit ist es, waS die deutsche
Delegation verlangt, und was nach Erklärung dieser Delegation Deutschland
versprochen sein soll. Gerechtigkeit soll Deutschland werden. Aber es muß eine
Gerechtigkeit für alle sein. Es muß Gerechtigkeit sein für die Toten, für die
Verwundeten, für die Waisen, für alle, die in Trauer sind. Damit Europa von
denk preußischen Despotismus befreit werde, ist es nötig, daß Gerechtigkeit den
Völkern werde, welche heute unter einer Last von Kriegsschulden zusammenbrechen,
die sich auf mehr als dreißig Milliarden Pfund Sterling beläuft und die sie auf
sich genommen haben, um die Freiheit zu retten. Gerechtigkeit muß den Millionen
Lebewesen werden, denen deutsche Barbarei Heim, Land, Schiffe und Gut ge¬
plündert und zerstört hat. Deswegen haben die verbündeten und asioziieiten
Regierungen mit Nachdruck erklärt, daß Deutschland als Vorbedingung des Ver¬
trages ein Werk der Wiedergutmachung bis zur äußersten Grenze seiner Leistungs¬
fähigkeit übernehmen muß' denn die Wiedergutmachung der Schäden, die man
verursacht hat, ist das Wesen der Gerechtigkeit, Aus diesem Grunde bestehen sie
darauf, daß die Personen, die für den deutschen Angriff sowie für die Akte der
Barbarei und Unmenschlichkeit, die deutscherseits die Kriegführung entehrt haben,
ant offenkundigsten verantwortlich sind, einer Gerechtigkeit überliefert werden, die
ihnen gegenüber bisher im eigenen Lande nicht zur Anwendung gebracht worden
ist. Aus diesem Grunde muß sich Deutschland auch für einige Jahre gewissen
Beschränkungen und gewissen Sonderabrnachnngeu unterwerfen.
In Anwendung dieser Prinzipien haben die alliierten und assoziierten
Mächte Vorkehrungen getroffen, um Polen als unabhängigen Staat wiederherzu¬
stellen, mit „einem freien und sicheren Zugang zum Meere". Alle° die „Terri¬
torien, welche von unzweifelhaft polnischer Bevölkerung bewohnt sind", sind Polen
zuerkannt worden; alle die Territorien, welche von einer deutschen Mehrheit
bewohnt sind, außer einigen isolierten Städten und einigen Kolonien, welche auf
kürzlich mit Gewalt expropriierten Ländern errichtet sind und mitten in unzweifel¬
haft polnischen Gebieten liegen, sind Deutschland überlassen worden. Überall, wo
der Volkswille zweifelhaft ist, ist eine Volksabstimmung vorgesehen worden. Die
Stadt Danzig wird die Verfassung einer Freistadt erhalten, Ihre Einwohner
werden autonom sein; sie werden nicht unter der Herrschaft Polens sein und
keinen Teil des polnischen Staates bilden. Polen wird gewisse wirtschaftliche
Rechte in Danzig erhalten. Die Stadt selbst ist von Deutschland abgetrennt
worden, weil es keine andere Möglichkeit gab, um jenen „freien und sicheren
Zugang zum Meere" zu schaffen, welchen Deutschland abzutreten versprochen hatte.
Die deutschen Gegenvorschläge, widersprechen vollkommen der Grundlage,
die für den Friedensschluß angenommen wurde. Sie laufen darauf hinaus, daß
starke Mehrheiten von unzweifelhaft polnischer Bevölkerung unter der Herrschaft
Deutschlands behalten werden. Sie verweigern einen freien Zugang zum Meere
einer Nation von mehr als zwanzig Millionen Einwohnern, deren Landsleuts
den ganzen nach der Küste führenden Weg entlang in der Majorität sind, um
die Landverbindungen zwischen Ost- und Westpreußen aufrechtzuerhalten, deren
Verkehr sich immer in erster Linie über Meer abgewickelt hat. Diese Gegenvor¬
schläge können daher von den alliierten und assoziierten Mächten nicht angenommen
werden. Jedoch hat die deutsche Note eine Berichtigung gerechtfertigt, welche auch
stattfinden wird. Unter Berücksichtigung der Versicherung, daß Oberschlesien, ob¬
gleich von einer Mehrheit Polen im Verhältnis 2:1 bewohnt (eine Million zwei-
hundcrtfüufzigtauscnd gegen sechshundertfünfzigtausknd nach der deutschen Volks¬
zählung von 1910). deutsch bleiben will, willigen die Mächte darin ein, daß die
Antwort auf die Frage, ob Oberschlesien einen Trit Deutschlands oder Polens
bilden soll, durch die Abstimmung der Einwohner selbst entschieden werde.
Dis feindliche Mantelnvte schließt folgendermaßen:
Zum Schluß müssen die alliierten und assoziierten Mächte klar feststellen,
daß diese Note und die ihm beigefügte Denkschrift ihr letztes Wort bedeuten.
Sie haben die deutschen Vorschläge und Gegenvorschläge mit Sorgfalt und ernster
Aufmerksamkeit geprüft; sie haben auf Grund dieser Prüfung bedeutende Kon-
Zessionen in der praktischen Anwendung gewährt.
