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]]> Die Grenzboten
. Jahrgang, viertes Vierteljahr
^MWWDeutschland kämpft um sein Leben.
Es wird nicht untergehn.
Mit diesen schlichten Worten eines nicht mehr in Erfahrungs-
> gründen, sondern in Glaubenstatsachen verwurzelten Vertrauens
I auf die Unvernichtbarkeit des Deutschtums in der Welt schloß ein
Gedicht Alfred Kerrs, das wie wenige andere der ungeheuer erregten und doch
edel gefaßten Haltung des deutschen Volkes im August 1914 Ausdruck gab. In¬
zwischen hat die Stimmung bei uns eine ganze Skala von Tönungen abgewandelt.
ES folgte der Triumph schnell erfochtener Siege, der einen gänzlich unangebrachter
Optimismus ins Kraut schießen ließ, es folgte der Rückschlag der Marnetage,
die das Stadium des Dauer- und Zermürbungskrieges heraufführten, dessen Kurve
durch Hindenburgs Schläge im Osten und Süden noch gewisse Rückfälle inS
romantisch Zugespitzte erfuhr, im großen ganzen aber doch einen völlig neuen
Rhythmus durchsetzte. Der Krieg wurde auch strategisch immer ausgesprochener
zum reinen Verteidigungskrieg. Der letzte Versuch einer großen offensiven Drehung
in diesem Frühjahr setzte erfolgverheißend ein und scheiterte im Juli. Heute sind
wir Zeugen des grandiosen Gegenversuches unserer Feinde, uns und unseren
Bundesgenossen durch einen allgemeinen Angriff an allen Fronten den Todesstoß
zu versetzen. Unter einem Feldherrn von entschiedenen Fähigkeiten, mit Heeres¬
massen, wie sie die Weltgeschichte nicht gesehen hat, mit einem ungeheuren Auf¬
wand technischer Hilfsmittel von modernster Vervollkommnung rennt das Heeres-
aufgebot einer ganzen Welt auf ein Signal hin in einem Riesenansturm gegen
die Festung Mitteleuropa an. Das militärische Drama drängt auf seine Peripetie.
Eines der gefährlichsten Blendworte, mit denen die Ära Bethmann den
politischen Begleitprozeß dieser militärischen Abwandlung irregeführt hat, war die
dogmatische Forderung, Kriegsziele dürften in der Öffentlichkeit nur nach Maßgabe
des jeweils militärisch Erreichten aufgestellt werden. Wir belächelten unsere Feinde, die
die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens, die Zerstückelung Österreich-Ungarns, dieLos-
lösung der halb polnischen Ostprovinzen Preußens verkündeten, während gleichzeitig
unsereHeere siegreich in Frankreich, Serbien undNutzland vordrangen. Und doch stählte
dies unermüdliche Fordern eines nicht Erreichten die nationale Willenskraft zu unge¬
heuren Leistungen, während bei uns derZweifel, ob und wie weit wir wohl das wirklich
eroberte Belgien und Französisch-Lothringen, Serbien und Ostrußland behalten sollten,
der Widerstreit zwischen strategischer Offensive und politischer Defensive die nationale
Spannkraft lähmte. Die Entente suggerierte ihren Völkern im Moment der Niederlage
die Zuversicht der Sieghaftigkeit, unsere Regierung und die politische Linke, mit der
sie liebäugelte, nährte im Augenblick des Sieges die Furcht vor einer Niederlage.
Die Entente führte Krieg, wir mußten den Krieg über uns ergehen lassen.
Wir hatten ihn nicht, er hatte uns. So kam es, daß wir in der Tat jenen
allerhöchstens taktisch brauchbaren Leitsatz sachlich ernst nahmen und befolgten.
Rein aus der Tatsache, daß wir gewisse Gebiete besetzt hatten, zogen weite Volks¬
kreise bei uns gefühlsmäßig den Schluß: wir müßten sie behalten. Verlor sich
der Krieg in die Defensive, so erließen wir Friedensresolutionen. Zeigten sich am
Horizont offensive Erfolgsausfichten, so wurden die Verzichtspropheten von gestern
unsicher. Auch die Altdeutschen, die Verkünder eines robusten Eroberungs¬
programmes, deren annexionistischem Heißhunger eine gewisse Stetigkeit nicht ab¬
zusprechen ist, nahmen an diesen Schwankungen Teil. Nach den Mißerfolgen im
Juli wurden auch sie sichtlich kleinlaut, in einem Zeitpunkt also, wo man für die
Wirkung nach außen ihr Säbelrasseln noch am ehesten hätte brauchen können:
ihr Verstummen wird nicht nur den Polen, sondern auch den Bulgaren nicht zum
geringsten als ein ausschlaggebendes Symptom gegolten haben, daß in Deutschland
die Zuversicht zum guten Ausgang zu schwinden beginne. Nicht eine Desavouierung
der Altdeutschen, wie Delbrück und Rohrbach rieten, sondern im Gegenteil eine
geheime Aufreizung wäre um jene Zeit das äußerpolitisch Nichtige gewesen.
Was im Juli verfehlt wurde, läßt sich heute nicht mehr gut machen. Aber
wir können aus den Fehlern von gestern lernen. Der neue Fehler, der heute
gewissermaßen an der Tagesordnung ist, wäre ein offenkundiger Rückzieher im Osten.
Die Randbemerkung, die Payer in seiner Hauptausschußrede an sein Stuttgarter
Programm geheftet hat, ist das äußerste Zugeständnis, das der „östlichen Neu¬
orientierung" und der dräuenden Linken äußerpolitisch gemacht werden darf.
Selbst wenn wir die Absicht hätten, den Osten im Friedensschluß preiszugeben,
so wäre es das denkbar Verfehlteste, das im Augenblick irgendwie zu verlaut-
baren. Vielmehr ist es die Aufgabe unserer Staatsmänner, eS der deutschen
Öffentlichkeit mit allen Mitteln einsichtig zu machen, daß die Aufrechterhaltung
der deutschen Vorherrschaft im Osten im Augenblick absolut zum deutschen Defen¬
sivprogramm gehört. Mit der Preisgabe Finnlands und der baltischen Lande
öffnen wir England ein neues Einfallstor in Europa. Wir verhelfen der enten-
tistischen Orientierung in Rußland zum sicheren Sieg und bauen gegen uns selbst
eine neue Ostfront. Für den immerhin denkbaren Fall, daß wir von der Türkei
abgeschnitten werden, berauben wir uns durch die Räumung des besetzten Ostens
zugleich der letzten Getreidereserven. Der volle Verzicht, die Räumung, und der
halbe Verzicht, die Erklärung zum „Faustpfand", sind gleich unmöglich. An diesem
Punkt bekundet auch das sozialdemokratische Mindestprogramm, selbst waS die
Mittel seiner eigenenZiele anlangt, die äußerpolitischeAhnungslosigkeit, die rein inner¬
politisch eingestellte Organe, wie den „Vorwärts", im Gegensatz etwa zu der äußer¬
politisch ungemein weitblickenden sozialistischen „Glocke" immer ausgezeichnet hat.
Wo bleiben die Konservativen? Haben sie die Absicht, parlamentarisch
völlig abzudanken und sich gänzlich auf die Guerilladefensive der Kabinette und
Hintertreppen zurückzuziehen? Wollen sie mit einer wehmütigen Nührungsträne
im Auge die Nationalliberalen in eine von Gnaden der Sozialdemokratie gebildete
Regierung ziehen lassen und sich dann in einsamer Größe in einen Schmollwinkel
verkriechen? Will die Rechte, die als einzige Partei die außenpolitische Einstellung
nicht erst während des Krieges „gefaßt" hat, in einem Augenblick die Zügel aus
der Hand geben, wo das Parlament einen bisher nicht gekannten Einfluß
auf die Leitung der äußeren Politik zu gewinnen im Begriffe ist, wo
es also durchaus fraglich erscheint, ob der äußerpolitische Dilettantismus
einer Scheidemann-Mehrheit noch durch die überkommene Machtstellung
eines der Krone verantwortlichen Kanzlers paralysiert werden kann?
Bot das sozialdemokratische Mindestprogramm tatsächlich keine Handhabe,
die längst entglittene Initiative mit einem kräftigen Ruck an sich zu
reißen und zum mindesten aus den Nationalliberalen und dem Zentrum die
Elemente anzuziehen und zu einem festen oppositionellen Block zu verkitten, die
noch nicht den Machtstaatgedanken zum alten Eisen geworfen haben, die auch heute
noch nicht die Negierung zu einem Spielball der Parteien machen und der
Obersten Heeresleitung jeglichen Politischen Einfluß entziehen wollen, die nun erst
recht an einer unbedingten Ausschaltung Englands aus dem Osten festhalten und
der englischen Umklammerung von West und Ost zugleich vorbeugen wollen?
Man wird nächstens die Konservativen die Partei der verpaßten Gelegen-
heilen nennen müssen. Die folgenschwerste Unterlassungssünde des Konservativismus
war seine Unentschlossenheit und reaktionäre Verhärtung in der Wahlrechtsfrage.
Zu Anfang des Krieges hätte die Möglichkeit bestanden, aus freien Stücken das
unpopuläre kapitalistische Dreiklassenwahlrecht durch ein wesentlich demokratischeres
Pluralwahlrecht zu ersetzen und damit statt des Odiums der Reaktion vielmehr
den Ehrenschild fortschrittlicher Initiative zu gewinnen. Nichts geschah. Die
Rechte rieb sich im Kampf mit einem Kanzler auf, dessen Verhängnis es war,
daß er die Zeichen der Zeit nicht sah, daß er über dem Paktieren mit der
liberalen und pseudoliberalen Linken die große Aufgabe der Zeit, die Synthese
konservativer Staatsgesinnung mit sozialistischen Geist, die Fortsetzung der großen
Tat Bismarcks verabsäumte. Hier hätte der Konservativismus zur Tat ansetzen
müssen, dann wäre ihm vielleicht ein großer Erfolg beschicken gewesen, statt jener
Kette von Mißerfolgen an Konzessionen, zu denen die Politik des starren Fest¬
haltens unweigerlich führte. Statt der breiten Masse des pazifistischen, sozialistisch
verbrämten Liberaldemokratismus, die jetzt täglich an Macht gewinnt, bildete dann
ein Block des sozialistisch unterhandelt Imperialismus, bestehend aus Teilen des
Konservativismus, Nationalliberalismus, Zentrums und der in drei Gruppen zer¬
fallenden Sozialdemokratie das Fundament einer besonnenen und doch festen und
kraftvollen Negierung. Statt eines Scheidemann würde dann ein Mann wie
Lensch die führende Rolle in der Sozialdemokratie spielen, die ihm gebührt.
Vom Alldeutschtum wäre der gute aktivistische Kern mit in diesen Block verschweißt.
Die rodomontierenden Weltzertrümmerer und Wolkenschieber wären ein Häuflein
Narren, die niemand ernst nähme. Ein politischer Gegensatz zwischen Oberster
Heeresleitung und Reichsregierung bestünde höchstens gelegentlich in den Mitteln,
nicht in den beherrschenden Zielen der Politik, da beide fraglos am selben Strang
zögen. Nicht die Ideenwelt Wilsons und des westlichen Demokmtismus wäre
in Deutschland Mehrheitsprogramm, sondern die deutsche Politik hätte sich auf
bodenständige Prinzipien besonnen und wäre im Begriffe, eigene politische Methoden
auszuprägen und der Welt achtunggebietend vorzuführen. Das wäre ein großes
Ziel konservativer Politik zu Kriegsbeginn gewesen. Jetzt zerbrechen dem Konser¬
vativismus auch noch seine kleinen Zielchen unter den Fingern und er steht vor
einem Haufen von Scherben.
Ist es für all dieses zu spät? Für ein besseres preußisches Wahlrecht als
das allgemeine gleiche: ja! Hier bleibt unter den herrschenden Umständen nichts
als eine' bedingungslose Einlösung des Königswortes, für das der nicht ohne
Schuld der Rechten gänzlich zur Linken abgetriebene Bethmann vor der Geschichte
verantwortlich ist. Die parlamentarische Isolierung sollte dem Konservativismus
wenigstens das eine zeigen, daß er zum Kindergcspölt wird wie ein alter, zahn¬
loser Mann, wenn er nicht dem ganzen Getue des Herrenhauses ein Ende macht
und das gleiche Wahlrecht bedingungslos bewilligt. Aber um diesen Preis allein
ist heute das gesunkene Prestige der Rechten nicht wieder herzustellen. Die Blut¬
erneuerung mit wahrhaft sozialistischen Geist, nicht mit marklosem Halbliberalismus
der Scheidemannrichtung, ist dem Konservativismus heute schwerer als zu Kriegs¬
beginn, aber sie liegt nicht außer dem Bereich des Möglichen. Gelänge es der
Rechten, durch die freie Initiative einer großen, von sozialistischen Geiste ge»
trägeren Aktion irgendwelcher Art die Wahlrechtsforderung gewissermaßen zu
überstürzen, dann könnte es ihm kraft seiner überkommenen politischen Erfahrung
und Reife doch noch glücken, die schleifenden Zügel wieder in die Hand zu be¬
kommen und den tief im Dreck steckenden Karren der deutschen Politik flott zu
machen. Ob es ihm gelingt, damit ein Debakel der gegenwärtig zur Negierung
kommenden Mehrheit zu verhüten, ob erst ein handgreiflicher Mißerfolg von deren
Seite ihm das Eingreifen möglich macht, ist heute schwer abzusehen.
Diejenige Partei wird heute die Führung gewinnen und behalten, die das
zündende Wort findet, das in den stumpf' und träge gewordenen Massen jenen
kuror teuwnicus weckt, ohne den wir verloren sind. Trotz allem Raffinement
hat unsere Stimmungsregie versagt, weil auch sie vom Geist der Ängstlichkeit
und des Mißtrauens in die Volkskräfte beseelt war, der in der Wilhelmstraße
überhaupt das Ruder führt. Trotz vier Kriegsjahren ist unser Volk äußerpolitisch
kaum wesentlich gereift, ganze Parteien beurteilen äußerpolitische Fragen noch
immer nach rein innerpolitischen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel die Sozial¬
demokratie die sinnländische, Verfassungsfrage und den ganzen Komplex der Ost¬
probleme. Sollte das zur Wirklichkeit werden, was als furchtbare Möglichkeit
am Horizont heraufzieht, so würde zum ersten Male seit dem August 1914 unser
ganzes Volk wieder von der nackten Lebensgefahr durch und durchgeschüttelt
werden. Wie. damals wird es dann wieder einen Moment geben, wo vor dem
Schrecken der Stunde der Pulsschlag des Parteigetriebes aussetzt, wo es wirklich
keine starren Parteien mehr, sondern nur noch flutende politische Kräfte gibt.
Der „Vorwärts" hat in seinem letzten Sonnabendartikel Töne von einer fast
apokalyptischen Wucht angeschlagen, wie sie in Deutschland in diesem Kriege noch
nicht gehört worden sind. Die Wirklichkeit wird uns allesamt noch ganz anders
aufrütteln, als es das bloße Wort vermag. In der letzten, in der Notstunde,
die alles entscheidet, werden die führen, die stark sind, einerlei, aus welchem
Lager sie kommen mögen. Und sie werden sich durchsetzen, soweit sie das Wort
finden, auf das die Masse hört. Dann wird auch der Konservativismus zum
letzten Male auf die Wage gelegt. Wird er auch diesmal von der Geschichte zu
leicht befunden, dann — hat er seine letzte Gelegenheit verpaßt.
In der Tat: „Die Wende hat begonnen". An allen Fronten tobt eine
Schlacht, an deren Grauen keine Vorstellung heranreicht. Noch einmal fließen
Ströme edelsten deutschen Blutes. Der Wall von lebendigem Fleisch und Bein,
der seit über vier Jahren unser herrliches Vaterland schirmt, ist auf die härteste
Bewährungsprobe gestellt. Das Letzte, das Schwerste droht: der Abfall unserer
Freunde. Wieder erfaßt uns — noch elementarer — das abschnürende Gefühl unserer
entsetzlichen Vereinsamung in der Welt. Es ist wieder wie im August 1914. DaS
fühlt derselbe Dichter, mit dessen Worten von damals ich begann, wenn er heute sagt:
erTaler spricht:
,Am ich ein "Wicht,
Des Mühens und Scharrens
Und Mährens nicht wert?
'wer schmiedet aus mir
Das deutsche Schwert?
Da hat ihn die „Neunte"
Schweigend genommen:
jLr ist in die rechte
Schmiede gekommen.
a, es ist falsch, daß wir in dieser schweren und großen Zeit in
tausend Zungen reden, wie es die „Kölnische Zeitung" nannte, also
eine „kauderwelsche" Sprache, wobei keiner den andern versteht,
verstehen will, verstehen darf, fondern wir .müssen deutsch
miteinander und mit der Welt reden, damit man uns versteht.
Von geschichtlicher Deutung der auf uns einstürmenden
:e keine Rede fein, meinte Prof. Martin Dibelius in der „Frank¬
furter Zeitung" (Ur. 235, 1. Mbl.) unter dem Strich; wir müßten der Welt
und dem Volke sagen, „daß diese Verstrickung nicht auf Menschen- (auch nicht auf
Diplomaten-) Torheit und nicht auf Menschen- (auch nicht auf Engländer-)
Bosheit beruht, sondern auf Schicksals Notwendigkeit .... und daß man
dieses Schicksals letzten Sinn nicht weiß". Also der Glaube an das Fatum wird
dort gepredigt, während aller Götterglaube, alle Wissenschaft sodann der
verflossenen 6000 Jahre Menschenkultur bestrebt war, das Fatum zu zerpflücken
und in eine größere oder kleinere Summe von Ursachen auseinanderzulegen und
der Erkenntnis nahe zu bringen. Und ub er dem Strich fährt Dr. Hugo Preuß
in der gleichen Nummer damit fort, die Ursache in der Nichtparlamentarisierung
und Nichtdemokratisierung Deutschlands und Preußens mit grimmigen Angriffen
egen die Diplomatentorheit darzulegen. In einer ferneren, benachbarten
cummer setzt sich die „Frankfurter Zeitung" felbst mit der „Schweizerei" ihres
früheren Redakteurs Nippold auseinander, zuckt dabei wieder gegen Ehamberlain
auf, dessen Peitschenknall „Landesverrat" ihr immer noch durch die feinfühligen
Nerven geht, und auf der letzten Seite des Inseratenteils folgt ihr großes Preis¬
ausschreiben, „von dem Streben geleitet, mitzuhelfen, daß auch die bevorstehende
neunte Kriegsanleihe wieder ein voller Erfolg werde", während wiederum in einer
Nachbarnummer einer ihrer Korrespondenten in rüdester Sprache zum Ein¬
schmelzen der Hohenzollerndenkmäler auffordert. Schweizerei hin — Schweizerei
her — von den Bernern scheint man da noch nichts zu wissen, an deren starken,
gesunden, „agrarischen" Heimatssinn trotz aller Fremdeneinfuhr ein intellektuell
verschrobenes Gehirn sich Gesundheit und Geradheit holen könnte, wie gerade el«
solcher Berner mir im Jahre 1911 in langabendlichen Unterhaltungen dartat, daß
ich die preußischen Junker nicht kenne, so wenig wie ich die Berner kennte. Uns
aus seinen Darlegungen lernte ich sie kennen und weiß heute, wo die Nahrungs--
sorge der Schweiz so grausam über den Hals kam, daß er recht hatte, und daß die
Neunmalweisen, die die 100 Millionen-Einnahmen aus der Fremdenindustrie für
eine Bereicherung des Landes hielten, einen Raubbau am Schweizer Volle, an
seiner Tüchtigkeit und Gesundheit betrieben.
Und das soll kein Kauderwelsch sein, wenn intellektuelle und Gewissens-
ftrebungen in ein Paar Nummern einer Zeitung so gegeneinander laufen, wenn
dazu eine neue Verhandlung aus einer ganz anderen Himmelsrichtung kommt, die
versuchen möchte, in diesem Wust aufzuräumen und die Dinge dahin zu stellen,
wohin sie gehören.
Chamberlains Frage war: Wie kommt es, daß deutsche Zeitungen in dieser
Frage Sein oder Nichtsein oftmals vielmehr mit Argumenten des Auslandes
gegen Deutschland als mit deutschen Argumenten gegen das Ausland zu arbeiten
scheinen? Und Chamberlains Antwort war, seiner ganzen Anschauung gemäß:
Die Juden! Der Mische Geist ist da an der Arbeit. Ja, aber sind alle deutschen
Sozialdemokraten auch Juden? Sind auch sie vom jüdischen Geiste infiziert? —
Er könnte wieder antworten: Weißt du nichts von den Juden Heine, Börne,
Lassalle, Marx? — Also fragen wir ruhig weiter: Sind denn die deutschen
Ultramontanen -— nicht die katholischen Deutschen — auch alle von diesem
jüdischen Geiste angesteckt? Und wieder könnte er antworten: Weißt du denn
nichts von meinem Nachweise, daß schon Ignatius von Loyola unter erzjüdischem
Einflüsse stand? Nichts davon, was ich ebenso nachgewiesen habe, daß dieser
jüdische Geist gerade in der römischen Kirche zu einer Auswirkung kam, wie
kaum anderswo?
Also fragen wir noch einmal weiter: Die Demokraten Süddeutschlands,
darunter vielleicht mehr Protestanten, als Katholiken, find die auch alle
jüdischen Geistes voll?
Wir sehen, da stimmt Wohl einiges, aber noch lange nicht alles. Dieser
gemeinsame Nenner „Judentum, jüdischer Geist" reicht nicht aus. Diese ganzen
Erscheinungen gehören mitsamt dem Judentum und dem jüdischen Geiste unter
einen anderen Nenner.
Sehen wir uns um in der Welt und fragen wir: Wo sind — oder wo
schienen bis zum Kriege die alten Mächte und Völker zu sein und wo die jungen?
Auf die erste Frage wies man da auf die Türkei, Oesterreich, Frankreich, Spanien
hin, Zu den jungen Mächten zählte man die Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika, Japan, Deutschland. — Und England und Rußland? England gehörte
zu den älteren Mächten, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht und
unserem Empfinden gemäß schon überschritten hatten, und Rußland war ein
Rätsel. Erscheinungen versinkendem Alters standen dort neben solchen von
rohester Jugend.
Diese Art Kategorifierung war zu einfach, sie wurde den Wirklichkeiten nicht
gerecht. Nahm man z. B. England nur für sich, so mochte die Einstellung noch
einigermaßen angehen. Aber England hatte Kolonien. Außer der Insel England
gab es ein Großbritannien, das sich zum Weltreiche zu erheben strebte.
Und Frankreich? Das hatte doch auch Kolonien. Ja, aber deutlich unter¬
schied sich die französische Kolonisation von der englischen. Frankreichs Kolonisation
war ein großartiges Pläneschmieden, eine intellektuelle Arbeit, aber die großen
Entwürfe zur Ausführung zu bringen, reichte feine Volkskraft nicht aus. Es
blieb bei einem Gerüstbau gewissermaßen, wobei man die Wände mit Lehm¬
fachwerk auszufüllen strebte. Und brachte man bei den englischen Kolonien gar
die Vereinigten Staaten mit in Anschlag, nicht als Bestandteil des werdenden
Weltreiches Großbritannien, Wohl aber als Bestandteil der mit angelsächsischem
Geiste erfüllten Staatsbildungen, so drehte sich das Urteil von einem älteren
England sofort zu den Jungmächten herum. Da stimmte also etwas nicht.
Ebenso Japan. Das war doch kein junges Volk, sondern ein sehr, altes.
Aber auf Grund der japanischen Revolution und Geschichte trat da eine strebende
Neubildung zutage, die alle Zeichen eines jungen Staatsvolkes an der Stirne trug.
Und Deutschland? Was war denn am deutschen Volke jung? Das deutsche
Volk ist doch in der heutigen Welt mit eins der ältesten. Und hier muß eine
Berichtigung unserer geschichtlichen Auffassung eintreten. Jung ist an Deutsch¬
land nur seine nordöstliche Kolonie — das Königreich Preußen. Aus der Mark
Brandenburg und einem Teile des Koloniallandes des Deutschen Ordens ist es
hervorgewachsen, während das deutsche Volk hinter ihm sich mehr und mehr
„individualisierte", d. h. seinen völkischen Zusammenhang verlor und seine Staats--
völkische Aufgabe preisgab. Ohne Preußen wäre Deutschland vom Westen he«
der Französierung, vom Osten her der Nussifizierung oder Slawisierunz
verfallen. Die Vorstöße Ludwigs des Vierzehnten, der Jakobiner,
Napoleons des Ersten zeigten an, was vom Westen her zu er¬
warten war, und schon stieg der intellektuelle Einfluß des
Franzosentums bis zum preußischen Throne hinauf, während in Sachsen-Polen
das seltsame Gemisch der französisch-slawischen Kultur zum Ausdrucke kam, wie
wir es bis zum Kriege in den oberen Schichten Westrußlands vorfinden.
"
In jene West- und südwärts von Preußen „individualisierten, das heißt
sich zersetzenden deutschen Volkselemente, von denen jedes für sich zu schwach
geworden war, sich selbständig zu, erhalten, griff nun das preußische Wachstum
mit seiner Wurzelerstreckung mehr und mehr hinein. Ein großer Teil dieser
Elemente assimilierte sich dem preußischen Wesen ziemlich rasch und verwuchs
mit ihm zu einer völkischen Einheit. Ein anderer Teil, vor allem in Süd¬
deutschland, und namentlich dort, wo sich noch ein starkes Bauerntum erhalten
hatte, -das dem eigenen Volke und der eigenen Art die Sicherung einer Zukunft
zu bieten schien, schloß sich dem Preußenvolke nur an und suchte und sand
verstärkten Schutz der Eigenart in solchem Bunde. In diesen angeschlossenen
Teilen des deutschen Volkes lebt nun noch eine ganze Menge des alten deutschen
Volks neben dem neuen Willen. Und dieses Altdeutschland trägt seinen
Jndividualisierungsdrang, die Neigung zur Zersetzung und Auflösung in daS
neue Gebilde, in das Deutsche Reich, mit hinein. Es ist nun die Frage: wird
das neue Reich die jugendliche Kraft in sich haben, diese Zersetzungskeime in sich
selbst zum Absterben zu bringen? Oder wird die Urbanisierung und
Industrialisierung Preußens, das heißt seine allmähliche Entbauerung jenen
zersetzenden Elementen rascher oder langsamer zu Hilfe kommen und sie in der
Zersetzung Preußen-Deutschlands unterstützen?
Um einem Mißverständnisse hier von vornherein vorzubeugen, sei betont:
nicht die „Jndustralisierung" an sich hat diesen, wie Marx/glaubte, volk¬
vernichtenden Einfluß. Nicht die Arbeitsteilung, die die einen zum Handel, die
andern zum Handwerk und zur Industrie, die dritten zu geistiger Arbeit auf
wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen Gebieten oder auf dem Felde der
Verwaltung und des Heeres führte, ist Ursache jener Zersetzung, auch nicht jene
Arbeitsteilung, die ganze Massen der körperlichen Lohnarbeit zutrieb. Wohl aber
muß jener zersetzende und isolierende Einfluß überall da stark werden, wo eine
solche Entwicklung „den Boden" verlor, den vaterländischen Grund und Boden,
wo sie mit ihrem Wachstum herausgerissen wurde aus dem Gesamtwachstum
des im heimatlichen Boden wurzelnden, und aus ihm seine Lebenskraft stets
erneuernden Volkes.
Denn außer der Blutsverwandtschaft ist das Land, das ein Volk bewohnt
und Pflegt, das es mit seinem Blute erwarb und mit seinem Schweiße düngte,
das die Gräber und Erinnerungen seiner Vorfahren wie die blühende Kindheit
und die Hoffnungen seiner Zukunft umschließt, das Wohl am stärksten alle Volks¬
genossen umschlingende Band. Setzt der Feind den Fuß auf Preußens Erde, so
stehen alle Preußen wie einer ans, ihn zu vertreiben, und jeder wartet nicht etwa
mit dem Aufstehen, bis der Feind auch den Fuß auf sein besonderes Stückchen
Land setzt. Und wie in Preußen, so in der Schweiz, in Frankreich, überall —
mit einer Ausnahme.
Als im alten Deutschland der Feind an die Reichsgrenze rückte und sie
überschritt, standen besonders Stadtrepubliken noch lange nicht sofort auf, ihm
entgegenzutreten, sondern es gab Städte, die mit ihm Handel trieben, die, näherte
er sich ihren Mauern, ihm die Schlüssel der Stadt entgegentrugen und sich seiner
Herrschaft unterwarfen. Die Isolierung der Städte war so weit vorgeschritten,
daß ihre Bevölkerung fast das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit dem
Lande und seiner Bevölkerung verloren hatte. So eng war die Geschlossenheit
geworden, daß sie, einst ihre Stärke, nun die Städte in ein Gefühl der Ohnmacht
versinken ließ. Handel und Gewerbe betreiben, sich geistig in irgendeiner Art
betätigen, das kann man ja bis zu einem gewissen Grade auch unter anderer
„Flagge", als unter derjenigen des eigenen Volkes. Ist das Tributzahlen, sind
die „Steuereintreibüngen" auch nicht angenehm: es ist bewegliches Gut, das man
hingibt und das infolge seiner Beweglichkeit auch wieder zu einem zurückfließen
kann. Obendrein aber läßt sich bewegliches Gut verpacken, auf Karren oder als
Gold und Juwelen in Handtaschen. Man kann dem Feinde ausweichen, wenn
er naht, oder man kann auswandern, wenn er schon da ist. Rückt aber der Feind
dem Bauer in den Hof, nimmt er ihm Pferde und Vieh, so bleibt ihm nichts
mehr, sein Land zu bebauen, seine ganze wirtschaftliche und leibliche Existenz, sein
in den Boden gepflanztes Wachstum als Familie ist bedroht, und so muß hier der
Wille lebendig bleiben, mit seiner Kraft der Gefahr zu begegnen. Ein Haus
in der Stadt, das aussieht, wie hundert andere, das mit seinem kümmerlichen,
dunkeln Hofe, mit ein paar kränkelnden Grünstauden-oder mit der Efeuwand am
Nachbarhause kaum das Gefühl aufkommen läßt, es sei bloses ein Stück heimat¬
licher Erde; das uns mit seiner öden Jämmerlichkeit nur ganz selten zu einem
wirklichen Heim zu werden vermag — das gibt man auf und geht mit seinen
Habseligkeiten davon, wenn Gefahr droht, wie man es verkauft, wenn sich ein
schöneres und besseres oder „rentableres" Objekt bietet. Auf dem Lande des
Bauern aber steht der Nußbaum, den der Großvater pflanzte; jeder Baum hat
ein Stück eigenen Lebens, eigener Kraft der Familie genossen und gespendet, und
jedes Ackerstück hat seine Geschichte, hat Mühe und Arbeit von Geschlechtern in
sich aufgesogen, bis es den Weizen so herrlich trägt, wie er heute steht. Auf dem
Lande wird Mensch und Boden eine Einheit, hier wächst das Heinigefühl
unmittelbar an den Menschen heran und in ihn hinein. In der Stadt bedarf es,
wenn es dazu kommen soll, der Vermittlungen, und diese sind meist intellektueller,
verstandesmäßiger, nicht gefühlsmäßiger Art. Ein Landhaus zu'haben, war und
ist keine erst von der Neuzeit erfundene Sehnsucht der Städter, wie uns die
„Forenser" im Rheingau und oberhalb Mainz belehren können, sondern es ist
und bleibt der gesunde Drang des „Eingemauerten", mit dem Lande, mit der
Natur zusammenzuwachsen, ein Heim zu finden, dem man seine Liebe und Pflege
zuwenden kann, wofür es selbst wieder mit der Pflege und dem Wohle der
Familie dankt."
Stellt man dem die „Bodenlosigkeit unendlich vieler unserer heutigen
Land- und Volksgenossen gegenüber, so erkennt man die Quelle ihres verstandes¬
mäßigen „Patriotismus". ,>Sie sollen die Rauferei um den Fetzen Land auf¬
stecken. Ob das Elsaß hierhin oder dorthin gehört, das kann uns doch einerlei
sein. Die Menschenopfer ist es nicht wert." — Wörtlich hörte ich dieses Urteil in
der Elektrischen. So spricht die Heimatlosigkeit, die „Bodenlosigkeit", die nie den
Wert eines „Fetzen"'Landes an ihrem eigenen Leibe und an dem Wohl ihrer
Angehörigen empfand.
Und nimmt man nun die meisten unserer mittleren und unteren Beamten,
unsere Gelehrten, Künstler, Schriftsteller, unsere Techniker, Gewerbetreibenden,
Kaufleute, kurz, die Mehrzahl derer, die die notwendige Arbeitsteilung und ihr
eigener innerer Trieb zu irgendeiner geistigen Betätigung führten; nimmt man
dazu die Millionen der Lohnarbeiter: so sind sie alle, soweit sie oder ihre Vor¬
fahren nicht „Glücksgüter" errangen, fast bodenlos und heimatlos geworden. DaS
sitzt nun gedrängt im Innern der Städte zusammen und kultiviert in aufsteigender
Zeit zum Teil noch einen „übertragenen" Patriotismus: man ist stolz darauf,
Mainzer, Frankfurter, Kölner zu sein — die Stadt als Ganzes wird da noch
vielfach unmittelbar als „Heimat" empfunden; man ist auch stolz darauf, Sachse,
Bayer, Preuße und gar Badenser zu sein, indem man geistigen Anteil nimmt an
der Geschichte und dem Geschicke des engeren Vaterlandes oder einer Provinz
desselben; und weiter steigt man an dieser Bewußtseinsleiter auch zum
deutschen „Nationalgefühl" empor: aber einmal auf dieser Leiter deö
Bewußtseins, merkt man doch, daß die Sprosse „Deutschland" nicht die höchste
und letzte ist. Da kommt noch das Europciertum, dann gar die Menschheit. Und
nicht selten, daß nun auch jene Leiter noch bewußter oder halbbewußter Wirklich¬
keiten verlassen wird, daß das Verstandesmäßige abgelöst wird von dem
Phantasievollen oder Phantastischen, so daß das einzelne Menschen-Ich, an
keinerlei Wirklichkeit mehr gebunden, von sich aus in Sehnsucht, Gedanken und
Handeln den Weg unvermittelt zu jenem fernen Ziele Menschheit nimmt, die
keine Heimat mehr kennt und kein Vaterland außer der der ganzen Menschheit
gehörenden Erde. Und hier stelle ich nun die Frage: Glaubt man, daß solche
Extravaganz einem gesunden Menschen zustoßen könnte, der nicht nur ein wirk¬
liches Stück Erde in Besitz hat, sondern der es auch pflegt und bearbeitet und
seine Nahrung daraus empfängt? Und wenn nicht, soll man dann solchen
Boden- und Heimatlosen Wohl das Recht einräumen, über die innere und äußere
Gestaltung eines Landes mitzubestimmen?
Gewiß drängen sie dazu. Gewiß — das sei gar nicht geleugnet — schärft
die ungeheuere Konkurrenz auf diesen Gebieten geistiger Arbeit die Einsicht, die
„Intelligenz", die Findigkeit. Gewiß ist es ebenso, daß die Bodenlosigkeit sie
zwingt, darauf zu denken, ihrem Lande und Volke eine Verfassung zu geben, die
ihnen, die von der einzigen Nahrungsquelle, die es gibt, vom Boden, aus¬
geschlossen sind, eine Nahrung sichert; daß sie also daraus ausgehen müssen, den
Landbauer von sich abhängig zu machen, wollen sie selbst nicht in volle Abhängig¬
keit von ihm geraten, so daß er ihnen nur Nahrung zukommen läßt für Werte, die
wirklich für ihn einen Wert haben. Aber ebenso sicher ist es auch, daß Land und
Volk uoch überall da verdarb, wo der „Intellektualismus", wo der „theoretische
Mensch" ans Ruder kam.
Sieht man aber diese Gegensätze, fo rückt die Bewucherung des Bauern durch
jüdische Geldverleiher aus dem kleinen Gesichtskreise eines 'ekelhaften Gewinn-
strebens genau fo heraus, wie etwa die Tatsache irgendeiner Art konservativen
Strebens, das Volk dumm zu erhalten, ans der Enge eines blöden Herrschafts-
strebens heraustritt. Andere Mächte sind da am Werke; der Kampf um die
Existenzmöglichkeit schuf instinktiv diese primitiven Formen. Wie der
Bodenbesitzer die materielle und geistige Enteignung fürchten muß und deshalb
einen Intellektualismus bekämpft, der feine durch eine Geschlechterreihe errungene
Erfahrung antastet und über den Hansen zu -werfen droht, so sucht der Bodenlose
Einfluß auf den Boden und die Verwertung seiner Früchte zu gewinnen. Und
wie es gar keine Frage ist, daß all jene Betätigung auf geistigem Gebiete,
wie Handel, GeWerbetätigkeit, Wissenschaft usw. den Blick zwar' weitet und
intensiver gestaltet, aber auch fachmännisch vereinseitigt, so ist es ebenso sicher,
daß der beschränkte Wirkungskreis des Landbguers seinen Blick zwar beschränkt,
aber innerhalb seines nach allen Seiten sich erstreckenden Tätigkeitsgebietes das
Urteil sicherer, seine Handlung bestimmter, seine Haltung stärker machen muß,
weil hier das augenblicklich Notwendige feine stete Achtsamkeit und sein immer
bereites Eingreifen erfordert. - ,
Von diesem Urgründe der Nahrungssicherung steigt der Unterschied der
Anschauung, der seelischen Veranlagung und des Handelns empor bis in die letzte«
Verzweigungen. Aber der Urgrund bleibt auch hier dem prüfenden Auge sichtbar
trotz aller krausen und verwischten Formen, die er im Lebenskampfe annimmt.
Erst wenn eine große Gefahr für das ganze Land, und damit für das Leben
des ganzen Volkes eintritt, kommt in jenen „übertragenen" Patriotismus der
Bodenlosen ein Element des ursprünglichen Empfindens, das der Landbauer für
seine Heimatscholle hegt. Da erfaßt das Volk sich als Individuum, und daS
Vaterland wird nun handgreiflich zu jenem Stück Erde, das dem Individuum
„Voll" fein Leben sichert und seine Nahrung gewährt, das ihm gehört.
Aus diesem Einsempfinden könnte nun wirklich das wachsen, was nottut:
erstens die Achtung vor dem Volksteile, der die Pflege und Bewirtschaftung deS
Landes in erster Linie übernahm. Zweitens mit dieser Achtung auch die
Anerkennung seiner Neigung zu einer auf langer Erfahrung beruhenden Stetig¬
keit. Drittens der Wille, diesen Bevölkerungsteil, der die Physische Grundlage
einer gesunden Entwicklung des ganzen Volkes ist — der Jungbrunnen seiner
Kraft, wie man es genannt hat — nicht auch noch zu entbauern und zu enteignen,
fondern ihn in seiner Selbständigkeit stark zu erhalten. Und viertens ihn aus
einem anderen Wege, als auf dem des Gefühles finanzieller Verschuldung und
Bedrängnis, also der leibhaftigen Abhängigkeit von seinen bodenlos gewordenen
Mitbürgern, zu einem Bewußtsein der Gemeinsamkeit mit ihnen zu führen.
Dieser Weg aber könnte nur der sein, wo .anstatt des Geldes das andere Mittel,
das in ruhigen Zeiten den Bodenlosen eine gewisse Ueberlegenheit verschafft, in
Wirkung träte: die Intelligenz, die größere geistige Beweglichkeit.
Zeigt die Gefahr einmal wirklich die Tatsache: ein Volk — ein Land, und
zeigt sie das Land als letzte und vielleicht gar einzige Nahrungsquelle des
Individuums Volk: so tritt damit auch über die einzelnen Besitzanteile an diesem
Lande und über die einzelnen Besitzer hinaus der wirkliche Eigentümer des ganzen
Landes in Sicht. Der aber ist das Volk. Einstmals drückte sich dieses Verhältnis
im Lehenswefen aus. Der freie Bauer hatte sein Land zu Lehen, und seine
Leistung für die Allgemeinheit bestand weit weniger in einer unmittelbaren
Abgabe (Steuer) an den, der ihn belehnt hatte, als in seiner guten Bewirtschaftung
des Grundes und Bodens, heute würden wir sagen: in der Erzielung von Höchst¬
erträgen. Nicht als Lehen, aber als Bewußtsein der Verpflichtung wäre dieses
alte, aus der Natur heraus erwachsene Verhältnis wiederherzustellen. ' Wie
Höchsterträge zu erzielen sind, das kann in letzter Linie nur der Bauer selbst, der
sein Land und Klima kennt, ausprobieren und, wissen, und der intellektuelle
Bodenlose soll ihm da möglichst wenig hineinreden. Aber ihn willig machen zur
Anerkennung dieser Verpflichtung und ihm Hilfe leisten, diese Verpflichtung auch
erfüllen zu können, das kann der Intellektuelle, wenn er selbst erst gelernt hat,
mit dem Landbauer als einem Gleichwertigen zu verkehren und die Miene einer
suffisanten Überlegenheit dem Bauern gegenüber daheim zu lassen.
Und an dieser Stelle ist noch eine Einschaltung nötig. Ich unterscheide nicht
zwischen Kleinbauer und Großgrundbesitzer. Aus dem Grunde: wirtschaft¬
lich läßt sich infolge der notwendig gewordenen Arbeitsteilung ein Groß-
Landbau heute gar nicht umgehen. Wer ihn betreiben soll, ist ebenso klar:
nicht irgend ein verkrachter Töpfer aus Bunzlau oder ein Berliner Schneider¬
meister oder ein Mathematikprofessor oder ein Flötenvirtuose, sondern der soll
ihn betreiben, der ihn seit einer Reihe von Geschlechtern betrieben hat: eben der
Großgrundbesitzer. Er soll weder enteignet, noch ' entbauert, noch entherrlicht
werden, wenn die große Iiot der Zeit nur jenen einen inneren Wandel anbahnte,
daß das noKIsssö' oKIiAs wieder zum allerlebendigsten Gewissensbesitze der
Großgrundherren würde. Will man die wahre Freiheit für alle, diejenige, die
das Notwendige aus freier und eigener Entschließung leistet und nicht aus
äußerem Zwang, so muß man diese Freiheit auch für unsere Groß-Landbauern
wollen, sür die Höchstleistung im Wirtschaftsbetriebe ja nicht nur eine Forderung
der allgemeinen Notwendigkeit, sondern auch eine solche des eigenen Vorteiles ist.
Und die Auffassung, in diesem Sinne „Lehensträger" der Allgemeinheit, des
Volkes, des Staates zu sein, dürfte in diesen Kreisen auf einen viel weniger
schwierigen Eingang stoßen, als in manchen anderen Kreisen unseres Volkes.
Ganz klar aber tritt hier die Torheit in Sicht, diese „Fachleute" von ihrer
Betätigung ausschließen zu wollen, um damit einen oder zehn redende Theoretiker
zu beauftragen, für deren Können es ebenso wenig eine Sicherheit gibt, wie für
ihren Charakter.
Die Gefahr zeigt die Tatsache: Ein Land — ein Volk! Das Zurücktreten
der Gefahr aber ließ auch sofort wieder die alten Gegensätze in Kraft treten: man
schrie nach Demokratisierung und Parlamentarisierung, und die „Frankfurter
Zeitung" entblödete sich fogar nicht, einmal die Volksversammlungen der alten
Germanen für ihre politischen Anschauungen und ihre Richtigkeit ins Feld zu
führen. Bei Tacitus und sonstwo steht aber nichts davon bemerkt, daß dazu
Fremdstämmische und Gelehrte und bodenlose Stadtbewohner Zutritt gefunden
hätten, sondern die Geschichte bezeugt, daß diese Volksversammlungen nur die
Scharen freier und waffenfähiger Volksgenossen, also ausschließlich Land¬
besitzer, umschlossen, und daß da kein anderer etwas mitzureden hatte. Die
Geschichte bezeugt ebenso, daß diese Volksversammlungen mit dem Schwinden
der Zahl der Freibauern und mit der Herausbildung anderer Berufsstände,
namentlich eines besonderen Kriegerstandes, mehr und mehr zur Unmöglichkeit
wurden. Also eine Unterstützung des heutigen Demokratisierungsplanes durch
derartige ganz unhistorisch behandelte historische Erinnerungen ist intellektuelle
Phantastik.
Die ausgegebenen Stichworte aber entstammen gar nicht unserer eigenen
Entwicklung, sondern derjenigen der europäischen West- und Südvölker. Sie alle
sind unsere Feinde mit Ausnahme Spaniens bis jetzt, und daher denn auch der
sogenannte „Landesverrat", und die nicht wegzuleugnende Empfindung, daß der
Feind in unserem eigenen Lande am Werke sei. Das braucht durchaus nicht in
der rohen Form des Geldes und der Geldbestechung der Fall zu sein, es kann auch
der Fall fein in der Art, daß eine fast hundertjährige Suggestion heute unbewußt
in unserer Gesinnung und in unserem Urteile wirksam ist und uns für die
Tatsachen unseres eigenen Werdens blind gemacht hat, während wir das Werden¬
sollende, das Dentbild, das Ideal jener Völker auf unsere Altäre hoben und nun
durch die Verehrung dieser fremden Götter die Sache unserer Feinde gegen die
Sache unseres eigenen Volkes und Landes betreiben. Daß eine solche Suggestion
stattgefunden hat, hat uicht uur Chamberlain und Treitschke bewiesen, sondern
das weiß die „Frankfurter Zeitung" auch selbst durchaus. Wohl aber kann man
von diefer Seite erwidern: Gut, sie hat stattgefunden, aber es war nicht eine
Suggestion im feindlichen Sinne, fondern eine solche der Wahrheit, eine Lehre und
Vermittelung einer besseren Erkenntnis, wofür wir Dank, nicht aber den Vorwurf
des Landesverrates verdienen.
Auf solchem Meinuugsstandpunkte kann man stehen. Und da fragt sich's
denn, ob eine solche Meinung berechtigt, ob eine solche Überzeugung richtig ist.
Also sehen wir hinaus.
England, das sein Volk am meisten entbauert hat, wurde aus dem Grunde
gezwungen, den größten Teil seiner Nahrungsmittel aus der Arbeit anderer
Völker zu beziehen. Dadurch aber, daß es die meisten Kräfte des eigenen Volkes
seiner Industrie zutrieb, wuchs diese derart, daß ihr bald die notwendigen Roh¬
stoffe zu mangeln begannen. Also suchte England in aller Welt nicht etwa Boden
und Landbesitz zur Unterbringung seiner eigenen Bevölkernngsüberschüsse, sondern
es suchte die Herrschaft über Boden und Land, um also die Bevölkerungen dieser
Länder zwingen zu können, ihm Nahrungsmittel für das englische Volk und Roh¬
stoffe für die englische Industrie zu liefern. Auf diesem Wege ward das Jnselvolk
gezwungen, sich des Meeres zu bemächtigen. Es warf Spaniens Seemacht
nieder, wie es diejenige der Niederlande bezwang, und als Frankreich sich
anschickte, die „Freiheit der Meere" gegen England zur Wirklichkeit zu machen,
warf England auch Frankreich mit Hilfe der europäischen Koalition zu Boden.
Da ist es nun sehr lehrreich für heute, sich der Darstellung Treitschkes zu
erinnern, der schreibt: „Gleich beim Beginne des Kongresses' von Chatillon
benutzte England die Geldverlegenheit seiner Bundesgenossen, um einen Meister¬
streich feiner Handelspolitik zu vollführen. War irgend einer von Napoleons
Plänen berechtigt gewesen, fo doch sicherlich sein Kampf für die Freiheit der Meere.
Jenes Gleichgewicht der Mächte, wonach die ermüdete Welt verlangte, war nicht
gesichert, fo lange ein einziger Staat auf allen Meeren nach Willkür und Laune
schaltete, und der Seekrieg, zur Schande der Menschheit, noch den Charakter des
privilegierten Raubes trug. Preußen und Rußland hatten feit dem Bunde der
bewaffneten Neutralität allezeit die Grundsätze eines menschlichen, dem Handel
der Neutralen unbeschwerlicher Seerechts vertreten; sie hofften jetzt diese
Gedanken Friedrichs und Katharinas durch einen Beschluß des gesamten Europas
anerkannt zu sehen. England aber fühlte sich dadurch in den Grundfesten seiner
Macht bedroht. Lord Cathcart erklärte rund heraus: Hätten wir je die Grund¬
sätze der bewaffneten Neutralität anerkannt, so wäre der französische Handel nicht
zerstört worden und Napoleon regierte noch heute über die Welt; niemals wird
Großbritannien auf den Meeren ein anderes Gesetz anerkennen, als die
allgemeinen Regeln des .Völkerrechts". Wie die Dinge standen, Jnger andere
Fragen für jetzt den drei Festlandsmächten ungleich näher; zudem bedurften sie
allesamt neuer Geldmittel für den Krieg, und der reiche Alliierte war bereit,
abermals fünf Millionen Pfund Sterling Subsidien zu zahlen. Daher setzte
England schon in der ersten Sitzung, am ö. Februar, durch, daß über die
Angelegenheit des Seerechts nicht verhandelt werden dürfe. Coulaincourt wider¬
sprach nicht; auch er hatte dringendere Sorgen. So ist es geschehen, daß der
aulste Fleck des modernen Völkerrechts während der langen Friedens-
verhandlungen zu.Chatiyon, Paris und Wien gar nicht berührt wurde. Die
öffentliche Meinung, blind begeistert, wie sie war sür das glorreiche Albion, fand
an alledem kein Arg."
Nun, die öffentliche Meinung war vielleicht auch aus einem anderen
Grunde so indifferent: sie mochte instinktiv fühlen, daß England, so lange es die
Macht dazu hat, jedes Völkerrecht anerkennt, verwirft oder auslegt, wie es ihm
im jeweiligen Falle am passendsten dünkt, wie es sich jetzt, genau hundert Jahre
nach jenen Verhandlungen wiederum gezeigt hat.
Diesmal aber fand England Deutschland auf seinem Wege, und wie
damals gegen Frankreich die .Koalition Europas, so gelang ihm jetzt die Koalition
der Welt gegen Deutschland. Deutschland aber suchte nicht nur Rohstoffe für
seine wachsende Industrie, sondern auch Land für seine wachsende Bevölkerung
neben einer die eigene Erzeugung ergänzenden Zufuhr an Nahrungsmitteln.
Die „Kolonisation" Englands hatte einen anderen Sinn. England hätte seine
Bevölkerung bis zum letzten Manne festgehalten und in seine Industrie hinein¬
gesteckt, wenn es sie hätte ausgiebig ernähren können. Das letzte wäre nur
möglich gewesen, wenn es nicht nur möglichst konkurrenzloser Herr der Rohstoffe
in der Welt blieb, sondern wenn seine .Kolonien ihm auch die nötigen Nahrungs¬
mittel in sicherer und ausreichender Fülle dargereicht hätten. Da aber erkannte
man Englands schwache Seite, und so trat man mit sehr unbequemen Gegen¬
forderungen an England heran. So wuchs auf der einen Seite die Auswanderung
aus England, was feine Bevölkerung schwächte, seiner Industrie die erwünschte,
den Arbeitslohn einschränkende Reservearmee entzog, und auf der anderen Weite
stiegen die Kolonien durch Schöpfung einer eigenen Industrie zu immer größerer
Selbständigkeit empor. Nachdem England also die eine Quelle zur steten
Erneuerung seines Volkes durch den Raubbau am eigenen Bauerntum erschöpft
hatte, begann nun auch die andere, der Zustrom starker Elemente aus seinen
Kolonien, zu versiegen. Damit wurde es in seiner äußeren Politik mehr und
mehr von den Forderungen und der Haltung der Kolonien bestimmt, während
auf seine innere Politik die „Bodenlosen" — sagen wir im Hinweis auf unsere
früheren Darlegungen kurz —, die Klassen der geistigen und körperlichen Arbeit
mit ihren hundert verschiedenen Strebungen vollen Einfluß gewannen.
In der gleichen Zeit aber vermochte Preußen-Deutschland durch energische,
Aufnahme der Sozialpolitik die Strebungen der Lohnarbeiter in das ruhigere
Fahrwasser ernster und strenger Organisation zu leiten; die Macht der land¬
bauenden Bevölkerung erwies sich noch stark genug, den Extravaganzen der
Bodenlosen beider Kategorien zu widerstehen und sie zur Mitarbeit entweder an
der Erhaltung und Entwicklung der staatlichen Ordnung zu erziehen oder
wenigstens ihrer Opposition den Stempel der Karikatur westeuropäischer Theorie«
auszudrücken.
Sichtbar — das glaube ich nun schließen zu dürfen — ward der allgemeinere
Nenner, unter dem die Gegenbestrebungen in und außer Deutschland zusammen¬
zufassen sind. Die Bodenlosen drängen zur Herrschaft. Es sind ein Teil der
wirtschaftlich zu kurz gekommenen Bevölkerungsklassen, deren Einkommen aus
geistiger Arbeit fließt, und neben ihnen vor allem die Massen, deren Einkommen
rein körperlicher Arbeit entstammt. Die Herrschaft dieser Einseitigkeiten würde
dem Lande und Volke zu ungeheuerem Schaden gereichen, da sie, wie cmderKwo,
dem Raubbau am deutschen Bauerntume nicht zu steuern vermöchten. Was also
nottut, ist erkennbar: Überwindung oder Paralysierung dieser Einseitigkeiten.
Eine Parcilysierung wäre möglich durch die Stärkung des Bauernstandes
in Deutschland. Materiell scheint der Krieg sie im großen schon bewirkt oder
angebahnt zu haben. Und so wäre abzuwarten, ob dieser materiellen Stärkung
eine intellektuelle folgen wird und kann. Eine solche Stärkung wäre von der
Regierung in jeder Weise zu fördern, denn sie stärkt damit das Fundament, auf
dem sie selber und die ganze, gesunde Zukunft unseres Landes und Volkes ruht.
Eine Überwindung wäre möglich durch stärkeres Eindringen der Boden¬
losen selbst in den Bodenbesitz. Also Heraushebung unserer Intellektuellen aus
ihrer phantasievollen Einseitigkeit — Verselbständigung unserer Lohnarbeiter
durch die Ermöglichung eines Landbaues im kleinen, der ihnen die ersten Lebens¬
notwendigkeiten aus eigener Arbeit sichern und die innere und äußere Gesund¬
heit ihrer Frauen und Kinder durch die Arbeit im Freien stärken und schützen
würde. Daß eine solche Möglichkeit vorliegt, zeigt die Entwicklung während der
Kriegsjahre. Rings um unsere Städte drang fröhliche Arbeit in die brach¬
liegenden Plätze und verlassenen Schutthalden, und ein frisches Grünen und
Blühen gab Kunde von der notwehrenden Kraft, die hier ordnend und waltend
ihr Wer! begann. Und bei wie vielen jener „Intellektuellen" möchte nicht die Emp¬
findung aufleben, die Walther von der Vogelweide einst durchdrang, als die
Schenkung eines Lehens durch Kaiser Friedrich es ihm ermöglichte, von dem
„Umhertreiben auf der Gaukelfuhre" endlich am „am eigenen Herde" ausruhen
zu können. Und weiter brachte der Krieg ein erhöhtes Drängen aus der Enge
der Stadtwohnungen in Landwohnungen mit der Gelegenheit eigenen Garten¬
baues und eigener Kleinviehzucht. Schwein, Schaf, Ziege, Hühner, Kaninchen
und so weiter wurden wieder in weiterem Umfange zu Haustieren, und wem eS
damit glückte, wer hier seine Erfahrungen sammelte und seine Praxis erlernte,
wird gar manchmal weiter geführt: von der Ziege zur Kuh, vom Garten zu
einem Stück Ackerland: die kleine Landwirtschaft will werden, und dieses Werden
wäre nur zu begrüßen und zu unterstützen, denn hier wächst die Jugend und
Gesundheit unseres Volkes, das Selbständigkeitsgefühl des einzelnen, das Heim-
gefühl der Familien. Manches Stückchen Land wird seiner wildtreibenden Ver¬
kommenheit entrissen und von der segnenden Pflege menschlicher Arbeit und
Ordnung einer besseren und schöneren Bestimmung zugeführt. Die Ordnung
aber, die ein Mensch nach außen zu schaffen gezwungen ist, wenn nicht geites
Unkraut all sein Mühen überwuchern soll, wirkt auch nach innen auf ihn felbst
zurück. Da wird er dann lernen, daß Bildung von Bilden kommt, und daß daZ
ein Tun und Zugreifen und Schaffen bedeutet und nicht bloß ein Lesen und Aus¬
wendiglernen.
Dieser Wille aber, der Wille zu einer neuen Stetigkeit, zu einer neuen
„LuvAs" und „irisWs", wie es einmal hieß, zu einer neuen äußeren Ordnung
und einem inneren Maßhalten war in Deutschland im Werden begriffen, und
er ist es noch. Es ist der Wille, der als einzige Gewähr eines wahren Kultur-
strebens Vertrauen verdient/ und gerade ihn haben unsere Feinde nicht mehr
oder noch nicht, da sie diejenigen Elemente ihrer Bevölkerung in rücksichtsloser
Gewinngier vernachlässigten oder verkommen ließen, die allein die starken und
zuverlässigen Träger eines solchen Willens sind und zu sein vermögen.
Mit der Aufnahme der deutschen Sozialpolitik hatte sich dieser Wille zuerst
wieder stark bekundet. Er zeigte an, daß die Meinung sich geändert hatte, der
Bodenlose sei nur ein verkommenes Subjekt, dem man nur den vertragsmäßig
bedungenen Lohn schulde, und das man, wenn es sich muckse, einzusperren oder
totzuschießen habe. Das, was da als überschüssige Kraft aus dem Bauerntume
und aus den bürgerlichen Berufsständen „zur Fabrik" drängte, bestand, nicht
etwa nur aus verkommenen Bauern und Bürgern, sondern in diese neue Arbeit
drang der Wille des Emporkommens mit hinein. Man suchte den Weg, den man
in der alten Lage sozial und wirtschaftlich nicht zu finden vermochte. Und ein
Unglück war es, daß dieser Wille unter die Führung von Leuten geriet, die ihre
prophezeienden „Wahrheiten" nicht in Deutschland gefunden, sondern sich ax
der Entwicklung anderer Völker, vor allem der Jndustrievölker, orientiert hatten.
Mit ihrer Art Willensäußerung wurde jener Emporwille vor dem Volke dis¬
kreditiert und die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse in die Irre geführt.
Aus den Bevölkerungsschichten der Landwirtschaft kam es nicht nur zur
Abspaltung jener überschüssigen Elemente zu rein körperlicher Arbeit, sondern
der Wille zum Emporkommen, der Wille gegen die Proletarisierung zeigte sich
bald nach den ersten turbulenter Zeiten in den ernsten Forderungen großer
Massen unserer Arbeiter, teilzunehmen an den „Gütern der Kultur"; er zeigte
sich in der bald einsetzenden aktiven Beteiligung vieler Arbeiter an der geistigen
Arbeit selbst; er zeigte sich in dem Streben, die einseitige Betätigung des In¬
habers von körperlicher Kraft durch seine Selbstbelehrung und geistige Selbst-
eutwicklung zu ergänzen. Gegen die arbeitsteilige Einseitigkeit suchte der Ar¬
beiter in dieser Weise nach einer Abwendung der ihm drohenden Gefahr mensch¬
lichen Verkommens. Und während es kaum eine Frage ist, daß der Übertritt
vor allem aus den höheren Schichten des Bürgertums zur rein körperlichen
Arbeit ein Herabsinken bedeutet, eine wirtschaftliche und physische Kraftabnahme,
also ein objektives und subjektives Altern anzeigt, ist der Übergang zur körper¬
lichen Arbeit aus den landwirtschaftlichen Kreisen zu allermeist nur ein objektiv
(wirtschaftlich) bedingter; er trägt den subjektiven Willen zur Erlangung einer
besseren Lebenssicherung mit hinüber in den neuen Stand und zeigt damit ein
Fortschreiten zu einem individualisierten Ziele an: dem Ziele der Persönlichkeit.
Dieser Wille bekundet sich ebenso in dem Streben nach qualitativer Ausbildung,
wie auch die Tatsache zum Beispiel, daß die städtische Arbeiterbevölkerung sich
keineswegs nur durch dauernden Zuzug vermehrt, sondern ihre Vermehrung
durch eigene Zeugung bewirkt, durchaus nicht auf eine Kräfteabnahme
schließen läßt.
Im Gegenteil, der durch die wirtschaftliche (objektive) Notwendigkeit er¬
zeugte und gestärkte Drang zu einer gemeinsamen — solidarischen — Entwick¬
lung ist als ein lebensstarkes Element zu hundelt, und so zeigt es sich, daß daZ
Bodenloswerden keineswegs allgemein als ein Verkommen einer ganzen Be¬
völkerungsschicht zu erklären ist, sondern daß in ihm zugleich der instinktive
Drang wirksam sein kann und wirksam ist, neuen Boden zu gewinnen.
Aber auch in mancher anderen Beziehung lehrt die Erfahrung, daß daS
Abströmen der bäuerlichen Bevölkerungsüberschüsse zu körperlicher Arbeit nicht
allgemein als ein Sinken in sozialer Hinsicht betrachtet werden darf, denn unsere
ganze Industrie hätte ohne diesen gesunden Zustrom an körperlicher und geistiger
Kraft ihren Weltgang so wenig machen können, wie wir jetzt etwa nur mit ein¬
fachen Bauernjungen die Siege im Weltkriege hätten erringen können. Mögen
diese immerhin ein Element der Stetigkeit, des Standhaltens, des Ausharrens
und Durchkcimpfens bilden, die „Intellektualität" der Arbeiter gab das andere
Moment der geistigen Beweglichkeit, der Findigkeit, der Anpassungsfähigkeit, die
so Ungeheures leistete, hinzu.
Wir sehen: alt werden kann und muß ein Volk, dessen Bauernstand dahin¬
schwindet oder dem er ganz abhanden kam. Alt werden kann ein Volk ebenso
als Bauernvolk, wenn unverbesserbare Enge und Eingeschlossenheit es von jeder
Entwicklung fernhält. Aber was sonst an einem Volke alt wird, das sind jene
individualisierten Kräfte. Wie am Baume die Blätter und Blüten dahinwelken
und in jeder Wachstumsperiode immer wieder neu und aus dem Stamme
entwickelt werden müssen, der nicht starb, so die Individuen und Individual-
bildungen am Stamme eines Volkes. Wo man dazu die Möglichkeit nahm, indem
man die Wurzel durch Einengung ihres Erdreiches verkümmern ließ oder den
Stamm selbst anschlug, wie dies England mit der Vernichtung seines Bauern¬
standes, Frankreich mit der Proletarisierung seiner Bauernschaft tat, da muß in
kurzer Zeit Blutleere mit all ihren Folgeerscheinungen wie Hysterie und
intellektuell phantastische Überspanntheit und in der Praxis die Neigung zu
Gewaltmitteln anstatt zu ordnender Überlegung eintreten; da muß ferne, der
Drang sich melden, auswärts die nahrungschaffenden, erfrischenden Volkskräfte
zu suchen, die das eigene Volk nicht mehr erzeugt.
Einstmals war Deutschland das Reservoir solcher Kräfte für Europa.
Seitdem aber Deutschland sich zu einem Eigenleben erhob und seine Kräfte zu
eigener Sicherung zu organisieren strebte, mußte es mit der Zeit unfehlbar dahin
kommen, daß entweder Deutschland seine Volkskräfte in Europa nur unter eigener
Leitung zu organisieren suchte, sie also nicht mehr der Fremde einfach preisgab
— daher der Vorwurf des Strebens nach Herrschaft in Europa —, oder daß alle
anderen Völker zu Gegnern Deutschlands wurden und die Zurückführung der
früheren Zustände, eine Zersplitterung des deutschen Volkes erstrebten. Hier, in
dieser tiefsten Lebensfrage der uns feindlichen Völker liegt der letzte Grund deS
Weltkrieges. Es ist das Zusammentreffen von Ursachen, die heute wie immer
die gleichen Wirkungen erzeugten, einstmals die Einkreisung und Zerreißung
Deutschlands in einem Kriege von 30 Jahren, dann die Einkreisung Preußens
im siebenjährigen Kriege, die beide nichts anderes bedeuteten wie heute: die
Auflehnung der europäischen Völker gegen eine starke und geschlossene Eigen-
cntfaltung des deutschen Volkes. Und hier berühren wir nicht minder die Ursache
der weniger als lauen Haltung der Neutralen uns gegenüber, so weit sie, wie
z. V. Holland oder die Schweiz, an dem gleichen Leiden kranken: in Holland an
der Dezimierung der eigenen landbauenden Bevölkerung und in der Schweiz an
dem Raubbau am eigenen Volke durch die Fremdenindustrie und die fort¬
schreitende Industrialisierung des Landes. Wie wenig die Schweiz imstande ist,
ihr Volk aus eigenen Produkten zu ernähren, das hat der Krieg zum Schrecken
aller gezeigt.
Und hier bietet sich das Gegenbild im kleinen zur deutschen Entwicklung.
Der Wille der Basler und vor allem der Berner Aristokratie war nicht mehr
stark genug, den Willen des bodenlosen Intellektualismus, wie er in Zürich und
Genf vor allem Raum gewann, zu paralysieren, während das Bauerntum in
Deutschland in der landbauenden ostelbischen Junkerschaft einen starken sozialen
Rückhalt fand.
Die energische Aufnahme der Sozialpolitik vermochte nicht, die jäh ein¬
reihende Bodenlosigkeit ganz zu verhindern. Die Entwicklung zur Industrie war
notwendig geworden und ließ sich nicht hemmen. Was sich aber hemmen ließ,
das war das Versinken ganzer Bevölkerungsschichten ins Proletentum. Der
deutsche Proletarier weiß es heute, daß viele Wege aus seinem Stande wieder
aufwärts zu führen vermögen. Und einer der ersten und besten ist der, der dahin
führt, neuen Boden zu gewinnen. Er muß immer mehr beschritten, und alle
Mittel müssen aufgewendet werden, unser Volk diesem Ziele näherzubringen und
es zu erreichen. Land und Volk — das gehört zusammen, als eine untrennbare
Einheit, und sie allein kann uns die starke und gesunde Zukunft bringen, die wir
für Deutschland und sein herrliches Volk wünschen.
WKW^^DZ o paradox es klingt: die Behandlung der Deutschbalten, die mit uns
eines Stammes sind, die unsere Kultur und einen großen Teil unserer
Geschichte miterlebt haben, sie ist sür den tiefer Blickenden ein noch
« viel Schwierigeres Problem, als die Behandlung des primitiven Letten-
volles. Gerade weil die Gegensätze zwischen dein neuen Reichs- und
dem baltischen Deutschtum innerlicher, ideeller, unendlich viel schwerer
faßbar und verständlich sind: gerade darum liegt in ihnen der Kelln zu ernsten,
ja tragischen Verwicklungen beschlossen. Es soll der Versuch der folgenden Zeilen
sein, die immanente Gefahr des gegenseitigen Verhältnisses von Reichsdeutschen und
Deutschbalten aufzudecken. Meine Ausführungen wollen an ihrem bescheidenen
Teile versuchen, an Mißverständnissen und Konflikten abzuwehren, was sich auf
dem Wege logischer Aufhellung historisch und seelisch bedingter Widersprüche und
Gegensätze verhüten läßt. Das übrige muß der Schule der Erfahrung überlassen
bleiben, die den Ballen, welche in einer wechselvollen Geschichte viel gelitten haben,
auch weiterhin manch seelische Schmerzen nicht ersparen wird.
Ob sich heute wohl in Frankreich Stimmen an die Öffentlichkeit wagen
könnten, die nach altgewohnter Weise den Elsässer als einen Me-Linrö verspotten?
Ich glaube kaum. In der deutschen Presse geht die Hetze gegen die „baltischen
Barone" vergnügt weiter und bis zum Überdruß müssen die wenigen Kenner des
Landes und seiner Bewohner, die es in Deutschland gibt — meist sind sie selber
gebürtige Ballen und vor die peinliche Aufgabe des ?ro-äomc>-Redens gestellt —,
gegen die grundlegendsten Verkennungen und gegen die gehässigsten Anrempelungen
der Stammesbrüder in der deutschen Ostmark in Wort und Schrift ankämpfen.
Es ist traurig und unendlich beschämend, das in dieser späten Stunde des deutschen
Selbsterhaltungskampfes in der Welt feststellen zu müssen. Aber die Tatsache als
solche ist unbestreitbar. Parteipolitische Vereinseitigung und eine grob quanti¬
tative Betrachtungsweise durchdringen sich: das Ergebnis ist ein noch weite Kreise
der deutschen Öffentlichkeit beherrschendes Gefühl von Kälte und Gleichgültigkeit,
das von den Deutschbalten allenthalben schwer und schmerzlich empfunden wird.
Man sollte meinen, daß die Berührung weiter Schichten unseres Heeres
mit den baltischen Verhältnissen dieser unwürdigen Lage ein Ende gemacht hätte.
Es ist nicht zu verkennen, daß ein wesentlicher Fortschritt dadurch erzielt worden
ist. Der Jubel und die hemmungslose Begeisterung, mit der unsere Truppen in
Kurland, in Riga, in Dorpat und Reval empfangen worden sind, der Anblick der
Leiden, die die baltischen Blutzeugen des Deutschtums durcherlebt haben, die
Erzählungen der Verschleppten, Mißhandelten und Beraubten: all das konnte auf
empfängliche und offene Gemüter seinen tiefen Eindruck nicht verfehlen. Und die
wundervollen Städte des Landes mit ihrer erlesenen Bürgerkultur, die herrlichen,
gepflegten Landsitze des gastfreien Adels, die offenbaren Spuren deutscher Ver¬
waltungsorganisation trotz der darüber gestrichenen russischen Tünche: sie redeten
eine zu deutliche Sprache, als daß der Augenzeuge nun noch auf Grund unan¬
fechtbarer statistischer Tatsachen diesem Land seinen deutschen Charakter absprechen
und es als ein im Grunde lettisches und chemisches Kulturgebiet anerkennen könnte.
Aber schon melden sich die Stimmen der beschränkten Besserwisser auch in
den oberen Schichten unserer Besatzungstruppen und rechnen selbstzufrieden und
überlegen dem Ballen seine „Rückständigkeit" vor: der deutsche Großstädter, der
glaubt, der liebe Gott habe die Welt im Grunde nach dem Bilde von Berlin W.
erschaffen, vermißt in dem idyllischen behaglichen Mitau mit seinen breiten, weit¬
räumiger Holzhäusern den ihm vertrauten Komfort und gibt der Talmigroßstadt
Libau den Vorzug, weil sie Cafe-chantants und überhaupt „Betrieb" habe; der
fleißige Verwaltungsbeamte rümpft über die kürzere und langsamere Arbeit des,
Ballen die Nase und übersieht völlig die kulturfördernde Wirkung, die diese weniger
gehetzte, an Muße reichere Lebensform gerade beim baltischen Bürgertum aus¬
übt.*) Andere wieder stoßen sich an der größeren Gebundenheit, die die Kon¬
vention einer exklusiven Gesellschaft der Haltung und dem Leben der Frau auf-
erlegt und sehen nicht, wie viel Urwüchsigkeit und vitale Frische trotz dieser aristo¬
kratischen Gehaltenheit die Frauen insbesondere in Kurland auszeichnet. Kurzum:
trotz den fast durchweg herzlichen und überaus erfreulichen Beziehungen zwischen
den Deutschbalten und ihrer militärischen Einquartierung kann man bereits jetzt
gelegentlich die Spuren einer solchen inneren Distanz, einer Verkennung und oft
sehr'oberflächlichen und hochmütigen Mißachtung des Deutschbaltentums bei den
zugewanderten Reichsdeutschen bemerken.
In den oberen Schichten unseres Militärs zählen diese Erscheinungen gott-
lob zu den Ausnahmen. Ganz anders liegt es bei den Unteroffizieren und Mann¬
schaften, die in großer Zahl die subalterne Verwaltungsarbeit des Landes leisten
und übrigens trotz ihrer militärisch gedrückten Stellung tatsächlich einen viel
größeren Einfluß ausüben, als der Buchstabe der Verwaltungsordnung vermuten
läßt. Die große Mehrzahl dieser kleinen Beamten oder Kaufleute, mit Mittel¬
schulbildung — die wenigsten haben das Einjährigenzeugnis — und aus kleinen
Kreisen stammend, ist weder in ihrer Heimat, noch erst recht in dem aristokratisch
exklusiveren Baltenlande gesellschaftsfähig. Ihre militärische Rangstufe erschwert
ihnen zudem die Begegnung mit Offizieren auf gesellschaftlichen Boden. Ein
deutscher kleinbürgerlicher Mittelstand aber, in den sie sich gesellschaftlich harmonisch
einfügen könnten, ist im baltischen Lande nur ganz spärlich vertreten. Diese
breiten Massen unserer Untermilitärs sind gesellschaftlich auf sich selber oder vor¬
wiegend auf Letten angewiesen, mit denen sie sich schwer verständigen können und
bei denen sie höchstens bedenklichen antibaltischen Einflüssen unterliegen. Soweit
diese Unterbeamten, z. B. daS an Bildung besonders tief stehende untere Polizei--
und Geudarmeriepersonal, nicht die Deutschbalten überhaupt mit den Letten und
allen östlichen Landeseinwohnern unter die Universalkategorie „Panje" einordnen,
sind sie vielfach gegen die deutsche Oberschicht des Landes von einer deutlichen
kleinbürgerlichen und zugleich auch neudeutsch-überheblicher Ranküne erfüllt. Auch
diese kleinen Sekretäre und Schreiber mit ihrem so überaus begrenzten bureau¬
kratischen Horizont sehen auf die Lässigkeit, Bequemlichkeit und zivilisatorische
„Rückständigkeit" des Ballen mit einer überaus souveränen Verachtung herab. Die
Neigung der baltischen Herrenschicht, der „Edel-Pcmjes", wie der boshafte Etappen¬
ausdruck lautet, sich auch mit kleinen Anliegen unmittelbar an die gesellschaftlich
bekannten leitenden Offiziere zu wenden, verletzt das Machtgefühl der kleinen über-
gangenen Bureaukraten, und die getränkte Würde und überhaupt ihr militärischer
Nationalstolz äußert sich vielfach, wenn auch keineswegs durchgehend-- in der be¬
kannten Unteroffiziersschneidigkeft, an die man jenseits der schwarz-weiß-roten
Grenzpfühle sich eben doch noch nicht so gewöhnt hat, wie wir zu Hause. Wenn
man bedenkt, daß die Ballen seit Jahrzehnten gewohnt sind, an diesen Stellen
den bestechlichen halb servilen, halb schikanösen russischen Tschinownik zu sehen,
dann nutz jeder, der die jetzigen Verhältnisse durch Augenschein kennt, die schnelle
Umschattung ihrer Haltung anerkennen. Das Publikum ist im Verkehr mit den
militärischen Behörden, in deren Händen ja auch alle Macht liegt, von einer fast
ängstlichen und stark eingeschüchterten Höflichkeit, trotzdem es von der Umständ¬
lichkeit deS deutschen BureaukratiSmus, der es an Papierverbrauch gut mit dem
russischen aufnehmen kann, einigermaßen überrascht ist. Aber eben diese unge¬
wohnte Machtfülle hat namentlich bei manchen kleinen Bureaupotentaten Selbst-
Herrschergefühle und entsprechende Gebärden gezeitigt, die nicht besonders geeignet
find, für die deutsche Kultur zu werben.
Man schreibt in deutschbaltischen Kreisen mit Selbstverständlichkeit «me»
großen Teil dieser Mißverhältnisse ohne weiteres auf daS Konto de» Krieg»-
zuftandes. Aber angesichts der elsaß-lothringischen Erfahrungen steht zu befürchten,
.daß nach dem Kriege Erstaunen und Mißmut wachsen werden, wie langsam sich
diese Verhältnisse bessern. Für das Deutschbaltentum war eine gewisse, für un»
recht beschämende idealistische Überschätzung der reichsdeutschen Verwaltungskunst
im Gegensatz zur allzu gut bekannten russischen Mißwirtschaft bezeichnend. Die
Einsicht, daß auch im deutschen Lager mit Wasser gekocht wird, ist für die Deutsch»
halten allenthalben ein schmerzlicher Schlag gewesen. Zwischen dieser unkritischen
Überschätzung und einer ebenfalls im baltischen Charakter angelegten Neigung zu
nörglerischer Kritik schwingt jetzt das Bewußtsein allmählich zu einer mittleren
Ruhelage aus, wo eine nüchterne und etwas desillusionierte Einschätzung der Dinge
den Plan beherrscht. Doch das sind innerbaltische Nöte und Sorgen. Für un»
ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis wichtig, daß ein gegenseitiges Ver¬
ständnis unseres bureaukratisch engen Kleinbeamtentums und der antibureau-
kratischen lässigen baltischen Gesellschaft schwer herzustellen ist. Wie in aller Welt,
so wird auch im Baltikum unser bureaukratisches System mit seinem Formalismus
ein steter Boden für Reibungen bleiben.
Der neudeutsche Kulturträger empfindet sein Deutschtum vorwiegend mili-
tärisch und staatlich in parteipolitischer Ausprägung, erst in letzter Linie national
in einem Sinne, der keine Neichsgrenzen, sondern nur den Umfang deutschen
Kulturbodens kennt. Der Balle wiederum empfand sein Deutschtum ausgesprochen
unstaatlich-national und ist erstaunt, sich auf diesem Boden nicht ohne weitere»
mit dem Reichsdeutschen zu treffen. Doch genug der schwerüberwindlichen Vor¬
urteile und inneren Vorbehalte, mit denen der einwandernde Reichsdeutsche viel¬
fach dem ihm völlig fremden, bisher kaum dem Namen nach bekannten Balten-
tum gegenübertritt. Versuchen wir, auch hier nach Möglichkeit von den Sonder¬
verhältnisjen des Augenblick» abzusehen und die mutmaßliche Entwicklung diese»
Verhältnisses nach Aufhebung deS gegenwärtigen MilitärregimenteS ins Auge zu
fassen. ES ist an« verschiedenen Gründen vollkommen ausgeschlossen, daß daS
baltische Land in absehbarer Zeit den vollen Bestand seiner Beamtenschaft selber
stellen kann. Das deutsche Verwaltungssystem, das in zivilem Formen die Tätig¬
keit der gegenwärtigen Militärverwaltungen allmählich ablösen wird, erfordert
jedenfalls einen unverhältnismäßig größeren Stamm an Arbeitskräften, als ihn
das Land selber sogleich aufzubringen vermag. Und der in der eigenen Selbst¬
verwaltung durchaus bewährte, aber in neudeutschen Sinne bureaukratisch unge-
chulte und schwerfälligere Deutschbalte wird noch Mge beim verwaltungstechnisch
überlegenen Reichsdeutschen in die Lehre gehen müssen, wenn das auch politisch
wichtige Ziel erreicht werden soll, daß das Baltikum verwaltungsmäßig dem neuen
Deutschen Reich fest und unlöslich angegliedert würde. Es wird also ein zahlen¬
mäßig starker reichSdeutscher Beamtenstand ins Land hereinfluten, der seine tech¬
nische Überlegenheit sehr deutlich betonen und keineswegs von vornherein geneigt
sein wird, seine neudeutsche Sonderart willig aufzugeben und den Sitten und
Überlieferungen des Landes anzupassen. Das aber ist in der Geschichte des Landes
ein Novum und muß eine Reihe schwieriger Konflikte heraufführen.
Das Baltenland war bis vor etwa dreißig Jahren einen starken stetigen
Zustrom aus Deutschland gewohnt. Auf diese fortwährende Blutzufuhr aus dem
Mutterlande war die kleine deutsche Schicht deS Landes durchaus angewiesen, da
die Inzucht für sie eine dauernde Gefahr war. Sie verhielt sich gegen die Ein¬
wandernden durchaus nicht abschließend, sondern bekundete im Gegensatz zur
«lsässischen Bourgeoisie eine starke Fähigkeit, diese heterogenen Elemente in kurzem
gesellschaftlich und stammlich soweit zu assimilieren, daß aus diesen Zuwanderern
verschiedensten stammlichen Ursprungs in kurzem echte und rechte Ballen wurden.
Die Kontinuität der baltischen Tradition wurde durch diesen Zustrom nicht gestört,
sondern dieser war geradezu eine ihrer organischen Voraussetzungen. Ruch auf
das Letten- und Estentum übte natürlich die Lebenshaltung der bevorzugten Herren¬
schicht eine ungeheure Anziehungskraft und gerade weil den Eingeborenen der
Aufstieg nicht leicht gemacht wurde, wurde von den begabten aufstrebenden Ele¬
menten der Unterschicht die Aufnahme in die Oberschicht bis an die Schwelle der
Gegenwart als ein so großer Vorzug empfunden, daß sie gern das Opfer ihre?
Volkstums brachten: Emporkommen, zu Geltung und Stellung gelangen hieß
deutschbaltisch werden. Was die Letten und Ehlen anlangt, hat sich diese Lage
in den letzten Jahrzehnten durch Herausgestaltung eines national bewußten Gro߬
bürgertums beider Völker von Grund auf geändert. Die wichtigste Frage für die
nächste baltische Zukunft bleibt es jedoch namentlich im Hinblick auf die Zu¬
wandernden, ob die baltische Gesellschaft auch fernerhin die Fähigkeit und den
starken Willen behalten wird, sich die neu einströmenden Elemente einzuschmelzen
und dadurch zugleich unmerklich und schrittweise sich selbst dem neuen Deutschtum
anzuähneln, oder ob sie, wie die elsässische Bourgeoisie durch einen Masseneinstrom
heterogener Elemente in den Grundlagen ihrer Selbsterhaltung bedroht, die ent-
gegengesetzte Politik der Verkapselung, des Abschlusses und damit des langsamen
aber sicheren Selbstmordes einschlagen wird. Hier ist also ein Punkt, wo die
elsässischen Erfahrungen wirklich fruchtbringend werden können, wenn die leitenden
Stellen bei uns im Reiche und zugleich auch die einwandernden Kreise namentlich
der oberen Beamtenschaft sich die Problemlage von vornherein klarer vor Augen
stellen, als das seinerzeit im Elsaß geschah.
Der Balle wird selbstverständlich in erster Linie diese Frage vom Stand¬
punkt der Bewahrung, d. h. natürlich nicht der ängstlichen reaktionären Ver¬
knöcherung seines überkommenen Volkstumes betrachten. Dem Reiche liegt dieser
Gesichtspunkt zunächst ferner. Es gibt nur wenige Reichsdeutsche, die Gelegenheit
gehabt haben, mit den intimen Reizen der baltischen Stammeskultur in Berührung
zu kommen und die daher mit dem Ballen den nationalen Herzenswunsch empfinden,
im buntfarbigen Garten des Deutschtums diesem edlen Gewächs so viel von seiner
kräftigen und knorrigen Eigenart zu erhalten, wie die neue und harte Zeit es
irgend zuläßt. Dem Reich als solchem muß der Gesichtspunkt im Vordergrund
stehen, wie weit eine Festigung des deutschen Machteinflusses im neuen baltischen
Schutzstaat an der Forterhaltung des urtümlichen Deutschbaltentums interessiert
sei. Gerade auch unsere kürzlich angestellten Erwägungen über die Rückwirkung
einer engen Verbindung mit den deutschbaltischen Überlieferungen auf die Behand¬
lung und politische Gewinnung der Letten und Ehlen kommen hier als ernsthafter
Faktor in Frage. Trotz der damals geäußerten Bedenken scheint mir die Einsicht
unabweislich zu sein, daß das Deutsche Reich gerade bei dem Charakter seines
bureaukratischen Systems, bei seinem offenbaren Mangel an bewährten kolonisato¬
rischen Methoden und Erfahrungen auf die Mithilfe des Deutschbaltentums
schlechterdings angewiesen ist. Dann aber wird es zur unumgänglichen Pflicht
unserer leitenden Stellen, in kluger Voraussicht Wege und Maßnahmen zu über¬
denken, die dem Deutschbaltentum das organische Hineinwachsen in die neudeutsche
Lebensform ermöglichen und die es nicht von vornherein in eine für beide Teile
unfruchtbare und verhängnisvolle Abkapselung und gesellschaftliche und kulturelle
Absonderung mit Notwendigkeit hineintreiben.
Von grundlegender praktischer Bedeutung wird hier die Frage der Auswahl
der nach den baltischen Landen zu sendenden Beamtenschaft, die wir in früherem
Zusammenhang bereits berührten. Unendliche persönliche Sorgfalt von Fall zu
Fall, aller politische Takt ist gerade an diese Frage zu wenden. Technische
leistungsmäßige Bewährung kann und darf nicht allein den Ausschlag für eine
Mission im neuen Ostland geben. Der tüchtigste Virtuose der bureaukratischen
Technik ist unter den dortigen Verhältnissen ein Schädling, wenn er ausgerüstet
mit dem Glauben an die allein seligmachende Kraft demokratischer Ideale mit der
Absicht ins Land geht, diesen „Junkern" und ihren bürgerlichen Nachbetern es
mal ordentlich zu zeigen und die Verfassung des Landes nach Kräften seiner
Bevölkerungsstatistik anzupassen. Es werden der Opfer an liebgewohnten An¬
schauungen und Einrichtungen genug vom baltischen Deutschtum erfordert werden,
der Fortgang der Geschichte wird schwere und gewichtige Wort» .sprechen, und nur
kindischer oder greisenhafter Trotz und Uno»rstand werden den hoffnungslosen
Versuch machen, sich diesen Worten zu widersetzen. Man sollte aber dann auch
auf reichsdeutscher Seite ein Verständnis dafür gewinnen, wie viele tragische
Folgen die Krisis des deutschbaltischen Menschen zeitigen wird und es dem dortigen
Deutschtum nicht zumuten, sich mit deutschen Kulturträgern auseinanderzusetzen,
die ohne den Willen zur verständnisvollen Einfühlung in die bewährten Über¬
lieferungen, vielmehr mit altklugen Besserwissen und mit offenbarer Abneigung
gegen den einheimischen deutschen Menschenschlag als Eroberer und Beglücker,
wenn nicht gar als pfiffige Ausbeuter des Landes einziehen.
Auf die Auslese dieser beamteten Vertreter des neuen Deutschtums in den
baltischen Landen wird unsere Negierung Einwirkung haben und es steht dringend
zu hoffen, daß sie die Verantwortung erkennt, die damit in ihre Hand gelegt ist.
Anders in den freien Berufen. Nach Riga, Libau und Reval, den großen, in»
dustriellen und gewerblichen Mittelpunkten des Baltikums, aber auch in die kleineren
Städte und auf das Land wird sich ein Strom jener Vertreter neudeutscher Wirt¬
schaft ergießen, deren hemmungsfreie Arbeits- und Erwerbsenergie hier so wenig
wie sonst in der Welt sich durch vorgefundene Wirtschafts- und Arbeitsverhältnisse
einer älteren Entwicklungsstufe des Kapitalismus beirren lassen und ehrfürchtig
vor deren Überlieferungen Halt machen wird. Der hanseatisch gehaltenere und
gemessenere Wirtschaftsgeist Rigas wird mit diesem jüngeren unbekümmerteren hoch¬
kapitalistischen Bruder ebenfalls hart zusammenstoßen. Der Schritt zum Hoch¬
kapitalismus mit allen wirtschaftlichen, arbeitstechnischen und auch gesellschaftlichen
Folgeerscheinungen wird dem Lande nicht erspart bleiben und wesentliche Eingriffe
in die Entwicklung der Verhältnisse stehen der Regierung kaum offen. Wohl aber
ist zu wünschen, daß sie ein wachsames Auge darüber habe, daß nicht die gegen¬
wärtige wirtschaftliche Notlage des baltischen Landes zu einer Erdrosselung seines
selbständigen und bodenständigen Wirtschaftslebens ausgenutzt werde. Insbesondere
ist die durch den Krieg begün'stigte Monvpolwirtschaft für den einheimischen Handel
eine schwere Gefahr. Was dabei mit auf dem Spiele steht, ist das Überwuchern
ostjüdischen Handelsgeistes in Riga, in der bisher die strengsten ursprungshaft
deutschen WrrtschaftSübcrlieferungen und kaufmännischen Gepflogenheiten die volle
Herrschaft besaßen. Gewiß wird eine größere nationale Parität auch dort Platz
greifen müssen, allein die Vernichtung der einheimischen merkantilen und industriellen
Initiative und damit die völlige Revolutionierung des baltischen Wirtschaftslebens
wäre aufs äußerste zu beklagen und namentlich in deutschnationaler Hinsicht von
katastrophaler Tragweite. So sehr wir gerade das Wirtschaftsleben als Feld der
Gewinnung der fremdstämmigen Unterschicht in Anspruch nehmen: völlig können
auch hier die nationalen Momente, deren jeweiliges Gewicht nur die einheimischen
Kreise ermessen können, aus dem wirtschaftlichen Kampf und der Neuordnung des
dortigen Wirtschaftslebens nicht ausgeschaltet werden.
Der Balle ist durch einen überaus stark ausgeprägten Unabhängigkeitssinn,
dabei aber auch durch ein hohes Maß geistiger Agilität ausgezeichnet. Insbesondere
für die bürgerlichen Kreise, in denen keine feudal-reaktionären Bindungen die
geistige Beweglichkeit lähmen, ist dies Beieinander bezeichnend, während dem Adel
die größere machtpolitische Energie innewohnt. Der Balle ist zu großen Leistungen
und Opfern bereit, sobald er ihren Sinn und ihre Notwendigkeit einsieht. Aber
er verträgt schwer eine Mißachtung seiner geistigen Freiheit und eignet sich nicht
zu blindem Gehorsam, wie ihn die militärische und büreaukratische Moral gern
fordert. Zwang und Gewalt wecken im Ballen seinen echt germanischen Trotz
und Eigensinn. Gewaltige geistige und organisatorische Arbeit ist in der baltischen
Selbstverwaltung, im Vereins- und Kuturleben des Landes freiwillig und ehren¬
amtlich geleistet worden. Ein Appell an freiwillige Opfer und freiwillige Mit¬
arbeit kann unter Deutschbalten sicher auf Widerhall rechnen, während der Leite
im Gegenteil festen Zwang dauernd braucht. Es sind jahrhundertelange feste
Verhältnisse, die diese widerstreitenden Eigenschaften in den beiden Schichten er¬
zeugt oder doch genährt und gesteigert haben mögen. Unendliche Reibungen
können vermieden, viel tätige Mithilfe dem neuen Regiment erworben werden,
wenn dieser wichtige Charakterzug des Ballen erkannt und in der Organisation
der Verwaltung, nicht zum wenigsten auch in der Fassung der Verordnungen und
Gesetze berücksichtigt wird. Baltische Zucht ist zum größeren Teile Selbstdisziplin,
nicht wie beim Preußen vorwiegend Disziplinierung oder gar sogenannter Drill.
Der Balle hat die Tugenden und auch die Fehler einer Herrenkaste. Nicht alle
diese Eigenschaften werden sich in ihrer ausgeprägten kantigen Eigenart in das
neue System hinüberretten lassen. Aber Deutschland hat, kein Interesse daran,
diese Eigenart mit Gewalt zu unterdrücken. Ein deutscher Stamm, der in langer
geschichtlicher Schulung die Fähigkeit zur Herrschaft und zugleich zur Selbstbeherr¬
schung ausgeprägt hat, die in der Welt vor allem die politischen Erfolge des
Angelsachsentums begründet hat, kann gerade durch diese Eigenschaften eine wert¬
volle Bereicherung des deutschen Menschenmaterials bedeuten. Bisher hat hier¬
von der russische Staat seinen Vorteil gehabt, der die staatsmännischen Talente
dem Lande und damit auf die Dauer auch der deutschbaltischen Nationalität ent¬
zogen hat. - Es steht außer Frage, daß auch das Deutsche Reich als Erbe Ru߬
lands hier seinen Nutzen finden wird, wenn es, — ich komme immer wieder auf
diese Grundinllhnimg zurück — nicht selber mutwillig den Wurzelboden dieser
Begabungen zerstört. Wenn das Baltikum, Deutschlands älteste Kolonie und beste
Pflanzstätte echten kulturellen Siedlertums, diese seine Rolle zum Heile des neuen
Reiches noch weiter spielen soll, dann müssen mit kluger und schonender Hand
die dortigen Kulturtraditionen in ihren Grundzügen bewahrt und ohne jähe
Übergänge und Brüche in die neue Zeit übergeleitet werden. Dann wird auch
weiterhin das baltische Land ganz von selbst diejenigen Elemente im deutschen
Vaterland locken, Schulen und seiner Eigenart assimilieren, in denen echte Herren-
instinkte und Herreufähigkeiten rege und lebendig sind. Wir wollen selbstverständ¬
lich nicht im Baltenlande eine Pflanzstätte autokratischen Junkertums begründen,
was die Linke diesen Ausführungen vermutlich unterstellen wird. Erst recht
bedeutet uns die Einfügung des baltischen Deutschtums in den neudeutschen
Gesamtorganismus nicht eine Okkulierung der deutschen Eiche mit einem zaristischen
Pfropfreis. Aber ohne wahres Herrentum, für das uns der Engländer ein
noch immer unerreichtes Vorbild ist, ist heute die deutsche Sendung in der
Welt nicht durchzuführen. Nicht im Kampfe, sondern im Bunde mit dem Deutsch-
baltentum wird der deutsche Geist die große Oftlandfahrt, zu der ihn heute die
Geschichte berufen hat, zum Heil und Segen des Reiches und des ganzen deutschen
Volkes sieghaft und glanzvoll durchführen.
v^R'WW! as sozialdemokratische Aktionsprogramm hat in den Reihen der Partei
eine schlechte Presse gefunden und der Parteiausschuß lehnte die vom
Vorstande vorgeschlagene Abstimmung mit der Begründung ab, daß
ihm vorher eine Ergänzung notwendig erscheine. Trotzdem kann die
provisorische Fassung als interessantes Stimmungsbild über den
! gegenwärtigen Stand der Parteibewegung volle Aufmerksamkeit be¬
anspruchen.