Was aber die Grundlinien angeht, so beharren sie bei dem Vertrage. Sie
glauben, daß dieser Vertrag nicht nur eine gerechte Regelung des großen'Krieges
darstellt, sondern auch die Grundlage schafft, auf der die Völker Europas auf
dem Fuße der Freundschaft und Gleichheit miteinander leben können. Gleichzeitig
schafft der Vertrag das notwendige Organ, um auf friedliche Weise alle inter-
nationalen Probleme auf dem Wege der Besprechung und Verständigung zu regeln
und die Mittel zu finden, die Nkgclung des Jahres 1919 selbst von Zeit zu Zeit
abzuändern, indem es sie neuen Tatsachen und neuen Verhältnissen anpaßt, je
nachdem sie vorliegen werden. Die Regelung beruht allerdings nicht auf einer
allgemeinen Absolution für die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918, denn sonst
wäre es nicht ein Friede der Gerechtigkeit. Aber sie stellt einen aufrichtigen und
durchdachten Versuch dar zur Herbeiführung „jener Herrschaft des Rechtes, die
auf der Zustimmung der Beherrschten beruht und durch die organisierte Meinung
der. Menschheit gestützt wird", die als Grundlage für den Frieden vereinbart
worden ist.
Als ein solcher muß er in der heute vorliegenden Formulierung angenommen
oder abgelehnt werden. Infolgedessen erwarten die verbündeten und assoziierten
Mächte von der deutschen Delegation innerhalb von fünf Tagen, vom Tage der
gegenwärtigen Mitteilung gerechnet, eine Erklärung, die ihnen zu erkennen gibt,
daß sie bereit ist, den Vertrag so, wie er heute ist, zu unterzeichnen. Falls die
deutsche Delegation innerhalb der angegebenen Frist erklärt, daß sie bereit ist.
den Vertrag so, wie er heule ist, zu unterzeichnen, so werden die Dispositionen
für die sofortige Unterzeichnung des Friedens in Versailles getroffen werden.
Mangels einer solchen Erklärung stellt die gegenwärtige Mitteilung die Ankündi¬
gung dar, die in Artikel 2 der Konvention vom 16. Februar 1919 vorgesehen
ist, 'durch die der am 11, November 1918 abgeschlossene und durch die Konven¬
tionen vom 13. Dezember 1918 und 16. Januar 19l9 verlängerte Waffenstill,
stand weiter verlängert wurde. Es wird infolgedessen der gedachte Waffenstillstand
beendet werden, und die verbündeten und assoziierten Mächte werden diejenigen
Maßnahmen ergreifen, die sie für notwendig erachten werden um ihre Bedingungen
Die politischen Auswirkungen der Danziger Tagung des Volksratsausschusses
treten von Tag zu Tag mehr hervor. Der parlamentarische Aktionsausschuß der
Nordgruppe der Ostmark beruft sich in seiner Kundgebung vom 14. d. Mes, aus-
drückltch auf die Mitarbeit der Volksräte sowie der mit ihnen vereinigten Organi¬
sationen des Ostdeutschen Heimatdienstes, und Reichskommissar Wirrig hat soeben
in der Presse eine Erklärung veröffentlicht, deren Inhalt sich mit den Forderungen
der Volksratsbewegung in völligem Einklang befindet. Diese beiden Tatsachen
verdienet, eine tiefere Beachtung. Beide Kundgebungen wurden erst möglich, als
sich die Erkenntnis durchgedrückt hatte, daß der gewaltige Zug, der jetzt durch die
Ostmark geht und in der Volksratsbiwegung am klarsten zum Ausdruck kommt,
einzig und allein dem Willen ihrer Volksmehrheit entspringt, deutsch zu bleiben,
und daß dabei keinerlei politische Nebenabsichten verfolgt werden. Der parla¬
mentarische Aktionsausschuß, dessen einzelne Mitglieder ihre Parteigegensötze und
Partennteressen vor dem einen großen Ziele, der Deutscherhaltung der Ostmark,
zurückstellen, der sozialdemokratische Reichskommissar, der seine Aufgabe nicht in
der Forderung einer Partei, sondern in der Rettung des gesamten Deutschtums
in der Ostmark sieht — beide befinden sich auf dein gleichen Wege wie der
Volksrat der Ostmark, der auf einen parteilosen Zusammenschluß der deutschen
Vevölkerungsteile zu einer wirklichen Volksgenossenschaft hinarbeitet. Unsere
Rettung vor polnischer Versklavung wird allein durch unsere innere Geschlossenheit
verbürgt, und die beiden Kundgebungen beseitigen das hauptsächliche Hindernis,
das der Bildung der Geschlossenheit entgegensteht, das gegenseitige Mißtrauen.
Unter diesem wechselseitigen Mißtrauen hatte die Ostmark zu leiden und leidet
auch heule noch. Maßgebende, der Koalilionsregierung nahestehende Kreise können
ein unbestimmtes Mißtrauen gegen die in der Ostmark sich geltend machenden
Bestrebungen nicht unterdrücken, und auch in der Ostmark selbst fühlen sich an
manchen Orten sozialdemokratische Parteiorganisationen infolge mißverständlicher
Auslegung des zum Ausbruche drängenden Volkswillens beunruhigt. Man wittert
reaktionäre, antlsozialistische Bestrebungen sowie separatistische Tendenzen, während
es sich in Wirklichkeit nur darum handelt, daß die Ostmark ihr Schicksal nicht von
der Zukunft des gesamten deutschen Volkes trennen will. Wie das deutsche Volk
seine Zukunft gestalten wird, ist Sache d-s auf verfassungsmäßigen Wege zur
Geltung gelangenden Volkswillens; die Ostmark ist sich darin einig, daß sie der
Lösung dieser Frage weder vorgreifen kann noch darf. Die Volksratsbewegung
läßt sich nicht von nationalistischen Gefühl, sondern ausschließlich von der
Erkenntnis leiten, daß mit der Preisgabe der Ostmark nicht allein das oslmärkische
Deutschtum vernichtet, sondern auch die Zukunft des gesamten deutschen Volkes
gefährdet wird. Die Führung des Kampfes gegen die Vergewaltigung der
Ostmark bedeutet demnach neben der Pflicht zur Selbilerhaltung auch eine Pflicht
gegen das deutsche Volk überhaupt. Rationalistische Auswüchse wird die Ostmark
selbst ausmerzen, und es kann nur dringend davor gewarnt werden, in ihnen
irgendwie gefährliche oder beachtenswerte Anzeichen zu sehen. Diese Warnung
gilt ebenso sehr für die unorientierten Ansichten-gewisser extrem rechtsstehender
Blätter wie für die dem mittleren linken Flügel angehörende Presse, die sich
dadurch beunruhigt zeigt. Die Ostmark ist kein Feld für eigennützige Experimente,
auch nicht für Betätigung gefühlsmäßiger Politik. Gewisse Erwartungen und
gewisse Befürchtungen fallen damit in sich selbst zusammen, da ihnen jede reale
Unterlage fehlt.
Die Beseitigung des Mißtrauens allein kann den Weg zur Herstellung der
inneren Geschlossenheit des gesamten ostmärkischen Deutschtums ebnen. Der
parlamentarische Aktionsausschuß und der sozialdemokratische Reichskommissar
haben sich entschlossen in den Dienst dieser Aufgabe gestellt. Wer argwöhnisch
abseits stehen bleibt, setzt sich der Gefahr aus, eigennütziger Absichten bezichtigt zu
werden. Jedem steht es frei, sich der großen durch die Ostmark gehenden Volks-
ratsbewegung anzuschließen und in und mit ihr an dem einen großen Ziele mit¬
zuarbeiten, der Erhaltung des Deutschtums.
Vom Ausschuß der Vereinigten Deut¬
schen Volksräte und des Heimatdienstes
des Ostens wurden am 12. Juni folgende
Entschließungen Gefäße und auf dem
Drahtwege weitergeleitet:
„Reichsregierung Berlin.
Unmittelbar vor der Entscheidung über
das Schicksal der Ostprovinzen erneuern
von allen Schichten der deutschen Bevöl¬
kerung des Ostens berufene Vertreter, die
als ständiger Aufschub der Vereinigten
Deutschen Volksräte und des ostpreußi¬
schen Heimatdienstes des Ostens hier
tagen, das Gelöbnis des Festhaltens am
Reiche, erwarten aber, daß die Regierung
jede Vergewaltigung des Selbstbeslim-
muuqsrechles von Millionen Deutscher in
Miseren Provinzen zurückweist. Bleibt
die Regie'.ung dem deutschen Volke de'r
Oitmac? an et> in der entscheidenden sein.de
treu, dann wird dieses Volk Treue mit
Treue erwidern.
„Grasen Brockdorff-Rcmtzau, Versailles.
Der in Danzig ständig tagende Aus¬
schuß ,der Vereinigten Deutschen Volks¬
räte und des Heimatdienstes des Ostens
übermittelt das felsenfeste Vertrauen von
Millionen Deutschen der Ostmark, daß
Euer Exzellenz leine Vergewaltigung
ihres Selbstbestimmungsrechtes zulassen
werden. Amerikanische und englische Jour¬
nalisten! haben dieser Dage mit eigenen
Augen die erschütternden Kundgebungen
der Ostmarkendeutschen gesehen und 'ihren
eisernen Willen, unter allen Umständen
deutsch zu bleiben, kennen gelernt. Die
Mnze Ostmark ist eines Willens, die ge¬
plante gewaltsame Auslieferung an eine
kulturell rückständige Nation zu verhin¬
dern!! In diesem Sinne steht das Deutsch¬
tum der Ostmark geschlossen hinter Euer
Exzellenz und will lieber den Abbruch der
Verhandlungen mit seinen schweren Fol¬
gen, als eine Preisgabe seiner nationalen
Existenz tragen."
„Ne i esso echrm inister Roste, Weimar.
Der in Danzig ständig tagende Aus¬
schuß der Deutschen Volksräte und des
Heimatdienstes des Ostens bekundet als
berufener Vertreter aller Schichten und
Massen der deutschen Bevölkerung der
Ostmark mimittelbar vor der herein¬
brechenden Polcngefahr noch einmal sein
festes Vertrauen zum Rcichswehrminister.
Die ganze Ostmark steht einmütig
hinter Ihnen. Millionen Deutsche blicken
mit Zuversicht auf Ihre Entschlossenheit,
d'e Ostmark vor der nahenden polnischen
Flut für das Deutsche Reich zu schirmen
und zu retten.
Mxzellenz Generalfeldmarschall
v. H inde n b u r g, GroßcsHauptquartier
Dem Befreier der Ostmark sendet der
in Danzig ständig tagende Ausschuß der
Deutschen Volksräte und des Heimat»
dienstcs des Ostens seinen Gruß.
„Herrn -Reichskommissar Wirrig,
Königsberg.
Als Zeichen der Einmütigkeit mit
Ihrer Auffassung über die Aufgaben der
deutschen Politik in der Ostmark served
der in Danzig ständig tagende Ausschuß
der Deutschen Bolksräte und des Heimat¬
dienstes des Ostens seinen vertrauens¬
vollen Gruß.
„Oberpräsidenten v. S es nackenbucg,
Danzg.
Der Ausschuß der -Vereinigten Deut¬
schen Volksrätc und des Heimatdienstes
des Ostens ist zur ständigen Tagung in
der Hauptstadt Ihrer Hvimatprovinz ver¬
sammelt, um alle Kräfte geschlossen für
die Erhaltung dieser schönen Provinz
beim Reiche einzusetzen. Mit besonderer
Freude begrüßt der Bolksratsansschuß,
daß ein Sohn Westpreußens nun an der
Spitze der Provinz steht und hegt ans
dieser engen Zugehörigkeit die feste Zu¬
versicht, daß das westpreußische Volk in
diesen schweren Tagen der Not in Ihnen
einen Mann erblicken kann, dem es rück¬
haltlos sein Vertrauen schenken darf.