Einer der geistigen Väter des Programms, der schon erwähnte Genosse
Kunow, macht im Vorwärts gegenüber der von allen Seiten laut werdenden
Kritik unseres Erachtens mit Recht geltend, daß die Zusammenhäufung aller mög¬
lichen Forderungen schwerlich ein Aktionsprogramm entstehen lasse, das die ^sozml-
demokratie „aktionsfähig" mache und dem größten Teil ihrer Anhänger verständ¬
lich bleibe. Zudem: in einer gärenden Zeit, wie der unseren, wo das einzige
Gewisse die Ungewißheit des Kommenden ist, müsse ein „einstweiliger Arbeitsplan,
der auf der Grundlage der heute schon erkennbaren Veränderungen die Bahn ab¬
steckt", genügen. Kunow betrachtet ausdrücklich den Kommissionsentwurf als einen
„Lückenfüller für die Übergangszeit", bis die neue Lage geklärt sei und das „längst
veraltete" Erfurter Programm durch ein neues ersetzt werden könne. Und in der
Tat. wenn man dieses noch völlig doktrinäre Produkt aus dem Jahre 1891, das
zum Teil schon, als es angenommen wurde, „durch die wirtschaftliche Entwicklung
überholt" gewesen sei, mit dem Aktionsprogramm von 1918 vergleicht, so sieht man,
welche Fortschritte die „Revolutionierung der Revolutionäre" (Plenge) inzwischen
gemacht hat und wie nötig eine Revision der Parteidogmen geworden ist.
Schon die Einleitungen beider Dokumente zeigen ihren völlig verschiedenen
Geist. Die Erfurter läßt noch in breiter Front das schwere Geschütz der marxistischen
Theorie auffahren, in einer „ellenlosen Auseinandersetzung", als förmliche
»ökonomische Abhandlung" (Kunow), die darauf folgenden Einzelforderungen
geradezu erdrückend, schwelgt der soeben vom Zwange des Sozialistengesetzes be¬
freite Redefluß der Parteiherolde in den Schlagworten des „kommunistischen
Manifestes" von dem Elend, der Ausbeutung, Unterdrückung und klassenbewußten
Jnternationalität des Arbeiterstandes. Die Einleitung von 1918 ist ehrlich genug,,
auf diese wirklich nicht mehr recht zeitgemäßen Phrasen zu verzichten und die
klangvollen Thesen der ökonomisch-materialistischen Geschichtsauffassung zu dem
einen Satze zusammenschrumpfen zu lassen, daß die sozialdemokratische Partei „in
zielbewußter Mitarbeit die Neugestaltung der politischen und wirtschaftlichen Lebens¬
verhältnisse unseres Volkes in eine zum Sozialismus führende Bahn zu lenken
suchen" müsse.'
Um dies zu erreichen, wird an der Spitze der „politischen Forderungen",
wie nicht anders zu erwarten, der Grundsatz der Volksherrschaft proklamiert.
Aber die Art seiner Durchführung weicht von dem 1891 empfohlenen Verfahren
ab. Hielt man damals eine „direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des
Vorschlags- und Verwerfungsrechtes", — neben der Wahl der Behörden — für
das geeignete Mittel, so scheint man ein Menschenalter später der Unmöglichkeit
solcher Kantönlipolitik sür den modernen Großstaat eingesehen zu haben. Nun¬
mehr wird bloß entscheidender Einfluß des Volkes auf die parlamentarischen
Körperschaften — durch das bekannte Wahlrecht politisch Unmündiger — und
„Entscheidung dieser Volksvertretungen bei der Berufung und Entlassung des
Reichskanzlers, der Staatssekretäre und Minister" verlangt. Die hiermit um¬
schriebene Volksherrschaft ist aber auch verschieden von dem, was sonst auf der
Zinken, wo man ja jetzt ganz offen die „Volkssouveränität'' fordert"), darunter
verstanden wird. Wir haben in den Kreuzartikeln wiederholt darauf hingewiesen,
daß man in sozialdemokratischen Kreisen durchaus nicht allgemein das inner-
politische Evangelium der Fortschrittspartei, die parlamentarische Regierungsweise,
anerkennt. Da man sich bis zum heutigen Tage**) nicht hat entschließen können,
in verantwortlicher Form an der Regierung teilzunehmen, vielmehr nach der Ge-
wohnheit des deutschen Frühkonstitutionalismus auf Gewaltentrennung zwischen
Minister und Abgeordneten bedacht war, so kann jene Haltung nicht wundernehmen.
Den „Obrigkeits"Staat will natürlich auch diese Strömung unter den Sozialisten
abschaffen, aber der an seiner Stelle von ihnen erstrebte Volksstaat soll nicht nach
den Methoden des part^ System eingerichtet werden, das als Erfindung der
„Bourgeoisie" verdächtig ist, sondern vielmehr so, daß die allerdings ihres kon¬
servativen Kastencharakters zu entkleidende Bureaukratie mehr oder weniger am
Ruder bleibt, das Parlament dagegen in scharfer Kontrolle und in demokratisch-
sozialistischem Sinne den Kurs bestimmt. Man hat hierfür das Schlagwort vom
„Verwaltungsstaat" ausgegeben — auch das Aktionsprogramm gebraucht es in
der Einleitung. Das will besagen, daß der Hauptwert auf eine im sozialistischen
Klasseninteresse — das naiv mit der salus publica gleichgesetzt wird — geführte,
Administration wirklich sachkundiger Fachleute gelegt wird. Eine von unten auf
demokratisierte Bureaukratie, wie sie ähnlich dem Freiherrn vom Stein vorschwebte,
ist jenen Kreisen um Hellmann (bei uns) und Renner (in Österreich) eine bessere
Gewähr sozialistischer Zukunft, als das kontrollenlose Verwaltungsregime der Par¬
lamentsmehrheit rin ihrer Patronage- und Korruptionswirtschaft. Man hat in
diesem, Sinne den Parlamentarismus geradezu als „Abweg von der Demokratie"
bezeichnet.
Mag dies auch von der gegenwärtigen Parteiorthodoxie bestritten werden —
der „Vorwärts" schwört auf das parlamentarische System —, so können sich doch
die Anhänger des Verwaltungsstaates darauf berufen, daß jenes System dem
sozialdemokratischen Programm von jeher unbekannt war. Den Volksstaat sozia¬
listischen Gepräges umschrieb jüngst eine Kritik der „Glocke" zum Unterschied von
den Idealen unserer bürgerlichen Demokratie folgendermaßen: VoWstacit ist weder
parlamentarischer Parteistaat noch Obrigkeitsstaat noch Korporationsstaat. Aber
er braucht den starken mittleren Willen einer leistungsfähigen Obrigkeit neben der
wirklich sachverständigen Aufsicht seines Parlaments und der selbsttätigen Mit¬
arbeit der zusammengeschlossenen Interessentengruppen. Der „sozialistische Ver-
waltungsstaat" des Aktionsprogramms wird an diesen Elementen nicht vorbei¬
gehen dürfen. Die vorsichtige Sprache der Kommission zeigt auch, daß man sich
des strittigen Charakters der Materie wohl bewußt ist und absichtlich vermeidet,
von der „Einführung parlamentarischer Regierungsweise" zu reden, wie es die
interessierte Presse („Frankfurter Zeitung" u. a.) zu Unrecht wahr haben möchte.**')
Trotzdem werden natürlich die Kompetenzen der Volksvertretung erweitert.
Zu der schon in Erfurt geforderten Entscheidung des Reichstags über Krieg und
Frieden tritt jetzt noch das in der Gegenwart weitverbreitete Verlangen, ihn auch
bei der Abschließung von Verträgen föderativer Natur („Bündnisverträge mit
fremden Mächten") zu beteiligen. Es ist dies nur eine Folgerung aus dem gleich¬
falls zeitgemäßen Postulat, die Geheimdiplomatie abzuschaffen. Umwandlung des
stehenden Heeres in ein Volksheer (1891 hieß es noch dem alten Milizgedanken
entsprechender: Lolkswehr), zunächst durch Herabsetzung der Dienstzeit, und als
außenpolitisches Gegenstück der Abrüstung internationale Rechtsorganisationen zu
diesem Zwecke, ferner die bekannten Wünsche aus dem Gebiete des Vereinsrechtes,
der Selbstverwaltung und der Einheitsschule runden das Bild der politischen
Forderungen ab.
Eine einfache Überlegung sagt, daß der Sozialismus, trotzdem er in gewisser
Weise — durch sein Eintreten für den vierten Stand — der Rechtsnachfolger
des Liberalismus wurde, diesem innerlich fremd, ja feindlich gegenübersteht.
Ihre Kampfrufe Freiheit und Gleichheit, so brüderlich sie auch die Revolution
zusammenstellte, schließen einander, absolut genommen, ausi Der Liberalismus
kämpft — zugunsten seines Freiheitsideals — für die Emanzipation der Gesellschaft
vom Staate, der Sozialismus will gerade den Staat, „seinen" Staat, an die Stelle
der Gesellschaft setzen, um sein Ziel, die Gleichheit aller, zu erreichen. Darum wäre
es auch nach den Worten eines Sozialisten „nicht Versehen oder Zufall, sondern
ein notwendiger Bestandteil der sozialdemokratischen Auffassung", wenn sie
die parlamentarische Regierungsweise „nirgends auch nur als' vorläufigen
Fortschritt" in ihr Programm aufnehmen würde. Liegt doch deren Wesen
gerade in der Herrschaft der — parlamentarisch vertretenen — Gesellschaft
über den — bureaukratisch vertretenen — Staat, insbesondere jener sozialen
Klassen, die auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen
und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen
Ziel haben. So faßte sie das Erfurter Bekenntnis als Gegner der Arbeiterklasse
zusammen^ so unterscheiden sich auch heute die bürgerlichen Parteien als Vertreter
letzten Endes irgendwelcher kapitalistischen Interessen („Vorwärts" vom 25. Mai
1918) von den Sozialdemokraten im Sinne des Lutherwortes „Ihr habt einen
anderen Geist als wir". Aus taktischen Gründen wird man mit ihnen, soweit sie
für die Parlamentsgewalt eintreten, hier und dort im Lager der Sozialdemokratie
zusammengehen, um nur erst einmal an der Staatsgewalt irgendwie beteiligt zu
sein; auch diese dem Parlamentarismus gewogene Strömung denkt dabei wohl,
später die fremden Aktien abzustoßen und das Unternehmen ganz auf eigene
Rechnung zu führen. Die anderen aber-können sich nicht einmal dazu verstehen;
in dem zweifellos richtigen Gefühl, daß ja doch eigentlich gar nicht der büreau¬
kratische Staat der Gegner ist, sondern die kapitalistische Gesellschaft und jener
vielmehr als Herrschaftsinstrument ein Bundesgenosse gegen diese.
Der sozialistische Zukunftsstaat mit seiner autoritativ geleiteten Gütererzeugung
und Güterverteilung ist Fleisch vom Fleische jenes „Obrigkeitsstaates", dessen Zwangs-
gewalt die Manchesterleute des 19. und 20. Jahrhunderts entrüstet und dessen
politische Bevormundung sie als einen unwürdigen Zustand empfinden. Ja er über¬
trifft seinen Vorgänger selbst in der schroffsten Form des alten „Polizeistaats",
indem er zur allgemeinen Nivellierung der „Untertanen" durch das auf die Spitze
getriebene Prinzip der Gleichheit fortschreitet, während dieser die sozialen Unterschiede
geflissentlich konserviert hatte. So kann die Abneigung gegen den Obrigkeitsstaat,
die wir auch bei Sozialisten bemerken, wenn sie nicht eine der vielen Beeinflussungen
durch den Liberalismus darstellt, sozialistisch - konsequent nur aus dem Umstände
erklärt werden, daß „die Trauben zu hoch hängen", wobei die Erbitterung durch
die Beobachtung verstärkt wird, daß sich der bestgehaßte Feind in Gestalt der groß-
agrarischen und -industriellen „Ausbeuterklassen an ihnen gütlich tut. Die Ab¬
neigung würde in das Gegenteil umschlagen, sobald ein Besitzwechsel in der Macht
eingetreten wäre; denn auch die Sozialisten sind von der Phrase überzeugt, daß
es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe tun, worin sie der naive Glaube bestärkt,
für daS Wohl des deutschen „Volkes" schlechthin. — in Erfurt hieß es noch über-
schwänglicher: für das gesamte Menschengeschlecht — zu kämpfen.
Diese Seelenverwandtschaft mit dem Bureaukratisch-staatlich-Obrigkeitlicher—
nicht ohne Grund sind sich Bismarck und Lassalle nahe getretenI — offenbart sich
in den weiteren Partien des Aktionsprogramms ganz deutlich. Fast aus jedem
Absatz tönt der Ruf nach dem »ietter Staat aus den Nöten der Gesellschaft, sei eZ
bei der Übergangswirtschaft mit festzuhaltenden Höchstpreisen und LebenSmittel-
rationierung oder bei den Fragen des Exports und Imports, des Reedereibetrieb»»
der Sicherstellung des Arbeitsmarktes u.a.in.
Der zur Verfügung stehende Raum verbietet ein Eingehen auf die einzelnen
Teile des Programms. Am meisten sozialistischen Geist atmet der dem Kampf gegen
monopolistische Wirtschaftsgebilde gewidmete Abschnitt. Soweit die wirtschaftliche
Entwicklung — heißt es da — bereits bestimmte Privatmonopole geschaffen hat,
sind diese unter Bedingungen, die ihre gesamte Geschäftsführung der Kontrolle
parlamentarischer Ausschüsse unterstellen, den beschäftigten Arbeitern die ihnen durch
die Gewerbeordnung wie durch die soziale Gesetzgebung eingeräumten Rechte sichern
und ihnen einen angemessenen Einfluß auf die Arbeitsbedingungen gewähren, zu
verstaatlichen. Wo die Entwicklung noch nicht bis zum Monopol entartet ist, soll
doch wenigstens zur Beaufsichtigung der Kartklle im Reichswirtschaftsamt ein be¬
sonderes Kartellamt eingerichtet werden, das die Geschäftsbücher der syndikalistischen
Verbände kontrollieren und Preistreibereien entgegentreten kann. Es ist das also
gleichsam eine „Expropriation der Expropriateure" in zweiter Instanz. Die Privat¬
wirtschaft der vereinigten Einzelbetriebe, — wie sie durch die Kartellierungs-
bestrebungen hergestellt ist —, erlebt das Schicksal, das sie den von ihr „expropriierten"
Einzelunternehmer bereitet hat, nunmehr am eigenen Körper. Auf dem Gebiete
des Bankwesens begnügt man sich mit einer bloßen Erweiterung der Reichsanfsicht
und durch Ausbau der Reichsbank einem stärkeren Einfluß dieses staatlichen
Betriebes auf das private Bankgewerbe. Gerade von nichtsozialistischer Seite sind
da viel weitergehende Vorschläge gemacht worden, so daß sich eine bemerkenswerte
Mäßigung des Programms zeigt.
In der Handelspolitik waren weite Kreise der Sozialdemokratie vor dem
Kriege freihändlerisch orientiert. Auch der Kommissionsentwurf will „das bis¬
herige System der Absperrung des deutschen Jnlandmarktes durch hohe Lebens-
mittelzölle" aufgehoben wissen. Nun ist mit Recht gesagt worden, daß die
Alternative: Schutzzoll oder Freihandel eigentlich überhaupt keine Parteifrage,
sondern eine solche der Zweckmäßigkeit ist, überdies kann man es für ungewiß
halten, ob nach dem Kriege die alten Unterscheidungsformeln noch Geltung haben.
Die Urheber des Entwurfs reden nur von den Lebensmittelzöllen, man erkennt
also nicht, wieweit ihre freihändlerischen Sympathien gehen. In einer kritischen
Besprechung der „sozialistischen Monatshefte" bemerkt der Abgeordnete Cohen:
Ohne ein gut durchdachtes Zollsystem wird Deutschland nach dem Kriegs weniger
denn je auskommen können, und auch wir Sozialdemokraten werden uns dazu
verstehen müssen, für Zölle einzutreten, die unter weitgehender Differenzierung
allen Produktionsgebieten höchste Schassensinöglichkeit gewährleisten. Daß diese
Stimme nicht vereinzelt ist, zeigt das bekannte Buch des Genossen Lensch, Drei
Jahre Weltrevolution, w» der Schutzzoll als Revolutionär und Träger der fort-
geschrittenen Wirtschaftsform gefeiert wird.
Wie bei der Handelspolitik sa bestehen Unausgeglichenheiten und Gegen¬
sätze im sozialistischen Lager auch auf dem Gebiete der Sozialpolitik., wo die
Gewerkschaften ihre Sonderwünsche haben*). Überhaupt ist die Unzufriedenheit
mit dem Werke der Würzburger Parteiweisen groß. Von allen Seiten kommen
Vorwürfe, Ausstellungen, Ergänzungen. Namentlich der Mangel eines Agrar-
Programms wird allgemein schmerzlich empfunden, um so stärker, als es sich
hier schon um einen wunden Punkt des Sozialismus (vgl. das Schicksal der
Agrarkommission) handelt. So meint der Vorwärtsredakteur Stampfer, daß der
Fehler des Erfurter Programms, zu industrieproletarisch, städtisch gedacht zu sein,
im Aktionsprogramm in verstärktem Maße wiederkehre. In Kapitel IX (Kom-
munalpolitik) lese man die schöne Forderung: „Versorgung der Bevölkerung mit
gesunden und preiswerten Nahrungsmitteln", aber diese wüchsen nicht auf dem
Rathaus, sondern aus dem Acker, und die best« kommunale Lebensmittelpolitik
bliebe in der Luft hängen ohne Sicherung ihrer agrarischen Grundlage. Hier
«der sei das ceterum censeo: Enteignung des Großgrundbesitzes, der einer Ber»
ständigung zwischen Stadt und Land im Wege stehe. Man kann die Erregung
begreifen, ist doch der Kampf um die Seele des Bauern für den deutschen Sozia¬
lismus nicht minder bedeutsam als für den russischen.
Doch wir haben uns mit den Lücken des Entwurfs nicht weiter zu be¬
schäftigen — die Gegengründe des Genossen Kunow sind oben genannt —, sondern
nur noch unserer Übersicht ein allgemeines Schlußwort anzufügen.
Und da müssen wir sagen: trotz aller Mängel im einzelnen ist das Werk
der Kommission besser als sein junger Ruf. Grade die Empörung, die es von
den entgegengesetzten Seiten umtost, beweist, daß der Kurs mitten durch der
richtige ist. Die „Regierungssozialisten" haben allerdings durchaus nicht ihre
grundsätzliche Stellung gegen die kapitalistische Gesellschaft aufgegeben und auf
die Ersetzung der kapitalistischen Pruduktionsordnung durch die sozialistische ver¬
zichtet, wie ihnen von unabhängiger Seite mit deutlichster Tendenz vorgeworfen
wird, wohl aber vermeidet die neue Kundgebung die schädlichen Wirkungen
doktrinärer Verranntheit, indem sie gewissen traditionellen Utopien entschlossen den
Laufpaß gibt. Sie ist in der Tat. wie der „Vorwärts" schreibt, in ihrer Gesamtheit
ein Willensbekenntnis, auf den durch den Krieg geschaffenen Grundlagen praktisch
«eiterzuarbeiten, ... auf dem Boden der Wirklichkeit und Gegenwart. Das
sollte man auch im konservativen Lager anerkennen, und nicht, wie es zum Bei¬
spiel in der „Deutschen Tageszeitung" geschieht, das von gehässigen Phrasen frei¬
gehaltene Programm mit gehässigen Gegenphrasen (Herdenoasein, Verhaustierung,
sozialistische Engstirnigkeit) bekämpfen, was keinen anderen Erfolg hat als gereizte
an könnte sich tagelang damit beschäftigen, bemerkenswerte Zeit¬
erscheinungen auf den Kohinoor zu spießen, die Sammlung würde
so lang wie die Liste der Beschwerden über die Kriegsgesellschaften,
die stets in der teuersten Stadtgegend die teuersten Häuser mieten
und unglückliche Familien, die nichts verbrochen haben, als schön
wohnen, auf die Straße setzen, die stets feucht und schlecht gereinigt ist.
Bemerkenswert sind bekanntlich die neuen Steuern, auch der Zerstreuteste bemerkt
sie, denn sie sind so angelegt, daß sie auch dem anderweitig Beschäftigten auf¬
fallen. Die Weinsteüer ist besonders bemerkenswert, denn sie hat nicht nur die
Eigenschaft, den Ruck zu erzeugen, der uns gewöhnlichen Sterblichen den grünen
?louer endgültig aus.dem Bereich von Hand und Lippe rückt, sie besitzt auch die
Kraft, Jahrgänge zu verändern. Das Bemerkenswerteste ist aber das Formular
zur Anmeldung von Wein, das in diesen Tagen auf einige hunderttausend« von
Schreibtischen flatterte und das sich durch völlige Anonymität der aussendenden
und auf die vorschriftsmäßige Ausfüllung lauernden Amtsstelle auszeichnete.
Gedankenvoll saß ich davor, wünschte mir, daß ich in der Lage wäre, die zahl¬
reichen Rubriken restlos auszufüllen und versuchte, das Rätsel zu lösen, wem ich
das fertige Ergebnis meiner Kellerprüfung einzusenden habe. Ich weiß es nicht,
und ohne meine Schuld wird die diskrete Behörde nie erfahren, wieviel Flaschen
Nauentnler Auslese, Liebfraunmilch. Klostergarten, Bernkasteler Doktor ich verzeichnet
habe. Der anonyme Weinsteuerzettel ist das neueste Kuriosum einer Bureaukratie,
die über dem Zweck das Mittel vernachlässigt oder dem Steuerzahler eine
Schlauheit zugetraut hat, die er nicht besitzt. Will man die zeitgemäße Kriegs¬
mischung von heiterem Ärger über büreaukratische Einrichtungen, die am
Zweck vorbeifunktionieren, an einer anderen Zeiterscheinung genießen, so braucht
man nur an dem Hause in der Behrenstraße vorüberzugehen, an dem eine Anzahl
Marmortafeln hängt, auf denen in Goldschrift steht: „Z. E. G. Warenabteilung
Frische Fische, Schal- und Krustentiere", „Frisch-Herings-Einfuhr - G. in. b. H.",
„Aal-Einfuhr-G. in. b. H.", „Fischerei-Förderung-G. in. b. H.", „Kriegsgesellschaft
für Teichfisch.Verwertung", „Uberwachungsstelle für Seemuscheln". Wenn man
dann die Zahl dieser Fischbehörden mit der Zahl der Fische und Krustentiere ver¬
gleicht, die man im letzten halben Jahre zu sehen bekommen hat, hat man den Ärger,
den man in einem wohlregiertcn Lande für den Tagesbedarf braucht. Man kann
auch Erzbergcrs selbstgefällige Paragraphenordnung für den Kegelklub „Völkerbund"
lesen, die er schnell entworfen hat, um noch vor Weihnachten als Welterlöser in die
Geschichte zu kommen. Anregung bietet auch die künstlerisch-wirtschaftlich interessante
Tatsache, daß ein bekannter Komiker in einem Singkaffee der Friedrichstadt in vier
Wochen 20000 Mark verdient, daß dieser Tage in einem Zigarrengeschäft Unter
den Linden sich die alltägliche Szene abspielte, daß ein Tarameter-Chauffeur fünf
Zigarren ä eine Mark kaufte, eine anzündete und mit der ruhigen Miene des Mannes,
der das bekommen hat, was ihm zukommt, das Lokal verließ, und daß in der B. Z.
eine Wohnungseinrichtung für 380000 Mark zum Verkauf angezeigt ist, freilich
einschließlich Wäsche und Geschirr, ob auch mit Aschenbechern, weiß ich nicht. Erfreulich
ist und schön dagegen, daß jetzt auch die Damen Orden tragen, nicht nur die
Hote Kreuz-Auszeichnung, sondern auch das Band des Kriegshilfskreuzes, und neulich
sah ich eine elegante Dame, die auf ihrer Bluse eine richtige Ordensschnalle aus
mehreren Bändern trug. Hier bieten sich für die Friedenszeit ungeahnte Möglich¬
keiten, die jetzt schon zu studieren die Ordenskommission nicht umhin können wird.
Kann und soll man Mann und Frau zugleich dekorieren, um noch mehr Zerstörungen
des Eheglücks vorzubeugen, als die Zeit ohnedies mit sich bringt? Darf man der
Frau die dritte Klasse geben, wenn der Mann erst auf dem untersten Ast der vierten
sitzt? Darf die Frau den Orden ihres Mannes tragen und umgekehrt? Diesen
schwierigen Fragen gesellt sich noch die der Farbe der Bänder. Einer Dame steht
rot NUN einmal nicht, eine andere sieht mit blauer Verzierung scheußlich aus. Dazu
kommt, daß die Farben mit der Mode wechseln. Ich bin an schwierige Aufgaben
gewöhnt, freue mich aber, daß ich diese nicht zu lösen habe. Ich könnte keine Nacht
mehr schlafen. Stets würde mir im Traum eine händeringende Dame erscheinen,
mit einem Orden, der nicht zu ihrem Teint paßt. Da wir nun doch einmal bei
den ernsten Fragen sind: Hätten Sie für möglich gehalten, daß aus der himmel¬
hohen Leiter unserer Titel wirklich noch ein paar Stufen gefehlt haben? Die
Architekten Habens entdeckt, und die Wochenschrift de» Berliner Architektenvereins
verlangt, daß, noch ehe der Weltkrieg zu Ende ist, aus den freien Architekten
„Privatbauräte' und später, nach dem ersten Schlaganfall, „Geheime Privatbauräte"
werden können. Als ich das las, habe ich aufgeatmet, wie man ausatmet, wenn
das Butterpaket richtig angekommen ist. Die ganze Zeit her war mir's, als fehlte
irgendwo im deutschen Reiche etwas. ES war so leer, noch immer hießen zahllose
Menschen Herr Meier oder Herr Lehmann, noch immer hatte unser Leben etwa?
anarchisch Ungezwungenes dadurch, daß man in Gefahr war, bessergekleideten Herren
zu begegnen, die nicht Geheimräte sind. Jetzt habe ich die Beruhigung, daß der
Herr, der mir die Villa bauen wird, zu der mir nur noch das Geld fehlt, ein
Geheimrat sein wird. Aber — ist nun auch wirklich die letzte Lücke gefüllt? Man
besinne sich! Man lasse nicht noch mehr kostbare Zeit verstreichen! Man eile!
„Weh, daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind' ich nun"! rufe ich
mit Faust aus, der selbst nicht Geheimrat, aber doch von einem Geheimrat gedichtet
war, und spreche die furchtbare Vermutung, die an Gewißheit grenzende Vermutung
aus, daß hier noch manches zu tun ist. Man tue es, ehe es zu spät ist und Ver¬
zweiflung den Geist so manches tüchtigen, akademisch gebildeten Mitbürgers um»
machtet, der sich und seine Berufsgenossen noch immer ausgeschlossen sieht vom Kreise
der Räte und Geheimen Räte. Man verfalle nicht auf die banale Ausrede, jetzt
sei wichtigeres zu tun!
Nicht einmal eine Behörde kann entscheiden, was im Leben wichtig ist und
was nicht. Wie wäre das Leben tödlich eintönig, wie wäre es unmöglich, durch¬
zuhalten, wenn darüber Klarheit herrschte und nach dieser Klarheit gehandelt würde!
Wir gingen jetzt gewissermaßen auf den Zehen umher und sprächen nur im Pathos
der Erschütterung immer von der gleichen Sache, die doch nur Handeln erfordert.
Wir wären so vernünftig, daß wir nicht mehr versuchten, aus den täglich geringer
werdenden Vorräten von Genußmitteln unser winziges Anteilchen sündteuer zu
erraffen, um schweren Stunden Schwingen zu leihen. Niemand knöpfte ein Bändchen
ins Knopfloch und niemand neidete einem andern den Stern auf dem Frackaufschlag.
Es säßen nicht Abend für Abend Hunderttausende und Aberhunderttausende vor
der weißen Fläche und sähen einen eleganten Herrn in einem Arbeitszimmer, wie
es nicht einmal Generaldirektoren von Kriegslieferungsunternehmen bewohnen, mit
der Grazie des Meisterdetektivs das Rätsel der Fußspur im Sande des Wannsee-
ufers lösen. Es lauschten nicht die übrigen Hunderttausende dem in Dreivierteltakt
zerlegten süßen Blödsinn der neuesten Operette. Es füllten nicht andere Hundert¬
tausende die Kaffees, um Torte aus Eichenloheersatz zu essen und Kaffee aus schwarz¬
gefärbtem Waschwasser zu trinken, die Weinrestaurants, um den Einemarkfünfzig-
wein von vor vier Jahren mit fünfzehn Mark zu bezahlen und doch fröhlich zu
sein. Es lasen nicht Millionen gewissenhaft und gläubig die Zeitungen, geschrieben
von Leuten, die nicht mehr wissen und ebensowenig in die Zukunft sehen können,
als die Leser, sondern die nur den schönen Mut haben, zu tun, als ob sie wissend,
nein, allwissend wären. Wir täten das alles nicht und noch viel mehr nicht, wir
lebten äußerlich, wie es der Bundesrat und das Kriegsernährungsamt vorschreiben,
innerlich, wie es der Geist der Zeit gebietet und wären mangels der tröstenden
Torheiten und Eitelkeiten und mangels der Vorschriften übertretenden — sagen wir,
moralischen Abhärtung, nicht im entferntesten imstande, so prachtvoll durchzuhalten,
wie jetzt. Das ist die Wichtigkeit des Unwichtigen, der Sinn des Unsinns, der
Ernst der Torheit. Und das ist der Stoff zu hoffentlich noch mancher kleinen
Die Neutralifierung der Weichsel. In
einer Berliner Zuschrift des „Dziennik
Poznanski" (Ur. 206 vom 8. September 1918)
heißt es: „Es verlohnt sich zu vermerken,
was vor einigen Tagen der Aufmerksamkeit
der Polnischen Presse entgangen ist. Berliner
Blätter haben nämlich vor einigen Tagen an
versteckter Stelle und in kleinem Druck die
Notiz gebracht, daß sogar für den Fall der
deutsch-Polnischen Lösung unserer Sache von
der Neutralisierung der Weichsel und Danzigs
nicht die Rede sein könne. Zwar verbürgen
die Herren Aktivisten, daß man sich im deut¬
schen Hauptquartier mit der Neutralisierung
des Danziger Hafens und der Weichsel ein¬
verstanden erklärt habe — die maßgebenden
Berliner^Kreise scheinen jedoch davon nichts
zu Wissen. Dort weiß man nur von einer
Sache, davon nämlich, daß für Rußland
Häfen in Kurland und Estland nötig seien —,
die Polnischen Bedürfnisse nach einem Zugang
zum Meere werden hier nicht anerkannt.
Und das ist begreiflich. Der Durchschnitts¬
deutsche hegt heut überaus große Sympathien
sür die Bolschewisten, die Polen hingegen
"
Ein soziales Bureau der polnische«
ReichStagsfraltion („Kraj", Lissa in Pose«,
Ur. 201 vom 0. September 1913). .Di-
polnische Reichstagsfraktion hat ein soziale»
Bureau errichtet. Filialen dieses Bureau»
gibt es in Posen, Bochum und Kattowitz.
Das Bureau hat sich den Schutz der pol¬
nischen Arbeiter aus dem Königreich Pole»
und aus Galizien zur Aufgabe gemacht.
Dieser Schutz hat sich vor allem während
des Krieges als Notwendigkeit erwiesen, «kr
erstreckt sich sowohl auf die Kriegsarbeiter
aus Galizien, als auch vor allem auf
die zurückbehaltener (internierten) Arbeiter
aus dem Königreich Polen, die durch de«
Krieg in Deutschland überrascht wurden.
Die Zahl dieser Arbeiter beträgt ungefähr
700000. Ihre Lage bedarf in gar manche»
Fällen dringend einer Besserung. Ein be¬
sonderer Schutz muß ihnen schon desWege»
zuteil werden, weil sie der deutschen Sprache
nicht mächtig sind und sich deswegen selbst
weder vor ihren Arbeitgebern, noch vor de»
Behörden, noch auch vor den Gerichten »»»-
leidigen können/
sind ihm völlig gleichgültig.
Teufeleien und ihr Widerspiel. Achtung!
Spionengefahr I Hütet Euch vor den Agenten
der EntenteI Gefahren der feindlichen Pro¬
paganda. Wie mancher Deutsche liest's oder
hört's, denkt sich aber dabei im stillen: so
schlimm wird die Sache nicht sein; die Be¬
hörden müssen natürlich ein Auge drauf haben,
und da suchen sie denn lieber zu viel als zu
wenig an Vorbeugungsmaßregeln. Welch
folgenschwerer Irrtum l Die uns vom System
Northcliffe drohenden Gefahren lassen sich
schwerlich übertreiben. Es ist nicht hysterische
Spionenfurcht a Is, kran?aise, wenn man dem
gutmütigen deutschen Philister in die Ohren
schreit: „Wach auf! Sieh um Dich. Draußen
an der Siegfriedsront halten die tapferen
Söhne Deines Volkes die stählerne Mauer,
auf daß kein feindlicher Fuß den Boden der
Heimat betrete! Aber gegenüber den böse»
Geistern der Verleumdung und Lüge sind
ihre Waffen machtlos, die finden auf tausend
heimlichen, krummen Wegen Eingang, um im
Rücken der Kämpfer ihr unheilvolles Werk
zu treiben."
Mit Vorliebe sucht sich der Ententepropa-
gandabaztlluS am lebendigen Körper des
deutschen Volkes jene Stellen, wo kleine
Wunden oder Reibungen die Ansteckung be¬
günstigen, in der Hoffnung, von hier an?
den ganzen Organismus durchseuchen und
vergiften zu können. Vor kurzem berichteten
die Zeitungen über einen angeblichen Aufruf
„Preußenherzen hoch", der von Partikula-
ristischem Stammeshaß, Anpöbelungen »us
Verdächtigungen der autzerpreutzischen Bundes»
Staaten nur so strotzte und — wohlgemerkt —
in Bayern weiteste Verbreitung gefunden hat.
Unterschrieben ist das Machwerk von reprä¬
sentativen Namen »es „Bundes der Kaiser¬
treuen" und des PreutzenbundeS. Diese Ver¬
einigungen haben sich manche hitzige Ent¬
gleisungen geleistet — die böseste letzthin
gegenüber der Sozialdemokratie ^ trotzdem,
jene Giftmischerei konnte man ihnen schwer¬
lich zutrauen. Und in der Tat ist das Flug¬
blatt von dieser Seite sowie von bayerischen
und preußischen amtlichen Stellen bereits als
Fälschung entlarvt worden, für deren Ursprung
im feindlichen Propagandalager „bestimmte
Beweise" („Nordd. Allg. Ztg.") vorliegen.
Diesmal hätte es also Northclisse and
Company herzlich dumm angefangen, wenn
nicht doch der zugrunde liegende Gedanke
verwünscht gescheit wäre. Es hat keinen
Zweck, mit Tatsachen hinter dem Berge zu
halten, damit das Geramie nur immer stärker
werde. Wir wollen aussprechen was ist, da¬
mit wir uns selber in unseren Schwächen er¬
kennen und, wo wir können, siebesfern. Also:
der Partikularismus steht wieder mal in
geiler Blüte. Für seine historisch-politische
„Notwendigkeit" und guten Seiten sind mit
echt deutscher Objektivität genug Lanzen ge¬
brochen worden. Wir brauchen nun gewisz
keine öde Zentralisierung und Uniformierung.
Auch das ist richtig: die Gegensätze zwischen
Nord und Süd finden sich woanders ebenso
stark entwickelt wie bei uns. Wer in diesem
Kriege Gelegenheit hatte, in Tagebüchern
französischer Gefangener die Herzensergüsse
über die „mauäits merictionaux" zu lesen,
wird das bestätigen können. Endlich mag
die kurze Zeit des nationalen Zusammen¬
schlusses manches erklären. Aber schon hier
hapert es. Denn einmal muß doch auch eine
„Nation" aus den Kinderschuhen heraus.
Beim deutschen Michel aber scheint dieser
Prozeß unendlich langwierig, ja sogar mit
Rückfällen verbunden zu sein. Die bayerische
Briefmarke und die „Aschingerlitze" sind wirk¬
lich nicht bloß harmlose Sondervergnügen,
über die man beide Augen zudrücken kann,
sondern — in der gewaltigen Prüfung des
Weltkrieges zumal — Symbole für inner-
Politische Atavismen und Rückstände, die dem
Volkskörper auf die Dauer nicht mehr taugeq.
Ferne sei eS, nur den einen Teil zu bezich¬
tigen. ?een»tur extra et mer». Genug de»
Unerfreulichen hat man sich in jüngster Z«H
diesseits und jenseit» der „Mainlinie" g»>
leistet. Wir alle sollten uns drum zusammen¬
nehmen; Behörden und „Partikuliers", wen«
sie die Grenzpfähle ihrer engeren Heimat
hinter sich lassen, durch ihr Benehmen nicht
innere Grenzen aufrichten, die schroffer schei¬
den und trennen als die bunte Mannig¬
faltigkeit unserer Landkarte. Auch hier
heißt es: principiis obstal Wehre den un¬
scheinbaren Anfängen! Dadurch schlagen wir
am ehesten dem Feinde die Waffe der Ver¬
leumdung aus der Hand und ersticken die
blödsinnigen Gerüchte von überlaufenden
bayerischen Divisionen, Landesverrat der
„katholischen Höfe Dresden und München",
Zweikampf HindenburgS mit einem bayerischen
Offizier usw. in ihrer eigenen Lächerlichkeit.
Wenn wir dagegen selber Wind säen, in über¬
mütigen Vertrauen auf die Sicherheit unsere»
nationalen Verbandes uns den Luxus Parti«
kularistischer Zwietracht und Hechelei leisten,
werden wir — jene Beispiele zeigen es —
Sturm ernten, und dann hüte dich, Vater¬
land, daß dieser Sturm nicht dein Lebens¬
mark versehre. — Gedenke, daß du el«
Deutscher biset Dieses Wort des Großen
Kurfürsten hat heute noch mehr Bedeutung,
als ihm der mitleidig auf die Tage natio¬
naler Zerrissenheit und Demütigung zurück¬
blickende Epigone zuweisen möchte.
Der Preußenaufruf ist als Fälschung ent¬
hüllt; hat aber darum das System Northclisse
ganz versagt? Nein, denn leider arbeitete
ihm wie so oft — ohne zu wollen natürlich
eine gewisse Presse bei uns in die Hände.
Das „Berliner Tageblatt" (Ur. 487) druckt
das Flugblatt in extenso ab und schickt
folgende Worte vorauf: „Preußenherzen hoch.
Ein mysteriöses Flugblatt des PreußenbundeS.
Der „Preußenbund" hat an eine Reihe von
Personen folgenden Aufruf „vertraulich ver¬
sendet". Jeder Mensch muß nach diesem
apodiktischen Perfektum die weiteren Aus¬
führungen als eine verbürgt feststehende Tat¬
sache betrachten. Mit diesem Gefühl geht er
an die Lektüre und seine hierbei aus triftigsten
Gründen rege werdende Empörung richtet sich
gegen die vermeintlichen Urheber des Flug¬
blattes, die in seinen Augen damit erledigt
find. Manch einer wird die Zeitung ärgerlich
»us der Hand legen, bevor er die über eine
Tpalte lange Erklärung durchstudiert hat.
Er erführe dann überhaupt nichts van der
am Schlüsse folgenden redaktionellen Be¬
merkung: „Das Flugblatt ist, wie von halb¬
amtlicher Seite erklärt wird, nach den bis¬
herigen Feststellungen kein Elaborat alldeut¬
scher Kreise. Es sei vielmehr mit höchster
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß es sich
dabei um ein Fälschungsmanöver der Entente
handelt. Uns scheint, daß zunächst einmal
der .Preußenbund' selbst das Wort hat."
Was soll man nun zu diesem Verhalten der
Zeitung sagen? Liegt da noch „Gutgläubig¬
keit" vor, wenn man am Ende selbst demen¬
tiert, was man am Anfang behauptet? Oder
hat nicht vielmehr die Sucht, dem Politischen
Gegner einen Schlag zu versetzen, die Herren
von der Jerusalemer Straße zu einer argen
Unbedachtsamkeit verleitet, indem sie in
„270000" Köpfen — mit dieser Auflageziffer
macht das „B. T." Reklame — eine Vor¬
stellung erweckten, die das Gegenteil von
Wahrheit bedeutet I? Da sind die Kollegen
vom „Vorwärts" doch vorsichtigere Leute.
Sie legen zwar auch zunächst (2t. Sep¬
tember) die Fälschung dem „Preußenbunde"
und den Kaisertreuen zur Last und kenn¬
zeichnen deren Kundgebungen, die „sich der
Wiedergabe entziehen", als Ausfluß von Un¬
zurechnungsfähigkeit oder noch Schlimmerem,
aber da sie von den verschiedenen Dementis
schweigen, steht doch das Zeichen ihres besseren
Wissens nicht so drastisch daneben, wie beim
„Berliner Tageblatt". Im „Rückzugsgefecht"
sind sich die beiden Oppositionsorgane aller¬
dings wieder ebenbürtig. Als der „Vorwärts"
am folgenden Tage berichtigende Erklärungen
der mißbrauchten Vereinigungen erwähnt,
bemerkt er, um doch etwas zu sagen, sie kämen
„auffällig spät". Diese Leistung steht auf
gleicher Höhe der Beweiskraft, wie die oben
mitgeteilte Ausflucht des „B. T." erst habe
noch der „Preußenbund" das Wort, ein Argu¬
ment, das gerade bis zur nächsten Nummer
(488) langt, wo dieses „Wort" nolens. volens
auch den Tageblattlesern mitgeteilt werden
muß. Die Art, wie das geschieht, läßt
übrigens — ebensoviel zu wünschen übrig,
wie das Verhalten des Blattes am Abend
vorher. Anstatt nun auch seinerseits eine be¬
richtigende Erklärung abzugeben, die um so
nötiger war, je entschiedener man zuvor Be¬
hauptungen aufgestellt und den „Preußen¬
bund" im Tone des Richters an die Schranken
gerufen hatte, wird das Dementi des Bundes
der Kaisertreuen mit der farblosen Bemerkung:
„Uns geht folgende Zuschrift zu" abgedruckt,
als ob die Redaktion mit der ganzen Ange¬
legenheit nie etwas zu tun gehabt hätte.
Eine Selbstberichtigung sucht man auch ver¬
gebens in Ur. 493 und 498, wo weitere De¬
mentis mitgeteilt werden.
Wir fragen noch einmal, wie soll man
diese Art Behandlung der öffentlichen Meinung
nennen? Woanders aber freut man sich, die
Wunde Stelle am deutschen Volkskörper mit
einer Teufelei getroffen zu haben!
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
„Emßche für VflichiezMAng
bis zum Aeußersten!" Das hat einst ein deutscher Offizier dem
Kaiser aus dem fernen Kiautschou gedrahtet, als schon der Todan die Tore seiner Festung pochte.
Auch vor der Festung Deutschland steht der Tod. Acht Mal
schon ist der Ausfall geglückt, der grinsende Schnitter zurück¬
getrieben. Letzt wird zum neunten Male Sturm geblasen. Bis
in die letzten Ecken und Winkel des Reichs dringt der Ruf zur
neuen Offensive des Geldes, zum neuen Wettkampf der silbernenKugeln, wie eitler Feindesdünkel sich einst ausgedrückt hat.
Spannung hält die Welt gefangen. Wird die Geschichte einst
den Onkeln wieder erzählen: ,^ . . . und alle, alle kamen! ?"
Sie dürfen nichts anderes hören und werden nichts andereshören, unsere Enkel, wenn jeder für uns einsteht für
Pflichterfüllung bis zum Aeußersten.
Darum zeichne!
er Fragen sind so viele, die auf uns einstürmen und alles ist so
umnebelt vom Staub der widersinnigsten Gerüchte, daß es fast un¬
möglich scheint, sich ein Bild von dem, was geschehen ist, was ge¬
schieht und was weiterhin geschehen soll, kann oder wird, zu machen,
geschweige denn anderen ein Bild davon zu geben. Am leichtesten
scheint es noch, .sich zu vergegenwärtigen, wie alles gekommen ist. Aber mögen wir
mit dem Sturze Bethmanns oder Bismarcks, mit der preußischen Wahlrechtsfrage
oder mit unserer Diplomatennot, mit Verdun oder dem Frieden von Bukarest be-
ginnen, wir kommen schließlich doch nur zu den nämlichen Staubwolken, hinter
denen wir ebenso gut Schutt wie festes Gemäuer vermuten können. Wenn man
gewissen Berliner Stimmen glauben wollte, müßten wir uns auf einen Trümmer-
Haufen gefaßt machen. Ein historischer Rückblick hat aber auch seine Schwächen:
er könnte nur subjektiv sein und würde darum die Fehler anderer den eigenen gegen¬
über mehr in den Vordergrund schieben, wie es historische Gerechtigkeit vertrüge.
Das Bild könnte nur einseitig und bis zu gewissen Grenzen schief sein, da wir
als handelnde Personen an den Dingen mehr oder weniger mitwirkten, die wir
jetzt in dieser Stunde tiefster Umwälzung und Umwertung aller politischen Werte
kritisieren sollen. Ich schreibe dies nicht, um mich für meine späteren mageren
Ausführungen von vornherein zu entschuldigen, sondern aus dem in diesen Stunden
besonders tief empfundenen Verantwortungsgefühl meinen Lesern gegenüber, die
mir durch zehn Jahre treu gefolgt sind und die besonders im laufenden Jahre
meinen politischen Aufsätzen so große Beachtung geschenkt haben. Wir stehen vor
einer Umorientierung I Neue Leitsätze für die politische Stellungnahme sind zu
suchen. Wir sind über Nacht allesamt vor eine völlig neue Lage gestellt, in die
sich hineinzufinden um so schwerer fällt, je besorgter das Neue uns macht. Die
staatspolitische Basis, von der aus dem Weltgeschehen bisher gefolgt wurde, ist
uns unter den Füßen fortgezogen. Es ist uns, als durchlebten wir einen wüsten
Traum! Töne, Worte, Anschauungen werden uns frech zu Gehör gebracht, die
sich gestern noch nur heimlich imFlüstertone an dieOffentlichkeit wagten, da ihre Träger
fürchteten, als Landesverräter gebrandmarkt zu werden. Die idealen Worte Friede
und Völkerbund scheinen eine ähnliche Wirkung ausüben zu sollen, wie vor hundert¬
dreißig Jahren die nicht minder edel gedachten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.. .1
Aus solchen Stunden der Verwirrung gibt es aber doch einen Ausweg,
eine Möglichkeit, sich zurecht zu finden: die rücksichtsloseste Sachlichkeit
gegenüber den Tatsachen, die man zu meistern im Augenblick nicht imstande
ist. Nichts ist gefährlicher in solchen Stunden, wie das Aufwerfen der Schuld¬
frage, das Suchen nach Sündenböcken, das selbstgefällige „ich habe es ja längst
kommen sehen I" Wer einmal auf diesen Weg geraten ist, verfällt unweigerlich
der Zersplitterung und wird nie zu einem Entschluß kommen, der zu neuen Zielen
weisen könnte. Er würde das Opfer aller der Flickschuster werden, die seit Jahr
und Tag die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Nation mit kleinen
Mitteln glaubten beeinflussen zu können.
Retten wir uns aus die erste beste Planke, die in dem Meer von Ver¬
wirrung um uns treibt, auf die nächste Tatsache, vor die wir gestellt sind: die
erste Rede, die programmatische, die der achte Kanzler des Deutschen Reiches der
Volksvertretung hielt. Zweierlei springt vor allem in die Augen: die scheinbar
völlige Unterwerfung unseres Stuatswillens unter den Willen der Feinde, die
uns mit Krieg überzogen und, die Preisgabe der monarchischen Staatsform an
die Demokratie. Das Zusammentreffen der beiden Tatsachen ist kein Zufall.
Die dritte Tatsache, die von verschiedenen Seiten in den Vordergrund ge¬
schoben wird, daß mit dem Prinzen Max von Baden ein Jdeologe voll heiligsten
Eifers, voll Hingabe an das Schicksal der Menschheit, aber nicht eigentlich ein
erprobter Staatsmann getreten sei, muß aus den angeführten Gründen zunächst
gleichfalls zurücktreten; sie wird in einem anderen Rahmen zu behandeln sein.
Und warum soll nicht schließlich ein Jdeologe ein tüchtiger Staatsmann werden,
nachdem uns alle die sachverständigen Realpolitiker so vollständig in den Dreck
gefahren haben?
Im Vordergrunde steht der Versuch der neuen Regierung, einen „ehrlichen,
dauernden Frieden für die gesamte Menschheit" zu finden, der nach des prinzlichen
Reichskanzlers Glaube „auch der festeste Schutzwall für die künftige Wohlfahrt
unseres eigenen Vaterlandes wäre". DaS ist durch die Form wie es geschehen
die praktische Anerkennung des demokratischen Programmes für die Handhabung
der auswärtigen Politik. Wer aber ein Ziel als erstrebenswert anerkennt und es
auch erreichen will, darf nicht davor zurückschrecken, auch die Mittel anzuwenden,
die zur Erreichung des Zieles notwendig sind. Daraus folgte für die Kaiserliche
Regierung die Notwendigkeit der Demokratisierung bis zu dem Maße, daß sich
die Kräfte in ihr vereinigen konnten, das neue Programm durchzuführen.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß so grundstürzcnde Entschlüsse, wie die Angst
gefaßten, auf die den Ereignissen fernerstehenden Kreise den Eindruck nicht nur
einer einfachen Kapitulation, sondern den völligen Zusammenbruchs Und heilloser
Verwirrung machen. Indessen sollte schon die Tatsache der Schnelligkeit und
Sicherheit, mit der die Wandlung vollzogen wurde, die kühleren Köpfe auch im
großen Publikum auf die Vermutung lenken, daß hier nicht eigentlich eine un¬
eingeschränkte, vom Zufall herbeigeführte Katastrophe erfolgte, sondern daß einer
unter der Bestrahlung durch die militärpolitische. Lage zu schneller Reife ge¬
langten Entwicklung planmäßig Rechnung getragen wurde. Wir finden in der
Kanzlerrede vom ö. Oktober einen Anhalt für die Auffassung, ohne daß sie be¬
sonders zum Ausdruck gebracht worden wäre. Der Herr Reichskanzler hat aus¬
geführt, die deutsche Regierung werde bei den Friedensverhandlungen dahin wirken,
„daß in die Verträge Vorschriften über Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung
aufgenommen werden, welche die vertragschließenden Regierungen verpflichten, in
ihren Ländern binnen einer gemessenen Frist ein Mindestmaß gleichartiger oder
doch gleichwertiger Einrichtungen zur Sicherung von Leben und Gesundheit sowie
zur Versorgung der Arbeiter bei Krankheit, Unfall und Invalidität zu treffen."
Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen!
wird mir zugerufen. Dieser Programmpunkt wäre vielleicht durchzuführen, wenn
die Jnternationalität der Gewerkschaften gesichert und die Arbeiterparteien aller
Länder die Regierungsgewalt so in die Hand bekämen, wie es in Deutschland
durch den Kaiserlichen Erlaß vom 30. September 1918 geschehen istl Durchaus
richtig. Die Voraussetzung für den ganzen Schritt ist der Glaube an den Sieg jener
Demokratie, die auf deutschen Universitäten und in den deutschen Gewerkschaften
entwickelt worden ist, und die in einer sozialen Fürsorge für die Massen des
Volkes gipfelt und nicht in jener Kryptodemokratie des großen Kapitals, wie sie
sich im angelsächsischen Imperialismus widerspiegelt. Im Rahmen der politischen
Ereignisse betrachtet ist das neue Friedensangebot eine Anknüpfung an den
Versuch des internationalen Gewerkschaftsbureaus im Haag aus dem Frühjahr 1917,
das den Frieden mit Hilfe einer internationalen Sozialistenkonferenz in Stockholm
zustande zu bringen hoffte, der bekanntlich an dem Widerstande Brantings
und der europäischen Ententeregierungen scheiterte. Wir haben damals den Ver¬
such gut geheißen, weil wir aus der Haltung unserer Mehrheitssozialisten während
des Krieges den sicheren Eindruck gewonnen hatten, daß sie auch nicht ein kleinstes
Teilchen der Rechte des deutschen Arbeiters an das Ausland verschachern würden,
was wiederum die Gewähr dafür bot, daß sie auch die Interessen des deutschen
Gesamtstaates, der wie kein anderer für die breiten Schichten des Volkes gesorgt
hat, aus den Augen verlieren würden. Wie persönlicher Augenschein in
Stockholm im Herbst 1917 uns lehrte, haben wir uns nicht getäuscht. Die Ver¬
treter der deutschen Arbeiterschaft haben in Stockholm im Rahmen ihrer inter¬
nationalen Ideale deutsche Politik getrieben! Aus diesem Zusammenhange
wird dann auch die Haltung der Krone und der kühne Entschluß des Kaisers
verständlich, die Führer der deutschen Arbeiterschaft zu den wirklichen Trägern der
Reichsregierung und so auch zu Sachwaltern des Interesses der Gesamtnation zu
machen. Denn darüber wollen wir uns keinen Illusionen hingeben: nicht die
Herren Payer oder Erzberger oder die Berliner Freisinnigen, nicht der badische
Thronfolger oder Herr Dr. Sols sind die Leiter der Regierung, sondern die Führer
der organisierten Arbeiterschaft, die Herren Scheidemann und Giesbert sind es.
Die Krone hat mit ihrem Schritt ein ungeheures Opfer gebracht, aber auch dem
Wort vom sozialen Kaisertum einen neuen, tieferen Klang verliehen. Der Kaiser
hat sich im Augenblick höchster Not als ein echter erster Diener seines Staates
erwiesen, indem er für sich und sein Haus so viel wagte.
Betrachten wir die Schritte der Negierung aus diesem Gesichtspunkt, so
bedeuten sie einen innerpolitischen Vorgang, und dem wir uns innerpolitisch mit
den gegebenen politischen Mitteln auseinandersetzen könnten, wenn sie nicht unter
dem Druck einer äußeren Notlage geschehen wären, die unsere innere Ent¬
wicklung auf das tiefste beeinflußt. Der Feind pocht an die Tore der Heimat I
Zwar hält die Armee in bewunderungswürdiger Ausdauer; aber an der inneren
Front machen sich Zeichen der Zersetzung bemerkbar, die fast schwerer wiegen als
die verlorene Schlacht. Darum hat „die deutsche Regierung den Präsidenten
der Vereinigten Staaten von Amerika in der Nacht zum 6. Oktober ersucht,
die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen, alle kriegführenden Staaten
von diesem Ersuchen in Kenntnis zu setzen und sie zur Entsendung von Bevoll¬
mächtigten zwecks Aufnahme der Verhandlungen einzuladen. Sie nimmt das von
dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßbotschaft
vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen, namentlich der Rede
vom 27. September aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedens¬
verhandlungen an. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche
Regierung ferner, den sofortigen Abschluß eines allgemeinen Waffenstillstandes zu
Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen."
Um die ganze Tragweite dieses Schrittes, durch den wir unser Schicksal
vertrauensvoll in die Hand Wilsons zu geben scheinen, recht zu verstehen, müssen
wir uns vergegenwärtigen, was Wilsons Programm ist.
In der Botschaft an den Kongreß vom 8. Januar hat Wilson die viel¬
genannten vierzehn Punkte aufgestellt. Die betreffende Stelle seiner Rede lautet:
Der erste Punkt ist, daß alle Friedensverträge öffentlich sind und öffentlich zustande
gekommen sind, und daß danach keine geheimen internationalen Vereinbarungen irgend
welcher Art mehr getroffen werden dürfen, sondern die Diplomatie immer offen und vor
aller Welt getrieben werden soll.
Der zweite Punkt ist vollkommene Freiheit der Schiffahrt auf dem Meere, außer¬
halb der territorialen Gewässer im Frieden sowohl wie im Kriege, mit Ausnahme jener
Meere, die ganz oder teilweise durch eine internationale Handlung zwecks Durchsetzung
internationaler Verträge geschlossen werden.
Der dritte Punkt ist die Beseitigung, soweit sie möglich ist, aller wirtschaftlichen
Schranken und die Errichtung der Gleichheit der Handelsbeziehungen unter allen Nationen,
die sich dem Frieden anschließen und sich zu seiner Aufrechterhaltung vereinigen.
Die vierte Bedingung ist, daß entsprechende Garantien gegeben und angenommen
werden, daß die Rüstungen der Völker auf das niedrigste, mit der inneren Sicherheit
vereinbarende Maß herabgesetzt werden.
Punkt fünf: Es sollte eine freie, weitherzige und unbedingt unparteiische Schlichtung
aller kolonialen Ansprüche herbeigeführt werden, die auf einer strikten Beobachtung des
Grundsatzes fußt, daß bei der Entscheidung aller solcher Souveränitätsfragen die Interessen
der betroffenen Bevölkerung ein ebensolches Gewicht haben müssen, wie die berechtigten
Ansprüche der Negierung, deren Rechtstitel bestimmt werden sollen.
Punkt sechs: Wir müßten ferner die Räumung des ganzen russischen Gebietes
sowie ein Einvernehmen in allen Fragen, die es betreffen, verlangen, zwecks freier Mit¬
wirkung der anderen Nationen der Welt, um Nußland eine unbeeinträchtigte und un¬
behinderte Gelegenheit zur unabhängigen Bestimmung seiner Politischen Entwicklung und
nationalen Politik erringen zu helfen, um es in der Gesellschaft freier Nationen unter
selbstgewählten Staatseinrichtungen willkommen heißen zu können; darüber hinaus würden
.wir Rußland Unterstützung jeder Art, die es nötig hätte und wünschen würde, gewähren.
Punkt sieben: Belgien muß, worin die ganze Welt übereinstimmt, geräumt und
wieder aufgerichtet werden, ohne jeden Versuch, seine Souveränität, deren es sich in gleicher
Weise wie alle anderen freien Nationen erfreuen soll, zu beschränken.
Punkt acht: Das ganze französische Territorium müßte befreit und die besetzten
Teile wieder hergestellt werden, sowie das Unrecht, daß Frankreich durch Preußen im
Jahre 1871 hinsichtlich Elsaß-Lothringens zugefügt wurde und das den Weltfrieden während
nahezu fünfzig Jahren in Frage gestellt hat, sollte wieder gutgemacht werden, damit der
Frieden im Interesse aller wieder sichergestellt werden kann.
Punkt neun: Es müßte eine Berichtigung der italienischen Grenzen nach dem klar
erkennbaren nationalen Besitzstande durchgeführt werden.
Punkt zehn: Den Völkern von Österreich-Ungarn, deren Platz unter den anderen
Nationen wir sichergestellt zu sehen wünschen, müßte die erste Gelegenheit einer autonomen
Entwicklung gegeben werden.
Punkt elf: Rumänien, Serbien und Montenegro müßten geräumt und die besetzten
Gebiete zurückerstattet werden; Serbien müßte einen freien und sicheren Zugang zur See
erhalten und die Beziehungen der Balkanstaaten 'zueinander müßten durch freundschaftlichen
Verkehr gemäß den historisch feststehenden Grundlinien von Zusammengehörigkeit und Natio¬
nalität bestimmt sein; auch müßten internationale Garantien der Politischen und wirtschaftlichen
Unabhängigkeit sowie der Unverletzlichkeit des Landbesitzes der Balkanstaaten gegeben werden.
Punkt zwölf: Den türkischen Teilen des gegenwärtigen osmanischen Kaiserreiches
müßte unbedingte Selbständigkeit sichergestellt werden. Aber die anderen Nationalitäten,
die jetzt unter türkischer Herrschaft stehen, wollen eine unzweifelhafte Sicherheit für ihre
Lebensbedingungen und eine vollkommen unbeeinträchtigte Gelegenheit zu autonomer Ent¬
wicklung erhalten. Die Dardanellen sollten dauernd als freie Durchfahrt unter inter¬
nationalen Garantien den Handelsschiffen aller Nationen geöffnet werden.
Punkt dreizehn: Ein unabhängiger Polnischer Staat, der alle Länder umfaßt, die
von einer unzweifelhaft Polnischen Bevölkerung bewohnt sind, der einen gesicherten freien
und zuverlässigen Zugang zur See besitzt und dessen Politische und wirtschaftliche Unab¬
hängigkeit sowie territoriale Unverletzlichkeit durch internationalen Vertrag garantiert sein
müßten, sollte errichtet werden.
Punkt vierzehn: Es muß eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit be¬
stimmten Vertragsbedingungen gebildet werden zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistung
für die Politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen sowie der kleinen Nationen.
Die nächste wichtige Kundgebung Wilsons ist jene Rede, die er zur Feier des
4. Juli am Grabe Washingtons gehalten hat. Sie gipfelt in der Aufstellung von
vier Punkten, die, wie Wilson sagte, verwirklicht werden müßten, ehe
Friede werden kann. Die vier Punkte lauten:
Schließlich kommt die Rede in Betracht, die Herr Wilson am 27. September
gehalten hat, um für die jüngste amerikanische Kriegsanleihe zu wirken. Aus ihr
heben wir die folgenden fünf Punkte hervor.
Es wird zugegeben, daß die vierzehn Punkte Wilsons, vom allgemein
menschlichen Standpunkte aus gesehen, mancherlei Verlockendes enthalten. Es ist
vieles in ihnen, worum Generationen ringen und wofür manch edler Mensch sich
geopfert hat. Aber alle leiden an dem Fehler, daß Deutschland und das Deutschtum
sich bereit erklären sollen, sich im ganzen für ihre Durchsetzung zu opfern. Wir
sollen nicht nur die besetzten Gebiete räumen — dieser Forderung steht in der
Tat nach Abschluß des Friedens nur die Wahl des Zeitpunktes entgegen —, wir
sollen Elsaß-Lothringen, Posen, Westpreußen und andere Gebiete aus dem Reichs-
verbände entlassen, während Österreich auf die von Italienern und Polen bewohnten
Gebiete verzichten und sich womöglich ganz in seine nationalen Bestandteile auf¬
lösen soll. Durch den Ersatz der Kriegsschäden an Belgien und Frankreich, die
von französischer Seite auf etwa dreißig Milliarden geschätzt werden, sollen
wir gezwungen werden, der Welt gegenüber das Odium der Schuld am Aus¬
bruch des Krieges zu übernehmen. Das ist der springende Punkt I Die
Gegenleistungen wie: Freiheit der Schiffahrt, Gleichheit der Handelsbeziehungen,
Herabsetzung der Rüstungen, gegenseitige Garantieleistung der Unabhängigkeit
hätten neben dem Verdikt jede Bedeutung für uns verloren. Denn wir allein
wären als angebliche Kriegsanstifter ohne weiteres von jeder dieser Freiheiten
ausgeschlossen, wenn wir sie uns nicht selbst durch die Kraft unserer Einigkeit
und Tüchtigkeit zu erringen vermögen. Im übrigen: wie will ein Völkerbund
anders als durch Waffengewalt z. B. England zwingen, die eroberten Gebiete,
Ägypten, Arabien, Mesopotamien, Palästina und viele andere mehr zu räumen?
Wie soll Japan gezwungen werden abzurüsten und sich militärisch aus China,
Korea, aus den holländischen Kolonien zurückzuziehen? Ist Herrn Wilsons Pro¬
gramm ehrlich gemeint als eine Wohltat an der Menschheit, so müßte unser Friedens¬
angebot zu einem Bündnis mit Amerika führen und zu neuen Kriegen gegen die
ganze übrige Welt, vielleicht mit Ausnahme der Slawen, um den Wilsonschen
Idealen die Durchsetzung zu erzwingen. Das sozialisierte Deutschtum mit dem
Slawentum, mit Maximalisten, Tschechen, Slowaken, Polen Arm im Arm gegen
die angelsächsische Kapitalallmacht zur Revolution vereinigt! Es gäbe noch mehr
Kombinationen! Doch vor thuen allen liegt die Auflösung Europas in Anarchie
und Vernichtung der Arbeitsgrundlagen für das deutsche Volk. Die Annahme des
Friedens, wie Wilson ihn uns auferlegen will, würde wegen Kapitalmangels die
Einstellung zahlreicher Industriebetriebe zur Folge haben, erhebliche Vermehrung
der Auswanderung, Niedergang der Landwirtschaft und in deren Folge die
Slawisierung Norddeutschlands.
Damit find wir wieder mitten in den innerpolitischen Konsequenzen der
Wandlung angelangt. Sie sind ungeheuer ernst und tief und werden in alle
Verhältnisse unseres staatlichen, gesellschaftlichen und nationalen Lebens eingreifen.
Wir verkennen durchaus nicht, was für den in alten monarchischen Anschauungen
aufgewachsenen Teil des deutschen Volkes die Worte des Reichskanzlers bedeuten,
„daß im Frieden eine Negierung nicht wieder gebildet werden kann, die sich nicht
stützt auf den Reichstag und die nicht aus ihm führende Männer entnimmt."
Aber diese Konsequenzen, brauchen nicht vernichtend zu sein, solange wir uns nicht
selbst preisgeben. Die Demokratisierung und Parlamentarisiernng bedeutet doch
schließlich auch nur eine Veränderung des politischen Kampfseldes, nicht seine
Preisgabe! Wir wollen darum zunächst einmal alle Bedenken in die zweite Reihe
schieben, wie der Kaiser dynastische Interessen restlos hinter die des Staatswohles
setzte, und uns ohne Hintergedanken auf den Boden der Wirklichkeit stellen: diese
Wirklichkeit heißt Parlamentsherrschaft, Volksherrschaft! Und zum
Volke gehören auch wir. Wir verlieren darum unsere Bedenken nicht aus den
Augen und werden uns um sie kümmern, sobald die größere Gefahr, die änßere,
beseitigt ist. Der Feind pocht mit mächtigen Schlägen an die Pforten der HeimatI
Daher ist unsere Sorge in erster Linie darauf gerichtet, zu erforschen, was wir
von der neuen Negierung für die Verteidigung unseres Landes zu erwarten haben.
Der Herr Reichskanzler hat seine Mitarbeiter nach einem ganz bestimmten
Gesichtspunkte ausgewählt; so zwar, daß er sagen konnte, die GrUndzüge seines
Programmes könnten den Vergleich mit allen fremden Regierungsgrundsätzen
aushalten. Die Rücksicht auf das Ausland, insbesondere auf die Auffassungen
Wilsons über die Beziehungen von Volk zu Volk und Individuum zum Staat,
ist der alleinige Gesichtspunkt bei der Wahl der Mitarbeiter gewesen, mit dem
Ziel alle Hindernisse fortzuräumen, die das Friedenswerk aufhalten könnten. Aus
diesem Grunde allein mußte der sehr tüchtige Herr von Hintze Herrn Dr. Sols
weichen, dessen Fähigkeit Menschen zu behandeln wir in seiner Eigenschaft als
Kolonialstaatssekretär allerdings bewundern konnten. „Ich warderllberzeugung, sagte
Prinz Max, daß die Einheitlichkeit der Reichsleitung nicht nur gewährleistet werden
sollte durch die bloß schematische Parteizugehörigkeit der einzelnen Regierungs¬
mitglieder, sondern ich hielt fast für noch wichtiger die Einheitlichkeit der Ne¬
nnung. Von diesem Gesichtspunkt bin ich ausgegangen auch bei der Wahl meiner
Mitarbeiter, die nicht dem Parlament angehören. Ich habe das größte Gewicht
darauf gelegt, daß die Mitglieder der neuen Reichsleitung auf dem Standpunkt
des Rechtsfriedens stehen, unabhängig von der Kriegslage, daß sie sich zu diesem
Standpunkt auch öffentlich bekannt haben in einem Zeitpunkt, da wir auf dem
Höhepunkt unserer militärischen Erfolge standen."
Wir haben also bis zu einem gewissen Grade eine pazifistische Regierung.
Daraus erklärt sich eine Unterlassung, die dem Friedensangebot recht verhängnis¬
voll werden kann- Als Wilson am 27. September seine Friedensziele anläßlich
einer Propagandarede für die nächste amerikanische Kriegsanleihe darlegte, rief er
die Nation zum Kampf auf ohne Einschränkung. Prinz Max von Baden hat nur
davon gesprochen, daß wir entschlossen sind, „für unsere Ehre und Freiheit und
für das Glück unserer Nachkommen auch noch schwerere Opfer zu bringen, wenn
das unabänderlich ist". Die neue Regierung nutz ihrer Sache, daß ihr Friedens¬
angebot angenommen wird, sehr sicher sein. Andernfalls war es ihre Pflicht,
gerade in diesem Augenblick dahin zu wirken, daß in der Heimat für alle Fälle
sofort eine Reservearmee unter die Waffen trat. Der waffenfähigen Männer
älterer Jahrgänge, Offiziere und Mannschaften, gibt es noch genug in der Heimat,
und ebenso sind genügend Vorräte in der Heimat aufgestapelt, um sie erstklassig aus¬
gerüstet gegen den Feind ziehen zu lassen. Wir sehen in der Unterlassung eine bedeut-,
liebe Unierschätzung des Machtfaktors bei der Herstellung neuer Rechtsgrundlagen in
den Beziehungen der Völker und sind um so besorgter, als gerade in liberalen Kreisen
des Parlaments trotz der hohen Verantwortung für das Heil der Nation, die seit dem
S.Oktober auf ihren Schultern liegt, fortgefahren wird, antimilitaristische Propaganda
zu treiben. Wohin diese Methoden führen, mögen die Herren an ihren russischen Ge-
.sinnungsgenossen erkennen. Es liegt nicht nur im Interesse des Deutschen Kaisers
und der.Konservativen, die Armee intakt und das Vertrauen in die erprobten
Heerführer aufrecht zu erhalten, sondern ebenso im Interesse jedes einzelnen >
Deutschen, ohne Rücksicht auf Herkunft und Gewerbe. Der „Vorwärts" und die
deutsche Sozialdemokratie haben, scheint es, ihre Aufgaben mit Bezug auf die
Landesverteidigung tiefer aufgefaßt, als die Berliner Weltbürger des Liberalismus.
In diesen: Lager sieht man offenen Auges, daß mit dem Friedensangebot das
Ende des Krieges noch nicht gewährleistet ist. „Hat die demokratische Friedens¬
politik Wilsons im deutschen Volke keine Gegner mehr, lesen wir in Ur. 275 des
„Vorwärts" vom 6. d. M. . . ., so darf die Gegnerschaft, die sie im Entente¬
lager selbst hat, in dieser kritischen Stunde nicht übersehen werden. Der Wider¬
stand, den unsere Armee im Felde leistet, gilt in keiner Weise mehr der Welt-
demokratic^ er gilt nur noch ihren Gegnern, den Imperialisten des Auslandes,
und solange diese noch nach der Zerschmetterung des deutschen Volkes schreien,
darf er nicht erlahmen."
Die Vorgänge der letzten vierzehn Tage haben uus alle tief erschüttert. Wir
sind von dem Parnaß weitschweifender Hoffnungen auf einen siegreichen Frieden
abgestürzt, und viele unserer Besten sind ans den Beobachtungen in Berlin heraus
eher gestimmt an Zusammenbruch und Untergang zu glauben, als sich neuen Hoff¬
nungen hinzugeben. Die Hauptquelle dieses Niederbruches der Stimmung liegt,
soviel ich sehe und höre, nicht in den innerpolitischen Möglichkeiten, auch nicht in
der Furcht, daß die Armee nicht standhalten könnte, sondern in dem Bewußtsein
der Ohnmacht Wilson gegenüber, in die uns das Friedensangebot versetzt hat.
Wissen wir doch nicht einmal, ob Wilson, selbst wenn er das beste Wollen hätte,
auch die Macht besitzt, den Frieden herbeizuführen. Diese Bangigkeit wird von
Leuten, die Privatinteressen verfolgen, benutzt, um die Bevölkerung einzuschüchtern
und für einen weitgehenden Radikalismus zu gewinnen. Dadurch wird die Lage
besouders ernst. Die Reihe der sich aus den Verhältnissen ergebenden Hiobs¬
botschaften ist, wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, sicher noch nicht abgeschlossen.
Rumänien rüstet zum Angriff auf Ungarn. Alle Konsequenzen des Abzuges
unserer Truppen aus Rußland sind noch nicht bekannt. Polen und Tschechen
ebenso wie die Südslawen sind sicher bereit, uns in den Rücken zu fallen.
Dennoch! Arbeiten, jeder an seiner Stelle und bereit sein, wenn ihn ein neuer
Tag zu neuen Taten für die Zukunft des deutschen Volkes inmitten des allgemeinen
Kosmopolitentums aufruft. So vermeiden wir den Zusammenbruch der Nation, —
was bisher geschah, war ein Abbruch alten Mauerwerkes, ein Zusammenbruch
meinetwegen der Bureaukratie, ein Debatte der Diplomatie. Noch war es nicht mehr.
Das Deutschtum wird und darf nicht untergehen!
„Seine Handelsflotten streckt der Brite
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das sreie Reich der AmphitriteSchiller, 1301. Will er schließen wie sein eigen Haus!"
cipid Wird die Welt englisch!" Zu keiner Zeit haben wir die Um-
dieses Leitwortes des englischen Imperialismus in die
ZiÄ deutlicher verfolgen können als gerade jetzt. Mit gespcmn-
^ Aufmerksamkeit verfolgt die Heimat die Vorgänge an der West-
front, wo sie durch die standhafte Abwehr aller mit Übermensch^
'. > lwier Kraft «nternommeuen Durchbruchsversuche und die geniale
Leitung und den zuversichtlichen Weitblick unserer Heerführer geschützt wird. Zu
sehr bleiben unsere Gedanken auf den kleinen Kontinent Europa und seine Mittel¬
staaten beschränkt. Dafür spielt sich fern im Indischen Ozean ein Schau¬
spiel ab, das, selten großartig, auch unsere Beachtung mehr verdient. Hier ist
England nahe daran, sich ein britisches Jndiameerreich zu schassen.
Einzig dastehend in der Weltgeschichte, wird es schon jetzt und noch mehr irr Zu¬
kunft alle bisher geschaffenen an Größe und Bedeutung überstrahlen. Der In¬
dische Ozean ist dabei, ein rein englisches Mittelmeer, ein „britisches Südmeer"
zu werden. Ein kurzer Blick in die Geschichte und Geographie soll uns darüber
Klarheit verschaffen.
Bei einem ersten Überblick über die englischen Besitzungen bietet das
britische Weltreich das bunteste und in sich widerspruchsvollste Bild; nichts deutet
da auf einen natürlichen inneren Zusammenhang hin. Englands früher be¬
folgte Politik der offenen Tür setzte englischem Einfluß nirgends Grenzen, die
ganze Welt war englisches Betätrgüngsfeld. Erst seit die Konkurrenz der offenen
Tür anfing groß zu werden, ging England über zum System der geschlossenen
Einflußgebiete; und hier marschiert es nun an erster Stelle.
Englands Auftreten im Indischen Ozean datiert seit dem Auftreten der bri¬
tisch-ostindischen Handelskompaguie im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts und
die Eroberung Ostindiens 1757 bis 1784 durch Lord Clive und Warren Hastings
sicherte Englands Stellung als vorherrschende See- und Kolonialmacht der dama¬
ligen Zeit. Seit der Errichtung des indischen Reiches unter britischer Ober¬
hoheit war Englands Politik immer darauf gerichtet, sichere Wege zwischen
Mutterland und Kolonie zu schaffen. Auf dem Seewege kommend, unterwarf
sich Großbritannien Indien. So ist es erklärlich, wenn dieser Seeweg zu¬
nächst ausgebaut und gesichert wird. Noch in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts führte der Weg nach Indien um das Kap der guten Hoffnung
herum, wenngleich der Weitblick englischer Staatsmänner den künftigen kürzeren
Weg nach Indien über Ägypten gehen sah. 165V schon ist Se. Helena englisch,
ein willkommener Anlegeplatz und Versorgungsstation für die Britisch-Ost¬
indische Kompagnie; 1704 wird Gibraltar durch Handstreich den Spaniern ent¬
rissen. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts kommt die Festsetzung Englands am
Kap der guten Hoffnung, 1815 werden die im südlichen Atlantischen Ozean ge¬
legenen vulkanischen Felseneilande Ascension . und Tristan da Cunha
besetzt, eigentlich nur als eine Art Hilfsstellung zu Se. Helena, lediglich zudemZweck,
Napoleon den Ersten vor der Möglichkeit jeder Entführung zu bewahren; dem
Seeweg nach Indien aber dienten sie als neue Stützen. Solange dieser noch der
einzige Weg war, die Kolonie zu erveichen, mußte auch Mauritius eine
wichtige Rolle spielen; schon 1810 kam es in englischen Besitz. Seine Bedeutung
für die britische Weltmacht und Weltwirtschaft mußte nachlassen, als der alte
Seeweg nach Indien ums Kap der guten Hoffnung «durch die Eröffnung des
Suezkanals verödete. Indessen seine geographische Lage hinderte es daran, zu
völliger Bedeutungslosigkeit herabzusinken.
Die Durchstechung der Landenge von Suez mußte England mit Freuden
begrüßen, da so der direkte Weg London—Bombay bedeutend verkürzt wurde.
Aber da der- Gedanke von Frankreich ausging, mußte England diesem Plane
Schwierigkeiten bereiten. 1869 war der Kanal trotz Widerstrebens Englands
fertiggestellt. Aber schon 1875 war der größte Teil der Kanalaktien in englischen
Händen, die wirtschaftliche Gewalt gewonnen, 1832 bemächtigte man sich mit der
Okkupation Ägyptens auch noch der politischen Gewalt. Damit begann der Aus¬
bau des neuen Weges nach Indien, des Landweges. Geographischer und
Polnischer Weitblick hatte schon Z861 das Eingangstor ins Note Meer, das wohl¬
bekannte „Tränentor", Bab el Mandeb, das dreimal so breit ist als die Gibraltar-
strasze, zusammen mit dem Festlandsstützpunkt, dem schönen Kraterhafen Aden,
in englischen Besitz gebracht. Als die Annäherungsversuche an den bis 1882
noch von der Türkei abhängigen Khediven des Nillandes mit der englischen
Oberhoheit endeten, führte dieser Khedive nur noch ein Scheindasein; der eigent¬
liche Herr Ägyptens war der englische Generalkonsul, in dessen Händen die Fäden
der englischen Afrikapolitik zusammenliefen und der kein Mittel scheute, den eng¬
lischen Einfluß in Ägypten zu stärken. Lord Cromer und Lord Kitchener waren
die treibenden Kräfte; ihr Ziel war es, eine Zusammenschweißung von Süd¬
afrika und Ägypten herbeizuführen. Der Fall Faschoda 1898, der ein Nachgeben
Frankreichs bedeutete, beweist dies. Bis in die achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts hatte England bei der Verteilung der außereuropäischen Einfluß-
gebiete nur mit Frankreich als eigentlichem Gegner rechnen müssen, Portugal
und Holland als kleinere Staaten waren nicht mehr zu fürchten gewesen. Da
taucht auf einmal in den Jahren 1879 bis 1883 Deutschland auf in der Zahl
der Mächte, die in Afrika eigene Interessen vertreten wollen. Zu den zwei Be¬
werbern um einen Platz an der afrikanischen Sonne kam jetzt ein dritter. Der
RückVersicherungsvertrag 1878 mit Nußland hatte zudem den Rücken gesteift, um
England deutlicher deutsche Pläne offenbaren zu können.
Sobald Karl Peters, Ludwig Jühlke, Graf Pfeil und die Gebrüder Den-
hardt in den Jahren 1884 und 1885 ihre ostafrikanischen Landerwerbungen ge¬
macht und unter deutschen Neichsschutz gestellt hatten, und als die Auseinander¬
setzung mit dem Sultan von Sansibar erfolgt war, streckte das um seine Welt¬
herrschaft bedrohte England auch hier seine Faust in den Handel. Am Golf
von Aden wurden 1884 die Hafenplätze Berbera und Zella besetzt, das nördliche
Somaliland (176 000 Quadratkilometer mit 50 000 Bewohnern) unter britischen
Schutz gestellt; 1886 ging Sokotra völlig in englischen Besitz über, nachdem schon
1876 die Zusicherung gegeben war, daß die Insel an keine fremde Macht ab¬
getreten werden dürfe. — Mit der Festsetzung Deutschlands an Afrikas Ost¬
küste begann für England eine ausgesprochene Annexionspolitik, die sich in
erster Linie gegen Deutschland richtete, und die gleichzeitig dem Endzweck diente,
Englands Stellung am Suezkanal und gegenüber Indien fester und umfassender
zu stützen.
Noch 1886 stellte England das an Deutsch-Ostafrika angrenzende
Nyassalcind unter britischen Schutz; in Mestafrika war 1885 das Niger¬
gebiet schon englisch geworden; in Südafrika belaste man 1886 das
Betschuanciland mit der' Kalahariwüste ein. 1890 siel ihm im Sansibar-
Vertrag gegen das kleine Opfer Helgoland noch das Wien-Gebiet im
Norden des Tanaflusses und die Schutzherrschaft über Sansibar zu; 1894 kam
dazu noch die Schutzherrschaft über das nördlich vom Vi!toria-Nhanza-See ge¬
legene Königreich Uganda. Reichlich 1 MM. Quadratkilometer mit 7^ Mill.
Bewohnern waren englisch geworden. Der deutsche ostafrikanische Besitz war
ringsum abgegrenzt und dazu kontrolliert durch das englische Sansibar; dem
britischen Besitz war die Ausdehnungsmöglichkeit nach allen Seiten geblieben
(Einkreisungspolitik!). Dieselbe Begrenzung unserer Erwerbungen bedeutete
auch Englands Festsetzen im Nigergebiet und an der Goldküste. Im Betschuana-
land führte es zu einer Trennung von den Burenstaaten, die ihrerseits einer eng¬
lischen Umklammerung sich nicht entziehen konnten. Auch Portugal gegenüber
übte England dieselbe Politik, als dieses sich 1891 an der Ostküste einen Land¬
streifen sichern wollte. In aller Stille hatten sich englische Ansiedler im Süden
des Nyassa-Sees festgesetzt, und das durch ein Ultimatum von seiten Englands
erzwungene englisch-portugiesische Abkommen gab den Portugiesischen Be¬
sitzungen in Ostafrika die heutige seltsam gestreckte Gestalt. Zudem brachte es
England die Abtretung des ehemals portugiesisch gedachten Hinterlandes, des
Maschonalandes ein; seit 1891 ist es ein Teil von Britisch-Zentralafrika.
1834 fiel auch das Zwischenstück, das Matabelelcmd, an England. — Die
Burenstaaten waren rings umschlossen von englischem Gebiet, die Arbeit ihrer
Beeinflussung, die notwendigerweise zur Besitznahme führen mußte, konnte be¬
ginnen. 1902 war ihr Schicksal besiegelt, Oranjestaat und Transvaal
Teile der englischen südafrikanischen Union.
- Die versäumte Gelegenheit eines deutschen Eingreifens zur Erhaltung der
Selbständigkeit dieser Freistaaten und das Nuhterkennen der uns seitdem drohen¬
den Gefahr ist uns dann immer zum Nachteil geworden. Offensichtlich war die
aktive Politik Englands im schroffen Gegensatz zu der passiven Deutschlands, die
sich immer schieben ließ, nie aber selbst schob. So lagen die Verhältnisse in der
Politik beider Länder und in der Verteilung der Gebiete Afrikas um die Jahr¬
hundertwende im Jahre 1900.
Rückblickend kann man bis zum Kriegsausbruch drei verschiedene
Perioden der englischen Politik zur Sicherung der Wege zum „britischen
Südmeer" erkennen. Bis 1869, der Kancileröfsnung, die ungefähr mit der Ent¬
stehung des Schlagwortes vom „(Zrsater Lritkm" (1808) zusammenfällt, ist alles
gerichtet auf eine Festlegung des Seeweges und Vorbereitung für den zu schaffen¬
den Landweg. Mit der Besitzergreifung des Suezkanals beginnt der Ausbau
des Kolonialreiches; jede sich bietende Gelegenheit wird wahrgenommen, kleine
Kolonien, Kohlenstützpunkte und Jnselchen zu besetzen. 'Mit dem Eintritt
Deutschlands in die Zahl der Kolonialmächte'(1884) beginnt die Zeit der Nieder-
, Haltung des neuen Gegners mit dem Mittel der Einkreisungspolitik. ^)
Wichtig bleibt, daß um die Jahrhundertwende die englischen Staats¬
männer Chamberlain und Salisbury den Versuch und die Anstrengung machten,
mit Deutschland zu einem Verständnis oder gar Bündnis zu kommen. Der
innere Zweck mag Wohl gewesen sein, uns als englische Landsknechte in Ost¬
asien gegen die unbequemen Russen zu verwenden. ^) Das britische Bemühen
scheiterte, unsere Diplomatie ging nicht in die wohlvorbereitete Schlinge hinein.
Die ablehnende Haltung Deutschlands hatte aber eine völlige Um- und. Abkehr
Großbritanniens zur Folge; die Annäherung an Frankreich und Nußland war
der nun zu betretende neue Weg. Er war bis zu Ende geebnet, als Rußland
kriegsbereit und gerüstet war, im Jahre 1914. Die politische Arbeit Englands
hatte ihre seit 1903 begonnene Einkreisung so weit geführt, daß man daran
gehen konnte, Deutschland auf dem Festlande zu beschäftigen und seine Kolonien
einzustreichen.
In der östlichen Umrandung des Indischen Ozeans war Australien der
Eckpfeiler britischer Macht gewesen; auch von ihm gingen zur Gewinnung des
Anschlusses an Indien Ansdehnungsbestrebungen aus. Zwar hatte die von
allen Hauptkulturländern entfernte große Insel wegen ihrer Lage auf der
menschenleeren Wasserhalbkugel und der Entlegenheit ihrer am meisten kultur¬
fähigen Südostseite für ihre Beherrschung ein seetüchtiges Volk vorausgesetzt; alZ
erstes Seefahrervolk, als „i-olsrs o5 tbs of,oss", haben sich die Engländer in
diesem Teile ihres ungeheuren Reiches so gut wie vollkommen unberührt und
unbedroht von äußeren Einflüssen sühlen dürfen. Erst das Aufkommen einer
ansehnlichen japanischen Seemacht, die vor England gegenüber Australien den
großen Vorteil einer näheren strategischen und wirtschaftspolitischen Opevations-
basis voraus hat, ließ England andere Ziele und Wege seiner Australienpolitik
einschlagen. Die deutsche Flaggenhissung in Kaiser Wilhelms-Land und ans den
Bismarckinseln (1884) wurde mit unverhohlenem Mißbehagen betrachtet; aber
auch die Franzosen in Neukaledonien mögen keineswegs immer als Freunde
und Bundesgenossen gegolten haben. Jedenfalls besetzt England 1884 den Süd¬
ostteil von Neuguinea und grenzt damit das nördlich gelegene deutsche Schutz¬
gebiet ab. Den Weg nach Indien sollten die Erwerbungen der Straits settle-
ments (1831) sichern helfen. Aber auch mit dem Auftreten Deutschlands in der
Südsee und dem Gedanken Frankreichs, Annexionsgelüste auf Siam zu zeigen,
fand man es in London an der Zeit, die malaiischen Staaten enger an das
englische Kolonialreich anzuschließen. 1885 wurde dem Sultan von Dschohore
und 1887 dem von Pcchang anheimgestellt, sich unter englischen Schutz zu begeben;
1889 und 1895 wurden die Verträge abgeschlossen, diese Sultanate in aller Form
der Schutzherrschaft einverleibt, und 1999 wurde nur 'zur Abrundung noch ein
von Siam abgetretener Landstrich bis an die Landenge von Ligor hinzugefügt,
so daß das englische Gebiet hier rund 140 090 Quadratkilometer mit 2,9 Mill.
Bewohnern umfaßte. Gleichzeitig faßte England 1882 auf Nordborneo Fuß und
stellte bis 1888 rund 190 000 Quadratkilometer unter seinen Schutz; dies nur,
um den Weg nach Asien zu sichern. In Hinterindien war Birma 1886 britisch
geworden.
So war mit den vier Eckpfeilern Südafrika, Ägypten, Indien, Australien
schon vor 1914 der Gedanke eines territorialen Gebäudes, eines geschlossenen
englischen Einflußgebietes wenigstens bis zu einem gewissen Grade zur Tatsache
geworden: ringsum den Indischen Ozean englisches Gebiet. Den Verkehr von
Küste zu Küste erleichtern die ebenfalls mit weitem Buel des praktischen Geo¬
graphen'in englische Hand gebrachten Inselgruppen der Amiranten, Seychellen,
Malediven, Lakkediven, Tschagosinseln, Andamcinen, Nikobaren, Keeling- und
Christmas-Jnseln, von Mauritius und Rodriguez. Sie find heute schon Stütz¬
punkte der englischen Schiffcchrts- und Kabellinien im „britischen Südmeer":
ihnen werden weitere zur vollständigen Festigung des Besitzes folgen.
Nur einige Schönheitsfehler wies das Bild auf; das waren die den anderen
Kulturvölkern gehörenden kleinen Landstreifen und Inselgruppen. Nur zwei
von ihnen konnten noch als feindlich gelten, nachdem Frankreich, Italien und
Portugal dem Riesen England Gefolgschaft zugesagt hatten. Zuerst mußten ja'
nach Kriegsbeginn die deutschen Besitzungen an der Guinea- und Goldküst?
fallen; hier willigte England noch ein in eine Teilung der Interessengebiete
zwischen französischen und englischen. Die größere Bedeutung der deutschen
Kolonien für England lag an Afrikas Ost- und Südküste. Gegen Ende 1915
ging Südwestafrika verloren, Ende 1917 wich nach heißem Ringen die letzte
deutsche Heldenschar aus Deutsch-Ostafrika. Damit fiel England wieder ein
neues Stück Land zu. Aber hier wurde nur englische Verwaltung geduldet,
keine belgische oder portugiesische. Die ganze Ostküste Afrikas ist Interessen¬
gebiet der Ententemächte, in erster Linie Englands. In der Ostumrrmdung
bleiben nur die holländischen Kolonien als Schönheitsflecken im englischen Süd-
meerbilde noch bestehen. (ZnorisciiiS tgnäsrQ?
In Afrika wurde bis 1914 der Plan Englands, eine Kap—Kairo-Bahn
als Verbindung vom Norden zum Süden in nur englischem Gebiete zu führen,
von Frankreich im Sudan, von Portugal im Süden des deutschen Gebietes und
von Deutschland im Seengebiet ^gekreuzt.*) Jetzt stehen der Ausführung des
Wunsches, eine Randbahn an die Westseite des Indischen Ozeans zu führen,
kaum Hindernisse mehr im Wege, wenn nicht ein starkes, deutsches Mittelafrika
als Friedensbedingung den großbritischen Traum zunichte machen kann. Nicht
ernst zu nehmen war Wohl das 1893 angebotene Angola-Abkommen, das uns im
Falle wachsender Geldverlegenheiten Portugals ein Vorkaufsrecht auf bestimmte
Teile der portugiesischen Kolonien sichern sollte. Englische Geldleute unter¬
stützten Portugal stets reichlich genug, um die Einlösung dieser Zukunftsmöglich¬
keit hinauszuschieben; nun hat der Krieg auch diesen Vertrag hinfällig gemacht.
Vom Kumme an der Nordgrenze von Deutsch-Südwestafrika um Südafrika
herum, an seiner Ostküste entlang bis zum Eingang ins Note Meer ist englisches
oder englisch beeinflußtes Gebiet. Britisch-Südafrika und Britisch-Ostafrika
haben trotz Faschoda und Deutschland den Anschluß ans britische Nilland ge¬
funden. Der Nord—Südweg ist geschaffen als Basis für die Beherrschung des
ganzen östlichen Afrika.
Der Krieg gibt auch die Möglichkeit, die geographische Lücke zwischen
Ägypten und Indien zu schließen, den Anschluß von Kairo an Kalkutta zu
finden. Diesen Weg West—Ost zu sichern, ist England auf dem besten Wege.
Die Erwerbung von Belutschistan (1893) und seine Eingliederung in das
Indische Reich war der erste Schritt dazu, das Übereinkommen des Jahres 19V7
betreffs Persien war der zweite. Die Zweiteilung des Landes sicherte England
die südliche, den Persischen Meerbusen umrandende Zone zu. Durch die Über¬
nahme der Schutzherrschaft über den gegenüber gelegenen, die Ausfahrt aus dem
Golf beherrschenden, ehemals selbständigen Staate Oman wurde der Persische
Meerbusen ein Nnrs vis-usum drie^vinum. Die Tatsache, daß schon vor dem
Kriege im Persischen Golfe der englische Handel mit 7V Prozent vertreten war,
gegen 7 Prozent Anteil des deutschen Handels, erfuhr ihre Krönung beim Aus¬
bruche des Krieges durch die Besetzung der persischen Insel Hendjam an der
Straße von Hormus: ein neuer Flottenstützpunkt wie ehedem Perim und Aden
im Roten Meere. Leichter als sonst ist nun für England die Ausdehnung seines
Einflusses auch aus die nördliche persische, ehemals an Nußland überlassene
Zone, nachdem ein Großrußland zu bestehen aufgehört hat. Durch die kaspisch-
turanische senke führt über Persien ohnehin ein natürlicher Weg nach Indien.
Er muß, so weit wie möglich, englisch werden.
Bleibt das Mittelstück zwischen Euphrat und Nil. Hier ist Englands
Verhalten zur Türkei ausschlaggebend gewesen. Langsam, aber zielbewußt sicher
begann die Ausnützung der türkischen Schwäche. Wir sahen es bei Ägypten
1882. Schon 1878 wurde Cypern englisch, als einer der Vorposten des eng¬
lischen Einflusses im Mittelnleere, geeignet, die eurasische Hochstraße Mittel¬
europa—Vorderasien zu beaufsichtigen und zu bedrängen; 1') erst 1914 wurde
es zugleich mit Ägypten vollständig annektiert. Am Roten Meere hatte England
sich 1885 in Zeita und Berber« gegenüber Aden festgesetzt; Ein- und Ausfahrt
war unter Aufsicht, und die Beeinflussung Arabiens erhielt eine neue Basis.
Die Arbeit zeitigte ihre Früchte in der Aufwiegelung arabischer Stämme gegen
die türkische Herrschaft in den arabischen Küstengebieten. Mögen auch einige
Scheichs in der Landschaft Jemen noch Überfälle auf englische Garnisonen aus¬
führen, der ganze südarabische Küstenstrich von Jemen bis Oman ist heute eng¬
lische Einflußzone.
Wie von Süden und Osten her so erfolgte auch von Westen aus das eng¬
lische Vorrücken. Als die Türkei 1906 von ihrer Hedschasbahn eine Nebenbahn
zur Akababucht (Sinai-Halbinsel) führen wollte, erhob England Einspruch, unter¬
nahm eine Flottenkundgebung und erzwang eine Grenzregulierung, die die Halb¬
insel Sinai zum Glacis Ägyptens machte. Den Plan der Türkei,'unter deutscher
Beteiligung durch Mesopotamien eine Bahn zum Mündungsgebiet von Euphrat
und Tigris, dem Schale el Arad, zu führen, kreuzte. England durch fortgesetzte
Politische Treibereien und den Streit um den Endpunkt der Bahn. Unter Aus¬
nützung der Schwächung der Türkei zur Zeit des Balkankrieges 1913 wurde an
der geplanten Endstation die selbständige, unter britischen Schutz stehende
Dynastie El Koweit errichtet. Nichts anderes bedeutete das, als ein endgültiges
Festsetzen Englands an dieser Erdstelle, Deutschland und der Türkei zum Trotz.
Von hier aus begann Ende 1914 die Besetzung von Basra und Südmesopotamien.
Mit indischen Truppen unter englischen Offizieren wurde trotz der Rückschläge
bei Kul-el-Amarci das Mündungsgebiet der Riesenstrome, das Irak Areoi, er¬
obert. Das Zwischenstromland bis über Bagdad hinauf ist heute in englischen
Händen. Ein günstiges Geschick fügte es auch, daß das Vorrücken in Süd¬
palästina bis über Jerusalem hinaus für England leicht wurde. Der Weg durch
die syrisch-arabische Wüste ist für England frei, die Brücke vom englischen Afrika
zum englischen Südasien ist geschlagen, die Nordumrandung des. Indischen
Ozeans 'britisch. Nun kann der schon 1903 von W. Willcocks entworfene Plan
der künstlichen Bewässerung des Zwischenstromlandes zur Ausführung kommen,
und der 1909 von demselben englischen Baumeister in türkischen Diensten auf¬
geworfene kühne Gedanke einer Querbahn von Bagdad schnurgerade nach Westen
über Pcilmyra nach Damaskus und somit nach der Küste verwirklicht werden.
Die große Völkerbrücke zwischen drei Erdteilen in englischer Hand, die
Durchfuhr dort von England monopolisiert, dieses Lebensziel Englands hat ihm
der Krieg spielend gewinnen lassen. Einzig dastehend ist das britische Kolonial¬
reich in der Umrandung des Indischen Ozeans, das „britische Indiameerreich"
(Kjellen). Zwischen , den beiden Wendekreisen in den Tropen sich ausdehnend,
mit einer verschwenderischen Fülle aller Ncchrungs-, Genußmittel und Rohstoffe
ausgestattet, die der, in gemäßigteren Zonen lebenden Menschheit unentbehrlich,
verfügt dieses Reich über einen Menschenvorrat von Wohl 500 Millionen; und
50 bis 60 Millionen Weiße könnte es noch in seinen weiten Räumen aufnehmen
als Ansiedler. Das größte Weltreich des Altertums, das römische, muß als
Zwerg erscheinen gegen den an Ausdehnung hundertmal größeren Niesen Eng¬
land, der drei Erdteile mit seinen gewaltigen Armen umspannt.
Nichts könnte der Entwicklung dieses Riesenreiches von Europa aus
hindernd in den Weg gelegt werden; die Versuche dazu sind bis jetzt durch Eng¬
lands zielbewußteres Vorgehen gescheitert. Nur das aufstrebende Japan könnte
hemmend dazwischentreten. Mit ihm sich zu verständigen wird England nicht
zögern. Fast scheint es schon, als ob England auf den Ausbau seiner Einfluß-
gebiete in den chinesischen Meeren zugunsten von Japan verzichten wollte.
Durch koloniale Truppen aus den alten englischen Kolonien sind die neuen
Gebiete zur Abrundung und Vervollständigung erobert worden, englisch war
nur die Führung. Mochte es auch eine Zeitlang genügend glaubhaft erscheinen,
daß das Fehlen englischer Offiziere, die befähigt waren, indische und eingeborene
Truppen zu befehligen, einen Abtransport dieser Truppen nach Europa unmög¬
lich mache: Englands letzter Gedanke wird dabei sicher gewesen sein, daß eben
diese Truppen für Englands zukünftige Ziele hier besser kämpfen könnten, als
daß sie auf europäischen Schlachtfeldern nichtenglische Interessen verteidigen
halfen.
Seit mehr als 50 Jahren ist Englands Politik darauf gerichtet, im Indi¬
schen Ozean jeden Vorteil und jede Gelegenheit zur Besserung seiner Stellung
auszunützen. Schrittweise, aber immer vorwärts schreitend, das bestimmte Ziel
im Auge, sahen wir den Riesenbau entstehen, dessen Krönung der Weltkrieg Eng¬
land bringen sollte.
Nirgends als gerade hier bei „Englands Indiameerreich" wird der Wert
eines geschlossenen Kolonialreiches klarer. Einige Zahlen (nach Stuhlmann)
mögen die Bedeutung des englischen Einflußgebietes verdeutlichend
Die Zahlen reden eine deutliche Sprache. Der hier England zufallende
Gewinn ist unübersehbar und gefahrdrohend. Der Gedanke des Wirtschafts¬
krieges nach dem Weltkriege findet gerade in den an tropischen Rohstoffen über¬
reichen Uferländern des Indischen Ozeans feine sicheren Stützen.
- An uns und unserer verbündeten Diplomaten Arbeit und Kunst muß es
liegen, das, was die Waffen in jenen fernen Landen nicht haben wirken können,
durch den militärischen und diplomatischen Sieg der Mittemächte in Europa zu
erreichen. Andernfalls ist Englands Ansehen und Macht, seine ganze geo¬
graphische Ausdehnung auf der Welt größer als zuvor, und der mitteleuropäische
Wirtfchciftsbnd in seiner aufstrebenden Weiterentwicklung bedroht. Nicht darf
das Wort Cecil Rhodes' recht behalten: „Lassen wir die andern nur arbeiten; in
das Bett, das sie bereiten, legen wir uns doch hinein." Vergessen wir vor allem
in Zukunft jenes nur zu wahre Wort eines 'Engländers nicht: „Wenn irgend
jemand wissen will, wie England sich, sei es als Neutraler, sei es als Krieg¬
führender, in Zukunft verhalten wird, so können wir ihn nur auf unfer Ver¬
halten in der Vergangenheit hinweisen."^) Danach sollte sich auch unser Ver¬
halten bei kommenden Friedensbesprechungm richten.
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as Jahr 188K war ein Schicksalsjahr für die innere Kultur der
Tschechen: mit einem Heroismus, dem auch deutsche Anerkennung
nickt versagt um'ronn darf, hat ein Häuflein tschechischer Geletirteu
im .Kampf gegen den hochgehenden Nationalismus der Volksmehr-
und der demagogischen Presse die Kvniginhofer und andere Hand¬
schriften, vermeintliche Zeugen einer glanzvollen, mit der deutschen
wetteifernden alten Kultur, endgültig als Fälschungen erwiesen. Damit.sank das
durch siebzig Jahre vom Volk verehrte höchste nationale Palladium dahin. Der
Hauptfälscher Wenzel Hanka, der von 1817 an seine verdächtigen „Funde"'ge¬
macht hatte, als Gelehrter wie als Mensch nicht «einwandfrei, ist'der typische Ver¬
treter jenes nationalistischen panslawistisch-rnssophil und deutschfeindlich gefärb¬
ten, in seiner Grundlage rückschrittlichen Romantismus, der bis in die achtziger
Jahre die innere tschechische Entwicklung gelähmt hat und der in mannigfachen
modernen 'Verkleidungen wirksam geblieben ist. Die leitende Seele des haupt¬
sächlich vou dem genialen Grammatiker der tschechischen Sprache Johann Gebauer
Mit allen Hilfsmitteln der modernen wissenschaftlichen Kritik geführten Echtheits¬
streites War Thomas Masaryk, der philosophische Positivist, der wissenschaftlichT
und politische Realist, eine der stärksten Potenzen des neueren tschechischen Geistes¬
lebens, aber eigentümlich schillernd auch da, wo er Positives zu sagen scheint (so
in seinem bekannten Buch über Nußland), und schließlich in der Überspitzung
seiner eigenen Prinzipien auch wissenschaftlich, politisch und in einem extremen
Freisinn erstarrend. Vorzugsweise seiner Energie im Handschriftenkampf ist es
zu danken, daß dnrch die ausschließliche neue Geistesbewegung gegen den be¬
schränkt nationalistischen und kulturell rückschrittlichen Romantismus,ein Helles
Fenster nach Westeuropa aufgebrochen wird. Der reinigende Kampf gegen die
Handschriften, der eine Episode schien, hat nicht nur die moderne tschechische" Philo¬
logie geboren, sondern zu einer Scheidung der Geister geführt, ja er schien dein
ganzen Kulturgaug und selbst der Politik neue Wege zu weisen.
Dem Geschlecht von 1917, das die Hundertjahrfeier der „Auffindung"
jener seltsamen Produkte zu begehen hatte, sind sie nicht mehr in erster Reihe
romantische Fälschungen, deren Platz nicht im dreizehnten, sondern im zweiten
Fahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ist. Heute umgibt die Königinhoser
wie die Grünberger Handschrist und die ganz ansehnliche Reihe weiterer Fäl¬
schungen Hankas wieder der Glanz nationaler Zimelien — und dies nicht nur
bei den breiten Massen, die in der Suggestion vom souveränen tschechischen
Staat und im radikalsten Nationalismus befangen sind, sondern auch bei einem
großen Teil der kritisch Einsichtsvollen der Nation. Diesen sind die Falsa zwar
ein Betrug, doch ein frommer, in die Welt gesetzt durch Mittel, „über deren Zu-
lässigkeit man zwar streiten kann", ober „im Dienste eines Zieles, das das edelste
ist". Was 1886 und -später Philologie, Geschichte, Soziologie, Paläographie,
Ästhetik, Chemie, Mikroskopie und Deutung der Schriftzüge") mit schier mathe¬
matischer Exaktheit als Fälschungen eines national überhitzten und maßlos eitlen
dunklen Ehrenmannes erwiesen haben, gilt heute auch kritischen Fachleuten als
ein seines Zweckes wegen zu entschuldigender Betrug eines Mannes, dem um seiner
völkischen Gesinnung willen Verzeihung werden muß, da er „dem Volke in den
Zeiten seiner Erniedrigung und der Schwäche einen Heldentypus vor Augen
führte und dies in einer dichterischen Weise tat, die bis heute überzeugt." Ge¬
fühlsmäßige Wertung ist an Stelle der verstandesmäßigen getreten.
Was Wunder, daß heute noch, wo es gar nichts mehr für die Echtheit zu
beweisen gibt, von Gläubigen Preise für den Nachweis der Echtheit ausgesetzt
werden, oder daß, wie vor kurzem durch einen Mäzen in Ludweis, Fmds für
solchen Zweck gegründet und Sammlungen in der Öffentlichkeit mit Erfolg ein¬
geleitet werden.
Ein Wer Rückschlag in den Rowanisnms vor 1886 also opfert der
mächtigen nationalistischen Woge, die das Volk in den letzten beiden Jahren er¬
griffen hat, alle Bedenken darüber, daß seine Wiedergeburt mir Fälschung und
Betrug verbuchst gewesen sei — auch bei solchen Kundigen, die vor kurzem noch
diese Denkmäler als unkritische Produkte eines phantastischen Enthusiasmus mit
dem strengen Maßstab 'wissenschaftlicher und historischer Wahrheit und die Ent¬
wicklung des Volkes mit hohen ethischen Prinzipien gemessen haben. Wieder
wirkt jener verhängnisvolle Dualismus des „Zwischenvolkes", der die tschechische
Entwicklung nicht ihre konsequente Linie finden läßt und der auch den energischen
Organisator des Kampfes von 1886, den austroslawischen Realpolitiker, den kon¬
sequenten Gegner des Panslawismus und des historischen Staatsrechtes, Masaryk,
am Ausgang seines Lebens die Leitsterne seines Lebenswerkes eben im Dienste
eines lebenslang bekämpften extremen Nationalismus verneinen läßt.....
Vom Gesichtspunkt dieses Gegensatzes aus analysiert zur Jahrhundertfeier
die Schrift von Paul Kisch den Kampf um die Handschriften. (Dr. Paul Kisch,
Der Kampf um die Kömginhofer Handschrift. Sammlung gemeinnütziger Vor¬
träge des Deutschen Vereins zur Verbrettung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag.
Ur. 472/74. IN 8.) Wie prägt sich eine uns fremde Geistigkett, eine uns fremde
Auffassung von Recht und Unrecht in der neuen Erhebung dieser Falsa durch die
gegenwärtige Generation aus, die dadurch ihre wissenschaftliche Einsicht nationa¬
listischen Gefühlsmomenten unterordnet? Das Ethos des Falles ist die Haupt¬
frage, auf die Kisch, der aus seiner Achtung vor dem tschechischen Volke und dessen
kulturellen Leistungen, vor allem der Dichter, kein Hehl macht, antwortet. Ge¬
sättigt von gründlicher Kenntnis des vielverzweigten Gegenstandes, aber formell
unbeschwert durch das wissenschaftliche Rüstzeug geht die Schrift des geschulten
Philologen den seltsamen Windungen des Streites um echt oder unecht in klaren
Zusammenfassungen und mit stellenweise drastischen Argumenten aä llourwem
nach. Mit weitem Umblick zieht der Autor den Schlußstrich unter die kritischen
Bemühungen dreier Menschenalter, tschechischer, deutscher und anderssprachiger
Gelehrten, denen diese Produkte eines von Neid und Ruhmsucht besessenen
Menschengeistes die größten Rätsel vorlegten — größere als die berühmten Fäl¬
lungen der Weltliteratur, die den Fälscher zum Teil angeregt haben: die Ge¬
linge Ossians, die merkwürdigen Fälschungen des achtzehnjährigen Chcitterton,
das altdeutsche Schlummerlied, dem Ostara, Triwa und Wodan-einouga noch
lebendig sind, der russische Rnnenhyinnus des Sulakadzew, die pllunve, in vielen
tausenden Versen bis auf Orpheus und in die indische Urheimat'zurückführende
bulgarisch-serbische Fälschung von Verkovic-Gologanvw/nicht zu reden von den
scherzhaften Mystifikationen der Romantik aller Völker, wie Prosper M6rimSes
Pseudo-kroatischen Volksliedern. Auch wie die tschechischen Falsa manchem ver¬
hängnisvoll wurden, der sie anrührte, zeigt die Schuft. Dem kritischsten und
reinsten Geiste des damaligen Böhmen, Josef Dobrowsky, der die Grüneberger
Handschrift auf den ersten Blick durchschaute und die übrige Tätigkeit seines
Schülers Hanka mit Mißtrauen beobachtete, hat bösartiger Undank des Schülers
die letzten Lebensjahre maßlos verbittert — Koryphäen des tschechischen Geistes¬
lebens vom Rang eines Jungmann und Palacky erscheinen durch die Falsa in
eigentümlich zweifelhaftem Licht — der Mähre Julius Feifalik, ein kritisch her¬
vorragender Geist, verzehrt sein junges Leben stürmisch im Kampf gegen' die
Königinhofer Handschrift — kein Nachfolger Hankas im Musealamt, Wenzel
Nebesky, ein guter Tscheche, schreibt — eine eigentümlich flackernde Erscheinung —
Verteidigungen der Fälschungen voll Schmeicheleien für den kindisch ehrsüchtigen
Hanka, die aber zwischen den Zeilen zu wuchtigsten Angriffen werden, so daß
Nebesky, halb verfemt, in den Verdacht kommt, Verfasser jener sensationellen An¬
griffe im „Tagesboten für Böhmen" (1859) zu sein, deren Geheimnis erst in
unseren Tagen so überraschend enthüllt wurde. (Vergl. D. Urd. 12, 611 Sö.)
Die Schrrft Kischs, die durch die angeführte Bibliographie der in deutscher
Sprache zum Gegenstand erschienenen Abhandlungen doppelt wertvoll wird, hebt
das rätselvolle Problem ins Licht der Gegenwartfragen. Wir begreifen, daß die
Tschechen gegen die Vorzüge der Fälschungen nicht blind bleiben — ein kundiger
tschechischer Fachmann hat Goethes Wort angerufen: Wer zu begreifen versteht,
versteht auch zu verzeihen. Aber nicht dagegen protestiert die deutsche Schrift,
daß den Fälschungen wegen ihrer romantischen Eigenart ihr gebührender Platz in
der nentschechischen Literatur werde, sondern daß nationaler Überschwang d:e
schweren Schatten, die Hanka auf die tschechische Entwicklung geworfen hat, in
Licht Verkehren möchte, daß das krankhafte Nationalgefühl des' Fälschers und sein
pathologischer Romantismus zu Tugenden umgestempelt werden. Manches"
scharfe Wort des deutschen Autors wird da begreiflich — Nationalgefühl hatte,
nach Joh. Gebauers schmerzlichem Ausruf, auch 1886 bei den Verteidigern der
Fälschungen aufgehört Tugend zu sein. Auch nationaler Zweck darf sich nicht
bedingungslos jenseits Von gut und böse stellen und nicht alle Mittel heiligen —
es sei denn, er stellte sich aus eine Linie mit der neuesten Phase Masaryks.
Die Rolle der Polnischen Geistlichkeit im
Kampfe um den Boden beleuchtet folgende
Notiz des „Przswodnik Katolicki" (Posen),
Ur, 86 vom 8, September 1918, „In der
Stadt Budsin mit 2200 Einwohnern kann
sich ein polnischer Gärtner niederlassen. Die
Lage ist eine zuträgliche an der Bahnstrecke
Posen—Schneidemühl. Außerdem wird ihm
die Pflege des Kirchhofes'gegen ein Entgelt von
600 bis 800 M, jährlich zugesichert. Es ist
ferner eine Wirtschaft von einem evangelischen
Deutschen bei Budsin an der Chaussee käuf¬
lich. Die Wirtschaft ist etwa 300 Morgen
groß und der Morgen kommt auf etwa
800 Mark zu stehen, — Schließlich ist eine
180 Morgen große Wirtschaft, 7 Kilometer
von der Stadt entfernt, zum Preise von
118000 Mark zu erwerben. In diesen Sachen
wollen sich Reflektanten durch die Redaktion
des „Przewodnik Katolicki" an den Unter¬
zeichneten wenden. Geistlicher Stachowiak,
Budsin, Bezirk Vromberg."
Die Warschauer Polcnpartcic» und die
polnische Frage. In einem Warschauer Brief
der Krakauer „Nowa Nefonna" (Ur. 386 vom
4. September 1918) heißt es: „Was aber die
Lösung der polnischen Frage selbst anbelangt,
so überwiegt im nationalen Zentrum und im
Schoße der polnischen Demokratie folgende
Meinung: die österreichisch-Polnische Lösung
wäre von allen gegenwärtig möglichen Lösungen
bei der gegenwärtig Politischen .Konjunktur
unzweifelhaft die beste. Jedoch steht ihr der
entschiedene Widerstand Deutschlands im Wege
und macht sie Problematisch. Der Widerstand
gegen diese Lösung ist gegenwärtig weit größer
als vor einem Jahre, ja sogar als vor einem
halben Jahre. Aus diesem Grunde ist ein
weiteres Festhalten an dieser Lösung für uns
gewagt und zwar aus folgenden Gründen:
1. wir haben keine Gewißheit, ja nicht ein¬
mal dieWahrscheinlichkeit, daß sich dieseLösung
später durchführen ließe; 2. es könnte uns
eine andere Lösung, die zwar weniger
günstig ist, aber immerhin unserem Volke
neue Aussichten der Entwicklung bietet, un¬
möglich gemacht werden.
Die Deutschen halten daran fest, daß sie
im Falle der österreichisch-polnischen Lösung
einige Westkreise des Königreichs ihrem Staate
einverleiben werden. Bei einer anderen Kom¬
bination hingegen werden sie im Westen
nichts vom Königreich wegnehmen und als
Austausch für vier Kreise des Gouvernements
Suwalki sind sie bereit, das Gouvernement
Grodno und vielleicht noch etwas mehr an
das Königreich abzutreten.
Außerdem versprechen die Deutschen im
Falle dieser zweiten Lösung, mit der Berufung
des Erzherzogs Karl Stephan auf den Thron,
uns die Verwaltung zu übergeben, die beiden
Okkupationen aufzuheben, sich selbst nur die
militärische Oberaufsicht vorzubehalten und
sich mit der Ausstellung eines Polnischen Heeres
von einigen zehntausend Mann einverstanden
zu erklären.
Durch die zweite Lösung der Polnischen
Frage würde also der Bau des Polnischen
Staates bedeutend vorwärts gebracht werden.
DaS Königreich würde seine Westgrenze be¬
halten und seine Ostgrenze weiter vorschieben.
Alles dies würde-schon vor Beendigung des
gegenwärtigen Krieges geschehen, wodurch
unsere Stellung bei den allgemeinen Friedens-
verhandlungen bedeutend gestärkt Werden
würde.
Die Ablehnung dieser Vorschläge würde
uns noch nicht die Sicherheit gewähren, später
eine Lösung im Polnisch-österreichischen Sinne
zu erlangen. Natürlich würde das Verbleiben
Galiziens außerhalb des Polnischen Staates
mit großem Schaden für das Volk verknüpft
sein. Es entsteht aber die Frage, wie die
von deutscher Seite gemachten Schwierigkeiten
zu überwinden Wären. Gegen diese zweite
Lösung erklärt sich die Liga des Polnischen
Staatswesens, die damit rechnet, daß in
einem Jahre die Deutschen in der Ange¬
legenheit des Polnischen Staates nichts mehr
zu sagen haben werden.
Ein Teil der Mitglieder des zwischen-
parleilichen Klubs spricht sich gegenwärtig,
wenn auch zunächst leise, für die österreichisch-
Polnische Lösung aus. Dies ist jedoch durch-
aus kein 'Zeichen irgendeiner. Ernüchterung
oder einer erwünschten Moinungsänderung
auch nur eines Teiles scincrMitglieder, son¬
dern es verrät nur den Wunsch, die Ver¬
ständigung zwischen ^dem Königreich Polen
und Deutschland zu tierhindern/'
Zur österreichisch - polnischen Lösung
schreibt Studnicki im „Warschauer Goniec"
(Ur, 231 vom 7. September 1918): „Die
Anhänger einer österreichisch-Polnischen Lösung
beginnen unter dem Vorwand der Verteidi¬
gung der Selbständigkeit zu behaupten, dech
der Wille des polnischen Volkes in einem
Entschluß des Landtages zum Ausdruck
kommen muß. Die Anhänger der Entente
stimmen darin überein. Nach dem Landtag
rufen alle diejenigen, die nicht wollen, daß
der Aufbau des Staates vorwärts schreitet,
daß wir ein für die äußere Politik so be¬
deutsames Organ, wie es der eigene König
ist, erlangen. Sie rufen nach dem Landtag
zwecks Wahl des Königs, wie sie nach dem
Landtag zwecks Bildung der Armee gerufen
haben, da sie wissen, daß der Landtag eine
Unmöglichkeit ist. Für die österreichische
Lösung treten einige österreichische Agenten
in unserem Lande ein,' einige Freimaurer,
die eigentlich nicht die österreichische Lösung,
sondern eine Obstruktion im Aufbau des
Polnischen Staates wünschen und sich der
österreichischen Lösung als einer obstruktiven
Idee bedienen, während es im Grunde
Agenten der Entente sind. Ich gehöre selbst
zu den aufrichtigen Freunden Österreich-Un¬
garns, ich muß'jedoch Politische Erscheinungen
vom Standpunkt unserer und nicht öster¬
reichischer Interessen beurteilen. Im ge¬
meinsamen Interesse wäre ich froh gewesen,
wenn die obstruktive Idee einer Polnisch-
österreichischen Lösung so bald wie möglich
von der Tagesordnung verschwände."
, Der „Kurjer Polski", Warschau Ur. 212
vom 6. September ISIS schreibt »meer der
Überschrift „Verständigung mit Galizien":
„Krakau befürchtete, daß der Aufenthalt des
Prinzen Radziwill im Hauptquartier der
Anfang einer Politischen Aktion werden
könnte, die in ihrem weiteren Verlauf mit
Galizien nicht rechnen würde. . . Nach den
ausführlichen Unterredungen in Kraknu wird
bereits sicherlich keine Grundlage für Auf¬
regungen und Beunruhigungen vorhanden
sein. . . Die Politik der polnischen Negie¬
rung muß den Umstand.'berücksichtigen, daß
alles, was im Interesse des Königreichs
unternommen werden würde, in gewichtiger
Weiss auf die Lage Galiziens zurückwirken
wird. Ohne vorherige Lösung der Frage:
Was wird dann mit Galizien? kann nichts
hinsichtlich des Königreichs unternommen
werden ... Es ist Vom polnischen Gesichts¬
punkt aus also nicht richtig, das zu trennen,
was politisch eng miteinander verbunden ist.
Diese richtigen Ausführungen wurden von
der polnischen Regierung nicht in Betracht
gezogen, und, wie wir sehen, blieb die Ver¬
ständigung zwischen den leitenden politischen
Faktoren des Königreichs und Galiziens
völlig erhalten. . . Die Verständigung
zwischen Galizien und dem Königreich muß
heute andere Formen haben wie damals,
als das oberste Nationalkomitee rin den
politischen Gruppen im Königreich sich ver¬
ständigte. Die Polnische Regierung ist ein
Fall»r, dem schon jetzt eine selbständige und
überwiegende Rolle zufällt. . . In Krakau
wird sicherlich gegenwärtig gern verstanden
werden, daß von feiten der Vertreter der
königlich-Polnischen Regierung keine allzu ge¬
wagten Schritte auf eigene Faust und eigene
Verantwortung zu befürchten sind, die weder
diese Meinungen im Königreich, noch die
Ansichten Galizien! berücksichtigen."
Eine neue Verschwörung wurde nach dem
„Krakauer Naprzod" lNr. 194 vom 4. Sep¬
tember 1918) in Warschau entdeckt: „Die
Warschauer Miliz hat eine Verschwörung
gegen den Geistlichen Chelmicki aufgedeckt.
Der Hauptorgqnisator war der berüchtigte
Dieb und Sekretär des Ministers Dr. Chodzko
^ Joseph Jadczyk, der Held der letzten
Diebesaffären im Ministerium für öffentliche
Gesundheitspflege und in der Kontrollstelle
für Bäckereien beim Magistrat in Warschau.
Jadczyk organisierte eine Verschwörung, be¬
stehend aus 6 Personen, die den von radi¬
kalen Aktivisten gehaßten Prälaten Chelmicki
erschießen 'sollten. Zum Zwecke der Ver¬
schwörung gegen den Geistlichen Chelmicki
waren 1V0S0 M. ausgesetzt."
Neulichchat im Abgeordneten¬
hause eine Versammlung stattgefunden, die ver¬
anstaltet war von dem Verein „Auslandskunde"
und derenThema „DerVölkerbund" war. Die
Versammlung ist trotz guter Vorbereitung
schließlich an der Ungunst der Zeitumstände
verunglückt. Sie hätte einen Gedanken wirk¬
sam und Propagandistisch ins Volk tragen
können, der in den kommenden Jahrzehnten
die Nationen beherrschen wird, statt dessen
brachte sie uns konfusen Meinungsaustausch.
Abwechselnd, sprach ein Redner für den Völker¬
bund, der nächste dagegen. Am vernünftigsten
sprach eine Dame, die ausgezischt wurde,, als
sie den Vorschlag machte, daß Deutschland
dem idealistischen Gedanken des Völkerbundes
die wahre Gestaltung und innere Durch¬
bildung geben möchte, die notwendig ist,
wenn etwas aus der Idee werden soll.
Wir haben inzwischen die große Rede von
Wilson vom 27. September gelesen, außer¬
dem uns bekannt gemacht mit demi Re-
gicrungsprogramm unserer eigenen Neichs-
tagsmehrheit, die den Völkerbund als Pro¬
grammpunkt mit aufgenommen hat. Die
Frage ist ins Rollen gekommen. Es wäre
klug, mit dieser Tatsache zu rechnen.
Wilsons Worte siud gewiß für einen
Deutschen nicht angenehm zu hören, er
denkt — wie er selbst sagt — an den Tod
der durch die deutschen U-Boote versenkten
Amerikaner, er spricht zu Amerikanern, denen
er erklären muß, weshalb Amerika in den
Krieg gegangen ist. Ja dieser Beziehung
kann er Deutschland gegenüber nicht un¬
parteiisch sein.
Aber ist nicht das, was er über den
Völkerbund als Kriegsziel Amerikas sagt,
objektiv wirklich edel, gerecht und gut? Und
wäre es nicht ein Segen für die Menschheit,
wenn diese fünf Punkte verwirklicht werden
könnten?
Ist in ihnen irgend etwas enthalten, was
Wir nicht akzeptieren können, wenn alle an¬
deren Völker sie annehmen?
Ihr werdet entgegnen, Wilson ist ein
Heuchler. Er meint das Gegenteil vom dem,
was er sagt. Nun, dann wollen wir doch
die Probe machen und es den Engländern
und' Franzosen überlassen, die Wilsonschen
Völkerbundideale anzugreifen, die vielen
unserer Feinde, ebenso wie vielen Leuten bei
uns, ein böser Traum dünken. Da die ganze
Welt übergenug hat vom Imperialismus, so
werden sie nicht weit kommen mit dieser
negativen'.Politik.
Und nun die Einwirkung der Völkerbund¬
idee auf den Frieden.
Ist sie, wie Erzberger sagt, der „Weg
zum Frieden", oder wird sie, wie Wilson
sagt, die „Folge des Friedens" sein?
Das müssen die nächste<Tage und Wochen
zeigen.
Wir wollen einen Völkerbund als Weg
und als Folge. Uns nutzt ein Völkerbund
nichts mehr, wenn wir selbst als Nation tot¬
geschlagen sind.
Weist Wilson unser Friedensanerbieten
zurück oder stellt uns Bedingungen, die uns
nur ein ehrloses Leben.'ermöglichen würden,
so haben wir die Probe aufs Exempel. Dann
wissenlwir auch, was hinter den Völkerbund¬
ideen steckt. Dann wissen aber auch die Völker
unserer Feinde, l,daß sie nicht für Ideale,
sondern für Imperialismus und Geldsackpolitik
kämpfen.
Wilson hat an Washingtons
Worte von den „verstrickenden Verträgen"
erinnert. Er will das Vermächtnis des großen
Nationalhelden für die amerikanische Nation
aufrechterhalte». Er will auch Europa von
den Bündnissen kurieren.
Bündnisse haben in der Tat diesen Krieg
vorbereitet. Daran ist kein! Zweifel. Es ist
nachgewiesen, daß der csuLnemar ach ooa-
litions Bismarck zu dem Abschluß der deutsch¬
österreichischen Vereinbarung geführt hat. Der
Zwischenfall von 187S war, wie Baron Rosen,
der frühere russische Botschafter in Washington
und Tokio gesagt hat, „die künstlich herbei¬
geführte und inszenierte politische Intrige,
die die freundschaftlichen Beziehungen zwischen
Deutschland und Rußland stören sollte." Die
Störung trat ein. Damit kam die Belebung
der Revancheidee in Frankreich, der Abschluß
des französisch-russischenBündnisses,derwieder-
um zum Abschluß deS Dreibundvcrtragcs
führte. Die Unruhe in Europa hörte nicht
mehr auf.
wenn sie, wie bei Frankreich, heimliche Kriegs¬
hoffnungen in sich schließen.
Die größte Gefahr für Europa war der
Eintritt Englands in den Bündnisring unserer
Gegner. Damit wurde die „Balance der
Mächte" hergestellt, die Kant vergleicht mit
dem Swistschen Haus, „welches von einem
Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen
des Gleichgewichts gebaut war, daß, als sich
ein Sperling darauf setzte, es sofort einfiel".
Serbien war dieser Sperling.
Die Defensivbündnisse „zur Erhaltung des
Friedens" waren zur Gefahr für den Frieden
geworden.
haben, werden sie aber gefährlich, namentlich
Dieses merkwürdige, ohne Zweifel gehaltvolle und doch in seiner ideellen
Tragweite heute noch nicht recht wägbare Buch gibt sich als Auftakt einer Folge
von Werken, die unter dem Gesamttitel „Die Freiheit des Menschen" zusammen¬
gefaßt sind und nicht mehr und nicht weniger als eine völlige Neuorientierung
der europäischen Kultur versuchen. Die Skepsis, die solch gruudstürzendem An¬
rennen Wider den sicheren Gaug unseres Europäismus entgegensteht, wird durch
die Tiefenschicht gemildert, in der der Verfasser seine Erörterung führt. Der
vorliegende erste Band gibt im wesentlichen einen Aufriß der 'außerdeutschen
Voraussetzungen der gegenwärtigen europäischen Krisis, der zweite' Band, das
.Jahrhundert des dcuisclien Geistes", soll den geistiqen Zerfall Europas an der
deutschen Geistesentwicklung von 1750—1850 aufweisen. Die Grundthese ist,
daß die europäische Kultur rettungslos der Zersetzung verfallen ist und mit
eignen Mitteln keinen Ausweg aus ihr findet. Als Heilmittel wird eine Rezeption
altorientalischen, vor allem indischen und chinesischen Geisteserbes verkündet.
Zu einer solchen umfassenden Kulturtheorie läßt sich nicht in den wenigen
Worten einer literarischen Anzeige Stellung nehmen. Auch wird ein abschließen¬
des Urteil erst beim Vorliegen der weiteren Bände möglich sein. Soviel kann
jedenfalls schon jetzt gesagt werden, daß ein Eingehen auch auf die abseitigen
Gedankengänge dieses Buches selbst sür den von reichem Ertrag sein wird, der sich
die Grundthese selber nicht zu eigeU machen kann. Schließlich find ja auch
Diagnose und Therapie einigermaßen unabhängig voneinander. Für die Analyse
der europäischen Kulturkrise gibt Pannwitz ohne Zweifel einen Beitrag von so
hohen: geistiglein Range, daß man an dieser denkerischen Leistung in Zukunft nicht
wird Vorbeigehen können.
Eine merkwürdige zeitgeschichtliche Bedeutsamkeit erwächst seinem Buche
aus seiner entschlossenen geistig-antienglischen Orientierung. Im überwuchern
englischen Geistes sieht er das eigentliche Zerfallssymptom in: modernen Europa.
Indem er Napoleon als letztes fundamental antienglisches Phänomen des Fest¬
landes, als letzten vergeblichen Versuch der wirklichen Überwindung der Eng-
länderei auffaßt, gewinnt er vor allem zu der deutschen Politik seit den
Befreiungskriegen, die auf den Sieg über Napoleon aufbaut, ein durchaus
negatives Verhältnis. Pannwitz glaubt im Gegensatz zu der bei uus seit Lessing
herrschenden Meinung an die französische Klassik und zeigt in geistvoller Analyse
deren Parallelismus mit der griechischen Klassik auf/") Auch die Aufklärung
Voltaires kommt bei ihm wieder zu hohen Ehren, in Rousseau dagegen sieht er '
den eigentlichen Krebsschaden der Moderne. Innerhalb der englischen Entwicklung
steigt bei ihm gegenüber der allgemeinen Schätzung Bacon!im Wert, während
Shakespeares barbarischer Naturalismus stärker relativiert wird. In der heutigen
gemeineuropäischen Engländerei sieht er einen Prozeß der Verdummung und
Aufweichung des Europäismus. „Der Weltgeist ist englisch geworden und steht
^- im Vorbeigehen amerikanisch werdend — im Begriffe deutsch zu werden. Er
wird zuletzt japanisch werden oder im günstigen Falle vorher aus eine
napoleonische Galgenfrist russisch."'
Schon diese kurzen Hinweise auf den Inhalt dieses in der Anlage wenig
übersichtlichen, jedoch an Einzelanalhsen, Ausblicken und theoretischen Einsichten
überreichen Buches, in den: ein ungemein weit ausgreifender geistesgeschichtlicher
Stoss durchweg eigenwüchsig und mit großer geistiger Strenge verarbeitet ist,
lassen einen wertvollen Enrag zum mindesten an Anregung von seiner Lektüre
erwarten. Pannwitz steht deutlich unter dem Einfluß der Nietzsebeschen Kultur-
kritik und ist auch in seiner Sprach formung von ihm entscheidend beeinflußt.
Leider wird der Zugang zu seinen auch sprachlich bedeutenden Ausführungen
durch die vom Georgekreise übernommene leidige Unart stark versperrt, durchweg
mit kleinen Anfangsbuchstaben zu schreiben und auf Interpunktion fast ganz zu
verzichten. Bei einem minder wertvollen Schriftwerk könnte man auf diese
technischen Fußangeln mit Nichtbeachtung der Arbeit antworten, hier fordert und
lohnt der. sachliche Ertrag den Kampf mit den drucktechnischen Ausgeburten
f
Ludwig Rieß hat sich der schwierigen aber überaus dankenswerten Aufgabe
unterzogen, die in weiten Kreisen beliebte Weltgeschichte Georg Webers nach
modernen Gesichtspunkten völlig umzuarbeiten und ihr dadurch neues Leben ein¬
zuhauchen. Rieß sucht das gesamte für die heutige Kulturwelt wichtige Leben
der Vergangenheit zu erfassen und gibt die vielfach verlangte synchronische Über¬
sicht der welthistorischen Ereignisse. Dadurch wird die Wechselwirkung dessen, was
die Menschheit gleichzeitig und in der Zeitfolge erlebt und geleistet hat, klar
herausgearbeitet und.das Allgemeine des geschichtlichen Lebens, unbeschadet natio¬
naler oder individueller Eigenart dem Verständnis erschlossen. Es ist selbstver¬
ständlich, daß jeder Gebildete an d.er Klarheit, Treue und Vollständigkeit des Ab¬
bildes des gesamten Lebens der Vergangenheit, das nicht nur aus internationalen
Verwicklungen und Kulturübertragungen besteht, sondern mich der Produktion
einzelner, namentlich genialer Persönlichkeiten, aber auch dem Alltag und dem
Wirken gewisser Naturerscheinungen Rechnung trägt, reges Interesse hat. Wir
möchten uns vorläufig damit begnügen, unsere Leser auf das Erscheinen des ersten
Bandes des anvertrauten und doch völlig neuartigen Buches hinzuweisen und
eine ausführlichere Würdigung einem späteren Zeitpunkt vorbehalten.
Allen Manuskripten ist Porto hinzufüge», du rmdernfnilö bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
ußer dem deutsch-englischen Gegensatze, der zum Weltkriege geführt
hat, beherrscht noch ein zweiter weltpolitischer Gegensatz die Be¬
ziehungen de>r Staatenwelt, es ist der zwischen der weißen und der
gelben Nasse um die Herrschaft über das größte Weltmeer, den
Stillen Ozean. Als die staatliche Vertretung beider Rassen ringen
Japan und die Vereinigten Staaten um die Zukunft der Welt.
Es bleibt einer der schwersten Fehler deutscher Politik, sich diesen Gegensatz während
des Weltkrieges nicht nutzbar gemacht, sondern beide Staaten in das Lager unserer
Feinde getrieben zu haben.
Wider aller Erwarten schlug sich Japan, sich auf das für diesen Fall gar
nicht zutreffende Bündnis mit England berufend, beim Beginne des Weltkrieges
auf die Seite unserer Feinde. Die deutsche Entrüstung über diesen Überfall war
begreiflich. Doch mit sittlicher Entrüstung macht man keine Politik. Tsingtau
war von Anfang an ein verlorener Posten, und der Kampf seiner kleinen Besatzung
mit deu wenigen deutschen Schiffen eine nutzlose Aufopferung. Während wir sonst
mannigfach vor dem Auslande zurückweichen, hätte hier eine Nachgiebigkeit, wenn
auch schweren Herzen- geübt, doch nur geopfert, was ohnehin nicht zu halte»
war. Dafür hätten wir die ostasiatische Großmacht in der Neutralität erhalten,
vielleicht auch noch eine Entschädigung herausgeschlagen. Es war aber noch ein
anderer Weg möglich, die Ausnutzung des amerikanisch-japanischen Gegensatzes,
zumal das amerikanische Interesse damals noch für keinen der kriegführenden Teile
in Anspruch genommen war. Ich telegraphierte damals nach Stellung des japa¬
nischen Ultimatums an den Stellvertreter des Reichskanzlers: „Raten Sie Seiner
Majestät, Kiautschou an die Vereinigten Staaten abzutreten". Damit war die
Forderung Japans, im Interesse des Friedens des fernen Ostens unsere Streit-
tröste aus Ostasien zurückzuziehen, erfüllt. Amerika andererseits hätte mit Freuden
die Gelegenheit benutzt, an der chinesischen Küste festen Fuß zu fassen. Der ame-
rikanisch-japanische Gegensatz war jedenfalls so verschärft daß beide Staaten keine
Zeit gehabt hätten, sich auch nur mit Munitionslieferungen um den europäischen
Krieg zu kümmern. Statt dessen wurde unsere Heldenschar in Tsingtau nutzlos
geopfert. .Auf mein Telegramm habe ich keinerlei Antwort bekommen.
, Damit wurde zunächst Japan eine feindliche Macht. Wenn sie uns auch
außer dem Verluste von Tsingtau nicht viel weiter kriegerisch geschadet hat, so
gewann doch Japan freie Hand, durch Munitionslieferungen und anderweitig die
Entente zu unterstützen.
Wilson hatte damals noch keinen anderen Ehrgeiz, als dermaleinst als
Schiedsrichter der Welt den Frieden zu vermitteln. An eine offene Feindschaft
gegen Deutschland oder gar an eine Teilnahme am europäischen Kriege dachte
damals in Amerika kein Mensch.
Inzwischen gaben sich die Amerikaner, da sie anderweitig nicht beschäftigt
waren, der bei ihnen mit Recht so beliebten Tätigkeit deS Klone^ UaKinZ hin.
Sie hätten gern für beide Teile Kriegsmaterial geliefert, da auf diese Weise noch
viel mehr zu verdienen gewesen wäre. Leider war zu den Mittemächten der Weg
versperrt. Während Wilson noch kurz zuvor im mexikanischen Bürgerkriege Waffen¬
lieferungen im Interesse der Neutralität verboten hatte, mußte er nunmehr mit
den Trustmagnaten rechnen, die eben Geld verdienen wollten. In Deutschland
wurde den Amerikanern diese einseitige Ohnseitigkeit sehr verübelt. Und Wilson
selbst empfand sie wegen der von ihm erhofften schiedsrichterlichen Stellung un¬
angenehm. In jener Zeit war ein Freund Wilsons bei mir, um auch nach meiner
Ansicht zu fragen, ob das deutsche Volk sich nicht trotzdem noch die Friedens¬
vermittlung des Präsidenten der Vereinigten Staaten als des Oberhauptes der
einzigen großen neutralen Macht gefallen lassen würde. Ich konnte ihm aller¬
dings in dieser Hinsicht mein Bedenken nicht verhehlen und empfahl dringend
Einstellung der Kriegslieferungen. Dazu fehlte Wilson gegenüber dem amerika¬
nischen Kapitalismus augenscheinlich die Macht. Aber man sieht doch, daß von
einer grundsätzlichen Feindschaft gegen Deutschland keine Rede war. Inzwischen
steckte Amerika immer mehr Geld in das Ententeunternehmen. Damit legten sich
die amerikanischen Interessen auch immer mehr auf die Ententeseite. Denn es
ist ein altes Wort: „Wo dein Geld ist, da ist auch dein Herz."
Amerika hatte jedenfalls durch die Unterlassungen unserer Diplomatie volle
Freiheit erhalten, sich den europäischen Händeln zu widmen. Andererseits war
die Entwicklung einer starken Rüstungsindustrie auch vom amerikanischen Stand¬
punkt als ein Vorteil zu betrachten. Konnte man sie doch, wenn der europäische
Krieg zu Ende war, ohne weiteres als eine geeignete Grundlage benutzen für die
drohende Auseinandersetzung mit Japan.
Der uneingeschränkte Unterseebootkrieg bot dann für Amerika zwar nicht
den inneren prumb, aber den äußeren Anlaß zum Eintritts in den Weltkrieg.
Auch hier handelte unsere Diplomatie mit unbegreiflich er Kurzsichtigkeit. So lange
Wilson noch vor der Wiederwahl stand und gewiß keinen Krieg erklärt hätte, da
er nur als Friedenspräsident gewählt werden konnte, wich man vor dem ameri¬
kanischen Widerspruche zurück. Als er aber wiedergewählt war und keinerlei Rück¬
sichten mehr zu nehmen hatte, erklärte man den unbeschränkten Unterseebootkrieg
und bot damit die erwünschte Veranlassung zum Kriege.
Und nun soll ein Völkerbund, der Lieblingsgedanke des Präsidenten Wilson,
allen künftigen Kriegen vorbeugen.
Es ist menschlich begreiflich, daß man nach dem Elende eines Jahre langen
Weltkrieges nach Mitteln und Wegen sucht, künftig ähnliches Unheil von der
Menschheit sern zu halten. Tatsächlich läßt jeder große Krieg eine hochgradige
politische Spannung zurück, und, wenn wir eine gewisse Gewähr für eine längere
Friedensdauer erhoffen könnten, so wäre es bis auf weiteres nur die allgemeine
Erschöpfung der kriegführenden Völker. Doch man sucht nach einer größeren
Sicherheit und glaubt diese verheißen zu können in dem allgemeinen Völkerbunde,
der sich gegen jeden künftigen Friedensbrecher mit der gesamten Macht der im
Völkerbunde geeinten Menschheit wenden soll.
Lassen wir zunächst einmal die Sicherheit dieser Gewähr dahingestellt. Ge¬
wiß ist, daß der Völkerbund auch für die Zukunft Kriege nicht aus der Welt
schafft, ja daß sich an den jetzigen Weltkrieg unmittelbar der um die Herrschaft
des Stillen Ozeans anschließen muß. Der amerikanisch-japanische Gegensatz wird
vorläufig nur künstlich verdeckt dadurch, daß beide Mächte, nicht ohne unsere
Schuld, widernatürlich in dasselbe Bündnis hineingezwängt sind.
Weshalb hat Amerika sich überhaupt am Kriege beteiligt, der den alten
Überlieferungen der Monroe-Lehre und der eingewurzelten Gegnerschaft der Ver¬
einigten Staaten zu England so schnurstracks zuwiderlief?
Darüber, daß die sittliche Entrüstung über den uneingeschränkten Untersee-
bootkrieg nicht der Grund war, ist kein Wort weiter zu verlieren. Hätte Deutsch¬
land zum zweiten Male aus dieses Kampfmittel verzichtet, so wäre dadurch der
Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg nicht vermieden worden, eS
hätte sich dann aber irgendein anderer Anlaß finden müssen.
Der Umstand, daß Amerika mit Kriegslieferungen soviel Geld in daS
Entente-Unternehmen gesteckt hatte, war schon von größerer Bedeutung. Amerika
konnte deshalb die vollständige Niederlage der Entente nicht dulden, obgleich die
Niederlage noch nicht ohne weitere» die Zahlungsunfähigkeit nach sich gezogen
hätte. Hier hätte vielleicht die anfang» so ersehnte schied»richterliche Stellung
beim Friedensschlüsse ausgereicht.
Allein der entscheidende Grund war der künftige Krieg mit Japan, dessen
Wolken schon lange drohend am Himmel stehen.
Einmal verpflichteten die Vereinigten Staaten durch ihre Kriegsbeteiligung
sich England zu Dank. Sie dürften künftig auf Gegenleistungen hoffen, freilich
nicht um der politischen Dankbarkeit willen, die nicht zu den irdischen Tugenden
gehört, sondern wegen der eigenen englischen Interessen.
Vor allem aber gab die Teilnahme am Weltkriege den Vereinigten Staaten
die Rechtfertigung zu einer gewaltigen Heeresrüstung, die sie sonst nicht unbehindert
von ihrem Gegner hätten durchführen können und zu einer kriegerischen Aus-
bildung dieses Heeres. Amerika hatte sich zwar eine bedeutende Kriegsflotte zu¬
gelegt, aber es war zu Lande fast wehrlos. Wie sollte es bei der Gegnerschaft
der Demokratie gegen den Militarismus die plötzliche Aufstellung eine» Millionen¬
heeres rechtfertigen? Japan hätte auch nie abgewartet, bis Amerika mit seiner
Rüstung fertig gewesen wäre. Hier bot die. Teilnahme am Weltkriege im Bunde
mit Japan alles, waS man bedürfte. Amerika wird am Schlüsse des Weltkrieges
über ein Millionenheer in allerbester Ausrüstung verfügen.
Andererseits hat Japan allen Verlockungen, sein Heer auf den europäischen
Kriegsschauplatz zu schicken und damit aus der Hand zu geben, klug widerstanden.
Die Gegenleistungen, die ihm dafür geboten wurden, europäische Besitzungen in
Hinter-Asien, kann es ohnehin jeden Augenblick haben, wenn es nur will. Mit
der Einnahme Tsingtaus war die Teilnahme Japans am Kriege im wesentlichen
beendigt. Dagegen rüstet Japan bis aufs Messer, hat noch neuerdings sein Land¬
heer ganz erheblich vermehrt. Gegen wen? Ganz gewiß nicht zum Eingreifen
in den europäischen Krieg. Und für seine weiteren hinterasiatischen Pläne war
seine bisherige Wehrmacht mehr als ausreichend.
Amerika und Japan tun beide dasselbe, nur jede der beiden Mächte auf
ihre besondere Art.
Damit spitzen sich die Gegensätze von selbst zu, so daß sich der Ausbruch des
neuen Weltkrieges im Anschlusse an die Beendigung des alten mit fast mathematischer
Genauigkeit berechnen läßt.
Das japanische Interesse verbietet es, in den europäischen Krieg einzugreifen
oder auch andererseits während dessen Dauer den Krieg mit seinem bisherigen
amerikanischen Bundesgenossen zu beginnen. Insofern war trotz der Interessen¬
gemeinschaft, die sich über kurz oder lang zwischen Deutschland und Japan heraus¬
stellen wird, der Anbiederungsversuch unserer Diplomatie über Mexiko mit Japan
nicht nur äußerlich verfrüht, sondern auch innerlich verfehlt. Die klugen Japaner
hüten sich selbstverständlich, für uns die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Japan
-hat das größte Interesse daran, daß der europäische Krieg recht lange dauert, und
Amerika möglichst viele Truppen über den Atlantischen Ozean schickt. Es darf aber
andererseits nicht abwarten, bis diese Truppen nach Amerika zurückkehren, sondern
muß sofort mit Beendigung des europäischen Krieges gegen Amerika losschlagen.
Andererseits hat aber auch Amerika keine Zeit zum Warten. Es wird mit
Beendigung des europäischen Krieges ein vortrefflich ausgerüstetes und kriegsgeübtes
Millionenheer besitzen. Dieses kann es aber nicht unbeschränkte Zeit unter Waffen
halten, zumal wenn es anderen Bekämpfung des Militarismus und Abrüstung
predigt. Die Waffe muß sofort gebraucht werden, auch Amerika hat keinen Augen¬
blick länger Zeit zu warten.
Damit ergibt sich ohne weiteres, daß mit Beendigung des europäischen Krieges
die Angriffe Japans und Amerikas wechselseitig aufeinanderstoßen. Man wird sich
auch hier mit Gründen und Gegengründen über die Schuld am Kriege streiten.
Aber der Ausbruch des neuen Krieges folgt aus dem Zusammenpralle der politischen
Gegensätze mit der Selbstverständlichkeit eines Naturereignisses.
Der neue Weltkrieg muß noch einen gewaltigeren Umfang annehmen als der
alte. Handelt es sich doch auch um noch viel tiefer greifende Gegensätze der Rasse
und der Wirtschaft. Denn darüber muß die weltgeschichtliche Entscheidung fallen,
ob die Zukunft des größten Weltmeeres der gelben oder der weißen Rasse gehören
soll. Dem gewaltigen Umfange des Kampfes entsprechen denn auch die schon er¬
kennbaren Vorbereitungen beider Teile.
Japan hat die Beschäftigung der weißen Völker in Europa dazu benutzt, um
sich China und die ostsibirischen Küsten zu unterwerfen. Es verfügt damit, obwohl
im wesentlichen allein stehend, über die unermeßlichsten Menschenmassen der Erde.
Amerika auf der anderen Seite darf auf die englische Bundesgenossenschaft
rechnen. Denn das englisch-japanische Bündnis hat längst seine politische Schuldig¬
keit getan. Die englischen Ansiedler in Kanada und Australien sehen die Zukunft
der weißen Rasse in ihren Ländern gefährdet und würden einfach zu den Vereinigten
Staaten abfallen, wenn das Mutterland ihren Interessen nicht Rechnung trüge.
Für England selbst ist der alte Bundesgenosse längst zu übermächtig geworden und
droht die englische See- und Handelsherrschaft vom Stillen Ozean zu verdrängen.
Der Bund Englands mit Amerika gegen Japan entspricht also nicht nur der Pflicht
der politischen Dankbarkeit, auf die nicht viel zu geben ist, sondern den ureigensten
englischen Interessen.
Das zweite gewaltige Kampfmittel Amerikas gegen Japan ist aber der ge¬
plante Völkerbund, der erst in diesem Zusammenhange seine Bedeutung und richtige
Beleuchtung gewinnt.
In der Tat eine «eigentümliche Ironie des Schicksals ein Völkerbund zur
künftigen dauernden Verhütung von Kriegen gerade in dem Augenblicke, wo man
mit einer an Gewißheit streifenden Wahrscheinlichkeit auf den Ausbruch eines neuen
Weltkrieges rechnen muß. Alle Mitglieder des Völkerbundes sollen sich gemeinsam
gegen den frevelhaften Friedensbrecher wenden. Nun, eine geschickte angelsächsische
Diplomatie wird dafür sorgen, daß Japan als der Friedensbrecher erscheint, während
die frommen Amerikaner und Engländer bekanntlich kein Wässerchen trüben. Dann
ist gleich ein gewaltiger Bund unter amerikanisch englischer Führung — denn England
ist jetzt in das zweite Treffen gerücktbeisammen, um den Frevler zur verdienten.
Verantwortung zu ziehen. Andererseits werden sich die Japaner aus dem angel¬
sächsischen Cent herzlich wenig machen, sondern in gewohnter Weise heimtückisch und
hinterlistig losschlagen, wenn es ihnen paßt. Denn die beste Rechtfertigung aller
politischen Handlungen war noch immer der Erfolg.
Der Völkerbund ist im wesentlichen nichts anderes als die bestehende
Organisation des Vielverbandes unter Führung der beiden angelsächsischen Reiche
als dauernde politische Verbindung. Daß daneben alle anderen politischen Bündnisse
als Gefährdung des Friedens aufgehoben werden sollen, ist selbstverständlich. Denn
man darf sich wohl mit England und Amerika, aber nicht gegen sie verbinden.
Die Frage der Sonderbündnisse neben dem allgemeinen Völkerbunde ist aber
ohne wesentliche Bedeutung. Denn gerade der Weltkrieg hat uns gezeigt, wie
hinfällig politische Bündnisse sind. Andererseits sind aber England und Amerika
die hervorragendsten Vorbilder dafür, wie man sich mit anderen Mächten auch
ohne förmliches Bündnis verständigen kann.
Man hat sich vielfach den Kopf darüber zerbrochen, ob und unter welchen
Bedingungen man Deutschland in den künftigen Völkerbund aufnehmen wolle,
ohne vorher danach zu fragen, ob Deutschland eine solche Aufnahme überhaupt
wünscht. Beide Fragen werden sich verhältnismäßig einfach erledigen, wenn
nicht deutscher Uebereifer versucht, dem Gegner in Völkerbundsplänen den Rang
abzulaufen. Kommt überhaupt so etwas wie ein Völkerbund als neue Völker¬
rechtsgemeinschaft zustande, so wird man nicht zögern, zu seiner Verstärkung jeden
Staat aufzunehmen, der überhaupt aufgenommen sein will. Sollte man sich
wider Erwarten gegen eine Aufnahme Deutschlands ablehnend verhalten, so
mögen die Herrschaften unier sich bleiben, Deutschland wird dann eben durch
völkerrechtliche Abreden, denen es nicht beigetreten ist, auch nicht gebunden.
Andererseits hat Deutschland auch keinerlei Interesse, seinen Eintritt in den
Völkerbund abzulehnen. Das würde schon äußerlich den üblen Eindruck erwecken,
als lege Deutschland auf Verhütung künftiger Kriege keinen Wert. Außerdem
wird nur durch diese deutsche Beteiligung der Völkerbund der Gefahr entrückt,
eine rein angelsächsische Kampforganisation zu werden. Wir wollen auch in dem
Völkerbund etwas zu sagen haben.
Bei richtigem Augenmatze für den Wert der Dinge wird man sich daher
auch deutscherseits an den Vorbereitungen für den künftigen Völkerbund eifrig
beteiligen können. Von feiten der Amerikaner wird augenscheinlich Wert darauf
gelegt, daß die Angelegenheit nicht auf die lange Bank geschoben und für künftige
Kongresse aufgespart, sondern gleich mit dem Friedensschlüsse zum Vollzuge ge¬
bracht wird. Denn nur in diesem Falle kann bei dem drohenden Ausbruche des
neuen Weltkrieges der Völkerbund die Aufgaben erfüllen, die ihm im Interesse
der angelsächsischen Weltherrschaft beider Reiche gestellt sind. Eine andere Frage
ist es, ob man ihn deutscherseits diese Ziele erreichen lätzt.
Jedenfalls wird der Völkerbund nicht das sein, was er, nach der Be¬
hauptung seiner geistigen Urheber werden soll. Solche völkerbeglückenden Ideen
verdanken wie die Haager Friedenskonferenz des Kaisers Nikolaus ihre Ent¬
stehung gewöhnlich bestimmten politischen Bedürfnissen. So auch hier. Daß
daneben die völkerrechtliche Entwicklung durch einen allgemeinen Völkerbund ge¬
fördert werden könnte, wäre eine erfreuliche Begleiterscheinung. Brauchen könnte
man es nach dem allgemeinen Niederbruche dessen, was bisher als Völkerrecht
galt. Auch aus diesem Grunde sollte sich Deutschland dem künftigen Völkerbunde
nicht versagen.
>n größerer Zahl, als allgemein bekannt ist und dem an der Ober¬
fläche haftenden Blick kund wird, gibt es unter den Flamen Männer,
die der deutschen Sache geneigt sind und ihr allen Erfolg wünschen,
schon weil sie darin die einzige Rettungsmöglichkeit für das Fla-
mentum sehen. Sie arbeiten gern und willig mit den Deutschen
^zusammen, verkehren mit manchen von ihnen wie mit wahren
Freunden — aber möglichst im Verborgenen hinter verschlossenen TürenI Unter
den deutschfreundlichen Flamen gibt es nur einen ganz verschwindenden Teil, der
es wagt, Freundschaft oder auch nur Bekanntschaft mit uniformierten Deutschen
auf offener Straße durch Zusammengehen oder selbst durch Grußaustausch im
Vorbeigehen zu bekennen.
Männer, die im öffentlichen Leben stehen, vielleicht in der Flamenbewegung
wirken, fürchten ihren Einfluß auf die breiten Massen zu verlieren, wenn sie
als mit Deutschen in freundschaftlichem Verkehr stehend bekannt werden. Männer,
die im innersten Herzen unsere Hoffnungen über den Ausgang des Krieges teilen,
sehen sich aus dem gleichen Grunde gezwungen, in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit
Töne von belgischer Staatsgesinnung anklingen zu lassen, die damit nur schwer
in Einklang zu bringen sind.
Die Macht der Kriegsverhetzung und der gefürchteten schwarzen Listen
ist sehr groß. Es ist eben nicht jedermanns Sache, sich von bisher guten Freunden
den Rücken zudrehen zu lassen oder gar sich in den belgischen Flüchtlingsblättern
und in der Entente-Presse als Landesverräter gebrandmarkt zu sehen. Zumal bei
dem Dunkel, in das immer noch Belgiens Zukunft gehüllt ist.
Nicht weniger als die politische oder auch nur persönliche Anfreundung mit
Deutschen ist auch jegliches wirtschaftliche Arbeiten für die Deutschen, jedes Wirken
in deutschen Betrieben, mögen sie sich in Deutschland oder in Belgien befinden,
der Gegenstand terroristischer Anfeindungen und Verfolgungen. Selbst gegen daS
Bestellen der Acker hat man versucht Stimmung zu machen, weil ein guter Ertrag
der belgischen Landwirtschaft auch uns, zum mindesten indirekt zugute kommen
und Englands AushungerungNbestrebungcn hinderlich sein muß. Doch abgesehen
von der deutschen Aufsicht hat die Selbstsucht der belgischen Bauernbevölkerung
eine so handfeste Gesundheit, daß solchen Bestrebungen von vornherein der Erfolg
versagt sein mußte.
Trotz der vor giftiger Verhetzung und schonungslosem Terrorismus nicht
zurückschreckenden Agitation — der bekannte Streik in den mechelnschen Werk¬
stätten ist dafür bezeichnend —; trotz der nach Friedensschluß allen, die mit
Deutschen in Beziehungen traten, mündlich, schriftlich und gedruckt in der Flücht¬
lingspresse und in den massenhaft verbreiteten Flugblättern angedrohten Rache;,
trotzdem die Möglichkeit der Wiederherstellung deS belgischen Staates wie ein
lähmender Schatten nahenden Unheils auf allem positiven Schaffen in Belgien,
lastet, der schon viele Deutsche nach langjähriger, fruchtbarer Arbeit in die alte
Heimat zurückgescheucht hat und, wenn er wirklich zur Tatsache werden sollte,
noch viel mehr Deutsche und nicht wenige Belgier verscheuchen wird; — trotz
alledem ist es zu einem fruchtbringenden Zusammenarbeiten zwischen Deutschen
und Flamen gekommen auf den verschiedensten Gebieten geistigen und materiellen
Schaffens von der Umwandlung der Genter Universität, der Vervolklichung des
Schulwesens, der Volksaufklärung durch die Presse bis zu dem großen Eisen¬
bahnbau bei Lüttich. dem westfälisch - luxemburgischen Bergbauunternehmen in
Gouvy und der Gewinnung belgischer Arbeitskräfte für die deutsche Industrie.
Die zu Hunderttausenden brachliegenden belgischen Arbeitskräfte wieder zur
Tätigkeit zurückzuführen, ist schon lange Aufgabe des deutschen Jndustriebureaus
gewesen. Nicht nur dem Bahnbau Aachen—Tongern und der westfälischen In¬
dustrie in Gouvy hat es die nötigen belgischen Arbeitskräfte zugeführt, auch für
die Arbeit in Deutschland hat es in frei abgeschlossenen Verträgen Belgier ge¬
worben, die bald nach der Aufnahme seiner Tätigkeit schon nach Zehntausenden
zählten.
Abgesehen von Ausnahmen haben sich die belgischen Arbeiter in Deutsch¬
land wohlgefühlt. Löhne von einer Höhe, die an den Heimatsverhältnissen ge¬
messen geradezu märchenhaft erscheinen, haben stets eine sehr überzeugende Kraft.
Sie ermöglichten selbst bei der herrschenden Teuerung ansehnliche Ersparnisse.
Auch sonst fühlten sich die Belgier in Deutschland im allgemeinen wohl auf¬
gehoben. Viele beschlossen nach dem Kriege dort zu bleiben und ließen Weib und
Kinder nachkommen.
Aber in der belgischen Heimat blieb die terroristische Agitation nicht untätig.
Die freiwillig nach Deutschland gegangenen Arbeiter wurden verschrien als pflicht¬
vergessene, vaterlandslose Leute, als Begünstiger des Feindes, als Landesverräter.
Da man an die „Schuldigen" selber nicht herankonnte, wurden ihre im Lande
zurückgebliebenen Angehörigen Gegenstand planmäßiger Schikanierung, wobei
Gemeinde- und andere belgische Behörden, das Comites National und die Be-
völkerung in edlem Wetteifer zusammenwirkten.
Die Arbeiteranwerbung mußte darunter leiden und zurückgehen. Da kam
die zwangsweise Abtransportierung der Arbeitslosen. Sie war durchaus berechtigt
schon aus militärischen Gründen: einer im schwersten Kampfe liegenden Armee
darf nun und nimmer zugemutet werden, daß sie in ihrem Rücken unmittelbar
hinter der Front eine Bevölkerung von vielen Hunderttausenden feindlich gesinnten,
waffenfähigen Arbeitslosen verweilen läßt. Außerdem noch aus wirtschaftlichen
und moralischen Gründen: eine Arbeitslosigkeit breiter Volksmassen, die sich schon
über Jahre erstreckt hat und deren Dauer noch unabsehbar ist, hat unvermeidlich
die schwersten sittlichen Schäden für die Gesamtheit d«r Bevölkerung im Gefolge.
Die besetzende Macht hat einfach die Pflicht, demi nach Möglichkeit zu steuern,
wie sie auch die Pflicht gehabt und ausgeübt hat, die Gesundheit der Besatzungs¬
truppen zu bewahren, indem sie eine scharfe Sittenpolizei durchführte und damit
einem aus belgischer Zeit stammenden Übel gründlich zuleide rückte. Wer durch
öffentliche Mittel erhalten wird, hat auch die Pflicht, für die Allgemeinheit zu
arbeiten. Weigert er sich, so kann und muß er gezwungen werden. Ist in Belgien
keine Arbeitsmöglichkeit, so in Deutschland desto mehr.
Die Abtransportierungen sind im allgemeinen ruhig vor sich gegangen. Viele
Arbeiter, die wegen des Terrorismus nicht wagten, sich freiwillig anwerben zu
lassen, waren zufrieden, nun zur Arbeit gegen guten Lohn gezwungen zu werden.
Durch den Zwang glaubten sie sich vor Mißbilligung und Anfeindungen ihrer
Landsleute geschützt. Ruhig und nüchtern urteilende Belgier erkannten sehr wohl,
daß dieser Arbeitszwang für alle Beteiligten eine Wohltat war. Für Stadt und
Land in der belgischen Heimat durch die Abschiebung von Massen unnützer Esser
und durch die Ersparung vieler Millionen von Unterstützungsgeldern. Für
Deutschland durch die Gewinnung von Arbeitskräften, endlich für die Abgeschobenen
selber durch das Aufhören der entsittlichenden Arbeitslosigkeit und durch Erarbeitung
sehr reichlicher Löhne, die eine viel zureichendere Erhaltung der Familien ermög¬
lichen als die bisherigen sehr mageren Unterstützungen.
Was brauchten wir uns diesen Tatsachen gegenüber um alles Geschrei der
feindlichen und neutralen Ententebrüder von Unmenschlichkeit und Sklaverei zu
bekümmern? Besonders wegen der flämischen Arbeiter, die in niederdeutschen
Sprachgebiete arbeiten und da nach wenigen Tagen sich wie zu Hause fühlen
können? Wären die Ententebrüder in unserer Lage gewesen, sie hätten gewiß
nicht solange gewartet, ähnliche und jedenfalls viel weitergehende Maßregeln zu
ergreifen, und dazu die ihnen so gut zu Gesicht stehenden Phrasen von Menschlich¬
keit und Kultur gedroschen.
So zum offenbaren Nutzen aller Nächstbeteiligten und selbst von maßvoll
denkenden Belgiern gebilligt, hätte die Wirkung der Abschiebungen geradezu
glänzend werden können, wenn nicht die Ausführung im einzelnen durch Über¬
eilung und Ungeschicklichkeiten zu viel verdorben hätte.
Gewiß tragen die belgischen Gemeindebehörden durch ihre Weigerung,
Listen der unterstützten Arbeitslosen vorzulegen, einen sehr großen, jedenfalls den.
überwiegenden Teil an der Schuld. Aber warum hat man sie nicht zur Vor
legung der Listen gezwungen? Solcher Aufsässigkeit gegenüber wäre rücksichtsloses
Durchgreifen am Platze gewesen. Die durch das Fehlen brauchbarer Unterlagen
und die übereilte« Massenabführungen unvermeidlich gewordenen Mißgriffe
erschienen dem durch das tägliche Schauspiel der Abtransportierungen ohnehin
aufgeregten Volke als schonungslose Willkür und beabsichtigte Härte. Eine Lohe
neu erregten Hasses lief über das ganze Land, ja über die ganze Welt. Er
richtete sich natürlich nicht gegen die in erster Linie schuldigen belgischen Gemeinde¬
behörden, sondern allgemein gegen die Deutschen, denen doch nur Mißgriffe und
Versehen vorzuwerfen waren.
Die terroristische Verhetzung hatte jetzt leichtes Spiel. Durch das ganze
Land wurde das Stichwort ausgegeben, keinerlei Arbeitsverträge mehr mit Deutschen
abzuschließen, nicht zu „leckerer". Eine überaus rührige Agitation hämmerte es
den Leuten alle Tage ein. Wenn die Arbeiterzüge durch die belgischen Ortschaften
rollten, riefen die massenhaft an der Strecke versammelten Einwohner den Reisenden
zu: „Glj hebt doch Niet geteekent?" Darauf erscholl aus den Eisenbahnzügen die
Antwort: „Nee, wij hebben niet geteekent". „Wij leckeren niet".
Patriotards — so nennt man in Belgien die fanatischen llberpatrioten —
gehen von Haus zu Haus und Hetzen. Geistliche in hohen Stellungen besuchen
auf ihren Reisen alle Familien, aus denen Arbeiter nach Deutschland abgeführt
sind — selbstverständlich nur um zu trösten!
Es kam, wie es kommen mußte. Von der Gelegenheit freie Arbeitsverträge
zu schließen, wie sie den Abgeschobenen auf dem belgischen Ausgangsbahnhof und
später in der deutschen Sammelstelle geboten wurde, wagte nur eine verschwindende
Minderheit Gebrauch zu machen. Tausende und Abertausende der abtranspor¬
tierten Belgier verweigerten hartnäckig jegliche Arbeit in deutschen Betrieben.
Die dadurch unvermeidlich gewordene Anwendung von Druckmitteln hat
natürlich weder unter den Abgeschobenen noch in ihrer belgischen Heimat die
Stimmung verbessert. Abgeschobene, die sich dadurch zur Arbeitsaufnahme haben
zwingen lassen, fürchten die Rache ihrer Landsleute. Ihre daheimgebliebenen
Angehörigen fürchten auch ihrerseits, dieser Rache und täglichen chikanösen Quäle¬
reien zum Opfer zu fallen. Voller Angst davor dringen sie in ihren Briefen teils
in offener Sprache, teils unter allen möglichen Verkleidungen, teils mit verab¬
redeten Zeichen wieder und wieder in ihre abgeschobenen Angehörigen, doch ja
nicht zu „leckeren". Unter diesen Umständen war es wohl richtig, wie es dann
auch geschah, auf die zwangsweise Abführung von Arbeitern nach Deutschland zu
verzichten und damit wenigstens eine Quelle maßloser Aufregung und Erbitterung
gegen uns — nicht allein in Belgien, sondern weithin über den ganzen Erdball —
allmählich versiegen zu lassen. Die Not der Zeit, namentlich die in schwindelnde
Höhe gestiegenen Preise der Lebensmittel nötigten ja ohnehin die Belgier, denen
die Heimat keine Verdienstmöglichkeit bot, in Deutschland Arbeit und Brot zu
suchen.
Seitdem hat sich die Zahl derer, die freie Arbeitsverträge nach Deutschland
abschlossen, ständig gesteigert. Nicht allein Männer und Jünglinge, auch Frauen
und Mädchen ließen sich scharenweise für Deutschland anwerben. Und wenn auch
die Not der Zeit manche Klagen wieder und wieder erklingen läßt, im ganzen
läßt sich nicht verkennen, daß die Stimmung der in Deutschland arbeitenden
Belgier sich fortschreitend gebessert hat. Nicht allein das immer häufiger gewordene
nachziehen der Familienglieder, auch Verheiratungen' mit Deutschen,' Gewöhnung
an die für die Flamen ja so leichte deutsche Sprache, Einleben in deutsches
Denken — selbst in der Beurteilung des Krieges — sind Erscheinungen, die nicht
mehr allzu selten sind.
Die terroristische Hetze beherrschte in Belgien nicht allein auf dem Gebiete
der Arbeit, sondern auch auf allen möglichen anderen Gebieten das Feld. Um
nur noch ein Beispiel zu nennen: wer seinen Sohn die Genter Universität be¬
ziehen lassen möchte, den versucht man samt seinem Sohne durch Drohungen ein¬
zuschüchtern.
Sollte aber das, was wir in langen Kriegsjahren in Belgien schufen und
förderten, nicht bloß ein rasch wieder verschwindendes Trugbild sein, so wäre es
zuerst und vor allem nötig gewesen, die Macht des Terrorismus zu brechen, die
Belgier und besonders die Flamen, die zum Zusammenarbeiten mit uns bereit
waren, vor gehässigen Anfeindungen und vor der Rache ihrer Lcmdslmte wirksam
zu schützen. ' In dieser Beziehung ist bisher sehr viel — man kann sagen fast
alles — versäumt worden.
Man hätte den Mut haben müssen, diesen Terrorismus auch in den höchsten
Vertretern der belgischen Geistlichkeit mit allem Nachdruck zu bekämpfen. Ohne
das ist alles vergeblich, denn in ihren Händen laufen die Fäden der deutschfeind¬
lichen Hetzarbeit zusammen. Die Kirchen find es, wo in Belgiert am un¬
geniertesten, nachhaltigsten und gehässigsten Tag für Tag gegen Deutschland
gearbeitet wird.
Mit bloßem Unterdrücken ist es natürlich nicht getan. Das Hauptübel war
die Ungewißheit über die Zukunft Belgiens und die dadurch aufrechterhaltene
Meinung, daß nach dem Kriege der Status c>no ante ohne Einschränkung wieder¬
hergestellt wird. Der jetzige Terrorismus ist nur in seinem Ziel eine durch den
Krieg gezeitigte Erscheinung. Im übrigen beruht er auf einer in den Partei¬
kämpfen vor dem Kriege erworbenen Übung. Die Belgier bereiten sich vor, bei
den zukünftigen Parteikämpfen um die Futterkrippe des Staates vorne dran zu
sein, in der Annahme, daß nach demi Kriege Parteiverhältnisse herrschen werden
wie zuvor.
Dem hätte sich entgegenwirken lassen durch Schaffung einer durchaus klaren
Lage, die die Belgier genötigt hätte, ihr Denken und Fühlen auf ein Neues ein¬
zustellen, an das auch sie, wenn auch vielfach widerstrebend, geglaubt haben
würden, wenn eine starke und zielbewußte deutsche Politik zu erkennen gewesen
wäre. Jetzt aber, wo die Wiederherstellung Belgiens ein Hrogrammp null amt¬
licher deutscher Politik geworden ist, sind wir vollends auf dem Nullpunkt der
Hoffnungslosigkeit angelangt. Sollte es wirklich dahin kommen, daß wir Belgien
ohne ganz bestimmte, tatsächliche Sicherungen wieder aufgaben, so würde unserer
ganzen dort geleisteten Arbeit, aller gedeihlichen Tätigkeit Deutscher in Handel
und Gewerbe, allem Wirken deutschfreundlichen Flamingantentums mit einem
Schlage der Boden unter den Füßen entzogen. Die Saat aber des Hasses und
des Terrorismus würde üppig ausgehen und tausendfältige Früchte tragen, die
noch unseren Enkeln und Urenkeln ins Angesicht grinsen würden.
in November 1910 machte die im Westen operierende Armee
Abteilung von Strcmtz mit der Gründung ihrer „Etappemmivcrsitni"
IMWvV^Min einem kleinen französischen Vergwerisorte zum ersten Male mit
MM^M«bescheidenen Mitteln den kühnen Versuch, den im Felde stehenden
Studenten die langentbehrte akademische Bildung in vierzehntägiger
nach Art der Ferienkurse wieder näher zu bringen.
Seitdem ist das Bewußtsein von dem bei der feldgrauen Studentenschaft vor¬
handenen Bildungsnotstand und von der kritischen Lage unserer gesamten höheren
, Bildung immer allgemeiner geworden, und an verschiedenen Stellen der Front
und der Etappe hat man sich bemüht, das deutsche Geistesleben zu heben und
besonders den angehenden Akademikern einigen Ersatz für die verlorene akademische
Ausbildungszeit zu verschaffen. So ward der Gedanke kurzlebiger Etappen- und
Feldhochschulen, wie ihn die Armee-Abteilung von Strantz zuerst verwirklicht, zum
Allgemeingut weiterer Kreise, zumal auch seit dem Herbst 1917 die Oberste Heeres¬
leitung fördernd in diese Bewegung eingriff. An der Ost- und Westfront, sowie
im südöstlichen Europa rief man Kriegshochschulkurse ins Leben, an denen zahl¬
reiche deutsche Hochschullehrer, die man teils der Front oder Etappe entnahm,
teils aus der Heimat berief, als Dozenten mitwirkten. Diese Bestrebungen nahmen
derart an Umfang zu, daß man geradezu von einem stark entwickelten Etappen¬
hochschulwesen sprechen kann, das an sich allerdings noch ohne rechten inneren
Zusammenhang ist, trotzdem aber schon heute als „eine der charakteristischsten
Äußerungen des deutschen Geistes im Weltkrieg" bezeichnet werden darf. Es stellt
zweifellos einen wichtigen Faktor in der gegenwärtigen Entwicklung unseres geistigen
Lebens dar und verdient auch fernerhin andauernde und weiteftgehende Förderung
durch Unterrichts- und Militärbehördenja es erzielt unter Umständen sogar wert-
volle politische Nebenwirkungen, denn die großen, glanzvollen Paraden deutscher
Wissenschaft, zu denen man die Kriegshochschulkurse in Prilep (Mazedonien), in
Tournai, in Bukarest, in Brüssel und Warschau ausgestaltet hat, müssen dazu
dienen, die Bedeutung und den Ruhm des deutschen Geisteslebens im Auslande
zu vergrößern und zu erhalten und damit den deutschen Einfluß zu verstärken.
Eine Schwierigkeit aber entsteht für das Etappenhochschulwesen, sobald es
zu einer allgemeinen Einrichtung des Heeres wird. Will die Militärbehörde nicht
einseitig die Fortbildungsbestrebungen eines einzelnen Standes, nämlich der Aka¬
demiker, begünstigen, so muß sie entweder in ähnlicher Weise für andere Berufs-
gruppen sorgen oder verlangen, daß das Vorlesungswesen so eingerichtet werde,
daß es auch gebildeten Nichtakademikern zugute kommt. In letzterer Richtung
wirkten — mit Ausnahme der nur für Studierende und studierte bestimmten
.Etappenuniversität" der Armee-Abteilung von Strantz — sämtliche neuere Kriegs¬
hochschulkurse. In vielen Fällen ergab sich nun, daß die Dozenten in ihren auf
ein rein akademisches Publikum zugeschnittenen Vorlesungen keine Rücksicht auf
die nichtakademischen Hörer nahmen, in anderen wieder, daß sie das Niveau ihrer
Vorträge herabdrückten und in einer mehr volkstümlichen, die Akademiker nicht
befriedigenden Weise ihre Wissenschaft darboten. Um derartige Unzuträglichkeiten
zu vermeiden, entschloß man sich stellenweise dazu, einen Teil der Vorlesungen
streng fachwissenschaftlich, den anderen mehr populär-wissenschaftlich auszugestalten
und damit beiden Parteien etwas voll Genügendes zu bieten.
An diesem Punkte nun setzte das Oberkommando der Heeresgruppe Herzog
Albrecht mit besonderem Nachdruck ein. als sie zu Beginn des Winterhalbjahres
1917/18 daran ging, zusammen mit der Universität Straßburg Kriegshochschul¬
kurse zu organisieren. In der Gliederung derselben vermied man das starre
Fakultätssystem der Armee-Abteilung von Strantz und schuf dafür drei große
Gruppen, eine für Juristen und Volkswirte, eine für Philologen, Philosophen,
Historiker und Theologen beider Bekenntnisse und ein« dritte für Naturwissen¬
schaftler. Mathematiker und Mediziner. In jede dieser drei Gruppen fügte man
mit Absicht eine Anzahl allgemeinbildender Vorlesungen ein. die als Gegengewicht
gegen die rein fachwissenschaftlichen Darbietungen dienen sollten. Das wesentlich
Neue und entwicklungsgeschichtlich Bedeutungsvolle der Kurse lag aber nicht in
der Ausgestaltung des für Studierende bestimmten Vorlesungswesens, sondern in
der eigenartigen, großzügigen und für die Zukunft wichtigen Entwicklung der all¬
gemeinen Vorträge, die sich an „alle geistig strebenden Persönlichkeiten, welches
Standes und Berufes sie auch sein mögen", richteten. Man sagte sich mit R?ehe,
daß bei Einzelvorträgen oder bei kleinen Gruppen von Vorträgen über beliebige
Gegenstände, wenn sie nicht von einem gemeinsamen geistigen Band umschlossen
sind, wohl mannigfache Anregungen und lebhafte Eindrücke hervorgerufen werden
könnten, daß aber eine nachhaltige tiefere Einwirkung sich dadurch nicht erzielen
lasse. Deshalb bestrebte man sich, einen großen, einheitlichen Leitgedanken zu
finden, unter dem man sämtliche für das allgemeine Publikum bestimmte Vor¬
lesungen zusammenzufassen vermachte. Und so rief man neben den drei fachwissen¬
schaftlichen zwei volüshochschulartige Abteilungen von Vorlesungen ins Leben, die
sich dadurch auszeichneten, daß sie sich um ein festbegrenztes Thema: „Deutscher
Staat und deutsche'Kultur") gruppierten und daß in ihnen neben Straßburger
und auswärtigen Universiiätsprofessorm hervorragende Praktiker zu Worte kamen.
„EI gilt — so hieß es in dem Anschreiben an die Vortragenden — eine
Art Querschnitt zu legen durch die heutige Deutschheit. Auf der so gewonnenen
Erkenntnis deutschen Staates, deutscher Kultur und deutschen Wesens sind Richt¬
linien zu entwerfen und Forderungen aufzustellen für das Leben des einzelnen
und der Gesamtheit im neuen Deutschland. Ausschluß aller parteipolitischer Ge¬
sichtspunkte! Die Geschichte ist soweit heranzuziehen, als sich aus ihr die Er-
terrenis dieser unserer heutigen Art und unseres heutigen Aufbaues un¬
mittelbar ergibt.
Auf dem Gebiete des Staats- und Soziallebens ist dieser Grundgedanke
in den einzelnen Lebensgebieten und Organisationszweigen zu entfalten. Es sind
also beispielsweise die Gebiete der Staatsverfassung, der Wirtschaftsorganisation,
des Heerwesens, der Sozialpolitik, her Technik, des Bankwesens usw. oder wichtige
Einzelfragen aus einem dieser Gebiete in Vorträgen von ein- bis vierstündiger
Dauer darzustellen. Ihre Eingliederung und Funktion im staatlichen Gesamt-
organismuL ist zu veranschaulichen. Dabei ist die besondere deutsche Art und
Leistung hervorzuheben.
Ähnlich ist die deutsche Kultur als ein dem staatlichen Faktor ebenbürtiger
eigenartiger Zusammenhang aus den einzelnen Vorträgen über deutsche Kunst,
deutsche Philosophie und Wissenschaft auszubauen.
Je mehr der einzelne Vortragend« sich in den Dienst der gekennzeichneten
Gesamtidee stellt, um so sicherer ist gewährleistet, daß schließlich alle Vorträge sich
zu einem geschlossenen Gesamtbilde heutiger deutscher Art und deutschen Wirkens
zusammenfügen werden. Dies wird schon der Einleitungsvortrag in den Haupt-
ügen darstellen. Im Verlauf der Vorträge müssen dann die sämtlichen im um¬
fassendsten Wortsinne nationalen Momente, staatliche und kulturelle, äußere und
"innere, solche des Lebens der Persönlichkeit und solche des Gesamtlebens — das
eine das andere ergänzend, nie hemmend — ihren Platz finden.
Gelingt dank der bereitwilligen Unterordnung der Herren Vortragenden
unter diesen Leitgedanken dieser Gesamtplan, so wird der allgemeinbildende Kurs,
statt lebhafte, aber schnell verfliegende Einzeleindrücke hervorzurufen, einen starken
Grundgedanken den Hörern nachdrücklich nahebringen und einprägen."
Nach den Äußerungen von zahlreichen Teilnehmern, die in den beant¬
worteten Fragebogen vorliegen, darf der Versuch als vollkommen geglückt gelten.
Und so stellt meines Erachtens die in Straßburg gefundene Form der Kriegs¬
hochschulkurse, diese Verbindung von streng fachwissenschaftlichen Abteilungen mit
einer innerlich einheitlichen, von einem gemeinsamen Gedanken getragenen Volks-
hochschulartigen Gruppe, vorläufig die beste Lösung der Frage des akademischen
Unterrichts im Felde dar. Sie sichert nicht nur den im Kriegsdienste befindlichen
Studierenden, sondern auch den nach vertiefter Allgemeinbildung Strebenden dis-
jenige Art und Form wissenschaftlicher Unterweisung, die ihren geistigen Interessen
und Bedürfnissen am besten entspricht. Außerdem wird durch sie der gelegentlich
gemachte Vorwurf einer einseitigen Bevorzugung der Akademiker vermieden, be-
sonders wenn man wie in Straßburg darauf hält, daß die einzelnen Heeres-
abteilungen zu jeder der beiden Arten von Kriegshochschulkursen die gleiche Zahl
von Hörern entsenden.
Ferner ergibt sich, wenn man rein militärische Gesichtspunkte gellend macht,
aus der Einrichtung derartiger allgemeiner Vortragsabteilungen mit einheitlicher
Grundlage eine wertvolle Bereicherung und Vertiefung des jetzt im Heer einge¬
führten „Vaterländischen Unterrichts". Diese Vorlesungen würden sich vor allem
dazu eignen, die Unterrichtsosfiziere und die Begabteren unter ihren Vertrauens¬
männern auszubilden und ihnen ein geklärtes, wissenschaftlich vertieftes und be¬
gründetes Wissen beizubringen, daS sich dann durch ihre Vermittlung auf weiteste
Kreise der Unteroffiziere und Mannschaften verbreiten könnte.
Betrachtet man endlich die Straßburger Kriegshochschulkurse vom rein hocb-
schulpödagogischen Standpunkte, so darf man sagen, daß sie eine interessante,
cntwicklungsgeschichtlich bedeutungsvolle Neuschöpfung darstellen, von der man nur
wünschen kann, daß sie im akidemisclM Leben nicht spurlos vorübergeht, sondern
eine den Friedensverhältnissen entsprechende Nachahmung findet. Die Frage der
Fortbildung der im Berufe stehenden Akademiker und der geistig vorwärts-
rebenden Nichtakademiker ist vor dem Kriege von den deutschen Universitäten
Md Hochschulen noch zu keiner befriedigenden Lösung gebracht worden. Die Mög-
lichkeit des Hörens einzelner Vorlesungen und die Einrichtung v«n Ferienkursen
mit einem oft wahllos zusammengestellten Programm dürste in Zukunft nicht
mehr genügen: der Gedanke der Angliederung einer allgemeinen Vorlesungs-
Abteilnng, wo einesteils in der Hauptsache die Ergebnisse der wissenschaftlichen
Forschung geboten werden und andernteils ein nach Semestern wechselnder gemein¬
samer gedanklicher Mittelpunkt vorhanden ist. verdient daher sehr wohl ernste Er¬
wägung durch alle, welche nach einer Neuordnung und Erweiterung unseres
höchsten Bildungsw»sens, nach einer wirklichen „Universitütsausdehnung" streben.
Wenn diese Idee zur Tat werden sollte, so würde die Heeresgruppe Herzog Albrecht,
in deren jetzigem Armeebereich einst 1916 die ersten Kriegshochschulkurse der Armee-
Abteilung von Strantj stattfanden, und die im Winter 1917/18 das Etappen-
Hochschulwesen auch noch durch Einrichtung der Freiburger und Karlsruher Kurse
zu hoher Entwicklung brachte, selbst nach dem Weltkriege als Anregerin eines
wertvollen Fortschrittes sich dauernd eine ehrenvolle Erwähnung in der akade¬
mischen Geschichte der Zukunft sichern.
>le durch kaiserlichen Erlaß vom 39. September angekündigte
parlamentarische Regierung ist mit der am 3. Oktober vollzogenen
Ernennung des Prinzen Max von Baden, der am folgenden
Tage die ersten repräsentativen Berufungen (Grober, Scheidemann,
Erzberger, Bauer, Sols) sich anschlössen, ins Leben getreten. DaZ
^jneue System — denn um einen Shstemwechfel, nicht bloß um
neue Männer handelt es sich — wurde nicht „eingeführt", so etwas ist unmöglich;
es kam auch nicht von felbst, fondern es kam, wie einsichtige Urteiler schon früh
erkannten, unter dem Drucke absolut zwingender politischer Umstände. Diese
lagen nicht etwa nur in dem übermächtigen Drängen einer machtlüsternen
Demokratie: in Zeiten, wie wir sie jetzt durchleben, gehört wirklich mehr als
Herrschaftskitzel dazu, das Steuer des Staates zu ergreifen. Sondern die
bisherigen Methoden und ihre Träger waren der ungeheuerlichen Belastung der
Lage einfach nicht mehr gewachsen. Die Spannungsverhältnisse der äußeren
und inneren Politik erforderten den Einsatz gänzlich neuer Anschauungen und
Kräfte. Es ist das eine Tatsache, mit der man sich abfinden muß, deren Not¬
wendigkeit das Handeln aller in Betracht kommenden Stellen unzweifelhaft
gemacht hat. Man kann ihr mit Genugtuung oder Sorge begegnen, kann
darüber streiten, ob die Entwicklung unter normalen Bedingungen so und nicht
anders verlaufen wäre, — grade der Gegner des Geschehenen sollte nun nicht
krittelnd beiseite stehen, fondern an der Gestaltung unseres politischen Lebens
auch unter den veränderten Umständen mitarbeiten. Zeigt der neue Kurs, wie
wir Wohl glauben müssen, den Weg der Zukunft, so bleibt noch unendliche Arbeit
zu tun, um aus der Umwälzung ein existenzfähiges Gebilde erstehen zu lassen.
Und hier werden die Kräfte der jetzt zum Schweigen ven-newen Opposition
ihre Aufgaben finden. Denn es ist natürlich eine törichte Behauptung, daß die
bisher am Ruder befindlichen Möchte -in für allemal ausgeschaltet sein müssen.
"
Nach Ansicht der „Kreuzzeitung ist das neue Ministerium unter
Verletzung der Verfassung zustande gekommen, denn weder Bundesrat noch
Reichstag hätten Einfluß auf die Wahl des Kanzlers und seiner Staatssekretäre
gehabt. Zunächst ist uns bei Ernennungen für diese Reichsämter von einer
Mitwirkung des Bundesrath nichts bekannt. Was aber die kaiserlichen
Kompetenzen in der Beziehung anlangt, so hat allerdings die Krone nicht mehr
gemäß Artikel 18 der Reichsverfassung nach freiem Belieben über die Person-
lichkeiten des neuen Kabinetts entschieden, sondern den Wünschen des Reichs¬
tags, die staatsrechtlich bislang keine Rolle spielten, Rechnung getragen. Der
Verlauf der Dinge war doch folgender:
Es lag ein mehr oder weniger bestimmtes Programm der Mehrheits¬
parteien vor, dessen Durchführung der bisherige Kanzler Graf Hertling selber
nicht übernehmen wollte, dessen Verwirklichung er aber im Interesse des
Staatsganzen unter den herrschenden Zeitumständen für dringend geboten er¬
achtete. Dementsprechend hat er die Krone beraten und diese hat daraufhin als
ihren freien WillenSentschluL eine parlamentarische Regierungsweise in die
Wege zu leiten befohlen. Graf Hertling hat die Wünsche des Kaisers an den
Vizekanzler von Paher zur Ausführung weitergegeben. Dieser beschloß, soviel
bis jetzt feststeht, ') von vornherein das Ministerium einseitig aus den Mehr¬
heitsparteien zu bilden und erhielt von ihnen eine Vertraueuskundgcbung für
seine eigene Person. Da er selber das höchste Reichsamt zu übernehmen nicht
gewillt war, bezeichnete er Krone und Parteien den Prinzen Max von Baden
als auf dem Boden des Mehrheitsprogrammes stehende und daher geeignete
Führerpersönlichkeit.
Ohne Krage wird Art. 18 der N.-V. verletzt, denn wenn man sich mich
nicht die schroffe Formulierung der „Kreuzzeitung" zu eigen machen will, zum
mindesten ist doch neben Am monarchischen ein neuer Faktor in Gestall des
Parlaments getreten, der bei der Wahl der Exekutive entscheidend mitspielt.
Aber bekanntlich laufen die Dinge nicht immer schön in den Gleisen der Ver¬
fassungsartikel. Wie neben dem fixierten Staatsrecht sich allenthalben ein un¬
geschriebenes Recht entwickelt hat, so zeigt auch ferner sein anscheinend fester
Bau gewisse Lücken, wo die Macht politischer Tatsachen an die Stelle wohl¬
gefügter Rechtssätze tritt. Beim Verfassungskonflikt der sechziger Jahre hat
Bismarck diese Lage im Interesse von Krone und Negierung auszuwerten ver¬
standen, heute wiederholt sich der Fall zugunsten des Parlaments, und hier wie
dqrt bedeutet es eine höhere Stufe des Erkennens, sich der Grenzen des Staats¬
rechts bewußt zu werden, als über ihre Verletzung Beschwerde zu führen.
Bestände die Neuerung übrigens in nichts anderem, als in dem Mitent-
scheidungsrecht des Reichsmges' vel, der Auswahl der Reichslntmig. so könnte
man dem ohne weiteres als einem erfreulichen und notwendigen Fortschritt zu¬
stimmen. Denn ein solcher ist es wirklich, wenn der Zufall bei Minister¬
ernennungen von nun an ausgeschaltet wird. ") Natürlich handelt es sich um
weit mehr. Die neue Epoche in Deutschlands innerer Geschichte, die Prinz
Max von Baden seit dem September-Erlaß datiert, bedeutet — darüber wollen
wir uns klar sein — eine beträchtliche Verschiebung des Schwerpunktes unseres
Berfassungslebens in Bund und Einzelstaaten. Die eigentümliche deutsche
Regierungsform, die durch das starke Übergewicht des monarchischen Elements
gegenüber dem parlamentarischen gekennzeichnet war, gehört, nach den Worten
des Reichskanzlers wird man sagen müssen: endgültig der Vergangenheit an.
In dem uralten Rivalitätskampf zwischen Herrschaft und Genossenschaft, wie
er das Leben der Völker erfüllt, haben die Stürme des Weltkrieges auch für den
Herzstaat Europas die Entscheidung zugunsten des zweiten Faktors gebracht.