„Herrn v. Batocki, Königsberg.
Die in Danzig zu ständiger Tagung
versammelten Vertreter der Deutsche»
Volksräte und des Heimatdicnstes des
Ostens senden Euer Exzellenz treuen deut¬
schen! Gruß in der Gewißheit, daß das
deutsche Volk des Ostens in seiner Schick¬
salsstunde in Ihnen einen starken Kämp¬
fer für die Erhaltung des Deutschtums
und der deutschen Interessen in den Ost¬
provinzen erblicken darf.
Eine aanze Reihe höchst beunruhigen¬
der Meldungen über die Verschärfung der
Lage >an der deutsch-Polnischen Demarka¬
tionslinie haben Reichsminister Erzberger
vcranlccht, am 12. Juni folgendes Schreiben
an, den General Dupont zu richten, den
Chef der französischen Militärmission in
Berlin, welchem zugleich die Verbindung
mit der interalliierten Kommission in
Warschau obliegt:
Der Neichsregicrung ist folgender pol¬
nischer Befehl zur Kenntnis gebracht:
Armee Haller — Teile der französi¬
schen Armee, die in der Mehrzahl aus
deutschen und österreichischen kriegsgefan-
genen Polen bestehen, also Landsleute des
jetzigen Polnischen Reiches — wird jetzt
der Polnischen Armee zugeteilt.
Die Republik Polen befindet sich im
Kriegszustand mit Deutschland, sie hat
auch das Recht, die Armee Haller gegen
Deutschland zu verwenden.
Auf Veranlassung des Kriegsministe-
rinms vom 3. 6. 19 werden zwei Divi¬
sionen der Haller-Armee in den nächsten
Tagen nach Posen abtransportiert und
dann sofort auf der ganzen Front verteilt.
ferner gehen nach abgehörten Ge¬
sprächen bei Lissa die Leerzüge der
Hallertransporte nicht mehr zurück und
erfolgen Ausladungen gegen Deutschland,
da Befehl zum Angriff in den nächsten
Taocn erwartet wird.
Außerdem sind folgende Telephonge¬
sprä ehe zwischen Posen und Käutel be¬
kannt geworden:
n) Es sind keine Leerzüge mehr nach
Lissa heraufzuschicken, da heute oder mor¬
gen der Angriffsbefehl kommt. Die
letzten Hallerzüge werden spätestens über¬
morgen kommen.
K) 1 Uhr 12 Minuten kommt Haller¬
zug, er wird in Käutel ausgeladen.
Sämtliche Hallerzüge, die noch kommen,
werden in Krotoschin und Bogutschin,
Punitz und Käutel ausgeladen.
Endlich wurde in den letzten Tagen
gemeldet:
a) Nach mehrfachen Aussagen von
Neberläufern sind aus Hallertruppenteilen
in Warschau Mannschaften herausge¬
zogen, in Abteilungen von mehreren 190
Mann zusammengestellt und nach Posen
befördert worden.
l>) In einem Funkspruch vom 7. K.
französischer Klartext von Posen, an
Eiffelturm an das Kriegsministerium
Paris, unterschrieben von General Dom¬
bor-Musnicki, wird gebeten, vier Eisen¬
bahnwagen mit Pneumatiks und Male?
rial zur Ausbesserung, die sich auf dem
Wege über Se. Didier durch Deutschland
nach Posen befinden, umzuleiten, da sich
die Lage verschärft habe.
Diese polnischen Maßnahmen würden,
falls sie zutreffen, den Vereinbarungen
des Waffenstillstandes und auch den
mündlich gegebenen Zusicherungen des
Marschalls Fons widersprechen.
Es ist bei den örtlichen Behörden
durch diese Maßnahmen eine starke Erre¬
gung entstanden, wodurch unerwünschte
Konflikte hervorgerufen werden können.
Ich bitte daher um unverKglich«
Klärung und Abstellung, für den Fall,
daß die Nachrichten den Tatsachen ent¬
sprechen sollten, da die Reichsregierung
sonst zu sofortiger Einstellung der Haller¬
transporte gezwungen wäre.
Mit Rücksicht auf die Dringlichkeit der
Angelegenheit darf ich einer Antwort
im Laufe des morgigen Tages ergebenst
entgegensehen.
Berlin. 14. Juni. (Wolff.) Auf die
Anfrage des Vorsitzenden der internatio¬
naler Waffcnstillstandskoinmission in
Spa, General Undank, ob sich die Nach¬
richt von einer deutscherseits veranlaßten
Unterbrechung der Transporte der Haller-
.Armee bestätigt, antwortete Erzbierger
durch folgende Note:
Artikel erneut bestimmt, daß die beför¬
derten polnischen Truppen lediglich zur
Aufrechterhaltung der Ordnung in den
von den Deutschen an ihren Ostgrenzen
geräumten Gebieten bestimmt find. In
dem Zusatzabkommen zu dem Protokoll
vom 4. 4. ist ausdrücklich vereinbart, daß
die Transportzüge nach ihrer Entladung
in kürzester Frist ans demselben Wege
von den Polen zurückgeführt werden
müssen. Nach einer Meldung der deut¬
schen Obersten Heeresleitung ^sind seit"
gestern morgen die Leerzüge nicht mehr
zurückgegeben worden.