Die monarchisch-konstitutionelle Regierungsweise, me für Preußen in jenem
oben erwähnten Verfafsungskonflikt von 1862 ins 1866 ihre Feuerprobe bestand,
und die, wenn auch unter Berücksichtigung der bundesstaatlichen Verhältnisse,
1867 bis 1871 auf den Gesamtstaat übertragen wurde, hat sich bei der neuen
Prüfung nicht mehr widerstandsfähig genug gezeigt. Und zwar erfolgt, wie
Wir sehen, der Einbruch zuerst im Rieich, von wo er sich auf die einzelnen Maate»
fortpflanzt, wie das bei der verkoppelten Struktur unseres VerfassungSbaues
nicht nur zu erwarten, sondern geradezu notwendig ist.
ES scheinen also diejenigen recht zu bekommen, die in dem deutsche«
Gystem kein Wesen ,ni ssusri«, sondern eine Übergangsform entweder zu ab¬
solutistischen oder zu. rein parlamentarischen Zuständen sehen wollten. Denn
daß es sich bei den gegenwärtigen Maßnahmen um bloße Kriegsersatzmittel han¬
deln könnte, dagegen spricht doch nicht nur das ausdrückliche Zeugnis des neuen
Kanzlers in einer der ernstesten Stunden dieses Krieges, solche Vermutung sollte
vielmehr schon aus Achtung vor den Motiven der Krone nicht laut werden.')
Zu der Tat spricht alles, waS wir in den letzten Jahren erlebt haben, für die
Annahme eines in kontinuierlichen Formen sich vollziehenden historisch-politi-
sMn Prozesses: die Vorgänge beim Rücktritt Aethmann Hollwegj». während der
tragikomischen Episode Michaelis, bei der Berufung Hertlings bedeuten
ebensoviele Wegemale einer neuen Zeit. Und wenn der letzte Kanzler persön¬
lich zu jener Ausfassung vom „Kriegsersatzmiitel"geneigt haben sollte,') so wäre
auch sie eben als Entwicklungsstufe charakteristisch, wie die noch nach alten Ge¬
wohnheiten vollzogene Ernennung von Hintzes die Rolle eines retardierenden
Moments gespielt hat. Den Zeitgenossen erscheint die jüngste Evolution als
eine höchstgedrängte Wiederholung der Jahre 1815 bis 1848 und eine Parallele
zwischen dem Übergang zum Verfassungsstaate, und seiner gegenwärtigen Fort¬
entwicklung dürfte allerdings erlaubt sein.
Auch das Verhalten der Krone zeigt in beiden Fällen eine interessante
Übereinstimmung. Wie damals der Monarch aus eigenem Willensentschluß sich
eines Teiles seiner absoluten Machtvollkommenheit zugunsten der Volksvertre¬
tung entäußerte, so wird auch diesmal an dem Gedanken der Freiwilligkeit fest¬
gehalten, die parlamentarische Regierungsweise wie früher die verfassungsmäßige
gleichsam oktroyiert, was natürlich an den Tatsachen hier so wenig wie dort
etwas zu ändern vermag.
Wenn die allgemeine Richtung unserer inneren Politik im Sinne
des Wortes von einer stetig zunehmenden Demokratisierung angedeutet wurde,
so ist damit Natürlich rin einzelnen noch nichts festgelegt/ in: besonderen die
Frage nicht beantwortet, ob wir eine reine Parlamentsherrschaft je bekommen
werden. Nichts ist doch zurzeit stärker zu betonen, als daß wir in den aller¬
ersten Anfängen der Umwandlung stehen. Drum findet sich zu übertriebenen
Freude- oder Wehegeschrei keinerlei Anlaß. D:e schon heute dem Staate
Preußen und dem Reiche Bismarcks das Grablied singen, verraten, soweit sie
damit nicht parteipolitische Zwecke verfolgen, doch wenig Vertrauen zu dieser
Überlieferung und schätzen die Hemmungen zu gering ein. Aber auch jene
anderen jubeln zu früh, die durch einen kaiserlichen Federstrich und parlamen¬
tarische Minister sich am Ziele ihrer Wünsche wähnen. Wir möchten in einem
Glerchnis sagen, was geschah. Eine Operation ward als notwendig erkannt
an unserem inneren politischen Körper. Im Augenblicke ist nichts weiter er¬
reicht, als daß diese Operation durchgeführt wurde. Ein breiter Schnitt ging
durch das Zellgewebe unseres Verfaffungslebens, alte Verbindungen trennend,
Säfte und Kräfte in neue Bahnen lenkend. Wie der Heilungsprozeß verläuft,
der bis dahin fremde Elemente zusammenzwingt und Lücken ausfüllen muß, ist
fast noch eine wichtigere Frage als der Eingriff in den Organismus und von
hundert Möglichkeiten und Zwischenfällen abhängig.
Das unglückliche Äußere der 1871er Verfassung, die ja keine volkstüm¬
liche Urkunde, sondern ein diplomatisches Aktenstück mit allen Mängeln eines
solchen darstellt, hat der Mehrzahl deutscher Staatsbürger die ohnehin schon
schwerverständliche Struktur unseres gUed- und bundesstaatlichen Neben-, liber-
und Miteinanders nicht gerade deutlich gemacht. Weitesten Kreisen ist das
Grundgesetz der nationalen Einigung ein Buch mit sieben Siegeln. Sie ahnen
infolgedessen wenig von den außerordentlichen Schwierigkeiten, mit denen daS
neue Regime bei seinem Umba^ zu kämpfen haben wird. In Zeitungen und
Gesprächen ist viel von dem berühmten Artikel 9 die Rede, dessen Inhalt ma«
zur Not im Gedächtnis behält, von dessen Tragweite man sich jedoch absolut
keine richtigen Vorstellungen machen kann.
Es ist geradezu ein Dogma, daß die Aushebung von Art. S Abs. 3 R.--B.
— „niemand kann gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und deZ IieichStageZ
sein"—'das Ende der bundesrätlichen Vormachtstellung im Reich und damit die
.iderativen Prinzips vedeutel. Das erste ist aus die Dauer sicher
richtig, das zweite möchten wir vor der Hand nichtunterschreiben. Stelltman auSder
komplizierten Rolle, die der Bundesrat im Gefüge unserer Reichsverfassung z»
spielen hat, diejenige Seite heraus, bei welcher er das monarchische Element
um Föderativstaate darstellt, so wird ohne Frage sein Einfluß im gleichen Maße
zurückgehen, wie der des im Reichstage verkörperten parlamentarischen Ele¬
mentes steigt. Bis auf unsere Tage galt der Bundesrat als daS höchste der drei
Reichsorgane, daS — im Gegensatz und Vorrang zu Kaiser und Reichstag mit
ihren genau festgelegten Vollmachten — die Vermutung der Zuständigkeit, wie
der juristische Ausdruck lautet, besaß und infolgedessen als Träger der Reichs«
gemalt im eigentlichen Sinne amiesprochen wurde. Rückt nun, wie nicht
anders zu erwarten, der Schwerpunkt der Macht in den Reichstag und das von
ihm abhängige Ministerium, so muß eine Verödung des bisherigen Kraftzen-
trums die Folge sein. Denn ein Gleichgewichtszustand ist schwer vorstellbar.
Dieses Zurücktreten der „Verbündeten Regierungen aus ihrer mit dem mon¬
archisch-konstitutionellen Charakter der Reichsverfassung eng verknüpften Vor¬
macht wird von Gegnern des Art. 9 bezeichnenderweise mit Stillschweigen über¬
gangen, es kann beim Übergang zu parlamentarischen Formen logisch gar nicht
geleugnet werden. Eher läßt sich die Behauptung diskutieren, daß mit der
ParlaMentarisierung des Bundesrates nicht begriffsnotwendig auch ein End!»
der föderativem Grundlagen unseres Reiches gegeben sein müsse, daß vielmehr
die einzelstaatlichen Interessen in durchaus gesunder Weife zum Beispiel auch
von bayerischen oder sächsischen Abgeordnetenministern im Bundesrat wahr¬
genommen werden könnten. Es würde sich demnach nur die Form ihrer Wahr¬
nehmung ändern. Gewisse inhaltliche Wandlungen ließen sich aber in diesem
Falle kaum aushalten, wenn sie auch nicht bis zur völligen Verleugnung deZ
föderativem Prinzips zu führen brauchen. °)
Beschleunige würde die Entwicklung, sofern man das neue Kabinett ans
kollegialischer Grundsätzen aufbaute, wie eine zuerst vom „Vorwärts" gebrachte
Nachricht wissen will, worauf auch die Schaffung des engeren Krregsrate?
(Kanzler und Staatssekretäre ohne Portefeuille) hindeutet. ' Wird dieser Ge¬
danke Wirklichkeit, dann wären die Tage des Bundesrath in feiner jetzigen
Funktion gezählt, denn zwei Regierungskollegien nebeneinander sind eine staats¬
rechtliche Unmöglichkeit, weswegen zum Beispiel auch Bismarck sich scharf gegen
die Schaffung einer „kontrasignierenden Bundesbehörde außerhalb des Bundes¬
rath" wandte. Dieser würde dann vermutlich den Charakter eines weiteren
Staatsrath erhalten, d. h. einer Nahmenversammlung vom Schlage des engli¬
schen xrivz-- eounoil, in deren Schoße das engere oder engste Kabinett die eigent¬
lich motorische Kraft darstellt, während sie selbst zur Bedeutungslosigkeit °) ver¬
urteilt wäre.
Man sieht, wie die unscheinbare Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 den
Schlußstein aus dem Gewölbe unserer Reichsverfassung zum Ausfall locker
macht. Ungeheuer ist die Verantwortung derer, die den' Umbau vorzunehmen
haben, die Gefahr des Einsturzes droht, und seine Trümmer würden uns alle
begraben. Bisher galt parlamentarische Regierungsweise im Reich als eine
Unmöglichkeit, man erwartete von ihr als unvermeidliche Folge die Herab-
drückung der Einzelstaaten zu politisch bedeutungslosen Gebilden/ähnlich wie in
den parlamentarisch regierten Bundesstaaten Venezuela, Kanada, Australien.
Aber die Verfassung unseres Reiches trug V-. n je die Züge eines staatsrechtlichen
Unikums, eines Wesens su! soneris, vielleicht gelingt der Zukunft das anscheinend
Heterogene zusammenzuzwingen und die den Zeitgenossen unmöglich oder be¬
denklich erscheinende Lösung mit wirklichem Lebensinhalt zu erfüllen. Es wäre
nicht das erste Mal, daß der scharfe Wind der Tatsachen staatsrechtliche Kon¬
struktionen und Theorien wie Kartenhäuser über den Haufen würfe und gleich
mancher anderer zunächst nur als Äriegsnotwendigkeit durchgesetzten Forderung
mag auch der Übergang zum parlamentarischen System im Reiche — dem nun
die Einzelstaaten folgen müssen sich im Frieden besser bewähren, als man
denkt. Vom Standpunkte der Reichsfreudigkeit, die wir mehr denn je brauchen
wenden, domini wir audi in !>em Sieiycn der Neichsflm leinen Arni sehen,
würden sie sogar begrüßen, wenn sie Partikularistische Trübungen hinwegspült,
ohne die Grundlagen unseres Staatslebens zu gefährden. Die Einwände gegen
das „xart^ sMoin" ^) als solches, ganz unabhängig von den oben erwähnten
Schwierigkeiten, bestehen natürlich in unverminderter Stärke fort, die Zukunft
muß lehren, ob die deutsche Volksregierung sie hinfällig machen wird. Versteigt
sie sich nicht zu radikalen Maßlosigkeiten, zeigt sie Achtung vor geschichtlich Be¬
eilen war ein Buch von außeraktueller Zielrichtung dem Augenblick
dermaßen auf den Leib geschnitten, wie eine Studie über „Das
Verfassungsproblem im Habsburgerreich", die Dr. Wilhelm Schnßler
soeben in der Politischen Bücherei der Deutschen Verlagsanstalt
Stuttgart-Berlin erscheinen Iäßt.°) Daß es an Büchern, die die
^Problematik der österreichischen Völkerorganisation von innen her
durchleuchten und auf solider historischer und sachlicher Grundlage dem Leser das
Verständnis dieser recht verwickelten Lage wie mit einem Ruck aufschließen, trotz
einem vierzigjährigen Bündnis und einer über vierjährigen Waffenbrüderschaft
noch so ganz fehlt, ist ein betrübliches Anzeichen dafür, wie wenig in der deutschen
Öffentlichkeit die großen politischen Probleme der Zeit zur Reife gediehen sind,
wie blutwenig die entscheidungsschweren deutschen Schicksalsfragen das allgemeine
Interesse aus seiner apolitischen Stumpfheit aufgerüttelt haben."
Die wichtigste Erkenntnis, die die historische Grundlegung uns vermittelt,
ist die Tatsache, daß Osterreich-Ungarn bereits seit Generationen insgeheim eine
Schwerpunktverschiebung erfahren hat, daß es sich mit einer Art historischer
Zwangsläufigkeit zu einem Ungarn-Österreich hinentwickelt hat, wobei es einer
gewissen Pikanterie nicht ermangelt, daß Ungarn ein Interesse daran hat, seine
tatsächliche Führerschaft innerhalb der Monarchie durch äußerliche Aufrechterhaltung
des Dualismus zu verschleiern. Auch Österreich-Ungarn ist wie Preußen eine
Schöpfung seiner Dynastie. Das Jahr 1526 ist die Geburtsstunde der Donau¬
monarchie. Ferdinand der Erste hat als erster mit vollem Bewußtsein durch
Schaffung gemeinsamer Zentralbehörden dem Gesamtstaatsgedanken den Eingang
in die Wirklichkeit angebahnt. Der Ausgangspunkt war der Trialismus, die
Verbindung Österreichs. Böhmens und Ungarns. Das Ziel der Entwicklung bis
zu Joseph dem Zweiten war die Überwindung dieses Trialismus durch den
Zentralismus. Dieser Idee fiel zunächst die Selbständigkeit Böhmens zum Opfer.
Hier kommt Ferdinand dem Zweiten ein besonderes Verdienst zu. Die Pragmatische
Sanktion von 1713 wird alsdann zur Magna Charta des Dualismus und ist
als solche noch heute das historisch-dokumentarische Felsmassiv, an dem sich
Ungarns Selbständigkeitsbestreben bricht. Ihr Kern ist das Verbot dynastischer
Teilungen, das fortan den territorialen Bestand der Monarchie sichert; damit
wird sie zur ersten Deklaration der österreichischen Reichsidee. Zugleich ist
mit ihr der innere Widerspruch in die österreichische Geschichte hineingetragen
worden, der dem wirklichen Zusammenwachsen zu einem einheitlichen Staat von
innen her entgegenwirkt. Die Geschichte des Versuchs seiner Überwindung zeigt
deutlich eine erste Stufe, die von Osterreich, eine zweite, die von Ungarn aus
zentriert war. Die endgültige Überwindung des österreichisch-böhmischen Dualis¬
mus setzte Maria Theresia durch. Ihr genialer Sohn Joseph der Zweite scheiterte
am Versuch des nächsten Schrittes, der auch die österreichisch-ungarische Spannung
in einer höheren Einheit aufheben wollte. Der Zentralismus führte ihn zu einer
Überspannung des Vereinheitlichungsstrebens, die mißglückte und damit jene noch
heute fortbestehende Hegemonie Ungarns herausführte. '
j Ein besonderes Interesse erweckt der überzeugend durchgeführte Nachweis,
daß Ungarns Erstarkung mit dem Aufstieg Preußens in geheimem Zusammenhang
stand, der sich in überraschender Weise stets aufs neue bestätigt. Beide sind im
Kampf gegen den wienerischen Reichsgedanken, jenes mittelalterliche Erbe, empor¬
gekommen. Die Zusammenhänge schießen hin und her, wie die Fäden im Gewebe.
Preußens Sieg über das Osterreich Maria Theresias verschaffte ihm die zukunfts-
sichere Vorherrschaft im Reich und hinderte Maria Theresia an der vollen Durch¬
führung ihrer zentralistischen Ideen in Ungarn. Die mitteleuropäischen Kräfte, die
sich in Wien zu sammeln strebten, traten in die beiden Pole Berlin und Budapest
auseinander. Ein ungarischer Ministerpräsident hielt die österreichischen Revanche¬
pläne nach Königgrätz im entscheidenden Jahre 1870 nieder, sicherte dadurch Preußen
seine Hegemonie im Norden und ermöglichte..jenen höheren mitteleuropäischen
Dualismus, der zum mindesten eine relative Überwindung einerseits des inner-
deutschen, andererseits des innerösterreichischen Dualismus -voraussetzte. Es ent¬
behrt nicht einer tiefen Tragik, diesen Gedanken auf die gegenwärtige Lage anzu¬
wenden und ihn in die Problematik der nächsten Zukunft auszuspinnen.
Diese Wendung des mittelalterlichen Reichszentralismus Europas zum kunst¬
voll cmsbalanzierten Mitteleuropadualismus Berlin-Budapest, der Keimzelle der
Berlin-Bagdadidee, gibt den Hintergrund für die ganze Geschichte des letzten halben
Jahrhunderts, das um Berlin den mit preußischem Mark gesteifter Machtstaat
des Deutschen Reiches gruppierte, in Österreich-Ungarn jedoch nicht zu einer
gleichermaßen glatten Lösung führte. Denn während sich die Vorherrschaft
Preußens in Deutschland politisch eindeutig in der Reichsverfassung aus¬
prägte, zerrieb sich der zentralistische Machtstcmtswille der Donaumonarchie
an dem unüberwindlichen inneren Dualismus zwi chen Ungarn und Osterreich und
an der rationalistisch verwickelten Aufgabe einer staatlichen Einigung des füdost-
europäischen Völkerchaos. Das unvollkommene Gegenstück der deutschen Reichs¬
einigung war der ungarisch-österreichische Ausgleich von 1867. Der scheinbar rein
partikularistische Sonderwille Ungarns, der die Parität der beiden Staaten der
Donaumonarchie erzwang, wie sie in der Krönung Franz Josefs zum König von
Ungarn sinnfälligen Ausdruck fand, entsprang einem richtigen weltpolitischen In
stinkt Ungarns. Dieser Instinkt wurde einerseits durch die geographische Balance
bestätigt. Das alte Kraftzentrmn der überwundenen mittelalterlichen Neichseinheit,
Wien, mutzte in der Tat mit der Verlegung des Schwerpunktes Deutschlands nach
Berlin auch innerhalb Osterreich.Ungarns zugunsten von Budapest abdanken.
Aber auch rein machtpolitisch wurde Ungarn zum Rückgrat der modernen Donau¬
monarchie, indem es — auch darin ein Gegenstück Preußens — mit einer ungleich
brutaleren Energie seiner inneren Völkervielheit Herr und zu einem trotz seiner
nationalen Zerspaltung zentralistisch gefestigten modernen Machtstaat geworden
war. Namentlich in der überwältigenden Überlegenheit des ungarischen Par¬
laments über das zerklüftete österreichische kam dieser machtpolitische Vorrang
deutlich zum Ausdruck. Aus dem von Schüßler so geistvoll durchgeführten
Parallelismus des preußischen und ungarischen Aufstieges ergibt sich in höherem
Matze noch, als seine Kritik zugeben will, die weltpolitische Rechtfertigung des
ungarischen Vorherrschaftsstrebens, das Verständnis der über sich selbst hinaus¬
greifenden Sendung des ungarischen wie des preußischen Partikularismus. Das
Unglück des ungarischen Machtwillens gegenüber dem preußischen war es, daß er
sein Ziel nur halb erreichen konnte, weil größere Trümmer historischen Erbgutes
ihm die letzte Wegstrecke versperrten. Bismarck, der nach dem Scheitern der Einigungs-
bewegung von 1848 das Steuer der deutschen Geschicke eigenwillig in die Hand nahm,
zeigte einem seinen Methoden widerstrebenden Volke durch die überzeugungskräftige
Tat, daß nicht ein vorzeitiges Abbiegen vom Wege des preußischen Partikularismus
die deutsche Reichseinheit sichern konnte, daß vielmehr dieser Weg selber nicht nur
in die deutsche, nein sogar in die mitteleuropäische Einigung einmündete. Seine
Aufgabe war leichter, weil er bloß die Disharmonie der deutschen Stämme, nicht
den Widerstreit von Nationen und Rassen zu bändigen hatte. Auch Ungarn sah
mit einem Recht, das vielleicht erst dieser Friede voll erweisen wird, als erstes
unverrückbares Ziel die partikularistisch scheinende Festigung des ungarischen Einzel¬
staates selbst auf Kosten der habsburgischen Reichseinheit. Aber die stärkeren
Widerstände, die dieser ungarische Machtwille fand, trieben ihn auch in eine stärkere
Verhärtung und Verengung seines Partikularismus hinein und verdunkelten ihm
in eben demselben Maße das,, Endziel, das nicht in einer kleinungarischen Selbst-
ständigkeit, sondern in einer Überwindung der gesamt-österreichischen zentrifugalen
Tendenzen durch Schaffung eines festen ungarischen Machtkernes bestehen konnte.
Tatsachen wie die, daß in den wenigen gemeinsamen Institutionen wie dem Heere
die Kommandosprache die deutsche und nicht die ungarische war, trieben diesen
blindwütigen ungarischen Partikularismus zu Forderungen wie der magyarischen
Heeressprache, die nur zu einer Spaltung des Heeres führen könnte, also
nicht machtvereinheitlichend, sondern im Gegenteil machtsprengend wirken müßte.
Der Versuch Ungarns, seine geheime Vorherrschaft innerhalb der Habsburger-
Monarchie institutionell und verfassungsmäßig offenkundig auszuprägen, bedrohte
allenthalben diese tatsächlich bereits errungene Vormachtstellung, indem er den
Widerstand aller anderen Nationen gegen diese magyarozenlrische Umorientierung
des Habsburgerreiches mobil machte.
Dieser Prozeß mußte für Ungarn schon deshalb bedenkliche Folgen zeitigen,
weil eS ethnisch keineswegs die Einheitlichkeit besitzt, die es durch seine straffere
machtstaatliche Organisation und seine brutale Magyarisierungspoltik vortäuscht.
Ungarn ist in Wirklichkeit ein Österreich-Ungarn im kleinen. Alle seine Nationen
find auch diesseits der Leitha vertreten und wüten auch innerhalb der öster¬
reichischen Reichshälfte gegeneinander. Und der Druck, den Ungarn im eignen
Land auf diese seine fremdstämmigen Minderheiten ausübt, setzt sich so unmittelbar
nach Osterreich fort, erweckt dort bei den Volksgenossen der hier Unterdrückten
ein spontanes Echo. Schon um sich die Freiheit im eignen Haus zu wahren,
möchte Ungarn sich also vom österreichischen Einfluß nach'Möglichkeit frei machen.
Andererseits aber hat Osterreich nicht nur als Ganzes, sondern dazu noch in
jedem seiner Bestandteile ein stark gefühlsmäßig betontes Interesse daran, diese
ungarische Selbstherrlichkeit möglichst zu dämpfen.
All diese Beziehungen zwischen kleinungarischen, großungarischen und öster¬
reichischen Tendenzen werden im Schüßlerschen Buche in unübertrefflicher Klarheit
beleuchtet. Die verzwickte innerpolitische Logik dieses seltsamen Staates wird dem
Leser mit einem Male völlig durchschaubar. Die einzelnen Stufen der Ver¬
selbständigung Ungarns, die Gegenstöße Österreichs werden auf Grund eines gut
fundierten geschichtlichen Wissens aufgezeigt. Die magyarischen Aentralisierungs-
methoden werden in ihren einzelnen Wirkungsgebieten aufgesucht und lichtvoll
dargestellt. Von besonderem Interesse namentlich auch im Vergleich mit preußischen
Verhältnissen ist die Entwicklung des Wahlrechtsproblems. Das ungarische Wahl¬
recht ist schroff plutokmtisch. Es begünstigt aufs einseitigste den ansässigen Adel,
die Gentry, der den Kern des Magyarentums ausmacht. Aber während es so
dem äußerlichen Blick als Werkzeug und Machtfundament lediglich einer kleinen
sozialen Kaste erscheint, dient es eben dadurch, indem es die fremdstämmigen
Minderheiten, die zumeist besitzlos sind, sozusagen parlamentarisch nicht zu Worte
kommen läßt und sie damit politisch mundtot macht, der Magyarisierung und
straffen Vereinheitlichung eines Staates, in dem bei liberalerem Wahlrecht der
Nationalitätenzwist eine ähnlich unheilvolle Rückwirkung auf den einzelstaatlichen
Machtwillen ausüben würde, wie das in Osterreich der Fall ist. Wenn wir uns
nun vor Augen halten, daß gerade an dieser parlamentarischen Überlegenheit
gegenüber Osterreich das ungarische Übergewicht in der Gesamtmonarchie hängt
und uns ferner vergegenwärtigen, welche Wichtigkeit für uns als Bundesgenossen
das Vorhandensein wenigstens eines festen machtpolitischen Rückgrats in der
gebrechlichen Donaumonarchie hatte, so erkennen wir deutlich die weltpolitische
Bedeutsamkeit, die letzten Endes dem zähen.antidemokratischen Selbstbehaupümgs-
streben einer sozialen Kaste in Ungarn zukam. Andererseits wird auch nirgends
offenbarer, wie unterhöhlt eben jener im Magyarentum verwurzelte ungarisch¬
österreichische Machtwille war, der für uns die Brücke nach dem Orient, der
Vorspann unserer ganzen Balkanpolitik war, die, wenn nicht die Ursache, so doch
die Auslösung des Weltkrieges geworden ist.
Und so folgen wir dem Verfasser mit ungemindertem Interesse, wenn er an
die Entwicklung des zentralistischen und des dualistischen Lösungsversuches des
Habsburgischen Verfassungsproblems weitergehend den föderalistischen schließt, der
bisher freilich nur als Programm in Erscheinung getreten ist, gerade als solches
aber in unseren Tagen höchste Aktualität gewonnen hat. In meisterhafter Weise
werden hier die Tatsachenfundamente dieser föderalistischen Strebungen umrissen.
Die böhmische und die südslawische Frage finden gesondert eine eingehende Behand¬
lung. Und mit einem Überblick über die bisherigen theoretischen Lösungsversuche
werden wir bis in die Problematik hineingeführt, die der Krieg selber vor dem
europäischen und selbst dem transatlantischen Forum aufgerollt hat. Zwei Lösungs-
typen treten sichtlich auseinander: der territoriale, der in seiner konservativen
Tönung die historisch gewordenen Kronsländer der Föderalisierung zugrunde legt,
in einer radikaleren Ausprägung auf eine territoriale Neueinteilung des Gesamt¬
gebiets auf Grund der ethnischen Gliederung hindrängt, und der personale, der in
einem umfassenden Einheitsstaat die einzelnen Nationalitäten unabhängig von dem
von ihnen bewohnten Gebiet zu kulturell selbstbestimmungsfähigen Organisationen
zusammenfassen will. Als Vertreter des Territorialprinzips werden der Tschechen¬
führer Palacky, der österreichische Publizist und Historiker Charmatz, .der ungarische
Rumäne Popovici. erwähnt, das personale Prinzip wird vornehmlich durch den
bekannten deutsch-österreichischen Sozialdemokraten Renner befürwortet. Alle diese
Einzelvorschläge erfahren eine sorgfältige kritische Behandlung. Die Entwicklung
dieser Probleme ist bis zum Anfang dieses Jahres durchgeführt. Die Lösung, die
dem Verfasser selbst in seinem Schlußausblick als die wahrscheinlichste erscheint und
die seine ganze Darstellung historisch am solidesten unterband, ist die Entwicklung
der Doppelmonarchie zu einer Art von Großungarn, das die Nationalitätenprobleme
innerpolitisch durch Gewährung kultureller Autonomie bewältigt.
Es ist heute nicht der Augenblick, wo die Richtigkeit gerade dieser Schluß-
Prognose nachgeprüft werden kann. Daß sie als geradlinige Fortsetzung der
Bismarckschen Mitteleuropapolitik für uns die wünschenswerteste Lösung bedeutet
hätte, können wir nicht ohne eine tiefe innere Bewegung in einem Augenblick zu¬
geben, wo Bismarcks Werk in Trümmer zu zerfallen droht und von uns ein Wieder¬
aufbau unserer internationalen Machtstellung unter unendlich erschwerten Verhält¬
nissen erfordert wird. Unser tiefes Interesse am Bestand eines gefestigten Österreich-
Ungarn ist zu oft in diesem Krieg betont worden, als daß wir nicht mit gespanntem
Auge dem inneren Umwandlungsprozetz des uns verbündeten Reiches folgen müßten,
der sich vor unseren Augen abspielt. Für das Verständnis dieser Vorgänge, das
sich uns nicht leichter Hand erschließt, konnte sich uns kein besserer Führer bieten,
als dieses Buch. Daß uns die Ereignisse der letzten Wochen innerlich so umwarfen,
gründet nicht zum mindesten in einer außenpolitischen Unterlassungssünde. Wir
haben uns zu wenig um ein Verständnis der innerösterreichischen Lage beworben.
Schreiten wir denn mit diesem Vademekum ausgerüstet weiter auf dem Wege in
eine Zukunft, in die wir hinein müssen, auch wenn sie uns heute sehr dunkel und
abwegig erscheinen will.
In Regie-
rungSkreisen wächst die Zuversicht wegen Ge¬
lingens des Friedensschrittes vom ö. Oktober.
Sie vertrauen sowohl auf die Ehrlichkeit der
Gesinnung Wilsons.wie auf seine Macht, sich
dem angelsächsischen Imperialismus gegen¬
über durchsetzen zu können. Sie vertrauen
darum auch ohne weiteres auf die Annehm¬
barkeit des Wilsonschen Schiedsspruches, der
nach ihrer Meinung dem deutschen Volke nicht
würde zumuten können, was für die übrigen
Völker als unannehmbar abgelehnt Wird.
Aus diesem Vertrauen heraus ist erst der
Friedensschritt und logischerweise die Antwort
vom 12. d. M. auf Wilsons Zwischen- oder
Klärungsfrage entstanden. Für das deutsche
Volk, wie für die Menschheit überhaupt hängt
von Wilsons Antwort so ungeheuer viel ab,
daß man nur wünschen kann, daß das Ver¬
trauen der neuen Regierung sich in allen
Punkten rechtfertigen möge, damit der Leit¬
artikler der „Norddeutschen Allgemeinen Zei¬
tung" über sie nicht dasselbe harte Urteil zu
fällen braucht, wie über die Arbeiten des
Wiener Kongresses, die er leichtfertig und
stümperhaft nennt. Wir haben auch heute
noch kein Bild von den?, was Wilson wirklich
ist und urteilen daher aus dem Gefühl und
aus allgemeinen Lebenserfahrungen. Aber
wir haben allen Grund zur Annahme, daß
mich der Herr Reichskanzler und seine Staats¬
sekretäre sich ausschließlich von ihren Gefühlen
leiten lassen, die ihren humanen Wünschen
entsprechen, sonst könnten sie nicht kurzerhand
ignorieren, daß Wilson in jener Rede vom
27. September d. I., die eine der Grund¬
lagen des deutschen Friedensschrittes ist, ge¬
sagt hat, das deutsche Volk sei ehrlos und
werde durch den Völkerbund und seine Zwangs¬
mittel angehalten werden müssen, ein ge¬
gebenes Versprechen zu erfüllen! Bei aller
Bangigkeit, mit der wir den Schritten der
Regierung, die sich übrigens im Verkehr mit
dem Auslande nicht mehr „Kaiserliche" sondern
„deutsche Regierung" nennt, folgen, müssen
wir doch eine Tatsache anerkennen: sie handeltl
Sie geht unbeirrt um die Opposition und
um alle Geschehnisse auf den Politischen und
militärischen Kriegsschauplätzen schnurgerade
auf ihr Ziel los, auf den ehrenvollen Frieden,
den Wilson nach ihrer Auffassung in der Hand
hält und bereit sein soll, Deutschland zu be¬
Das Selbstbe-
stimmungsrecht richtet den österreichisch-unga¬
rischen Staat zugrunde. Nicht erst Hussarek
hat die Zügel endgültig gelockert, andere,
haben vorher die ersten Hemmungen beseitigt.
Ein Staatsgefüge wie das österreichische, mit
seinen verschiedenen Nationalitäten, ruht aus¬
schließlich auf dem gemeinsamen Staats¬
gedanken. Wenn von der äußerlich sichtbaren
Verkörperung dieses Staatsgedankens selbst
die Rehabilitierung der Kämpfer gegen diesen
Gedanken erfolgt, so muß eine allgemeine
Auflösung die Folge sein.
Jetzt werden die Zügel kaum mehr auf»
genommen werden können. „Zu spät" steht
über den Lammasch- und Karolyischen Zufalls»
kombinationen, beinahe möchte man sagen
Verzweiflungskombinationen. Das Viel¬
gespann rast schon in verschiedenen Richtungen
auseinander. Wehe dem Wagen. Ihm droht
Zertrümmerung.
Unsere Sympathien gelten den deutschen
Parteien in Österreich. Sie sind durch eine
harte Schule des Kampfes um ihr Dasein
gegangen. Das Slawentum in seiner schärfsten
Kampfausprägung stand ihnen gegenüber und
bedrohte sie in ihrem Dasein. Und doch
hatten die Deutschen alles für diesen Staat
getan. Ihr Fluch war die Uneinigkeit. Dieser
Fluch ist jetzt durch den Zusammenschluß der
deutschen Parteien, auch der Arbeiterparteien,
hoffentlich für immer beseitigt.
Zitternd für diese jungen, geeinten Kämpfer
und mitfühlend verfolgen wir ihren Weg.
Möchte er in dieser Zeit der gewaltigsten
Jdeenumwälzungen zum Ziele führen.
Unsere deutschen Stammesbrüder werden
sich, ihrer Kraft in Sammlung bewußt, Freiheit
und Selbstbestimmung erobern.
Es steht eine unheimliche
Kraft vor Europas Toren, lauernd um Einlaß
begehrend und wie der Aasgeier den richtigen
Moment zum niederstoßen abwartend — die
russische Revolution.
Die Rückwirkung der deutschen letzten Er¬
eignisse auf Rußland war ungeheuer. Es
regte sich unter den Bolschewiken. Morgenrot
witternd glaubten sie die Zeit gekommen, wo
eine rote Flut Moskau und Berlin vereinigen
würde, um von dort aus zündend auf die
übrige Welt weiterzugreifen und alles in
Flammen zu setzen.
Wir wollen und werden das Experiment
nicht machen. Es gibt einen anderen Weg
zur Freiheit als den, den das russische Per¬
verse Denken gegangen ist. Freiheit nicht
durch Revolution, sondern durch Evolution.
Rußlands gegenwärtiger Zustand hat mit
Demokratie und Sozialismus nichts zu tun.
Was wir dort in schrecklichster Form Schem¬
ihl aus Schwäche geborene Anarchie, die einige
Oligarchen mittels eines nie dagewesenen
Terrors und mit Hilfe einer bezahlten Unter¬
organisation roter Tschinowniki und Räuber
meistern. Alles kulturelle Leben, alles Schöne
und Edle, alles, was das Leben lebenSwert
macht, ist von dieser Oligarchenbande in den
Staub getreten worden und wird von ihnen
dauernd weiter zerstört. Die Idealisten unter
diesen Oligarchen träumen von Freiheit
nach Vernichtung aller ihrer Gegner: durch
Blut, Leichen und Zerstörung wollen sie zum
bolschewistischen Zukunftsstaat, wo nur noch
fieberphantasierende, leergebrannte Hirne in
einer entgötterten Welt zurückbleiben; die
Materialisten füllen sich die Taschen, Viel
schlimmer als es jemals die Tschinowniki zur
Zarenzeit taten. Diese nährten sich von den
Abfällen des blühenden staatlichen Lebens,
jene tasten Produktion und Produktionsmittel
selber an, weil nichts anderes da ist, was sie
rauben und stehlen können.
Das geistige Leben ist tot, keine unab¬
hängige Zeitung, leine Zeitschrift, keine lite¬
rarische Produktion ist mehr vorhanden.
Der Geist liegt am Boden und der Körper
wälzt sich im Dreck. Keinen verständigen
Deutschen wird dieses Beispiel locken. Mit Ab»
scheu werden und müssen unsere sozialistischen
Führer das ihnen von Moskau gestellte An¬
sinnen, besorgt um die Zukunft des deutschen
Arbeiters, abweisen.
Wir wollen den, Versucher vom Fellen
seiner Hoffahrt und Unflat in die Tiefe
Das „Berliner Tage¬
blatt" bringt in Ur. S22 vom 12. Oktober
an erster Stelle folgenden Artikel. Überschrift:
„Die Absendung der Antwortnote an Wilson.
Die abwesendenBundeSratSmitglieder." Dann
heißt es: „Die Antwort auf die drei Fragen
Wilsons ist gestern abend endgültig fertiggestellt
worden. Auf heute vormittag ist der Bundes¬
ratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten
einberufen worden. ... Falls der Bundesrats-
ausschuß gestern hätte tagen können, wäre es
möglich gewesen, die Note noch gestern ab-
zusenden. Die Mitglieder des BundesratsauS-
schusseS befanden sich aber nicht in Berlin. ES
könnte eigentlich erwartet werden, daß in
hochpolitischen Tagen die Mitglieder des Aus¬
schusses, wenn er auch nicht in Permanenz
versammelt bleibt, in Berlin anwesend wären.
Es ist ein peinlicher Gedanke, daß die Ab¬
senkung einer Note von so weltgeschichtlicher
Bedeutung aus dem angegebenen Grunde
einen Tag verzögert werden mußte. ..."
Die im Tone höchster Bestimmtheit ab¬
gegebene Behauptung, daß der Ausschuß für
auswärtige Angelegenheiten nicht auf seinem
Posten gewesen sei, entspricht nicht den Tat¬
sachen. Wie die „norddeutsche Allgemeine
Zeitung" feststellt, konnte die Note gar nicht
früher zur Absenkung gelangen, weil die
Beratungen über ihren Wortlaut noch nicht
abgeschlossen waren.
Wieder'einmal ein Schulbeispiel, wie von
gewisser Seite die öffentliche Meinung irre¬
geführt und „bearbeitet" wird. Der harm¬
lose Leser — und nicht nur er — muß für
wahr halten, was ihm da vorgesetzt wird.
Er ist mit Recht empört über das Verhalten
der Ausschußmitglieder, die angeblich ihre
Pflicht versäumt haben. Man bemerke, wie
hier in geschickter Weise die schon nicht rosige
Stimmung gegenüber Vertretern des „alten
Systems" aufgestachelt wird. Der Zweck ist
erreicht, ganz gleich, ob ein Dementi folgt
oder nicht. DaS „B. T." hat es übrigens
bis jetzt nicht für nötig gehalten, seine Falsch¬
meldung zurückzunehmen und den verdächtigten
Ruf der betroffenen Persönlichkeiten wieder
herzustellen. Es ist auch wenig wahrschein¬
lich, daß es sich dieser „Peinlichen" Aufgabe
unterzieht. Und selbst, wenn dies noch der
Fall sein sollte, wieviele von den Zufalls-
lcscrn, auf deren Anschauung jener Artikel
vergiftend wirkte, bekommen das Dementi
zu Gesicht!? Man kann das „ancien r^ime"
mit sachlichen Gründen bekämpfen — die
Methode des „B. T." ist übelste Demagogie,
die jene Kreise so gern am Gegner rügen.
W
enn man das schöne Wort
„hundelt liest — man liest es jetzt täglich an die
zehn Malt — kommt eS eiiiem vor, als würde
unsere ganze öffentliche Meinung in einem
großen Kondor gemacht. Die Welt besteht doch
wahrhaftig noch aus anderen Leuten als Buch¬
haltern und Kommis. Aber heutzutage muß
alles „gebucht" werden. Man lese irgend¬
einen Aufsatz irgendeiner Zeitung oder Zeit¬
schrift: eS wird mindestens einmal, oft aber
noch viel häufiger in ihm „gebucht". Ein
KriegSbcrichterstatter schreibt: Trotz des Ver¬
lustes von Se. Quentin können wir in der
Abwehrschlacht im Westen große Erfolge
„hundelt". Der Feind aber muß schwere,
nein „schwerste" Verluste „hundelt". Erz-
berger kann einen Sieg über Hertling
„hundelt". Ganz kürzlich las ich sogar: „Der
... Drang zu einer gemeinsamen — solida¬
rischen — Entwicklung ist als ein lebens¬
starkes Element zu hundelt". Was muß das
für ein Hauptbuch sein, in dem levensstarke
Elemente gebucht werden!
Ich schlage in meinem Wustmann das
Kapitel: „Modewörter" auf. Da findet sich
das schöne Wort „hundelt" noch nicht mit auf¬
geführt. Wir können also wieder mal einen
Sprachfortschritt feststellen. Man hat den
Fortschritt auch gleich tüchtig demokratisiert.
Fast jede beliebige Seite bedruckten Papiers
bezeugt ihn. Nur ist leider auf stilistischen
Gebiete die allzu „hemmungslose" — auch
ein schönes ModewortI — Demokratisierung
eines zum ersten Male vielleicht ganz geist¬
reich verwendeten Ausdrucks eine arge Ge¬
schmacklosigkeit.
Es galt vier Kriegsjahre hindurch für
patriotisch, die Fremdwörter zu bekämpfen.
Indessen wirkt die Verwendung eines Fremd¬
wortes am rechten Orte nicht halb so ge¬
schmacklos, wie das Breittreten sprachlicher
Modetorheiten wie — „vorn Schlägel" —
„hundelt". Hier wäre ein lohnendes Arbeits¬
feld für unsere Sprachschützen. Erfreulicher
aber wäre eS noch, wenn die geschmackvollen
Leute in Deutschland sich entschlössen, das
Wort „hundelt" und ähnliche Geschwister nur
ein halbes Jahr lang nicht mehr zu ver¬
wenden. Dann mag man es gelegentlich ja
^v-'^
Ve ethov eus
„nennt e", alle tiefste Offen¬
barung musikalischen Seistes,
klingt aus In einem Jubel-
hijwmw an alle Freucle.
Wenn -lereinst ater „schöne
Eöttersunke" as» Friecleno er¬
strahlt uncl ckao „Äeiä um¬
schlungen Millionen" am
nach treuester Pflichterfüllung
Heimüehrenclen entgegenüiingt,
so brauchst Du nicht be¬
schämt beiseite ßtehen, sofern
auch D u aeine Pflicht getan! Dein- Pflicht:
Jeichnel >
Al»«<„t.,^x»K^.
Die Polen bekennen Farbe. Sämtliche in
Deutschland erscheinenden Polnischen Blätter
veröffentlichen folgenden Aufruf zur Friedens¬
frage:
„Nach über vier Jahre lang tobenden
Kriegsschrecken und unermeßlichen Leiden, von
denen die besten Kräfte der Menschheit ver¬
nichtet werden, tauchen aus dem blutigen
Chaos die Konturen einer neuen Weltordnung
auf der Basis der Gerechtigkeit und des
Selbstbestimmungsrechtes aller Böller auf.
Das im Sinne obiger Grundsätze festgelegte
Programm eines dauerhaften Friedens, das
in den bekannten Erklärungen des Präsidenten
Wilson enthalten ist, wurde nunmehr auch
durch die deutsche Regierung, wie es aus der
letzten deutschen Friedensnote vom 6. Ok¬
tober 1913 zu ersehen ist — angenommen.
Demgemäß hat auch für uns Polen die Stunde
geschlagen, in der wir unsere Stimme er¬
heben müsse», um die unverjährten Rechte
der Nation zu fordern. Die Teilung Polens
war die krasseste Vergewaltigung der inter¬
nationalen Gerechtigkeit in der Geschichte der
Neuzeit und dadurch schon wurde sie zur
Hauptquelle dieser Gewalt- und Bedrückungs¬
politik, die in Europa den Herd ewiger Un¬
ruhen bis in die heutigen Tage hinein bildete.
Wer also aufrichtig und ehrlich die Hand zum
Aufbauen einer neuen, auf der Achtung des
Rechtes basierten Zukunft der Völker mitanlegen
Will, der muß die Restitution des den Polen
zugefügten Unrechtes als erste, unerläßliche
Bedingung dieses großen Werkes betrachten.
Nur die Vereinigung zu einem ganzen,
aller in den Polnischen Ländern wohnenden
Volksteile, die die vollen Rechte eines Staates
besitzen, kann die Gewährung eines dauernden
Bündnisses der Völker bilden.
Das hat der Präsident Wilson anerkannt,
indem er in seinem Friedensprogramm die
Bildung eines unabhängigen, aus allen pol¬
nischen Landesteilen zusammengesetzten und
eine eigene Meeresküste besitzenden Polens
aufstellte, als eine der Grundlagen einer ge¬
rechten, internationalen Weltordnung. Aus
der Tatsache, daß die deutsche Regierung das
Programm Wilsons ohne Vorbehalt als
Grundlage der Friedensverhandlungen ange¬
nommen hatte, muß man folgern, daß sie
mit den Richtlinien dieses Programmes in
bezug auf die Polnische Frage einverstanden ist.
Die Wichtigkeit dieser Stellungnahme hat
mit -Nachdruck der Vertreter der polnischen
Fraktion während der historischen Reichstags¬
sitzung vom 6. Oktober d. I. festgestellt, in¬
dem er darauf hinwies, die Regierung habe
dadurch zum ersten Male anerkannt, daß die
Bestrebungen des Polnischen Volkes, die die
Vereinigung aller Polnischen Landesteile zu
einem unabhängigen Staate zur Grundlage
haben, vollberechtigt sind.
In diesem, über unsere Zukunft entschei¬
denden Augenblick bildet das ganze, alle pol¬
nischen Landesteile bewohnende Volk in allen
seinen Schichten — von einem gemeinsamen
Gedanken beseelt — ein großes, einiges und
festgefügtes nationales Lager.
tigten Interessen der unwandelbaren natio¬
nalen Ideale in die Hände unserer Abgeord¬
neten sowohl im Land- als auch im Reichs¬
tage legen.
Die Polnische Nation, die in diesem Kriege
gleich allen kriegführenden Völkern, die
schwersten Opfer dargebracht hat, ersehnt
einen dauerhaften und alle Völker beglückenden
Frieden. Die Polen bleiben, so wie sie bis¬
her waren, auch in der Zukunft ihrer glor¬
reichen Überlieferung treu, die seit dem Mvr¬
genrot der Geschichte von denselben Idealen
der Freiheit und der Verbrüderung der Völker
bestrahlt sind, deren Triumph heute aus der
Saat der unschätzbaren, vergossenen Blut¬
ströme hervorsprießt.
Unter dem Banne dieser Grundsätze wird
das vereinigte und unabhängige Polen in
den Verband der freien Völker eintreten, als
aufrichtiger und unbeugsamer Versechter der
Toleranz nach innen und des einträchtigen
Zusammenlebens der Völker nach außen, ge¬
mäß der großen Losung unserer Väter: Freie
mit den Freien, Gleiche mit den Gleichen."
Es folgen die Unterschriften aller Pol¬
nischen politischen Organisationen, Wahl-
komiteeS und Parteien sowie aller Polnischen,
in Deutschland erscheinenden Zeitungen, ohne
Ausnahme der Parteirichtungen.
Leitung der Politik im Sinne der berech¬
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
er jetzt auf seinem Geldsack siyt,
Der spart für den Feind,
wer Rriegsanleihe zeichnet,
Gvart 5ur seine Rinder«
le deutsche Regierung brauchte eine volle Woche, um auf Wilsons
Herausforderung eine Antwort zu finden. Was schließlich zutage
kam, konnte niemanden in der Heimat befriedigen, da es dem
Gegner nicht einmal Achtung einzuflößen vermag. Dennoch
enthält die Antwort alles, was von ihr nach Lage der Dinge ge¬
fordert werden konnte: die ernste Bekundung des Friedenswillens.
Es ist ein diplomatisches Aktenstück, das ziemlich unverhüllt deu^ Zweck zur
Schau trägt, das am 5. Oktober eingeleitete Friedensgespräch unter keinen
Umständen abreißen zu lassen und die öffentlichen Erörterungen des Friedens
über alle natürlichen Klippen und böswillig angebrachte Stauungen hinweg
in Fluß zu bringen und zu erhalten. Das ist nicht mehr allein Dienst
am Vaterlande, das ist Dienst an der Menschheit überhaupt und sollte ge¬
eignet sein, der neuen Regierung in der Welt Vertrauen und Freunde zu
werben. Leider sind solche Menschheitsdienste in der großen Politik Wechseln auf
die Zukunft vergleichbar, von denen niemand weiß, ob sie so rechtzeitig eingelöst
werden können, daß sie seinem Adressaten noch Nutzen bringen. Friedrich der
Große ließ sich durch den Dank der Menschheit nicht verlocken, gegen die Interessen
seines Landes zu handeln: als er im Dezember 1745 vom französischen Ge¬
sandten Darget gedrängt wurde, seine Truppen marschieren zu lassen, um den
Frieden Europas sicherzustellen, erwiderte er, die wahre Größe liege doch sehr viel
mehr darin, für das Glück seiner Untertanen als für die Ruhe Europas zu sorgen.
Auch wir haben wenig Vertrauen dazu, daß die Menschheit unseren Staats¬
männern und durch sie uns je Dank wissen wird, wenn es gelingen sollte, durch
Verhandlungen und Nachgiebigkeit das Kriegsende herbeizuführen. Die Schuld
am Kriege wird stets dem Unterlegenen auferlegt. Welche Opfer er für den all¬
gemeinen Frieden brachte, werden nicht einmal die Philologen nach tausend Jahren
hervorzuheben wagen, weil Größe und Kultur sich stets an Kraft knüpft, an Sieg
nicht an Untergang. Das ist Naturgesetz!
Inzwischen warten wir wieder, was die Entente für gut befinden wird,
uns durch Wilson an neuen Forderungen zu unterbreiten. Durch die Kanzleien
der Wilhelmstraße und durch die Redaktionen, durch Parlamente und politische
Klubs geht das entnervende Rätselraten: was wird Wilson antworten? In sehr
belesen scheinenden Vorträgen wird uns der Charakter Wilsons und seiner Um¬
gebung erklärt und aus ihm gefolgert werden, daß er nur das Beste für die
Menschheit, also auch für uns im Auge und den alleinigen Ehrgeiz habe, der
Welt den Frieden zu bringen, den ewigen natürlich I Das sei aber unerreichbar,
sofern er den Versuch zuließe, Deutschland ^ in einen Unterwerfungsfrieden zu
zwingen. Wilson sei klug genug, Deutschland nicht zum äußersten zwingen zu wollen.
Gott gäbe, es wäre so und nicht anders! Viel Blut und Elend könnte
gespart werden. Aber glauben kann ich es nicht! So wenig ich glauben kann,
daß England unbezwungen von seiner Seeherrschaft etwas abtritt, durch Verträge
und Vergleiche, wie eine gewisse Diplomatenschule bei uns annimmt, so wenig kann
ich mir denken, daß Wilson Sicherheiten für einen Weltvölkerfrieden, die er durch
Schlachtenglück und kluge Diplomatie gemeinsam mit England gewann, aus de^
Hand geben sollte, ehe sie nicht doppelt in anderer Weise sichergestellt werden. Und
einen Gegner freizugeben, in dem Augenblick, wo man sich sicher fühlt, ihm den
Fang- oder Gnadenstoß versetzen zu können, mag einmal in der deutschen Ritter¬
romantik Sitte gewesen sein, — im Hirn eines modernen Angelsachsen wächst
solche Sentimentalität nicht!
Doch ich will mich nicht auf dasselbe Eis begeben, auf dem die Regierungs¬
männer herumgleiten, ohne einen festen Haltepunkt zu finden. Die Friedens¬
möglichkeiten lassen sich nicht ohne weiteres aus der Geistesverfassung dieser oder
jener Persönlichkeit erklären, sondern ausschließlich aus dem jeweils vorhandenen
Gesäme-Tatsachenmaterial, in dem eine Persönlichkeit wie die Wilsons selbstver¬
ständlich ein gewisses Gewicht hat, aber durchaus nicht zu jeder Zeit ausschlag¬
gebend zu sein braucht. In zwei Punkten will ich den Standpunkt der Regie¬
rungsmänner annehmen: ich gebe zu, daß Wilson ernstlich bemüht ist, auf dem
Erdball einen Zustand schaffen zu helfen, der die Wiederkehr einer Katastrophe
wie den Weltkrieg nach menschlichem Ermessen unmöglich erscheinen läßt, und ich
glaube, daß Wilson im Völkerbund das Instrument sieht, das die Autorität haben
werde, den Frieden aufrecht zu erhalten. Hieraus kann ich aber nicht folgern-
daß für Wilson ein schneller Friedensschluß oder wenigstens schnelle Einstellung
der Feindseligkeiten aus Gründen der Menschlichkeit die zeitlich nächste Forderung
sein muß, sondern ich folgere, daß seine nächste und dringendste Forderung ist
und bleiben wird: die Garantie der Zuverlässigkeit seines Völkerbundes!
Der Völkerbund als Grundlage des Friedens! Das ist sein praktisches Ziel,
dem sich alle anderen Interessen, soweit sie für ihn faßbar sind, zu unterwerfen
haben. Ein paar tausend Menschenleben können dabei in Wilsons Rechnung nach
den Hekatomben keine Rolle mehr spielen. Aus dieser Erwägung heraus war es
falsch, von unserer Seite mit dem Friedensangebot zusammen auch das Waffen-
stillstandsangebot an Wilson zu richten. Die Verhandlungen um die Grundlagen
des Völkerbundes können neben den Schlachten hergehen. Das Waffenstillstands,
angebot hat unserem ersten Friedensschritt etwas Unsicheres gegeben, das die
Gegner für ihre Zwecke unter ihren und unseren Bundesgenossen, unter den Polen,
Russen und Dänen auszuwerten vermögen und unsere militärische Lage bei uns
selbst in durchaus seltsamem Lichte erscheinen ließ.
Fassen wir den Völkerbund und nicht den Frieden als das Primäre in
Wilsons Plänen ins Auge, so ergibt sich von selbst, daß nicht dem Wege zum
Frieden, sondern dem Weg» zum Völkerbunde Wilsons nächste Sorge gilt.
Durch Deutschlands Unterwerfung unter die bekannten vierzehn Punkte Wilsons
(s. Heft 41) ist Wilson vor die Wahl gestellt, ob er den Weg durch Waffengewalt
und Gewaltdiplomatie oder durch Verträge und friedliche Rechtsgrundlagen zu
seinem Ziele schreiten will. Im ersten Falle müßte Wilson sich entschließen, dem
deutschen Volke den Garaus zu machen, — im zweiten es ihm ermöglichen, als
gleichberechtigtes Mitglied in den Völkerbund einzutreten. Wilson wird unbe¬
kümmert um Blut und Tränen und deutsche oder sonstige Interessen den Weg
schreiten, der ihm als der sicherste zu seinem Ziele erscheinen wird.
Wenn man die Antwort Wilsons zusammen, mit den Kommentaren der
Ententepresse liest, so muß man zu dem Glauben kommen, daß Wilsons Weg
durch Waffengewalt und Gewaltdiplomatie führen soll, und die Kriegslage ist nicht
dazu angetan, uns auf den anderen Weg zu weisen. Sehen wir sie uns einmal
unter dem weltpolitischen Gesichtspunkte an.
Nachdem ein Durchbruch der deutschen Westfront bis zum heutigen Tage
nicht gelungen ist, bleibt als großer strategischer Erfolg für die Engländer die
Besetzung der flandrischen Küste bis Zeebrügge. Der gesamte Geländegewinn in
Belgien und Frankreich bleibt eine Summe taktischer Erfolge von ver¬
schiedenem Wert für die Entente, wenn man in Betracht zieht, daß
die deutschen Linien erheblich verkürzt und begradigt werden konnten, während
die Entente gezwungen ist, Hunderttausende von Landeseinwohnern mit den großen
Städten Cambrai, Douai, Lilie usw., Städten mit zerstörten Hinterland bei sich
aufzunehmen, zu verpflegen und unterzubringen. Zu gleicher Zeit kommen die
deutschen Truppen in vom Kriege so gut wie vollständig verschonte Gegenden und
können dort ganz anders der Ruhe pflegen als die nachdrängenden Truppen der
Entente, die fortab gezwungen sind unter Trümmern zu Hausen. Die Schwierig¬
keiten der Front in Frankreich und Belgien aber wachsen auch durch den nahenden
Winter, der die Entente zwingen dürfte, schon sehr bald aus die Mitwirkung der
afrikanischen und indischen Hilfsvölker zu verzichten. Dadurch verliert der französische
Kriegsschauplatz in strategischer Hinsicht an erstklassiger Bedeutung. Weltpolitisch
und vom Standpunkt der Wilsonschen Völkerbundsziele aus ist es vom Augenblick
der Besetzung der flandrischen Küste durch England an für die Entente ziemlich
belanglos, ob die deutschen noch einige tausend Quadratkilometer Frankreichs und
Belgiens besetzt halten oder nicht, solange dadurch die Haltung der Pariser nicht
ungünstig beeinflußt wird.
Nach dem militärischen Zusammenbruch Bulgariens und dem Verrat
Malinows sind Balkanhalbinsel und Kleinasien mit den dazwischen liegenden Ge-
wässern zum wichtigsten Kriegsschauplatz der Entente geworden. Bei der Politik
der wirtschaftlichen Einweisung, die England seit Jahr und Tag Deutschland
gegenüber verfolgte, hat der Balkan stets als Hebelansatzpunkt eine hervorragende
Rolle gespielt. Aber er war nicht voll auszuwerten, solange Ferdinand von
Bulgarien zu Deutschland hielt. Erst jetzt wird der Weg für die Heere der
Entente bis zu einem gewissen Grade frei, die in Dedeagasch an Land gesetzt,
ungehindert durch bulgarische Truppen nach Konstanza marschieren können und
von dort aus sowohl die Verbindung mit Rumänien aufnehmen wie auf der
anderen Seite die Verbindung Deutschlands zur Türkei unterbinden könnten. Der
Balkankriegsschauplatz gewinnt aber im Augenblick noch seine besondere Bedeu¬
tung für die Ziele Wilsons durch die gährenden Zustände bei den Westslawen.
Wie bekannt, hat Kaiser Karl durch ein Manifest allen seinen österreichischen
Völkern die Selbständigkeit im Nahmen eines Habsburgischen Bundesstaates ver¬
liehen. Durch das Manifest sollte ein selbständiges Deutschösterreich, ein Tschechien
und ein Slowenien entstehen! Galizien sollte, geteilt, in seinem westlichen Gebiet
zum reinen Polen geschlagen werden, während Ostgalizien als Halicz selbständiger
Bundesstaat werden sollte. Auf das Manifest haben Tschechen und Südslawen
ablehnend geantwortet. Sie verzichteten auf die kaiserliche Großmut und erklärten
warten zu wollen, bis die Entente ihnen die Selbständigkeit verleihen und
garantieren würde. In Paris hat sich ein tschechisches Ministerium gebildet; die
Warschauer Polen hatten sich schon im Februar 1917 unter den Schutz Wilsons
gestellt; in Ungarn erklärte der Parteiführer Karoly, seine und seiner Partei
Sympathien ständen bei der Entente. — Schließlich ist auch Wilsons Antwort¬
note auf des Grafen Burian Friedensgesuch eingetroffen, in der über den alten
Staat Habsburg rücksichtslos zur Tagesordnung übergegangen wird: Die Tschecho¬
slowaken werden ausdrücklich als kriegführende Macht und Verbündete der Entente
bezeichnet; Tschechen und die vierzehn slowakischen Komitate Ungarns ebenso wie
die als Jugoslawen vereinigten Kroaten, Serben und Slowenen werden als
selbständige Nationen anerkannt, mit denen die Entente fortab ohne die Vermitt¬
lung Wiens zu verhandeln gedenkt.
Somit reicht der politische Einfluß Wilsons zurzeit schon über den ganzen
Balkan quer durch Ungarn, Mähren und Böhmen bis an den Kamm des Riesen¬
gebirges und im Osten durch Rumänien, Galizien, Polen, Posen bis nach Danzig.
Das Deutschtum in Osterreich schwankt noch, ob es sich zu den Stammesgenossen
im Reich oder zur Entente schlagen und sich so in das slawische Meer stürzen soll.
So ist es unserer Diplomatie nicht nur nicht gelungen, den Ring, den Eduard
der Siebente um uns schmiedete, zu zerbrechen, trotz aller militärischer Erfolge,
sie hat es nicht einmal verhindern können, daß der Ring fester und enger und
daß aus der Entente ein Völkerbund geworden ist, der alle Nationen Europas
bis auf die deutsche und die verwandten Neutralen umfaßt. Das ist die bittere
Erkenntnis der Lage, und allein aus dieser Lage und aus den durch sie bedingten
Kräfteverhältnissen können wir folgern, welchen Weg Wilson zu wandern gedenkt,
um sein Völkerbundsideal, also eine Macht, die künftige Kriege verhindert, zu
erreichen. Ich kann mir nicht denken, daß Wilson die mühsam zusammengebrachte
Macht in die Gefahr des Zerfalles bringen wird, lediglich um den Ansprüchen
des eingekreisten Deutschtums gerecht zu werden. Wir können von ihm nur in
dem Falle Berücksichtigung erwarten, wenn wir unbekümmert nachweisen, daß
wir noch nicht am Boden liegen und uns selbst nicht preiszugeben wünschen.
Wenn heute Maximilian Harden, Theodor Wolff und Georg Bernhard sich schon
bereit erklären, um der Menschheit willen deutsche Gebiete preiszugeben, so sollte
Wilson durch den Mund des Reichskanzlers erfahren, daß hinter diesen Berlinern
die deutsche Nation nicht fleht. Das deutsche Volk beginnt eben erst sich von
dem Schreck über das Waffenstillstandsangebot zu erholen und zu sammeln. Es>
Wartet nur auf den Führer, der ihm die neue Parole zurufen wird. Wenn dieser
Führer heute schon in der demokratischen Regierung vorhanden sein sollte, dann
um so besser. Um die Form der Negierung würde sich im Augenblick kein Mensch
in Deutschland sorgen, wenn die Regierung nur führen wollte. Darum brauchen
auch die neuen Machthaber keinen inneren Feind zu fürchten. Es geht nicht um
die Form der Reichsverfassung oder der Volksbeziehungen, sondern um das
Deutschtum, um seine Erhaltung als Kulturfaktor in Europa. Solange sich
unsere Regierungsmänner dieses bewußt sind, ist trotz der begangenen Fehler und
trotz verlorener Schlachten noch nichts unwiderruflich hin. „Es ist keineswegs
gesagt, daß zum Schluß wirklich der als Sieger aus dem Völkerringen hervor¬
gehen wird, der die meisten Kanonen auf dem Schlachtfelde ins Feuer bringen
kann. Als Soldat muß man an dem durch die Kriegsgeschichte aller Zeiten
begründeten Glauben festhalten, daß die überlegene Führung eines großen Feld¬
herrn sowie die Tüchtigkeit und Opferwilligkeit der kämpfenden Völker, wenigstens
bis zu einem gewissen Maße, über Zahl und Rüstung siegen können". (Egli.)
eit geraumer Zeit streben die Städte eine Änderung der Ver¬
waltung an den von ihnen errichteten höheren Schulen an. Eine
Denkschrift des Städtetages, die im vorigen Jahre erschien, stellte
Forderungen auf, die auf eine Kommunalisierung der Schulen
Hinausliesen. Eine amtliche Verlautbarung der Zentralstelle des
Deutschen Städtetages faßt sie kurz in folgenden allgemeinen
. armen: „An die Stelle der jetzt nur so genannten Staatsaufsicht,
die tatsächlich eine unmittelbare Verwaltungstätigkeit der Staatsbehörden
bedeutet, muß mit Ausnahme der im einzelnen aufzuzählenden sogenannten
Inneren Schulangelegenheiten', die Beschränkung auf eine wirkliche Staats¬
aufsicht treten." Deshalb soll bestimmt werden, daß die von den Gemeinden
unterhaltenen Schulen Gemeindeanstalten sind, daß die Lehrer Kommunal¬
beamte sind. Der Staat schreibt Lehrpläne, Stosse, Ziel, Ordnung des Unter¬
richts vor und erläßt Vorschriften über die Schulzucht. Die Gemeindeverwal¬
tung hat das Recht der Einsicht in den Unterrichtsbetrieb und der Teilnahme an
den Revisionen; sie stellt die Lehrer an. Gegen Verfügungen des Staates steht
ihr die Klage im Verwaltungsstreitverfahren zu.
Durch die Gewährung dieser Forderungen wären die höheren Schulen
kommunalisiert. Es erhob sich daher aus Oberlehrerkreisen heftigster Wider¬
spruch. Man wies daraus hin, daß das geltende Recht den Forderungen der
Städte widerspräche, daß das Interesse von Erziehung und Unterricht erheische,
daß die von den Städten erhobenen Forderungen sämtlich abgelehnt würden.
Der Kultusminister suchte zu vermitteln. In langen Verhandlungen mit
den Städten wurde erreicht, daß sie namentlich die Forderung fallen ließen, die
Schulen sollten Gemeindeanstalten, die Lehrer Kommunalbeamte werden. Der
Weg zur Verständigung wurde durch Einrichtung von „Schulausschüssen" ge¬
funden, die überall eingeführt werden sollen. Ihnen konnten, da sie einerseits
Von der Stadt, anderseits aber vom Staat eingesetzt werden, bestimmte Ziechw
zugebilligt werden, die man früher den Städten verweigert hatte. Sie sind in.
diesen Tagen in der neuen Verwaltungsordnung festgesetzt worden.
Die Schulausschüsse — früher Kuratorien genannt — bestehen >aus dem
Bürgermeister oder dessen Stellvertreter, drei Magistratsnritgliedern, drei Stadt¬
verordneten und zwei bis vier Bürgern (auch Frauen), ferner den Direktoren
der höheren Lehranstalten bis zur Höchstzahl von drei. Seine wichtigsten Be¬
fugnisse sind einmal die unzweifelhaft „äußeren" Angelegenheiten, also Beauf¬
sichtigung der Gebäude, Bereitstellung der Mittel, Freistellenbestimmungen
und so weiter, außerdem kann die staatliche Schulbehörde über Nebenbeschäftigung
der Oberlehrer, soweit sie über vier Wocbenittmden tziimnsgelit. nur im
Einverständnis mit dem Schuläusschuß bestimmen und ebenso auch
nur Urlaub über vier Wochen bewilligen; zur Bewilligung von mehr
Ms sechs Monaten bedarf es der Einwilligung des Stadtvorstandes.
Der Vorsitzende oder ein schultechmsches Mitglied der Stadtverwaltung ist be¬
rechtigt, den Lehrstunden als Zuhörer beizuwohnen, der Vorsitzende oder städtische
Schuldezernent kann an Revisionen zuhörend teilnehmen. Der schriftliche Ver¬
kehr zwischen Direktor und staatlicher Schulbehörde geht mit Ausnahme von
Eilsacheu, Berichten über Studienreferendare und Schulamtsbewerberinuen,
Prüfungssachen und Disziplinarangelegenheiten durch die Hand des Vorsitzenden.
Endlich -hat der Vorsitzende oder sein Stellvertreter Sitz und Stimme bei Reife-
und Schlußprüfungen.
Wie man sieht, ist hier dex Mitwirkung der Schulausschüsse, die zum
größten Teil aus städtischen Vertretern bestehen und namentlich der ihres Vor¬
sitzenden ein weiter Spielraum gegeben, aber allerdings sind bei weitem nicht die
Forderungen erfüllt, die der Städtctag aufgestellt hat. Es ist ein Kompromiß,
geschlossen unter der Erwägung, daß die von den Städten betonten privatrecht¬
lichen Gesichtspunkte soweit berücksichtigt werden müßten, als die Lebensbedin-
gungen der Erziehung und des Unterrichts dies zulassen. Es geschieht in unse¬
rem Schulleveu, namentlich, wenn man an die gleichzeitige Einführung der
„Elternbeiräte" denkt, der Ruck nach links, der auch im politischen sich in weit
größerem Ausmaß als notwendig und richtig erwiesen hat.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Gründe für die. Ansicht der Städte,
daß ihnen im höheren Schulwesen größere Rechte eingeräumt werden müßten,
durchaus nur auf dem Gebiet der „äußeren" Angelegenheiten liegen. Die
Städte zahlen, also müssen sie nach landläufiger Ansicht auch die Rechte eines
Hausherrn besitzen. Dabei vergessen sie nur, wie Louis in einer vortrefflichen
Darlegung ihnen nachweist, daß Schulen etwas anderes sind als andere städtische
Einrichtungen, als eine Gasanstalt o. ä. Diese sorgt nur für das Wohl der
Stadtbürger; jene aber fassen in ihren Wirkungen weit über den Bereich der
Stadt hinaus: sie dienen der nationalen Kultur , überhaupt, sie machen aus den
Schülern Staatsbürger, sie wirken sür das große sittlich-geistige Band, das uns
alle, in welcher Gemeinde wir auch leben, aneinander hält und zu einem Volk
zusammenschmiedet. Darum kann auch der-Lehrer-stand, der diese Aufgabe zu er¬
füllen hat, niemals aus Kommunalbeamtcn bestehen, und von hier aus gewinnt
die Forderung auch der Gemeindeschullehrer, daß sie Staatsbeamte werden
wollen, eine neue Beleuchtung.
Dieser Gesichtspunkt, der also sozusagen die „inneren" Angelegenheiten
der Schule betont, darf nicht vergessen werden, wenn man die. Lage der höheren
Schulen den Städten gegenüber betrachtet. Wenn diese nationale Aufgabe in
Gefahr gerät, geschädigt zu werden, dann müssen dieser Aussicht gegenüber die
privatrechtlichen Forderungen schweigen: es geht um höhere Güter. Gewiß ist.
zuzugeben, daß die höheren Schulen, die die Städte gegründet haben und unter-
halten, an Stellen, ein denen der Staat versagte, vortrefflich abgeschnitten haben:
der Initiative der Stadt sind eine Reihe von Reformen zu verdanken, die be¬
fruchtend auf das sehnlicher überhaupt gewirkt haben — ich denke da an die
„Reformschulen", an die Versuche mit „Begabtenklassen" usw. Trotzdem muß
es dabei bleiben, daß wo das Lebensinteresse von Erziehung und Unterricht sich
einer Ausdehnung städtischer Rechte hindernd in den Weg stellt, das erste ent¬
scheidet. Denn — und das darf nicht vergessen werden — das wichtigste Recht
in den „inneren" Angelegenheiten der Schule, das Recht der Ernennung von
Lehrern und Leitern, steht den Städten ja. schon längst zu. Sie haben es also
durchaus in der Hand, durch Männer ihres Vertrauens das innere Leben der
Schule entscheidend zu beeinflussen. Dies Recht geht so weit, daß die Gemein¬
den in der Lage sind, sich die besten Kräfte jederzeit zu sichern, und die besonderen
Anreizmittel, die ihnen dazu zu Gebote stehen, namentlich also die Bewilligung
eines höheren Gehalts, als es der Staat gibt, verfehlen ihre Wirkung nicht.
Wie steht es nun mit den den Städten durch die neue Verwaltungsord¬
nung eingeräumten Rechten? Zu allererst muß darauf hingewiesen werden,
daß überall, wo es sich um großstädtische Verhältnisse handelt, sie von der Neu¬
ordnung wenig berührt werden. Der Stadtschulrat einer Großstadt, geschweige
denn der Oberbürgermeister hat viel zu viel Verwaltungsgeschäfte zu erledigen,
um sich noch eingehend mit dem Unterricht in den verschiedenen höheren Lehr¬
anstalten beschäftigen zu können. Selbst bei den Revisionen wird er schwerlich
immer erscheinen "können — vorausgesetzt, daß sie nach dem Kriege überhaupt
wieder aufleben. Kommt er aber wirklich, so wird es ihm einigermaßen pein¬
lich sein, immer uur als Zuhörer ihnen beiwohnen zu können. Schon deshalb
wird er also nicht oft bei den Besichtigungen zugegen sein. Anders wird daS
natürlich in den Mittel- und kleineren Städten sein. Hier wird es sich der
Bürgermeister schwerlich nehmen lassen, an dem Unterricht und den Revisionen
teilzunehmen. Im kleineren Kreise liegen auch die Reibungen näher: hier tritt
das Persönliche Element mehr in den Vordergrund, Sympathien und Anti¬
pathien spielen eine größere Rolle — es läßt sich nicht' sagen, wie hier die Neue¬
rung wirken wird. Der Optimist wird behaupten, daß bei freundschaftlichem
Entgegenkommen ein Zusammenstoß sicher nicht erfolgen wird, bei Schikanen
von selten des Stadtoberhauptes aber der ruhjge, sein Recht wahrende Direktor
kraft der beherrschenden Stellung, die er sich in seiner Stadt erobern wird, auch
ihm gegenüber nicht den kürzeren ziehen wird. Er wird darauf hinweisen, daß
wenn der Bürgermeister ihm Vorhaltungen machen will, er in der Lage ist,
diese abzuweisen und zu verlangen, daß die Angelegenheit im Schulausschuß zur
Sprache gebracht werde; dort aber wird er bei ungerechtfertigten Angriffen eine
Stütze ein seinen Mitbürgern finden. Der Pessimist wird darauf aufmerksam
machen, daß auch der ruhigste Direktor oder Oberlehrer in Harnisch geraten
muß, wenn er den Besuch des Bürgermeisters täglich und stündlich zu erwarten
hat, und daß es nicht erfreulich ist, wenn nach einer schlechten Zensur des Sohnes
eines einflußreichen Stadtvaters nun der Klassenlehrer seines Lebens in den
Stunden, die er zu geben hat, infolge solcher Besuche nicht mehr sicher ist. Hier
zeigt sich eben — wird er sagen. — daß letzten Endes bei dieser Lage der Dinge
die Schule und ihre Interessen leiden müssen: entweder wird der Lehrer, um
der Bedrängnis zu entgehen, den betreffenden Schüler bevorzugen, oder es wird
der Zusammenstöße kein Ende sein. Bei den Revisionen aber'wird — voraus¬
gesetzt, daß der Provinzialschulrat sie vornimmt — der eigentlich wesentliche
Teil, nämlich die Besprechung der Fehler, die gemacht worden sind, in die Kon¬
ferenz verlegt werden, von. der der städtische Beamte ausgeschlossen ist.
Diese Eventualitäten zeigen, daß es bei der Durchführung der neuen Ver¬
waltungsordnung im wesentlichen auf normale Verhältnisse zwischen Bürger¬
meister und Schule ankommt. Wo von vornherein Animosität herrscht, ' da
werden auch in Zukunft Zusammenstöße sich ereignen. Darin wird die Neu-
ordnung keinen Wandel schaffen: Personenfragen' sind hier letzten Endes das
Entscheidende. ^
Daß weiter der Verkehr zwischen Direktor und Provinzialschulkollegium
durch die Hand des Schulausschußvorsitzenden geleitet wird, ist eine außer¬
ordentlich einschneidende Maßregel — um so mehr, als es diesem freisteht,
Aeußerungen zu den einzelnen Gegenständen abzugeben und die Angelegen¬
heiten im Schulausschuß zur Sprache zu bringen. Hier liegt, nachdem die wich¬
tigsten Gebiete vom „Durchgangsverkehr", wie schon erwähnt, ausgeschlossen
sind, eine Gefahr darin, daß der Bürgermeister nicht nur Einblick, sondern auch
Mittel und Wege erhält, gewisse angestrebte Maßregeln, die zwar zum besten der
Schule, aber scheinbar nicht zu dem der Stadt, etwa des Stadtsäckels sind, zu ver¬
hindern. Auch solche Eventualitäten werden in kleineren Städten viel häufiger
auftreten, da dort die finanziellen Verhältnisse viel enger sind als in den größeren.
Endlich hat das Provinzialschulkollegium^ über mehr als vierwöchigen
Urlaub und Nebenbeschäftigungen der Oberlehrer, soweit sie über vier Wochen¬
stunden hinausgehen, „im Einverständnis mit dem Schulausschuß" zu befinden.
Das bedeutet natürlich, daß es nicht imstande ist, etwas zu bewilligen, wenn
nicht der Schulausschuß seine Einwilligung gegeben hat. Hier liegt die Gefahr
auf der anderen Seite: die Oberlehrer könnten bei dem engen Zusammenhang,
den die kleine Stadt gibt, versucht sein, Beziehungen, die sie außer der Schule
begonnen haben, für ihre eigenen Wünsche auszunützen. Die rein menschliche
Folge gewonnener Freundschaften zu maßgebenden Persönlichkeiten in der Ge¬
meinde würde auch hier zu einer Schädigung reiner Schulinteressen führen
können. Allerdings spricht das Provinzialschulkollegium das letzte Wort, in¬
dessen wird, wie wir gleich sehen werden, im allgemeinen die Entscheidung in
der Stadt doch sozusagen die letztinstanzliche sein. Ein Gutes wird allerdings
in der Möglichkeit des Widerspruches der staatlichen Behörde liegen: es ist durch¬
aus möglich, daß nach dem Kriege eine ganze Reihe neuer Schulen — Handels¬
schüler usw. — gegründet werden. Es liegt dann im Interesse der Gemeinden,
diese durch Mehrbelastung von Oberlehrern für sich weniger kostspielig zu ge¬
stalten; da würde das Provinzialschulkollegium einen wirksamen Schuy
für sie bilden können. Anderseits darf man nicht vergessen, daß nach diesem
furchtbaren Kriege gerade die Oberlehrer in weit höherem Maße als sonst auf
Nebenverdienst werden angewiesen sein. Unvernünftige städtische Weigerungen,
ihnen solchen zu erlauben, würden schwere Schädigungen im Gefolge haben.
Die Folgen der neuen Ordnung lassen sich nach alledem nicht übersehen,
Eins aber kann schon heute gesagt werden: Provinzialschulkollegien werden noch
mehr ausgeschaltet sein als früher und mehr reine Verwaltungsbehörden werden.
Ihnen ist in den genannten Fällen das Berufungsrecht entzogen; so werden sie
keine Neigung haben, sich mit ihnen zu befassen, namentlich wenn sie annehmen
müssen, daß "sie doch nichts ausrichten können. Diese Stellung den Städten
gegenüber wird sie zur äußersten Vorsicht auch in anderen Angelegenheiten
mahnen.
Ein Weiteres steht in Aussicht: wenn die Neuordnung in den kleinen
Städten nicht eine Besserung, sondern eine Verschlechterung der Verhältnisse
zwischen den Schulen und den städtischen Beamten bringt, oder wenn der eben¬
falls mögliche Fall eintritt, das; die persönlichen Benehnngen Zwischen Lehrer¬
kollegium und städtischen Beamten zum Schaden der «schule ausschlagen, so wird
der Staat dazu gedrängt, die in Frage stehenden Schulen zu verstaatlichen. Die
Neigung^ in einer allgemeinen Verstaatlichung der höheren Lehranstalten den
richtigen Weg zu sehen, ist in weiten Kreisen, auch der Oberlehrer, verbreitet:
sie. hat aber auch, abgesehen von der daraus Mgenoen starben Belastung des
Staatssäckels, ihre Schattenseiten. Aber wenn an den Stellen, wo nnr durch
diese Maßregel gedeihliche Verhältnisse zu erreichen sind, der Staat eingreift, so
wird dagegen nichts einzuwenden sein."
Der Minister hat in der Einleitung betont, daß die ,.inneren Angelegen¬
heiten der Schulen nach wie vor dem Staat und seinen Organen untersteyen,
weiter, daß aus der hervorragenden Stellung des Vorsitzenden des Schulaus¬
schusses, der ja zugleich der Bürgermeister ist, nicht geschlossen werden darf, daß
er der Vorgesetzte der Oberlehrer und Direktoren wird, er hat betont, daß Ent¬
scheidungen" über Urlaub, Nebenbeschäftigungen und Auswärtswohuen nur aus
sachlichen Gründen heraus erfolgen dürfen, und er hat endlich noch einmal
deutlich darauf hingewiesen, daß die neue Verwaltungsordnung einen Versuch
darstellt. Man erkennt, daß er sich der Bedeutung seines Entgegenkommens den
Städten gegenüber bewußt war und daß er auf loyale Durchführung bei ihnen
hofft. Nur dann werden die Reibungen, die bis jetzt, auch in größeren Städten
so oft erfolgten, aufhören, wenn die Städte, selber mit dem Erlangten zufrieden,
großzügig wie ihre Rechte so auch ihre Pflichten den Schulen gegenüber wahren
und wenn sie den neuen Geist, mit dem der Staat ihnen entgegenkommt, nun
auch ihrerseits betätigen.
le Vlamensrage ist eines der verwickeltsten NationalittitsprMeme.
MzM^^W Jn ihr ist soviel Unsicherheit und Schwanken, weil das Planen
selber nicht als geschlossene Einheit zusammensteht. Nichts
Z ist verkehrter als die Meinung, das flämische Voll hätte sich den
der belgischen Regierung wie ein
Mann widersetzt. Diese Maßnahmen hätten nun und nimmer
solchen Erfolg haben können, wenn ihnen nicht große Teile der Bevölkerung lau
und teilnahmlos gegenübergestanden, nicht wenige geborene Manier sogar tätigen
Vorschub geleistet hätten.
Das Ergebnis, über das wir uns keinen Täuschungen hingeben dürfen, ist
denn auch das, daß bei unserem Einmarsch in Belgien das Vlmnenvolk in fort¬
schreitender Verwelschung begriffen war und daß auch jetzt noch — unter der
deutschen Militärverwaltung und trotz der Abwesenheit der belgischen
Regierung — starke die Verwelschung fördernde Strömungen an der Arbeit find.
Soll das Mmnentmn gerettet werden, so ist es die höchste Zeit, daß etwas
wirklich Durchgreifendes geschieht. Mit der Errichtung einer flämischen
Universität, mit dem Erlaß von- Schul- und Sprachverordnungen, zumal wenn
-sie nicht streng und rücksichtslos durchgeführt werden, ja selbst mit der Ver¬
waltungstrennung ist es nicht getan, so notwendig und zweckmäßig jeder dieser
Schritte war, wenn nicht gleichzeitig den immer noch vorhandenen übermächtigen
Französiernngsströmungen entschlossen und planmäßig der Boden ab¬
gegraben wird.
Es hat seine Bedenken, daß dieses Werk jetzt im wesentlichen durch uns, die
wir der großen Masse der flämischen Bevölkerung noch immer als „der Feind"
gelten, geleistet werden muß. Aber es geht nun einmal nicht anders. Denn das
Mamentum selber ist schon längst viel zu Wenig Herr seiner eigenen Geschicke, ist
im Innern schon viel zu geschwächt und zerklüftet, um aus eigener Kraft den
Weg zur völkischen Erneuerung wiederfinden und vor allem mit Erfolg auf ihm
beharren zu können.
Es ist nun einmal nicht anders, und jeder, der mit diesen Dingen zu tun
hat, wird sich mit der Übeln Tatsache abfinden müssen, daß die bewußt flämisch
Gesinnten, die sogenannten Flaminganten, innerhalb der flämischen Bevölkerungs¬
masse nur eine Minderheit darstellen. In der überwältigenden Zahl der Gleich¬
gültigen, ja sogar bis in die- Kreise der eigentlichen Flaminganten ist die belgische
Staatsgesinnung entschieden mächtiger als der flämische Volksgedanke. „Wie
kann man sui --.sah spreeken?" hört man wieder und wieder von geborenen
Vlamen, namentlich der städtischen Bevölkerung. „Flämisch ist doch nur ein
Patois!" Ein Patois noch dazu, das offenkundig in Belgien dem Fortkommen
und vor allem dem Aufsteigen in Beamtenschaft und Gesellschaft nicht nur
hinderlich ist, sondern es geradezu unmöglich macht. Borsorgliche Eltern lassen
darum besonders in Brüssel, aber längst nicht allein dort, ihre flämischen Kinder
vielfach nur französisch sprechen, um sie von vornherein von der Last des
flämischen Sprachballastes frei zu halten und ihnen die Möglichkeit erfolgreichen
Aufsteigens in Belgiens Staat und Gesellschaft zu eröffnen.
So ist französische Sprache und französisches Wesen in Belgien unter den
Vlamen das unbedingt erforderliche Mittel geworden, ohne das es ein Aus¬
steigen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben einfach nicht gibt. Es erscheint
den Vlamen geradezu als ein unentbehrliches, ja als das alleruneutbehrlichste
Mittel und Werkzeug und die Grundlage allen Fortschrittes. „Was sind wir
ohne unser Französisch?" hört man sie oft sagen in der leider nur zu richtigen,
manche bedrückenden Erkenntnis, wie weit sie mit der alleinigen Beherrschung
ihres angestammten „Patois" kommen. Die deutschen Bestrebungen des Ein-
dämmens der französischen Sprache, zumal ihrer Beseitigung in den Volksschulen
erscheinen unter diesen Voraussetzungen den nicht tiefer Blickenden — und das
ist die große Mehrheit —als eure Beraubung des flämischen Volkes am unent¬
behrlichsten Mittel des Fortschritts und der Kultur.
Durchaus Bürger zweiter Klasse und ohne Kenntnis des Französischen von
jeglicher, auch der geringsten Staatsanstellung ausgeschlossen, zeigten gleichwohl
in diesem Kriege die Vlamen eine selbstverleugnungsvolle Staatstreue, wie sie
nur bei so echten Germanen denkbar ist. Sie leiden und bluten für den Staat/
der sie mit planniäßiger Absichtlichkeit unter die Füße tritt. Sie treiben die
Staatstreue bis zur 'Selbstvernichtung.
Denn es ist immerhin doch nur ein kleiner, jedenfalls bei weitem nicht
der überwiegende Teil der Flamingauten, der das Verschulden des belgischen
Staates an dem größten ihm einverleibten Volkstum klar erkannt hat und seine
Stellung zu diesem Staate danach einrichtet. Er gibt sich keiner Täuschung mehr
darüber hin, daß vom belgischen Staate nach seiner ganzen Vergangenheit eine
aufrichtige Förderung des Vlamentums nun und nimmer zu erwarten ist,
sondern nur Feindschaft und Unterdrückung — im besten Falle versteckte. Dieser
Teil der Flamiuganten ist logisch genug, die Verkoppelung der Vlamen mit den
Wallonen im belgischen Staate offen als ein Unglück anzuerkennen. Vom
belgischen Staatsgedanken hat er sich bewußt losgesagt.
Diese tiefgehenden Unterschiede im Schoße des Vlamentums sind die
Ursache, daß Urteil und Stellungnahme der Vlamen zu den vlamenfreundlichen
Maßnahmen der deutschen Verwaltung so unglaublich auseinanderklaffeil. Von
den Franskillons, die ihrem inneren 'Wesen nach nicht mehr dem Vlamentum
zuzuzählen sind, die uns als vollendeter Übergang des Vlamentums zum
französischen Wesen schon durch ihr bloßes Dasein" den Berwelschungsprozeß des
Vlamenvolkes vor Augen führen, können wir füglich schweigen. Doch nicht nur
sie, auch die große Masse der völkisch gleichgültigen, jedoch mit belgischer Staats¬
gesinnung erfüllten Vlamen stehen den 'flämischen Bestrebungen keineswegs
freundlicher gegenüber, seitdem sie sehen, daß sie vom „Feinde" gefördert werden.
Es wird behauptet, daß z. B. in Antwerpen seitdem mehr französisch gesprochen
würde. Das würde, falls es zutreffen sollte, nur dadurch zu erklären sein, daß die
Zweisprachigen oder doch ein merklicher Teil davon sich auf die Anwendung des
Französischen beschränken, seitdem ihnen das Flämische durch die Parteinahme
des „Landcsseindes" einen unangenehmen Beigeschmack bekommen hat.
Auch der Teil der belgisch gesinnten Flaminganten, die man die
„Passivisten" nennt, weil sie gehorsam dem von Le Hcwre ausgegebenen Stich¬
wort an der Vlcnnenfrage während der Dauer des Krieges nicht rühren wollen,
weist das deutsche Eingreifen in die belgischen Sprach- und Nationalitäts¬
verhältnisse scharf und unversöhnlich zurück. Er will von dem Mutigen
Eroberer" keine Geschenke annehmen und findet die ganze Vlamensache durch
seine Parteinahme kompromittiert Und geschädigt.
So bleiben nur die „Aktivisten" übrig, d. h. die Flamingonten, die es trotz
der Regierungsparole für geboten erachten, die Vlamensache während des Krieges
zu vertreten und zu fordern. Auch unter ihnen gibt es nicht wenige, die dennoch
am belgischen Staate festhalten. Sie lassen sich unsere gesetzgeberischen Ma߬
nahmen, die Vervlamschung der Genter Universität u. a. in. gefallen, obgleich sie
von uus kommen. Sie würden das Gleiche auch von Franzosen, Engländern
oder selbst vom Teufel, wie es schon ausgesprochen wurde, annehmen, wenn
eine Möglichkeit bestünde, es von ihnen zu erhalten.
Einzig und allein die extremste jungflämische Gruppe arbeitete von vorn¬
herein mit vollem. Zielbewußtem mit uns zusammen in der Ueberzeugung, daß
Heil und Rettung der Vlamen niemals in einem wiederhergestellten Belgien,
sondern nur von einem siegreichen Deutschland kommen kann. Die Stärke dieser
Gruppe besteht darin, daß sie die Stelle, von der einzig und allein den: Vlmnen-
tum eine starke und aufrichtige Hilfe werden kann, richtig erkannt hat und ganz
folgerecht, ohne sich durch Verhetzung und den auf den: ganzen Lande lastenden
Terrorismus schrecken zu lassen, danach ihre Stellung wählt. Der belgische Staat
hat in den 85 Jahren seines überwiegend friedlichen Bestehens nicht aufgehört,
das Vlamentum zu verfolgen und zu unterdrücken. Deutschland dagegen hat in
den kurzen Jahren der kriegerischen Besetzung des Landes, umtobt vom Lärm
des größten Weltbrandes und auf allen Seiten von übermächtigen Feinden
bedroht, noch die Zeit gefunden, Bollwerke für das Vlamentum aufzurichten, wie
sie das Volk in den 85 Jahren belgischen Staatslebens vergebens erstrebt und
ersehnt hatte und auch bei längerem Bestehen dieses Staates — darüber gibt eS
keinen Zweifel! — niemals erlangt haben würde. Welcher wirklich volksbewußte
und bis auf den Grund der Dinge blickende Vlame konnte da noch zaudern und
schwanken?
Für sie wurde es zur heiligen Pflicht, die durch unser Vorgehen gebotene
Gelegenheit, Wohl die letzte vor dem sonst unausbleiblichen Untergang, zu ergreifen.
Denn, darüber können weder sie noch wir uns täuschen, ohne Mitwirkung des
Vlamentums oder doch wenigstens beträchtlicher flämischer Volksteile kann es
selbst der stärksten, zielbewußter deutschen Kraft nicht gelingen, das vom Wclsch-
tum fast schon in lebensgefährlicher Weise überwucherte Vlamentum wieder in
die Hohe zu bringen. Ein Volk, das sich nicht retten lassen will, kann kein
Gott retten!
Und wenigstens die Vlamen, die durch ihre Anpassung ^ an französische
'Sprache und Art die großen Vorteile gewonnen haben, die der belgische Staat in
der Beamtenlaufbahn auf solche Anpassungsfähige beschränkt; die im gesellschaft¬
lichen oder geschäftlichen Lebe» dadurch in die Höhe gekommen sind, — diese
Vlamen Wollen überwiegend nicht, daß ihr Volk gerettet werde. Es liegt in der
menschlichen Natur, daß keiner auf mühsam errungene Vorteile leichten Herzens
verzichtet oder einen Zustand herbeisehnt, der ihm größeren Mitbewerb schafft.
Bewußt oder unbewußt ist darin der Grund zu suchen, daß viele Vlamen keine
Änderung 'des früheren Zustandes wünschen. Andere haben sich stumpf und
dumpf mit dem bestehenden Zustand abgefunden. Nach 85 Jahren belgischen
Staatslebens mit seinen für das Vlamentum geradezu verwüstenden Wirkungen
glauben sie an keinen Wandel mehr. Jeder Versuch, ihn dennoch herbeizuführen,
erscheint ihnen völlig aussichtslos und, wenn er sich gar auf den „Landesfeind"
stützt, verräterisch und verabscheuenswürdig. Auch ein künstlich gebildeter Staat
kann, zumal wenn er so folgerichtig verfährt, wie Belgien den Vlamen gegenüber,
in 85 Jahren eine Tradition schaffen, die sich als Macht erweist. Das hat man
im Anfang dieses Jahres gesehen, als die Selbständigkeit Flanderns ausgerufen
wurde. Ein Wutgeheul durchtobte die > Straßen der flämischen Städte.
Franskillonistisch er Reneg atenhaß, verletztes belgisch es Staats empfinden und nicht
zuletzt Haß und Wut gegen die deutschen Beschützer Flanderns reichten einander
die Hand. Ehre den Tapferen, die auf Flanderns Boden Flanderns Recht z«,
vertreten wagten!
Eine Tatsache leuchtete doch über dem Lärm und Getöse dieser Tage, die
Gewißheit, daß der Idealismus im flämischen Volke trotz allem noch nicht
erstorben ist. Die Mitwirkung des Vlamentums ist da! Täglich zieht sie weitere
Kreise, findet neue Kräfte bereit zu dem edlen Werk der Wiederaufrichtung eines
zu Boden getretenen Volkstums. Wären es noch allein die Jungvlamen, so
könnte das Werk leiden. Durch den Schein, als handle es sich in erster Linie um
eine feindselige Gegenwirkung gegen seinen Staat, läßt sich heute noch mancher
belgisch gerichtete Flamingant zurückhalten, dem die mit den Deutschen zusammen¬
arbeitenden Volksgenossen als Landes- und Hochverräter gelten. Doch vie Zahl
der „Aktivisten" steigt unaufhaltsam unter den belgisch denkenden Flaminganten
und damit auch die Zahl der Vlamen, die ein Zusammenarbeiten mit uns nicht
scheuen. Daneben bleiben die Jungvlamen rüstig am Werk, das ihrer vorwärts¬
drängenden Kraft nicht entraten kann.
Aus diesem Zusammenwirken von Deutschen und Vlamen muß einmal
dem Germanentum Heil ersprießen. Das Gezeter der Terroristen, die der in
Le Havre ausgegebenen „lateinischen" Parole blindlings folgen, läßt es erhoffen.