Die deutsche Regierung läßt es dahin¬
gestellt sein, ob die polnische Maßnahme
eine Verwirklichung, der verschiedenen vor¬
hergegangenen Meldungen! ist, wie sie
General Dupont gestern mitgeteilt wor¬
den sind. Sie stellt das Aufhören der
Rückgabe des Lcermaterials lediglich als
Tatsache fest. Die deutsche Regierung
kann ihre Bereitschaft zur Durchführung
der Hallerschen Transporte nicht besser
beweisen, als dadurch, das; sie die örtlichen
deutschen Befehlsstellen anweisen ließ, die
Transporte vorerst fortzusetzen. Hinsicht¬
lich der Rückführung des Lcermaterials
aus Polen über Fraustadt erklärt sich die
deutsche Regierung mit der in der Note
vom 13. Juni durch Marschall Fons ge¬
gebenem Erklärung befriedigt, erwartet
aber rascheste Aufklärung über die in der
gestrigen an General Dupont übergebe-
nen Note enthaltenen Meldungen.
Die in der Note erwähnte Erklärung
Fonds vom 13. Juni, deren Kenntnis für
die Beurteilung des Zusammenhangs
nötig ist, war an General Undank in
Span gerichtet und lautet folgender¬
maßen:
„Ich gebe der französischen Mission
in Warschau die nötigen Befehle, damit
die leeren Achsen zu gleicher Zeit mit
vollen Zügen in Lissa eintreffen. Ich
bitte Sie, davon die deutsche Delegation
zu benachrichtigen, indem Sie sie jedoch
darauf aufmerksam machen, daß durch
höhere Gewalt Verzögerungen eintreten
können. Ich ersuche darum, daß die vollen
Züge regelmäßig, von Lissa abfahren,
selbst, wenn leere Züge noch -nicht ange¬
kommen sind. Falls die sechs leeren Züge,
die «innerhalb 24 Stunden in Lissa ein¬
treffen müssen, nicht ankommen oder mit
bedeutender Verspätung, müssen Sie mich
sofort in Kenntnis setzen, damit ich von
neuem einschreiten kann-."
Die durch Erzbevger von dem Chef
der französischen Mil^dar.mission in Ber¬
lin, Dupont, geforderte Ausklärung über
d'e übereinstimmend gemeldeten pol¬
nischen Angriff-Vorbereitungen ist von
General Dupont zwar noch nicht erteilt,
jedoch enthält die Empfangsbestätigung,
welche auf d>!e anfragende Note vom
12, Juni an die Waffenstillstandskom-
mifsion in Berlin am Z3. Juni gerichtet
worden ist, den Satz: Die polnischen Be¬
hörden wurden über die in der Note ge¬
meldeten ZwMenfcille telegraphisch um
Auskunft gebeten.
Von der Haller-Armee hat auf dem
Durchmarsch durch Deutschland nach der
1 , 2., 3., 6. und Lehr-Division etwa die
Hälfte der 7. Division polnisches Gebiet
erreicht. Mit den Transporten der letzten
Tage sind auch die Tankgeschwader der
einzelnen Divisionen (ein Geschwader zu
24 Tanks) durch Deutschland durchgekom¬
men. Polnisches Gebiet haben damit be¬
reits mindestens 72 Einheiten dieser
Waffe erreicht, über die wir Deutschen
bekanntlich nur in außerordentlich ge-
ringer Anzahl verfügen.
Die Lage an der polnischen Ostfront
tritt vollkommen zurück vor den Ereig¬
nissen an der polnisch-deutschen Grenze.
Polen befindet sich im vollen Aufmarsch
gegen Deutschland, und zwar mit allen
verfügbaren Truppen seiner ans 300 000
Mann zu berechnenden Streitkräfte, zu
denen die 60 000 Mann der Dcutschpvlen
in der Provinz Posen hinzuzurechnen
sind. An der Ostfront sind angesichts
der dort von den Bolschewiki in kaum
nennenswerter Weise drohenden Gefahr
nur die allcrnotwendigsten Kräfte belassen
worden, alles irgendwie Entbehrliche be¬
findet sich auf dem Abtransport nach den
deutschen Grenzen. Alle Anzeichen wei¬
sen darauf hin, daß der Aufmarsch der
Polen in vollem Gange ist: Hohe Stäbe
sind an die deutschen, Grenzen heran ver¬
legt worden, der Stab von Haller selbst
angeblich nach Krakau. Hohe Offiziere
— eS handelt sich meist um französische
Generäle — besichtigen die in der Nähe
der deutschen Grenzen bereits angekom¬
menen Truppen. Die polnischen Dörfer
an der deutschen Grenze müssen bis zu
bestimmten Terminen, — anscheinend zur
Freimachung von Quartieren, — ge¬
räumt werden. Truppenteile, die in der
Ukraine abgekämpft waren, erscheinen nach
Wiederauffüllnng und langer Erholungs¬
zeit an der deutschen Grenze.
Sämtliche Hallerschen Divisionen sind
unseren Grenzen gcgeiiüber zusammen¬
gezogen worden, und zwar zwei Divi¬
sionen der Hallerschen Armee, die bisher
anstatt zur Bekämpfung der Bolschewiki,
zur Nicderringung, der ukrainischen Anti-
Bolschewisten Verwendung gefunden hat¬
ten, stehen gegenüber dem oberschlesischen
Kohlcngebiet bei Czenstochau, wo sie kürz¬
lich vom General Haller besichtigt wur¬
den, und bei Auschwitz zum Vormarsch"
bereit. — Drei Divisionen Hallers stehen
gegenüber der ostpreußischen (2) und der
westpreußischen (1) Südgreuze. Die der
Zahl nach sechste Haller-Division, der
Nummer nach die siebente, ist zunächst für
Letz bestimmt. Sollte diese Division die
letzte der durch Deutschland zu transpor¬
tierenden sein, so ist damit zu rechnen,
daß die Polen nach Beendigung des
Transportes die Maske fallen lassen und,
die Hallerschen Divisionen auch in der
Provinz Posen einsetzen.
Nach Warschauer Zeitungen hat auf
dem Kalischer Bahnhof bereits Ende Mai
eine Zusammenkunft zwischen Pilsudski
und dem Posenschen Oberkommaudieren-
den Dowbor Musnicki stattgefunden.
Hierbei hat sich Dowbor Musnicki mit
seinen Truppen dem Oberbefehl Pil-
sudskis unterstellt. Auch dies weist darauf
hin, daß demnächst mit der Verstärkung
der posenschen Nordgruppe, die voraus¬
sichtlich den Angriff auf die Linie
Schneidemühl — Bromberg — südwestlich
Thorn, eröffnen dürfte, durch kongveßpol-
uische Truppen zu rechnen ist.
Durch zahlreiche Bahnsprengnngen ist
bereits östliche Kreuzburg und südlich
Rosenbera die für unsere militärischen
Gegenmaßnahmen außerordentlich wich¬
tige Bahnlinie Breslau—Kreuzburg^-
Tarnowitz unterbrochen worden. Dies
läßt auf eine großzügige Leitung des ge¬
samten polnischen Anfmarsches und seines
baldigen Abschlusses schließen.
Oppeln, 12. Juni.
Oberschlesien verlebt jetzt aufregende
Tage. Der Pfingstputsch der Polen im
Kreise Rosenberg und die Versuche, stra¬
tegisch wichtige Eisenbahnstrecken zu
sprengen, haben einen Blick in die ganze
Größe der Gefahr tun lassen. Wie wir
hören, sind jetzt deshalb militärische Ver¬
stärkungen des Grenzschutzes in Ober-
schlesien angekommen.
Der Pulses in Rosenberg stellt sich
mit Sicherheit als ein Berzwcifluugs-
unternehmen der dortigen Polenführer
heraus. Die Hochverräter wollten nach
Posener Muster einfach Rosenberg am
Sonntag dem Polenreiche einverleiben.
Durch die Nähe der Hallerschen Armee
glaubten sie sich genügend im Rücken ge¬
schützt. Die Anschläge, die am ersten
Feiertag im Rosenberger Kreise verbreitet
wurden, begannen mit den Worten:
„Bauern, wir gehören seit heute dem pol¬
nischen Staate an. Verhaltet Euch ruhig.
Befolgt genau, was Euch von Euren pol¬
nischen Führern gesagt wird."
Bei dem Polenführer Soika in Lowo-
schau fand man änßerst wichtige Schrift¬
stücke und ein Verzeichnis der polnischen
Bandcnführer vergraben. Leider entkam
Soika, ebenso der Pfarrer Kutschka aus
Whssoka und der Rittergutsbesitzer von
Laszcwski, Kutschkas rechte Hand. Der
Großpole Mureck, der bei der Verhaftung
Widerstand leistete, wurde erschossen.
Berlin, 14. Juni. Die Entschlossenheit
der Meichsregn^uiW, die Oftprvvinzcn
gegen den polnischen Einmarsch mit be¬
waffneter Hand zu schützen, geht aus einer
Erklärung des Reichskommissars Wirr>'g
hervor, zu deren Wiedergabe die Presse
ermächtigt wird. Es heißt darin n.
Die , Bevölkerung des Ostens soll
wissen, daß sie sich ans die Regierung
verlassen kann. Nie jetzige Regierung
wird einen Frieden, der den Osten Preis¬
gibt, niemals annehmen und unterzeich-
nen. Die Regierung ist entschlossen, einen
polnischen Einmarsch in die strittigen Ge¬
biete des Ostens mit den Waffen in der
Hand abzuwehren, ganz gleich, ob dieser
Einmarsch noch vor Abbruch der Friedens-
verhandlungen .gewagt werden sollte, was
nach einigen Fällen an der Demarkations¬
linie nicht unmöglich erscheint, oder ob er
erfolgen sollte, nachdem die Verhandlun¬
gen durch die Weigerung der Reichsregie¬
rung, diesen Frieden zu unterzeichnen, zum
Abbruch gekommen sind: in jedem dieser
Fälle ist die Regierung bereit, einer pol¬
nischen Besitzergreifung der Gebiete mit
den W.äffen in der Hand entgegenzutreten.
Sie setzt dabei voraus, daß die überwäl¬
tigende Mehrheit des Volkes zu den Ver¬
sicherungen steht, die in so vielen erheben¬
den Kundgebungen zum Ausdruck kamen.
Gestützt auf den Willen der Bevölkerung,
wird die Regierung das Höchste daran
setzen, um das Deutschtum des Ostens
vor der Polonisicrung zu schützen.
Ich füge hinzu, auch wenn die Regie¬
rung infolge ihrer Ablehnung des Ge¬
waltfriedens durch eine anders wollende
Minderheit gestürzt und durch Leute er¬
fetzt würde, die zur Unterzeichnung des
Gewaltfriedens bereit wären, werden wir
uns im Osten einer solchen Entscheidung
nicht beugen. Die Bevölkerung des Ostens
muß allerdings bereit sein, die Folgen
einer solchen festen Haltung auf sich zu
nehmen. Der Kampf um unsere Behaup¬
tung im Osten wird schwer sein, ober nicht
aussichtslos, wenn die Bevölkerung natio¬
nale Disziplin hält und opferwillig das
Letzte einsetzt. Wir werden die Waffen
zum Widerstand ergreifen in dem Be¬
wußtsein, so zu handeln, wie wir es un¬
serm Volke und seiner Zukunft schuldig
sind. Sollte es uns nicht möglich sein,
durch unsern Widerstand das Reich zu
retten, so retten wir doch Provinzen, ver¬
sagt uns das Schicksal selbst dies, so ret¬
ten wir das Letzte und Höchste, das ein
Volk zu verteidigen hat: die deutsche
Ehre!"