Oder wird die unglückliche Wendung der Dinge nun alle diese verheißungsvoller
Keime verkümmern lassen?
le innerpolitische Neuorientierung — der Begriff kommt jetzt zu
Ehren — ist personeller und sachlicher Natur. Während unauf¬
haltsam die Vertreter des iuaoisrl, rs^uns — im Reiche, in
Preußen, im Reichsland, bald Wohl auch in den Einzelstaaten —
einer nach dem anderen das Feld räumen, mögen sie nun im
persönlichen Kabinett, in militärischen Kommandostellen oder in
der eigentlichen Verwaltung ihres Amtes gewaltet haben, sind auch gewisse
Änderungen des geltenden Berfafsungsrechts erforderlich geworden, um dem
neuen Geist seine Wirkungsmöglichkeit zu sichern.
Wir haben vor einer Woche dargelegt, daß es sich bei dem übergange zum
neuen System um eine politische Notwendigkeit handelt, wie wir das vom
gleichen Wahlrecht von Anfang an betonten.'
In der Wahlrechtsfrage hat die konservativeFraktion des Abgeordneten¬
hauses aus ähnlichen Erwägungen um die zwölfte Stunde nachgegeben. Es ist
nicht zu verlangen, daß die Konservativen heute schon mit, der Parlameu-
tarisierung sich abfinden sollen, aber schließlich wird ihnen auch hier nichts
anderes übrig bleiben, wollen sie nicht in unfruchtbarer Opposition erstarren und
aus dem Rahmen des Staatslebens herausfallen. Darin bestand ja der
bewunderungswürdige politische Instinkt der englischen Tories, sich zu gegebener
Zeit den veränderten Bedingungen des v-erfaffungsrechtlichen Klimas anzupassen,
was nicht ausschloß, daß man noch bis 1830 für das Kronrecht der
freien Ministerernennung eingetreten ist. Die Zeichen der Zeit erkennen,
das ist die große Kunst. Diese Zeichen künden den mit elementarer Sicherheit
sich durchsetzenden Aufstieg des genossenschaftlichen Elements, der sich eben dem
Stande der politischen Technik entsprechend nicht anders vollziehen kann, als
durch eine Machtverstärkung des Parlaments, mag dieses Handwerkszeug auch
noch so unvollkommen und fehlerhaft sein. Alle Argumente gegen die zutage
liegenden Schwächen unserer Volksvertretungen in Aufbau und Wirksamkeit
treffen nicht den Kern der Sache, der darin liegt, daß die Völker ihren
Patriarchalischen Kindheitstagen unwiderruflich entwachsen sind und ihrem
steigenden Bewußtsein vom Staate gesteigerte Rechte im Staate entsprechen
müssen, will man nicht Wider Naturgesetze freveln.
Gewiß, bei solchen psychologischen Massenprozessen, wie sie die Demokrati¬
sierung darstellt, wird — das liegt schon im Worte — das eigenartige Individuum
vernachlässigt, aber wir sind des Glaubens, daß sich wahre Aristokratie auch
unter Opfern durchzusetzen versteht, wenn sie ihren Namen mit Recht trägt.
Diese Opfer sind zurzeit notwendig.
Von den beiden Krusten, die, nach der allein- richtigen Anschauung, in
engster Vereinigung alles geschichtliche Leben schaffen — denen des Individuums
und der Gemeinschaft, steht, daran kann kein Zweifel sein, heute die zweite im
Vordergrund. Es ist das der natürliche Rückschlag auf das Heroen-Zeitalter
Bismarcks. Nicht nur der Gedanke des eigenartigen Individuums ist für das
Volk Luthers, Goethes, Nietzsches, Bismarcks charakteristisch, auch der Genossen¬
schaftsgedanke ist altgermanisches Gut. Wenn es wahr wäre, daß „die Tage der
Parlamente, der Demokratien sich abwärts neigen", wie jüngst der bekannte
Berliner Universitätslehrer Roethe wieder behauptete, so weiß man nicht, was
er ohne atavistische Rückbildungen an ihre Stelle setzen will. Nein, Nur können
aus unserer Zeit nicht heraus, und wenn wir noch so sehr mit Surrogaten des
„Volkswillens" wirtschaften müßten.
Wir wissen Wohl, daß es in der Politik so wenig wie in der Religion ein
Überzeugen gibt, und daß — Bismarck spricht einmal in den Gedanken und
Erinnerungen davon — dieses Faktum unbewußt die bestehende Reizbarkeit ver¬
schärft, was dann dem uomo poUtic-us jenes Odeur verleiht, dessen sich feder
Privatmann schämen würde. Keine Zeit und kein Volk ist von dieser Berufs¬
krankheit verschont geblieben. Das Deutschland von heute aber kann sie am
wenigsten vertragen. Der erste Kanzler mochte von der Höhe seines Stand¬
punkts über den Parteien noch halb ironisch über dergleichen Dinge urteilen,
ruhte doch das Steuer des Reichs fest in seiner Hand trotz Dogmengezänk und
Deklarcmtenstnrm. In der Gegenwart, wo uns die großen Führer fehlen und
die Parteien selbst die Verantwortung übernehmen mußten, fällt ihre Uneinig¬
keit, der innerpolitische Hader ganz anders ins Gewicht. Dessen sollte sich jeder
bewußt sein, der jetzt unseliger Partewsycdose seinen Tribut nuncwcl.
Es wird zwar viel von nationaler Geschlossenheit geredet; aber die Wasser
scheinen noch nicht hoch genug gestiegen, denn vorläufig leistet man sich trotz
dergleichen Beteuerungen nach wie vor den Luxus gegenseitiger Anpöbelung und
Verdächtigung, und scheut vor gelegentlichen Tendenzfälschungen nicht zurück, wie
man bei vergleichender Zeitungslektüre fast jeden Tag beobachten kann.
Während so die inneren Voraussetzungen für das neue politische Leben
noch bedenklich mangeln — die Schwierigkeiten der geistigen Umstellung dürfen
allerdings auch nicht verkannt werden — macht die sozusagen technische Struktur¬
veränderung auf dem Boden der Reichsverfassung schnelle Fortschritte. -
Die Bildung des engeren Kriegskabinetts dürfte mit der Ernennung des
Abgeordneten Haußmann ihren Abschluß erreicht haben, wenn 'der Zweck der
ganzen Einrichtung gewahrt bleiben soll. Die nunmehr fünf Staatssekretäre
ohne Portefeuille sind charakteristische Erscheinungen einer zum parlamen¬
tarischen Regime sührendenEntwicklung; wir finden sie in ähnlicherSitnation 1820
unter Ludwig dem Achtzehnter. Die engere Verbindung zwischen Parlament und
Regierung soll überdies noch das Institut der parlamentarischen Unterstaats¬
sekretäre verbürgen, die deshalb ebenfalls von eigentlicher Ressortarbeit
entbunden bleiben.
Man beachte aber Wohl den besonderen Charakter dieser Verbindung. Die
erstgenannten parlamentarischen Funktionäre können nämlich nicht Mitglieder des
Bundesrath sein. Was das bedeutet, werden wir gleich sehen. Den starken
Widerständen, die sich in den Einzelstaaten und natürlich auch in den Reihen der
„föderalistischen" Partei, des Zentrums, gegen die vermutete Aufhebung des
Art. 9 Abs. 2 R.V. erhobenist es gelungen, diese Zitadelle des bisherige«
Systems vorderhand noch zu erhalten. Wie wir schon vor einer Woche an¬
deuteten, hat man einen Weg zur Umgehung der daraus sich ergebenden
Schwierigkeiten gesunden. Eine Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 — so heißt es in
der Begründung' zum Gesetzentwurf des Bundesrath vom 8. Oktober — kommt
nicht in Frage, weil dadurch ein für den Aufbau des Reichs wesentlicher Grund¬
satz . . . verwischt werden würde, wonach Bundesrat und Reichstag sich als die
gesetzgebenden Körperschaften des Reichs unabhängig voneinander und gleich¬
berechtigt gegenüberstehen. Da nun aber nach der Verfassung (Art. 9 Abs. 1)
Kanzler und Staatssekretäre nur als Mitglieder des Bundesrath vor dem
Reichstage erscheinen können, so wäre den parlamentarischen Ministern bei
Aufrechterhaltung der bekannten Sperrbestimmung (Art. 9 Abs. 2) die Möglich¬
keit eines parlamentarischen Auftretens benommen, >d. h. sie wären gleichsam
von ihrem Lebensboten abgeschnitten. Diese Ungeheuerlichkeit beseitigt ein
Zusatz zum Gesetz über die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878,
wie ihn Z 2 des oben erwähnten Entwurfs Vorsicht, der besagt, daß die Ver¬
treter des Reichskanzlers, zu denen von nun an — nicht nur die Vor¬
stände der obersten Reichsbehörden, sondern — auch jene ressortlosen Staats¬
sekretäre bestellt werden können, im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört
werden müssen — auch wenn sie nicht Mitglieder des Bundesrates sind.")
Eine weitere Gefahr, die den neuen Männern in der Regierung drohte,
ist durch Aufhebung von Art. 21 Abs. 2 der R.V. beschworen, der bestimmte,
daß Mitglieder des Reichstags ihren Sitz verlieren, wenn sie ein besoldetes
Reichs- oder Staatsamt annehmen.
So wäre alles in schönster Ordnung? Äußerlich gewiß, innerlich ist das
Problem aber keineswegs gelöst. Die Staatssekretäre ohne Portefeuille, so hat
man nicht mit Unrecht'gesagt, werden zwar Sprechminister, haben aber keinen
unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen des Bundesrath. Diesen könnten
sie nur dadurch erlangen, daß man sie gleichzeitig zu preußische« Staatsministern
ernennt, wie das bei bureaukratischen Staatssekretären seit jeher, zuletzt bei
von Roedern und Wallraf, Übung war. Dann hätten sie Gelegenheit, die
Instruktion der preußischen Bundesratsbevollmächtigten, und dadurch die
Beschlüsse dieser Behörde selbst praktisch mit zu beeinflussen.
So wie die Dinge jetzt liegen, ist ein Kompromiß geschaffen mit allen
Folgen eines solchen. Rand wie vor gibt es, um es ganz kraß auszudrücken, zwei
„Regierungen" oder jetzt eigentlich drei, nämlich 1. die Staatssekretäre ohne
Portefeuille, 2. die bisherige'„Reichsleituug" (.Kanzler und Ressortminister) und
3. das Plenum des Bundesrath, aber der Bundesrat ist die größeste unter ihnen.
Unter den vielen Farben dieses verfassungsrechtlichen Chamäleons leuchtet doch
am stärksten diejenige, bei der es als „gemeinschaftliches Ministerium" (Bismarck)
der Verbündeten Regierungen, als Träger ihrer obrigkeitlich gebildeten und
gerichteten Herrschgewalt erscheint, neben der die später ausgewachsenen und
zugewachsenen beamtlichen Organe (Kanzler und Staatssekretäre) eben nur die
bescheidene Rolle einer „Reichsleitung" spielen sollten, neben der für ein
parlamentarisches Reichsministerkollegülin, das nach dem Gedanken des Einheits¬
staats gravitiert, nun schon gar kein Raum ist. So sehen wir an der entscheiden¬
den Stelle des Reichsorganismus, wo vor allem klare Verhältnisse herrschen
sollen, eine organische Überladung, die auf die Dauer mit Notwendigkeit eine
einseitige Losung heischt, was ohne Sieg auf der einen, Niederlage auf der
anderen Seite eben acht zu erreichen ist.
') Vgl. Heft 42. S. 71.
Die „Nordd. Allg. Zeitung" stellt zwar einen offiziellen Schritt im Schoße des
Bundesrath in Abrede. Doch war die Stimmung namentlich Sachsens und Bayern»
— wo man >um die Reservatrechte bangte — ganz deutlich zu erkennen.
Wollte man die Linie innehalten, die der Erlaß vom 30. September an¬
deutet, so konnte auch Art. 11 der R.V. nicht mehr in seiner bisherigen Form
bestehen bleiben. Bei der Schicksalsfrage der Kriegserklärung und des Friedens¬
schlusses muß künftig auch die Gesamtheit des Volkes in aller Form
mitreden dürfen.
Geltendes Recht war, daß der Kaiser — in seiner Eigenschaft als völker¬
rechtlicher Vertreter des Reichs — den Kr«g zu erklären und Frieden zu schließen
hatte mit zwei Einschränkungen: bei der Kriegserklärung war die Zustimmung
des Bundesrath erforderlich, außer wenn es sich um einen feindlichen Angriff
handelte') und am Friedensschlüsse war der Reichstag dann beteiligt, wenn die
Friedensverträge Gegenstände der Reichsgesetzgebung berührten, was die Regel
war. Im ersten Falle erfolgte eine Mitlvirkung des Reichstages'nur insofern,
als er bei der Beschlußfassung über die Aufbringung der zur Kriegführung
erforderlichen Mittel die Stimme des deutschen Volkes zu Gehör bringen konnte,
wie wir es am 4. August 1914 erlebt haben. Der am 15. September vom
Bundesrat beschlossene Gesetzentwurf ändert nun Art. 11 der R.V. dahin ab, daß
zur Kriegserklärung auch die Zustimmung des Reichstags erforderlich ist, und
zwar nicht nur gewissermaßen nachträglich wie bisher, sondern a priori; ohne
sein Votum kann, wie es in der Begründung heißt, künftig eine staatsrechtlich
gültige Kriegserklärung überhaupt nicht zustande kommen. Ebenso wird für
jeden die Reichsgesetzgebung berührenden Vertrag, mag es sich um Friedens¬
verträge handeln oder nicht, nunmehr klipp und klar die Zustimmung des
Parlaments obligatorisch gemacht, das völlig gleichberechtigt neben den Bundes¬
rat tritt, während früher hier gemachte Unterscheidungen hinsichtlich der
Mitwirkung beider legislativen Organe „zu einer .Fülle von Streitigkeiten und
Zweifeln Anlaß" gaben.
In Deutschland weiß jeder Mann und jede Frau, daß sich kein Monarch
der ungeheuren Verantwortung, die auf ihm lastete, stärker bewußt sein konnte
als Kaiser Wilhelm in den Julitagen 1914, gerade er aber war es, der neun
Jahre zuvor dem Zaren.geraten hatte, die Entscheidung über den Krieg mit
Japan der Duma vorzulegen, weil es „ganz unmöglich ist, für einen sterblichen
Herrscher, die Verantwortung dafür auf feine eigenen Schultern zu nehmen ohne
die Hilfe und den Rat eines Volkes". Käme es nur auf den lauteren Willen
der Krone an, so hätten wir gewissermaßen auch den Übergang zum Verfassungs¬
staate nicht nötig gehabt!
Bekanntlich gab es nun schon bisher eine Stelle, die legal^die Verantwortung
für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers zu tragen hatte; es ist das
nach Art. 17 der R.V. det Kanzler, das „Verantwortliche Gesamtministerium des
Reichs", wie ihn Labend genannt hat. Aber im Gegensatz zu den meisten
Einzelstaaten fehlte es im "Reich und Preußen an Ausführungsbestimmungen
zum Zwecke einer praktischen Verwirklichung der Einrichtung, so daß man im
Auslande der Ansicht war, der Minister des Deutschen Reiches könne nicht zur
Verantwortung gezogen werden,, und auch heimische Theoretiker diese als
„Phrase" bezeichnet haben. Sicherlich mit Unrecht, denn als politisches Prinzip
ist sie durchaus wirksam gewesen. Nunmehr soll ihr gesetzlicher Ausbau erfolgen,
was also im Gegensatz zu den oben erörterten Wandlungen keine Verfassungs¬
änderung erfordert. Es darf dabei erinnert werden, daß der Übergang zu
parlamentarischer Regierungsweise die Regelung eines hochnotpeinlichen Ver¬
fahrens für die Ministerverantwortlichkeit eigentlich überflüssig macht, da die
strengen Methoden des „imxs^ebiriLQt" anderen Formen, die sich aus dem
Begriff der Parteiregierung ergeben, gewichen sind.
Die schwierige Frage der kaiserlichen Kommandogewalt, der Stellung des
Kriegsministers zu Militärkabinett und Generalstab sei als im engsten Zusammen-
sang mit den soeben behandelten Problemen stehend nur eben angedeutet, auf
ihre Lösung wird noch viel Mühe verwandt werden müssen.
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. . . Man hat angesichts der
jüngsten Ereignisse gesagt, das Werk Bismarcks sei im Abbruch begriffen. Ja,
machen wir uns die Dinge klar ohne Sentimentalität, aber auch ohne frivolen
Leichtsinn! Unser Heroenzeitalter ist vorüber. Das Haus, das sich ein Genie
zum Wohnen und Walten einrichtete, bedarf eines Anbaus, nachdem neue
Besitzer eingezogen sind. Die Verfassung des „kurzlebigen Militärstaätes", wie
Miquel sie bei ihrem Entstehen genannt hat, muß sich nach einem halben Jahr¬
hundert den Bedürfnissen einer veränderten Welt anpassen. Auch in der aus¬
wärtigen Politik haben wir über Bismarck hinaus schauen gelernt. Kein
redlicher Mann wird deswegen sich über den Meister erhaben dünken, kein
Geschichtsschreiber es, wie man tendenziös behauptet, wagen, die ganze
Bismarcksche Epoche nur als einen großen Irrtum zu erklären. Aber niemand
vermag auch dem Rade der Geschichte in die Speichen zu fallen, wenn heute aber¬
mals ein „altes" Preußen von einer Stein - Hardenbergischen Reformzeit
Hervorragende Vertreter der deutschen Philosophie betrachten sich als
Anhänger und Fortbildner der Lehre Kants. Nachdem 50 Jahre lang in zahl¬
losen Büchern über ihren wissenschastlichen Gehalt gestritten worden ist, dringt
mehr und mehr die — längst von einzelnen Forschern verkündete — Auffassung
durch, welche die eigentliche Absicht Kants in der Aufdeckung nicht der Psycho¬
logischen, sondern der logischen Grundlagen aller gegenständlichen Erkenntnis
erblickt, daher in der Ergründung von Sinn, Geltung, Bedeutung, Rechts¬
anspruch, nicht aber von Sein und Entstehung, in der Lösung von axiologischen,
nicht von ontischen und genetischen Problemen sieht. Diese transzendental-
philosophische, kritische Auslegung allein läßt Kants Philosophie als wahrhaft
originale, von einem großen Gedanken getragene Leistung erscheinen, für die ihre
gewaltige Wirkung zeugt; die eigentümliche geistige Einstellung, die, den Denk¬
gewohnheiten des "praktischen Lebens und der Naturwissenschaften fremd, für sie
verlangt wird, macht, neben den bekannten Schwierigkeiten, die Kants Ringen
um den Ausdruck der für seine Zeit neuen Gedanken hervorruft, zugleich ver¬
ständlich, daß diese Deutung sich so schwer durchzusetzen vermocht hat.
Bruno Bauchs Werke über Immanuel Kant, sowohl das größere
(Verlag von Göschen, Berlin und Leipzig. 1917, 475 S.) als das (in 2. veroess.
Auflage vorliegende) Büchlein der Sammlung Göschen, werden solche kritische
Auffassung befestigen. Was schon dieses auf Grund seiner musterhaften
Erläuterung der viel mißverstcmoenen kritischen Grundbegriffe, fo besonders des
Apriori und des Transzendentalen, geleistet hat, ist in dem erstgenannten in
breiterer, dadurch aber nur noch eindringlicherer Auseinandersetzung geboten:
eine Darstellung des Kantischen Kritizismus als einer großartigen, von der
Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft sich folgerichtig erweitern¬
den und vertiefenden Grundlegung der Transzendentalphilosophie. Entscheidend
für das Gelingen solcher Aufgabe ist einerseits die Bewältigung der terminologisch
und sachlich schwierige« Begriffe, die Material und Werkzeug des Kantischen
Gebäudes bilden, anderseits die klare Einsicht in den Bauplan des Ganzen. Beide
Anforderungen erfüllt Bauch in rühmlicher Weise. Das erstere hat er durch nach-
drückliche Abwehr pshchologistischer und metaphysischer Ausdeutungen der von.
Kant aufgesuchten „Bedingungen s, xrioi-1" und durch eindrucksvolle positive,
Gestaltung und Bezeichnung des Sinnes seiner Kunstausdrücke aufs glücklichste'
erreicht; als Beispiele seien außer den oben erwähnten nur die lichtvollen
Erklärungen der Begriffe der transzendentalen Idealität und der reinen ^
Synthesis herausgegriffen. Die Erfassung der Idee des Ganzen aber wird'
dadurch gewährleistet, daß Verfasser in der Kritik der Urteilskraft von vornherein'
den Schlußstein des Kantischen Systems erblickt. Keineswegs aber stellt Bauch'
Kants Lehre von Anfang an vom Gesichtspunkt der höchsten Gipfel der Kritik der -
Urteilskraft dar, sondern er behält diese nur im Auge und verfolgt den von Keine^
selbst eingeschlagenen Weg, auf dem nach der mühsamen Durchschreitung der
Kritik der reinen Vernunft und der gar nicht so einfachen Ethik gerade in der^
Kritik der Urteilskraft neben den bekannteren ästhetischen Fragen die großen^
Probleme der Besonderung der Naturgesetze, des Organismus und der Teleologie
berührt werden, während erst von der letzteren aus zum Schluß ein Pfad zu>
jenen Höhen führt, die in Weltenweiten ahnungsvoll blicken lassen. Und diese?
Kanttreue ist nur zu loben; denn wenn Windelband treffend sagt: „Kant ver.'
stehen, heißt über ihn hinausgehen", so ist dies Hinausgehen für den Historikers
der den Leser zugleich zu eigenem Studium der Werke Kants befähigen will, ein'
anderes wie für den, der selbständig kritisch zu forschen unternimmt. Demgemäß
hat Bauch als Historiker lediglich Kants kritische Gedankengänge klar heraus« K
zuarbeiten sich bestrebt, dogmatische Neste vorsichtig beiseite' schiebend und.-
Unausgeglichenheiten ehrend; einzig Kants mehrdeutigen, dogmatische Auf-^
fassungen herausfordernden Begriff des Dinges an sich hat er in beiden Büchern ^
in eigener Weise entwickelt, indem er ihn als Einheitsgrund der besondern ^
Erscheinung transzendentalphilosophisch zu begründen und in der Kritik der'
Urteilskraft zu verankern suchte.
So steht Bauchs Werk, das in der einleitenden Entwicklungsgeschichte der'
kantischen Philosophie scharfsinnig die Keime der kritischen Lehre aufdeckt und die ^
erstaunlichen Leistungen des Naturforschers Kant mit besonderer Liebe behandelt,'.'
durch wissenschaftliche Gründlichkeit und Klarheit auf der Höhe der heutigen^
Kantfvrschung. Bei solcher Leistung erscheint es nebensächlich, daß ihr daS^
Künstlerische und Weidmännische etwa der Darstellungsweise Kuno Fischers, die
Geschmeidigkeit und der Schwung derjenigen Windelbands abgeht.
Wäre dieses Moment maßgebend, so würde das flüssig und leicht verstand- >
lich geschriebene, mit einer schönen Würdigung der Persönlichkeit Kants >
abschließende Büchlein Külpes („Aus Natur und Geisteswelt", 4. Auflage, heraus. ^
gegeben von Messer. Verlag von Teubner, Leipzig u. Berlin) den Vorzug-
verdienen. Doch leider werden schon wichtige Grundlagen der Lehre Kants^
durch die Linse des Psychologen unzulänglich oder verkehrt wiedergegeben. Aber
auch die Art, in der fortlaufend an den einzelnen Lehrstücken der Philosophie,"
Kants von einem dieser fremden Standpunkte aus Kritik geübt wird, macht eS >
unmöglich, daß der Leser von dem „größten Werke, das vielleicht je die philo«''
sophierende Vernunft einem einzelnen Manne zu danken gehabt hat",
(W
Über den „Sinn des Krieges werden die Zeitgenossen das letzte Wort nicht
sprechen, doch ist ihr Streben nach ideeller Klarheit über das gewaltige Ereignis >
begreiflich. Früh schon hat man dementsprechend bei uns und im neutralen Aus- ^
lande die „Ideen von 1914" denen von 1789 gegenübergestellt, und zu seinem.
jüngsten Negierungsjubiläum sprach der Kaiser von dem Kampfe zweier Welt-^'
anschauungen, hier der preußisch-deutsch-germanischen mit ihren Zielen: Recht,-,
Freiheit, Ehre und Sitte, dort der angelsächsischen mit ihrem Götzendienst deS i
Geldes und dem Sklcwenwm der Völker im Dienste der angelsächsischen Herrenrasse.
Die Worte des Monarchen erinnern an die bekannte Formel Händler contra
Helden, die Werner Sombart zum Titel seiner „patriotischen Besinnungen" gewählt
hat. Gegen das feierliche Ethos dieser Betrachtungsweise gehalten, mutet die
Prophezeiung nüchtern an, daß man dereinst vielleicht diesen Krieg als eine
„unvermeidliche naturnotwendige Krise" begreifen werde, in der sich »das durch
die Veränderung der Weltverhältnisse gestörte Gleichgewicht unter den Mächten
der Erde nach heftigen Schwankungen wiederherzustellen sucht" (Otto Hintze) oder
als „die wirtschaftliche und soziale Revolution", wie Walther Rathenau mit nicht
mehr zu überbietender Kürze es jüngst ausdrückte. Und doch wird man über der
kulturpolitischen Seite der Sache die „sehr realen Lebensinteressen der Völker und
Staaten" nicht vergessen dürfen; die Gefahr einer Materialisierung des Problems
ist dabei nicht so groß wie es zunächst den Anschein hat. Paul Lensch beweist
die Richtigkeit dieser Behauptung.
Lensch, ehedem als Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung" der radikalsten
einer, heute alt Mitarbeiter der „Glocke" eine Hoffnung aller derer, die mit Sorge
und Spannung die Wandlung der Sozialdemokratie zur Staatsbejahung verfolgen.
Sein Bekenntnisbuch über den Sinn des Krieges und die Rolle des Deutschen
Staates ein Trost und um so stärkerer Halt, seitdem der offizielle Führer der
Partei es für richtig gehalten hat, zur alten, übrigens auch im Kriege unter
Bethmann schon befolgten Devise: „Diesem Staate keinen Groschen" zurück¬
zukehren und so die von Marx mit Recht gegeißelte Parteikrankheit des parla¬
mentarischen „Kretinismus" wieder aufleben zu lassen. Auch Lensch ist Marxist.
Schon der Titel seines neuen Buches verrät es, — der Krieg erscheint ihm im
Bilde einer Revolution, der „größten, die es seit der Völkerwanderung und den
Hunnenstürmen gegeben hat", — und im Mittelpunkte seiner Anschauung dieses
elementarsten Ereignisses steht einer der berühmten Sätze „ökonomischer Geschichts¬
auffassung": vom Widerstreit der gesellschaftlichen Produktivkräfte mit den vor¬
handenen Produktionsverhältnissen oder juristisch gesprochen Eigentumsverhält¬
nissen. Aber er geht über Marx hinaus durch die Erkenntnis, daß jener Konflikt
„sich keineswegs bloß innerhalb der einzelnen Völker vollzog, sondern auch zwischen
den Völkern selber". Die dank reiferer kapitalistischer Organisation gewaltig
gesteigerten Produktivkräfte des deutschen Volkes sahen ihre Wege versperrt
angesichts der planetarischen Produktionsverhältnisse, die mit einer Umwandlung
der Erdoberfläche in englisches, französisches oder russisches „Eigentum" verzweifelte
Ähnlichkeit besaßen. Nicht erkannt zu haben, daß jenem von Marx gezeigten
Konflikte im internationalen Rahmen eine „ganz neue" Bedeutung zukam, daß
hier der deutsche Kapitalismus der „Träger einer höheren Form der Produktions¬
weise" darstellte im Gegensatze zu den „reaktionären" Interessen bei unseren
Feinden, ist — nach Lensch — das Verhängnis der deutschen Sozialdemokratie
gewesen. Daß darin auch ein Bankerott marxistischer Gedanken lag, wird bei
Lensch mehr zwischen den Zeilen deutlich, der schwedische Genosse und akademische
Politiker Steffen hat es rückhaltlos zugegeben. (Demokratie und Weltkrieg,
Diederichs 1916).
An dieser Stelle bewahrheiten sich die von Lensch als Motto vorangestellten
Hegelschen Worte: Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig
an. Weil die Marxisten der alten Schule die weltwirtschaftlichen Verflechtungen
geflissentlich ignorierten, standen sie bei Beginn des Krieges vor einem Rätsel und
mußten sich mangels zureichender Begriffe mit leeren Worten wie „Unsinn der
Weltgeschichte" oder „Welt als Irrenhaus" behelfen.
Lensch stellt zwei auch sonst unterschiedene Stufen kapitalistischer Produktions¬
weise antithetisch gegenüber: auf der einen Seite die Periode des „anarchischen",
unorganisierten Kapitalismus, mit dem Kennzeichen des individualistisch arbeitenden
EinzelunternehmerS, andererseits die Periode des organisierten Kapitalismus,
dessen Merkmal die Konzentration von Industrie-, Handels- und Bankkapital und
die damit zusammenhängende Erscheinung der Syndikate und Kartelle darstellt,
in denen an Stelle individualistischer Anarchie ein oft nur zu fühlbarer, sozialistischer
Zwangswille trat. In der wirtschaftlichen Praxis entsprechen diesen beiden
theoretischen Entwicklungsstufen des Kapitals: die Ära des Freihandels mit dem
Grundsatz des „freien Spiels der Kräfte" und die des Schutzzolls, mit dessen
Hilfe erst jene angedeuteten Zusammenschlüsse in Form des sogenannten „Finanz¬
kapitals" und die Bildung von Kartellen in ihrer „geschichtlichen Bedeutung" sich
vollziehen konnte. Als Heimatländer dieser Wirtschaftsformen stellt Lensch das
England bis zum Weltkriege und das Deutschland seit der Rückkehr zum Schutzzoll
(1879) einander gegenüber.
Die höhere Form der zweiten kapitalistischen Entwicklungsstufe liegt nun
nach Lensch weniger in dem, was sie bisher schon darstellt, als was sie künftig
darstellen soll. Denn in der monopolistischen Cliquenherrschaft der Kartelle mit
ihrer rücksichtslosen Vergewaltigung des Kleinkapitalisten und Außenstehenden, mit
ihren Sonderprofiten der Unternehmer auf Kosten der Allgemeinheit kann er unmöglich
einen Fortschritt an sich erblicken. Soviele Vorzüge man auch für diese Wirt¬
schaftsform ins Treffen führen kann, deren Entstehung an sich ja nichts Un¬
normales darstellt, die Schattenseiten, um deren Willen auch das neue Aktions¬
programm des Zentrums gegen die monopolistischen Syndikate Front macht,
sind doch so deutlich erkennbar, daß schon noch etwas anderes hinzukommen muß,
um die Institution dem Sozialisten schmackhaft zu machen. Und dieses andere
ist die Tatsache, daß jene „unter dem Finanzkapital herangereifte Organisation
der Arbeit. . . vollkommen in der Linie des geschichtlichen Fortschritts zum
Sozialismus hin" gelegen ist, daß sie „die bewußte Vergesellschaftung aller in der
heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte" bedeutet. Noch verblieb
zwar die „Herrschaft über die gesellschaftliche Arbeit in den Händen einer Oligarchie",
der „Dreihundert Männer" Rathenaus. Um so mehr gilt es, „die gesellschaftliche
Kontrolle über die nationale Arbeit, die hier erreicht war, von ihrer widerspruchs¬
vollen Hülle zu befreien", was nur „durch Eroberung der Staatsgewalt" möglich
sei. M. a. W.: eine nochmalige Entpuppung ist erforderlich, eine dritte Stufe
des Kapitalismus gilt es zu erreichen, auf der die bereits durchgeführte Organi¬
sierung statt ihres noch unvollkommenen plutokratischen Charakters zu möglichster
sozialer Vollkommenheit gesteigert erscheint. Die Lösung des Problems liegt wie
gesagt in dem Machtverhältnis der sozialen Klassen im Staate. Hier aber wittertLensch
Morgenluft für die Ziele seiner Partei. Denn — und damit gelangen wir zu einer
politischen Erscheinung von höchster Wichtigkeit — dieser Sozialist beurteilt den
preußisch-deutschen Staat, dessen „obrigkeitliche" Schwächen er nicht entschuldigt,
trotzdem keineswegs nach den Maßstäben der landläufigen liberalen Parteischablone.
Ist doch der Individualismus der liberal-konstitutionellen Doktrin, des Manchester-
tums, des anarchischen Kapitalismus der Todfeind des Sozialismus auf dem
Gebiete der Verfassung und Verwaltung ebenso wie auf dem wirtschaftlichen, wenn
man die Dinge konsequent zu Ende denkt. Es besteht, was bisher wenig bemerkt
wurde, ein fundamentaler Gegensatz zwischen unseren Fortschrittlern und be¬
stimmten, geistig besonders hochstehenden sozialistischen Kreisen in der Frage des
„Obrigkeitsstaates" und der parlamentarischen Regierungsweise. Auch bet Lensch
finden wir eine unzweideutige Ablehnung der „Ideen von 1789", der einer „in¬
dividualistischen Weltauffassung" entstammenden liberalen Dogmen von Freiheit
und Bürgerrechten, Konstitution und Parlamentarismus. Ihr habt einen anderen
Geist als wir Sozialisten, so klingt es zwischen den Zeilen, und in betonten Ab¬
stände von dem Nörgelgeiste der Hugo Preuß und Genossen über ihr reaktionäres
Vaterland wird festgestellt, daß in diesem „reaktioriären Deutschland die arbeitenden
Klassen eine viel solidere Machtstellung im sozialen Leben sich haben erobern,
können, als in England oder gar in Frankreich". Wie weit die Sozialisierung
unseres Wirtschaftslebens nach dem Kriege gehen wird, ob der Staatssozialismus
in irgendeiner Form die Wirtschaftsverfassung der Zukunft ist, wie Lensch zuver-
sichtlich behauptet, bleibe dahingestellt. Seinen vor Jahresfrist niedergesehriebenen
Satz, daß die Erkenntnis obiger Wahrheit „mit jedem Monat, den der Krieg
länger dauert, tiefer in das Bewußtsein der weitesten Volkskreise gedrungen sei",
wird man heute mit einem Fragezeichen versehen müssen, wo einem aus den
„weitesten Volkskreisen" die Klagen und Absagen gegenüber dem herrschenden
Wirtschaftssystem ins Ohr tönen.
Wichtiger als die Zukunftsfrage, ob der Prozeß der Sozialisierung in den
von Lensch geforderten Bahnen verläuft, ob jene dritte Stufe der kapitalistischen
Produktionsweise mit einer völligen Vergesellschaftung der Produktionsmittel im
Marxschen Sinne endet, ist für uns heute Lebende das Bekenntnis dieses Sozialisten,
daß sich seine Partei und der Staat innerlich nahegetreten sind, daß eine starke
Staatsgewalt im antiliberalen Sinne notwendig sei und „Deutschland das Boll¬
werk der Freiheit" gegen die russisch-englische Doppelsklaverei darstelle. Wohl ver-
> gißt Lensch nicht zu betonen, daß auch bei uns noch manches anders werden muß,
!aber, wenn auch er die „endgültige Überwindung des Obrigkeitsstaates", die Über-
'einstimmung von Staat und Volk fordert, so ist das trotz des Gleichklanges der' Worte himmelweit verschieden von dem Programm des Linksliberalismus. Denn
— so hatte der Verfasser schon früher geschrieben — „das Freiheitsideal des
Sozialismus ist ein im Wesen anderes als das des Individualismus", wie eZ
unsere immer noch von englischen Maßstäben abhängige liberale Bourgeoisie ver¬
tritt. Wie Lensch auf wirtschaftlichem Gebiete eine immer stärkere Kontrolle der
Gesellschaft über die nationale Arbeit forderte, so ist ihm auch in der konstitutio¬
nellen Frage — neben dem Ausbau der Selbstverwaltung — die Kontrollfunktion
des Parlaments gegenüber der Beamtenregierung (nicht das Selber-Negieren-
Wollen) die Hauptsache. Nicht die rückständige individualistische Staatsverfassung
der „demokratischen" Westmächte — so heißt es am Schluß — kann das Ideal
sein, dem Deutschland, dieser wirtschaftlich entwickeltste Staat der Welt, nachzu¬
streben hat. „Die politischen Neubildungen, die bei uns nötig sind, müssen aus
den geschichtlich gewordenen Verhältnissen selber sich ergeben, und können nicht
durch Nachpinselung englischer oder französischer Schablonen ersetzt werden." „Die
falsche Fassade der preußischen Autokratie" (der Ausdruck ist unglücklich gewähltl)
verdenke den „starken demokratischen Bau, der für Deutschlands inneres Leben
kennzeichnend ist". Durch Einführung des gleichen Wahlrechtes werde diese Fassade
fallen, und „alle Welt erkennen, wie stark die demokratischen Grundlagen des
öffentlichen Lebens auch in Preußen, und erst recht in Preußen, sind." Gehört
das gleiche Wahlrecht zur Fassade, so wird auch Lensch zugeben, daß dieser Frage
Nur akzidentielle Bedeutung zukommt. Auch für uns ist also entscheidend sein
Abrücken von dem. den Linksliberalismus blendenden westeuropäischen Wesen, wo
auch der Widerspruch zwischen Fassade und Kern eine Rolle spielt, nur im um¬
gekehrten Sinne wie in Deutschland."
So gelangte denn die „ökonomische Geschichtsauffassung am Ende zu
Resultaten, die sich nicht so sehr von den im Eingange zitierten kaiserlichen Worten
unterscheiden, wie man zunächst glauben mußte. Der „Götzendienst des Geldes",
von dem der Monarch spricht, ist nur eine Erscheinungsform des anarchischen,
individualistischen Kapitalismus, wie er in England bis zum Kriege herrschte, und
indem Deutschland durch Herstellung des politischen Gleichgewichts die Produktiv¬
kräfte mit den Eigentumsverhältnissen in Ordnung bringt, beseitigt es jenes
jDklaventum der Völker im Dienste der angelsächsischen Herrenrasse" und bereitet
hinein planetarischen „Sozialismus" die Wege.
Es sollte hier nur das nach unserer Auffassung in den Mittelpunkt zu
stellende Problem der Schrift herausgehoben werden, die „Drei Jahre Weltrevo¬
lution" geben in: übrigen dem Verfasser noch manchen Anlaß zu klugen und feinen
Bemerkungen nicht nur über den deutsch-englischen Gegensatz, sondern auch über
Frankreich und Rußland. Seine Bemerkung, wenn Deutschland in diesem Kriege
Nicht besiegt werde, habe es gesiegt, antezipiert die jüngste Äußerung Balfours.
Doch der Leser halte selbst die lohnende Zwiesprache mit dem Buche, das bei
unseren Feinden bereits gebührende Aufmerksamkeit findet. ^) Dr. y. O. Meisner
„Wer selbst im Glashause sitzt, soll andere nicht mit Steinen werfen".
Wiederholt ist aus den Reihen unserer Feinde gegen Deutschland der Vorwurf
erklungen, Deutschland strebe nach der Weltherrschaft. Da war es wirklich an der
Zeit, daß die deutsche Publizistik einmal den Spieß umdrehte. Verfasser hat dies
zunächst einmal gegenüber Frankreich getan und den Nachweis unternommen, daß,
was immer man auch unter Weltherrschaft verstehen mag, Frankreich wiederholt
noch ihr gestrebt und sie auch wiederholt ausgeübt hat. Der wirkliche Inhalt der
Weltherrschaft ist dabei allerdings sehr schwankend. Man kann darunter einmal
die wirkliche Beherrschung der Welt, wenigstens der bekannten Kulturwelt, eine
politische Oberherrlichkeit über alle Staaten, andererseits aber bloß die führende
politische Stellung unter den Staaten Europas verstehen. Mit dem römisch-
deutschen Kaisertum des Mittelalters war nun allerdings der Anspruch auf die
Universalmonarchie verbunden, aber es war seit dem Untergange der Hohenstaufen
zum wesenlosen Schatten herabgesunken. Demgegenüber erhob sich auf nationaler
Grundlage die französische Monarchie mit dem Ansprüche, in sich die wahre Nach¬
folge des fränkischen Königtums Karls des Großen zu verkörpern. Frankreich
betonte damit nicht nur seine Unabhängigkeit von der kaiserlichen Universal¬
monarchie, sondern nahm selbst eine solche sür sich in Anspruch. Und das blieb
nicht graue Theorie, sondern die französische Politik suchte die Ansprüche der ko.ro-
lingischen Monarchie in Deutschland und namentlich in Italien zu verwirklichen.
Selbst an Versuchen, das Kaisertum als Anhang des karolingischen Königtums für das
Westfrankenreich zurückzugewinnen, hat es von den Zeiten Franz des Ersten bis zu
denen Ludwigs des Vierzehnten nicht gefehlt. Die Ziele dieser französischen Weltmacht¬
stellung bedeuteten doch aber immerhin nur den Anspruch auf eine vorherrschende.
Stellung in Europa. Eine wirkliche europäische Weltherrschaft, die sich über alle natio¬
nalen Grenzen erhob, hat erst Napoleon der Erste zielbewußt erstrebt und zeitweise
verwirklicht. Demgegenüber zog sich Napoleon der Dritte wieder auf das Ziel der bour-
bonischen Politik zurück, lo. preponciörance legitime ac la, Trance. Und gerade,
daß diese durch die Schlacht bei Königgrütz für Frankreich verloren ging, war es,
was die nationale Eitelkeit der Franzosen nicht verwinden konnte. Der Revanche¬
gedanke geht nicht auf 1871, sondern auf 1866 zurück. Frankreich war es, das
seit Jahrhunderten nach der Weltherrschaft in der einen oder der anderen Gestalt
gestrebt hat, und auch der Weltkrieg sollte den Franzosen nicht nur Elsaß-Loth¬
ringen, sondern vor allem ihre verlorene Weltgeltung wiederbringen. Es ist ein
besonderes Verdienst des Verfassers, nachgewiesen zu haben, wie dieses Streben
nach der Weltherrschaft seit Jahrhunderten die französische Politik durchzieht und
auch das französische Kriegsziel des Weltkrieges ist. Nun fehlt uns noch eine
ähnliche Schrift für England. Denn nicht den Deutschen ist das Streben nach
Weltherrschaft eigen, sondern den Engländern und Franzosen.
Der sterbende Papst Pius X. faßte die kirchengeschichtliche Bedeutung des
Weltkrieges in die Worte zusammen: Li viuae ig I?u3sia, viuae 1o Zcw'sum. Er
hätte sagen können und erhoffte vermutlich, was der Verfasser erhofft: Wenn
Rußland besiegt wird, siegt „Rom", die römisch-katholische Kirche, über „Moskau",
die grechisch-orthodoxe; wenn das russische „Amel-Rom" zusammenbricht, öffnet
sich sui „Rom" das Tor nach dem Osten, dem Tüdosten und dem Orient und
eröffnet sich ihm die Aussicht, daß der größte Teil der Schismatiker sich „für den
Kulturcmschluß nach Westen und den Kirchenanschluß an Rom" entscheidet.
Dr. Meffert, der mit Bienenfleiß und ausgebreiteter Velesenheit alles zusammenträgt,
was das zarische Rußland, der Tschin und die russische Staatskirche in Abwehr
der Bestrebungen Roms, die Ostslawen für „das römische Dogma unter Bei¬
behaltung des slawischen Ritus," das heißt für die Union, zu gewinnen, an seinen
römischen Katholiken, vor allem aber an den bereits Unierten an Gewalttaten
verbrochen hat, nennt sein Buch eine apologetische Studie, eine Verteidigungsschrift;
in Wirklichkeit ist es eine Anklageschrift. Im ersten Kapitel behandelt er das
„dritte Rom" und sein byzantinisches Erbe, die Entwicklung des Cäsaropapismus,
die vollständige Unterordnung der Kirche unter die Staatsgewalt, die Verquickung
von Nationalität und Orthodoxie, die dem Moskal so sehr eins sind, daß er „nur
den als Volksgenossen zu achten vermag, der zugleich ein Rechtgläubiger ist"
(Ein Zar, ein Volk, ein Glaube), den unversöhnlichen und unauslöschlichen Haß
der russischen gegen die römische Kirche, das Lateinertum, das Abendland und
seine Kultur, und endlich ihren Ritualismus und geistestötenden Formalismus,
mit dem sie trotzdem das „gealterte, entartete, gottlose Europa" zu verjüngen ge¬
denkt. Im zweiten bietet er eine gute Übersicht über die Geschichte der Union
der Kleinrussen mit Rom und begründet überzeugend die Verurteilung der pol-
nischerscits andauernd „trotz aller päpstlichen Mahnungen gegenüber den Unierten
betätigten Unduldsamkeit", die ja eine der Ursachen des Untergangs Altpolens ge¬
wesen ist. Im dritten, dem umfangreichsten Kapitel, erzählt er uns mit dankens¬
werter Gründlichkeit den Kampf sämtlicher Zaren Rußlands, von Peter dem Großen
an bis zum Sturz Nikolaus II., gegen die katholische Kirche und macht uns mit
den Mitteln, mit der Hinterhältigkeit, UnWahrhaftigkeit und Brutalität, mit denen
das Ziel der Vernichtung des römischen Katholizismus innerhalb der Grenzen des
Riesenreiches erstrebt wurde, bekannt; das meiste wird den meisten Lesern, da wir
unseren Blick bisher zumeist auf den angeblich kulturell so unendlich hochstehenden
Westen gerichtet hatten, neu sein. Der Schlußabschnitt, erheblich kürzer, kritisiert
Rußlands romfeindliche äußere Politik, seine sogenannte „historische Mission",
Konstantinopel zu erobern, die Balkanchristen M „befreien", „alle slawischen Bäche
in das große (groß-) russische Meer" hineinzuleiten, Österreich-Ungarn zu zer¬
trümmern, im nahen Orient festen Fuß zu fassen, dort das Protektorat über die
Orthodoxen auszuüben, mit der ihm eigenen Zähigkeit durch zielbewußte Propa¬
ganda in Kirche und Schule die dortigen Massen in den Bannkreis der gro߬
russischen Kultur zu ziehen und auch dort den Einfluß der römischen Kirche Z
brechen. — Wie oben angedeutet, das Buch Mefferts enthält viel Neues, dem
deutschen Leser Unbekanntes; es behandelt außerdem ein Thema von welt¬
historischer Bedeutung. Wird es Rom gelingen, die Bewohner der Länder, die
einst zu Altpolen gehörten, in den Schoß der alleinseeligmachenden Kirche zurück¬
zuführen, desgleichen die Nationalkirchen der Rumänen, Bulgaren, Ukrainer usw.
zum Anschluß an die Union zu bewegen? Die Aussichten sind ihm nach dem Sturz
seines erbittertsten Gegners günstig. Wer über diese Dinge orientiert sein will, für
den kommt die vorliegende Schrift im richtigen Augenblick; er wird sie mit
Drei Einzelhefte der bekannten „Quellensammlung für den geschichtlichen
Unterricht" von Landeck und Rühlmann sind hier zu einem schmalen Bändchen
vereinigt, das uns die „Geschichte des Staatsgedankens von der Antike bis zur
Gegenwart" gleichsam in gedanklichen Originalbildern vor Augen führen soll.
Staatsgedanke, Staatsanschauung; darunter versteht Rühlmann nicht bloß die
historisch-politische oder juristische oder philosophische Formulierung des Begriffs:
Staat, sondern auch die Gedanken und Anschauungen über die Staats- und
Regierungsformen, das Verhältnis von Staat und Nation, die äußeren Beziehungen
der Staaten, verdeutlicht an Kernstellen der einschlägigen Literatur, also mit einem
Worte: einen Quellenabriß zur Geschichte der politischen Theorien. Bei der Dis¬
ponierung seines Stoffes hat der Verfasser das persönliche Prinzip gewählt, ob-
wohl er eine gewisse Gruppierung der Autoren nach inhaltlichen Rücksichten nicht
umgehen konnte.
Gegen die Art und Weise, wie das geschieht, ist auch für das erste Heft
nichts Erhebliches zu sagen. Die hier gewählten Abschnitte sind folgende: Zunächst
die „Antike": 1) Die Anfänge staatstheoretischen Denkens (Demokrit, Sokrates,
Thukydides); 2) die Klassiker der antiken Staatstheorien (Platon, Aristoteles);
3) das griechische Erbe im republikanischen Rom (Polybios, Cicero); 4) der Helle¬
nismus. Dann das „Mittelalter": 1) Patristische Staatsauffassung (Augustin);
2) scholastische Staatstheorie (Thomas von Aquino); 3) Mittelalterlicher Staats¬
universalismus — besser wäre wohl: Theorie des Universalstaats — (Dante);
4) Säkularisierung der Staatsidee (Marsilius von Padua, Machiavelli). Endlich
„Reformation und Gegenreformation" (Luther, Calvin, Jesuiten).
Sehr wesentliche Einwände aber ergeben sich beim zweiten und dritten Heft,
die das 16. bis 18. Jahrhundert, beziehungsweise das 19. Jahrhundert umfassen.
Jenes trennt Rühlmann in drei Teile: die Lehre vom Staatsverträge, die abso¬
lutistische Theorie und die Volkssouveränitätslehre. Schon rein äußerlich ist diese
Zerlegung eine Unmöglichkeit, denn der erste und dritte Abschnitt lassen sich nicht
voneinander scheiden. Oder sind etwa die Milton, Locke, Montesquieu und
Rousseau (I) nicht auch typische Vertreter der Vertragstheorie — wie übrigens
ebenfalls die Absolutisten Hobbes und Friedrich der Große? Wohl konnte, man
dem großen holländischen Staatslehrer Grotius einen besonderen Platz anweisen,
dann mußte aber nicht das Merkmal des Staatsvertrages, sondern das der Staats¬
souveränität (im Gegensatz zur Fürsten- und Volkssouveränität), wofür Rühlmann
selbst die entscheidende Belegstelle anführt, die Rolle der äikierentm specim'eg,
spielen. Die vom Verfasser vorgenommene Auswahl unter der Publizistik des
16. bis 18. Jahrhunderts gibt übrigens ein schiefes Bild. Im ganzen Abschnitt
erscheint bloß ein deutscher Theoretiker, Friedrich der Große. Wo bleiben die
Althus, Pufendorf, Leibniz, um nur die bekanntesten Namen zu nennen?
Noch böser werden die Schwierigkeiten der stofflichen Gliederung im dritten
Heft. Hier — also für das 19. Jahrhundert — unterscheidet Rühlmann vier
Staatsauffassungen: die liberale, die konservative, die sozialistische und die realistische.
Es ist nicht ohne weiteres klar, was unter der letzten zu verstehen ist. Als ihre
Vertreter sprechen das Freundespaar Gentz und Adam Müller, Hegel, Ranke
sowie in skizzierter Fortführung der Entwicklungslinie von den Lebenden Gierke
und Rudolf Kjellen. Die Staatsauffassung des schwedischen Gelehrten ist den
Lesern der „Grenzboten" bekannt. Er sieht in den Staaten vor allem konkrete
Gestalten, tatsächliche Realitäten, „Mächte" im Sinne der äußeren Politik. (Vgl.
meinen Aufsatz: Der Staat als Lebensform. 1917, Heft 43.) Diese „realistische"
Auffassung also eint die oben genannten Männer; Rankes oft zitierte „moralische
Energien", Hegels Staat „als die Wirklichkeit des substanziellen Willens" sind
nur andere Worte für das, was Adam Müller „Individuen" nennt und was sein
Freund Gentz mit dem Blicke des praktischen Staatsmannes als Kräftezentren in
den „Fragmenten aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in
Europa" erschaut.
Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich das angekündigte Bedenken.
Ist es denn möglich, die realistische Staatsauffassung gleichgeordnet neben die drei
parteipolitischer Orientierungen zu stellen? Gehört nicht Ranke in denselben
Kreis „konservativer" Staatsbetrachtung wie Friedrich Julius Stahl und sind nicht
ebenso die Gentz und Müller Triarier der Restauration wie Ludwig von Haller?
Aber davon abgesehen, hob Rühlmann die „Realisten" besonders heraus, so durfte
er die juristische und soziale Betrachtungsweise des Staates nicht unter den Tisch
fallen' lassen. Unter seinen Quellen sucht man vergebens nach dem sozialen
und juristischen Staatsbegriff, wie ihn die moderne Staatsrechtswissenschaft for¬
muliert hat. Die Definitionen Kants und selbst Treitschkes sind da kein voll¬
gültiger Ersatz. Gerade aber in dem verwirrenden Musterteppich politisch und.
Philosophisch gefärbter Staatsanschauungen durften die klaren Fäden unserer
modernen spezifisch-juristischen Staatslehre nicht fehlen, sonst verliert gerade der
Lernende den festen Ausgangspunkt. Den Vorwurf eines Torsos muß man
auch in anderer Beziehung gegen die Arbeit des Verfassers erheben. Gerade
wenn sie (nach dem Vorwort) „mithelfen soll zu freudigem Bekenntnis zum Staats-
gedanken", mußte das eigentümlich Deutsche des Problems hervorgehoben werden.
Das konnte nur durch vergleichende Heranziehung der ausländischen Literatur
geschehen, die im dritten Teile überhaupt nicht zu Worte kommt, also noch stief¬
mütterlicher behandelt wird, als die deutsche im zweiten. Man verstehe recht:
wir plädieren nicht für noch größere Kompliziertheit des Stoffs — wovon noch
zu reden ist —, aber ein Hinweis auf die Verschiedenheit des deutschen und des
westeuropäischen Staatsgedankens hätte sich, da genug Vorarbeit geleistet ist, ohne
Hinaufsteigen zu entlegenen Quellen bewerkstelligen lassen. Anschauliche Belehrung
ist hier auch für „weitere Kreise" von größter Wichtigkeit.
Nühlmann hat den einzelnen Originaläußerungen knappe Orientierungen
über die Verfasser vorangestellt und in Fußnoten dem Lehrenden ebenso knappe
Fingerzeige für die Probleme der Textstellen zu geben versucht. In beiden Fällen
ist nicht immer alles in Ordnung, obwohl gern zugegeben werden soll, daß die
Noten gute Sachkenntnis verraten. Auf den Beweis unserer Behauptung müssen
wir an dieser Stelle verzichten. — Was Textauswahl und -behandlung betrifft,
die bisweilen gewiß nicht einfach waren, so hat Nühlmann verwunderlicherweise
mitunter gerade die charakteristischsten Äußerungen seiner Gewährsmänner, zum
Beispiel bei Bossuet und Stahl, vorenthalten. Die übersetzten Stellen scheinen nicht
immer korrekt zu sein, wenigstens ist die berühmte Staatsoefinition des Bodinus
sinnentstellt wiedergegeben.
Zum Schluß noch ein paar Worte über Zweck und allgemeinen Charakter
dieser Quellenschrift. Der Verfasser scheint ihren inhaltlichen Wert durch den
Hinweis „für unterrichtliche Zwecke" noch eingeschränkt wissen zu wollen. Uns
scheint dagegen das Gebotene weit über das hinauszugehen, was man bei Schülern
und Lehrern auf dem wenig gepflegten Gebiete der politischen Theorien billiger¬
weise erwarten kann. Die der Anregung des Unterrichtenden dienenden Fußnoten
enthalten förmliche Dokrorthnncn, wie sie — wir wollen niemand zu nahe treten
— der Durchschnitt unserer Lehrerschaft unseres Erachtens nicht vor der Klasse
verarbeiten kann. Von Beispielen sei im Nahmen einer Buchanzeige abgesehen,
aber diese blendend wirkenden „Thesen" unter dem Strich bewahrheiten den Satz:
Leicht gesagt, schwer getan. Jede Achtung vor dem pädagogischen Grundsatz,
„anzuregen", das Niveau zu heben usw. — aber, allzu straff gespannt, zerspringt
der Bogen I
Die UnVerdaulichkeit des hier servierten geistigen Mahles für Lehrer und
Schüler muß mit Notwendigkeit zur Halbbildung und Unwahrheit und damit zur
Entweihung der Wissenschaft führen. An die Stelle wirklich erworbener und
durchgeistigter Kenntnisse tritt aus Gründen des non possumus bestenfalles ödes
Schlagwvrtgeklapper. Es ist eine schöne Sache um die ideale Forderung, aber
man soll, wo es sich um unsere Primaner handelt, den Maßstab des Universitäts¬
In seiner Besprechung von Dr: Klaudius Bojungas Schrift
„Der deutsche Sprachunterricht auf höheren Schulen" (Heft 30 der „Grenzboten"
d. I.) wiederholt Professor Butte die Behauptung Bojungas, daß ein rheinischer
Gymnasialdtrektor das Lateinische als den „Eingang sür Herrschaften", die Be¬
schäftigung mit dem Deutschen aber als „Hintertür sür Dienstboten" bezeichnet
habe. Wir stellen gern fest, daß Bojunga die leicht hingeworfenen Äußerungen
des Gymnasialdirektors — es handelt sich um einen im Schützengraben ent¬
worfenen Brief, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war —
unrichtig ausgelegt hat. Der Verfasser des Feldpostbriefes findet im Gegenteil
Worte des tiefsten Verständnisses für Sinn und Bedeutung des Deutschunterrichts
(vgl. die Zeitschrift „Das humanistische Gymnasium" Heft 1/2 Jg. 1917).
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
ücksichtslose Sachlichkeit gegenüber den Tatsachen, die zu
meistern man im Augenblick nicht imstande ist, habe ich
hier als Grundprinzip für meinen Dienst an der Öffentlichkeit fest¬
gestellt. Diese Sachlichkeit zwingt mich erneut anzuerkennen, daß
die neue Regierung stetig und tapfer ihrem Ziel, dem deutschen
Volke den Frieden zu geben, zustrebt und daß sie sich in ihrem Streben durch
keinerlei Gefühlsmomente beeinflussen läßt. Mag uns das Ziel der Regierung
behagen oder nicht, mögen wir in seiner Verfolgung die schwersten Gefahren für
das Land sehen, wir müssen zugeben, daß es mit unerbittlicher Konsequenz verfolgt
wird — wir müssen es gestehen —, wir sehen zum erstenmal seit langer Zeit,
daß eine deutsche Regierung überhaupt ein erkennbares Ziel hat. Diese Tatsache
allein ist ein so ungeheuerer Faktor unseres politischen Lebens, daß wir ihm uns
nicht entziehen können: er ist da, wir müssen mit ihm rechnen! Das Material
zur Beurteilung der neuen Regierung finden wir heute nicht mehr in der Rede
des Prinzen-Reichskanzlers vom 5. Oktober d. I. allein, sondern auch in dem
Notenwechsel mit dem Präsidenten Wilson und in den Reichstagsverhandlungen
vom 23. bis 27. Oktober. Hierzu tritt noch als ein besonders wichtiger Faktor
zur Beurteilung der Lage die Nachricht vom Rücktritt Ludendorffs. Auch diese
uns tief bewegende Tatsache müssen wir im Angesicht des Ernstes der Lage vor
allen Dingen kühl in das Gesamtbild einfügen und dürfen uns nicht durch unser
Gefühl aus Abwege leiten lassen. Von diesem kalten, sachlichen Standpunkte aus
müssen wir bekennen, daß der Rücktritt des bewährten Generals ebenso zur Klärung
der innerpolitischen Lage beiträgt und geeignet ist die Lage zu entlasten, wie vor
zwei Wochen der des Chefs des Zivilkabinetis, des Herrn von Berg. Es liegt
nicht im Interesse des Volksganzen, wenn die tüchtigsten Persönlichkeiten sich auf
verlorenen Posten nutzlos zerreiben. Weder Herr von Berg, noch der General
Ludendorff wären in der Lage gewesen, die Dinge in ihrer Entwicklung aufzu¬
halten oder sie umzubiegen. Die Verantwortung ist durch ihren Rücktritt klar
gestellt, — es gibt keine „Nebenregierung", keine Verschleierung mehr, sondern
nur die eine Tatsache, daß eine klar vor uns stehende Regierung klare Ziele ver¬
folgt, woraus für uns die Folgerung erwächst: die Stellungnahme zur Regierung.
Unsere Stellungnahme wird bedingt durch das Kriegsziel der Regierung.
Dies Kriegsziel ist nicht neu; es ist nicht die Unterwerfung unter den Macht¬
willen Wilsons oder der Entente, wenn auch die diplomatischen Schritte der
Regierung ohne Zweifel dazu führen müssen, — es ist die Einfügung des
deutschen Volkes in ein internationales Weltsystem, auf dem Boden
des gleichen Rechtes für alle. Die Herren Wilson und Erzberger nennen
es Völkerbund. Um eine klare Stellung einnehmen zu können, gilt es Klarheit
zu schaffen über die Ereignisse, die zum Schritt der Krone vom 30. September d. I.,
d. h. zum Entschluß der Demokratisierung unseres politischen Lebens geführt haben.
Der springende Punkt ist, daß die Krone in den letzten Tagen des September,
d. h. nach dem Abfall Bulgariens, zur Überzeugung gekommen oder gebracht
worden ist, den militärischen Zusammenbruch ohne Gewinnung neuer moralischer
Kräfte nicht mehr aufhalten zu können. Aus dieser Erkenntnis heraus wandte
sich der Kaiser durch Vermittlung des damaligen Reichskanzlers, des Grafen
Hertling, logischerweise an die Volksvertretung, die nach der Verfassung die Ge¬
samtheit der Nation verkörpert. Für den Grafen Hertling hat der Vizekanzler
v. Payer die Verhandlungen geführt. Wir wissen heute, daß besonders Exzellenz
Ludendorff, um den Termin der politischen Sicherung nach Möglichkeit abzukürzen
und die Neubildung der Regierung nach Möglichkeit zu beschleunigen, die Lage
an der Front in Berlin hat schwärzer erscheinen lassen, als sie tatsächlich war,
und daß der militärische Presseapparat nicht energisch genug Gerüchten über die
moralische Verfassung der Armee, die ihren Boden in der Haltung einiger aus
dem Osten an die Westfront herangeführter Truppenteile und aus russischer
Gefangenschaft zurückgekehrten Mannschaften hatten, entgegengetreten ist. Die
Politiker der Linken, vor allem ihr Feldherr v. Payer, beurteilten die Lage kühler
als die alte Regierung und paßten ihr mit großer Umsicht und ebensolchen
Geschick ihre Taktik an. Wir müssen zugeben: während allgemein der Eindruck
entstehen konnte, daß die Armeeleitung, für Stunden wenigstens, den Kopf ber-
liner hatte, ging Herr v. Payer mit unerbittlicher Folgerichtigkeit vor und bildete
nach längst feststehendem Programm die neue Regierung. Zu spät erkannte
Ludendorff seinen Fehler. Ihm war es in erster Linie darauf angekommen, mit
Hilfe der neuen Negierung den Geist, die Moral der Heimat und durch sie die
Moral der Truppe zu heben; der neuen Regierung ist dies vielleicht ein will¬
kommenes Nebenerzeugnis der Reform, nicht die Hauptsache. Ihr Ziel ist nicht
Fortsetzung des Krieges, sondern Beendigung unter dem hohen, allgemein mensch¬
lichen Banner des internationalen Ausgleiches nationaler Interessen.
Aus diesem Widerspruch in den Auffassungen der neuen Regierung in Berlin
und des Großen Hauptquartiers ergab sich zunächst der Aufmarsch der neuen
staatlichen Gewalt. Aus diesem Widerspruch erklärt sich auch die Tatsache, daß
die vom Könige mit der Regierungsbildung beauftragten Männer nicht erst ver¬
suchten, den gesamten Reichstag zu einer imposanten Einheitsfront zusammen¬
zuschweißen. Im Gegenteil, man hat, wie Graf Westarp mitteilt, die Konser¬
vativen von vornherein benachrichtigt, „daß man beabsichtige, das Ministerium
als Parteiministerium unter Ausschluß der Rechten zu bilden/") Herr v. Payer
hat diesen Tatbestand bestätigt und seine Haltung bei den Verhandlungen dadurch
erklärt, daß man über den „Inhalt des Friedens" und „die Geflissentlichkeit, mit der
man diesem Frieden entgegenstrebt", doch nicht einig geworden wäre „und sogar
recht uneinig über die Reformen, die nach unserer Überzeugung im Innern durch¬
gesetzt werden müssen, wenn das Vaterland bestehen bleiben soll".") Die Tatsache,
daß ein Parteiministerium gebildet wurde und kein Koalitionsministerium,
beweist, daß die Krone diese Art der Ausführung ihres Willens billigt oder
sie mit einem gewissen Fatalismus über sich ergehen läßt. Der Kaiser hat die
neuen Minister und Staatssekretäre ebenso wie die parlamentarischen Staats¬
sekretäre jedenfalls selbst nach Vorschlag des Reichskanzlers ernannt.
Für alle Welt schien dann der erste Schritt der neuen Regierung das
Friedens- und Waffenstillstandsangebot vom 5. Oktober zu sein. Parteigänger der
neuen Negierung lehnen demgegenüber die Verantwortung für diesen Schritt ab.
Der sozialdemokratische Abgeordnete Roste hat ausdrücklich festgestellt: „Nicht
Scheidemann, sondern der Kronrat unter dem Vorsitz des Kaisers und mit
Hindenburg haben den Friedensschritt vorbereitet."") Eine Korrektur vom Regierungs¬
tische hat diese Ausfassung nicht erfahren. Somit wären tatsächlich die militärischen
Berater des Kaisers nicht nur für den Friedensschritt, sondern auch für daS
Waffenstillstandsangebot in erster Linie verantwortlich. Nach Artikel 11 Absatz 1
der Reichsverfassung hat der „Kaiser ... im Namen des Reichs Krieg zu erklären
>und Frieden zu schließen".
Die Feststellung dieser Verantwortlichkeit ist richtig, ja unerläßlich zur Klärung
der Lage. Soll die Nation noch in letzter Stunde aus der Zerrissenheit heraus¬
kommen, so muß sie auch ein ganz scharf umrissenes Bild von ihren führenden
Persönlichkeiten haben. Soll sie nach dem Willen des Kaisers ihre Geschicke selbst
bestimmen, so gehört zur Herrschaft der jeweiligen Reichstagsmehrheit eine absolut
freie, furchtlose Presse, die aus den feststehenden Tatsachen auch die Folgerungen
kaltblütig zieht. Herrn Rostes Hinweis auf Hindenburg sieht aus, als wollte die
Regierungspartei die volle Verantwortung für die ersten Schritte der Regierung
nicht übernehmen. Die Regierung würde gut tun, den Sachverhalt auch öffentlich
ganz klar zu stellen, nachdem das Waffenstillstandsangebot sich zum mindesten als
überflüssig, wenn nicht gar als ein schwerer, kaum noch gut zu machender Fehler
erwiesen hat. Dem vorzeitigen Waffenstillstandsangebot danken wir die er¬
niedrigenden Bedingungen, die Wilson glaubte uns durch seine Note vom
23. Oktober vorlegen zu können, danken wir auch die Notwendigkeit, den U-Boot»
krieg vorzeitig beschränken zu müssen, ohne uns für diesen Verzicht auch den
kleinsten Vorteil einhandeln zu können. Vom Waffenstillstand zu sprechen, war
immer noch in einem späteren Stadium der Verhandlungen Zeit genug, d. h. wenn
eine gesunde Basis für Friedensverhandlungen gefunden war. Es wäre an der
Zeit gewesen, in ganz allgemeinen Wendungen von Waffenstillstand zu Wasser und
zu Lande zu sprechen, nachdem Wilson seine Forderung auf Einstellung des
U°Bootkrieges ausgesprochen hatte. Die Regierung ist es sich selbst, ihrer Autorität'
vor dem Lande und der Nation schuldig, bekanntzugeben, wer sür diesen übereilten
Schritt die Verantwortung trägt, mit dem Ziel selbstverständlich, Persönlichkeiten,
die nicht mehr über solche Nerven verfügen, die notwendig sind, um das Staats¬
schiff durch Sturm und Klippen zu steuern, aus der Regierung oder ihrem Amt
auszumerzen. Trifft den General Ludendorff die Verantwortung, so soll man sich
nicht scheuen, es zu sagen, auf die Gefahr hin, daß sein Bild im Augenblick eine
Trübung erfahren könnte. Die Hauptsache ist jetzt absolute Ehrlichkeit. Und selbst
wenn der Feldherr, der vier Jahre ununterbrochen eine stets wachsende Last an
den verantwortlichsten Stellen getragen, in der politischen Behandlung militärischer
Fragen versagt haben sollte, wird er dem deutschen Volk in seinem Wette nicht
vermindert. Die Errettung Ostpreußens, Oberschlesiens, Posens, vielleicht Berlins,
vor der Besetzung durch die Russen ist sein Werk. Es ist so gewaltig, daß nichts
imstande sein kann, die Dankbarkeit des deutschen Volkes für Ludendorff zu
verkümmern I . <» .
» »
Die Art wie Wilson mit der deutschen Regierung verhandelte und der In¬
halt seiner Note vom 23. Oktober konnte uns nicht in Erstaunen versetzen, nachdem
wir Kenntnis von einer Rede Wilsons bekommen hatten, die dieser am 27. September -
gehalten und die Prinz Max von Baden ausdrücklich als eine der Verhandlungs¬
grundlagen bezeichnet, auf die die deutsche Regierung zu treten beabsichtigt. „Wir sind
uns alle darüber einig, führt Wilson aus, daß es keinen Frieden geben
darf, der durch irgendeine Art von Handel oder Kompromiß mit den
Regierungen der Mittelmächte erreicht wird".«) Indem die deutsche Re¬
gierung diesen Satz mit ihrer ersten Note annahm, hatte sie überhaupt schon
kapituliert und es bleibt ihr nun kaum noch etwas andres zu tun übrig, als die
weiteren Befehle Wilsons abzuwarten und sich ihnen zu unterwerfen, sofern die
Nation sie daran nicht noch in letzter Stunde zu hindern vermag. Gerade diese
bedingungslose Kapitulation ist es wohl auch gewesen, die Wilson veranlaßte, an
der Ernsthaftigkeit des deutschen Friedensangebots zu zweifeln und dahinter eine
Falle zu vermuten.
Im Lichte dieser Tatsache erscheint die Berufung der neuen Regierung nur noch
aus innerpolitischen Gesichtspunkten, aus dem Wunsch, das Land vor .Erschütterungen
durch innere, womöglich blutig verlaufende Krisen zu bewahren, verständlich. Ist
dies der Fall, so wäre das ein Zeichen der Selbstpreisgabe der Bureaukratie und
der Krone, und wieder wandert unser Blick erstaunt fragend zu den Ratgebern
der Krone, die keinen andern Ausweg wußten. Wäre es nicht weiser gewesen, das
Odium der Kapitulation der alten Regierung zu überlassen, der Regierung, die
mit ihrer ideenlosen Schwäche und ihrem Mangel an Mut nach innen und außen
zugab, daß unsre Zukunft zuletzt auf eine Karte gesetzt wurde?! Vielleicht dachten
die Ratgeber des Kaisers der Hohenzollerndhnastie auf dem schließlich beschrittenen
Wege die Kronen zu retten. Welche krausen Gedankengänge! Entschloß man sich
am 30. September zur Kapitulation, so durfte auch vor den Konsequenzen einer
solchen nicht zurückgeschreckt werden, und eine der schwersten Konsequenzen war
allerdings die Abdankung des Kaisers, um dem Volke den Weg zum Frieden auch
wirklich freizugeben. Dann war das deutsche Kaisertum zu retten in einem
jüngeren Zollernsproß, während der scheidende Monarch sich die Märtyrerkrone
um seines Volkes willen aufs Haupt setzte. Jetzt, nach Wilsons Note vom 23. Ok-
tober und nach Ludendorffs Rücktritt, liegt die Frage für die Nation erheblich ernster.
Denn sie ist eine Ehrenfrage geworden. Die Nation kann aus Selbstachtung
nicht wünschen, daß der Kaiser zurücktritt. Auch in dieser bedeutsamsten Frage
der Gegenwart ist die Nation auf das augewiesen, was die neue Regierung
beschließt. Sie besteht aber in der Mehrzahl ihrer Mitglieder aus Männern, die
dem Zollernhause eher mit Haß als mit Verständnis gegenüberstehen und die die
Monarchie für eine überlebte Einrichtung halten. Es sind großdeutsche Zentralisier:,
die in den Monarchen nur Hindernisse für die Beseitigung der Kleinstaaterei
scheut Sollte im gegenwärtigen oder in einem nahen Augenblicke die Abdankung
des Kaisers erfolgen, so dankte nicht die Person eines unglücklichen Monarchen,
sondern der monarchische Gedanke ab. Sie bedeutete eine unerträgliche Er¬
niedrigung für das deutsche Volk mit allen zermürbenden und demoralisierenden
Folgen einer solchen. Dann — darüber sollte sich besonders das freisinnige
Bürgertum keinen Illusionen hingeben — wäre die Atmosphäre für eine blutige
innere Krise, für die Diktatur des Proletariats geschaffenl
Wir müssen an diese zartesten Seiten unseres politischen Innenlebens rühren,
um klarzumachen, in welches Spannungszentrum wir dank der Politik vom
30. September geraten sind und um den Keim zu unserem neuen Unglück blo߬
zulegen. Es ist die Halbheit und Unaufrichtigkeit unseres innerpolitischen Lebens
vor und während des Krieges. Ludendorff hat versucht, ihrer Herr zu werden.
Mit unerbittlicher Energie hat er aus die Regierung gedrückt und sie zur Stetig-
keit im Handeln zu zwingen versucht. Seine Genialität als Feldherr schien aus¬
zureichen, um den Mangel an Popularität, auf die der rechtschaffene Mann keinen
Wert legte, auszugleichen. Tatsächlich reichte sie nicht aus.
Die Furcht vor einem siegreichen Heere, vor einem heimkehrenden Feldherrn,
den der Lorbeer des Siegers umkränzte, spukte schon in den erhebendsten Herbst,
tagen des Jahres 1914 in Köpfen und Herzen gewisser liberaler Kreise. Ludendorffs
Tage waren nach menschlicher Berechnung gezählt, als er sich die erste politische
Blöße gab. Die Führung entwunden hat ihm nun der Vizekanzler, Herr v. Payer.
Er muß nun beweisen, daß er nicht nur der geschicktere ist, sondern auch der
größere, der größere an moralischen und geistigen Kräften, ^- eine mächtige
Persönlichkeit, die die einmal zusammengeführten politischen Kräfte des Reiches
auch zum Heile der Nation zu führen vermag.
it erschreckender Deutlichkeit bat der ^egenwärtiac Krieg aller Welt
vor Augen geführt, -wie ungeheuer wichtig es ist, daß die Völker
einander kennen! Zugleich aber auch, wie geringe Kenntnis sie
alle in Wirklichkeit vom Charakter der andern haben. Vielleicht
sind nicht die diplomatischen Fehler (so prachtvoll ausgewachsene
I Exemplare derselben sich auch ergeben haben), auch nicht die mili¬
tärischen Fehler das Entscheidende in diesem Kriege gewesen: vielmehr gehen
beide auf einen tiefer liegenden Grund zurück: die falsche Einschätzung des Geg¬
ners, also letzten Endes einen psychologischen Fehler.
Das gilt für hüben wie drüben in gleicher Weise. Es ist gar kein Zweifel,
daß die Entstellungen und Verleumdungen, die von unsern Gegnern über
Deutschland in alle Welt wie ein verderblich wucherndes Unkraut ausgesät
wurden, nur zum Teil auf Böswilligkeit, zu einem guten Teil auch nur auf
Unkenntnis beruhen. Bei uns aber ist's nicht besser. Zwar ist Wohl ruhig zu¬
zugeben, daß man sich bei uns in breiten Kreisen ehrlich um Objektivität andern
Völkern gegenüber gemüht hat, mehr und erfolgreicher als bei irgend einer Gegen¬
partei. Dennoch zeigt der Erfolg, daß ein solches Studium fremder National¬
charaktere, sofern es überhaupt auf Richtigkeit Anspruch erbeben kann, auch bei
uns zum mindesten ohne Einfluß auf die große Politik geblieben ist. Man darf
es Wohl heute aussprechen, daß man sich an führenden Stellen ganz gründlich
über den Charakter der Franzosen, der Engländer, der Polen, der Amerikaner
(um nur diese zu nennen) geirrt hat. Ja, wir haben noch in jüngster Zeit in
Reden von weitester Resonanz über Wesen und Weltanschauung unserer Gea n
Ansichten vertreten hören, die zum mindesten sehr schematisch waren und der
Schwierigkeit des Problems in keiner Weise gerecht wurden.
Es kann an dieser Stelle nicht unsre Aufgabe sein, alle diese Fehler zu be¬
richtigen. Nur die allgemeine Frage, wie weit es überhaupt angängig ist, von
einem Volkscharakter als einer konstanten Größe zu reden, wollen wir erörtern.
Denn daß hier überhaupt ein Problem vorliegt, ist den wenigsten aufgegangen,
die täglich mit solchen ungeprüfter Begriffen arbeiten.
Nun ist zunächst zuzugeben, daß eine wissenschaftliche Psychologie fremder
Völker, die auch nur ein wenig ernst genommen zu werden verdiente, kaum exi¬
stiert. Alle Anschauungen, die über dies Gebiet im Umlauf sind, entstammen
einer recht groben Empirie, die zudem in der Regel höchst unvollständig ist. Von
einer systematischen, methodischen Durcharbeitung der so gesammelten Daten ist
keine Rede. Wenn einer eine Reise tut, so pflegt er etwas zu erzählen und von
seinen Erlebnissen auch gewisse Verallgemeinerungen abzuleiten. Fast in jedem
Reisebericht, in jeder Schilderung eines fremden Landes finden wir eine Menge
an sich vielfach richtiger Beobachtungen und Urteile aufgespeichert, die nur den
einen Fehler haben, daß sie sich nie zu einem wirklichen Bilde zusammenfügen.
Vor allem übersehen solche Autoren eins: daß aus der Schilderung von Indi¬
viduen sich niemals das Bild eines ganzen Volkes ergeben kann. Es mag sehr
interessant sein, uns Schilderungen aus der englischen Gesellschaft, aus dem poli¬
tischen und sozialen Leben der Londoner Arbeiterschaft, aus dem Landleben Eng¬
lands zu bringen, den Charakter des englischen Volkes in seiner Gesamtheit
wird man auf diese Weise nicht ergründen. Der ist etwas ganz anderes, jenseits
aller individuellen, landschaftlichen und sozialen Unterschiede Wirkendes.
Ein solcher Begriff kann auch nicht bloß aus dem heutigen Leben eines Volkes
abgeleitet werden; er muß, wenn er wirklich der Charakter des ganzen Volkes-
sein soll, sich im Laufe von dessen ganzer Geschichte offenbart haben. Gewiß.
dürfte auch er seine Wandlungen und Schwankungen durchgemacht haben und
doch mußte er als ein relativ dauernder Kern inmitten alles Wechsels beharren.
Der französische Nationalcharakter zum Beispiel hat viele Wandlungen durch¬
gemacht; dennoch weisen die in Frankreich wurzelnde „höfische" Kultur des
Mittelalters, die Gesellschaft des Versailles der Bourbonen, das mondäne Leben
des modernen Paris gewisse gemeinsame Kennzeichen aus, die sie wesentlich etwa
von englischen oder italienischen Erscheinungen gleicher Art unterscheiden. Diese
Gleichheit führen wir auf einen gemeinsamen Volkscharakter zurück, und aus
eben dieser, wenn auch nur relativen Gleichheit seiner Äußerungen läßt sich
immerhin ein gewisses Recht ableiten, von einem Volkscharakter zu sprechen.
Ich behaupte also, es gibt relativ konstante Volkscharaktere, das heißt
nationale Besonderheiten, die den Völkern als Ganzen eignen, die aber keines¬
wegs in jedem Individuum wiederzukehren brauchen und' auch uicht durch eine
einfache Durchschnittsrechnung aus individuellen Charakteristiken gewonnen
werden können.
Ich verweile zunächst bei letzterem Punkte. Man darf, wenn man eine
eingehende Charakteristik (die moderne Psychologie sagt: ein Psychogramm) eines
ganzen Volkes aufstellt, nicht erwarten, damit etwa etwas zu gewinnen, das sich
den naturwissenschaftlichen „Klassenbegriffen" vergleichen ließe. Niemals wird
man die Seele „d e s Franzosen" oder „d e s Deutschen" so definieren können, wie
man etwa in der Zoologie den Begriff „des Hundes" definieren kann. In diesem
Falle lassen sich bestimmte Tatsachen, etwa hinsichtlich des Gebisses, der Fu߬
bildung, der Nahrung festlegen, die allen „Hunden" mit verschwindenden Aus¬
nahmen zukommen. Man kann nach solchen Definitionen jedes Individuum mit
fast absoluter Sicherheit als „Hund" oder „NichtHund" bestimmen. Derartiges
ist bei Völkern niemals möglich. Es gibt in jedem Volkskreise zahllose Indi¬
viduen, die man nach ihrer physischen wie nach ihrer psychischen Besonderheit ge¬
trost für Angehörige ganz fremder Raffen halten könnte.
Daneben aber gibt es nun ohne Zweifel Tatsachen, die unbestreitbar
typisch national sind, selbst wenn sie keineswegs in jedem Individuum nachzu¬
weisen sind. Man hat zum Beispiel und fraglos mit Recht gesagt, daß Goethes
„Faust" eine typisch nationale Schöpfung sei, daß im Charakter dieser Gestalt
etwas Wesentliches des deutschen Volkscharakters festgehalten wäre. Man hat
dargelegt, daß dasjenige, was man als „faustische" Stimmung, als „faustisches
Streben und Ringen" bezeichnet, in der großen Dichtung der Deutschen aller
Zeiten wiederkehrt, von Wolframs Parzival an über Grimmeishausens Simpli-
zissimus hinweg bis zu Hauptmanns Glockengießer Heinrich und Dehmels Lyrik
hin. Man kann dies faustische Wesen in aller großen deutschen Kunst wieder¬
finden, in Dürers Melancholie, in Bachs Matthäus-Passion, in Beethovens
Neunter, in Klingers Radierungen. Kein Zweifel, in „Faust" offenbaren sich
typische Züge des deutschen Volksgeistes. Aber darum ist man keineswegs im¬
stande, in jedem deutschen Krämer oder Fabrikarbeiter dieses faustische Wesen zu
entdecken. Möglich, daß man mit bisher noch nicht erfundenen, imaginären
„psychologischen Mikroskopen" in jedem deutschen Kinde den Keim zum Faust
nachweisen könnte: derartiges bleibt phantastische Konstruktion. Mit unseren
psychologischen Methoden oder mit allen Mitteln unserer praktischen Menschen¬
kenntnis ist ein solches typisch deutsches, allen Individuen gemeinsames Kenn¬
zeichen nicht zu ermitteln. Es bleibt also dabei, daß es einen Volksgeist, einen
Volkscharakter geben muß, der eine Wirklichkeit ist auch jenseits aller individuellen
Abweichungen.
Wir haben hier von einer künstlerischen Ausprägung des von uns gesuchten
Volksgeistes gesprochen. Auch auf anderen Gebieten besteht ein solcher Volks¬
geist, der nicht identisch ist mit jeder der ihn tragenden Volksindividualitäten
oder auch einem Durchschnitt dieser. Jeder, der England und die Engländer
kennt, wird die Beobachtung gemacht haben, daß der einzelne Engländer oder
Wenigstens sehr viele derselben ganz andere Eigenschaften zu offenbaren Pflegen,
als diejenigen es sind, die das Volk als Ganzes in seiner Politik zum Beispiel
betätigt. Wer würde, wenn er über Shakespeares, Shellhs, Byrons eng-'
lischen Ursprung nichts wüßte, darauf kommen, daß sie als Individuen derselben
Nation angehörten, die mit so rücksichtsloser Brutalität jeden Gegner (um Llohd
Georges Ausdruck zu brauchen) niedergeboxt hat, mit so unablässiger Zähigkeit
einen, nationalen Herrenwillen durchgesetzt hat. Gewiß schimmern in den
meisten Individuen solche Gemeinsamkeiten durch, ohne jedoch in. jedem ein¬
zelnen Falle wesentliche Züge des Charakters lauszumachen. Und doch besteht
jener Volksgeist oder Bolkscharakter jenseits Mer Individuen als eine unbestreit¬
bare, weil ungeheuer wirksame Wirklichkeit.
Diese Beispiele mögen genügen, um die Realität des Volkscharakters als
einer überindividuellen psychologischen Wesenheit zu illustrieren. Sind wir
uns bewußt, daß er nicht in jedem Einzelangehörigen der Nation in Reinkultur
wiedergefunden zu werden braucht wie in jedem Wirbeltier das Rückgrat,
so können wir, um sein Wesen faßbarer zu machen, ihn immerhin einem fiktiven
Subjekt zuschreiben, das als der „Träger" des sonst in der Luft schwebenden
psychischen Agens des Volkscharakters gelten kann. In diesem Sinne kann man
von „dem" Deutschen, „dem" Engländer, „dem" Franzosen als den Trägern
jenes überindividuellen Geistes sprechen. Als wissenschaftliche Hilfskonstruktion,
vorausgesetzt, daß man sich ihrer fiktiven Natur bewußt ist, darf man also solche
Typenbildungen gelten lasten.
Vielleicht ist es nützlich, - die hier erörterte überindividuelle psychologische
Einheit des Volksgeistes noch durch eine analoge Erscheinung zu illustrieren, die
möglicherweise einzelnes noch schärfer hervortreten läßt: den Zeitgeist. Die neuerm
historischen Wissenschaften find mit immer wachsender Energie ans Werk
gegangen, den Geist verschiedener Zeitepochen in den Unterschieden möglichst
scharf zu kontrastieren. Man arbeitet etwa den Geist der Gotik, den Geist der
Renaissance, den Geist der Barockzeit in der jeweiligen Eigenart möglichst scharf
hieraus, man erkennt dabei, daß die verschiedenen Stileigenheiten Auswirkungen
ganz bestimmter seelischer Funktionen oder Prävalenzverhältnisse sind, die sich
einer klar umschreibbaren Subjektivität zuordnen lassen; danach spricht man, als
wären es reale Größen, von einem „gotischen Menschen", einem „Menschen der
Renaissancezeit" und einem „Menschen des Barock". In der Tat nämlich setzen
die besonderen Stile jeder dieser Epochen ganz bestimmte seelische Grundlagen
voraus:, verschiedene Arten des Sehens, des Fühlens, des Temperaments.
Während zum Beispiel der Mensch der Renaissance die Welt statisch, in klarer
Gliederung, rational sieht und, denkt, sieht und denkt der Mensch der Barockzeit
die Welt dynamisch, in gewallter Fülle und Unübersichtlichkeit, worin er sich
berauscht; das Irrationale der Welt überwiegt für ihn den rationalen oder ratio¬
nalisierbaren Gehalt. Vergleicht man die Kunst dieser Epochen mit dem philo¬
sophischen Denken oder dem sozialen Leben der gleichen Zeit, so findet man
überall dieselben Phänomene, die man nur als Auswirkungen einer gleichen
Subjektivität, des gleichen „Diapason" verständlich machen kann."
Nun ist natürlich nicht anzunehmen, daß in der einen Zeit nur „statisch
veranlagte, in der andern Zeit nur „dynamisch" veranlagte Individuen geboren
wären: man hat sich die Sache so zu denken, daß eine überindividuelle, aber,
darum nicht etwa mystische, sondern sehr reale Wesenheit gleichsam durch die
Einzelseelen hindurch wirksam ist und sie in größerem oder geringerem Maße
sich unterwirst.
Diese Wirksamkeit des überindividuellen Zeitgeistes kann jeder Mensch an
sich beobachten an einer Erscheinung, deren Einfluß wir beständig, wenn auch in
der Regel unbewußt, unterliegen: an der Mode. Man mag wollen oder nicht,
man mag es wissen oder nicht, man wird in seinen ästhetischen Urteilen von dieser
überindividuellen Macht beeinflußt. Heute z. B. findet man in der Frauentracht
alles Zierliche, Graziöse schön, während man den Geschmack von vorgestern, der
vielleicht das Majestätische, Üppige liebte und in der Tracht auszudrücken suchte, >
nur lächerlich findet. Und wie der ästhetische Geschmack, so unterliegt auch das
ethische Urteil, ja jedes andere Urteil, solchen Modeschwankungen. Die sittlichen
Meinungen unserer Väter erscheinen der ganzen Generation der Söhne viel¬
leicht hausbacken und spießbürgerlich. Niemand kann sich, selbst wenn er bewußt
dagegen revoltiert, solchen Wandlungen des Zeitgeistes ganz entziehen. Ohne
den Ursachen dieser Erscheinung nachzugehen, stellen wir nur das Vorhandensein
solcher überindividuellen seelischen Agentien fest, die gleichsam in allen Indi¬
viduen mehr oder weniger eine zweite Subjektivität lausprägen, die sich vor die
individuelle Subjektivität stellt und diese bis zu einem gewissen Grade ausschaltet.
Daß es leinen solchen Volksgeist oder Volkscharakter (ich verwende den
ersteren Begriff mehr im Hinblick auf intellektuelle, den zweiten mehr im Hinblick
auf emotionale Funktionen) gibt, wird selten bestritten, ja die verschiedenen
historischen Wissenschaften arbeiten vielfach recht unkritisch damit. Man be¬
hauptet, irgend ein Dichter oder ein Bauwerk seien „typisch deutsch", ohne daß man
einen genauen Beweis dafür erbringen könnte. Die klare Festlegung des Volks¬
charakters bleibt noch der Zukunft vorbehalten.
Ebenso unkritisch aber verfährt man dort, wo man von der Begründung
oder der Entstehungsgeschichte dieses Bolkscharakters spricht (vorausgesetzt, daß
man hier überhaupt ein Problem sieht!). Um die beiden extremsten Ansichten
gleich zu konfrontieren, so können wir sagen, die einen fassen den Volkscharakter
als angeboren und vererbbar auf, die anderen wollen wenig von diesen Dingen
wissen und sehen nur eine von Geschlecht zu Geschlecht fortwirkende äußere Be¬
einflussung darin. Jenen erscheint der Volkscharakter als Auswirkung physio¬
logischer Momente, der Rasse, diesen als Ausfluß historisch-psychologischer, als
Tradition. Beide Ansichten scheinen uns nicht unrichtig, aber einseitig und auch
zusammengebogen noch unzureichend."
Was zunächst den schwankenden Begriff der „Rasse anlangt, den wir als
die physiologische Kontinuität einer physiologisch einheitlichen Gruppe fassen, so
dürfte an seinem Vorhandensein kein Zweifel bestehen. Daneben aber besteht
auch kein Zweifel, daß er eine ideale Konstruktion ist, die in der Wirklichkeit nur
sehr getrübt vorkommt. Denn erstens ist kaum ein einziges Volk wirklich eine
physiologische Einheit, noch gibt es ein solches, was sich ohne Mischung mit
anderen Volksangehörigen fortzupflanzen vermöchte. Wir kennen jedenfalls kein
einziges Volk der Geschichte, das seinem Ursprung nach oder in seiner Geschichte
als absolut rassenrein anzusehen wäre. Infolgedessen ist, selbst wenn man die
Bedeutung der Physis für den Charakter noch so hoch einschätzt, die Rasse als fest¬
greifbarer Faktor nur mit größter Vorsicht in volkspshchologische Betrachtungen
einzuführen. Wir sehen zum Beispiel an den Deutschen, wie sich die Phhsis be¬
ständig geändert hat, wie beinahe in allen Jahrhunderten starke Wellen frem¬
der Rassen sich mit der angeblich reinen deutschen Rasse gennscht haben, daß sich
also Ströme keltischen, römischen, slawischen, jüdischen Blutes mit dem deutschen
gemischt haben, was sich in den äußeren Rassemerkmalen ebenso ausprägt,
wie man das von den inneren, den intellektuellen und emotionalen Funktionen
annehmen muß. Aus keinen Fall kann der Nassebegriff als absolut konstanter
Faktor angesehen werden, der allein ausreichte, einen konstanten Volkscharakter
zu begründen.
Daneben kommt nämlich auch die ebenfalls unbestrittene Tatsache in Be¬
tracht, daß Einflüsse der Tradition, die ganz unabhängig sind von der Rasse¬
kontinuität, wenn sie sich auch in ihrer Wirkung mit dieser «useinanderzusetzen
haben, aufs stärkste den Bolksgsist und den Volkscharakter beeinflußt haben
Man erwäge nur, wie tief umbildend die jüdisch-christliche ebenso wie ti<
griechisch-römische Tradition die deutsche Art umgeformt haben. Wir geben
gern zu, daß das Christentum: auf deutschem Boden sicher ebenso stark germani-
hiert worden ist, wie es die Germanen christianisiert hat, wir geben auch zu, daß,
die klassische Überlieferung auf deutschem Boden spezifische deutsche Umbildungen
erfahren hat: alles das darf uns jedoch die Augen nicht verschließen vor der
Tatsache, daß zum mindesten neben der Rasse auch die zum Teil aus volksfrem¬
den Quellen zehrende Tradition als ein für den Volksgeist konstituierender Faktor
anzusehen ist.
Damit ist jedoch die Zahl dieser Faktoren keineswegs erschöpft. Es
können innerhalb des Volkskomplexes einzelne Teile in ihrer Wirkung auf die
Gesamtheit so stark hervortreten, daß sie den Gesamtaspekt aufs stärkste umbilden.
Solcher für das Ganze repräsentativer Teilfaktoren nenne ich hier drei; erstens ein¬
zelne Stämme, zweitens einzelne soziale Schichten und drittens einzelne Indi¬
viduen können repräsentativ für das Volksganze fein und dieses auch tatsächlich,
umbildend beeinflussen.
Dafür, daß einzelne Stämme innerhalb eines Volkes die Oberhand ge¬
winnen, liefert me Geschichte Belege genug. Das griechische Volk bietet in seiner
ganzen Kultur ein wesentlich anderes Bild dar, je nachdem Achäer, Dorer oder
Jonier obenauf sind. Ebenso ist der deutsche Nationalcharakter in der Neuzeit
durch das Emporkommen des Preußentums tief umgebildet worden.
Ähnlich verhält es sich mit dem Dominieren aewisser sozialer Schickten.
Ein Volk bietet einen ganz verschiedenen Gesamtanblick, je nachdem der grund¬
besitzende Adel oder das handeltreibende Bürgertum oder das industrielle Prole¬
tariat den Ton angeben. Das Frankreich der Bourbonenzoit hat durch das Em¬
porkommen der Bourgeoisie tiefgreifende Wandlungen erfahren, die sicher nicht
seinen Grundcharakter aufgehoben, aber doch sehr stark modifiziert haben.
Auch Einzelmenschen können ungeheuer wichtig werden sür die physische
wie die geistige Physiognomie ganzer Völker. Wer konnte die Wirkung der Per¬
sönlichkeit Alexanders des Großen aus die verschiedensten Nationen lwusrechnen?
Wie die Mode, das Gesicht ohne Bart zu zeigen, aus viele Jahrhunderte hin
durch ihn herrschend wurde, so hat er auch geistig die Physiognomie vieler Völker
beeinflußt. Und haben wir Deutschen es nicht neuerdings erlebt, daß Bismarcks
Persönlichkeit für den Volksgeist weithin vorbildlich und damit umbildend
wurde?
Nehmen wir alles das zusammen: das Zusammenwirken von Rasse und
Tradition, von dominierenden Stammes-, Berufs- und Einzelcharakteren, wozu
weiter die großen Strömungen des internationalen Zeitgeistes kommen, so er¬
gibt sich, daß der Volksgeist kein einheitlicher, fondern ein ungeheuer kompli¬
zierter Faktor ist. Und ferner aus dieser Kompliziertheit ergibt sich, daß seine
Konstanz, soweit man überhaupt von solcher reden darf, höchst relativ ist, so rela¬
tiv, daß man streng genommen den Volksgeist in seiner Gesamtheit überhaupt
nicht als Konstante, sondern als Variable in Rechnung setzen darf.
Es scheint also, daß wir mit unseren Betrachtungen über den einheitlichen
Volksgeist bei einem negativen Resultat ankommen. Das ist allerdings bis zu
einem gewissen Grade der Fall. Aber eine negative Erkenntnis ist ja auch eine
Erkenntnis. Indessen wollen wir bei aller Betonung der Variabilität doch auch
die konstanten, besser die konstanteren Faktoren nicht übersehen, die doch immer¬
hin ausreichen, um gewisse Gemeinsamkeiten im Wechsel festzuhalten. Als Fak¬
toren von solcher relativen Konstanz können wir wenigstens zwei festhalten, die
zwar — ore wir sahen — allein nicht maßgebend sind, aber immerhin doch ein
gewisses Rückgrat bilden: die Rasse und die immanente Tradition. Auch sie
schwanken, ober sie entwickeln sich doch so langsam, daß sie innerhalb des fluten¬
den Wechsels beinahe als ruhende erscheinen. Das sieht man am besten bei
solchen Völkern, die bewußt eine Einheitlichkeit eines Volkstums erstrebten. Ich
erinnere dabei an die Jrlden und die Chinesen. Jene erzielten die bewundernd
Werte Geschlossenheit ihres Wolkscharakters einerseits durch strengste Ab¬
geschlossenheit gegen Volksfreude und anderseits durch die Schaffung einer eher¬
nen Tradition in der Thors. Die Chinesen verfuhren ähnlich. Sie sperrten
sich durch ihre Mauer gegen das Ausland ab und entwickelten mit zähem
Konservativismus eine immanente Tradition, die alle landfremden Einflüsse (wie
den Buddhismus) doch vollkommen in ihrem Geiste umzubiegen vermochte.
Ob diese Einheitlichkeit das höchste Ideal ist, bleibt dennoch eine offene Frage.
Wir finden also, daß es zwar immerhin einen Volksgeist gibt, der jenseits
aller Individualitäten sich auswirkt, daß laber trotzdem nur mit allergrößten Vor¬
behalten dieser Volksgeist als einheitliche und konstante Größe in Rechnung ge¬
stellt werden darf.
Und mit dieser, auch sür die Praxis wichtigen Erkenntnis kommen wir
wieder zum Anfang unserer Betrachtungen zurück. Hat uns doch die jüngste
Zeit gelehrt, daß es möglich ist, den Geist und Charakter eines Volkes bis schier
in sein Gegenteil umzubiegen! Wir haben erlebt, daß die als wankelmütig ver¬
schrienen Franzosen unter dem Druck einer gewalttätiger Regierung und einer
ungeheuer suggestiven Presse leine hartnäckige Zähigkeit entwickelt haben, die sie
an den Rand der Selbstvernichtung brachte. Wir haben gesehen, daß die als nur
erwerbsgierig verschrienen Amerikaner sich in einen Krieg stürzten, der für
einen großen Teil des Volkes — wir dürfen uns darüber nicht täuschen — von
idealen Motiven eingegeben wurde, mögen wir auch hundertmal diese Ideale als
falsch und verschwommen kennzeichnen. Und derartiger Beispiele gibt es noch
viele, die alle beweisen, daß der Volkscharakter zwar vorhanden, aber sehr schwer
in feste Begriffe zu zwingen ist, vielmehr beständig lallen möglichen Wandlungen
und Schwankungen ausgesetzt ist, die kaum mit Sicherheit vorher zu berechnen
sind. Daher wird, wenn man je zu gründlichen Forschungen über die Psycho¬
logie der einzelnen Völker gelangen wird, es dringend von nöten sein, sich dieser
Variabilität der Ergebnisse bewußt zu bleiben. Nur so wird es möglich sem,
jene schweren Fehler zu vermeiden, zu denen uns das falsche Vertrauen auf die
Anwendbarkeit unserer vermeintlich festen Begriffe von fremden Volkscharakteren
gerade in diesem Kriege geführt hat.
le östliche Neuorientierung ging bislang von der Voraussetzung aus,
daß England in der Randstaatenfrage keine unmittelbaren politischen
Interessen hat und wenn auch scharfen Auges, so doch lediglich als
höhnischer Zuschauer der wachsenden Verwicklung der östlichen
Fragen für Deutschland folgt. Nachdem ich in den baltischen
^Landen Gelegenheit zur Fühlungnahme mit Politikern aller
Nationalitäten gehabt habe, unterliegt es für mich keinem Zweifel mehr, daß eine
aktive englische Agitation dort im Lande lebhaft zu unseren Ungunsten am Werke
ist. Sähe auch England, wie manche Vertreter der „östlichen Neuorientierung",
in einem engen Anschluß des ganzen Baltikums an Deutschland die größte Gefahr
für uns, so hätte es allen Grund, Deutschland in seiner Angliederungspolitik
gewähren und es so in sein Verderben hineinrennen zu lassen. Der politische
Blick unseres klügsten und gefährlichsten Feindes sieht schärfer: im Separatismus
der Letten und Ehlen, in ihrem ehrgeizigen Streben nach staatlich selbständigem
Dasein sieht England die bedenklichste Bedrohung für uns. Und eben diesen
Aspirationen der chemischen und lettischen Intelligenz gibt die englische Geheim¬
agitation im Lande stets neue Nahrung. Unter der wohlbekannten Maske des
Horts der kleinen Völker sucht England im Baltikum selber Fuß zu fassen und
sich so ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen.
Schon an der Wiege eines selbständigen Estenstaates gedachte England die
Patenrolle zu übernehmen. Als zu Anfang dieses Jahres unter dem Eindrucke
der bolschewistischen Tyrannei die Bewegung für einen Anschluß an Deutschland
in allen chemischen Kreisen Platz griff, stachelte der durch die Maximalisten ver¬
triebene fanatisch deutschfeindliche Nationalist Tönnisson von Helsingfors aus in
einem offenen Briefe in der Dorpater chemischen Zeitung „Postimees" die separa¬
tistischen Neigungen des Estenvolkes an, indem er andeutungsweise Englands
Unterstützung auf dem großen internationalen Friedenskongreß in Aussicht stellte.
Etwa um dieselbe Zeit, am 12. Februar 1918, also vor dem deutschen Einmarsch,
wandte sich die Revaler chemische Zeitung „Tallina Teataja" offen gegen Englands
Versuche, sich an der baltischen Küste ein neues Gibraltar zu schaffen, um von
dort aus gleichzeitig Deutschlands Einfluß zu brechen und Schweden, Finnland
und Rußland direkt zu bedrohen. Unmittelbar vor Einmarsch der Deutschen
war bereits der Tag für die Proklamierung der selbständigen chemischen Re¬
publik festgesetzt. Zu diesem Akt waren laut Revaler „Päewaleht" vom
25. Februar 1918 zwei englische Offiziere mit wichtigen Aufträgen ihrer Negierung
in einem Ertrazuge unterwegs. Da jedoch die Bahnlinie an zwei Stellen zerstört
war, konnte diese Gesandtschaft' Reval vor Einzug der Deutschen nicht erreichen,
und das Patestehen unterblieb, zumal die Taufe selber ins Wasser fiel. Inzwischen
gelang es Tönnisson und einigen anderen chemischen Politikern, die sich in Stockholm
als rechtmäßige „Vertretung" des „chemischen Staates" aufladen, einen Protest gegen
die deutschen Maßnahmen ausgerechnet in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
zu veröffentlichen, der im Baltikum selber nicht nur in der deutschen Presse entrüstete
Gegenäußerungen hervorrief. Übrigens wies damals auch die „Vossische Zeitung"
auf den Zusammenhang hin, der zwischen diesem chemischen Separatismus des
Herrn Tönnisson und englischen Versuchen, sich an der Ostsee festzusetzen, bestünde.
Um dieselbe Zeit beklagte sich eine aus fünf Ehlen und einem Deutschen bestehende
Abordnung mehrerer chemischer Landgemeinden bei dem deutschen kommandierender
General über die provokatorischen Gerüchte, die sichtlich von englischer Seite zur
Beunruhigung der Bevölkerung ausgestreut wurden und die ihre Wirkung namentlich
bei dem chemischen Volke nicht verfehlen, das der Beeinflussung durch unkontrollier-
bare Gerüchte in außerordentlichem Maße zugänglich ist.
Während den chemischen Abordnungen zuerst in London durch Balfour und
dann auch in Paris durch Poincarö freundlicher Empfang und wohlwollende
Zusicherungen zuteil wurden, wovon z. B. die schweizerische Presse durchgehends
Notiz nahm, verstummten in Estland die Gerüchte, z. B. einer nahe bevorstehenden
Landung der Engländer, keineswegs, sondern griffen, wie mir erst kürzlich von
keltischer Seite in Riga versichert wurde, auch auf die lettischen Teile des
Baltikums über. Insbesondere liebt es diese Stimmungsmache, alle deutscheu
Maßnahmen als provisorisch und damit belanglos hinzustellen: der allgemeine
Friedenskongreß werde Deutschlands Niederlage besiegeln und damit den Letten
und Ehlen ihre volle staatliche Selbständigkeit schenken, die ihnen von Deutschland
vorenthalten werde.
Dem Hinweis auf diese offenbaren englischen Machenschaften im Baltenlande
begegnet ein bestimmter Teil der deutschen Presse, eben der, der den fortdauernden
Krieg mit England für ein durch Verständigung jederzeit beizulegendes Mi߬
verständnis hielt, mit einer sehr souveränen Gebärde: er sieht darin halb tendenziöse,
halb ängstliche „altdeutsche" Gespensterseherei. Wer sich im Lande selbst von der
ftimmungsmäßigen Realität dieser Gespenster überzeugt hat, wird sich durch diese
überlegenen Beschwichtigungsgesten, deren Tendenz andererseits gar zu klar zutage
liegt, in der Einsicht nicht beirren lassen, daß es durchaus gilt, hier die Augen
offen zu halten, und daß diese Bestrebungen Englands politisch dmchaus ernst zu
nehmen sind. Daß englisches Geld im Baltikum im Umlauf ist, darf als sicher
gelten. Es ist bekannt, daß Valfour der chemischen Abordnung keine bestimmten
öffentlichen Versprechungen gemacht hat; wie weit er sich im geheimen gebunden
hat, wissen wir nicht. Wir dürfen wohl kaum annehmen, daß das in sehr weit¬
gehendem Maße geschehen ist, da England sich für die Belohnung eines etwaigen
reumütigen Nußland der Zukunft noch Möglichkeiten offen lassen muß. Die oft
wiederholte Behauptung, daß englisches Kapital sich durch Landkäufe in Estland
habe festsetzen wollen, ist mir eist neuerdings an Ort und Stelle von zuverlässiger
Seite als glaubwürdig hingestellt worden. Kurzum: England sucht ohne Zweifel
im Valtenlande politischen Einfluß zu gewinnen, nutzt die dort vorhandenen
separatistischen Strömungen der Ehlen und Letten und den Ehrgeiz ihrer von
Ministerportefeuilles träumenden Intelligenz auf geschickte Weise zu unseren Un-
gunsten und ist leben Augenblick bereit, seinen Finger in eine etwa zwischen
dcuischer und russischer Einflußsphäre entstehende Ritze zu klemmen. Lediglich dem
wachsamen Auge unseres Militärregiments ist es zu danken, daß es nicht in den
gegenwärtigen Wirren im Baltikum festeren Fuß gefaßt hat, wie sich ja auch die
.chemische Küste zu einer „Intervention" wesentlich besser geeignet hätte, als etwa
die abgelegene Murmangegend.
Die Voraussetzung für die Forderung, das deutsch-russische Verhältnis so zu.
gestalten, daß wir ohne englisches Dareinreden mit dem neuen Nußland wirtschaftlich
und politisch möglichst bald auf guten Fuß kommen, ist, unmittelbaren englischen
Einfluß aus Osteuropa gänzlich fernzuhalten und schon die bloße Möglichkeit der
Schaffung einer englischen Machtbasis im deutsch-russischen Grenzgebiete im Keime
zu ersticken. Für das baltische Land bleibt uns die einzige Möglichkeit, den gegen¬
wärtigen Zustand einer militärischen Besetzung des Landes zum mindesten für die
Dauer des Krieges aufrecht zu erhalten. Denn gesetzt, wir gäben Teile des Balten¬
landes oder das ganze Gebiet der ehemaligen russischen Ostseeprovinzen an das
englandfeindliche bolschewistische Rußland zurück, so gäben wir das Land zwar der
maximaWischen Zersetzung preis, von der wir es auf ausdrücklichen Wunsch aller
seiner Bewohner errettet haben, wir öffneten aber zugleich den Engländern ein
Einflußtor in Osteuropa: zum mindesten politisch, denn wir trieben die von uns
verratene bolschewisten-feindliche Bevölkerung des Baltikums geradezu in englische
Arme, aber auch strategisch, wenn wir nicht trotz unserer selbstlosen Verzichte unsere
Besatzungstruppen im Lande ließen, um dort Schulter an Schulter mit bolsche¬
wistischen „Jskosols" (Soldatenräten) den Engländer zu erwarten. Das wäre denn
doch die Freundschaft mit dem schwanken Sowjetregime etwas Weitgetrieben. Daß
dos innerlich geschwächte bolschewistische Regiment allein und gegen den Willen der
breitesten Schichten der baltischen Bevölkerung aller Nationen England vom
baltische» Lande nicht fernhalten kann, liegt durchaus auf der Hand. Folglich ist
dieser Weg für uns überhaupt ungangbar.
Aber bekanntlich ist immerhin mit der Möglichkeit eines inneren Umschwungs
in Nußland zu rechnen. In diesem Falle würden politische Kreise ans Ruder
kommen, von denen statt, des schroff arti-englischen maximalistischen Kurses viel¬
mehr ein starkes Liebäugeln mit der Entente zu erwarten ist. Sollten wir nun
wirklich loca solchen Rußland die baltischen Provinzen zurückgeben? Böte es
uns die mindeste Gewähr für eine erfolgreiche Abwehr einer englischen Festsetzung
an der Ostsee? Sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß England in diesem Falle
auiomatijch den keltisch-chemischen Separatismus an dieses neue Ruß'and verraten
winde, meinem friedlichen Eindringen in das baltische Land stünden wir dann
aber noch ohnmächtiger gegenüber, da es uns zu Eingriffen in innerrussische
Verhältnisse zwingen würde, zu denen wir schlechterdings nicht imstande wären.
Die wirtschaftliche Konsolidierung Rußlands, die Angloämerika dann statt unser
in Angriff nehmen würde, fände in Riga, Liban und Reveil die gegebenen Aus¬
gangspunkte. Nicht wie in einem scheinselbständigen Lettland und Estland ins-
geheim, sondern ganz offen würde sich angelsächsischer wirtschaftlicher und poli¬
tischer Einfluß dann an der baltischen Küste festsetzen und zwischen Rußland und
uns einen unüberwindlichen Keil treiben. Aus der Ritze würde ein breiter Spalt,
in den nicht nur die englische Hand, sondern auch die englische Faust gut hinein-
Patzte, Von West und Ost zugleich würde uns alsdann John Bulls sympathische
Physiognomie entgegengrinsen. Finnland gäben wir natürlich völlig preis,
Schweden und Dänemark kämen genau wie Norwegen unter beherrschenden eng¬
lischen Einflutz und würden der Fähigkeit zu standhafter Neutralität beraubt.
Auf Ostseegeltung könnten wir schlankweg verzichten. Und was wäre für unser
Verhältnis zu Rutzland erreicht? Es ist wahrhaftig schwer verständlich, wie breite
Kreise unserer politischen Öffentlichkeit meinen können, das einzige, was uns von
d?in bürgerlichen Rutzland trenne, sei der Friede von Brest-Litowsk. Ist es wirk¬
lich nötig, an die elementare Tatsache zu erinnern, datz uns vom russischen Volke
autzer jenem diplomatischen Ereignis doch sozusagen noch ein Komplex von un-
übersteiglichen Erlebnissen seelisch trennt, die durch die Namen Tannenberg,
Masuren und Gorlice nur zum kleinen Teil bezeichnet sind? Glauben wir, datz
im nationalen Ehrgefühl gerade jener bürgerlichen Kreise, die von einer Eroberung
Königsbergs und Danzigs träumten, die Erinnerung selber wegzuwischen sei?
Unter dem Gesichtspunkt internationaler Resonanz ist bei unserem Verhalten
dem Baltikum gegenüber alle Behutsamkeit erforderlich, da England bekanntlich für
„Befreiung der kleinen Völker" kämpft und in uns den Spezialisten für „Völker¬
unterdrückung" sieht, wird es hier die Gelegenheit wahrnehmen, um uns an Hand
unserer praktischen Ostpolitik auf weitere Musterleistungen dieser Art vor der
Weltöffentlichkeit festzunageln. Wir werden diesem Schicksale nicht entgehen, nicht
nur, weil England stets weiteres Beweismaterial seiner propagandistischen Grund¬
these braucht und folglich auch finden wird, sondern auch nach der ganzen Lage
im Osten. Die politische Unreife und die nationalistische Verhetzung, in der wir
die Letten und Ehlen vorfinden, erfordern gleichermatzen eine feste Hand. Die
schmale Linie, die zwischen Tyrannei und schwächlicher Toleranz hindurchführt, ist
nicht gerade leicht innezuhalten. Wenn aber auch das unmittelbare deutsche
Interesse der beherrschende Gesichtspunkt unserer Behandlung der Ostvölker bleibt,
darf doch auch der Gesichtspunkt internationaler Rückwirkung nicht gänzlich autzer
acht bleiben. Wir haben keinen Grund, England seine Hetzpropaganda allzu sehr
zu erleichtern.
>^
H^Pezdren Wunsch, einen „Aufsatz" über die neue politische Lage in
! Elsaß-Lothringen für die „Grenzboten" zu schreiben, kann ich beim
! besten Willen nicht erfüllen. Schwerer vielleicht noch wie im
> Reich läßt sich hier im „Reichsland" die Volksstimmung über¬
sehen, die letzten Endes dort allein zur verantwortungsvollen Ent-
_Scheidung berufen sein wird. Während die diplomatischen Ver¬
handlungen zwischen Berlin und Washington hin und her gehler, bleibt das
Schicksal Elsaß-Lothringens als „Schicksalsland des Reiches" in der Schwebe, und
selbst die bevorstehende Tagung des elsaß - lothringischen Landtags wird nur
Streiflichter auf das Kommende werfen, wenn die Volksvertreter dort nach
Schweizer Vorbild ein Referendum über die künftige politische Zugehörigkeit des
Landes beantragen. Das Ergebnis dieser angeblich „freien Volksabstimmung"
selbst läßt sich ja in keiner Weise vorhersehen: alles hängt von den Bedingungen
ab, unter denen die Entente diesen „Volkswillen" zum Ausdruck bringen lassen
will. Nicht die Parlamentarier in Berlin und Straßburg werden über das
Geschick des Reiches, über seine Weltstellung und seine Weltwirtschaft entscheiden:
darüber sind bereits im Frühjahr 1918 vor den Toren von Amiens, Hazebroul
und Reims die eisernen Würfel gefallen, wenn künftige Historiker die Welten¬
wende nicht schon auf den 25. Februar 1916 verlegen, als der siegreiche Angriff
der deutschen Sturmtruppen durch allerlei Zufälligkeiten auf der Panzerfeste
Douaumont stockte.
Gegenüber all diesem Großen erscheint in der Tat das, was sich heute in
Straßburg vorbereitet, als ein rechtes Satyrspiel. Und echt komödienhaft wird
es durch den Kampf der beiden Führer des elsaß-lothringischen „Parlaments"
eingeleitet, deren Rivalität jüngst auf der Tribüne des Deutschen Reichstags zum
offenen Ausdruck gelangte.
"
Auch die „Elsässer, besser gesagt „das elsässische Zentrum", wollten selbst¬
verständlich vor der Welt nicht zurückstehen, als alle die -anderen „Fremdvölker",
wie Dänen und Polen dem Deutschen Reich den Eselstritt versetzten. Bei einer
Besprechung sämtlicher elsaß-lothringer Abgeordneter im Reichstag, so berichtet
der neue „parlamentarische" Staatssekretär Hauß, „wurde eine Erklärung ver¬
einbart und festgelegt, welche für das elsaß-lothringische Volk auf Grund der
Prinzipien des Präsidenten Wilson das Recht der Selbstbestimmung, also des
Volksreferendums", verlangte.
Diese programmatische Erklärung lautete folgendermaßßen:
„Bon den ersten Tagen des unglücklichen Kriegs an sind die Augen der
Welt mit Spannung auf Elsaß-Lothringen gerichtet geblieben. Der Krieg, welcher
die durch den Frankfurter Frieden geschaffenen völkerrechtlichen Beziehungen
entzweibrach, hat auch die elsaß-lothringische Frage erneut in den Brennpunkt der
öffentlichen Erörterungen gerückt und Hot den Besitz Elsaß-Lothringens alsbald
zu einem Kriegsziel werden lassen.
In den Erörterungen über die Frage ihres eigenen Schicksals hat die
Bevölkerung Elsaß-Lothringens bis zur Stunde völlig unbeteiligt bleiben müssen.
Das Militärregiment hat jedes politische Leben auf dem Boden des Landes mit
rücksichtsloser Vollständigkeit unterdrückt, die Parteiorganisation suspendiert, das
Vereins-, Versammlungsrecht und Preßfreiheit aufgehoben und selbst den elsa߬
lothringischen Landtag seiner verfassungsmäßigen Rechte beraubt. So ist in vier
Jahren zede politische Aussprache und damit auch jede Meinungsbildung und
jede Meinungsäußerung zur Unmöglichkeit gemacht worden.
Das Friedensprogramm des Präsidenten der Vereinigten Staaten Wilson,
dessen 14 Punkte die Annahme der deutschen Regierung und der Mehrheit des
Deutschen Reichstags gefunden haben, macht die Lösung des elsaß-lothringischen
Problems zu einer Borsrage der friedlichen Neuordnung der Welt. Punkt 8 greift
zurück auf die Ereignisse des Jahres 1871. Damals hat die große Mehrheit der
französischen Nationalversammlung in Bordeaux, der Abtretung Elsaß-
Lothringens in der Zwangslage des Kriegs zugestimmt. Die Abgeordneten aus
Elsaß-Lothringen haben gegen diese Abtretung Einspruch erhoben. Die fünfzehn
ersten Vertreter Elsaß-Lothringens im Deutschen Reichstag haben im Jahre 1874
dem ausgesprochenen Willen ihrer Wähler Folge leistend, folgenden Antrag
eingebracht:
.Der Reichstag wolle beschließen, daß die Bevölkerung Elsaß-Lothringens,
welche ohne darüber befragt worden zu sein, dem Deutschen Reich durch den
Friedensvertrag von Frankfurt einverleibt worden ist, sich speziell über diese
Einverleibung auszusprechen berufen werde/
Bei der Beratung des Antrags am 18. Februar 1874 hat der Sprecher der
Elsaß-Lothringer, der Abgeordnete Teutsch, sich besonders auf Artikel 286 des
Gesetzbuchs des Völkerrechts von Professor Bluntschli (Heidelberg) berufen, der
lautet: -Damit die Abtretung eines Gebiets Gültigkeit erlange, muß dieselbe vor¬
erst von den Einwohnern des abgetretenen Geb-reth im Besitz ihrer politischen
Rechte gutgeheißen werden. Diese Anerkennung darf unter keinen Umständen
mit Stillschweigen übergangen oder unterdrückt werden, denn die Bevölkerungen
sind keine der Rechte und des Willens bare Sache, die man dem ersten Besten als
Eigentum überlassen kann/
Für diesen ihren Antrag haben unsre Vorgänger in der elsaß-lothringischen
Volksvertretung achtungsvolles Entgegenkommen nicht zu finden vermocht. Es
war für die Rechtsforderung eines Volksentscheids über eine solche Frage das
wünschenswerte Verständnis nicht vorhanden. Im elsaß-lothringischen Volk hat
das Bewußtsein der Vergewaltigung lange fortgedauert und blieb das Gefühl
lebendig, daß in Fragen keiner Gebietsabtretung nur die Abstimmung der
Bevölkerung, der das betreffende Gebiet gehört, wirkliches Recht schassen kann,
das von lallen anzuerkennen wäre.
Wenn dieser Anspruch in der Folge nicht fortwährend erhoben wurde, so
war es, weil man sich bei den herrschenden Anschauungen der Aussichtslosigkeit
bewußt, war, und weil die gerechtfertigte Scheu vor dem drohenden Weltkrieg es ,
verbot, in einem Feuer zu schüren, das vielen erkennbar unter der Asche glomm.
Elsaß-Lothringen mußte als Gvenzland, in klarer Voraussicht der Schrecknisse
eines Kriegs, den Frieden wünschen um jeden Preis. Auf dem Boden der durch
den Frankfurter Frieden geschaffenen Tatsachen stehend, erstrebten durch viele
Jahrzehnte hindurch seine Abgeordneten des Landes Gedeihen, Freiheit und
Gleichberechtigung im Rahmen des Deutschen Reichs.
Durch das Friedensprogramm des Präsidenten Wilson ist die Frage der
Annexion von 1871 wieder zur Diskussion gestellt. Die Völker und in erster
Linie die Bevölkerung Elsaß-Lothringens haben dazu Stellung zu nehmen. Ein
Mandat zu einem Votum hierüber haben wir zur Stunde nicht. Wir glauben
aber erklären zu können, daß die Bevölkerung. Elsaß-Lothringens das Selbst¬
bestimmungsrecht der Völker rückhaltlos anerkennt, auf welches sich die inter¬
nationale Welt geeinigt hat, und daß sie in der Anwendung dieses Grundsatzes
auf die Regelung ihrer eigenen staatlichen Zukunft leine natürliche Rechts¬
forderung erblickt. Sie nimmt an, daß dieses Recht von keiner Seite mehr
bestritten, und daß von keiner Seite sür die definitive Neuordnung der Dinge
eine Lösung der lelsaß-lothringischen Frage angestrebt wird außerhalb jenes
Rechtsgrundsatzes.
Elsaß-Lothringen müßte das Schulbeispiel sein sür die Anwendung dieser
Rechtsanschauung. Es ist zweifellos früher ohne und gegen den Willen seiner
Bevölkerung durch staatliche Gewalt Annexionen unterworfen worden. Es fehlt
Elsaß-Lothringen die lückenlose historische Zugehörigkeit zu einem der angrenzen¬
den Staatengebilde, seine wechselvolle Vergangenheit, seine sprachliche und
völkische Eigenart, die selbständige Gesinnung seiner Bewohner lassen es nicht
von Natur und Geschichte als zu integrierender Bestandteil eines Staatswesens
geworden erscheinen. Es kann darum nur ein Plebiszit die friedliche, von niemand
weiter zu beanstandende staatliche Existenz Elsaß-Lothringens fest begründen und
damit einen Grundstein legen zum Bau des Bölkerfriedens.
Soll bleich Ideal verwirklicht werden, so muß, wie Präsident Wilson es
fordert, die .Lösung im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerung,
und nicht als kein Teil eines bloßen Ausgleichs oder Kompromisses der Ansprüche
rivalisierender Stellen getroffen 'werden'.
Soll Elsaß-Lothringen aufhören, der Zankapfel zweier großer Nationen
zu sein, deren Sprache und Nationalität von nltersher auf seinem Boden neben¬
einander vertreten waren, soll es aufhören eine ständige Bedrohung des Welt¬
friedens zu bilden und auch im Frieden als nichts anderes zu gelten, als ein
Glacis gegen den Feind und Aufmarschgebiet für den Kriegsfall, dann darf nicht
Waffengewalt und Sieg allein über sein Schicksal entscheiden. Die Bevölkerung,
der von Gottes Gnaden und von Rechts wegen das Land gehört, das sie bewohnt,
soll darüber entscheiden, wie sie ihre staatliche Zukunft geregelt wissen will, und
ihre Entscheidung soll unantastbares Recht schaffen.
Dann müßte die trübe Aera abgeschlossen sein, da die elsaß-lotljringische
Frage wie ein Alb ans den Völkern lastete. Dann könnte Elsaß-Lothringen die
Rolle übernehmen, die seine historische Bestimmung sein muß: das einigende
Band zwischen zwei Völkern zu sein, die nur zu ost blutiger Krieg entzweite; die
Brücke der Versöhnung zu bilden zwischen zwei Nationen und die, friedliche
Berührungszone zum Ausgleich zwischen zwei Kulturen, die berufen find im
Wetteifer gemeinsamer Arbeit mitzuwirken zum Heil und Segen der Menschheit."
Wie weit diese Erklärung sachlich berechtigt war, wie viel hier von der
Überschätzung unselbständiger Volkssplitter, die der deutsche Partikularismus und
das deutsche Weltbürgertum mit einer gewissen Selbstgefälligkeit zur „elsaß-
lothrtngi>eyer Nation" emporgehoben haben, mttsprichl, vapor kann und soll an
dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Aber charakteristisch für die „Anfänge
einer parlamentarischen Regierung" nicht nur im Reichslande, fondern auch im
Reiche selbst ist es doch, daß diese nach bestem Wissen und Gewissen vereinbarte
Erklärung im deutschen Parlament nicht abgegeben werde. Der erwählte
Sprecher des elsässischen Zentrums hat dafür vielmehr ohne Vorwissen seiner
Landsleute, aber scheinbar in ihrem Namen dem Reiche selbst den Fehdehandschuh
hingeworfen und eine internationale Regelung verlangt, die nach Lage der Dinge
bereits einer Option sür Frankreich gleichkommt. Gerade zusammengehalten mit
der oben erwähnten „Erklärung" ist die Rede des Abgeordneten Ricklin
bezeichnend genug, um sie nochmals hier abzudrucken, trotzdem sie ja, wie daS
Wolffburecm melden mußte, in Berlin bereits „lebhafteste Bestürzung" hervorrief.
"
„Der Reichskanzler, so heißt es hier, „hat in seiner gestrigen Riede mit¬
geteilt, daß ein Elsässer zum Statthalter und ebenfalls ein Elsässer zum Staats¬
sekretär ernannt worden sei. Er fügte hinzu, daß er annehme, daß der neue
Statthalter bald ein Negierungsprogramm aufstellen werde. Der Reichskanzler
hat es unterlassen, auch nur mit einem einzigen Worte darauf hinzuweisen, waS
die deutsche Regierung von der Einführung der Reform in Elsaß - Lothringen
erwartet oder Mas sie damit bezweckt. Es wird aber die Annahme berechtigt sein,
daß sie mit dieser Aktion eine Einwirkung auf die Stimmung der Elsaß-
Lothringer im deutsch-völkischen Sinne erwartet. Wir halten es für unsere
Gewissenspflicht, dem deutschen Volke die volle Wahrheit zu sagen, um keine
trügerischen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Diese Wahrheit lautet: All das,
was hier in Berlin und von der neuen Regierung in Straßburg unternommen
werden wird, wird in dem nunmehrigen Stadium, in das die elsaß-lothringische
Frage eingetreten ist, keine wesentliche Einwirkung auf die Stimmung in Elsaß-
Lothringen lausüben können. Durch Annahme der vierzehn Punkte Wilsons ist
die elsaß-lothringische Frage zu einer internationalen Frage geworden, deren
Lösung dem Friedenskongreß übertragen ist.
Die vom Reichskanzler gebrauchten Worte, daß die Rechtsfragen nicht halt
an unseren Landesgrenzen machen und auch Probleme innerhalb des Reichs¬
gebiets berühren, stützen unsere Ausfassung. Da wir sicher annehmen, daß dem
von einem sehr großen Teile Elsaß-Lothringens beanspruchten Recht, selbst über
ihr politisches Schicksal zu entscheiden, Rechnung getragen werden wird, müssen
wir jetzt alles unterlassen, Mas der freien Willensäußerung in Elsaß-Lothringen
vorgreifen könnte. Em Eingreifen in die Verfafsungsentwicklung, die man bei
uns vor hat, schließt aber eine solche Präjudizierung der freien Willensäußerung
ein. Jedenfalls ist sie geeignet, die öffentliche Meinung zu verwirren. Nachdem
die elsaß-lothringische Frage auf das internationale Gebiet übergegangen ist,
halten wir unser empfangenes Mandat, dem Lande politische Autonomie zu
geben, für überholt."
Man sieht: die vorbereitete Erklärung des elsaß-lothringischen Zentrums
und die Rede Ricklins decken sich beim besten Willen nicht. Man stände vor einem
Rätsel, wenn nicht die Persönlichkeit des Sprechers im Reichstag eine nur zu
ansprechende Lösung gäbe.
AIs Abgeordneter des heute in französischer Hand befindlichen Sundgau-
Städtchens Dammerkirch war Dr. Ricklin, alter Korpsstudent und Kantonalarzt
seines Heimatorts, nach Herkunft, Erziehung und Charakter seit ^ langem der
geborene Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Schattierungen, die
das elsässer Zentrum im Reichstage wie vor allem im Straßburger Landtage
zeigte. Aber wie das bei weichen, egoistischen Vermittlernaturen nur zu leicht
der Fall ist: in Wirklichkeit wurde er von keiner Seite, weder von den zum Reich
schielenden Umerelsässern, noch von den frcmzöselnden, ausgesprochenen
Nationalisten aus dem Oberelsaß und ans Lothringen für vollwertig angesehen.
Vor allem die von ihm im Landtage im Sommer 1917 vor spärlich besetzten
Bänken verlesene gewundene Loyalitätserklärung, auf die ich kürzlich hier hin¬
wies, entzog Ricklin auch die letzten persönlichen und politischen Sympathien, die
er als Landtagspräsident eigentlich verkörpern müßte.
Köstlich in ihrer Einfachheit und Schlichtheit und doch mit tausend feinen
Nadelstichen geziert ist dazu die Lebensgeschichte, die AbbZ Wetterls vor einigen >
Monaten erst vom sicheren Zufluchtsort Paris aus von seinem alten Mitkämpfer
- gab. „l^es coulisses cku KsiLkstÄZ" heißt dos Werkchen, worin der alte Spötter
Freunde und Gegner, Regierung und Parlament im Reich teilweise einer solch
treffsicheren Kritik unterzieht, daß seine Lektüre auch in Berlin allen Politikern
herzhaft zu empfehlen ist. Mit einer bereits stark „belasteten" Vergangenheit, so
Wird Ricklin hier gezeichnet, kam der junge Eugen nach vollendetem Studium
in den heimatlichen Sundgau zurück, denn seit "seinem zehnten Jahre hatte er
unter der Obhut eines Stiefvaters in Bayern eine ganz deutsche Erziehung
genossen, von der zahlreiche schmisse beredtes Zeugnis ablegten.
In der Tat hatte er zunäctst auch in Dammertirch zahlreiche deutschfreund¬
liche Anwandlungen (it faisait etawZe as sentiments Zermanoplrilss), erschien
in seiner Sanitätsoffizieruniform beim Kaisergeburtstagsesscn und lebte in
ständiger Fehde mit seinem Ortspfarrer. Erst die Heirat mit einer sehr reichen
Base, die ihrerseits eine ganz französische Erziehung genossen hatte, übte einen
sehr wohltätigen Einfluß aus (une elieureuse inkluence). Die Notwendigkeit, seine
Anschauungen denen seiner künstigen Wähler anzupassen, vollendete die Bekehrung:
Ricklin wurde regierungsfeindlich und zugleich — fromm I (cievint antiZouver-
nemental et.... ein le vit trennender - leg ollices reliZieux as la paroisse).
Als die Regierung ihm bald nach seiner Wahl die Bürgermeistergeschäfie von
Dammerkirch wieder abnahm, trat der Abgeordnete von Alttirch-Themm in die
entschiedenste Opposition.
Trotzdem traute man dem Renegaten nicht eben sonderlich in den „guten"
elsSssischen Kreisen. Aber Ricklin selbst verstand es 1911, die Freundschaft des
Staatssekretärs Zorn von Bulach zu gewinnen und damit den Aufstieg zum.
Präsidium der neuen zweiten Kammer, wo er zunächst seinem Patriotismus über¬
schäumenden Ausdruck verlieh. Im Anfang des Weltkrieges wußte er sich, nach
Wetterle, nickt genug zu tun in franzosenfeindlichen Reden, holte seine sorgfältig
im dunklen Winkel aufbewahrte Uniform wieder hervor und suchte sich liebes Kind
bei den Militärbehörden zu machen.
„KicKIin est sournois", so schließt das von Wetterlö entworfene Lebens¬
bild, „macire, mais egalement brutal. O'une ambition clemesuree, et'une evaries
sorclicke,' it ne reclierclie que l'Iumneur et I'arZent. ?our se les procurer, it
passe kacilement sur le corps cle ses meilleurs amis. Oe tous les rätlich it
est certainement le plus oclieux". (Ricklin ist ein schlauer, tückischer, zugleich
brutaler Bursche. Ueber die Maßen ehrgeizig, dazu schmutzig geizig, strebt er nur
nach Ehren und Geld. Um ihretwillen geht er schonungslos über seine besten
Freunde hinweg. Von allen dem Vaterland wieder Zugeführten ist er der ver¬
haßteste.)
Diese Charakteristik „von Freundeshand" sollte man auch im Reiche berück-
sichtigen, wenn man die Rede Ricklins ihrem moralischen Werte nach richtig ein¬
schätzen will. Denn gerade die brutale Art, wie Ricklin diese feierlich beschlossene
„Erklärung" des elsässischen Zentrums beiseite schob, um eine eigene Kriegsansage
in die Welt hinauszuschleudern, muß man wohl oder übel ebenfalls auf persön¬
liche Beweggründe zurückführen. Als Landtagspräsidcnt stand der Abgeordnete
des Wahlkreises Altkirch Thann außerhalb der elsaß-lothnngischcn Parteien. Nach
überlieferten parlamentarischen Brauch mußte die Regierung ihn also übergehen,
als sie Parteivertreter an die Spitze der Verwaltung berief. Sie ernannte den
nomineller Führer der stärksten Fraktion im Landtage, den Vuchdruckereibesitzer
Karl Hauß zum Staatssekretär und — stieß damit den ehrgeizigen Nicklin so vor
den Kopf, daß dieser in ein Wutgeheul ausbrach, das heute als „Programm des
elsaß.lothringischen Volkes" durch die Welt geht!
Inzwischen hat auch der sozialdemokrattsche Abgeordnete für Straßburg,
Bernhard Bohle, weitere Aufklärung über das Verhalten Ricklins gegeben: „Da¬
nach hat Dr. Nicklin die Abwesenheit des Herrn Hauß, der mit den übrigen elsa߬
lothringischen Abgeordneten eine — von Dr. Hägy zu verlesende — Erklärung
vereinbart hatte, benutzt, um in seinem Sinn auf die Abgeordneten einzuwirken,
was ihm auch insoweit gelang, daß er seine, von der vereinbarten abweichende
Erklärung im Namen der Herren Hägy, Leveque, Dr. Schatz und Thumann (sämtlich
ausgesprochene Nationalisten und Gefolgsleute Wetterles) abgeben konnte. Bohle
fügt hinzu: „über das Verhalten Dr. Ricklings war ich um so mehr erstaunt, da
doch bekannt war, daß er, Ricklin, einige Tage vorher Reichsbeamtcn gegenüber
ein echt deutsches Bekenntnis abgegeben hatte und andre elsaß-lothringische Reichs¬
tagsabgeordnete als Fmnzöslinge bei der Negierung denunzierte. Mehr will ich
heute nicht sagen! man kann ruhig der Bevölkerung es überlassen, über das Ver¬
halten des Herrn Ricklin ein Urteil zu fällen."
Auch Hauß empfängt von Freund Wetterlö seine Note, und vielleicht ist
es Ihnen in Berlin auch ganz interessant, in welchem Lichte der jetzige Leiter der
reichsländischen Regierung dem Wortführer der elsüssischen Hochverräter erscheint.
Einem kurzen Bericht über den Lebens- und Entwicklungsgang des aus kleinen
Verhältnissen stammenden Parlamentariers folgt folgende Zeichnung seines politischen
Charakters: „Lnevre est-it juste as reeonnaitre eme, tout en cionnant pariois
clef ZsZes ä un Zouvernement, qui sapin't explviter les ciiikicultes liimnoieres,
clans lesquelles, proäiZue ä I'exces, it se ctebattait constamment, it n'abeiiezua
z'annis completement son inäepenci^nLe et fut rester un bon ^Isacien, meme
aux ueures les plus clikkieiles." (Immerhin darf man anerkennen, daß Hauß
trotz mannigfacher Verbeugungen vor einer Regierung, die seine häufigen finan¬
ziellen'Schwierigkeiten wohl auszunutzen verstand, doch nie völlig seine Unab¬
hängigkeit verleugnete und selbst in schweren Stunden ein „guter Elsässer"
geblieben ist.) — „Notable und Parlamentarier unter sich!" möchte man das un¬
erquickliche Bild überschreiben, das hier die Katzbalgereien im Schicksalsland des
Reiches bieten, spiegelte sich nicht eben im Geschick Elsaß-Lothringens in so
unübertrefflicher Schärfe auch das Schicksal Deutschlands selbstI Wir stehen vor
einem Scherbenhaufen, hat der Abgeordnete Gothein, anknüpfend an die sogenannte
„Erklärung" des „Elsässers" Ricklin gesagt und glaubte damit die „Regierung"
zu treffen. In Wirklichkeit hat er nicht einzelnen Beamten und der „Methode"
das Urteil gesprochen, sondern dem deutschen Volke insgesamt, als dessen Vertreter
auch der Redner der Fortschrittlichen Volkspartei ebensogut für das verantwortlich
ist und bleibt wie der radikalste Konservative! „Wir stehen vor einem Scherben¬
haufen!" — Aber die beiden Elemente, die das Werk Bismarcks als Torso stehen
ließen und seine Fundamente'unterhöhlten, daß es dem Druck des Weltkrieges
nicht standhielt, sind Weltbürgertum und Kantönligeist. Und beide sind nicht zum
wenigsten durch den Freisinn und die ihm nachfolgten herangezogen worden.
Statt von innen heraus die Mauern des Reiches zu versteifen und neue Klammern
einzuziehen, mußten noch im Kampf gegen eine Welt von Feinden die alten
Figuren, die den Bau einst trugen, immer feiner und subtiler ausgemeißelt
werden, bis sie der auf ihnen ruhenden Last eben nicht mehr gewachsen waren. —
Statt Elsaß und Lothringen auch politisch immer enger mit dem Reich zu ver¬
binden, aus dem Begriff des „Reichslandes" den Einheitsstaat oder'zum wenigsten
ein Großpreußen als Kern und Stock Deutschlands zu entwickeln, um im Kern
Mitteleuropas allen Stürmen trotzen zu können, wußten schon die Fortschrittler
von 1871 kaum laut genug die Werbekraft des deutschen Partikularismus zu
rühmen, dessen Früchte wir heute ernten.
Sobald es die Weltverhältnisse gestatten, soll die Artikelreihe, die ich jüngst
in den „Grenzboten" über die „Ideale und Irrtümer der elsaß'lothringischen
Frage" veröffentlichte, im Verlag von Karl I. Trübner in Straßburg in er¬
weiterter Buchform erscheinen. Dann wird es Zeit sein, im Rückblick auf die
allernächste Vergangenheit auch die nationalen und internationalen Kräfte aufzu-
zeigen, die an der Zertrümmerung des „Reichslandes" ebensogut beteiligt sind,
wie an seiner Aufrichtung. Heute ist die Stunde dazu noch nicht gekommen. Noch
wehrt sich das Reich I
Aber noch immer wissen tausende und abertausende in Altdeutschland nicht,
was unten am Oberrhein für sie alle, Arbeiter und Unternehmer, Bürger und
Bauern, an militärischen, politischen und vor allem an wirtschaftlichen Werten
auf dem Spiele steht ! Einen kleinen Beitrag zu diesem Problem soll ein Büchlein
geben, das soeben ebenfalls im Trübnerschen Verlag erscheint und die Frage be¬
antworten will: „Was besitzt das Reich an Elsaß-Lothringen; was verliert es mit
ihm?'") Jenseits aller Kritik am Gegenwärtigen und Vergangenen möchte es das
Verständnis für die überaus wichtige Stellung wecken, die Elsaß und Lothringen
heute in Deutschlands Volks- und Weltwirtschaft einnimmt. Findet dies Büchlein
Verständnis und Leser, so wiegt es wohl ein Dutzend „Aufsätze" und „Briefe"
auf, die ihrem Inhalt und Umfang nach doch immer nur über einzelne Personen
und Zustände im Reichsland berichten können und damit immer in Gefahr sind,
die Lust und Liebe im Reiche selbst für die Grenzmark des Westens zu ersticken.
Überschrift und Mahnung für all unser Denken und Fühlen muß sie daher gerade
jetzt mehr denn je sein: „Elsaß-Lothringen ist das Schicksalsland Deutschlands!"
Man kann heute kaum
mehr über Politische Dinge schreiben, es sei
denn im Augenblick für den Augenblick. Was
heute gilt, ist morgen zum alten Eisen ge¬
worfen. Heute rast das Rad der Geschichte.
Die Schnelligkeit der Umdrehung ist so groß,
daß wir die einzelnen Ereignisse kaum mehr
sehen. Da da» Rad aus der gesetzmäßigen
Kurve herausgeschleudert ist, überall Abhänge
drohen und sich Lawinen des Gedankens und
der Tat anhalten können, die die AnfangS-
bewegung vervielfachen und neue Richtungen
bedingen müssen, so läßt sich nichts voraus¬
sagen, auch darüber nicht, wer schließlich
unter den Rädern liegen wird.
Im Engpaß, Was ziemlich sicher ist,
ist unsere eigene Lage. Unsere Bundesgenossen
haben uns verlassen oder stehen im Begriffe
dies zu tun, teils willenmäßig, teils weil die
Ereignisse so auf sie selbst einwirken, daß ihr
Auflösungsprozeß sie als Handelnde auf der
Weltbühne momentan ausschaltet. Wir sind
also jetzt ganz allein geblieben — in einem
Engpasse, an» dem wir nicht mehr heraus¬
kommen, oder wenigstens zurzeit keinen Aus¬
weg sehen gegenüber auf uns zustürmenden
Gewalten, die «us ans Leben wollen.'
Die Politik hört in solcher Lage so ziem¬
lich auf. Wir haben wenig Figuren, mit
denen wir operieren können. Es sind nur
noch Gedankenoperationen, die wir machen
können, und diese müssen wir sehr schnell
machen, denn die Zeit drängt.
Militärische Bilanz. Wenn wir die
Bilanz des Momentes ziehen, so sehen wir
folgendes. Auf der militärischen Bühne sind
wir so stark, als wir selbst den moralischen
Mut haben, stark sein zu wollen. Der Kriegs¬
minister hat im Reichstage gesagt: „DaS
Heer ist nicht geschlagen, die Heimat ist nicht
zusammengebrochen, überall sind Kräfte vor¬
handen, uns zu erfolgreichem Widerstand zu
befähigen". Er ist deswegen heftig an¬
gegriffen worden. Man fürchtet, daß es
wieder nicht zum Frieden kommen könnte.
Das ist eine ungerechtfertigte Furcht; denn
wie wir sehen, tut unsere Regierung alle
Schritte, um energisch jedes Hindernis zum
Frieden zu entfernen. Es empfiehlt sich aber,
wenn es zur Bilanz kommt, möglichst seine
Aktivposten zu retten. Weiter hat der Kriegs¬
minister nichts getan.
Innere Bilanz. Werden wir fähig
sein, den moralischen Zusammenbruch der
Heimat zu verhüten? Es gibt Leute, die
sich scheuen, ihr überflüssiges Kapital in Kriegs¬
anleihe anzulegen. Sie spähen nach einer
anderen sicheren Gelegenheit, ihr Geld unter¬
zubringen, kaufen Jndustrieobligationen, holen
ihr Geld von der Bank ab, und bedenken
nicht, daß, wenn der Staat untergeht, das
alles nachher mit dem Staate den Weg zum
Untergange finden wird. Ich habe einen
guten alten Herrn gesehen, Leser der „Täg¬
lichen Rundschau", der so vorgeht und von
der levöe en masse spricht. Er selbst will
nicht einmal einen Pfennig opfern und er¬
wartet von „der Masse — der anderen", daß
sie ihr Leben opfert. Solche Gesinnung sollte
jetzt mit allen Mitteln bekämpft werden.
Warum spricht der Reichsschatzsekretär im
Reichstage nicht menschlich und eindringlich
über alles dies zum deutschen Volke?
Auch dieser innere Bilanzposten könnte
gesichert werden. Die kurzen stereotypen
und nicht gerade von Gedankenreichtum
zeugenden Presseäußerungen der einzelnen
Staatssekretäre in den Zeitungen sind nur
für den Autographensammler interessant.
Der Gedanke des Rechtes. Ein
anderer Aktivposten sür uns ist der Gedanke
des Rechtes, an den wir uns hallen müssen
mit der zähesten Energie. Ledebour und
Roste haben im Reichstage bei der Zurück¬
weisung^ der Polnischen Ansprüche gute Bei¬
spiele gegeben. Wir haben uns an Herrn
Wilson gewandt, weil wir glaubten, daß er
ein Repräsentant solcher Rechtsideen ist. Wir
haben den Völkerbund auf unsere Fahne ge¬
schrieben, weil er nur durchzuführen ist, wenn
uns selbst nicht das Recht zum Leben ge¬
nommen wird.
Gegenüber'seiner letzten Note, die unsere
Kapitulation, beinahe unser Harakiri ver¬
langt oder zu verlangen scheint, haben wir
die Befürchtung, daß wir es vielleicht nur
mit schönen Phrasen zu tun haben, daß
wir — wenn wir uns selbst wehrlos ge¬
macht haben, den Raubtierinstinkten unserer
Feinde ausgeliefert sein werden. Hier ist
die Frage entscheidend, wie stark Wilson ist.
Die Ideenwelt des Sozialismus.
Ich sehe dann nur noch einen Aktivposten
sür uns in der Welt — die Ideenwelt des
internationalen Sozialismus. Grey hat in
seiner letzten großen Rede in der Central
Hall in London gesagt: „Ich glaube, daß
die Arbeiterschaft (l^hour) unzweifelhaft
einen größeren und ausschlaggebenderen An¬
teil an den Regierungen nehmen wird, als
es früher der Fall war." Grey hält diesen
Anteil gerade wegen der Rückwirkung der
Ideen des Sozialismus auf die inter¬
nationalen Gestaltungen für gut. Eine solche
Rückwirkung kann in der Tat nur gut sein.
Von Frankreich wird uns die Nachricht
über ein Verlangen der Sozialisten nach
einer Zusammenberufung der Inter¬
nationale übermittelt, in England sind
Aussprüche charakteristisch, wie der von
Henderson, daß die irische Frage eine inter¬
nationale Frage sein sollte. Das Wort von
Barres, „Die Vernichtung des deutschen
Volkes, wenn sie möglich wäre, was nicht
der Fall ist, war weder jemals noch ist
sie jetzt ein Kriegiziel der Alliierten", ist
sicher von ihm ehrlich gemeint. Er stellt
uns Friedensbedingungen in Aussicht, „weit
verschieden und weit besser als die, welche
wir Rumänien und Rußland auferlegt haben".
In der „Humanitö" schrieb neulich Marcel
Cachin: „Wenn gewisse bis jetzt verkleidete
Imperialisten den Verteidigungskrieg in einen
Eroberungskrieg umzuwandeln versuchen, so
ist es die Aufgabe der Arbeiter und sozialisti¬
schen Organisationen dieses Landes, auf die
Gefahr aufmerksam zu machen, die daraus
sür Frankreich selbst unfehlbar folgen würde."
Und dann heißt es weiter: „Könige und Kaiser
werden nicht allein fallen. Die Proletarier
aller Länder, vom Kriege befreit, werden
überall ihr Joch abzuschütteln wissen." Aller-
dings ist die Haltung der französischen So«
zialistenpartei bis jetzt schwächlich gewesen.
Es ist sicher, daß wir die Weltrevolution
erleben werden, wenn es jetzt nicht schnell
zum Frieden kommt und wenn unsere Feinde
ihre Bedingungen überspannen, sei es, daß
sie bei uns den Kampf bis aufs Messer her¬
vorrufen oder uns Friedensbedingungen bieten,
die wir nur durch eine Revolution abschütteln
können. ,
Die Bolschewisten in Rußland hoffen daß
G. T.
Welch mensch¬
liches Hirn möchte sich vermessen, das Urteil
zu sprechen in einem Prozeß, dessen Akten
nach hundert Jahren vielleicht geschlossen er»
scheinen, bei dem aber schon jetzt die Tat¬
fragen so komplizierter Natur sind, daß ein
Mann mit Verantwortungsgefühl, wenn er
von den Dingen redet, im selben Atem hinzu¬
setzen muß: „So, das war ein Faden, den
ich aus dem verwickelten Gewebe zu ge¬
nauerer Betrachtung löste". Trotzdem gibt es
viele Leute, die mit großer Selbstsicherheit ihr
Sprüchlein fällen einfach nach dem Schema
Subjekt—Prädikat—Objekt; auch, was man
nicht für möglich halten sollte, zugunsten des
Feindes.
Die Zeitungen berichteten vor kurzem von
einem Manne, der sich selber aller möglichen
Verfehlungen gegen das Strafgesetz beschul¬
digte. Ähnlich handelt eine gewisse Presse,
die sich hinter dem Rücken der kämpfenden
Front nicht genug «tun kann in leidenschaft¬
lichen Anklagen unserer vergangenen Politik.
Nur darin unterscheidet sie sich von jenem
armen Psychopathen, daß sie die eigene Weiße
Weste sorgsam hütet und ihre Bannflüche allein
den ehemaligen Machthabern gelten, die man
als gefallene Größen nicht nur mit Esels¬
tritten bedenkt, sondern auch als bequeme
Sündenböcke gebraucht. Es besteht eine förm¬
liche Relation zwischen dem Fortgang der
äußeren und inneren Krise auf der einen und
den immer nervöseren Staatsanwaltsallüren
jener Presse auf der anderen Seite. Zuerst
arbeitete man nur mit versteckten Andeutungen
und geheimnisvoll - vagen Allgemeinheiten,
doch von Tag zu Tag wurde die Sprache
klarer, und jetzt ist es beinahe soweit, daß
unsere Feinde ein förmliches System der
deutschen Schuld am und im Weltkriege aus
deutschen Zeugnissen bereit gelegt erhalten.
Einige Beweise.
An der Spitze des modernen Erinnyenchores
steht das „Berliner Tageblatt", dessen Chef¬
redakteur Theodor Wolff aus seiner Pariser Ver¬
gangenheit Boulevardmethoden auf deutsche
Verhältnisse überträgt. Er schreibt am 10. Ok¬
tober Mr. S18) von der neuen Regierung, sie
habe ihr schweres Werk nur übernommen,
um „das deutsche Volk aus dem Sumpf
heraufzuführen, in den man eS hiveinregiert
und hineingeschwatzt hat". Und am 21.
(Ur. S38) mit aus den: weiteren Zusammen¬
hang erkennbarer Ironie: „Im Juli 1914
zwangen die militärischen Notwendigkeiten zur
Kriegserklärung, nachdem aus politische» Not¬
wendigkeiten das Ultimatum Osterreich - Un¬
garns gebilligt und aus Ehrcngründen der
Konferenzvorschlag Greys abgelehnt worden
war. Die Zivilregierung unterwarf sich den
.militärischen Notwendigkeiten', als sie dem
Einmarsch in Belgien zustimmte und das
Wort des Deutschen Reiches entwerten ließ".
Die unvergeßlichen Julitage 1914 aber stehen
Herrn Wolff folgendermaßen in der Erin¬
nerung: Gewisse „Gestalten", deren „Toben"
später immer wieder den „Frieden verhinderte",
seien in jenem „Wahnsinnsjuli sofort nach dem
Wiener Ultimatum johlend durch die Straßen
gezogen, uni ein friedliebendes Volk in Kriegs¬
stimmung zu versetzen". Eine tendenziöse
Entstellung des Sachverhalts, wie sie sich in
ähnlicher Weise der „Vorwärts" schon am
28. Juli 1918 geleistet hat. Die „Krank-
furter Zeitung" Mr. »83 vom 17. Oktober,
Abendblatt) sagt von dem „alten System":
„Es ist zusammengebrochen in der ungeheuren
Schuld, die es auf sich geladen hatte, vor
dem Kriege und im Kriege, zusammen¬
gebrochen in seinem eigenen tatsächlichen
Bankerott". Diese Zeugnisse lassen sich
auch aus anderen Kreisen vermehren. So
hält es Professor Wilhelm Kaufmann von
der Berliner Universität für richtig, als
Protest gegen die Patriotische Erklärung
seiner Kollegen vom 20. Oktober auch fol¬
gende Worte in die Welt zu senden: „Ganz
anders... verhält es sich, wenn die Gegner
mit ihrer Behauptung recht haben, die Schuld
an diesem schrecklichen Kriege und die, Schuld
in diesem Kriege liege furchtbar überwiegend
auf deutscher Seite. Dann müssen die Schul¬
digen und Mitschuldigen unverzüglich aus un¬
serem öffentlichen Leben völlig ausscheiden
und unsere Negierung muß nicht bloß durch
Erklärungen, sondern auch durch Tathand¬
lungen unseren Gegnern Sicherheiten bieten
und sich bereit finden, die gerechten Fol¬
gerungen aus der Schuldverantwortlichkeit
zu ziehen und ziehen zu lassen" („Vorwärts"
Vom 22. Oktober). Man sieht, Lichnvwski
macht Schule I
Wie lange wird es noch dauern, bis die
Legende vom armen verführten deutschen
Volle fertig ist, das der Wahnwitz und Ehr¬
geiz seiner Gewalthaber in den Abgrund des
Krieges stürzte. Mit welchem diabolischen
Grinsen mögen die Todfeinde dieses Volkes
an Seine und Themse zur Kentnis nehmen,
wie deutsche Zeitungen — und es sind die
dem Auslande bekanntesten — ihnen die
Arbeit der Geschichtsfälschung zu Ehren der
ententistischen Weltlüge erleichtern!
Wir zweifeln nicht an dem guten Glauben
der erwähnten Presse, aber um so verwerf¬
licher ist es, wenn sie anderen diesen guten
Glauben abstreitet und von vergangenen Er¬
eignissen in Wendungen redet, die gröbste
Mißdeutung geradezu herausfordern. Wie
weit soll denn die Umwertung aller Werte
ex eventu noch gehen? Soll vielleicht die
ganze preußisch-deutsche Geschichte mit ent¬
gegengesetzten Vorzeichen versehen werden,
weil der Bilanzstrich von heute nicht mit den
gewohnten Aktiven abschließt? Was Recht
ist, soll Recht bleiben und wenn die Irr¬
lichter des Erfolges die Sinne noch so be¬
tören möchten. Mag uns das Unglück tiefer
beugen, wir haben es nicht nötig den Glauben
abzuschwören; das, waS hell und rein in
unserer Erinnerung steht, durch Verdächtigung
zu trüben. ES ist zwar nicht mehr modern,
„rationalistisch" zu denken, wir wissen es:
die sogenannte quantitative Weltanschauung
mit ihrer Verwerfung der Artunterschied«
steht wieder in Blüte, trotzdem und dennoch:
wer heute die deutsche Kriegsstimmung von
1914 auch nur durch Ähnlichkeit des Aus-
drucks in Beziehung bringt zu den frivolen
Auftritten der Piazza, wer unsere durch und
durch integre „Obrigkeits"-regierung von ehe¬
mals in die Gesellschaft rumänischer Hoch¬
stapler und Intriganten rückt, der versündigt
sich an unserem Volk und an der geschicht¬
lichen Wahrheit. Was in der Sonne des
Glückes leuchtete, behält — nur hysterische
Augen leugnen es — auch im Dunkel der
Trübsal seine Farben. Furchtlos, wie unsere
Truppen die Untersuchungen der neutralen
Kommission über angebliche „Verwüstungen"
im besetzten Gebiet abwarten konnten, sehen
wir dem Richtersprüche der Geschichte ent¬
gegen. Sie wird einst unparteiisch das Soll
und Haben der Völker «bwägen und nach
dem allein richtigen Grundsatz: a potiori
lit äeriomjnÄtio ihr Urteil zugunsten der
Die
deutsche Reichs-Strafprozeßordnung kennt
drei Formen der ordentlichen Strafgerichte,
vor welche die Sachen, abgestuft nach ihrer
Schwere, gebracht werden. , Das niedrigste
Gericht, welches die in der Regel am leich¬
testen zu beurteilenden und durchschnittlich mit
den mildesten Strafen bedrohten Delikte be¬
handelt, ist das Schöffengericht, es folgen die
Strafkammer und daS Schwurgericht.
Nun ist ohne weiteres zuzugeben, > daß
Beleidigungen in der Regel zu den Bagatell¬
sachen gehören und daß man deshalb mit
Recht kein Gericht höherer Ordnung für ihre
Entscheidung bemüht. Aber für Fälle wie
den Fall Harden—GrafMoltke, Herr von Kühl¬
mann gegen „Deutsche Zeitung" und jetzt
„Frankfurter Zeitung"—Chamberlain u. a. in.
wird diese Regelung der Gerichtsbarkeit doch
als eine Unzulänglichkeit empfunden. Dieser
Eindruck verstärkt sich noch, wenn der Zufall
will, daß Vorsitzender des mit einer hochpoli¬
tischen Beleidigungsklage befaßten Schöffen¬
gerichtes ein ganz junger Amtsrichter (Fall
Harden) oder ein Assessor ist (Fall der „Frank¬
furter Zeitung"). Es liegt mir fern, die
Fähigkeiten dieser Herren anzweifeln zu
wollen, es gibt junge Juristen, die den ältesten
und gewiegtesten Landgerichtsdirektoren eben¬
bürtig sind, aber für den Regelfall bekommt
der Richter erst durch jahrelange Praxis die
Übung und Sicherheit, die ihn befähigen,
einen großen und schwierigen Prozeß zu leiten.
Im Falle Harden ist ja auch bekanntlich
seinerzeit die Führung des Prozesses dem
Vorsitzenden allmählich entglitten und auf die
Parteivertreter übergegangen. Ich weiß nicht,
welches Berufes und welches Bildungs¬
niveaus die beiden Schöffen waren, die im
Prozeß der „Frankfurter Zeitung" als Richter
mitgewirkt haben, es können ganz hervor-
ragende Männer gewesen sein, aber der Zu¬
fall kann ebensogut an diesen: Tage gerade
Gevatter Schneider und Handschuhmacher auf
die Nichterban? berufen haben. >
Es ist natürlich ausgeschlossen, in die
Geschäftsverteilung, welche die Zuständigkeit
der einzelnen Richter für die einzelnen Sachen
(nieist nach Anfangsbuchstaben des Beklagten)
im voraus für das ganze Jahr regelt, ein¬
zugreifen und etwa für einen besonders
wichtigen und schwierigen Prozeß einen
alten und erfahrenen Richter und beson¬
ders qualifizierte Schöffen zu bestimmen.
Damit würde einer der wichtigsten Grund¬
sätze unseres Re.chtslebens: „Niemand soll
seinem ordentlichen Richter entzogen werden",
umgestoßen werden; damit würde Unsicher¬
heit in die Unbefangenheit unserer Rechts¬
pflege getragen werden und damit wäre poli¬
tischen Leidenschaften und Machenschaften Tor
und Tür geöffnet. Wer eine Besetzung des
Gerichts, welche größere Garantien in An¬
sehung der Prozeßleitung und des Paulischen
Verständnisse» der Beisitzer bietet, wäre doch
für Beleidigungsfuchen so schwerwiegender
Natur, wie es die vorgenannten sind, wün¬
schenswert. Diese Garantien böte die Straf¬
kammer. Allein nach unserer Strafproze߬
ordnung kann die Privatklage in erster In¬
stanz nur vor dem Schöffengericht erhoben
werden. (Vielleicht zieht die demnächst zu
erwartende Reform unserer Strafprozeßord¬
nung aus den Politischen Beleidigungsprozefsen
die Lehre, die Möglichkeit einer Erhebung der
Privatklage auch vor ier Strafkammer zu
geben). Für das geltende Recht aber wäre
eine .Abhilfe nur in der Weise möglich, daß
die Staatsanwaltschaft bei Beleidigungen der
geschilderten Art daS öffentliche Interesse
bejahte und von Amts wegen Anklage gegen
den Beleidiger erhöbe; denn alsdann hat sie
die Wahl, ob sie die Sache vor das Schöffen¬
gericht oder die Strafkammer bringen will.
Von diesem Auswege macht die Staatsan¬
waltschaft meines Erachtens zu selten Ge¬
brauch, sie ist in politischen Prozessen leider
nur zu oft geneigt, das öffentliche Interesse
zu verneinen. So kommen i»ann Prozesse
von politisch großer Tragweite vor daS Straf¬
gericht niederster Ordnung, bei dessen Be-
setzung,eS in viel höherem Maße als bei einem
Gerichte höherer Ordnung dem Zufall über¬
lassen ist, ob die geeigneten Richterkräfte sich
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt wcrdrn kann.
er Punkt dreizehn der berühmten Wilsonschm Artikel hat die Polen
dazu verleitet, ihr Kriegsziel rückhaltlos zu offenbaren. Sie nehmen,
alles von Polen bewohnte Land als „unzweifelhaft polnisches Land"
in Anspruch, soweit es zu Deutschland gehört, während sie auf den
Besitz ehemals russischen Gebietes außerhalb Kongreß-Polens zunächst
verzichten. Die neueste Karte, die auf dem Friedenskongreß als Grundlage für die
Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen dienen soll, zeigt uns, daß Deutsch-
Icnrb auf ganz Oberschlesien ohne Reiße, Mittelschlesien östlich der Oder, auf ganz
Posen ohne Meseritz und Bromberg, auf Thorn,'das Kulmer Land, Westpreußen
links der Weichsel, mit Einschluß der Kassubei, und die Kreise Neustadt und Putzig
verzichten soll; ferner sollen Danzig und seine Niederung sowie das südliche
Drittel von Ostpreußen (Masuren) zu dem neuen Polenstaats geschlagen werden.
Es läßt sich denken, daß diese Forderungen in der Ostmark um so größere
Beunruhigung hervorrufen müssen, als die Reichsregierung sich durch ihre Noten
an Herrn Wilson vollständig dem Machtspruch des Präsidenten der Vereinigten
Staaten unterworfen zu haben scheint und heute niemand beurteilen kann, welche
Entscheidung dieser Mann, der die Verhältnisse in der Ostmark wohl ausschließlich
aus Berichten polnischer Emissäre kennt, treffen wird. Die Beunruhigung äußert
sich bei den einen in völliger Kopflosigkeit oder Apathie, bei den anderen in
stürmischem Protest und Aufbegehren gegen mögliche Vergewaltigung. Die Polen
nützen die Stimmung kühl rechtiend aus. Sie sprengen Gerüchte aus, wonach
die Abtrennung preußischer Landesteile vollzogene Tatsache ist, drohen deutschen
Bauern und Gutsbesitzern mit Bolschewismus und Enteignung, lassen die Beamten
hören, daß ihre Stellen schon durch diese und jene Person polnischer Herkunft
besetzt sei, mit einem Wort, schaffen Unsicherheit und eine Panikstimmung, um
dann um so besser im Trüben fischen zu können. Treten dann noch Vorkommnisse
wie gegenwärtig infolge der scheußlichen Geldhamsterei Knappheit an flüssigen Bar¬
mitteln in den Städten hinzu, so verlieren die Deutschen der Ostmark das Ver¬
trauen in die Regierung, das Land halten zu wollen, und die Gefahr droht, daß
plötzlich der Ruf: rette sich wer kann! das Land in Anarchie und Trostlosigkeit wirft.
Zu unserem Unglück hatte sich die Bureaukratie der Lage nicht als gewachsen
gezeigt, als das Unheil diesen Sommer heraufzog und in Berlin mußte zur Rettung
des deutschen Volkes der bisherige „Obrigkeitsstaat" in einen,, Volks Staat" umgewandelt
werden. Die Deutschen der Ostmark, die sich bisher mit allen ihren Nöten mit einiger
Aussicht auf Erfolg an die Organe des Staates wenden konnten, erkennen, daß diese
Organe für politische Fragen keinen Sinn mehr haben dürfen: „Vom Oktober 1918 ,
an regiert das deutsche Volk sich selber,", schreibt der Staatssekretär Erzbergcr
als Vorsitzender der Zentrale für Heimatsdienst. Der Osten Deutschlands, der
infolge seiner historischen Entwicklung in stärkerer Abhängigkeit von der Bureau¬
kratie stand als der Westen, sieht sich im Augenblick einer Stütze beraubt, ohne
daß die neue Negierung in der Lage gewesen wäre, ihm eine neue für seine
politischen Nöte sofort zu geben. Die dadurch entstehende Unsicherheit wird noch ver¬
mehrt durch die Haltung der Berliner Zentrale der Freisinnigen Volkspartei, die
als Teil der Mehrheilsregierung an einzelne Stellen der Provinz Posen auf
deren Anfrage den Bescheid gegeben hat, die Angehörigen der Partei mögen sich
ja recht zurückhalten und der Regierung keine Schwierigkeiten bereiten, während
in den Regierungsblättern auf die nationalen Organisationen gewettert und ge¬
schimpft wird.
Wenn das deutsche Volk.sich selbst regieren soll, so darf doch eine Regierungs¬
partei keine Parolen ausgeben, die die Möglichkeit sich selbst zu regieren für weile
Landesteile unterbindet. Und eine Unterbindung der Selbstregierung bedeutet es,
wenn die Einigung des Deutschtums, die an sich schon schwer zu erzielen ist, aus
engherzigen Parteigesichtspunkten heraus behindert wird. Denn den Gesichts¬
punkt: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!" wollen doch die neuen Negiemngs-
männer sicher nicht gelten lassen, nachdem sie ähnliche Parolen mit Recht durch »
Jahrzehnte verspottet und zurückgewiesen haben. Wer Politik treiben will, muß
kämpfen, politisch kämpfen heißt Massen sammeln und zusammenschließen und
sie sür den taktisch rechten Augenblick bereitstellen. Die Massen müssen Losungen
haben, positive Losungen, die sie hinreißen, nicht matte Worte der Verteidigung
und Entschuldigung. Die große Losung in der deutscheu Ostmark ist und muß sein
Zusammenschluß des Deutschtums! Gerade weil unsere ganze auswärtige
und innere Politik zusammengebrochen ist, gerade weil unerhörte Fehler und
Mißgriffe wieder gut gemacht werden müssen, gerade weilt die deutsche Bureau¬
kratie aus der Politik ausgeschaltet werden soll und Deutschland ein Volksstaat
geworden ist. muß das Deutschtum sich in der Ostmark zusammenschließen. Nicht
zur Fortsetzung irgendeines polenfeindliches Kurses, sondern um seiner selbst willen,
um seiner Selbsterhaltung willen.
Die Polen hoffen mit Hilfe der Ententemächte eiyen unabhängigen Staat
schaffen zu können. Sie haben sich der Schaffung eines Staates mit Hilfe der
Mittemächte mit allen Mitteln widersetzt. Nicht weil sie keinen eigenen Staat haben
wollten, sondern weil ein unter deutscher Putenschaft entstandener Staat
dem deutschen Weltmachtgedanken gedient hätte, seine Grenzen zu weit nach
Osten hätte verschieben müssen und das junge Polen in Gegensatz zum Russen-
tmn gebracht hätte. Diesen Gegensatz scheuten die Polen, weil sie'dann nach
ihrer Meinung dem deutschen Mitteleuropa auf Gnade und Ungnade aus¬
geliefert worden wären. — Außerdem würde dieser nach Osten vorgeschobene
Polenstaat recht arm an Kulturelementen geblieben sein, und es wäre fraglich,
ob er in seiner politischen Schwäche überhaupt hätte zu dem werden können, was
die Polen sich erträumen. — Anders mit einem in westliches Kulturgebiet hinein¬
gelegten Staate, der keinerlei politische Feindschaft von Osten zu fürchten hätte
und außerdem sich noch der Sympathie Frankreichs und des Schutzes der Ver¬
einigten Staaten von Amerika oder gar eines deutschfeindlichen Völkerbundes zu
erfreuen hätte. Ein solcher Polenstaat könnte schon die Feindschaft der Deutschen
auf sich nehmen, derselben Deutschen, die er braucht, um überhaupt zu einem
Kulturstaate zu werden. Man unterschätze die Tatsache nicht: die Polen fordern
die preußischen Gebiete nicht in erster Linie, um historische Ungerechtigkeiten aus¬
zugleichen, sondern um an die Ostsee längs der Weichsel zu gelangen und um das
deutsche, Element dieser Gebiete für die Errichtung eines soliden Unterbaues ihres
Staates zu gewinnen. Man denke sich die deutschen Kulturein fis sse allein des letzten
halben Jahrhunderts aus Polen fort, so wären die Polen ein politisches NichtsI Die
vielgerühmte westeuropäisch-polnische Kultur ist seit tausend Jahren deutsch, urdeutsch!
'
Nun würde der neue polnische Staat in den eingangs gekennzeichneten
Grenzen etwa 20 Millionen Einwohner umfassen. Von, diesen wären rund
3L, Millionen Deutsche, 2,2 Millionen Juden und etwa eine Million Kassuben,
Masuren und Oberschlesier. Deutsche und Juden würden mit 5,8 Millionen ein
starkes Viertel der neuen Wählerschaft ausmachen, die Deutschen allein ein Fünftel.
Der neue polnische Staat wird sich, und mag er noch so demokratisch begründet
werden, vor allen Dingen auf die ruhigen und besitzenden Elemente stützen müssen,
um überhaupt bestehen zu können und eben deshalb wird er dem Deutschtum
entgegenkommen müssen und es mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen trachten,
wenn dies Deutschtum tatsächlich die politische Macht darstellt, die es seiner
Z>.:si nach darstellen kann. Sollte also wirklich der Fall eintreten, daß
deutsche Ostmark an Polen abgetreten wird, so wird jeder einzelne Deutsche
kein persönliches Interesse nicht dadurch am besten wahren, daß er sich vorsichtig
zurückhält und sich den Polen als Pole gibt, sondern dadurch, daß er sich mit
seinen Stammesgenossen zusammenschließt zu wirtschaftlichen, kulturellen und
politischen Vereinen und Verbänden, daß er sich tüchtige, vertrauenswürdige
Wortführer heranbildet und seine stärksten und besonnensten Volksgenossen in das
polnische Parlament entsendet.
Dadurch, daß die Polen ein Programm aufstellen, ist indessen noch nicht
gesagt, dies Programm werde auch verwirklicht werden. Die Polen fordern
Gebiete, die nicht „unzweifelhaft" polnisches Land sind, und so werden sie wohl
darum erst kämpfen müssen. Und sie tun es schon. Ihre Ansprüche bedeuten
eine Herausforderung an das Deutschtum, die von uns aufgenommen werden
nutz, wollen wir nicht auf ererbte und durch eigene Arbeit erworbene Rechte
kampflos verzichten. Es gilt Herrn Wilson und aller Welt am Konferenz,
tisch des Friedens klar zu machen, daß es sich um deutsches und nicht um
polnisches Land handelt. Bisher stand und steht die Welt unter dem Ein¬
druck der polnischen Klagen über Vergewaltigung durch die preußische Regierung.
' Die alte Regierung hat, wie genugsam bekannt ist, vor dem Kriege nur wenig
getan, um den polnischen und anderen Lügen über deutsche Verhältnisse in der
ganzen Welt mit Nachdruck und Erfolg entgegenzutreten. Die neue Regierung
kann es nur, wenn ihr aus der Provinz selbst das Material dazu von dem sich
selbst regierenden Volke zugetragen wird. Wenn einzelne Vereine oller Par¬
teien, womöglich nur solche, die bereits durch die Polen im Auslande diskreditiert
sind, mit ihrem noch so guten Material kommen, so hat das keine Wirkung,
macht auf Wilson und die anderen Konferenzmitglieder keinen Eindruck. Das
gesamte Deutschtum in Stadt und Land der Ostmark muß dartun, dasz es lebt,
daß es sein Recht neben >den Polen beansprucht. Eindruck machen in unserer
Zeit keine sorgfältigen, korrekten Denkschriften, — Eindruck macht nur ein ge¬
waltiger Massenschrei gequälter, vergewaltigter Menschen. Und dazu gehört
Sammlung, Vereinigung, Zusammenfassung aller deutschen Kräfte. Noch ist es
nicht zu spät, Herrn Wilson zu beweisen daß hier in der Ostmark ebensoviele
Deutsche wie Polen leben, und daß er, der der Gerechtigkeit zu dienen wähnt,
mißbraucht werden soll, um Unrecht an den Deutschen zu tun.
Durch Zusamenschluß und ernste politische Arbeit werden wir zum mindesten
erreichen, daß nicht von einem internationalen Volkstribunal einfach dekretiert
wird, ob Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Schlesien deutsch oder polnisch wird,
daß vielmehr zum mindesten eine Volksabstimmung darüber entscheidet, was aus
den Bewohnern der Provinz werden soll. Die Zeiten der Verschacherung von Mil¬
lionen Menschen sollten doch vorüber sein. In einer solchen Abstimmung wird sich
zeigen, welche Anziehungskraft das neue Polen hat. Für die mögliche Abstim¬
mung muß daS Deutschtum geeint sein in allen seinen Teilen. Dann wird es
auch eine starke Anziehungskraft auf die Kreise ausüben, die, mögen es Juden
oder Polen sein, schwankend, aber im Innern doch näher bei Deutschland stehen.
Deutschland hat seinen Bürgern soviel gegeben an wirtschaftlicher und sozialer Kultur,
wie es ein Polenstaat in Jahrzehnten nicht wird geben können. Also, da das
deutsche Volk in dem neuen demokratischen Deutschland selbst entscheiden muß, was
es sein will, muß es sich zusammenschließen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Zaghafte Gemüter erklären ihre Zurückhaltung mit dem Hinweis auf die
Demokratisierung des preußischen Staatswesens, in deren Folge die Polen Sallon
sehr bald alle Macht in den Stadtverwaltungen ausüben und sich an denen rächen
würden, die ihnen Widerstand leisten. Solche Zaghaften mögen auf die Deutschen
in Österreich blicken. Überall waren sie in die Minderheit gedrängt, wo sie unter sich
uneins waren. In dem Augenblick, wo sie, geführt von der deutsch-österreichischen
Sozialdemokratie, sich wie ein Mann zusammenschlossen, sind sie ein gewaltiger FcMor
nicht nur der mitteleuropäischen, sondern nach demZerfalldes altenHabsburgerStantes
auch der Wcltpolitik geworden. Die Einigkeit hat das Deutschtum gerettet und Emig-
rnt muß auch die Deutschen der Ostmark vor der Polonisierung bewahren.
Das einige Deutschtum der Ostmark ist nicht verloren, weil es in jedem
Falle eil? politischer Faktor bleibt,, welche politische Kombination auel) eintreten
mag. Das einige Ostmarkendeutschtum wird auch immer die starke Bundes¬
genossenschaft der siebzig Millionen Deutschen finden, die Mitteleuropa beherrschen,
während ein zersplittertes Deutschtum weder die Achtung seiner Gegner noch das
Mitgefühl seiner Volksgenossen beanspruchen kann. Dat Deutschtum hat in dem
großen Völkerringen eine Schlacht verloren. Mehr nicht! Nach der Schlacht
sammeln treue Truppen sich um ihre Fahne, um aus der Versammlung heraus
den Besitzstand zu halten und Verlorenes wiederzugewinnen.
le innerpolitische Umwälzung vom 30. September dieses Jahres
ist — mögen auch konservative Blätter von verfassungswidrigen
Ministerernennungen reden — ohne Zweifel in völlig legalen
Formen vollzogen worden. Aber der' Sache nach hat sie dennoch
die Bedeutung einer Revolution. Das demokratische Deutschland,
das mit der Reichstagsmehrheit nunmehr gesiegt hat, ist ein
andres, als das der konservativen, bundesstaatlichen und speziell preußischen
Gewalten, das bisher, bestand. Die Bismarcksche Reichsverfassung kann den
Bedürfnissen der neuen Zeit nicht mehr genügen und wird in wesentlichen Teilen
fallen. Ich vermag es nicht, darüber in Kassandrarufe auszubrechen. Bismarcks
ungeheure, über seinen Tod fortwirkende Autorität war für die lebendigen neuen.
Kräfte oft auch eine Last, die sie auch dann noch niederhielt, wenn es längst
angebracht gewesen wär?, dein Druck des Neuen bei?eit->n Ventil? zu öffnen.
Ich möchte in diesem Zusammenhange nur auf die Nachwirkungen der
Stellungnahme Bismarcks zur Sozialdemokratie hinweisen. Seitdem die Fühlung¬
nahme mit Lassalle in der preußischen Konfliktszeit ohne praktische politische
Ergebnisse geblieben war, nahm Bismarck gegen die Sozialdemokratie eine
schlechthin feindselige Haltung ein. Auf keinem Gebiete ist er.auch als Staats¬
mann so in den Anschauungen des konservativen preußischen Junkers geblieben,
der er von Haus aus war, wie in der Politik gegen die größte der deutschen
Arbeiterbewegungen. Er achtete die Sozialdemoiraten als Feinde der Monarchie,
des Staates und der Gesellschaft; sein Sozialistengesetz stellte fast jede Betätigung
sozialdemokratischer Gesinnung unter Strafe. Daß er gleichzeitig den Grund zu
der großen sozialen Gesetzgebung des Reiches legte, ist daneben sein unbestrittenes
Verdienst. Schließlich war es ja unter andern» gerade die Frage der Verlängerung
des Sozialiftengesetzes, die ihn in Gegensatz zu den Auffassungen Kaiser Wilhelms
des Zweiten brachte, so daß er seine Entlassung nehmen mußte. Es gehört mit
zu den Verdiensten des neuen .Kurses, daß er wenigstens die juristische Ausnahme¬
stellung der Sozialdemokratie ausgehoben hat. Die sachliche blieb, mindestens in
Preußen und Sachsen und in-anderen norddeutschen Staaten, bis zum Weltkrieg
durchaus erhalten. Nur in Süddeutschland verstand man' es, sie allmählich zu
mildern. Der Staat duldete nach wie vor keine sozialdemokratischen Beamten;
die gute Gesellschaft und ganz besonders der höhere Mittelstand ließ keine Sozial¬
demokraten bei sich ein. Der deutsche Begriff von nationaler Politik und natio¬
naler Gesinnung schloß sozialdemokratische Parteizugehörigkeit im allgemeinen
völlig aus. Die bürgerlichen und politischen Qualitäten eines Sozialdemokraten
wurden gar nicht erst weiter in Betracht gezogen. Manches schnell gefällte
Verwerfungsurteil über Philipp Scheidemanns politische Bestrebungen habe ich
auch in diesem Kriege noch gehört, das weniger sachlich begründet, als von der
Erwägung diktiert war, daß Scheidemann eben Sozialdemokrat war. Und was
kann von der Sozialdemokratie Gutes kommen! Noch die.Umwälzung vom
30. September ist bei patriotischen Leuten auf Ablehnung gestoßen, weil ihre
Auffassung von nationaler Gesinnung die Tatsache nicht zu verarbeiten vermochte,
daß nun die Sozialdemokratie starken Anteil an der Reichsgewalt bekam. Nach
unsrer innerpolitischen Vergangenheit ist das verständlich, muß aber nun doch
anders werden. Denn die Stellungnahme nicht nur der meisten Staatsorgane,
fondern auch wichtiger Volksschichten zur Sozialdemokratie hat viel zu dem Rufe
.der Rückständigkeit beigetragen, der unsere politischen Einrichtungen weit über
Gebühr in der Welt anheimgefallen sind.
Für die Parteipolrtik war die wichtigste Folge dieser im größten Teil-
Deutschlands fortbestehenden Ausnahmestellung der Sozialdemokratie eine
gewaltige Erschwerung der Bündnisfähigkeit dieser Partei für die sonstigen
politischen Gruppen des Reiches. Jeder .bürgerlichen Partei, die sich mit der
Sozialdemokratie verband, ist dies als Sünde angerechnet worden. Lange Zeit
hat es niemand gewagt, mit den „Roten" ein offenes Wahlbündnis einzugehen,
und erst in den letzten zehn Jahren >etwci vor dem Kriege ist der Bann allmählich
gebrochen »morden. Neben der bürgerlichen Linken war es insbesondere das
Zentrum, das vermöge seines Sinnes für praktische Politik die Scheuklappen
abzulegen begann. Bei den Bülowblockwahlen von 1907 kam es schon vielfach zu
taktischen Vereinbarungen des Zentrums mit der Sozialdemokratie. Zur grund¬
sätzlichen Anerkennung ihrer parteipolitischer Bündnisfähigkeit entschloß sich aber
doch zuerst die bürgerliche Linke. Aus der Bismarckschen Ära kam der alte
Freisinn völlig zersplittert und ziemlich ideenlos heraus. Er gewann neue innere
Kräfte durch den Anschluß des größten Teiles der an bedeutenden Persönlichkeiten
reichen nationalsozialen Bewegung, nachdem deren Versuch einer eignen Partei¬
bildung mißglückt war. In "diesen sozial lebhast angeregten Kreisen war das
Verständnis auch für die politische Arbeiterbewegung größer als anderwärts im
deutschen Bürgertum. Hier fand deswegen auch schon früh der Gedanke Boden,
daß man die Sozialdemokratie zur politischen Mitarbeit und Verantwortung
heranziehen müßte, statt sie grundsätzlich von allem Einfluß möglichst aus¬
zuschließen und ihre Gesinnungen womöglich, einfach nicht gelten zu lassen. Es ist
inzwischen längst anerkannt worden und darf daher ohne besonderen Nachweis
ausgesprochen werden, daß die Sozialdemokratie bei all ihrer jahrzehntelangen
unfruchtbaren Negation, für die sie und ihre Gegner Wohl fast zu gleichen Teilen
die Schuld tragen mögen, doch Gewaltiges für die politische Erziehung sehr breiter
Volksschichten geleistet hat. Große politische Kräfte wurden hier mobil gemacht,
lagen aber für den Staat brach, weil er es nicht verstand, sie zu benutzen, sondern
sie allzu lauge lediglich bekämpfte. Ein großes Glück für die deutsche Entwicklung
ist es gewesen, daß sich die Sozialdemokratie im Kampfe um die politische Macht
Überhaupt für die parlamentarische Taktik entschied und nicht die wirklich staats-
gescihrliche „direkte Aktion" (Massenstreik, Sabotage usw.) vorgezogen hat. Bei
der feindseligen Haltung, die die staatlichen Organe und die bürgerliche Gesell¬
schaft auch nach Bismarcks Rücktritt beibehielten, kann man nicht sagen, daß Staat
und Gesellschaft viel Verdienst daran hätten, daß die Sozialdemokratie eine
parlamentarische Partei geworden ist. Auf der bürgerlichen Linken waren die
Gesinnungsgenossen Friedrich Naumanns unter den ersten, die die parlamen¬
tarische Taktik als ein Mittel erkannten, die politischen Kräfte der Sozial¬
demokratie für Deutschland nutzbar zu machen. Naumann und seine Freunde
erkannten, daß die demokratischen Bestrebungen, denen sie selber anhingen, in
Teutschland so lange zur Ohnmacht verurteilt bleiben mußten, als die Kluft
zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie bestehen blieb. Sie
erkannten, daß man die Scheuklappen grundsätzlich ablegen müßte. Diese
Erkenntnis war jedenfalls schon eine politische Leistung. Man mag zur Demo¬
kratie freundlich oder ablehnend stehen: das wird man jedenfalls bestätigen müssen,
daß sie die politische Macht nimmermehr erlangen konnte, so lange sie in einem
sozialistischen und einem bürgerlichen Lager nicht nur sachlich, sondern auch
taktisch aus Grundsatz geschieden blieb. Deswegen hielten die konservativen
Parteien keineswegs nur aus Berbohrtheit, sondern auch aus richtiger taktischer
Erkenntnis von ihrem Standpunkte aus an der politisch-gesellschaftlichen Achtung
der Sozialdemokratie fest. Der Naumannsche Gedanke eines Zusammenschlusses
der gesamten Linken hat jedenfalls viel Verdienst an der Vorbereitung des Sieges,
den die Demokratie jetzt hat erringen können.
Naumann begann, als er Mitglied der Freisinnigen Vereinigung geworden
war, mit Bestrebungen, die zunächst' eine Einigung des Linkslibcrälismus in sich
zum Ziele hatten. Diese Bestrebungen können heute als völlig gelungen beurteilt
werden. Die heutige Fortschrittliche'Volkspartei steht wirklich als eine Einheit da.
Sie hat nicht die Neigung gezeigt, wieder in die Gruppen auseinanderzufallen,
aus denen sie einst sich zusammengoschlvsslen hat. Das Schwergewicht dieser
gelungenen Parteibildung hat sogar auf den linken Flügel der Nationalliberalen
eingewirkt. Die nach links Anschluß suchenden Tendenzen verstärkten sich dort
zusehends. Die Nationalliberale Partei, die in der Kartellzeit eine enge Ver¬
bündete der Konservativen geworden war, begann' in ihrer Stellungnahme
schwankend zu werden. Während die .aus den freisinnigen Parteisplittern eben
erst zusamMengesügte Fortschrittliche Volkspartei eine bemerkenswerte Festigkeit
an den Tag legte, bedürfte es bei den Nationalliberalen, die auf .eine in der
zerfahrenen liberalen Parteigeschichte sonst unerhörte, jahrzehntelange Geschlossen¬
heit zurückblicken konnten, der ganzen Geschicklichkeit ihres Führers Vassermann,
um die Partei überhaupt zusammenzuhalten. Der von Naumann erneut betonte
Gedanke einer Einheit des ganzen Liberalismus fand auch in nationalliberalen
Kreisen Verfechter. Andererseits schlosz sich die' altliberale und schwerindustrielle
Parteirechte mit großer Energie gegen ihn zusammen. Naumann ging
inzwischen weiter und verkündete jetzt den Großblockgedanken. Weder der
Liberalismus noch die Sozialdsinokratie, so führte er in tausend Variationen aus,
sei für sich allein mächtig genug, die politische Herrschaft im Deutschen Reiche zu
erobern. Beide müßten sich, unbeschadet ihrer Grundsätze, parteitaktisch zusammen¬
schließen zur einheitlichen großen deutschen Linken, auf diese Meise die Mehrheit
im Parlament erobern und dann die Regierung ihren: Willen unterwerfen.
Der Großblockgedanke ist viel verspottet und bekämpft worden. Er fand
auch in den Parteien, die er umfassen wollte, starke Gegnerschaften, vor allem in
der Sozialdemokratie auf der einen, der Nationalliberalen Partei ans der andern
Seite. Dennoch war der Gedanke zu einleuchtend, als daß er sich nicht doch
allmählich durchgesetzt hätte. Am vollkommensten in Baden. Als hier im
liberalen Musterländle die alteingesessene nationalliberale Vorherrschaft durch das
Anwachsendes Zentrums und der Sozialdemokratie bedroht wurde und auch das
Bündnis mit der Fortschrittlichen Volkspartei allein die liberale Mehrheit nicht
mehr sichern konnte, da entschloß sich der nationalliberale Führer Rebmann mit
der Sozialdemokratie zu paktieren, um nur nicht die gefürchtete klerikale Reaktion
ans Ruder kommen zu lassen. Bald folgte Bayern, nur mit dem Unterschiede, daß
hier das Zentrum an der Krippe faß und der liberal-sozialdemokratische Gro߬
block Opposition machen mußte. Auch anderwärts machte der Gedanke Fort¬
schritte. Wie aus so vielen Gebieten hat schließlich der Krieg auch hier die Ent¬
wicklung rascher zur Reife geführt, als das sonst zu erwarten gewesen wäre. Als
das Kaiserwort „Ich kenne Leine Parteien mehr" gesprochen war, konnte man
die Kluft zwischen den Bürgerlichen und den Sozialdeimokraten nicht mehr auf¬
recht erhalten. In der ersten Kriegszeit waren auch strengkonservative Kreise
gern geneigt, die SoZialdemokraten als deutsche Volksgenossen von anerkannten
Patriotismus zu behandeln. Später hätten freilich manche Ultras die Trennungs¬
linie der Vorkriegszeit gern wieder aufgerichtet. Aber die Bahn für taktische
Bündnisse war einmal frei geworden und ließ sich nicht wieder versperren. Die
Demokratie marschierte in einer.einheitlichen Phalanx auf. Nur rückte an Stelle
der Nationalliberalen das Zentrum ein und aus den „Grvßblockparteien" wurden
die „Mehrheitsparteien".