„Wie einwandfrei festgestellt, stehen
an der oberschlesischen Grenze Hall-er-
Truppen. Oberschlesische bestochene und
gekaufte Polen sprengen dauernd
Eisenbahnbrücke« und beschädigen die
Bahnkörper, wodurch die Abfuhr der
Kohlen und die Zufuhr von Lebensmitteln
gefährdet ist. Polnische und spartakistische
Agenten organisieren Unruhen und Auf¬
stände in Oberschlesien sowie in den In¬
dustriegebieten u«d Städten Schlesiens
und Westposens. Diese mit ausländischem
Geld ausgeführten Verbrechen finden
ihren Rückhalt darin, daß täglich Züge
mit Haller-Truppen, wie ich es dieser
Tage selbst gesehen, durch Deutschland nach
Polen rollen und so die feindliche Heeres-
macht im Osten verstärken. Wenn auch
eine direkte Gefahr von außen wie von
innen dank der Tüchtigkeit unserer Trup¬
pen und ihrer Führer sowie des größten
Teiles der Beamten und der Bevölkerung
nicht zu befürchten ist, so ist es nicht aus¬
geschlossen, daß Putsche versucht werden in
<dem Glauben, von jenseits der Grenze
Hilfe zu bekommen. Bei diesen Pulsader,
die ich mit allen mir zu Gebote stehenden
Mitteln unterdrücken werde, kann Men¬
schen- und besonders Arbcitecblut stießen,,
und zwar Blut der Unschuldigen, die von
den> Putschisten auf die Straße gebracht
worden sind, um dann selbst zu verschwin¬
den. Die Hoffnung auf die Armee Haller,,
die dem kleinen polnischen Teil der ober-
schlesischen Bevölkerung täglich eingeimpft
wird, womit man sie zu Pulsader auf¬
reizt, muß aber so schnell als möglich ver¬
schwinden. Dieses ist aber nur möglich,
wenn die Transporte der Armee Haller
sofort eingestellt werden. Ich weiß, daß
Sie und die Regierung gezwungenerweise
den Truppentransporten zugestimmt
haben. Da aber die Polen täglich die
Ruhe stören, die Demarkationslinie nicht
achten, so dürfte die Negierung ihrer über¬
nommenen Verpflichtung gleichfalls ein-
hoben sein. Im Interesse unseres Ostens,
und zwar des Friedens nach außen, der
Ruhe und Ordnung im Innern, bitte ich,
Wohl unter Zustimmung von 9l) v. H.
der Bevölkerung des mir unterstellten Ge¬
bietes, die Truppentransporte der Armee
Haller sofort einzustellen und mir Nach¬
richt zukommen zu lassen.
Der Besuch von Ententevertretern und
neutralen Journalisten in NÄel. In
Ratel gestaltete sich der Empfang der ame¬
rikanischen und englischen Pressevertreter
zu einer spontanen Massenkundgebung.
Auf dein Bahnhof wurden sie von dem
Bürgermeister, von Stadtverordneten und
dem Arbeitlerrat empfangen. Kleine Mäd¬
chen, festlich gekleidet und mit schwarz-
weiß-roten Bändern geschmückt, begrüßten
sie mit patriotischen Gesängen, Ergrei¬
fend war ihre Begeisterung; eine jede war
von demselben Wunsche beseelt: „Deutsch
sind wir und deutsch wollen wir bleiben."
Dies stand auch auf den Plataeer,, die
von vielen Mädchen und Knaben getragen
wurden. Nur langsam konnte sich der
Zug durch die dichtgedrängten Menschen¬
massen nach dein Markt bewegen. Hier
hatte sich eine vieltausendköpfige Menge
angesammelt. Der Arbeiter, der Hand¬
werker, der Bauer, der Kaufmann und
der Beamte, sie alle hatten ihre Arbeit
verlassein und waren herbeigeeilt, um
ihren unerschiitlerlicben Willen zu be¬
kunden, sich unter keinen Umständen vom
deutschen Vaterlande losreißen zu lassen.
Auch die drei Kompagnien der Einwohner¬
wehr waren erschienen, um die Presse¬
vertreter von dein festen Willen und dem
Ernst der deutschen Bevölkerung zu über¬
zeugen, ihre Angliedernng >ein Polen un¬
bedingt zu verhindern. Bei dem von den
Polen geschändeten Kriegerdenkmal wur¬
den die Veteranen vorbeigefühct. Im
Rathaus bewies der Bürgermeister an
der Hand amtlichen Materials, daß Ratel
eine deutsche Stadt ist, daß 80 v. H. ver
Steuern- von den Deutschen aufgebracht
werden, daß die Häuser und der Grund
und Boden zum größten Teile in den
Händen der Deutschen sich befinden, daß
Ratel nur eine Zeitung, und zwar eine
deutsche besitzt. Mit großer Sachlichkeit
wurde von den Journalisten auf die be¬
handelten Fragen eingegangen, über die
militärische Lage und den Bruch des Waf¬
fenstillstandes berichtete der Abschnitts-
komincmdant.' Der Vertreter der Arbeiter¬
schaft legte das Gelöbnis ab, baß die
gesamte Arbeiterschaft beim - Deutschen
Reiche verbleiben will, da sie nur so der
Segnungen der sozialen Fürsorge teilhaf¬
tig bleiben kann, und er betonte, daß die
Industrie hier ausschließlich in deutschen
Händen ist. Dies -verfehlte auch seinen
Eindruck auf die Vertreter der großen
JnÄnstrievölker nicht. Was fie hier ge¬
sehen und gehört haben, hat sicherlich bei
den Pressevertretern den, Eindruck hinter¬
lassen, in einer deutschen Stadt geweilt
und eine Bevölkerung in der Ostmark
kennengelernt zu haben, die gewillt ist,
zum Letzten und Äußersten für die Er¬
haltung ihrer Nationalität einzutreten.