Es stellt sich als schwerer taktischer Fehler der Nationalliberalen heraus,
daß sie sich während des Krieges aus der ursprünglich als „Großblock" angelegten
parlamentarischen Phalanx hinausmanövrieren ließen. Als es sich zeigte; daß der
verschärfte Tauchbootkrieg England zum mindesten nicht auf einen Schlag zum
Frieden zwang, rückten zwar die klugen Zentrumsführer von den — das kurze
Schlagwort sei erlaubt! — alldeutschen Kriegszielen ab, nicht aber der national-
liberale Führer Stresemann. Daraus braucht man ihm noch keinen Vorwurf zu
machen, da schließlich niemand vorher wissen konnte, daß im Sommer 1918 unsere
militärische Lage sich so bedeutend verschlechtern würde, wie es geschehen ist. Aber
er durfte es nicht geschoben lassen, daß die Natumallwkralen geradezu als Bundes¬
genossen der Leute erschienen, die neben der Vertretung alldeutscher Kriegsziele
jede Stärkung der Parlamentsmacht hintanhalten wollten und zu diesem Zweck
— übrigens kaum zum Segen des Vaterlandes! — aus dem Ansehen der Obersten
Heeresleitung politischen Kredit gegen den Reichstag schlugen. Wenn schon
Stresemann nicht für die Reichstagsresolution vom 19. Juli 1917 stimmen
wollte, so mußte er doch -erkennen, daß sie zugleich zur Sammlung aller derer
führte, die die Macht dies Reichstags gegenüber dem Bundesrat, der kaiserlichen
Kommandogewalt und sonstigen konservativen Instanzen stärken wollten. Das
wollte Stresemann auch, denn er sprach ja ost sür gründliche Erneuerung der
Diplomatie, Einschränkung des persönlichen uns bureaukratischen Regiments,
Dinge, die doch gor nicht anders erreicht werden konnten als durch Stärkung der
Parlamentsmacht. Da hätte er also dafür sorgen müssen, daß die Partei¬
gruppierung der Juliresolution Episode blieb, und daß die Nationalliberalen im
übrigen um so stärker als Mitkämpfer um die Parlanleutarisierung erschienen.
Das wagte er aber anscheinend nicht in Rücksicht aus die breiten Parteikreise, die
zustimmten, wenn altdeutsche Heißsporne den Reichstag schmähten. So hat sich
Stresemann weder als vorausschauender Kopf, noch als politischer Charakter
erwiesen. Er hat seine Partei zwischen zwei Stühle gesetzt und nicht klar genug
erkannt, daß es für sie nur zwei Möglichkeiten gab: entweder mit der Demokratie
die Machtansprüche des Reichstags durchsetzen zu helfen oder sie an der Seite der
Konservativen zu bekämpfen. Vielleicht steht Stresemanns Führung auch unter
dem Einflüsse gewisser Theorien, wie sie der nationalliberale Historiker
Brandenburg in Leipzig lehrt. Brandenburg hat bei seinen Forschungen die ihm
überaus wertvoll -erscheinende Feststellung gemacht, daß der Liberalismus von der
Demokratie ebenso wesensverschieden sei, wie vom konservativen Gedanken. Das
mag richtig sein oder auch nicht: fatal ist es jedenfalls, daraus die politische Folge¬
rung zu ziehen, die nationalliberale Partei müsse zwischen den konservativen und
den 'demokratischen Ideen zurzeit einen Wirkungskreis ganz für ihre speziell
nationalliberale Betrachtungsweise suchen. Der "Gegensatz zwischen den oemo-
kvatisch-parlaMentarischen Prinzipien und der alten Ordnung im Reichsbau ist
so scharf, daß man zwischen beiden harten Mühlsteinen nur zerrieben werden
kann. Das Zentrum, das doch viel tiefere prinzipielle Gegensätze von der Linken
trennen, hat die Lage rechtzeitig begriffen und sich mit großer .Klugheit eine
gewichtige Stimme beim nunmehr eingeleiteten demokratisch - parlamentarischen
Umbau des Reiches gesichert. Nach dem Siege der Demokratie haben sich die
Nationallibcralen den Mehrheitsparteien angeschlossen, nicht ohne daß dabei die
Gefahr besteht, daß sie ein wenig fünftes Rad am Wagen bilden. Doch ist die
Bedrohung des 'Vaterlandes durch den auswärtigen Feind augenblicklich so groß,
daß der Mehrheit die sonst unnötige Verbreiterung der parlamentarischen Basis
ihrer Negierung immerhin sehr willkommen ist. Infolgedessen scheint es den
Nationalliberalen doch noch zu gelingen, ihre Stimme unter der neuen Ära zur
Geltung zu bringen. Trotzdem ist es bezeichnend, daß in das sogenannte engere
Kriegskabinett neben Payer, Haußmcmn, Scheidemann, Grober und Erzberger
kein Führer der nvtionalliberalen Reichstagsfraktion eingerückt ist.'
Zum ersten Male in der Geschichte des neuen Deutschen Reiches ist die
Volksvertretung seit dem Sommer 1917 mit einem organisierten Machtwillen
hervorgetreten. Ein „Großblock" bürgerlicher Parteien mit der Sozialdemokratie
ist tatsächlich zusammengekommen und hat dann auch ziemlich rasch die Macht im
Reiche an sich gerissen. Wenn das alles auch unter dem Druck des Krieges
beschleunigt worden ist, so ist es doch längst vorher angebahnt. Nur daß in der
„Mehrheit" von 1917 die Nationalliberalen, die sich Naumann als Großblock¬
genossen dachte, durch das Zentrum ersetzt sind und sich nur nachträglich ihr
wieder anschließen. Es ist auch kein Zufall, daß unter den führenden Männern
der Neuordnung schon seit Hertlings und .Kühlmanns Tagen die Süddeutschen,
besonders die Südwestdeutschen, die führende Rolle spielen, während unterm
„ÄiroisQ I'sgiws" der preußische Nordosten die maßgebenden Reichsämter besetzte.
Der Südwesten ist schon von alters her die Hochburg der deutschen Demokratie.
Zwei Badner: Prinz Max und Fehrenbach stehen an der Spitze der Reichs¬
regierung und des Reichstags; im engeren Kriegskäbinett sitzen nicht weniger als
vier Württemberger: Erzberger, Grober, Payer und Haußmann, und ein
Altelsässer, General Scheues, ist sogar preußischer .Kriegsminister. Mögen die
Persönlichkeiten auch später wieder wechseln, der Bann ist jedenfalls gebrochen,
es wird nicht wieder Gewohnheitsrecht werden, daß die deutsche Reichsregierung
aus Preußen stammen muß. Man darf vielleicht hoffen, daß der Reichsgedanke
noch Fortschritte macht: nicht dadurch grade, daß die Demokratie im ganzen
ziemlich unitarisch gestimmt ist — kräftiges Eigenleben der größeren Bundes¬
staaten ist ein politisches Gut, das dem Reiche erhalten bleiben möge! — sondern
mehr dadurch, daß durch den Parlamentarismus alle deutschen Stämme gleich¬
mäßiger Gelegenheit haben werden, führende Köpfe in die Reichsvegierung zu
bringen, während früher diese Stellen meist nur durch deu preußischen Staats¬
dienst zugänglich waren.
Den Konservativen wird der Zusammenbruch ihres Einflusses erst im
Lause der kommenden Jahre stärker fühlbar werden. Sie werden dann bald den
Reichstag sehr schätzen, weil er auch ihnen oas Sprungbrett zu erneutem Einflüsse,
das ihnen bisher Bureaukratie und Militär war, werden wird. Sie werden
vielleicht Verstärkung erhalten durch die uatioualliberale Rechte, die kaum
dauernd bei der jetzigen Mehrheit bleiben wird. Es wird niemanden Wundern
dürfen, wenn die Partei, die einst Bismarck die bisherige Reichsverfassung schaffen
half, auseinandergeht, wenn der Umbau des Reiches weiter sortgesetzt wird. Auch
die Sozialdemokratie hat ja, ehe sie reif wurde für ihre jetzige Politik, eine starke
Absplitterung erlebt. Daß das Zentrum seine alten Gegensätze zur Sozial¬
demokratie und zum Liberalismus nicht völlig begraben hat, ist auch sicher.' Die
WeiterentwickliMg unsres Parlamentarismus ruht also noch völlig im Dunkel.
Aber jede irgendwie geartete Gegenkoalition gegen die jetzt zur Herrschaft gelangte
Großblockidee wird auch auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage
ruhen. Auch eine spätere, etwa wieder konservative Regierung wird nicht wieder
auf außerparlamentarischem Wege ans Ruder kommen. In diesem Sinne dürste
die „Mehrheit" am 30. September etwas Unwiderrufliches erreicht haben.
->?-7>ü^.'s ist jetzt eine schlechte Zeit für den Individualisten. Ein Spiel
der Wellen treibt sein kleiner Kahn im Meeresstrom des Geschehens,
der ihm seinen Kurs, oft peinlich bis ins einzelne, vorschreibt. Aber
er findet sich damit ob' hat er doch in hoher Stunde das Ziel seiner
! Fahrt, das Heil des Vaterlandes, des Volksganzen, bejaht; so kann
! es ihm jetzt nicht entgegen sein, wenn er sich unter ein Kommando
stellen nutz, das ihn an das Ziel zu führen verspricht. Wie schwere Überwindung
es manchen kostet, diesem Kommando vertrauend -zu folgen, weiß Gott; auf den
Schultern der Führer häuft sich die Verantwortlichkeit bergehoch.
Es gibt keine einzelnen mehr, und es wird sie auch nach dem Kriege auf
lange hinaus nicht mehr geben. Die Tatsache, daß einer ein Deutscher ist, wird
ihn verpflichten. Er wird seinen Platz im Friedensheer einzunehmen haben, den
seinen Kräften und .inneren Möglichkeiten entsprechenden Platz. Drohnen hat der
Deutsche seit langem schwer ertragen, er wird sie von nun an verachten.
Zu den Problemen von größter Tragweite, die mit dieser Sozialisierung
dem Staate neu zuwachsen, gehören die der Bevölkerungsvermehrung, der Be¬
völkerungsverteilung und der Berufsschichtung. Drei Domänen individualistisch-
liberaler Auswirkung. Drei Gebiete, deren Gesetzmäßigkeiten und funktionale Be-
Ziehungen schon seit Jahrzehnten ernster Durchforschung wert waren. Drei Lebens-
kreise, in denen vielfach anstelle des bisherigen freien Entschlusses eine rationelle
Beeinflussung im Sinne des Volksganzen treten muß.
Ja, wir müssen künftig neben der Bevölkerungspolitik, der ja schon vor dem
Kriege die Aufmerksamkeit vieler zugewendet war, auch eine Berufspolitik treiben.
Nicht nur, wie von manchen Seiten gesagt wird, weil wir mit unseren Talenten
sparsam umgehen müßten, und weil es Verschwendung wäre, ein Talent in einem
ihm nicht gemäßen Berufe zu verwenden, — nein, auch um der Ethik des Be¬
rufes selber willen ist es nötig, daß einer sich berufen weiß, wenn er in den Beruf
eintritt, und um der persönlichen Zufriedenheit jedes einzelnen willen.
Das ist auch der eigentliche Sinn des vielmißbrauchten Wortes „Freie Bahn
dem Tüchtigen", daß er das ihm gemäße Tun finde und nicht gezwungen werde,
seine guten Kräfte in unwürdiger Form zu zersplittern, sei es auch die im Vor¬
urteil der populären Schätzung „höhere" Berufsform.
So ist es in derNastlosigkeit des heutigen Lebens dahin gekommen, daß dieSorge
unserer idealistischen Erzieher heute nicht mehr allein die reinmenschliche Bildung
des Zöglings sein darf; frühzeitig muß sich der Blick der Erzieher auf seine
künftige Berufsgattung richten, und der Zögling muß lernen, den Beruf als einen
notwendigen Bestandteil nicht nur des nun einmal leider so gearteten Lebens,
sondern des Lebmsideals zu erfassen; derart, daß nicht mehr das Nenaissantt-
ideal der geistig regen Muße seine Zukunftsträume bestimmt, sondern das Gegcn-
wartsideal ein'er Berufstätigkeit als Glied des völkischen Organismus.
Es ist keine leichte Aufgabe, die unserer Zeit hiermit gestellt ist, aber ihre
Lösung ist dringend, insbesondere für diejenigen unter unserem Nachwuchs, deren
Wesensart Profil genug zeigt, um eine Fehllösung zu einem persönlichen und dem
Maße entsprechend zu einem nationalen Übel zu gestalten. Und zur Lösung der
Aufgabe ist offenbar zweierlei erforderlich: erstens Kenntnis der physiologischen
und psychologischen, der sozialen und materiellen Voraussetzungen der einzelnen
Berufe, und zweitens Erkenntnis der Wesensart des jugendlichen Menschen, um
ihn auf den Weg zu dem ihm gemäßen Berufe führen zu können. Dabei kann
natürlich auf eine restlose Lösung des Problems nicht immer gerechnet werden. Die
komplizierte Zusammensetzung jeder Individualität findet wohl oft nicht ihre Ent¬
sprechung in der Reihe der vorhandenen Berufe. Es ist also auch nach der Er¬
füllung aller Erfordernisse einer künftigen Berufspolitik notwendig, auf diejenige
Eigenschaft des Menschen zu rechnen, die bisher bei der Berufswahl die größte
Rolle gespielt hat: die Anpassungsfähigkeit, die Einstellbarkeit auf die Forderungen
des Berufes, die als sittliche Forderung mit sich bringt, daß der Mensch manche
seiner Neigungen unterdrücke, Fähigkeiten nicht ausübe — und so der Tragik sich
unterwerfe, die aus der Unstimmigkeit der idealen und der realen Forderungen
des Lebens entspringt. Gerade der moderne Mensch mit seiner Vielseitigkeit wird
nach wie vor manchen bitteren Tropfen auszukosten haben.
Aber zur Besserung dieser Zustände können und müssen wir kommen; und
so bleibt vor allem die Entwicklung einer förmlichen Berufsforschung^) eine
Forderung des Tages. Ihre Ergebnisse müssen denen vertraut werden, die einen
Einfluß auf die Berufswahl auszuüben haben. Nicht nur die Statistik der Berufe
muß noch mehr ausgebildet und an sie die Soziologie der Berufe angeschlossen
werden; auch die Hygiene der Berufe wäre klarer zu erfassen — vielleicht erweitert
sich die Aufgabe des Forschungsinstituts für Arbeitsphysiologie einmal nach dieser
Seite —; am wichtigsten aber erscheint mir doch die Psychologie der Berufe, ein
Gebiet, das der heutigen angewandten Psychologie keine allzu schweren Aufgaben
stellen dürfte. Von der physischen Fähigkeit aus und der Ermüdbarkeitsmessung
bis zur inneren Stellung des Arbeiters zu seinem Tun, von der allgemeinen
Intelligenz bis zum moralischen Status deß Individuums können und sollen die
Eigenschaften festgestellt werden, die zur Ausübung eines bestimmten Berufes
gehören; nicht an letzter Stelle die Charaktereigenschaften, Temperament und
Sittlichkeit. Selbstverständlich handelt es sich bei einer ganzen Anzahl dieser
Wesenszüge um nicht experimentell oder überhaupt Meßbares, oft sind sie für den
Dritten nicht, sondern nur für den Betroffenen selbst bei tiefster Selbstprüfung
erkennbar. 2) Aber wie weit der Einzelberuf diese oder jene Eigenschaft erfordert,
kann doch geschätzt und erwogen und mit dem Befund verglichen werden. Und
es wird auch schon ein Fortschritt sein, wenn wir nicht positiv zu einem Beruft
raten, sondern — und zwar nicht nach gefühlsmäßigen Antrieben, sondern nach
nüchterner Erkenntnis — von bestimmten Berufen abraten können (negative
Berufsberatung). Jedenfalls hat Aloys Fischer recht, wenn er betont, daß „auf
Grund einer Durchleuchtung der Berufsarbeiten in ihren Voraussetzungen und
Teilen, Hilfsmitteln und Hindernissen, Gefahren und Erfolgsaussichten" in der
Zusammenarbeit von Vertretern der Berufe und Psychologen „psychische Berufs¬
bilder" gewonnen werden können, die dann die Unterlagen für die Berufsberatung
abgeben.
' Für. die Berufsberatung, nicht für den Berufszwang. Eine oberflächliche
Betrachtung könnte ja zu der Konsequenz kommen, daß mit der immer feineren
Ausbildung der Berufsforschung schließlich ein durchaus rationelles Verfahren für
den Nachersatz der Berufe einerseits, für die Unterbringung der passenden Anwärter
in „ihrem" Berufe andererseits gefunden wäre. Ausgeschaltet wäre damit das
Irrationale aus einem wichtigen Gebiete des Lebens, das Überraschende, der
Zwang zur eigenen Entscheidung, Initiative, Wagemut; das Leben wäre eine
Versicherungsanstalt, jeder Mensch ein Angestellter in seinem Berufe — und was
der Perspektiven mehr sind. Aber so darf es eben doch nicht werden. Die Be¬
ratung soll kein Zwang, auch keine Überredung und Verführung sein; „wir können
empfehlen und warnen, aber wir sind niemals sicher, ob wir nicht, wenn uns-
gefolgt wird. .Kräfte unterbinden, die der riskierende Verzicht auf Klugheit frei¬
gemacht hätte" (Fischer, S. 29 und 80).
. An der Grenze des verstandesmäßig Berechenbaren endet auch die Berufs¬
forschung und -beratung; und die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen im Menschen¬
wesen wird hier keinen Zwang zulassen, auch nicht unter dem Gesichtspunkt des
nationalen Vorteils. Hiergegen wird es an Widerspruch nicht fehlen. Man darf
sich eben nicht der Tatsache verschließen, daß wir uns hier an der Grenze zweier
Weltanschauungen befinden. In der Berechtigung oder Nichtberechtigung der
Gesamtheit, über das Schicksal des einzelnen zu verfügen, bekämpfen sich von
jeher Individualismus und soziale Stciatsallmacht, und der Kampf ist darum
nicht zu Ende, weil im Bugcnblick die Wogen sozialer Ausfassung so hoch gehen,
wie noch nie bei unserem Volke. Ich sagte vorhin, der einzelne werde verpflichtet
sein, seinen Platz im Friedensheere einzunehmen. Soll man ihm auch noch das
Recht nehmen, in letzter Linie darüber zu entscheiden, welches dieser Platz ist? —
Es ist nicht zu verkennen, daß wir seit der Auflösung der strafffländischen
Gliederung unseres Volkes aus dem Zustand, wo der Beruf angeboren war und
Erziehung und VildnNg sich nach dem Stande der Eltern richteten, nach dem
Gegenpol hinstreben, einem sozialen Konglomerat, in dem die Geburisstände ver¬
schwinden und der Bildungsgrad allein die Voraussetzung für die Erreichbarkeit
eines Berufes darstellt. Man kann in aller Unbefangenheit dieses historische
Faktum feststellen und braucht weder für den verflossenen noch für den intendierten
Zustand gefühlsmäßig Partei zu nehmen. Heute ist das Ziel, nach dem die Ent¬
wicklung hinstrebt, nicht erreicht; noch immer wird das Kind auch in den Gesell-
Ichaftskreis der Eltern hineingeboren, und sie sind bestrebt, ihm diejenige Bildung
zuteil werden zu lassen, die von den Voraussetzungen und Vorurteilen, aber auch
der materiellen Lage der Eltern und ihres sozialen Kreises gefordert wird;
immerhin unter der auslesenden Kontrolle einer unabhängigen und ständisch un-
de?influßten Schulbehörde, deren Bestreben dahin geht, die ganz unbrauchbaren
Elemente auszuscheiden. Hierdurch wird bereits jenes Streben nach Erhaltung
des ständischen Charakters der jungen Generation vielfach durchkreuzt; noch stärker
aber ist die Verschiebung, die eintritt durch die „Aufstrebenden". Es geht — und
das wird von den Kämpfern gegen die „Standesschule" (als welche die höhere
Schule bezeichnet wird) fortwährend übersehen — ein steter starker Strom von
Kindern geringerer Stände in die höheren Schulen und zu höherer Standesgeltung
empor, vor allem aus dein Kleinbeamten-, Kleinkaufmanns- und Handwerkerstand,
aber auch aus den Arbeiterkreisen; in vielen Schulen überwiegen diese Schüler
bei weitem. Diese Förderung durch oft rührend eutsagungsreiches Mühen und
Sparen der Eltern kommt durchaus nicht nur den Tüchtigen zugute, sondern oft
auch recht schwachen Begabungen, denen man wünschen möchte, daß die Eltern
sie nicht in die ihnen fremde Sphäre hineingedrängt hätten. Anders ist es mit
jenen Gutbegabtm, denen durch Freistellen, Stiftungen, Stipendien der Weg, aus
tieferen sozialen Schichten in höhere geebnet wird; ihre Würdigkeit untersteht einer
immerwährenden, ziemlich scharfen Kontrolle; versagen sie, so verlieren sie die
Unterstützungen. Die Zahl dieser Stipendiaten des Talentes ist .nicht gering.
Im ganzen aber entstammt von den Hochschulstudenten noch rund ein Drittel den
unteren Schichten. ,
Diesen Zustrom, der sich im Widerspruch mit dem erwähnten absterbenden
Ständeprinzip vollzieht, wird man als eine gesunde Ergänzung unserer höheren
Stände werten müssen. Freilich- je größer der soziale Abstand des Elternhauses
von der gebildeten Sphäre, desto gewaltsamer ist der Übergang, desto empfindlicher
der Mangel an Kinderstube, an Tradition; empfindlich sür den Kreis, in den diese
Neulinge treten, empfindlicher noch für diese Neulinge selbst, wenn ihr Inneres
nicht robust genug ist, sich über diese Mängel keck hinwegzusetzen. Auch die Los-
lösung von dem organischen Zusammenhang mit ihrer Familie läßt diese Leute
innerlich verarmen, wenn ihr Gemüt nicht fruchtbar alles ersetzt. Am wenigsten
fühlbar ist all das, wenn die aufsteigenden Elemente nicht mit einem Schritte
den Zwischenraum etwa zwischen dem Handarbeiter und dem Akademiker durch¬
messen, sondern wenn die Familie als solche diesen Weg zurücklegt, indem sie eine
Generation des unteren Mittelstandes oder kleinen Beamtentums einschiebt.
Je stärker dieser Zustrom standesfremder Elemente anschwillt, desto schwerer
wird es dem höheren Stande, diese mit seiner alten Kultur zu durchsäuern. An
der Erhaltung einer alten Kultur, die nur im Zusammenhang generationenlanger
Züchtung gedeiht, sollte dem Volksganzen, also auch dem Staat — will er nicht
ein bloßer Mechanismus erscheinen '— gelegen sein. Daher müßte er den Zustrom
in dem Sinne regulieren, daß die Erhaltung einer kultivierten Oberschicht nicht
in Frag- gestellt wird durch das Zuströmen von Massen, denen zwar nicht die
Kenntnisse, wohl aber die kulturellen Werte abgehen. Dies solange, als die Ober¬
schicht mit der normalen Verstärkung von unten sich nicht unfähig erwiesen hätte,
die ihr gestellten Aufgaben zu lösen.
Wie steht die Sache nun heute? Erfordert die Oberschicht notwendig einen
außerordentlichen Nachschub von unten, weil sie ihrer Aufgaben nicht Herr werden
kann? Müssen also neue Kanäle angelegt werden, die frisches Blut einführen?
Man wird nicht leugnen können, daß einige Angehörige dieses Volksteiles geneigt
waren, sich als beati vossiäentes zu fühlen und die Verpflichtungen der bevor¬
zugten Stellung, waren sie einmal in sie gelangt, leichter zu nehmen, als sür das
Ganze ersprießlich war. Aber dieser Gefahr wird man auch durch frischen Nach¬
schub nicht begegnen können, will man nicht durch jährlich neue Auslese die Würdig¬
keit feststellen und damit das soziale Gefüge immer neuen Stößen aussetzen, von
der Schwierigkeit der Wertung ganz abgesehen. Und wie sollte es mit dem
praktisch doch nicht auszuschließenden Anspruch des Besitzes auf Eintritt in die
führenden Stände werden?
Die gegenwärtige Lage ist so, daß die Überfüllung aller höheren Berufe,
die schon zu einer Art Gelehrtenproletariat geführt hat, die späte Möglichkeit zur
Familiengründung bei allen, die nicht mit materiellen Gütern gesegnet sind, und
alle damit zusammenhängenden Gefahren und Nöte bereits als eine Erkrankung
unseres Volkskörpers angesprochen werden können. Schon werden Stimmen laut,
die eine koloniale Expansion von dem Gesichtspunkte aus befürworten, daß wir
für unseren „Überschuß an Intelligenz" ein Betätigungsfeld brauchen. Freilich
sollten uns unsere besten Söhne zu wertvoll sein, um sie als Produkte deutscher
Bildungsindustr.e zu exportieren; und man könnte hier wohl eher von einer Ver¬
schwendung mit dem geistigen Nationalwohlstand sprechen, als man neuerdings
zu tun pflegt, wenn einige Talente in ihren bisherigen Volkskreisen belassen und
nicht zu höheren Bildungsstufen hinaufgeführt werden.
Es wäre also nicht einzusehen, weshalb wir diese Überproduktion noch mehr
fördern sollten, wenn nicht der Krieg das Schlagwort „Freie Bahn dein Talent"
gebracht hätte, das dann alsbald so ausgelegt wurde, allen begabteren Kindern
unseres Volkes müßten die höheren Bildungsstufen zugänglich gemacht werden.
Verkennen wir es nicht: die ganze Bewegung, die jenes Schlagwort auf ihre
Fahne geschrieben und seitdem in einigen Großstädten die Begabtenschulm ins
Leben grrufm hat, ist eine Erscheinungsform der demokratischen Strömung, die
die Notzeit unseres Volkes für den richtigen Augenblick gehalten hat, ihren Zielen
näherzukommen. Die Begabtenschulen sucht man zwar sachlich zu begründen,
scheut sich aber auch nicht es auszusprechen, daß sie „aus innerpolitischen Gründen
im Vordergrunde des Interesses stehen".
Wir müssen heute mit diesen Verhältnissen rechnen; und wir wollen die
Wünsche derer nicht ablehnen, die darauf ausgehen, häufigere lind gangbarere
Wege aus einer Volksschicht in die andere anzulegen, denn wir hoffen auf ein
engeres Zusammenwachsen der einzelnen Stände untereinander und auf eine un¬
befangenere Wertung. Aber wir müssen es zum Wohle des Volkes ablehnen, da
infolge der neuzuschaffenden Möglichkeiten eine noch ungesündere „Jnflanon" de,
oberen Schicht stattfindet, deren Ansprüche dann von dem gesamten Volkstörpe''
nicht mehr erfüllt werden könnten. Es dürfen sich nicht mehr zu Tische setzen^
wo doch die Mahlzeit nicht vermehrt werden kann; will mau in noch höherem
Maße unsere besten Köpfe ins Ausland drängen?
Somit bleibt nur die eine Möglichkeit, soll das Volk nicht Schaden leiden:
dein Aufstieg der Begabten -- der in Grenzen gehalten werden muß, auch um
eine völlige Auslaugung der unteren Schichten zu verhüten — muß ein Abstieg
der Unbegabten zur Seite gehen°). Viel Unglückliche wird es dann weniger
geben. Und wenn die Rücksicht auf den durch unbegabte Schüler und Studenten
gerabgesetzten Durchschnitt wegfällt, so können höher und straffer die Anforderungen
bestellt werden. Es ist denn doch zu hoffen, daß hierbei die bisherige Oberschicht,
in ganzen genommen, ihre Führerstellung erfolgreich verteidigen wird.
Zu alledem gehört nun eine andere Art der Beurteilung und Bewertung
von Schule und Mensch, wenn wir nicht wieder zu Einseitigkeiten kommen sollen,
die bei der scharf eingreifenden Rationalisierung der Ständeverschiebungen besonders
schwerwiegend sein müßten. Wir müssen daher die Auslesemethod'en besonders
sorgfältig erwägen, die den Übergang aus einem Stand in den andern vor¬
bereiten, und wir müssen verlangen, daß sie den ganzen Menschen zum Objekt
nehmen, nicht nur eine Seite seines Wesens. Die bekannteste Auslese, die in
Berlin bei den Begabtenschulen angewandte, entspricht dieser Forderung nichts,
und auch die Methoden der übrigen Großstädte stehen, soviel ich sehe, grundsätz-
lich auf demselben Boden.
Di: Durchsicht der angewandten Verfahren muß, wenn auch Verbesserungen
naturlich möglich und zum Teil auch schon vorgeschlagen worden sind, unsere
Bewunderung erregen. Die verschiedenen Seiten der intellektuellen Tätigkeit
werden auf ihre Leistungsfähigkeit experimentell untersucht, und es ist kein Zweifel,
daß über Konzentration, Kombination, Einpränsamleit, Generalisation, Definition,
Wichrschemlichkeitsurteil usw. Werte gewonnen werden, die der Exaktheit nahe¬
kommen. Man wird ohne weiteres erkennen, daß diese Verfahren, z. B. auf
unseren höheren Schulen in gemessenen Zeitabschnitten angewandt, das von den
Lehrern gewonnene Bild der einzelnen Individualitäten in willkommener Weise
ergänzen würde. Aber die Anhänger dieses Verfahrens werden uns über seine
Schwächen nicht täuschen. Wen wir sür würdig halten, in die durch Bildung
führenden Schichten unseres Volkes hinausgehoben zu werden, den werden wir
nus nicht nur darauf ansehen dürfen, wie es mit seinen intellektuellen Fähigkeiten
beschaffen ist. Es fragt sich doch, ob sich aus der Einfügung der Persönlichkeit
in die ihm fremde Schicht eine Förderung und keine Schädigung des Ganzen
erwarten läßt. Der Intellekt ist ein scharfes Instrument, das sich zu Nutzen oder
Schaden antuenden läßt. Fleiß, Energie, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Pflichttreue,
Anpassungsfähigkeit können nicht durch eine zehnstündige Prüfung ermittelt weiden,
geniales Führertum überhaupt durch keine Prüfung; den Charakter zu prüfen,
indem man die Kinder in ein Landerziehungsheim steckt und dort eine Woche
oder länger „beobachtet", ist um so mißlicher, je mehr sich die Prüflinge dieser
vorübergehenden Beobachtung bewußt sind. Hier bedürfte es langfristigen un¬
befangenen Zusammenlebens; die Erfahrungen des Lehrers in der Schule werden
also nicht zu umgehen sein, und der Personalbogen, in den jahrelang alles ein¬
getragen wird, was von der biologischen bis zur ethischen Seite des Schülers
zur Kenntnis des Lehrers kommt, wird zur dringlichen Forderung, wichtiger als
die Bemessung der einzelnen Funktionen des Intellekts. Temperament, Naturell,
Stellung zu Natur' und Umwelt — lauter Grundsteine .der künftigen Weltan¬
schauung —, Phantasie und künstlerische Begabung — durch die Intelligenz unersetz¬
bare Werte — kurz, alles was das Wesen der Menschen dur.t und reizvoll macht,
bleibt bei dem Berliner Versuch unberücksichtigt neben den Versiandeskräften.
Ja auch diese finden nicht die ihnen gebührende Würdigung. In Berlin
werden alle die verschiedenen Ergebnisse aller untersuchten Jntelligenzfuuktionen
eines Schülers schließlich auf einen Durchschnittswert reduziert, der dann für die
Beurteilung ausschlaggebend ist. Qualitative Differenzen werden nicht berück¬
sichtigt. Diese sind aber bei Schülern, die man einer Weiterbildung zuführen
möchte, gerade das Wichtigstes. Die zeitgemäße Forderung nach Organisation
der Schulen gemäß den psychologischen Verschiedenheiten der Kinder wird durch
das Berliner System nicht erfüllt. Man sieht mit Erstaunen, daß der ganze
Aufwand psychologischer Untersuchung schließlich wieder in das' Schema der bis¬
herigen höheren Schule einmündet, dessen Starrheit doch gerade durch Berück¬
sichtigung der qualitativ verschiedenen Individualitäten gelockert werden müßte.
Man nähert sich heute in der Pädagogik der Auffassung, daß das Wissen
und die Verstandesbildung hinter das Können zurückzutreten habe. Vielleicht
kommen wir weiterhin zu einer Stufe, auf der das Sein vor allein geschätzt
wird und das Wissen wohl bei der Wahl des Betätigungsfeldes, des. Berufes,
den Ausschlag gibt, nicht aber bei der Schätzung des Wertes der Persönlichkeit
für das Ganze. Erst dadurch wird die Versöhnung der Stände, eine wahre
Demokratie, ermöglicht werden, daß kein Stand als solcher erstrebenswert erscheint,
sondern in jedem Berufe die wertvolle Persönlichkeit, der ganze Mann an rechter
Stelle, höchste Würdigung erfährt. Erst wenn der reine Zusammenklang von
Leib und Seele, Geist und Charakter, von sittlicher Kraft und praktischem Können
gewertet wird, kommen wir zu einer neuen Humanität, die den Beruf einschließt.
Dann aber wird das ungesunde Streben nach bloßer Verstandesbildung keinen
Platz mehr haben. Im Lichte dieses Ideals ist die Begabtenschule ein Ausklang,
die letzte Gipfelung einer bereits überwundenen Epoche, der des alleinherrschenden
Intellekts, und kann nur noch als einseitige Ziichtungsansto.le angesehen werden.
Denn auf die intellektuelle Auslese allein ausgebaut, können diese Anstalten den
Schritt von der Einseitigkeit zur Menschenbildung nicht mitmachen, sondern sind
zur grauen Geistesdressur verdammt.
Die Produkte dieser Art von Bildung werden — trotz aller Mittel moderner
Didaktik — tüchtige mittlere Beamte, Mitarbeiter, Zeitgenossen sein; von Füyrer-
eigenschaften, von'heldischer Färbung, von Eigenem, nicht Anerziehbärem werden
sie noch soviel besitzen, als sie trotz der intellektuellen Überernährung mit dem
auf sechs Jahre zusammengedrängten Pensum der neunklassigen Anstalten sich
bewahren können. Ist es das, was unsere Zeit braucht? Köpfe statt Seelen?
Haben wir in dieser Krise unseres nationalen Daseins einen Überfluß an Führer¬
persönlichkeiten gehabt? —
Man wird die Versuchs mit den Begabtenschulen in den großen Städten
aufmerksam verfolgen; aber nicht, weil sie einen Schritt in eine morgenlich leuch¬
tende Zukunft unseres Volkes bedeuten, sondern weil wir einen Versuch vor uns
haben — dem sich die Versuchsobjekte wohl willig unterziehen werden, — einen
Versuch, der eine Menge objektiv wertvollen Studienmaterials über die Frage
beibringen wird, wie sich diese intellektuell Begabten im Verlauf ihres Studien¬
ganges und später im Leben bewähren. Es wird vom wissenschaftlichen Stand¬
punkte die Forderung erhoben werden müssen, daß ungefärbte Aufzeichnungen über
die Weiterentwicklung der Schüler in geistiger und sittlicher Hinsicht, sowie über
ihre Berufswahl und ihre Lebensführung gemacht werden. So können diese, wie
wir gesehen haben, grundsätzlich anfechtbaren Versuche dem'weiteren Aufbau einer
Wissenschaft zugute kommen, die in ihrer Anwendung künstig unser Erziehungs¬
und Schulwesen immer mehr durchdringen wird, der Jugendsünde«). Dieser
Wissenszweig, geboren aus der Beschäftigung mit den Anomalien des jugendlichen
Menschen, entwickelt sich immer mehr zu einem Wissen vom werdenden Menschen
überhaupt. Diesem Wissen gehört die Zukunft, wenn es darauf ausgeht, die
Unterlagen der erzieherischen Tätigkeit zu dielen, die in der Natur des Kindes
intendierten Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die Hindernisse des glücklichen
Ausreifens zu beseitigen und nach dem von der Berufsforschung gebotenen Ein¬
blick dem jungen Menschen zu raten, wie er seine individuelle Begabung anwenden
kann zum eigenen Glück und zum Heil von Volk und Staat.
Uer Vizekanzler von Payer hat in seiner bekannten Aussprache mit
Pressevertretern der österreichisch-ungarischen Monarchie erklärt, daß
sich nach seiner Meinung die nationalen Gegensatze in Zukunft
mildern und die Völker sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten
gruppieren würden. Dieser Ausspruch über die nationalen Gegen¬
sätze hat sich insofern als richtig erwiesen, als die Ansprüche des
Deutschtums durch den bevorstehenden Friedensschluß „gemildert" werden dürften
und den Bestrebungen unserer Nachbarn damit sreie Bahn geschaffen werden wird.
Auch die Gruppierung der Völker nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheint
nunmehr einzutreten, indem sich die Entente die Kalischätze im Elsaß angliedert
und die Erzlager Lothringens dem erzarmen Deutschen Reiche nimmt und sie
dem erzreichsten Lande Europas gibt, Frankreich, das über 8 Milliarden Tonnen
Eisenerz in seinem Besitz hat.
Schwander, der soeben das nach schweren Wehen geborene neue Lebewesen
in Empfang genommen hat, spricht mit der freudigen Überzeugung eines Tauf¬
redners die Versicherung aus, daß Elsaß-Lothringen sich sein Selbstbestimmungs¬
recht nicht wieder nehmen lassen wird. Man deutet das dahin aus, daß sich
Elsaß-Lochringen vom Deutschen Reiche lösen und sich als neutraler Staat ein¬
richten wird. Das würde u. a. die Zulassung der französischen Propaganda in
breitester Öffentlichkeit bedeuten. Auch von unserer Seite wird dann um die
Seele des verlorenen Sohnes gerungen werden. Läßt sich angesichts der großen
Erfolge der französischen Nation in solchen Angelegenheiten da noch etwas für
uns erhoffen?
Angesichts der wirtschaftlichen Lage Elsaß-Lothringens darf man das be¬
jahen. Den Fehler, den man politisch in den letzten Jahrzehnten gemacht hat,
daß man dem Elsaß-Lothringer keine Entwicklung?- und Betätigungsfreiheit im
Reiche gab, hat das Wirtschaftsleben, seinen eigenen Gesetzen folgend, vermieden.
Auf wirtschaftlichem Gebiete wuchs Elsaß-Lothringen nach seiner Rückkehr zum
Reiche mit erstaunlicher Schnelligkeit mit der deutschen Volkswirtschaft zusammen.
Seine Erzschätze riefen geradezu erst den deutschen Eisenschmied ans Werk.
Nachdem 1878 das Thomasstahlverfahren erfunden und sofort in Deutschland in
großzügiger Weise durchgeführt wurde, begann eine deutsche Eisenindustrie in
Rheinland und Westfalen, in Lothringen und im Saarkohlenbecken aufzubinden,
deren Leistungen die Bewunderung der Welt erregte. 1913 brachte der Südwesten
40 Prozent der deutschen Roheisengcwinnung hervor. Die Erzförderung Lothringens,
die 8V Prozent der deutschen Eisenerzförderung ausmachte, kann also als die
Lebensquelle der- deutschen Eisenindustrie, d. h. die Lebensbedingung für 10 Mil¬
lionen deutscher Arbeiter einschließlich ihrer Angehörigen bezeichnet werden. So
ist Elsaß-Lothringen auch wirtschaftlich eine internationale Angelegenheit geworden,
nämlich als Kraftquelle der in allen Ländern der Welt bekannten deutschen Eisen¬
industrie. Mir scheint, daß Elsaß-Lothringen seine internationale Berühmtheit
nicht zu bereuen hatte. Wird es auch dieses Mal solchen Nutzen daraus ziehen,
daß es, wie Staatssekretär Hauß sich ausdrückt, zu einer „Vorfrage der friedlichen° Neuordnung der Welt" geworden ist? '
Aber nicht nur die Industrie, auch die deutsche Landwirtschaft müßte es
schmerzlich empfinden, wenn Elsaß-Lothringen aus dem deutschen Wirtschaftsleben
ausscheiden würde. Aus den phosphorhaliigen Mineitcerzen gewinnen wir be¬
kanntlich das Thomasmehl, das den Ertrag unserer Äcker'erheblich gesteigert hat.
„Eisenund Brot gab uns Elsaß-Loitzringen", so hat man darum mit Recht gesagt.
Erzbergbau und Eisenindustrie Lothringens wirkten wiederum anregend auf
die Landwirtschaft Lothringens, die einen bequemen und preiswerten Absatz für ihre
Waren im Industriegebiet fand. So hat auch der lothringische Bauer ein großes
Interesse an der Lebensfähigkeit der lothringischen Industrie. Der elsässische Bauer,
den der hohe Vogesenwall von Frankreich trennt, sucht sein Absatzgebiet im rechts¬
rheinischen Land. Wie auf die Eisenindustrie, so hat die Rückkehr zum Reich auch
auf andere wirtschaftliche Kreise günstig gewirkt. Man denke an die oberelsässische
Textilindustrie, die sich ein günstiges Absatzgebiet auf dem deutschen Markt sicherte,
wcchrend sie in Frankreich von den ostfranzösischen Webereien erdrückt werden
würde. Ferner sei an den Weinbau erinnert, eine Quelle größten Wohlstandes
heute, 1869 aber noch kümmerlich unter dem Wettbewerb der billigen französischen
Weine. '
Diese Entwicklung aller Kräfte führte dazu, daß sich Wohlstand und Kultur
eit 1870 bedeutend gehoben haben. Die Vetnebslänge der Eisenbahnen wuchs;
le'Zahl der Postanstalten vermehrte sich; die Städte dehnten sich aus — Stra߬
burg hat seine Einwohnerzahl verdoppelt —; die Zahl der Schulen stieg auf das
Dreifache; die Universität wurde eine der besuchtesten Deutschlands usw. Wohin
man blickt, haben die Verbindungen mit dem großen deutschen Markt und die
über alle Welt gespannten Beziehungen Deutschlands lebend und befruchtend auf
alle Gebiete der Wirtschaft in Elsaß-Lothringen gewirkt. Daß das politische Leben
Deutschlands nicht ebenso günstig wirkte, lag eben daran, daß der politische Markt
noch nicht eröffnet war; heute ist er es.
Würde die Neutralität oder der Anschluß an Frankreich eine ähnlich gedeihliche
Zukunft gewährleisten? In nächster Nachbarschaft zum deutsch-lothringischen Eisenerz¬
gebiet liegt das französische Eisenerzlager von Briey undLongwy, in dem sich vor dem
Kriege der größte Teil der französischen Schwerindustrie befand. Wir hatten früher
gehofft, daß bei der Schaffung eines besseren Grenzschutzes für unsere Eisenwerk¬
stätte an der Grenze auch diese wichtigen Lager mit zu Deutschland kämen, wo¬
hin ihre Verkehrslage sie auch hinweist. Diese Hoffnungen sind verflogen. Heute
müssen wir darüber nachsinnen, ob durch die Nentralisierung oder Annexion Elsaß-
Lothringens uns die wichtigste Bezugsquelle unserer Eisenerze nicht verschlossen
würde. Die Annexion Elsaß-Lothringens durch Frankreich aus politischen
Gründen dürste wirtschaftlich für das Land wahrscheinlich Verkümmerung seiner
Kräfte bedeuten, da Frankreich für, eine Verwertung sowohl der Erze wie der
bedeutenden Roheisenerzeugung Lothringens nicht leistungsfähig genug ist. Die
lothringischen Hütten find groß geworden durch die deutsche eisenverarbeitende
Industrie. Im Falle der Neutralität würden zweifellos die engen wirtschaft¬
lichen Beziehungen mit Deutschland bestehen bleiben. Für die deutsche Industrie
waren die lothringischen Erze unentbehrliche Vorbedingung der Entwicklung.
300 Hochöfen verarbeiten das lothringische Erz; 20 Millionen Tonnen Roheisen
gewinnen wir jährlich daraus. ' Würde das deutsch-lothringische Erzlager von
Frankreich annektiert, so müßte es den Wettbewerb mit Briey und Longwy auf¬
nehmen. In Briey und Longwy liegt der bessere Teil der lothringischen Minette.
Die Erze haben einen größeren Eisengehalt, durchschnittlich 35 Prozent, während
die in Deutsch-Lothringen nur 26—30 Prozent enthalten. Dementsprechend wäre
zu erwarten, daß Elsaß-Lothringen an Bedeutung verlieren würde, da für Frank¬
reich die Erze von Briey und Longwy wertvoller sind. Es kommt aber weiterhin
noch hinzu, daß Frankreich im Begriffe ist, den Standort seiner Schwerindustrie
zu wechseln, indem es die von deutschen Unternehmern erschlossenen hochwertigen
normannischen Erze, die Erze von durchschnittlich 45 Prozent enthalten.' immer stärker
ausgebeutet und während des Krieges seine Rüstungsindustrie darauf aufgebaut hat.
Dadurch verlierendielothringischenErzlagervielvonihrerfrüherenBedeutung. Wo will
Frankreich überhaupt mit seinem großen Erzreichtum hin? Das kohlenarme Frankreich,
das bisher auf deutschen Koth angewiesen war! Das volkarme Frankreich, dein es
an Arbeitskräften fehlt! Frankreich, dessen Roheisenerzeugung 1913 nur 5 Mil¬
lionen Tonnen betrug! Will Frankreich auf diesem Schatz als Monopolhüter
sitzen, um sich als Eroberer die Rente der Arbeiterschaft des unterlegenen Deutschland
zahlen zu lassen? Man sieht, eine wirtschaftliche Annäherung Elsaß-Lothringens
an Frankreich widerspricht allen Vorbedingungen. Es liegen vielmehr zwingende
Gründe dafür vor, daß Elsaß-Lothringen sich auf seine wirtschaftlichen Lebens-
bedingungen besinnen wird. Diese Klärung seines politischen Strebens wird sich
um so leichter vollziehen, weil es nunmehr ein demokratisches Reich neben sich
weiß, das ihm auch politische Freiheit und Entwicklung bietet. Für die „Gloire",
für die Frankreich manchen Elsässer und Lothringer so sehr zu begeistern wußte,
bietet ihm jetzt ein Volk von 80 Millionen Vertrauen und eine lebensvolle Zukunft
an. lO Millionen deutsche Arbeiter mit Weib und Kind erwarten mit Spannung
die Entscheidung, die in Elsaß-Lothringen über ihre Lebensbedingungen gefällt wird.
Der Abgeordnete Huc sagte schon am 18. Februar 1916: „Es führt mich
dazu, vom Standpunkt eines Arbeitervertreters, der mitten in der Montanindustrie
steht, mit besonderem Nachdruck zu betonen, daß, wenn das elsaß-Iothringische
Land vom Deutschen Reiche getrennt würde, dies für die Eisen- und Stahl¬
industrie und auch für die Bergwerksindustrie, die mit ihren verwandten Industrien
mehrere Millionen Arbeiter beschäftigen, einen, man möchte sagen, tätlichen Schlag
bedeuten würde."
Die Dämme, die man nach dem bisherigen System den politischen Strö¬
mungen in Elsaß-Lothringen entgegengesetzt hat, sind hinweggespült', ebenso
werden künftige politische Schranken, die unter dem Eindruck der jetzigen politischen
Wahrheit geschaffen werden, von den wirtschaftlichen Triebkräften zerbrochen werden.
Vor
hundert Jahren, als ein Zeitalter schwerer
Kriege auch im Innern der Staaten den
Übergang zum Konstitutionalismus auflöste,
wurde durch Anhänger des Alten, die Le-
gitimisten mit und ohne „Recht", das Dogma
vom monarchischen Prinzip in die Debatte
geworfen, das die ersten Regungen der sich
mündig fühlenden Volker in Fesseln schlagen
sollte. Auch nach Einführung von Ver¬
fassungen — so hiesz es — vereinige sich die
gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des
Staates wie zur Zeit des Absolutismus, und
nur in der Ausübung bestimmter Rechte seien
die Stände oder was sie allmählich wurden,
die Volksvertretungen, kraft monarchischer
Oktroyierung an dieser Staatsgewalt beteiligt.
Wo — wie in Preußen — dieses Dogma
nicht von der Verfassung zum Ausdruck ge¬
bracht war, wurde es durch Widerbelebung
absolutistischer Rechtskodifikationen - Z1II13
des Allgemeinen Landrechtes von 17S4 —
gewissermaßen in jene hineinprojiziert. Von
den Einzelstaaten ging eS auf die „Verbün¬
deten Regierungen" des geeinten Reiches über
und zeigte sich in der Vorrangstellung des
monarchisch-herrschaftlich organisierten Bundes¬
rath gegenüber dem Reichstag. Bismarck
und „sein alter Herr", dessen Denkweise
jenes Dogma durchaus entsprach, haben den
Grundsatz des Persönlichen Regiments in dem
berühmten Erlaß vom 4. Januar 1832 aufs
neue scharf formuliert, und bis zur Gegen¬
wart ragte die monarchische Souveränität
als ein roclisr ete bones in die so gänz¬
lich veränderte Welt, konnte es geschehen, daß
uns Juristen belehrten: im Zweifclsfalle sei
dem Geiste jenes Rechtes aus dem achtzehnten
Jahrhundert der Vorzug zu geben vor dem
Geist der Verf«ssung und moderner Wissen¬
schaft. Gab es doch selbst unter den Ver¬
tretern dieser Wissenschaft bekannte Namen,
die vom Katheder das Gottesgnadentum der
Monarchie, die Identität von Herrscher und
Staat, das Volk als Objekt der Herrschaft
ihren Hörern darstellten.
Der Ausgang des gegenwärtigen Krieges
bedeutet, zugleich mit einer neuen Emanzi¬
pation des genossenschaftlichen Willens, das
Ende des' monarchischen Prinzips im Sinne
der Restaurationszeit.' Der Volksstaat von
heute hat keinen Platz für die Ansprüche des
iure ctivmo-Königtums; nicht jenes Dogma
der Reaktion, sondern der Satz Thiers:, l^e
roi röMie, mais it ne Avuverno pas steht
künftig am Throne der deutschen Monarchie.
Ein tragischer Ausgang, wenn man auf ihre
glänzende Vergangenheit zurückblickt, aber
ein notwendiger, wiewohl durch die Einflüsse
der äußeren Politik vielleicht allzu beschleu¬
nigter Ausgang. Denn nur einem bewußt
oder von Natur kurzsichtigen Auge kann doch
verborgen bleiben, wie sich das Heute mit
zwingender Notwendigkeit aus dem Gestern
und Ehegestern entwickelt-hat. Es handelt
sich bei unserer Verfassungsänderung um
den Prozeß eines natürlichen Wachstums,
dessen einzelne Etappen man deutlich ver¬
folgen kann — wir erinnern nur an die
Vorgänge bei Vülows Abschied und die
parlamentarischen Ereignisse im Jahre 1917.
Wenn die vollendeten Tatsachen den Zeit¬
genossen allzu Plötzlich und unvermittelt
erscheinen, so nur darum, weil die vorauf¬
gehenden Entwicklungsstadien gleichsam unter
der Oberfläche sich vollzogen und der schlie߬
lich« Durchbruch dann allerdings jäh und wie
im Augenblicke erfolgt. Dabei soll das trei¬
bende Moment der allgemeinen Weltlage gar
nicht geleugnet werden. Aber wer sich über
die Kniebeuge vor Wilson aufregt, möge doch
billigerweise bedenken, daß dieser Zusammen¬
hang zwischen innerer und äußerer Politik
kein Patengeschenk des deutschen Parlamen¬
tarismus ist, sondern von jeher und überall
Gesetz des staatlichen Lebens. Für das Zeit¬
alter der französischen Revolution sind solche
Beziehungen zwischen den militärischen Er¬
eignissen und der Lage in Paris von dem
heimischen Historiker Haulard ganz syste¬
matisch festgestellt worden. Auch aus un¬
serer Geschichte können wir den gleichen Zu¬
sammenhang nachweisen. Die Oktroyierung
der Preußischen Verfassung von 1848 War
nach einer begründeten historischen Lehr¬
meinung gedacht als Gegenschlag gegen die
Versuche der Erbkaiserlichen, den Staat Fried¬
rich Wilhelms des Vierten durch Übertragung
der Kaiserkrone an diesen Monarchen in
Deutschland aufgehen zu lassen. Und als
Bismarck 1367 das gleiche Wahlrecht „in die
Pfanne warf", da geschah dies nach seinen
eigenen ferneren Worten, um eine Waffe
im Kampfe gegen Österreich, im Kampfe für
die deutsche Einheit und zugleich, um eine
Drohung mit letzten Mitteln im Kampfe
gegen Koalitionen zu haben. Die Rücksicht
auf Wilson bestimmte unleugbar die Regie
der letzten Reichstagsverhandlung. Man er¬
wartet von der Unterstellung der Militär¬
gewalt unter die Zivilgewalt günstige Wir¬
kungen auf die Stimmung im Lager der
Entente. Mag sein, daß man sich täuscht.
Das eine aber sollten die empörten Kritiker
der Regierung nicht vergessen: die Reformen
vom 26. Oktober wie überhaupt der letzten
Zeit sind doch auch um innerpolitischer Rück¬
sichten willen unternommen und notwendig
gewesen. Sie wollen der „deutschen Einheit"
dienen wie Bismarck vor fünfzig Jahren und
im geraden Gegensatz zur preußisch - parti-
kularistischen Politik von 1848.
„Die Zeit schreitet unter Stürmen vor¬
wärts und es ist ein vergebliches Bemühen,
sie aufzuhalten". So schrieb einst Metternich
an den badischen Minister von Berstett.
Trotz dieser Erkenntnis hat er sich ihr immer
wieder cntgegengestemmt, bis die Revolution
von 1848 üver seinein Werke und Kopfe zu¬
sammenschlug. Wer. heute über den inneren
„Umsturz" klagt, wie die „Deutsche Tages¬
zeitung" anläßlich der Beschlüsse vom 26. Ok¬
tober und von Revolutionen redet, der sollte
ein Metternichs Wort und Schicksal denken. Die
Phrase vom Schattenkaisertum ist töricht. Wem
das höchste Erdenglück der Menschenkinder, die
Persönlichkeit gegeben war, der hat sich auch
unter eingeschränkten Befugnissen auf dem
Throne durchgesetzt, wem diese Persönlichkeit
versagt blieb, der blieb ein Instrument in
den Händen anderer auch dann, wenn ihm
die höchste Machtfülle durch die Staatsgewalt
gegeben war. Auch künftig kann unter solchen
Voraussetzungen — daS Beispiel Eduards des
Siebenten beweist es — wieder Wahrheit
Werden, was man von der kaiserlichen Ge¬
walt in der deutschen Verfassung bis zum
Weltkriege gesagthat, daß sie rechtlich weniger,
tatsächlich mehr als in früheren Jahrhunderten
bedeutete.
„lieMa, secZ «ein impera", rief im sieb¬
zehnten Jahrhundert ein Polnischer Magnat
seinem Könige zu. Möchte dieses Wort zum
Wahlspruch der Hohenzollern des zwanzigsten
Jahrhunderts werden, möchte er es noch
Hedda Gabler, die
Hysterische, wollte einst inSchönheit sterben,—
wir sterben in der Apotheose einer „Idee",
weil auch wir innerlich haltlos wurden. Hier
wie dort gibt's trotzdem keine Versöhnung,
denn der Tod ist realer als alles andere,
seine Schatten umdüstern Schönheit und Recht.
Europas Herz hat aufgehört zu schlagen!
Man bedenke: nach Abschluß dieses Krieges
gibt es keine Großmacht mehr auf dem euro¬
päischen Kontinent. Rußland sank dahin unter
den wuchtigen Schlägen des fiebernden Her¬
zens Europas, Frankreich trank das Gift seines
Todes, Osterreich zerfiel, weil kein warmes
Blut mehr durch seine Glieder rann. DaS
Angelsachsentum mit seinem außereuropäischen
Schwergewicht regiert die Welt. „Völker
Europas, wahrt eure heiligsten Güter!" so
sprach einst der, dessen Wort jetzt nicht mehr
gilt. Es war zu spät. Das Geschick hat
sich erfüllt.
Man sollte meinen, daß die Schauer des
Todes über Europas > blutgetränkte Erde
gehen, daß ein Klageruf ohne Gleichen die
Luft durchdringt —, aber nein, wir hören
Jubelklänge! die ententefreundlichen Neu¬
tralen Europas frohlocken in der eigenen
Sterbestunde und im Taumel absoluter Ver-
ständnislosigkeit für die Weltwende bejubeln
junge Völker ihre „Freiheit" und recken ihre
ungefügen Glieder. Und das Herzland selbst?
Es ächzt und stöhnt in seinen besten Söhnen
und Töchtern, aber mißtönig gellt das Wort
der Überlingen: „Wir haben es kommen sehen,
wir haben eS immer gesagt!" Schmach über
sie, die so, sich selbst unbewußt, zur Schuld
bekennen, denn sie und niemand anderes
unterhöhlten das Vertrauen. Glauben sie
denn wirklich, daß es in Deutschland einen
Menschen gab, der nicht in namenloser Angst
die Möglichkeit des Siegs der anderen ins
Auge faßte, der nicht die ungeheure Über¬
macht in Rechnung zog? Aber das wußten
die Beherzten: führen wir Krieg, so müssen
wir an die Möglichkeit der Selbstbehauptung
glauben, und ein siebzigmillionenfachcr Glaube
verbürgt den Sieg. „Seid einig, denn die
Deutschen sind unbesiegbar, wenn sie einig
sind!" so sprach zum anderen Male der,
dessen Wort jetzt nicht mehr gilt. Auch hier
umsonst! Uneinig wurden wir, ach, schon
so bald nach Kriegsbeginn. Zunächst dachten
wir nur daran, uns unserer Haut zu wehren,
aber die überraschende Entwicklung der Kriegs¬
lage trieb dahin, daß wir uns um des Kaisers
Bart, um Kriegsziele zu streiten begannen.
Schon dieser Streit beweist, daß wir den
Krieg nicht haben wollen können, denn wenn
vor dem Kriege das Bild reicherer Lebens¬
möglichkeiten, die mit der Waffe zu erobern
wären, auch nur in ungefähren Umrissen im
Volke gelebt hätte, wir hätten uns nicht
mitten im blutigen Tanze in unfruchtbarem
Gezänke aufgerieben.
Warum diese Erschütterung der Heimat¬
front? so fragen wir heute, da auch der Be¬
scheidenste unter uns sein Kriegsziel begrub.
War es wirklich klug von den Überlingen,
das Feuer derer zu dämpfen, die im Sieges¬
rausch nach Früchten griffen, die zu hoch
hingen? Heute weiß jedes Kind, daß die
Freunde des Verzichts und der Versöhnung
sich ja selbst in der gleichen Lage befanden,
sofern sie Unversehrtheit des Reichsgebietes —
und das war doch ihre Forderung — ins
Auge faßten. Die Wirkung nach außen?
„Deutschland hat gesiegt, wenn es nicht be¬
siegt ist", hat Balfour gesagt und damit die
Selbstbehauptung Deutschlands in seinen alten
Grenzen nicht als berechtigt gelten lassen
wollen. ES war gleich, ob wir Belgien be¬
gehrten oder keine Annexionen machen zu
wollen beschworen. Kein Friedensangebot
konnte wirken, solange es nicht Selbstver-
nichtung in sich schloß. Hat man dies bei
uns wirklich nicht gewußt, obgleich die Staats¬
männer der Gegner immer wieder freimütig
ihren Vernichtungswillen bekundeten? Und
wenn man das wußte, warum gab man
jenes Stichwort des „Verzichtes" aus? Liegt
es nicht nahe, hier den Versuch zu vermuten,
psychisch auf die breiten Massen zu wirken?
„Wir kämpfen nicht um Eroberungen willen!"
Wie schön klingt das, wie sittlich rein! Wie
hoch steht man über dem, der einen errungenen
Vorteil nutzen möchte. Wer aber trotz des
besseren Wissens, daß unser Kriegsziel in
jedem Falle den Entschluß des Feindes durch¬
kreuzt, in solchen Zeiten mit solchen Mitteln
auf breite Massen wirken will, braucht sie zu
eigenen Zwecken. Und sind diese Zwecke nicht
auf innerpolitischem Gebiet zu suchen? Wurde
nicht von den gleichen Kreisen, die „altdeutsche"
KriegSziele bekämpften, die Agitation sür die
Durchführung des gleichen Wahlrechtes in
Preußen mitten in: Daseinskampf der Nation
betrieben, die notwendig aufs neue die innere
Front erschüttern mußte? Waren nicht die¬
jenigen im Recht, welche das deutsche Volk
beschworen, die Kräfte nicht zu verzetteln,
alle Gedanken auf die Erhaltung des Reiches
zu richten, nur gegen den äußeren Feind zu
stürmen, gleichviel, wie die Kriegsziele formu¬
liert wurden, wenn sie nur Sieg bedeuteten?
In' Heft 30 der „Glocke" verwahrt Ernst
Hellmann die Demokratie dagegen, daß an
ihr der Ludergeruch der Niederlage hafte,
denn sie habe nichts getan, um sie herbeizu¬
führen, sie trage an ihr nicht die geringste
Schuld. Gewiß, unter den Tapferen draußen,
die der wahre Offensivgeist beseelte, mag es
gleich viel Linke als Rechte gegeben haben,
aber drinnen im Lande gab es eine Schei¬
dung. Hier war der Offensivgeist ausschlie߬
lich bei der Linken — sofern er nicht dem
äußeren Feinde galt. So und nur so ist
es zu verstehen, wenn mit der siegreichen
„Volksregierung" Mißtrauen und Groll gegen
sie aus der Taufe gehoben wurden, denn sie
ist das Produkt jener Kräfte, die in der
Tiefe brodelten und die eindeutig bestimmte
Willensrichtung des Volkes verspritzten. So
wie die Dinge heute liegen, bleibt freilich
nichts weiter übrig, als erbarmungslos die
Konsequenzen zu ziehen. Geschehenes läßt
sich nicht ungeschehen machen. Nur um der
Wahrheit die Ehre zu geben, muß festgestellt
werden, daß Deutschland wie vor dreihun¬
dert Jahren an seiner Uneinigkeit zugrunde
geht. Sie erscheint immer wieder in neuer
Form als unheilbarer Fluch, der auf uns
lastet. Diesmal nahte der Versucher in der
Maske des „innerpolitischen Fortschritts"
Aus dem Jahresbericht deS Verbandes
der polnischen Frauen-Bildungsvcrcine im
Deutschen Reiche für 1917. („Zjednoczenie"
sPosenZ Ur. 9 vom 1. September 1918):
Die Tätigkeit des Verbandes hat sich in diesem
Jahre trotz der verschiedensten Schwierigkeiten
nicht vermindert. Sie hat im Gegenteil im
Vergleich zu der Tätigkeit in den vorher¬
gehenden Kriegsjahren sichtbar zugenommen.
Das beweist die nachstehende Berichterstattung.
Die numerische Stärke des Verbandes. Am
Ende des Jahres 1916 gehörten dem Ver¬
bände 33 Vereine an. Sie zählten insgesamt
29L0 Mitglieder. - Im Laufe des Jahres
1916 wurden auf Anregung und mit Unter¬
stützung des Hauptvorstandes des Verbandes
zwei neue Vereine ins Leben gerufen, näm¬
lich: 1. in Stralkowo (dieser Verein zählt
7V Mitglieder) und 2. in Jarotschin (86 Mit¬
glieder). Nach den uns zugesandten Berichten
Äer einzelnen Vereine gehörten also dem Ver-
bande am 31. Dezember 1917 35 Vereine
an. Sie zählten zusammen 3862 Mitglieder.
^ Das Verbandsorgan „Zjednoczenie" er¬
schien im Jahre 1917 regelmäßig monatlich
in dem bisherigen Umfange (3 Seiten stark).
DaS Original wurde in 3000 Exemplaren
gedruckt. — Kassenbericht 'für die Zeit vom
1. Januar 1917 bis zum 31. Dezember 1917:
ES wurden für das Jahr 1918 1622,16 Mark
überwiesen. — Das Vereinsleben hat im
Jahre 1917 sichtbar zugenommen. Auf jeden
Verein entfielen nämlich in diesem Jahre
durchschnittlich 10 Versammlungen. In diesen
Versammlungen wurden zusammen 234 Vor¬
träge oder Vorlesungen gehalten, im Jahre
1916 dagegen nur 14S. — Zwecks Infor¬
mierung teilen wir hier die Themen einiger
dieser Vorträge mit: Kosciuszko ein Symbol
des Polentums. — Die Kultur ein Schatz
der Völker. — Die traurigen Zustände zur
Zeit Skargas. — Die polnische Frau im
nationalen Leben. — Das polnische Haus
und dessen Bedeutung. — Polnische Frauen,
die sich um Polen verdient gemacht haben. —
Eine kurze Skizze der Geschichte Preußens
und des Deutschen Reiches, sowie der wich¬
tigsten Grundsätze der Verfassung dieser beiden
Staaten. Die Ideale Kosciuszkos. — Die
neuen Probleme der Frauenbewegung. —
Die Erziehung der Kinder im Elicrnhause
vor dem Eintritt in die Schule. — Die Frau
in ihrem Verhältnis zur Volksgemeinschaft
und zur Kirche. — Welche Bedeutung hat
für uns Heinrich Sienkiewicz?
Der überwiegende Teil unserer Vereine
besitzt eigene Bibliotheken.
Aus dem Jahresberichte der Verlmnds-
lmn! der Polnischen Erwerbsgenossenschaften
für 1917 (nach dem „Dziennik Poznanski"
Ur.211 vom 14. September): Das Jahr 1917
war für die Entwicklung der Bank sehr wichtig.
Während nämlich im Jahre 1916 das Aktien¬
kapital der Bank nur 6 Millionen Mark be¬
trug, ist es im Jahre 1917 auf 24 Millionen
Mark gestiegen. Es wurden nämlich im Laufe
dieses Jahres zwei neue Emissionen unserer
Bankaktien zu je 9 Millionen durchgeführt.
Auf diese Weise ist die Bank in die Reihe der
mittleren Aktienbanken getreten. Die beiden
neuen Emissionen mußten schon vor der be¬
stimmten Frist geschlossen werden, da die Nach¬
frage nach den neuen Aktien eine übermäßige
war. — Der Umsatz der Bank betrug im
Jahre 1917 1075 958 738,78 Mark. Er über-
schritt also in diesem Jahre zum ersten Male
die Summe von 1 Milliarde Mark. — Die
Bilanz der Bank wies am 31. Dezember 1916
die Summe-von 134169 130,26 Mark auf.
Sie ist bis, zum 31. Dezember 1917 auf
201264 509,64 Mark gestiegen. — Die De¬
positen haben sich bedeutend vermehrt. Sie
betrugen am 31. Dezember 1917 zusammen
162 829 859 Mark. Sie sind also im Laufe
des Jahres 1917 im Verhältnis zu den De¬
positen im Jahre 191S um 50143 341,92 Mark
gestiegen. Diese Summe der Depositen be¬
weist am besten, wie notwendig es war, das
Aktienkapital durch zwei neue Emissionen zu
erhöhen. Gleichzeitig liefert diese Summe aber
auch einen Beweis dafür, daß dieses erst vor
kurzem erhöhte Aktienkapital immer noch nicht
ausreichend ist angesichts der übermäßigen An¬
häufung fremder Kapitalien. Diese Kapitalien
verhalten sich nämlich zum Aktienkapital der
Bank wie 6:1. Die bedeutenden Vorräte an
barem Gelde, die sowohl von den Erwerbs¬
genossenschaften als auch von Privatpersonen
in unserer Bank niedergelegt wurden, haben
wir zum Teil in Kreditgeschäften, hauptsächlich
aber in den ersten und größten Berliner Banken
untergebracht, und zwar in der Weise, daß
wir fast alle diese Vorräte, wenn unsere
Kundschaft sie etwa Plötzlich und unverhofft
zurückverlangen sollte, innerhalb 24 Stunden
zurückerhalten können. Die Liquidität unserer
Bank ist also geradezu musterhaft. — Der
Kreditverkehr mit den Erwerbsgenossenschaften
war im allgemeinen sehr gering. Dazu haben
dieselben Erscheinungen beigetragen, wie in
den vorhergehenden Kriegsjahren, nämlich
das Übermaß an eigenen Kapitalien und der
Mangel an vorteilhaftenTranSaktionen. Sonst
war der Kreditverkehr außerhalb der Erwerbs¬
genossenschaften in diesem Jahre schon etwas
lebhafter. Vor allem wurde Kredit von der
Bank gewahrt großen Kommunen im König¬
reich Polen, in Galizien und in Deutschland.
Außerdem wurden bedeutende Darlehen an
Privatpersonen, große Bankinstitute und Zucker¬
fabriken im Königreich Polen gegeben, und
zwar gegen Hypotheken-Unterlagen, Lombar¬
dierung von Effekten oder Unterschriften
leistungsfähiger Personen. — Der Effekten¬
verkehr hat sich in dem Berichtsjahre wieder¬
um bedeutend gesteigert. Die Bank hatte
gegen Ende deS Jahres 1916 für 4719741,97
Mark Effekten. Am Ende des Jahres 1917
betrug die Summe der Effekten 4930757,11
Mark, Mitte Februar 1918 hatte die Bank
jedoch nur noch für 1500000 Mark Effekten.
— Infolge der Erhöhung deS Aktienkapitals
konnte selbstverständlich auch das Arbeitsfeld
der Bank erweitert werden. Die Bank hat
schon früher verschiedene Handels- und In¬
dustrieanlagen mit ihrer eigenen Initiative
und mit ihren Kapitalien ausgeholfen. Sie
war auch in diesem Jahre in dieser Richtung
tätig, indem sie mit Hilfe ihrer Kapitalien
verschiedene industrielle Unternehmungen schuf
bezw. erweiterte. Die Bank verkaufte weiter
Aktien und Anteile der von ihr gegründeten
Gesellschaften, wenn diese sich auf eine gesunde
Grundlage stützten und Aussicht hatten, zu
prosperieren. Die Summe der gemeinsamen
Aktien, über welche die Bank gegen Ende 1917
verfügte, betrug 702628,38 Mark. — Die
Verwaltungskosten haben sich (deshalb) im
Verhältnis zum Jahre 1916 im ganzen um
231944,95 Mark gesteigert. Sie werden sich
ebenfalls in Zukunft ständig steigern müssen,
sobald die neuen Filialen, die die Bank in
Kürze zu errichten beabsichtigt, in Tätigkeit
getreten sind. Eine solche Filiale wurde von
der Bank in: verflossenen Zähre in Warschau
gegründet. Diese Filiale berechtigt zu den
besten Hoffnungen. Sie wurde erst Ende 1917
eröffnet. Anfangs konnte man allerdings
nicht erwarten, daß sie irgendeinen Gewinn
abwerfen werde, denn die Kosten der Ein¬
richtung waren sehr bedeutend. Wir dürfen
uns aber der Hoffnung hingeben, daß sie sich
schon in diesem Jahre (1918) rentieren wird.
— Außerdem besitzt die Bank bereits eine
Filiale in Thorn. Diese Filiale entwickelt
sich günstig. Sie hatte trotz des Stillstandes
im Kreditverkehr einen Reingewinn von
24077,18 Mark erzielt. — Das Ergebnis
der Tätigkeit der Bank im Jahre 1917 ist
zu ersehen aus dem Debet- und Kreditkonio,
das mit der Summe von 3364387 Mark
abschließt. Die Bank hatte im Jahre 1917
einen Reingewinn von 146145S Mark. —
Auf Grund dieses Reingewinns konnte in
diesem Jahre auch die übliche Dividende von
6 Prozent bewilligt werden. Außerdem konnte
beinahe eine halbe Million Mark dem Reserve¬
fonds überwiesen werden. Von dieser Summe
mußten jedoch noch 266 0V0 Mark für die
Kriegssteuer abgesetzt werden in Gemäßheit
des § 2 des Gesetzes vom 9. April 1917
über die Sicherung der weiteren Kriegssteuer.
— In den nächsten Monaten wird die Bank
noch zwei neue Filialen eröffnen, nämlich in
Danzig und in Ludim. Die erforderlichen
Konzessionen hat die Bank bereits von den
Zur Sicherstellung der Technischen Hochschule. Soeben ist ein Buch erschienen,
das verdient, über die Kreise der technischen Wissenschaft hinaus Beachtung zu
finden. Der Titel des Buches lautet: „Berufsschutz" und „Freie Bahn den
Tüchtigen". Zeitgemäße Betrachtungen zur Berufswahl für Ingenieure.
Von Dr. A. Riedler, Königl. Geh. Regierungsrat und Professor an der Königl.
Technischen Hochschule zu Berlin, Mitglieo des Herrenhauses M. Krayn, Verlags¬
buchhandlung, Berlin 1918; geheftet 1,50 Mary.
Wer die geistvollen Nektoratsreden und Schriften dieses international be¬
kannten Technikers kennt, wird nur bedauern, daß er volle zehn Jahre zu den
allgemeinen Fragen der Technik nicht mehr das Wort ergriffen hat. Um so dankens¬
werter ist es, daß er nunmehr den Schatz seiner reichen Erfahrungen in bezug auf
eine der wichtigsten Fragen, die die akademischen Berufsvereine der Techniker heute
berühren, weiteren Kreisen zugänglich macht.
An Hand eines reichen Materials stellt Riedler fest, daß die Absolventen
unserer Technischen Hochschulen in der Industrie sozial und materiell nicht anders
gestellt sind als die Absolventen der elementaren und mittleren technischen Fach¬
schulen. Das bedeutet ein Mißverhältnis zwischen Aufwand und Wertung. Die
Folge dieses Zustandes wird sein, daß sich tüchtige Köpfe fortab anderen akade¬
mischen Berufen zuwenden werden, in denen geordnete Rechtsverhältnisse bestehen.
Alsdann wird die Industrie lediglich auf nicht hochschulmäßig gebildete Kräfte
angewiesen sein und die Hochschule wird lediglich höhere technische Staatsbeamte
auszubilden haben, deren Zahl jedoch so verschwindend ist. daß ein gesonderter
Hochschulbetrieb nicht rentiert. Das Folgenschwerste'wäre aber, daß der Industrie
der technisch-fortschrittliche Impuls und der überlegene Blick, den wissenschaftliche
Schulung gewährt, "abhanden kommt. Das muß verhindert werden. Die Lösung
des Problems findet Riedler darin, daß die Rechtsordnung den Trägern des
höher«n technischen Berufes dieselbe Stellung einräumt wie den Angehörigen der
anderen maßgebenden akademischen Berufe. , .
Der studierte Heilkundige erfreut sich der eindeutigen und geschützten Be-
rufsbezeichnung „Arzt", außerdem der öffentlich-rechtlichen Verufsvertretung in
Form von Kammern. Dasselbe trifft für den send/er en Vertreter der freien
Rechtspflege zu, den „Anwalt". Der studierte Techniker erfreut sich weder einer
eindeutigen Berufsbezeichnung noch öffentlich-rechtlicher Verufsvertreiungen. Darin
liegt die Wurzel alles Übels. Gewiß besitzt der studierte Techniker die gesetzlich
geschützte Berufsbezeichnung „Diplom-Ingenieur". Dieser Schutz ist aber durch¬
aus ungenügend, weil „Diplom" nichts besagt und „Ingenieur" auch von dem
Nichtfachmann geführt werden darf. Es ist hier so, als würde man den studierten
Heilkundigen mit „Diplom-Arzt" abfinden und „Arzt" freigeben, so daß sich auch
jeder Kurpfuscher so nennen könnte. Riedler verlangt deshalb, daß „Diplom-
Ingenieur" ersetzt werde durch „Ingenieur" kurzweg.
Daneben sind den akademisch gebildeten Technikern öffentlich-rechtliche Ver¬
tretungen, Jngeuieurkammern, zu geben.
Auf diese Weise, insbesondere durch Übertragung gewisser behördlicher Be¬
fugnisse an die akademisch gebildeten Privattechniker, wird insbesondere daS
selbständige Element, das wir in der Technik heute so gut wie ganz vermissen,
gefördert- die akademischen Techniker werden zu wichtigen Mitarbeitern in den
Parlamenten und auf sonstigen Gebieten des öffentlichen Lebens, der Stand als
solcher zu einem — auch in sozialer Beziehung höchst schätzenswerten — Binde¬
glied des staatlichen Aufbaues.'
Die Riedlerschen Vorschläge verdienen die höchste Beachtung seitens der
maßgebenden Politiker und Staatsmänner. Ihre Verwirklichung ist ein dringendes
Gebot, soll der Industrie der unerläßliche wissenschaftliche Nachwuchs sichergestellt
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rückscnduna
nicht verbürgt werden kann.
An ist es so weit. Was wir, die wir Osterreich kannten, seit
Jahren voraussagten, was wir seit Anfang des Krieges
befürchteten, ist eingetreten. Deutschland begann, abseits von aller
Politik, an der Seite eines nicht mehr lebensfähigen Staates, der
längst seinen Schwerpunkt nicht mehr in sich selbst hatte, den Krieg,
ohne von diesem Staat und von seinen Völkern mehr zu wissen,
als was ihm die amtliche österreichische Wissenschaft zu wissen gönnte. Diese
Wissenschaft aber kannte durch den ganzen Krieg hindurch nur ein Ziel: die
nationalen Schwierigkeiten der Monarchie nicht nur den Feinden, sondern auch
dem Bundesgenossen zu leugnen, nicht nur aus zwingenden politischen Gründen,
sondern auch aus jenem Geist der offiziellen schwarzgelben Bureaukratie heraus,
der noch ein Erbe aus Metternichs Zeiten bedeutet. Wir hätten den Krieg kaum
so begonnen und geführt, wenn unsere Verantwortlicher in den Ämtern und
unsere Parteien den Zustand der Monarchie auch nur einigermaßen gekannt
hätten. Keinesfalls hätte der verantwortliche Staatsmann vom Krieg zwischen
Germanen und Slawen faseln und 'dadurch den österreichischen Slawen ein
unersetzliches Agitationsmittel liefern können, wenn nicht die reichsdeutsche
Meinung diesen politischen Dilettantismus geduldet hätte. Die Ahnungslosigkeit
der reichsdeutsche« Politik gegenüber Österreich-Ungarn blieb dann während des
ganzen Krieges getreulich erhalten. Wir ließen uns ohne Skrupel von eben jener
!. u. k. Bureaukratie führen, die einzig und allein durch unsere militärische und
wirtschaftliche Hilfe ihr Leben fristete. Wir machten die reichsdeutsche Öffentlich¬
keit an tschechische Lohalitätskundgebungen glauben, die der unselige Fürst Thun
in Prag arrangiert hatte, und beleidigten mit unserer Ahnungslosigkeit das
deutsche Volk in Osterreich, aber auch das tschechische, dem wir eine solche Preis¬
gabe seiner Überzeugung zutrauten. 'Getreulich berichtete W. T. B., was das
K. K. Korr.-Bureau, das Werkzeug jener Bureaukratie, dichtete und skandalös
blieb die österreichische Berichterstattung des W. T. B. bis zu dem bittern Ende,
da der Wiener Pöbel dem Sondersriedenskaiser Karl in der Hofburg zujubelte
und W. T. B. die 'ergreifende Szene in 'demselben schönen Stile schilderte, in dem
es seinerzeit die Prager Ausbrüche von tschechischen Patriotismus geschildert hat.
Wir gingen mit der von den österreichischen Völkern verfluchten k. k.
Negierungspraxis vier Jahre lang durch Dick und Dünn. Wir gestatteten nicht,
daß die deutschen Zeitungen Dinge druckten, die der österreichischen Regierung
nicht genehm waren, indes die Wiener Sensationspresse von Beschimpfungen
Deutschlands voll war. So erfuhr zwar das feindliche Ausland durch tschechische
Emissäre genau, wie es um die Gesinnung der nichtdeutschen in Osterreich stand,
aber die reichsdeutsche Öffentlichkeit blieb ahnungslos auch auf diesem wichtig-
sten Gebiete der äußeren Politik. Ohne Widerspruch der reichsdeutschen Öffent¬
lichkeit und der Parteien gewährten wir immer wieder militärische Hilfe, ohne
uns im geringsten gegen die innerpolitischen österreichischen Entwicklungen, die
ausschliesslich gegen das Bündnis gerichtet waren, zu sichern. Wir schützten Ungarn
in den Karpathen, Osterreich vor Luzk, Trieft am Jsonzo und das österreichische
Wirtschaftsleben durch immer neue Beihilfen. Wir ließen Zeiten nutzlos ver¬
streichen, in denen die besten Altösterreicher sehnlich eine- ordnende Hand, und
wenn sie selbst aus Deutschland käme, herbeiwünschten. Wir ließen uns von
Czernin, einem der raffiniertesten Intriganten dieses Weltkrieges, dem hoffentlich
letzten echten Mettermch-Schüler, an der Nase herumführen, und niemand fand
an der Politik unseres Auswärtigen Amtes, die auf keinem Gebiete hilfloser war
als auf dem Gebiete des Bündnisses, etwas Wesentliches auszusetzen. Durch
unsere Beihilfen stützten wir immer nur den österreichischen Gesamtstaat und
damit auch dessen gegen uns gerichtete und im Dienste des Feindes arbeitende
Kräfte, statt amtlich die Kreise zu fördern, die das Bündnis wirklich trugen und
auf unserer Seite standen. Nicht die Unfähigkeit zur Organisation hat Osterreich
in jene Ernährungs- und politischen Schwierigkeiten gebracht, an denen es zu¬
grunde geht, sondern eine bewußte passive Resistenz, die, von ganz oben ausgehend-
und von den nichtdeutschen betrieben, den Krieg sabotierte, ohne ihn beenden zu
können. Seit dem Zusammenbruch der Russen, seitdem also die für Osterreich
dringendste Gefahr abgewendet war, vor allem aber seit dem Regierungsantritt
Karls wurden unaufhörliche Versuche gemacht, das Bündnis zu lockern und für
die Monarchie andere Stützen zu suchen. Hatte sich die Krone aus Furcht vor
dem mächtigen deutschen Verbündeten und aus einer bis zum Persönlichen klein¬
lichen und lächerlichen Eifersucht immer wieder statt auf die ihr ergebenen
Deutschen auf die mit der Staatskraft Raubbau treibenden Slawen gestützt, fo ver¬
suchte man jetzt vollends, für den Fall des Sieges der Entente bei den Slawen
sich eine Zuflucht zu retten. Freilich trieb man diese ententistische Kronpolitik
auch wieder nur halb, so daß sie zwar zur Lockerung des Staatsgefüges, aber nicht
zur ersehnten Lostrennung von Deutschland führte, und die Amnestie hat dem
schwächlichen Dilettanten auf dem Throne weiter nichts eingetragen als den Hohn
der Begnadigten. Die Halbheit rächt sich durch sich selbst.
. In unseren Andern aber wurde diese Politik der Schwäche und Halbheit,
die uns die k. k. Regierungspraxis vorführte, getreulich und zu Zeiten fast
strebsam schülerhaft mitgemacht. Wer Einblick bekam, schauderte über den
Dilettantismus an Verantwortlicher Stellen. Bis in sehr kritische Zeiten hinein
wußte man von den Vorgängen bei den nichtdeutschen so gut wie nichts, heute
noch stehen auf Posten, die sür die amtliche Beurteilung der österreichischen Dinge
maßgebend sind, Leute, die nie längere Zeit in Österreich waren und die jedem
Zwischenträger.aufsitzen. Und bis zuletzt mühte sich ein Botschafter, der in den
Zeiten stärkster deutscher Machtfülle bei den wüstesten parlamentarischen
Beschimpfungen durch den Reichsrat und die Presse passiv blieb, durch höfische
und gesellschaftlcch-büreaukratische Veranstaltungen „das Bündnis" zu retten.
Wenn aus allen Gebieten unserer äußeren Politik die amtlichen Stellen so
arbeiten, wie sie es auf dem der österreichisch-ungarischen Fragen, nach dem
authentischen und gleichlautenden Urteil von allen, die Einblick nehmen konnten,
getan haben, dann hat freilich der Parlamentarismus seine Berechtigung nicht
früher erwiesen, als bis er mit dem dnrch und durch verrotteten System unseres
außenpolitischen Apparates laufgeräumt hat. Bis vor nicht allzu langer Zeit
war niemand vorhanden, der planmäßig und wirklich sachkundig die Presse der
Tschechen und Südslawen verfolgte. AIs man sich dann endlich dazu bequemte,
etwas besseres Verständnis für die Presse im Nachbarreiche anzustreben, ließ man
Leute sich mit -diesen Fragen beschäftigen, die nicht das geringste innere Ver¬
hältnis zu ihnen hatten und nach Schema F vorgingen. Von psychologisch sach¬
gerechter Einstellung auf die verschiedenen Strömungen in Osterreich, geschweige
denn in Deutschöfterreich, war keine Rede, zu ausgesprochenen Parteileuten
schickte man Unterhändler, die diesen als politische Gegenfüßler gelten mußten
und natürlich mit Mißtrauen aufgenommen wurden. Dabei hätte man Scharen
von freiwilligen Helfern zur Verfügung gehabt, jeder gebildete Deutsch¬
österreicher, der zugleich Teutschland kannte, und deren gab es doch wahrlich
genug, stand bedingungslos zur Verfügung. Wer immer aber mit den Zentral¬
stellen zu tun hatte, ging verschnupft wieder weg. Nur wer mit Titeln und einer
offiziellen Würde aufwarten konnte, hatte einige Aussicht, bis zu maßgebenderen
Leuten vorzudringen, die anderen, und wenn sie noch so nahe Fühlung mit den
wirklichen politischen Kräften hatten, wurden an nil minoruw, gsutlul«, gewiesen
und verloren bei irgendeinem gelangweilten und ahnungslosen Lencuionsrat
oder Vizekonsul ihre Zeit. So bannte man tatsächlich nur das k. k. Österreichs
und wer vor diesem warnte, erregte Mißtrauen. Man hatte nicht das geringste
Verständnis für jene Art deutsch-österreichischer Loyalität, der das Bündnis so
viel galt wie der Staat, und für die ein von Deutschland getrenntes Osterreich
kein Vaterland mehr bedeutete. Mau hatte nicht das geringste Verständnis dasür,
daß die Völker die treibenden Kräfte der österreichischen Politik waren, man
glaubte bis tief in den Krieg hinein an ein k. k. österreichisches Volk, von dem
man zur Not ein ungarisches unterschied. Man berief sich den Warnungen gegen¬
über auf die Loyalität der offiziellen Kreise und hatte, weil man deren Psychologie
und das so beziehungsreiche und uneinheitliche Leben in Osterreich nicht kannte,
nicht den geringsten Sinn für „Nuancen". Daß es zwischen unbedingter
Bündnistreue und nacktem Verrat eine unendliche Fülle von Abstufungen gab,
daß der Diplomat aus Metternichscher Schule viel virtuoser und viel liebens¬
würdiger lügen kann, als der meist sehr einfach konstruierte, trotz heißen
Bemühens im Lügen dilettantische deutsche Kollege, ja daß es eine besondere Art
von österreichischer Lüge gibt, die eigentlich keine ist, weil eben der k. k. Öster¬
reicher mehrere Seelen in seiner Brust hat, von denen eine an die andere nicht
glaubt — das wußte man nicht. So ließ man sich jahrelang von Leuten
düpieren, die, wie alle Eingeweihten wußten, Ententisten waren und bedenkliche
„Nuancen" der. Bundestreue sich gestatteten. Es gibt einen hohen Offizier in
halbdiplomatischer, jedenfalls politisch bedeutsamer Stellung, dem man trotz
aller Warnungen erst ganz zuletzt auf seine Schliche gekommen ist. Man gestattete
ohne Widerspruch, daß an reichsdeutschen Äußerungen so lange herumgedeutelt
wurde, bis sie geeignet waren, nicht nur eine gewisse gut bezahlte Wiener Presse
gegen Deutschland zu Hetzen, sondern sogar die tveuesten Bündnissreunde gegen
Teutschland mißtrauisch zu machen. Man scheute sich nicht, zu solchen Intrigen
den haltlosen Kaiser zu benutzen, der seinerseits von seinen „Nuancen" etwas
hinzugab. Fand man sich dank seiner Vertrauensseligkeit betrogen, so verfiel.man
in das plumpe Gegenteil: in verständnislosen Kasernenton. Nirgend hat sich die
Unfähigkeit der deutschen leitenden Kreise: die Menschen so zu nehmen, wie sie
sind, und nicht so sich zurecht zu machen, wie man sie haben möchte, bitterer
gerächt als in der Bündnispolitik. Ähnlich wie die Zentrale arbeitete die
Botschaft. Der frühere Botschafter Tschirschky hatte Wohl feineres Verständnis
für das österreichische Leben, war aber eine viel zu passive Natur und hatte ja
auch noch das Unglück, in einer Zeit zu .amtieren, in der man in Berlin besonders
harthörig und selbstsicher war. Sein Nachfolger hat gewiß guten Willen gehabt,
aber schon von Budapest -den Ruf eines nicht sehr überragenden Geistes mit¬
gebracht, den er in Wien durchaus nicht verbessert hat. Man sah in den beiden
letzten Jahren freilich die Unzulänglichkeit des Apparates ein und suchte da und
dort zu bessern. Aber an den Zentralstellen änderte sich nichts Wesentliches, die
Leute, die österreichisch-ungarische Fragen mit genau der technischen Selbst¬
sicherheit und sachlich kenntnislosen UMteiligtheit behandelten, wie etwa unsere
Beziehungen zu Paraguay, blieben in den maßgebenden Stellen, zu ihren
Helfern aber rückten Leute auf, die ihre Wahl reinem Zufall verdankten. Man
hatte nach wie vor äußerst unzulängliche Beziehungen zur Öffentlichkeit und
blieb in den Schranken jener Begriffe von Diplomatie, die eine wesentliche
Leistung vollbracht zu haben nlaubt, wenn sie iraendemen der jungen Leute mit
einem Politiker oder Journalisten, der leidliche Kinderstube hat, frühstücken läßt.
Die herrlichsten Gelegenheiten, sowohl mit dengemäßigtenElementenderunsfeind-
lichen Nationen wie mit den unbedingt tenth arm bündnistreuen Kreisen zu arbeiten,
die man auf diese Weise vor mancher Dummheit hätte wahren können, wurden,
versäumt. Alles, was geschehen mußte, um Mißverständnisse aufzuklären, die
planmäßige, aus sehr trüben Quellen gespeiste Deutschlandhetze gewisser Blätter
weniger schädlich zu mach en, die Kräfte der Deutschland freundlichen bündnistreuen
Presse zu stärken, geschah so zögernd und unentschlossen, so ungeschickt und ohne
Initiative, daß die Absichten oft schon vor ihrer Verwirklichung durch den aus¬
gebreiteten Wiener Klatsch gestört wurden. Der Hauptfehler freilich war und
blieb: daß man Wien, und zwar das offizielle Wien, das Wien der diplomatischen
Frühstücke und der «amtlichen Neuigkeiten für Osterreich ansah und von der
Provinz, sogar von Böhmen nur sehr wenig wußte. Die letzte Düpierung des
Botschafters durch den Bündnisbruch Andrafshs war nicht die erste. Noch, viel,
schlimmer aber war die Düpierung der amtlichen Politik überhaupt durch das
gänzlich unamtliche, weder in den Akten, noch bei gesellschaftlichen Veranstal¬
tungen vertretene Osterreich: durch die Völker.
Es wäre ungerecht, wenn man die Persönlichkeiten sür diese schweren.
Fehler allein verantwortlich machen wollte. Hat sie das ganze Volk zu büßen, so
hat sie, im Grunde genommen, auch das ganze Volk verschuldet. Die leitenden
Persönlichkeiten waren ja doch nur die Exponenten des Systems und dieses wieder
der Ausdruck der deutschen politischen Unreife. Unsere Diplomaten waren
typische Vertreter der deutschen Bildungsschichten, die während des Krieges alles
getan haben, um die Stimmung in Österreich-Ungarn nicht nur bei denen, die
dem Bündnis von vornherein feindlich waren, sondern auch bei den treuesten
Bündnisfreunden durch Verständnislosigkeit zu verderben. Von jener törichten
Gutgläubigkeit gegenüber dem „österreichischen Wunder" angefangen, hat man in
Deutschland unaufhörlich den Fehler begangen, von „den Österreichern" zu,
sprechen. Und nicht nur unsere Diplomaten vernachlässigten um einer hohl
gewordenen Form, um des Bündnisses mit der k. k. Negierung willen, den.
Inhalt: das Einvernehmen mit den erstarkenden Völkern/ Ganz Deutschland,
von sehr engen besser unterrichteten Kreisen abgesehen, wußte nichts von Völkern,
sondern war mit jenem sagenhaften k. k. österreichischen Volke verbündet. Dieses
lobten wir oder verdammten wir je nach dem Kriegsglück, ohne einen Unterschied
zwischen einem rumänischen Analphabeten, einem tschechischen Überläufer und
einem deutsch-böhmischen Volksbruder zu machen. Wir hatten keine Ahnung
davon, welche Leistungen der deutsch-österreichische Reserveoffizier und das
deutsch-österreichische Hinterland für den Krieg und für das Bündnis vollbrachten,,
welche unverhältnismäßig hohen Blutsopfer der Krieg von den Deutsch-
österreichler forderte, welche Vermögensopfer, die immer wieder dem Gesäme---
staute und dem Bündnis zugute kamen, und wie sie dafür schließlich mit der
Hungersnot gelohnt wurden. Daß wir uoch wemger von der Art und dem
Wachstum unserer gefährlichen Feinde, der österreichischen Slawen wußten, ist
hiernach leicht zu verstehen. Der Worwurf, daß es die Pflicht der Deulsch-
österreicher gewesen wäre, Deutschland besser zu unterrichten, gilt nicht, weil
Bestrebungen dieser Art bis heute wenig Verständnis finden. Und auch wenn er
gälte, wäre er töricht, wie die Klage jenes klugen Knaben: Geschieht meinem.
Bater schon recht, daß ich mir die Hände erfriere, warum kauft er nur keine
Handschuhe. Man hätte sehr viel von dem Schaden, den jene Völker unserer
Kriegführung, zufügten, abwenden können, wenn man ihre Ansprüche und Hoff¬
nungen, sowie ihre Kräfte besser gekannt hätte. Man hätte auch viel von ihrer
gefährlichen Feindschaft schon einfach dadurch mildern können, daß man sie nicht
ignorierte und daß man sie nicht, als man sie endlich bemerkte, unterschätzte.
Rotten, die daran waren, die letzten Folgerungen ans einer nun'wöhiilich schweren
nationalen Entwicklung zu ziehen, erzählten wir, daß sie ihre politischen Be¬
strebungen schon früher oder später den „wirtschaftlichen Gesichtspunkten unter¬
ordnen würden, die uns Deutsche ja so herrlich weit gebracht haben. Der Haß,
der gebildeteren Tschechen hat sich längst bis zu, dem Vorwurf geklärt, daß wir-
sehr schlechte Psychologen seien, und -sie haben diesen Vorwurf gewiß nicht nur
der übrigen feindlichen Welt nachgesprochen, sondern aus eigenem Erleben ge¬
schöpft.