Danzig, 14. Juni. „Die in den letzten
Tagen sich mehrenden Kundgebungen und
Anfragen an die deutsche Negierung von
der Bevölkerung, der bedrohten Gebiete
ces Ostens lassen erkennen, daß in vielen
Kreisen noch nicht genügend Klarheit
über die. Tätigkeit und Aufgaben des In
Danzig lagerten parlamentarischen Ak¬
tionsausschusses Nord herrscht. Um allen
Zweifeln ?u ö-'gegnen, sei deshalb noch¬
mals ausirucllich festgestellt, daß es die
erste nid voinehmste Aufgabe des Ak-
tionsa.l5hat>usses Nord ist, die bedrohten
Gebiete des Ostens dem Deutschen Reiche
zu erhainn. Bei der Ribeit hierfür stützt
sich der AltionsauSjchuß ^n dem alle Po¬
litischen Parteien des Ostens von den
Mehiheüsjvzialisten bis zu der Deutsch«
nationalen Volkspartei vertreten sind,
vor allem a if d>^ Mimrbeii der Par-
teior.v'iiisntiv'ieii. aber auch c,uf alle Ver¬
bände, die das gleiche Ziel — die Er¬
haltung deS Deutschtums im Osten —
verfolgen, insbesondere auf die Deutschen
Bolksräte und die Organisation des Hci-
matdienstes. Nur diese Zusammenarbeit
aller für die Erhaltung des Deutschtums
tätigen Institutionen unter der Verant¬
wortlicher Führung des parlamentarischen
Aktionsausschusses sichert die Erreichung
des angestrebten Zieles."
Berlin, 14. Juni. Bon zuständiger
Stelle wird mitgeteilt: Einige Blätter
melden den Abtransport von
Heeres gut und anderen Werten, ins¬
besondere anch von Zuchthengsten ans
Westpreußen. "Sie. knüpfen hieran
die Befürchtung, daß die Negierung dabei
sei, den deutschen Osten preiszugeben. —
Es ist schwer verständlich, wie derartigen
Einzelvorgängen, selbst wenn sie zutreffen
sollten, irgendwelche Bedeutung zuge¬
schrieben werden kann. Sowohl die
Neichsrcgierung wie die Preußens haben
wiederholt feierlich erklärt, dos; sie ven
deutschen Osten unter allen Umstänven
gegen jeden frevelhaften Angriff schützen
werden. Einer solchen Absicht dienen
sämtliche in Westpreußen getroffenen
Maßnahmen.
Thorn, 12. Juni. Der polnische Ge-
»eraldelcgicrte für amerikanische Lebcns-
m.itteltrausporte nach Polen, dessen Sitz
Danzig ist, machte dem Warschauer Ver¬
kehrsministerium telegraphische Meldung,
d'e Eisenbahndirektion Danzig habe der
polnischen Lebensmitteltransport - Kom¬
mission mitgeteilt, daß wegen systemati¬
scher Nichterfüllung der Vertragsbedin¬
gungen durch die polnische Regierung,
bestehend in Nichtrücksendung leerer
GiiterziiM, der gesamte Güterverkehr mit
^ebensmittcln nach Polen eingestellt
werden müsse. Desgleichen drohe die ame¬
rikanische Kommission mit der Unrer-
brechung der Transporte. Die Amerika-,
ner hätten bereits sehr ungünstige Berichte
über grenzenlose Zerrüttung der polni¬
schen Eisenbahnen nach Paris entsandt
mit der Erklärung, unter solchen Umstän¬
den nicht weiterarbeiten zu können. Acht
Großschiffe mit Mehl und Getreide lägen
im Danziger Hafen. Der Generaldele¬
gierte Jelowicki fordert vom Warschauer
Vcrkehrsministerium dringend Abhilfe.
Ausweisung der russischen Juden.
Berlin, 13. Juni. Das jüdische Bureau
in Kopenhagen meldet: Die polnische Re¬
gierung hat ein Gesetz, betreffend die Aus¬
weisung aller russischen Juden aus Polen
ausgearbeitet, 60 090 Juden werden durch
diese Maßnahme betroffen. Viele davon
leben se't Dezennien in Polen. Die Aus¬
weisung ist für sie katastrophal. 900 Aus¬
weisungsbefehle wurden bereits erlassen.
Alle jüdischen Post- und Telegraphen¬
beamten im Gebiete von Lemberg, 400 an
der Zahl, wurden entlassen. Der pol¬
nische Minister des Innern hat an alle
BerwaltuugsWrperschaften ein antisemi¬
tisches Zirkular provozierenden Inhaltes
gerichtet. Die Juden behaupten, das
Zirkular sei gleichbedeutend mit der Auf¬
forderung zu Pogromen.
Danzig, 15. Juni. Eine Polnische
N ü et w a n d e r u n gsge f e l >l s es äst,
die den Strom der polnischen Rückwan¬
derer aus Amerika nach Danzig lenken
soll, wurde gegründet. Für Ankunft dieser
Polen werden umfangreiche Vorberei¬
tungen getroffen.
"