Die Ereignisse haben unterdessen eine bessere Aufklärung geschaffen, als
tausend Engelszungen-Prediger es vermöchten. Die Völker sind heute sehr deut¬
liche Tatsachen geworden, und selbst das am beharrlichsten geleugnete Deutsch¬
österreich ist eine Wirklichkeit und verlangt staatliche Anerkennung auch vom
Deutschen Reiche. Im Reiche selbst hat ja der Lebensdrang des Volkes über
-eine starre und veraltete Staatsraison gesiegt, und es ist ein Zeichen von beson¬
derer Vorbedeutung, daß die Erneuerung der alten nationalen Einheit am ein¬
drucksvollsten von der Sozialdemokratie gefordert wird. Das Volk lernt um und
nähert sich jenem tieferen Nationalismus, den nicht nur der Deutschösterreicher,
sondern jeder Ausländsdeutsche am Reichsdeutschen vermißt hat. Die falsche
politische Richtung des ganzen Volkes, die unsere Diplomaten entschuldigte,
ebenso die „Nichteinmischungspolitik", die ihnen im Besonderen gegenüber Öster¬
reich-Ungarn die Hände band, ist erledigt. Das System unserer politischen Ver¬
tretung aber, das die Krönung jener reichsdeutschen falschen Politik bedeutete,
ist einstweilen noch geblieben. Gewiß ist ein so in all seiner Unzulänglichkeit
komplizierter technischer Apparat nicht von heute auf morgen umzustellen. Wir
haben zu vieles auf einmal zu erledigen. Jedoch ehe nicht unser Auswärtiges
Amt und unsere Auslandsvertretung von Grund auf neu geworden ist, neu in
den Methoden, neu in den Männern, ist eine wesentliche Arbeit der neuen Regie¬
rung noch umgetan. . , '
Die Klagen, die hier auf dem Gebiete der österreichisch-ungarischen Fragen
vorgebracht werden, wiederholen sich auf allen anderen Gebieten und in allen
Lagern. Aber wenn auch Diplomaten immer kritisiert werden, so ist doch die
Art und der Umfang der Kritik gegen unsere politische Vertretung unerträglich
geworden. Sie schadet bereits wieder durch ihre Mertriebenheit, Allgemeinheit,
Bitterkeit und UnVerantwortlichkeit, in die ja jede Kritik hineingerät, wenn sie
hoffnungslos scheint. Es wird höchste Zeit, daß man Ernst macht. Man be¬
schuldigt die Militärs, daß sie sich in Politik gemischt haben. Bei den Bedeuten¬
den unter ihnen durchdringt sich Schuld mit Verhängnis. Sie mischten sich nicht
nur aus Machtgier ein, sondern deshalb, weil alle politische Hoffnung, die vom
Auswärtigen Amt enttäuscht, aller guter Wille, der von ihm beleidigt und zurück¬
gestoßen wurde, bei ihnen Zuflucht suchte. Mag an dieser Hoffnung und diesem
guten Willen vieles laienhaft gewesen fein: aus den Wünschen der'„Laien", die
zugleich die Bürger sind, kristallisiert sich doch schließlich der politische Wille der
Nationen. Nicht aus veralteten Überlieferungen einer Berufskaste, die ängstlich
darüber wacht, daß ihre Brahmaneuwissenschaft nicht durch „Unberufene" ge¬
stört werde. Dem politischen Willen der Bürger Form zu geben und zur
Geltung zu verhelfen: dazu sind die Beamten da. Wie viele der'jetzt in unserer
außenpolitischen Arbeit Beschäftigten können nach ihrer Bildung und Erziehung
diese Aufgabe auch nur verstehen?
GWnull dreizehn des Wilsonschen Friedensprogramms vom 8. Januar
11918 lautet:
tM
MW„Ein unabhängiger polnischer Staat, der die von einer un¬
zweifelhaft polnischen Bevölkerung bewohnten Länder umfassen
sollte, der einen gesicherten, freien und zuverlässigen Zugang zur See
besitzt und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und ter¬
ritoriale Unverletzlichkeit durch internationalen Vcrirag garantiert sein müßten, sollte
errichtet werden.")
In den Erläuterungen seines Friedensprogramms vom 12. Februar 1918
heißt es:
Das Polentum in Preußen hat auf Grund jenes Friedensprogramms im
Anschluß an das bekannte Vorgehen deZ polnischen Regentschaftsrates in Warschau
einen von allen polnischen Parteien, Zeitungen und politischen Organisationen
unterschriebenen Aufruf veröffentlicht, in dem unter Mißdeutung des Wilsonschen
Programms die Zugehörigkeit der Provinz Posen zum polnischen Staate offen
gefordert wird. Demgegenüber sei festgestellt, daß weder die Provinz Posen noch
auch nur ein Kreis in ihr von einer unbestreitbar, d. h. rein polnischen Be¬
völkerung bewohnt wird, daß die Provinz Posen vielmehr ein Land alter deutscher
Kultur und Sitte ist und mit Preußen und dem Deutschen Reiche politisch und
wirtschaftlich für immer verbunden ist.
Die Provinz Posen ist 28992 Quadratkilometer groß, d. i. etwas mehr als
der zwölfte Teil des Umfanges des Königreichs Preußen. Von der Bevölkerung
der Provinz waren nach der Volkszählung von 1910 806720 Deutsche,
1278890 Polen, 11796 Zweisprachige und 2125, andere Fremdsprachige. Der
Konfession nach waren 1422376 katholisch, 616442 evangelisch und 26512
mosaisch; 140851 sind katholische Deutsche und 9333 evangelische Polen. Rechnet
man die evangelischen Polen, die treu preußisch gesinnt sind und sich selbst zu deu
Deutschen zählen, diesen zu und verteilt die Zweisprachigen je zur Hälfte auf die
Deutschen und Polen, so sind 821951--39 Prozent als Deutsche und 1275455
60 Prozent als Polen zu bezeichnen. Der Nest sind Fremdsprachige. Das
Verhältnis der Deutschen zu deu Polen ist also wie 2 : 3. Ähnlich war daS Ver¬
hältnis bereits 1815, als die Provinz nach den Bestimmungen des Wiener Kon¬
gresses und nach der Aufteilung des Großherzogtums Warschau wieder preußisch
i) Der Urtext in englischer Sprache lautet:
,,/in inäepenclent polisn Ltats slroulc! dö ereLteit, vvbicli «Iioulä!nLlu<to terntoriLS
inbsbitecl by inctisputabl^ paüüb populations, pinel sboulel Ks assuiect a ireo sua secure
access to tus ses, grä >vbo?L politic-U »n6 ecouamic mclLpsnäLnce aria territorial in--
teZrity sboulci dö MÄrsnteecl by iniemstionsl Loven-nit."
wurde. Nach den Rückschlägen, die das Deutschtum infolge der durch die russische
Zollgesetzgebung hervorgerufenen Auswanderung von Tausenden von deutschen
Familien nach Russisch-Polen und durch die infolge des Aufschwunges der
westlichen Industrie eintretende Abwanderung nach Westen erlitten hat, ist die
deutsche Bevölkerung seit Anfang dieses Jahrhunders wieder in stärkerem Fort-
schreiten als die polnische. Im Jahrzent 1900/1910 vermehrte sich die deutsche
Bevölkerung um 12 Prozent, die polnische nur um 10 Prozent.- Deutsche und
Polen sitzen in allen Kreisen der Provinz so durcheinander, daß eine
Trennung eines deutschen und eines polnischen Sprachgebietes un¬
möglich ist, ohne den einen oder anderen Teil zu vergewaltigen. Bereits im
Jahre 1848 stellte sich bei Gelegenheit der beabsichtigten nationalen Reorganisation
der Provinz die Unmöglichkeit heraus, eine sogenannte Demarkationslinie zwischen
deutschem und polnischem Verwaltungsgebiet zu ziehen.'
In keinem Kreise der Provinz sinkt der deutsche Anteil unter 10,8 Prozent,
steigt dagegen bis zu 91,2 Prozent.
Es beträgt der deutsche Anteil vom Hundert:
So ist schon auf Grund der Zusammensetzung der Bevölkerung kein Kreis
unzweifelhaft polnisch. Legt man der Berechnung der Bevölkerung die Reichs¬
tagswahlen von 1912 zugrunde, so wurden 158 863 deutsche Stimmen und 192 737
polnische Stimmen abgegeben, d. h. ein Unterschied von nur 33 874 Stimmen,
Das Verhältnis war also wie 3,2 zu 3,8. Aber für den nationalen CharaUer
eines Landes sprechen noch andere Gründe entscheidend mit. So ist der Grund
und Boden eine wesentliche und dauernde Grundlage des nationalen Charakters
eines Landes. Er ist in der Provinz Posen zu 58,6 Prozent in deutschem Besitz.
Nach den Erhebungen vom Jahre 1913 waren in deutscher Hand: 1549 411 Hektar;
in polnischer Hand 1075 932 Hektar gleich 39.4 Prozent und 58 627 Hektar
Eigentum der katholischen .Kirche (2 Prozent).
Von dem Hcmsbesitz in den Städten der Provinz waren nach den Er¬
hebungen von 1913/14:
Anny mi WirMlllsisi,even in ven ^uivlen geigi mer? me grvzzv tlvcri^eulMi
des deutschen Bevölkerungsteiles. Im städtischen Gewerbe waren nach der letzten
Berusszählung von den Großbetrieben 13 977 in deutscher Hand (57,46 Prozent)
und 10 225 in polnischer Hand (42,15 Prozent): je größer der Betrieb, desto
mehr in deutscher Hand. Noch deuüicher tritt die deutsche Überlegenheit in
den Steuererträgnissen hervor. Es waren im Jahre 1910 in den Städten
der Provinz ohne die Provinzialhauptstadt Posen:
Aus diesen Zahlen und der Grundbesitzverteilung auf dem Lande ergibt
sich ohne weiteres das wirtschaftliche und kulturelle Übergewicht der Deutschen
gegenüber der polnischen Bevölkerung,
Die deutsche Bevölkerung und die deutsche Kultur in der Provinz sind aber
nicht Ergebnisse erst des letzten Jahrhunders, nicht der Provinz aufgepfropft. Bis
ins fünfte Jahrhundert war das Land von germanischen Völkerschaften, Gothen,
Burgunden unb im Süden Vanoalen bewohnt. Ihre Urnen, ihre Bronzeschwerter
und ihre Hausgeräte gräbt man heute aus ihren Grübern und stellt sie in unsere
Museen. So ist es uralter germanischer Boden, auf dem die Polen sitzen.
Während der Völkerwanderung nahmen slawische Stämme von dem Lande' Besitz.
Aber schon im zehnten Jahrhundert kehrten Deutsche in das Land zurück. Es ist das
große Verdienst der katholischen Kirche, durch ihre KlostersiedeliMsM als erste,
deutsche Kultur und deutsches Volkstum in die Provinz wieder hineingetragen zu
haben. Im zehnten bis fünfzehnten und sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert sino
tausende und abertausende von deutschen Bauern- und Handwerkerfamilien in die
Provinz eingewandert. Die beiden Perioden blühender Kultur, die die Provinz in
dieser Zeit durchlebt hat, verdankt sie ausschließlich der deutschen Einwanderung und
der Kirche. 770 deutsche Dorfgründungen sind heute noch urkundlich aus dieser Zeit
nachweisbar und fast alle 12.9 Städte der Provinz sind Gründungen deutscher Bürger
zu deutschem Rechte. Die Mehrzahl der in früheren Jahrhunderten eingewan¬
derten Deutschen ist freilich infolge der nationalen Unduldsamkeit der polnischen
Bevölkerung polonisiert worden. Dieser Polonisierungsprozeß hat die ständige
kulturelle Überlegenheit Westpolens vor den übrigen Teilen des Staates und seine
Zugehörigkeit zur westeuropäischen Kulturgemeinschaft zur Folge gehabt. Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hat sich dieser Polonisierungprozeß mangels aus¬
reichender geistlicher und Schulversorgung an unseren deutschen Katholiken'wiederholt.
Die Volkszählung von 1905 stellte 90 952 (7,48 Prozent) Polen mit rein deutschen
Familiennamen und 40 176 (3,30 Prozent) mit polemisierten Familiennamen, zu¬
sammen 131128 gleich 10,78 Prozent fest. Diese Angaben umfassen nicht die
zahlreichen Deutschen, die bis Mitte der siebziger Jahre ihre Namen ins Polnische
übertrugen oder sonst unerkennbar polonisierten.^) Durch diese Vermischung sind
dem Posener Polentum gute deutsche Eigenschaften ins Blut übergegangen und
unterscheiden es heute von der Bevölkerung Kongreßpolens und Galiziens. Der
Kulturzustand des Posener Landes ist mindestens um ein halbes Jahrhundert dem
Galiziens und Kongreßpolens voraus. Was in der Provinz an Gütern und
Werten geistiger und wirtschaftlicher Kultur hauptsächlich geschaffen worden ist,
alles was aus dem Polentum selbst geworden ist, ist deutscher Ordnung, deutschem
Fleiß und deutscher Tatkraft zu danken. So ist Posen ein Land unzweifelhafter
deutscher Kultur.
Hat die preußische Politik diese deutsche Kultur gewaltsam geschaffen und
das Polentum unterdrückt? Die Frage ist zu verneinen. Kann es als Unier-
drückung bezeichnet werden, wenn dieses angeblich unterdrückte Volk ein blühendes
großes Genossenschaftswesen mit einem Betriebskapital heute von fast einer halben
Milliarde Mark ins Leben rufen kann, wenn es mehr polnische Zeitungen
erscheinen läßt als in Galizien, wo es selbst die Regierung in der Hand hat,
oder in Kongreßpolen? Wenn es in der Lage ist, durch seine nationalen,
politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und beruflichen Organisationen ein in sich
abgeschlossenes, dem deutschen Volksteile und dem Staate ablehnend gegenüber¬
stehendes, eigenes Gemeinwesen zu schaffen? Und hat das Polentum zeitweise
nicht einen großen Einfluß auf die Politik der Staatsregierung ausgeübt? Alle
staatsbürgerlichen Rechte waren den Polen trotz ihrer irredentistischen Bestrebungen
unverkümmert zugestanden. Niemals ist ihnen die Pflege ihrer Muttersprache in
Haus und Hof, in der Öffentlichkeit wie in der Kirche verwehrt worden. In der
Volktschule, die eine staatliche Einrichtung ist, konnte nur in einer Unterrichts-
spräche, der deutschen Staatssprache — unbeschadet des Religionsunterrichts in
der Muttersprache — unterrichtet werden, um die unterrichtlichen Ziele zu erreichen,
die der Volksschule gesteckt sind. Der deutschen Schule dankt auch der Pole seine
Geistesbildung und seinen Fortschritt. Nur von der Ansiedlung, und auch hier
nur in den Provinzen Posen und Westpreußen, war die polnische Bevölkerung
ausgeschlossen. Durch die Ansiedlungspolitik ist auch das Polentum kulturell'
gestiegen und wohlhabend geworden. Das war eine wenn auch nicht beabsichtigte,
so doch eine der Staatsreg?erung bewußte und von ihr niemals verhinderte Wir-
>kung ihrer Politik.
Der polnische Landwirt hat vom Deutschen die bejsere Bodenkultur erlernt;
und es ist kein Zufall, daß die meisten Bezeichnungen des Handwerks in der
polnischen Sprache aus dem Deutschen entlehnt sind. So war und ist noch heute
der Pole stets der nehmende und Empfangende, der Deutsche der Gebende. Der
westdeutsche, nicht der polnische Steuerzahler hat die Mittel auf¬
gebracht, um die Provinz Posen auf die Höhe der Kultur Deutsch¬
lands zu bringen: durch Kanäle, Eisenbahnen, Kunststraßen, Post, Telegraph,
Telephon, Baulichkeiten, Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche Institute, Schulen,
Gymnasien und Lehrerbildungsanstalten u. f. f.
Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz, so ergibt
sich: Posen gehört wirtschaftlich zu Deutschland; es müßte, wenn es von seinem
Mutterland abgeschnitten würde, verkümmern. Alle Wasserwege in der Provinz
führen nach Westen, nicht nach Osten. Durch die Warthe ist die Provinz an den
Oberlauf angeschlossen; der Bromberger Kanal verbindet durch die Brahe und
Netze die Weichsel mit der Oder. Ost- und Westpreußen sind durch die Bahn¬
linien Kreuzburg—Posen, Oels—Gnesen und Breslau—Posen mit dem ober-
schlesischen Kohlen- und Erzbecken verbunden. Die wichtigsten Verkehrslinien von
Ostpreußen nach Berlin und Sachsen führen über Thorn—Posen. Aber nicht
bloß verkehrsgeographisch gehört die Provinz zu Deutschland. Es sei nur auf
die Wechselbeziehungen zwischen dem Überschuß landwirtschaftlicher Produktion
und der Aufnahme der Jndustrieerzeugnisse Mittel- und Westdeutschlands in der
industriearmen Provinz hingewiesen.
Die Loslösung der Provinz Posen oder größerer Teile von ihr von Preußen
und vom Deutschen Reiche und ihre Zuteilung zum polnischen Staate würde für
die Provinz selbst und ihre gesamte Bevölkerung eine schwere Schädigung, für
West- und Süddeutschland aber nicht nur dies,^sondern den Hunger bedeuten.
Man beachte doch folgende Zahlen:
Die gesamte Güter-Ein- und -Ausfuhr der Provinz Posen auf den Eisen-
bahnen — ohne die Viehtransporte — von und nach den übrigen Teilen Deutsch¬
lands betrug im letzten Friedensjahr 1913
Die Provinz hat also 3098617 Tonnen an Gütern mehr aufgenommen als
ausgeführt. Das sind zumeist industrielle Erzeugnisse. Dazu kommt noch die
Ein- und Ausfuhr auf dem Wasserwege, die statistisch leider nicht erfaßt worden ist.
Was die landwirtschaftliche Produktion der Provinz betrifft, so
ergibt der Durchschnitt der Ernteerträgnisse in den letzten fünf Friedensjahren
1910-1914:
Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus der Provinz nach
den übrigen Teilen des Deutschen Reiches betrug im Eisenbahn-Güterverkehr des
Jahres 1913:
Die Kartoffelernte 1917 betrug 68245328 Zentner. Von der Ernte 1913
ist der Provinz die Lieferung von 26000000 Zentnern auferlegt gleich ein Fünftel
der gesamten Lieferung Preußens und ein Sechstel der gesamten Lieferung des
Reiches. An Saatkartvffeln wurden außerdem bereits 3,3 bis 3,4 Millionen
Zentner ausgeführt. 8 bis 9 000000 Zentner Kartoffeln sollen in der Provinz
zu Spiritus für technische Zwecke verarbeitet, 2'/z Millionen Zentner in der Provinz
getrocknet werden, die meist nach dem Westen gehen werden.
Die Branntwoinproduktion der Provinz betrügt mehr als den sechsten Teil
(18,9 Prozent) der Gesamtproduktion Preußens. Sie belief sich im Durchschnitt
der Jahre 1910—1914 auf 570 601 Hektoliter von einer Gesamtproduktion von
3 009 233 Hektoliter.
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei.der Zuckerproduktion. Die Provinz
Posen produziert — wie oben nachgewiesen — 3 356 391 Doppelzentner, das ist
14,4 Prozent der gesamten Zuckerproduktion Preußens oder der 8,6 Teil (11,4
Prozent) der Zuckerproduktion des Reiches. Die Zuckerproduktion Posens steht
ein dritter Stelle' die der anderen Bundesstaaten zusammen betragt nur 5 659 938
Doppelzentner.
Was die Viehproduktion betrifft, so waren nach der Viehzählung vom
1. Dezember 1913 in der Provinz Posen vorhanden:
Die Verteilung der Hauptviehgattungen auf die Bevölkerung berechnet
ergibt folgendes Bild. Es entfielen im Jahre 1912 auf je 1000 Einwohner:
'
Demgemäß konnte die Provinz beträchtliche Viehmengen an das Reich
abgeben. So wurden 1913 nach dem Westen ausgeführt: 31236 Pferde,
173341 Stück Rindvieh, 71535 Schafe, 857735 Schweine, 1281398 Stück Ge°
flügel und 49640 Zentner Fleisch und Speck. Trotz des durch den Krieg stark
verminderten Viehbestandes hat die Provinz durch den Viehhandelsverband in der
Zeit vom 1. Januar 1917 bis 1. Oktober 1918 noch 352976 Stück Rindvieh und
300967 Schweine abgeliefert.
Nach der Statistik der Güterbewegung auf den deutschen Eisenbahnen wurden
aus der Provinz Posen 1913 10344430 Doppelzentner Lebensmittel aller Art
(ohne Trinkbranntwein, Essig, Stärkemehl und Stärkezucker) ausgeführt. Dazu
treten die Ausfuhr auf dem Wasserwege und die oben bereits aufgeführten Vieh¬
transporte. An Likören werden schätzungsweise jährlich 800000 bis 1000000 Liter-
aus der Provinz ausgeführt.
Besondere Beachtung verdient die Saatgutzucht in der Provinz Posen.
Süd- und Westdeutschland bezieht heute ihre Saatkartoffeln aus der Provinz Posen.
Der schlechte Ausfall der Kartoffelernte in Westdeutschland im Jahre 1916 ist da¬
rauf zurückzuführen, daß infolge Wagenmangels nicht genug Saatkartoffeln aus
Posen geliefert werden konnten. Das beweist, daß auch die Kartoffelernte im Reiche
wesentlich von der Provinz Posen abhängt. Von der Ernte 1918 sind bisher
3,3—3,4 Millionen Zentner an Saatkartoffeln nach dem Westen ausgeführt worden,
davon 995590 Zentner Qualitätssaatgut des Saatbauvereins. Ähnlich liegt es
bei dem Getreidesaatbau. Das Klima Posens begünstigt die Saatzucht besser als
andere Provinzen. 1918 hat der Saatbauverein bis Oktober nicht weniger als
159528 Zentner Saatgut von Getreide und Hülsenfrüchten zur Ausfuhr nach dem
Westen gebracht.
So ergibt sich, daß die Provinz Posen für die Ernährung des
deutschen Volkes unentbehrlich ist.
Die Zuteilung der Provinz Posen zum polnischen Staate hätte zu Folge,
daß der polnische Staat seine Grenzen bis 25 Meilen vor die Tore Berlins vor¬
schieben würde. Die strategische Grenze wäre dann die Oder. 12 Meilen von
Berlin entfernt. Preußen wäre mit dein gleichzeitigen Verluste West- und Ost¬
preußens zertrümmert und bis hinter das Jahr 1772 in der Geschichte zurück¬
geworfen. /
Die Loslösung der Provinz Posen von Preußen und ihre Zuteilung zu
Polen hätte für die Bevölkerung der Provinz, Deutsche wie Polen, wirtschaftlich
die gleichen bösen Folgen. Politisch und national würde sie den allmählichen
Untergang der deutschen Bevölkerung bedeuten. Dies würde besonders hart die
Ansiedler treffen, die Preußen zum Schutze und zur Förderung des Deutschtums
in die Provinz gerufen hat, sofern sie nicht freiwillig oder gezwungen Haus und
Hof verlassen. Es bedarf keines Beweises, daß der kleine kulturell höher stehende
Landesteil binnen kurzem auf den allgemeinen Stand des ganzen Staates herab-
gedrückt werden würde. Der polnische Staat muß auf allen Gebieten erst auf¬
gebaut werden. Dieser Ausbau wird naturgemäß in Kvngreßpolen und Galizien
einsetzen. Posen würde der Steuerzahler für diesen Aufbau sein, ohne daß für
die Provinz selbst etwas geschehen würde. Verkehrswege aus der Provinz Posen
nach Polen sind zurzeit nur der eine über Slalmierschütz vorhanden. Die Prosna
und weiter nördlich die Secnkette, die sich bis in die Gegend von Thorn hinzieht,
trennen Posen von Polen ab. So wird Posen auch stets ein Außenschlag
von Polen sein und als solcher vernachlässigt werden und wirtschaftlich zurück¬
bleiben. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Polen durch die wirtschaftliche
Abhängigkeit vom Ausland, insbesondere von Deutschland, durchzumachen haben
wird, würde die Provinz Posen besonders schwer treffen. Polen ist ein Gebiet
vorwiegend landwirtschaftlicher Produktion. Alles was zur Hebung der Boden¬
kultur dient, würde zunächst dem auf niedrigster Kulturstufe stehenden Osten zu¬
gute kommen. So werden Düngemittel und landwirtschaftliche Maschinen für
die Provinz nur in geringem Maße zu haben sein. Ordnung und Rechtspflege
würden infolge des Mangels an geschulten und gebildeten Beamten bald der
Unsicherheit und persönlichen Selbsthilfe weichen müssen. Das auf so hoher Stufe
stehende deutsche Schulwesen würde bei dem Mangel an Lehrerbildungsanstalten
bald verkümmern. Die Steuerkasten würden zweifellos höher sein als in Deutsch¬
land. Der polnische Staat ist arm und hat nur beträchtliche Schulden Die Auf¬
stellung eines Heeres, die ganze Verwaltung des Landes, die Ablösung der Preußen
und dem Reiche in der Provinz gehörenden Anstalten, Grundbesitz, Eisenbahnen,
Wasserstraßen, Renten usw., die auf mindestens 50 Milliarden zu veranschlagen
sind, würden eine gewaltige Belastung der Bevölkerung bedeuten. Der Arbeiter
würde seine wohlverdienten Alters- und Jnvaliditätsrenten verlieren, der Kriegs¬
beschädigte seine Kriegsrente. Dazu kommt die große Gefahr, die der Bolschewis¬
mus für alle bedeutet, der in Polen schon längst Eingang gefunden hat, die Not,
die dem Posener Arbeiter durch den östlichen Arbeiter als Lohndrücker und die
Konkurrenz, die dem Gewerbetreibenden durch den östlichen Geschäftsmann über¬
haupt droht. Das Herabdrückm des allgemeinen Kulturzustandes wird aber
auch ein Sinken aller Boden- und Grundstückspreise in Stadt und Land zur Folge
haben und damit eine Gefährdung der Hypotheken, die meist deutschen Geldgebern
gehören und deshalb gekündigt werden. So würde die Provinz einer Verarmung
und ihre blühende deutsche Kultur dem Untergang entgegengehen. Die fast IV2 Jahr¬
hunderte alte deutsche Kulturarbeit des preußischen Staates wäre umsonst gewesen.
Fassen wir unsere Ausführungen rückblickend zusammen, so ist ihr Ergebnis:
Die Provinz Posen ist kein Land polnischer, sondern ein Land
alter deutscher Kultur und Sitte. Es gibt keine rein polnischen Gebiete
in der Provinz; eine Scheidung zwischen deutschem und polnischem
Sprachgebiet ist unmöglich. Posen gehört wirtschaftlich und strategisch
zu Deutschland, und ist mit ihm aufs engste verbunden. Es ist die Vor¬
ratskammer des D entheben Reiches. Ohne die Provinz Posen muß das ,
deutsche Volk Hunger leiden und entbehren. Die Loslösung der Pro¬
vinz von Deutschland und ihre Zuteilung zu Polen würde schon aus
diesem Grunde die östliche Frage nicht lösen, sondern eine dauernde
Beunruhigung des Friedens bedeuten.
ewa vor Vierzehn Tagen ist in Elsaß-Lothringen endlich die
Vorzensur der Zeitungen gefallen. Seit Ausbruch des Krieges
^ konnte in dortigen Blattern kein Wort geschrieben werden, das
nicht im voraus die Billigung der Militärbehörden gefunden hätte.
>Die Vereine waren geschlossen, Versammlungen jeder Art außer¬
ordentlich erschwert, das Briefgeheimnis aufgehoben. Mit einem
Zort: das politische Leben des Landes war durch unser Militärregiment künst¬
lich in eine Wüste verwandelt worden. Rücksichten auf die Kriegführung schienen
das zu gebieten, auf ein lebendiges Wachstum elsaß-Iothringischer politischer
Wünsche und Meinungen glaubte man verzichten zu können. Nun dürfen wir
aber auch nicht erwarten, daß in der selbstgeschaffeMN Einöde über Nacht die
Blüten der Anhänglichkeit und des Zusammengehörigkeitsgefühles in schwerer
Stunde gesprossen sein sollen. Nachdem wir selber Elsaß-Lothringen daran ge¬
wöhnt haben, lediglich Objekt der deutschen Politik, Spielball der Berliner
Besserwisserei zu sein, nachdem wir erst jüngst noch dem Lande das Schlauspiel
geboten haben, wie ein Auftoilungsplan während des Krieges den anderen jagte,
wobei nicht Wunsch und Bedürfnis der Bevölkerung und des Landes, sondern
bayrisch-preußische Rivalität das entscheidende Wort sprach, «dürfen wir uns^
wahrhaftig nicht Wundern, wenn sich das also erzogene Land jetzt scheinbar'
willenlos der internationalen Entscheidung unterwirst, wie das der gestern noch
so überaus loyale Herr Ricklin in seiner famosen Reichstagserklärung ver¬
kündete. Uostra czulM, iwstra maxiraa oulM. Wir ernten jetzt, Was Wir in
jahrzehntelanger Verblendung gesät haben.
Welch eigentümliche Tragik! Dieser Krieg ist, was den deutsch-sranzösi--
schen Wassergang anlangt, ein Streit um Elsaß-Lothringen. Durch Opferung
dieses Symboles der 1871 schwer errungenen Reichseinheit hätte ein Konflikt mit
Frankreich vermieden oder jederzeit beendigt werden können. Über vier Jahre'
ist deutsches Blut in Strömen um ein deutsches Elsaß geflossen, nicht aus Eigen¬
sinn des Besitzenden heraus, der keinen Machttitel opfern will, sondern aus einem
tiefen und gut gegründeten Gefühl des Rechtes auf dieses in Volkskultur und
Volkssprache ganz überwiegend deutsche Land. Aus diesem elementaren Gefühl
heraus haben deutsche Staatsmänner bis an die Schwelle der letzten Monate-
heran — entgegen vielleicht den Geboten politischer Klugheit — die elsaß-Ioth-
ringische Frage als eine rein innerdeutsche bezeichnet und behandelt. Sie gaben
damit die Unabgeschlossenheit der bisherigen Lösungsversuche zu, sie erkannten
an, daß uns das Reichsland bisher wahrhaftig kein sicherer und dankbarer Ge¬
winn, sondern eine sehr undankbare und drückende Aufgabe gewesen ist. Aber
wir empfanden gerade diese Aufgabe als eine, die von der Geschichte an uns,
eigens und nur an uns gestellt und nur in Zeiten staatlicher Ohnmacht und
Schwäche dem deutschen Volke entglitten sei. Diesen Shmbolcharakter wird
Elsaß-Lothringen auch in Zukunft nicht verlieren. Und dos Bewußtsein des An¬
rechts, das wir aus Elsaß-Lothringen als Aufgabe haben, kann uns auch kein
internationales Ereignis wie der kommende Gewaltfriede rauben.
Wäre der Präsident Wilson, der neue arditsi zur-Qäi, tiefer in europäische Ver¬
hältnisse eingeweiht, so würde er einsehen, daß eine erzwungene Lösung glatt zu¬
gunsten der französischen Revanchconfprüche, diese groteske Verbeugung des freien
Amerika vor dem Schatten des absoluten Louis-Quatorze, uns so wenig als end¬
gültig erscheinen kann, wie unsere gegenwärtige Ermattung nach einem beispiel¬
losen Existenzkampf für uns etwas Endgültiges bedeutet., Aber wie sollte Wilson
das einsehen, wenn der deutsche Volksstamm selber, dem all diese nutzlosen Opfer
gegolten haben, der selber an unserer Seite unendliche Opfer gebracht hat, uns
heute in seiner überwiegenden Mehrheit kühl, wenn nicht gehässig gegenüber¬
steht und in Trotz und Verstockung das Trennende augenblicklich so stark, das
Verbindende fo unendlich viel schwaches empfindet? Der Elscifser und der Loth¬
ringer, sie haben gewiß viel Anlaß, über Mißverstehen ihrer wahren Bedürfnisse,
über schwere Behandlungsfehler von deutscher Seite zu klagen. Sie wissen aber'
auch ganz genau, wieviel echte und tiefe Liebe zu Land und Leuten ihrer Heimat,
wieviel opferwilliger deutscher Idealismus an der Eingliederung der Westmark
in den Reichsorganismus gearbeitet, welchen Aufschwung das Land unter deut¬
scher Herrschaft namentlich in wirtschaftlicher Beziehung "genommen hat. Wenn'
sie über verwaltungstechnisches und politisches Ungeschick Beschwerde führen,
wenn deutsche Selbstkritik — eine Eigenschaft, an der der Deutsche eher Über¬
fluß als Mangel hat — ihnen diese Mißgriffe von unserer Seite sogar willig
zugibt, dann wollen auch wir heute offen aussprechen: diese ewig unzufriedenen
Grenzstämme, die einer tiefgewurzelten Anlage folgend in jeder 'Suppe zunächst
einmal nach dem Haar suchen, die in Frankreich deutsche, in Deutschland fran¬
zösische Opposition großenteils aus reiner Freude am Widerspruch getrieben
haben: sie haben wenig Verständnis sür die Schwierigkeit unserer Aufgabe, noch
weniger Dankbarkeit für unsere Leistungen im Interesse des Landes von den ent¬
sagenden Mühen unserer Beamtenschaft bis zu den unerhörten Blutopfern auf
den Vogesenkämmen und jenseits der lothringischen Grenze gezeigt. Es ist
bitter, heute feststellen zu müssen: deutsche Truppen oller Stämme'hoben den
elsässischen Bruderstamm über vier Fahre vor der Überflutung durch namenlose
Kriegsgreuel bewahrt und — dos deutsche Volk hat dafür wenig Dank bei den
glücklich Bewährten gefunden. Und die Art, wie die Herren Nickiin und Haegh
,uns im Reichstag in einer Stunde der Not den „Eselstritt" versetzt haben, mit
dem sie vielleicht nicht ihre bourgeoisen Standesallüren, Wohl aber ihr nnverleug-
bares Volkstum, die dunkel rauschenden Ströme ihres deutschen Blutes verraten
haben, diese unvornehme Art ist uns bei Elsässevn zwar nicht weniger verächt¬
lich als bei Polen, Ungarn und all den anderen Völkerschaften, für deren natw-
nale Ansprüche wir namenlose Opfer an Gut und Blut gebracht haben. Sie ist
uns hier aber unendlich' viel schmerzlicher und beschämender, weil wir nach wie
vor. die nationale Solidarität mit jenen Elsässern behaupten und sortempsinden,
die sie, um sich Brücken nach drüben zu bauen, mit gar so plötzlich erwachtem
Stolz und Mannesmut verleugnen.
Wahrhaftig nicht dieser famosen Helden, die den schwer verwundeten Löwen
bespeien, nicht jener epigonenhaften, unfähigen Bourgeoisie, deren Stimmungen
sie widerspiegeln, nicht all dieser Lauer und Halben wegen schmerzt' uns der Ge¬
danke, dieses urtümlich deutsche Land in eine Zukunft hineingleiten zu sehen, in
der nicht mehr das deutsche Wort den Ausichlag geben würde. Nicht die Menschen
sowohl, die heute darin wohnen: wie im Baltikum, so ist es auch im Elsaß das
Land selber, das in seiner Landschaft und in seinen lebendig gewachsenen
Werken in dieser Landschcist sich hell und laut als deutsch bekennt. Man
muß in den Vogesen gewandert sein und vom Hohrupf auf das alte Kloster
Murbach herabgeblickt haben, das im reichsherrlichen Mittelalter seine Herrschaft
bis nach Luzern erstreckte; man muß den Blick von den Drei Ähren bei Colmar
oder von den Drei Exen, von der Hohkönigsburg oder von den Rappolsteiner
Schlössern in die weite fruchtbare Ebene hinaus gesandt haben mit ihren sauberen
Fach Werbdörfern, mit ihren Städten voll Kirchen, R athäusern, Brunnen zwischen
Malter, Tor und Turm; man muß in Hagenau und Egisheim den Spuren alten
reichsstädtischen Glanzes nachgegangen sein, in Colmar erschüttert vor Grüne¬
walds Isenheimer Altar gestanden, aus Straßburger gotischen Gassen das ewige
Wunderwerk Erwin von Steinbachs haben aufragen sehen: dann nur weiß man
— nicht mit dem nüchternen Verstand, sondern mit der feinsten und sichersten
Witterung der Seele —, daß hier ein Land preisgegeben werden soll, das deutsch
ist und bleibt kraft den Mächten, die aus seiner Erde steigen, wenn hundertmal
ein paar Bourgeois mit echten allemannischen Bauernschädeln das Französisch¬
parlieren sür vornehmer halten als ihre angestammte elsässische Muttersprache.
Daß diese Schicht zu Frankreich will, mit dem sie dnrch die Bande ihrer
unorganisch aufgepfropften Kultur, durch mannigfache Familienbeziehungen,
durch den gemeinsamen inneren Widerstand gegen das neudeutsche Arbeits- und
Lebenstempo verknüpft ist: das nimmt nicht weiter Wunder. Buche das Elsaß
Heim Reiche, so würde die Entwicklung des Landes schnell über diese Schicht
hinwegschreiten und dann schnell den Weg zu einer entschlossenen Einfügung
in das Deutschtum finden.') Andernfalls mird dieser innerlich morsche und
überlebte Stand durch den starken Rückhalt an Frankreich möglicherweise
noch die Kraft finden, weitere Schichten des elsässischen Volkes in die seelische
Verwirrung seiner „Doppelkultur" zu verstricke». Nicht sowohl die Bourgeoisie
geht uns bei einer Abtrennung Elsaß-Lothringens verloren — nur ein ver¬
schwindender Teil dieser Schicht hat uns seelisch je wirklich gehört —, sondern
jene aufkommenden Schichten, deren wir sicher sein konnten, würden nunmehr
dem Deutschtum und damit ihrer bisher unveräußerten angestammten Sonder¬
art entfremdet werden. Ihrem Volkstum droht dieselbe Verkümmerung, wie
sie die Vlamen in Belgien im Herrschaftsbereich von Lldortö, üsalitö und
ir^tsrnito erfahren haben. Hier aber setzen bereits die Auf¬
gaben der Zukunft ein. Auch die Vlamen werden uns hin¬
fort nicht Hekuba sein, wie sie es uns bis zum Ausbruch des Weltkrieges
waren. Müssen orr aber auf Elsaß-Lothringen verzichten, so verzichten wir
damit nimmermehr auf das Recht, für unser bedrohtes Volkstum jenseits des
Rheines mit allen uns jeweils zur Verfügung stehenden Kräften — sie werden
nicht immer so geschwächt sein wie heute — mit größter Entschiedenheit einzu¬
treten. Schon heute muß — am besten von der Tribüne des Reichstages —
laut und vernehmlich die neuerliche Erklärung des Reichskanzlers bekräftigt
werden: „Das deutsche Volk", — so sollen seine berufenen Sprecher erklären —
„wird, so gebeugt es heute ist, nach Maßgabe seiner irgend verfügbaren Kräfte in
Zukunft ein Anwalt deutschen Volkstumes in der ganzen Welt sein und bleiben.
Allen Elsässern und Lothringern zumal, die durch die Neuordnung der Dinge
innerlich oder äußerlich gezwungen sein werden, ihre Heimat zu verlassen und
über den Rhein zu wandern, wird Deutschland freudige und dankbare Aufnahme
gewähren, wie Frankreich es nach 1871 tat. Es wird auf der Friedenskonferenz
und namentlich späterhin im Völkerbund dauernd für die Rechte des Deutsch¬
tums jenseits der Reichsgrenzen eintreten. Alle diejenigen also, in Elsaß-Loth¬
ringen oder wo es auch sei, die sich die Grundvoraussetzungen für die Erhaltung
ihres deutschen Volkstums heute zu erkämpfen suchen, dürfen beim Deutschen
Reich allen Rückhalt erwarten, über den es irgend verfügt."
Eine offizielle deutsche Kundgebung, wie sie hier gefordert wird, ist für die
Entwicklung der elsaß-lothvingischen Frage von nicht zu unterschätzender Bedeu¬
tung. Alle die Kreise im Reichsland, die heute noch in zwölfter Stunde eine selb¬
ständige Politik auf Grund des von der Entente feierlich proklamierten Selbst-
böstimmngsrechtes der Völker, sei es zugunsten der Reichszugehörigkeit, sei es auch
nur in der Richtung auf den partikular-elsässischen Selbsterhaltungsgedanken ein¬
leiten wollen, stehen vor der schicksalsschweren Frage, was aus ihnen und ihrer
Familie werden soll, wenn sie sich politisch kompromittieren und etwa vor dem
übermächtigen französischen Einfluß das Land verlassen müssen. Wie mir zu¬
verlässig bekannt ist, hält lediglich diese lähmende Ungewißheit breite Kreise des
Landes davon ab, sich energisch gegen eine Einverleibung in Frankreich auszu¬
sprechen. Bei einer Volksabstimmung etwa ist bei der gegenwärtigen Stimmung
auf Grund des Kriegselends und der'vierjährigen Militärdiktatur ein sehr erheb¬
licher Stimmausfall für Verbleiben im Reichsverband schwerlich zu erhoffen.
Dagegen ist zahlenmmäßig der Kreis derer, die unbedingt für Angliederung an
Frankreich sind, nicht eben groß. Der ausgeprägte Partikularismus des Elsässers
hat während des Krieges noch eine wesentliche Steigerung erfahren. In der Tat
sind es mancherlei zugkräftige Argumente, die dem Elsässer heute eine Staats¬
form des neutralen Puffers etwa nach luxemburgischem Muster als recht ver¬
lockend erscheinen lassen. Gegen den Anschluß an Frankreich war vor dem Krieg
die ganze Industrie, der die Vereinigung mit dem deutschen Wirtschaftsgebiet
einen großen Aufsmwung gebracht hat.^) Heute mag etwa die oberelsässische
Textilindustrie von den Westmächten Erleichterungen im Nohstoffbezug und in¬
folge der Vernichtung der nordfranzösischen Textilindustrie gute Aussichten in
Frankreich erwarten. Doch handelt es sich auch dabei nur um vorübergehende
Vorteile. Die ganze Winzerbevölkernng hat das größte Interesse an der Auf¬
rechterhaltung der Zollgrenze nach Westen. Den Wettbewerb mit dem fran¬
zösischen Weinbau könnte sie nicht aushalten. Ein nicht zu unterschätzendes
Moment ist die Militärfrage. Die Aussicht, nicht mehr dienen zu brauchen, hat
bei der gegenwärtigen Militärmüdigkeit für die Massen der Bevölkerung viel
Verlockendes. Namentlich bei der unterelsässischen Landbevölkerung ist zudem
das deutsche Nationalgefühl immerhin fo weit ausgeprägt, daß ein entschiedener
Widerspruch gegen eine Verwelschung zu erwarten ist. So stehen alles in allem
die Aktien des Nentralitätsgedankens etwa für das Elsaß und Deutsch-Lothringen
recht günstig, wenn es überhaupt zu einem Referendum gebracht werden kann
und soll.
Einer der Haupteinwände ist in Molsässischen Kreisen die Altdeutschen^
frage. Die Unbeliebtheit des „Schwob", des eingewanderten Altdeutschen, hat
sich durch die Kriegsjahre für das elsässische Gefühl bis zur Unerträglichkeit ge-
steigert. Die Ausstoßung dieses völkischen Fremdkörpers ist unbekümmert um
die wirtschaftliche Schädigung des Landes heute rein gefühlsmäßig für die ein¬
geborene Bevölkerung die beherrschende Sorge. Sie befürchtet aber, daß bei einer
Neutralisierung alles beim alten und die ganze Einwandererschicht im Lande
bleiben könnte. Durch ein freiwilliges und planmäßiges Zurückziehen der alt¬
deutschen Beamtenschaft, deren Unterbringung und Sicherstellung überhaupt eine
Ehrenpflicht des deutschen Volkes ist und rechtzeitig mit Umsicht in die Hand
genommen werden sollte, könnten wir dem Neutralitätsgedanken entschiedenen
Vorschub leisten. Einstweilen merkt man im Reichsland von einer zielbewußter
deutschen Politik über die nächsten drei Schritte hinaus natürlich nichts. Mit
großem Geschick streut dagegen der Franzose seine Gerüchte aus und bläst mit
bestem Erfolg die Rattenfängerflöte. Man weiß im Elsaß ganz genau, daß in
Belfort bereits Lebensmittel lagern, um sofort ins Land geworfen zu werden.
Der liebe Pöbel glaubt sogar daran, daß jedem Elsässer von den Franzosen
100 Liter Wein als Morgengabe beim Einmarsch dediziert werden sollen. Den
Klerus, die entscheidende Macht, sucht Frankreich zu gewinnen, indem es auf
Trennung von Kirche und Staat vorerst verzichten will. Auch Erleichterung
der Kriegssteuern wird in Aussicht gestellt. Die Personalsvagen gelten schon als
ganz erledigt. Der ehemalige Berliner Botschafter Cambon soll zum Minister¬
residenten ausersehen sein. Auch für andere Posten werden Namen, zum Teil
bekannter Altelsässer, genannt. Man weiß ferner, daß in Frankreich zwei Rich¬
tungen einander gegenüberstehen, eine schärfere, die bezeichnenderweise durch
Wetterls und Blumenthal vertreten ist und die sich für eine radikale Aufteilung
in Departements und glatte Einverleibung in Frankreich einsetzt, und eine
mildere, die dem Lande weitgehende Autonomie innerhalb Frankreichs gewähren
will. Der letztere Standpunkt soll gegenwärtig die Oberhand haben.
So schwirrt es im Lande von Gerüchten, mit denen geschickt sür die fran¬
zösische Orientierung geworben wird. Die rührige franzosenfreundliche Clique
der Bourgeoisie rüstet sich fieberhaft auf den Empfang der Besatzungstruppen.
Alles näht dort Trikoloren und Elsässer Trachten, in denen die Ehrenjungfrauen
den Poltus entgogenziehen wollen. Den sehr zahlreichen Gegnern dieser fran¬
zösischen Orientierung sind dagegen die Hände gebunden. Die deutsche Zensur
erlaubt ja nicht einmal das offene Eintreten für die Neutralität. Und niemand
weiß, ob ihm jenseits des Rheines ein Asyl offen steht, wenn er mit einer anti-
französifchen Politik in seiner Heimat gescheitert sein sollte.
Wenn diese Zeilen an die Öffentlichkeit kommen, dürfte es bereits ent-
schieden sein, ob französische oder neutrale Truppen das Land bis zur endgültigen
Entscheidung seines Schicksals besetzen werden. Sollten die Franzosen einrücken,
so ist damit jede Agitation auch nur sür den Neutralitätsgedanken innerhalb des
Landes selber erstickt. Und es kann von uns nur den Anhängern der deutschen
Orientierung eine Agitation von außerhalb, den Verfechtern des Neutralitäts¬
gedankens insbesondere eine Propaganda im neutralen Auslande ermöglicht
werden. Daß diese Stimmen der Gegner der Französieruug, die breite Volks¬
massen hinter sich haben, auch dann recht laut zu Worte kommen, wenn heute
wenig Aussicht auf Verwirklichung ihrer Ideen bestehen sollte, daran hat
Deutschland ein vitales Interesse. Die gewaltsame Einverleibung Elsaß-Loth¬
ringens in Frankreich ist eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage, der wir uns
vielleicht notgedrungen fügen müßten, die wir aber nie und nimmer als end¬
gültig ansehen könnten. Und es ist daher sehr wünschenswert, daß es dem
Präsidenten Wilson durch Elsässer und Lothringer selber recht unverblümt zum
Bewußtsein gebracht wird, daß er durch Billigung einer solchen Lösung diesen
Konfliktstosf Europas und damit der Welt nicht beseitigt. Der junge Völkerbund
wird alsdann die elsaß-lothringische Frage niemals von seiner Tagesordnung
verschwinden sehen. Und die historisch belegbar« Tatsache, daß Frankreich zwar
unter dem Beifall elsässischer und lothringischer Bürgermädchen, aber gegen den
Protest ernster und besonnener elsässischer und lothringischer Männer namentlich
vom Platten Lande sich diese Gebiete zum zweiten Male gewaltsam einverleibt
hat, könnte uns als Plattform für spätere Einsprüche sehr nützlich, ja geradezu
unentbehrlich sein. Wenn die Schuld unserer Regierung an der elsaß-lothringi-
schen Katastrophe untersucht werden wird, wird auch festgestellt werden müssen,
ob nicht eine rechtzeitige freiwillige Lockerung der Beziehungen Elsaß-Lothringens
zum Reich günstigere Aussichten für den Friedenskongreß geschaffen, ob damit
nicht zumal die verhängnisvolle Besetzung durch französische Truppen überhaupt
aus der Erörterung hätte ausgeschaltet werden können. Möge der Historiker, der
einstmals in diesem trüben Kapitel deutscher Geschichte blättern wird, doch daZ
eine anerkennen können, daß in letzter Stunde wenigstens unsere leitenden
Stellen von der kurzsichtigen Vogelstraußpoliti! im Reichsland abgelassen und
damit der antifranzösischen Orientierung dort im Lande nicht auch noch selber
die letzten kümmerlichen Trümpfe aus der Hand geschlagen haben.
er Jdeologe Max von Baden legte die Geschäfte des Reichskanzlers
in die Hände des Staatsmannes Ebert, nachdem er zuvor den Kaiser
zur Abdankung gezwungen und die Wege für die Umwandlung
Deutschlands in eine Republik geebnet hatte. Max von Baden ist
zunächst erledigt. Seine politische Laufbahn als Sprachrohr und
... Kulisse war wenig ruhmvoll, und doch ist es sein Name, an den
sich bei den süddeutschen Liberalen ein neuer Kaisertraum knüpft. Ob er bewußt
oder unbewußt seinen Weg gegangen ist, bleibt einstweilen unerörtert, ist politisch
auch völlig gegenstandslos, — eher schon Gegenstand eines nachdenklichen Romans.
Wir können uns lediglich mit den handelnden Männern aus der offenen Bühne
beschäftigen.
Die Lage Deutschlands mag gewissen Theoretikern heute klarer und aussichts¬
reicher erscheinen, wie vor acht Tagen, als wir uns noch auf des Kaisers Weigerung
abzudanken, stützen konnten. Der Praktiker der Politik wird mit um so größeren
Sorgen feststellen, daß die Zukunft Deutschlands noch unübersichtlicher geworden
ist, wie sie vordem war, ausgenommen natürlich für die Männer der Sozial¬
demokratie, die den Zeitpunkt für gekommen hielten, offen hervorzutreten und das
Staatsruder an sich zu reißen. Sie sind von dem gleichen uferlosen Optimismus
beseelt, wie die deutschen Diplomaten, die für den ersten Schritt zu Wilson ver¬
antwortlich sind und die auch geglaubt hatten, es genüge, sich an Wilson zu
wenden, um diesen „Idealisten" zur Gerechtigkeit dem deutschen Volke gegenüber
zu vermögen. Herr Ebert, der neue Reichskanzler will Frieden schließen und die
politischen Errungenschaften der letzten Wochen befestigen. Dies ist sein Programm!
Und für dies nüchterne Programm, das mit unverdrossener, langwieriger Arbeit
rechnet, wäre in der Tat der Weg frei, wenn nicht die Unabhängigen Forderungen
gestellt hätten, die keine, das Wohl des Volkes unbefangen erfassende Regierung
annehmen durfte. Nun ist es dennoch geschehen! Um die Einigkeit des Sozia¬
lismus in Deutschland herbeizuführen oder wenigstens nach außen zu demon¬
strieren, ist ein Vertrag zwischen den beiden Richtungen abgeschlossen worden, der
in seinem Kompromißgeist viel mehr an eine nationalliberale, als an eine sozial¬
demokratische Kundgebung erinnert. In dem neuen Vertragsverhältnis ist alles
unbestimmt bis auf das, was verneint wird. Aus dem Vertrage spricht eine be-
bäuerliche und zugleich bedrohliche Furcht vor der Peaktion aus dem Bürgertum.
Was anderes vermag ich in der Verschiebung der konstituierenden Versammlung
auf unbestimmte Zeit nicht zu erkennen. Der Ersatz der Nationalversammlung
durch eine demnächst zu berufende Vollversammlung der Arbeiter- und Soldaten¬
räte, in der doch die in der Regierung nicht vertretene Spartakusgruppe herrscht,
waren dem russischen Beispiel nachgebildet. Trotz allen Vertrauens in den nüchternen
Sinn des deutschen Volkes können wir doch mit ziemlicher Sicherheit voraussagen,
wohin der Weg, dieser russische Weg führen muß. Das deutsche Volk steht
nur noch einen halben Schritt von dem Abgrunde entfernt, in den es
seine Feinde stoßen möchten--—I
Nachdem die internationale Demokratie hüben und drüben die Person Kaiser
Wilhelms und seines Sohnes als Friedenshindernis in der ganzen Welt gebrand-
markt haben, muß es sich nun zeigen, ob die Volksregiernng allein durch ihr Er¬
scheinen auf der Bildfläche befähigt sein wird, einen Frieden zu erzwingen, wie
ihn das deutsche Volk auch wirklich ertragen kann. Der „Vorwärts" läßt sich aus
London über die Schweiz berichten, „daß bei den englischen Kriegstreibern ernste
Befürchtungen wegen der Rückwirkung der Demokratisierung Deutschlands auf die
englische Arbeiterschaft bestehen", während in Dortmund verbreitete Flugblätter
melden, daß „unsere Vorpostenbovt» sich mit den englischen vereinigt" hätten.
Auf den englischen Booten sollen die gleichen Zustände, wie auf den deutschen
herrschen, und in der französischen Flotte soll die Lage eine ähnliche sein. Durch
die Bedeutung, die die neue Negierung solchen und ähnlichen Nachrichten beimißt,
begibt sie sich auf den Weg der gleichen Illusionen und der gleichen Über- oder
Unterschätzung der Gegner, denen alle unsere Regierungen seit Kriegsbeginn er¬
legen schienen, indem sie den moralischen Zusammenbruch'der gegnerischen inneren
Front immer und immer wieder verkündeten. Hoffen wir im Interesse des
Landes, daß die republikanische Regierung besser unterrichtet ist, wie die monar¬
chischen Regierungen es waren.
Ein Hinübergreifen der deutschen Revolution nach England würde tatsächlich
eine ganz neue weltpolitische Lage schaffen, — vielleicht gar eine solche, die viele
innerpolitische Gegner der letzten Linksverschiebung auszusöhnen geeignet wäre.
Doch — wir wollen uns keinen Illusionen hingeben: wahrscheinlich werden die
englischen und französischen Sozialisten, nachdem sie nun unter bürgerlicher Führung
Herren des ganzen linken Rheinufers mit seinen Bodenschätzen und sonstigen
Reichtümern geworden sind, in ihrer großen Mehrzahl nur solchen Frieden gut¬
heißen, der das Deutschtum niederzuhalten geeignet ist, besonders jme uuter ihnen,
die im zerstampften Nordfrankreich zu Haus sind. Ihre Rachegefühle gegenüber
dem angeblichen Schuldigen an all dem Unglück werden ohne Grenzen und Maß
sein. Daß nach dem Friedensschluß unsere westlichen Nachbarn von der sozialen
Revolution heimgesucht werden, und-daß dann der Unmut der Massen mit ihren
heutigen großkapitalistischen Führern und ihrem politischen Wirken bis zu einem
gewissen Grade aufräumen, mag bei vielen Hoffnungen wecken, etwa auch die auf
eine Revision des uns zugedachten Unterwerfungsfriedens und auf die Schaffung
einer politischen Grundlage für das Völkerbundsgebäude ohne begrenzte Staaten¬
ruinen darin.
Die am 10. November veröffentlichten Waffenstillstandsbedingungen mit
ihrer unverhüllt zum Ausdruck gebrachten Absicht, das deutsche Volk zu erwürgen
und dem Hunger preiszugeben, sind indessen nicht geeignet, uns solche Zukunfts¬
möglichkeiten wahrscheinlich zu machen. Treten sie dennoch ein, so wird es vor
allen Dingen von den Zuständen in deutschen Landen abhängen, ob wir aus
ihnen werden Nutzen ziehen können. Wie aber der Zustand, in den wir scheinbar
unwiderruflich hineingleiten sollen, auch nur zu den bescheidensten 'Hoffnungen
berechtigen könnte, nachdem ein großer Teil des Reichs von fremden Truppen
besetzt ist, und die russischen Polen schon wagen ihre Hand nach der Provinz.
Posen zu strecken, ist mir völlig unbegreiflich. Wir sind seit Annahme der Waffen¬
stillstandsbedingungen zu einem Sklavenvott oder zu einer Kolonie der Westmächte
herabgesunken. Wir haben augenblicklich keinerlei Möglichkeit, den Gang der aus¬
wärtigen Politik wirksam zu beeinflussen. Die großen Richtungslinien in der
auswärtigen Politik für das, was in den nächsten Tagen und Wochen zu ge¬
schehen hat, werden uns von Herrn Wilson und der Entente vorgeschrieben. Und
wir haben, entwaffnet und eines bedeutenden Teils unserer Verkehrsmittel beraubt,
zu gehorchen I Wie diese Richtungslinien aussehen werden, wissen vielleicht die
Götter, — wir wissen es jedenfalls nicht, da wir auch heute noch nicht ermessen
können, ob Wilson ein Freund der Gesamtmenschheit ist oder der Bannerträger
des modernen amerikanischen Kapitalismus. Was konnte es also frommen von
Dingen zu sprechen und über sie zu urteilen, für die wir keine Unterlagen haben.
In stummer Ergebenheit, wenn auch mit Zähneknirschen, gilt es hinzunehmen,
was im Rate der siegreichen Völker über uns beschlossen wird.
Um so energischer und um so hingebungsvoller gilt es, sich unseren inneren
Verhältnissen zuzuwenden, gilt es zuzugreifen, wo irgend nur eine Gelegenheit
sich bietet. Es gibt ihrer tausende für jeden deutschen Mann, der sein Volk liebt
und der in diesen erschütternden Stunden den Mut hat zu erkennen, daß die
furchtbarsten Prüfungen nicht etwa vorüber sind, sondern erst noch kommen. Die
große Masse, von vierjährigen unsäglichen Druck befreit, jauchzt, der Hölle im
Westen lebendig entronnen zu sein und die Freiheit wiedergewonnen zu haben.
Sie wird Wohl schon nach wenigen Wochen anfangen zu merken, in welche furcht¬
baren Verhältnisse das deutsche Wirtschaftsleben durch den Krieg und die Kapitu¬
lation, die Waffenstillstand genannt wird, geschleudert ist. Findet nicht eine sehr
starke Abwanderung aus den stillgelegten Industriezentren und Großstädten aufs
Land statt, und weiß die Bevölkerung sich im Verbrauch von Nahrungsmitteln
keine Müßigung aufzuerlegen, fo steht für Millionen das Gespenst des Hungers
auf. Hunger aber bedeutet Plünderung, Anarchie!
Dieser Gefahr und den aus ihr sich ergebenden ungeheueren Aufgaben
gegenüber muß jede Parteiansicht und jeder persönliche Gedanke zurücktreten.
Es gibt und darf nur eine Parole geben: bewahrt das Vaterland und das
deutsche Volk vor dem äußersteul
Die Revolution hat sich bisher, wo sie politisch geführt war, in Formen
abgespielt, die uns zum Teil Achtung abnötigen, weil eine elementare Zielstrebig¬
keit in ihr zum Ausdruck kommt. Wo vorübergehend der Straßenpöbel und sonstige
unlautere Elemente die Gewalt an sich bringen konnten, kam es daneben zu tief
beschämenden Auftritten. Wo die stellvertretenden Kommandierenden Generale
rechtzeitig die Lage erkannten und sich mit dem gesamten Behördeuapparat zur
Verfügung der Soldatenräte stellten, sind zunächst ernstere Zwischenfälle vermieden.
Eisenbahn, Post, Telegraph und Fernsprecher arbeiten bei einer selbst in Kriegs¬
zeiten ungewöhnlichen Überlastung in ganz hervorragender Weise. Jedenfalls hat
man den Eindruck, daß jeder beamtete Mann sein bestes hergibt, um den Zu¬
sammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Es kann ausgesprochen werden: die
so plötzlich zu einer völligen Freiheit gelangten Massen find durchaus nicht bös¬
artig, obwohl hier und da, besonders häufig naturgemäß in den großen Städten
und Berlin, Rachegefühle aus schlechten Einzelerfahrungen heraus auch zu Worte
kommen. Aus Gesprächen, im weiteren Kreise, wie sie gegenwärtig allenthalben
auf den Straßen geführt werden, habe ich in verschiedenen Städten des Ostens
über die Gesinnung der Soldaten und ihrer bisherigen Führer den besten Eindruck
gewonnen. Sie wollen tatsächlich Gutes I Vielfach kommt eine Stimmung zutage,
die sehr lebhaft an die erinnert, wie sie sich der an» schwerem Gefecht zurück¬
kommenden Mannschaften bemächtigt: reine, gutmütige Freude und Ausgelassenheit,
Frohsinn am wiedergeschenkten Leben, für das sie Stunden oder Tage hindurch
gezittert hatten.
Wird dies Volk gut geführt, so kommen wir über alle sich uns
entgegentürmenden Schwierigkeiten, ohne noch mehr Schaden.M
nehmen. Gute Führung! wie einst draußen im Felde, so in der
Heimat.
Wie sieht es mit der Führerschaft aus? Was will und kann die Regierung
Ebert? Auf ihr liegt alles I vor allem die Demobilisiemng, d. h. Unterbringung
von Millionen Männern in Brotstellen und die Ernährung der Großstädte. Und
dann die militärischen Aufgaben! Während ich diese Zeilen schreibe, versuchen
die Polen, in der Provinz Posen die Macht an sich zu reißen. Die Provinz
Posen hat in diesem Winter an das übrige Deutschland 69 Millionen Zentner
Kartoffeln, d, h. den fünften Teil des Gesamtbedarfes abzuliefern! Der Hinweis
genüge vorläufig, um die Bedeutung der Provinz für die allernächste Zukunft des
deutschen Volkes zu kennzeichnen. Wir wünschten, die einmal vorhandene Regierung
ginge furchtlos an die Bewältigung ihrer Aufgaben heran und blickte nicht rechts
und nicht hinter sich, auch nicht auf die alten, vorrevolutionären Streitfragen.
Sie braucht es nicht. Denn durch die Macht der außenpolitischen Verhältnisse
ist ihre Stellung so gefestigt, daß eine Reaktion oder gar ein Restaurationsversuch
sie nicht zu beseitigen vermöchte. Selbst das Vorhandensein eines Deutschen
Kaisers hätte sie unter den einmal vorhandenen Verhältnissen nicht hindern können,
ihre Macht im Lande »u befestigen. Nur das Chaos ist dieser Negierung Ebert—
Haase gefährlich. Unter dem Chaos aber würden auch alle die Volkskreise zu
leiden haben, die im Herzen Monarchisten sind oder bisher den monarchischen
Parteien angehört haben. Sie sind gezwungen, der Regierung an die Hand zu
gehen; sie müssen, ob sie wollen oder nicht, auch die gegen ihren Besitz gerichteten
Reformen durchführen helfen, weil dies vorläufig der einzige Weg ist, um das
Vaterland vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, vor Hungersnot und Anarchie
zu bewahren. Daran sollten die neuen Machthaber denken und sich der Bundes¬
genossenschaft ihrer politischen Gegner nach Kräften bedienen und nicht, wie es
den Anschein' hat, sie aus Furcht vor Reaktion ausschalten. Uns anderen ist es
heilige Pflicht, hinter die Regierung ohne jeden Hintergedanken zu treten, ohne
jeden Parteiegoismus, ohne jedes Sonderinteresse. Es wäre heute ein Verbrechen
am deutschen Volke, irgendwelche Schritte zu unternehmen, die dazu führten, die
Maßnahmen der Volksregierung zur Befriedigung des Landes zu beeinträchtigen
oder die Not des Volkes auszunutzen, um alten Parteiprinzipien zu neuer Geltung
zu verhelfen. Die alten Parteien sind tot, wie der alte Staat. An uns soll es
nicht liegen, wenn die Negierung sich als ohnmächtig erweist, und stürzen wir in
den Abgrund, so mit dem vollen Bewußtsein, unsere Pflicht dem Volke gegenüber
bis zum letzten Atemzüge getan zu haben. Soll neues Leben aus den Ruinen
blühen, so müssen wir alle, ohne Standes- und Parteiunterschied, mit Hand an¬
legen an das Werk des Wiederaufbaues des großen deutschen Volkes, das sich in
vier Kriegsjahren so herrlich bewährte.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werd-» kann.
le Umwälzung in Osterreich schreitet so rasch vorwärts und die
Vorboten einer Wohl ebenso tiefgreifenden Umgestaltung in
Ungarn häufen sich so sehr, daß jede Erwägung kommender Mög¬
lichkeiten von den Ereignissen selbst überhöht wird. Man kann
daher lediglich versuchen, die wirksamen, den Augenblick beherr¬
schenden Kräfte aus der Vergangenheit heraus zu beurteilen. Die
jüngsten Vorgänge selbst stellen freilich nicht das Ergebnis einer organischen Ent¬
wicklung dar, sondern die Folgewirkungen eines plötzlichen (für Eingeweihte viel¬
leicht nicht einmal ganz so plötzlichen) Umschwunges in der militärischen und
außenpolitischen Lage, bei dem allerdings die im Inland erwachsenen und gro߬
gezogenen Stimmungen keineswegs einflußlos waren. Aber diese: die Kriegs-
Müdigkeit und innere Zermürbung, die in ihrem Kern berechtigte, aber über
alles Maß gehende Erbitterung gegen militärischen und zivilem Bureaukratismus,
gegen eine alberne und drückende Zensur, gegen die unbedachte Verordnerei und
die Zentralmißwirtschast, das durch die Fehler und Sünden der Kriegswirtschaft
gesteigerte altösterreichische Mißtrauen gegen alles und gegen alle, die Skepsis am
Staat, das Entfalten idealer Kriegsziele und damit die ausschließliche Betonung
der Magenfragen oder die Flucht in einen Allerweltspazifismus, endlich die Ent¬
fremdung, ja Abneigung gegen den opferwilligen Bundesgenossen und gegen seine
angeblich den Frieden verhindernden Kriegsziele, die durch manche Ungeschicklich-
keit und Schroffheit im Auftreten reichsdeutscher,Kameraden, namentlich aber
durch eine systematische Hetzerei ungeahnte Verbreitung fand — das alles wäre
nicht entscheidend gewesen, wenn die Offensive an der Piave und die an der
Marne von Erfolg gekrönt gewesen wären. Dann hätte man mit Ach und Krach
aber doch auch den fünften Kriegswinter durchgehalten. Die Niederlage der-'
stärkte dagegen alle die schwächenden Einflüsse; selbst in deutschen Kreisen, in
denen man gewahrte, wie sehr das eigene Volk sich aufrieb, während die anderen
gediehen, ging vielfach die Zuversicht verloren und die Lehren derjenigen, die
nur im Frieden -um jeden Preis Rettung sahen, wurden immer lieber gehört.
Doch das Entscheidende lag nicht darin, sondern in der Wirkung der Regierungs¬
politik, die alle Feinde des alten Osterreich groß werden ließ, ja begünstigte,'wenn
sie nur sich dynastisch gebärdeten, und bald auch, wenn sie dies nicht taten.
Die Aufgaben der Regierungen in Osterreich und in Ungarn waren von
Anfang des Krieges an schwer. In Ungarn übersah man das; man meinte
durch einen siegreichen Krieg die Vormacht des Madjarentums stärken, Öster¬
reichs Stellung im Dualismus durch systematische politische und wirtschaftliche
Schwächung, geradezu durch eine gelinde Aushungerung Herabdrücken, im eigenen
Lande die „Nationalitäten" durch den wirtschaftlichen Gewinn Ungarns und
durch Versprechungen, -aber auch durch Zwangsmaßregeln enger an'das Mad-
jarentum fesseln, die demokratische Strömung durch eine gang ungenügende Wahl¬
reform abspeisen und der Welt mit den bewährten Hilfsmitteln ungarischer Preß-
und Agitationspolitik nach wie vor einreden zu können, Ungarns parlamentarische
Oligarchie sei eine wahrhaft demokratische Verfassung und die „Nationalitäten"
genössen die vollste Freiheit. Diese Vorspiegelungen versagten der Entente gegen¬
über völlig und auch den madjavenfreundlichen Reichsdeutschen kamen immer
stärkere Zweifel. Dagegen wuchs die Erbitterung der ungarländischen Nationali¬
täten, die für ihre eigene Unterdrückung bluten sollten, und die der Österreicher
in ungeahntem Maße. Noch als die äußere Lage immer bedrohlicher wurde, ver¬
sagte man den Südslawen eine Vereinigung und größere Freiheit im serbo¬
kroatischen „Subdualismus", mit der sie vielleicht zu gewinnen gewesen wären
und forderte den „Banat Bosnien" für Ungarn. Die Rumänen wurden in
Widerspruch zu früheren Verheißungen immer stärker gedrückt. Die natürlichen
Bundesgenossen der Madjaren aber, die österreichischen Deutschen, entfremdete
man sich durch die Wirtschaftspolitik, durch die fortgehenden Beschimpfungen und
Drohungen gegen Österreich, und durch das Unterbleiben jeder politischen Unter¬
stützung. Das Gefühl, man führe den Krieg nur zugunsten Ungarns und seiner
Ansprüche, und die Erkenntnis, Ungarn werde durch die Verarmung Österreichs
immer reicher, verbreiteten sich überall in Osterreich und wurden eine wesentliche
Ursache der wachsenden Kriegsmüdigkeit und Erschlaffung. Schließlich suchten
die Madjaren ihr verzweifeltes Spiel dadurch zu retten, daß sie Deutschland ver¬
rieten und sich der Entente zuwandten; zuletzt trennten sie sich auch von Osterreich,
indem sie nicht Waffenstillstand verlangten, sondern durch Waffenstreckung und
Neutralitätserklärung, ja durch die Versicherung, Freunde der bisherigen Feinde
werden zu wollen, von diesen die Sicherung der „Integrität Ungarns" zu
erlangen suchten. Sie haben dadurch Wohl alle Sympathien bei Freund und
Feind verloren! vielleicht aber gewähren ihnen die Feinde aus taktischen Gründen
wenigstens vorläufig günstigere Bedingungen. Dagegen haben sie es sich mit den
Südflawen und den ungarischen „Nationalitäten" durchaus verdorben.
In Osterreich standen die Regierungen von Anfang an der Gegnerschaft
der führenden Kreise bei Slawen und Romanen gegen den Einheitsstaat gegen¬
über, deren Äußerungen sie Wohl den Deutschen, nicht aber sich selbst und den
Feinden verbergen konnten. Sie hatten die Wahl, sich entschieden sür das Staats¬
programm der Deutschösterreicher zu erklären und sich auf die breiten, dynastischen
und im ganzen staatstreuen bäuerlichen Massen der andern Völker zu stützen oder
aber den Forderungen .nach nationaler Absonderung rückhaltslos zuzustimmen.
Im ersten Fall wäre es nicht aussichtslos gewesen, mit starker aber sanfter Hand
den Einheitsstaat und sein äußeres Zeichen, die deutsche Staatssprache, rechtzeitig
zur Geltung zu bringen, die passiven Massen der nichtdeutschen Bevölkerung zu
politisieren und an Stelle der antiösterrnchischen Politiker anderen, maßvollen
und ausgleichsfreundlichen zur Führung zu verhelfen. Im zweiten mußte man
ebenso unverzüglich die Verwirklichung der nationalen Autonomie, oder wenn sich
diese, wie zu erwarten war, als undurchführbar erwies, des nationalen
Föderalismus versuchen. Man entschloß sich zu keinem von beiden Wegen,
sondern schwankte zwischen Versprechungen nach der einen und vorbereitenden
Schritten in der andern Richtung hin und her, wobei ziviler und militärischer
Bureaukratismus nicht immer die gleichen Ziele ins Auge faßte. Dabei spielte
das zeitvergeudende Bestreben, die Polen für Regierungsmehrheit und Budget¬
bewilligung Ku gewinnen, eine große Rolle, auch noch, als ihr Ausscheiden aus
dem engeren Osterreich zugestanden worden war. Die Folge war, daß die
Deutschen zurückgedrängt, verbittert und ihre Bürger und Bauern ohne Partei¬
unterschied immer mehr auf den rein nationalen Standpunkt gebracht, die nicht-
deutschen aber zu immer weitergehenden Forderungen und zum offenen
Zusammenarbeiten mit den äußeren Feinden ermutigt wurden. Den Ernst ihrer,
bald vom Nationalitätenbundesstaat „im Rahmen der Monarchie" zu voller
staatlicher Unabhängigkeit fortschreitenden Programme verkannte man
insbesondere in Hofkreisen so sehr, daß man glaubte, mit Versprechungen und
Gnadenbeweisen die Erregung „beschwichtigen" zu können. So gelangten
schließlich von den beiden einzigen internationalen Parteien die eine, der reine
Ultramontanismus, ganz ins Hintertreffen, und die andere, die deutsche Sozial¬
demokratie, ins nationale Fahrwasser. Diese hatte lange die nationale Personal¬
autonomie als Allheilmittel angesehen und ihr weitere Anhänger gewonnen,
scheinbar überraschend, ober im Zuge einer folgerichtigen Entwicklung (die zudem
auch dem Anwachsen ihres vor allem gegen das monarchische Deutsche Reich
ankämpfenden linken Flügels entsprach), gelangte sie nun auf den Standpunkt des
„uneingeschränkten Selbstbestimmungsreclites der Volker auf ihrem Volksboden"
<oder „in ihrem Siedlungsgebiet") und damit auch zur Forderung des deutsch-
österreichischen Nationalstaats. Da folbst die klerikale deutsche Bauernschaft auf
denselben Standpunkt kam — nicht ohne Mühe wirkt ein Teil ihrer Führer
wenigstens dem Eindringen der republikanischen Idee in sie entgegen —, fo war
der Sieg des Nationalitätenprinzips ein allgemeiner. Und aus ihm ergab sich
dreierlei: das Zurücktreten der Bestrebungen, welche die „unabhängigen National¬
staaten" zu einem österreichischen Bundesstaat zusammenzufassen, ja auch nur
einen Staatenbund auf dem Boden des bisherigen Österreich zu sichern suchten,
und in denen das erwachte Mißtrauen der Völker Versuche zur Rettung des
Einheitsstaats erblickt, die Ausdehnung der nationalen Gebietsansprüche auf
ungarischen Staatsboden, auch von deutscher Seite, endlich das Anschwellen der
republikanischen Bewegung.
Das Selbftändigkeitsgefühl der Völker widerstrebt immer mehr nicht nur
der Real-, sondern auch der Personalunion und das offensichtliche Bestreben des
Monarchen, sich den Titel und Schein der Herrschaft über alle die auseinander¬
strebenden Gebiete durch die Abkehr vom Deutschen Reich und aus der Hand
Wilsons zu sichern, entfremdete ihm auch überzeugte Monarchisten. Vollends
nachdem der Waffenstillstand auch den Südslawen drückende Bedingungen auf¬
erlegte und sie bezweifeln müssen, ob sie aus der Hand Englands, Frankreichs oder
Amerikas zurückerhalten können, was ihnen Italien „vorläufig" nimmt, dürfte
auch bei den Kroaten das Bemühen jener „katholischen" Politiker vergeblich sein,
die ihnen wie den Tschechen die Aussicht zeigen, durch die Wiederaufrichtung.
Föderalisierung und slawische Orientierung der österreichischen Monarchie
Deutfchösterreich vergewaltigen und ausnutzen zu können. Man hat Lammafch
und feine Regierung nur als Liquidationsverwaltung anerkannt und die Friedens¬
konferenz der Völker für alleinbestimmend erklärt. Immerhin schart sich um
diese Gruppe eine nicht unbeträchtliche Zahl von solchen, die mit dem alten
Gesamtstaat ideale und materielle Werte zu verlieren fürchten, Hofmänner und
Feudaladelige, hohe Beamte und Militärs, national farblos erzogene Offiziere
und Geistliche, Geldmänner u. a. in. Je weniger die nichtdeutschen Völker aus
dem Inventar des alten Österreich zu übernehmen geneigt sind, desto mehr davon
suchen diese „schwarzgelben" („alt"- und „neuösterreichischen") Kreise dem
„deutschösterreichischen" Staat aufzuhalsen, der unter dieser Fülle von Lasten und
Verpflichtungen ersticken müßte, nur um den Namen Österreichs und den Ansatz
zu dessen Neubildung zu retten. Das ist der Grund, weshalb die Deutschen
immer entschiedener erklären, sie wollten keinen „Reststaat", sondern ein neues
politisches Gebilde darstellen. Ja wachsende Kreise in der Provinz lehnen des¬
halb auch den Namen „Deutschösterreich" und die babenbergischen Farben
Rotweißrot als Staatsfarben ab; sie verlangen „Ostmark" und Schwarzrotgold.
Die Besorgnis vor den Bestrebungen der „schwarzgelben", die mit allen Mitteln
sich zu kräftigen und zu sammeln und auf die Entente und Wilson einzuwirken
suchen, verstärkt einerseits die republikanische Bewegung, anderseits aber das
Verlangen nach vollem Anschluß an das Deutsche Reich, das aus dem nationalen
Gefühl und der bittern Erinnerung an die unbedankte Selbstaufopferung unseres
Volks erwachsen ist. Während man darüber streitet, ob es taktisch angezeigt sei,
dieses auszusprechen oder nicht, während die Meinung der Politiker auch über die
Aussichten auf seine Verwirklichung auseinandergehen, wird es immer lauter von
der Bevölkerung erhoben und die deutsche Sozialdemokratie ist rasch von der
bedingungsweisen Forderung nach der Vereinigung mit Deutschland zur
unbedingten übergegangen. Sie hat das Wort von der „großdeutschen Republik"
geprägt. Der Anschluß an das Gesamtvolk erscheint auch ihr als der sicherste
Schutz gegen alle Bestrebungen, die auf Reststaat, Bundesstaat oder Auslieferung
der Ostmarkdeutschen an einen Austroslawismus hinzielen' und die über Nacht
wieder an Kraft gewinnen können, wenn die auswärtige Lage oder die Diplomatie
unserer Kriegsgegner sie begünstigt. Sagt man doch, daß manche Slawenführer
der Kraft der Nationalstaaten mißtrauen und deshalb als letztes Ziel doch wieder
ein festeres Gefüge anstreben, in dem sie den Deutschen gemeinsam das Joch auf¬
erlegen. Ernste Politiker versichern, daß Kramarsch in Paris für einen solchen
Vundesstaat und für die Dynastie wirke, der er persönlich und für seine Sache
Dank schuldet. Denn die Amnestie war die volle Kapitulation vor dem
tschechischen und südslawischen Nationalstaatsprogramm, nachdem ihr mit der
„voraussetzungslosen Einberufung des Abgeordnetenhauses die halbe voran¬
gegangen war.
Dem politischen Geographen, der Österreich-Ungarns > Boden als eine
natürliche Einheit innerhalb des größeren Ganzen „Mitteleuropa" ansieht, der die
Nachwirkung einer Fülle von geographischen Gegebenheiten und das Ergebnis
einer jahrhundertelangen (freilich in den letzten Dezennien in Stillstand
gekommenen geschichtlichen Entwicklung der Monarchie für solide Grundlagen
eines Ttaatöbaus hält, liegt der Gedanke nahe, daß die neuen politischen Gebilde
wieder nach engeren wirtschaftlichen und dann auch politischen Beziehungen
streben werden, sobald die derzeitige Gegnerschaft und Entfremdung erst vor
gemeinsamen Lebensbedürfnissen zurücktritt. Das Nationalitätenprinzip ist
— wie schon die Gvenzsorderungen der Tschechen und Südslawen zeigen — nicht
vollkommen auf der politischen Karte zu verwirklichen, und wenn es heute Trumpf
ist, so mischen doch diejenigen, die es am lautesten sür ihre Forderungen anrufen,
ihm eine gute Dosis von unverhüllten Imperialismus bei. Es führt also nicht zu
klagloser Abgrenzung und dauerndem Frieden der Völker, sondern wo die Einsicht
zu einverständlichem Ausgleich fehlt oder die Sprachmengung einen solchen ver-
eitelt,'zu neuer Unbill und neuen Klagen. Das muß die gegenseitige Abneigung
der neuen Staatsnationen verstärken und dauerhafter machen, und es ist daher
wahrscheinlich, daß die eine wie die andere ihren wirtschaftlichen Anschluß und
ihre politischen Freundschaften lieber außer- als innerhalb des Nahmens sucht,
der sie bisher zusammenhielt. Diese Gefühlsmomente weisen eher aus einen
späteren wirtschaftlichen Zusammenschluß eines engeren oder weiteren „Mittel¬
europa" hiu, als auf eine Neubelebung des engeren historischen Österreich-Ungarn
oder gar Österreichs.
Steht eine solche außerhalb des derzeitigen Gedankenkreises der meisten
Deutschösterreicher, so drängt sich in diesen immer mehr die Notwendigkeit einer
Verständigung mit den Nachbarn über die drängenden Fragen des Augenblicks.
Hier steht die Ernährungsfrage voran, sowohl um ihrer selbst willen, als auch
wegen ihrer Beziehung zu den sozialrevolutionären Bewegungen, die von Nu߬
land ausgehend, alle Staaten bedrohen und durch die Auflösung der österreichisch¬
ungarischen Armee insbesondere für Südösterreich und die serbokroatischen Länder
eine besonders drohende Gestalt annehmen. Die Sozialdemokratie ist ebenso
bedroht von bolschewikischen Gefahren wie Bürgertum und Bauern, um so mehr
je größer die Kriegsgcwinne der organisierten Arbeiter sind. Sie sucht daher
Anschluß an jene, wenn sie auch dabei die Führung zu behaupten sucht, und schiebt
daher auch nationale Forderungen neben demokratisch-politischen in den Vorder¬
grund, auch um die Massen vom Anarchismus auf positive Ziele abzulenken. Die
tschechische und südslawische Absperrung gegen Deutschösterreich, die ihm die
Nahrungsmittel fernhält, um es politisch gefügig zu machen, steigert die inneren
Gefahren für die Ostmark, liegt aber auch nicht im Vorteil der Slawen selbst, die
ihre aufgespeicherten Vorräte doch mich absetzen müssen, und vermehrt auch für sie
die Bedrohung durch den Anarchismus, dessen sie selbst sich bereits schwer
erwehren. Findet er heute, national verkleidet, aus den Südslawenländern in das
deutsche Gebiet, so kann er verstärkt aus diesem zurückfinden, um so eher, je voll¬
ständiger ausgesogen es ist. Aber auch die Slawen benötigen Produkte Deutsch¬
österreichs, deren 'Ausfuhr dieses sperren muß, insbesondere die Südslawen z. B.
Eisen, Textilwaren, Papier, Zündhölzer u. a. Auch die gemeinsame geographische
Lage schafft gemeinsame Bedürfnisse benachbarter Länder, seien es' gleichartige,
seien es solche wirtschaftlicher Ergänzung. Braucht das deutsche Hinterland die
slawischen Häfen, so brauchen diese die Warenzufuhr aus jenem. Mit den
Tschechen verbinden sie keine derartigen Fäden, lediglich politische. Dagegen haben
sie in Ungarn und Italienern Gegner, die sie mit den Deutschen' gemeinsam
besser abwehren können. Verständigen sie sich mit Teutschösterreich und treten
sie für dessen Forderungen, wir für ihre, geeint auf dem Friedenskongreß ein, so
gewinnen beide doppeltes Gewicht. Nachbarfeindschaft ist dagegen störender, als
etwa die Feindschaft der räumlich so weit entfernten Tschechen. Deshalb enthalten
scheinbar schroffe Kundgebungen von südslawischer und deutschösterreichischer
Seite so manche Punkte, an die sich Verständignngsversuche anknüpfen lasten, und
in der Tat sind Verhandlungen bereits begonnen. Die im Waffenstillstand
bedungenen weitgehenden Besetzungen südslawischen Gebiets dnrch die Italiener >
oder zu ihren Gunsten dürften in Agram und Laibach Empfindungen auslösen,
die der Verständigung mit den Deutschen zugute kommen. So ist aus eine bessere
Versorgung Deutschösterreichs und einen leidlichen Schutz der deutschen Minder¬
heit im Süden zu hoffen. Schon Anfang November haben ja die Südslawen,
welche den Bahnbetrieb im slowenischen Gebiet übernehmen und die deutschen
Beamten wegschicken wollten, einsehen müssen, daß sie damit den Verkehr ernstlich
gefährden, und man hat ein Abkommen über eine Art von gemeinsamem Betrieb
getroffen. Ebensosehr muß beiden Teilen daran liegen, daß Trieft nicht
italienisch bleibt.
Schwieriger werden Verhandlungen auch nur über den Warenaustausch
zwischen Deutschen und. Tschechen werden. Scheinen doch die Tschechen den
deutschen Nationalstaat nicht anerkennen und ihm die Vertretung auf dem
Friedenskongreß versagen zu wollen. Darauf deutet hin, daß sie über Nahrungs¬
mittelgefahr nach Wien nur mit der Stadt selbst, nicht mit der deutschen National¬
regierung verhandeln wollten. Mer Deutschböhmen entscheidet wahrscheinlich
keine Verständigung, vielleicht sogar offener Kampf; die tschechische wie die deutsche
Regierung in Böhmen sucht Sprachgrenzorte mit nationalen Truppen zu besetzen.
Deshalb richten insbesondere die böhmischen Deutschen ihren Blick aus
Deutschland.
Die räumliche Trennung Deutschnordböhmens, der mährisch-schlesischen
Gebiete, die sich zur „Provinz Sudetenland" erklärt haben, und des geschlossenen
süddeutschen Gebiets hat manche veranlaßt, an drei selbständige deutsche Staaten
zu denken und sogar eine gesonderte Politik vorzuschlagen: dort Einverleibung ins
Deutsche Reich, hier staatliche Selbständigkeit müsse das Ziel sein. Dabei könnten
leicht alle schlecht fahren. Sie müssen einig bleiben und gegenseitig für einander
eintreten. Wohl aber rechtfertigt die getrennte Lage eine weitgehende Autonomie,
ja Föderalismus innerhalb des Ostinarkstaates. Auch in den Alpenländern, der
Wiege des Autonomismus, ist dieser durch die letzten Ereignisse neu belebt
worden. Der ,,Kronlandspatriotismus" spiegelt sich in der Selbständigkeits¬
erklärung Vorarlbergs „innerhalb des deutschösterreichischen Staats", in dem
Wiederaufleben des „Egerländer Staatsrechts", in der Gründung des steirischen
Wohlfahrtsausschusses und der Aufforderung, solche auch in den andern Kron¬
ländern zu errichten, und in der Einsetzung von Landesregierungen in Böhmen,
Schlesien, Oberösterreich, Salzburg, .Körnten, Steiermark. Der deutsch¬
österreichische Staatsrat sah sich bald veranlaßt, allgemeine Satzungen für die
Bildung von Landes-Nationalversammlungen zu erlassen. Das alles deutet nicht
darauf hin, daß eine allgemeine Kreiseinteiluug oder ähnliche zentralistische Ein¬
richtungen bevorstehen. " Vor allem erklären sich die Kronländer als geschlossene
Ernährungs- und Wirtschaftsgebiete. Aber unter dem Eindruck der Waffen¬
stillstandsbedingungen, die in Deutschtirol erbittern mußten, ist es leicht möglich,
daß dieses Land sich auch politisch selbständig erklärt und den Anschluß an Bayern
verkündet, ja daß es damit Salzburg, vielleicht Oberösterreich mitreißt. Bis diese
Zeilen gedruckt werden, wird man darin klarer sehen; sollte es aber auch nicht
dazu kommen, die Stimmung, die danach drängt, ist recht verbreitet. Auf der
andern Seite scheinen die Slowenen geneigt, sich eine weitgehende autonome
Sonderstellung innerhalb Jugoslawiens zu sichern. Auch der tschechoslawische
Staat scheint ein autonomes Böhmen, Mähren und Slowakien (als dessen Haupt,
stadt man das deutschmadjarische Preßburg beansprucht) ins Auge zu fassen. So
sehen wir die Tendenz nach Nationalstaaten verbunden mit der nach innerem
Föderalismus, um so mehr als der Republikanismus seinem Wesen nach
föderalistisch ist. All das wirkt zusammen im Sinne einer „Balkanisierung", einer
kleinräumigen Entwicklung, die in schroffen Gegensatz zu den großräumigen
Tendenzen des 19. Jahrhunderts steht. Wird sie vor dem Deutschen Reiche, wird
sie vor den imperialistischen Großmächten, die uns den Frieden diktieren, halt¬
machen? Und wird sie von Dauer sein können? Das sind Fragen, die beant¬
worten zu wollen vermessen wäre. Aber die Umwandlung des britischen Reichs
in den imperialistischen Bundesstaat, die auch der Krieg erst vollendet hat, lehrt
uns, daß Überraschungen und neue Formen keineswegs unmöglich sind.
> UM Verständnis der jüngsten Ereignisse und zur Beurteilung der
Haltung, die die verschiedenen Strömungen unserer gegenwärtigen
Sozialdemokratie zu den großen Zukunftsfragen unseres staatlichen
Lebens einnehmen, ist eine Vertiefung in die geschichtliche Ent¬
wicklung des sozialdemokratischen Programms unerläßlich. Gerade
>die äußerste Linke ist trotz ihres Radikalismus insofern die kon¬
servativste Richtung der Sozialdemokratie, als sie mit orthodoxer Starrheit an
den durch Marx aufgestellten Grunddogmen der Parteilehre festhält. Schon damit
ist gesagt, daß die Geschichte deS sozialdemokratischen Programms nicht lediglich
antiquarisches, sondern ein durchaus aktuelles Interesse bietet. In all seinen
historischen Stufen ist das sozialdemokratische Programm auch heute noch politische
Wirklichkeit, ein wesentlicher Faktor der zukünftigen Geschicke unseres Volkes in
einem Augenblicke, wo die Sozialdemokratie die Verantwortung dafür auf sich ge¬
nommen hat.
Der Ausgangspunkt der Entwicklung des Programms der deutschen Sozial¬
demokratie, ihr Katechismus gewissermaßen ist das Kommunistische Manifest, das
von Marx und Engels Ende 1847 im Auftrage des in London lagerten Bundes
der Kommunisten verfaßt wurde. Der Gedankengang dieser schwungvollen, literarisch
höchst wirksamen Programmschrift ist in Kürze der folgende:
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassen-
kämpfen. Die letzte Epoche hat die Klassengegensätze zu der Doppelung von
Bourgeoisie und Proletariat vereinfacht. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein
Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisieklasse verwaltet. Das
Wirtschaftssystem der Bourgeoisie, das revolutionierend wirkt, hat den umgrenzten
nationalen Markt zum Weltmarkt erweitert. Die feudalen Wirtschaftsverhältnisse
hat es durch die freie Konkurrenz bei starker Konzentration von Produktions-
Mitteln und Eigentum ersetzt. Dieser Prozeß ist eine stete Folge von Krisen. Es
bricht die Epidemie der Überproduktion aus. Die. Bourgeoisie überwindet? die
Krisen durch Vorbereitung allseiligerer und gewaltigerer Krisen. Im selben Maße
wie die Bourgeoisie entwickelt sich das Proletariat. Die Arbeiter werden selbst
zurMare und nehmen an allen Schwankungen des Marktes teil, zugleich wird
der Arbeiter ein bloßes Zubehör der Maschine. Der kleine Mittelstand wird auf¬
gerieben und ins Proletariat abgedrängt. Der Kampf gegen die Ausbeutung
durch das Unternehmertum schließt das Proletariat zusammen. Mit steigendem
Klassenbewußtsein wird der Kampf zum bewußten Kloflenkampf. Gleichzeitig
wächst die internationale Solidarität und das nationale Nivellement der Arbeiter¬
schaft. Die fortschreitende Industrialisierung verelendet den Arbeiter. Nicht dem
Inhalte, nur der Form nach ist der Kampf des Proletariats gegen die ihm je-
weilig gegenüberstehende Bourgeoisie ein nationaler. Sein Ziel ist die Sprengung
der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Die proletarische Bewegung ist die selb¬
ständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren
Mehrzahl. Der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats sind
gleich unvermeidlich.
Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien
nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der
Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen 5us
gesamten Proletariats geltend machen, anderseits dadurch, daß sie in den ver¬
schiedenen Entwicklungsstufen des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie
stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Ihr nächster Zweck ist Bildung
des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der
politischen Macht durch das Proletariat. Nicht das Eigentum überhaupt, sondern
das bürgerliche Privateigentum soll abgeschafft werden. Der gesellschaftliche
Charakter des Eigentums soll seinen Klassencharakter verlieren. Die Bourgeois¬
persönlichkeit, -Selbständigkeit und -freiheit wird aufgehoben, es gibt keine Lohn¬
arbeit mehr, wenn es kein Kapital mehr gibt. Die nationalen Absonderungen
und Gegensätze der Völker und ihre feindliche Stellung zueinander müssen dabei
zusehends verschwinden. Der erste Schritt in der Arbeiterrevolution ist die Er¬
hebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.
Die Hauptmaßregeln zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise sind für die
fortgeschrittensten Länder:
Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und
ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so ver¬
liert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. An die Stelle der alten
bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine
Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie
Entwicklung aller ist. Das Manifest schließt mit dem berühmt gewordenen Satz:
Proletarier aller Länder, vereinigt euchl
Diese von dem deutschen Juden Karl Marx und seinem treuen Archeits-
genossen Friedrich Engels, der einer rheinischen germanischen Kaufmannsfamilie
entstammte, gemeinschaftlich verfaßte Kundgebung wurde alsbald in mehrere
Sprachen übersetzt und hat in allen Ländern eine gewaltige Wirkung ausgeübt.
Sie gilt auch heute noch bei der radikalen Linken als nur in einzelnen Forde¬
rungen, nicht aber ihrem Geiste nach überholt. Rücken wir also, um uns ihre
heuiige programmatische Bedeutung klar zu machen, Ausgangs- und vorläufigen
Schlußpunkt der Entwicklung nebeneinander und untersuchen, welche Beziehungen
zum Kommunistischen Manifest das heutige offizielle Programm der Sozialdemokratie
aufweist, wie es auf dem Erfurter Parteitage 1891 zum letztenmal eine umfassende
Formulierung gefunden hat. Schon in der ganzen Anlage und Gliederung ist
die bestimmende Einwirkung des Kommunistischen Manifestes unverkennbar. Auch
im Erfurter Programm wird mit geschichtsphilosophischen Ausführungen begonnen
und am Schlüsse zur Formulierung bestimmter nächster Forderungen vorgeschritten.
Die Einzelpunkte dieses Programmes werden wir später ausführlich zu betrachten
haben. Hier sei nur angemerkt, daß in ihm die allgemeine Doktrin des Kommu¬
nistischen Manifestes im allgemeinen erhalten geblieben ist, während die konkreten
Folgerungen jetzt viel mehr ins einzelne gehen, ihre ursprünglich wesentlich soziale
Färbung mit einer politischeren vertauscht und sich der besonderen politischen Lage
in stärkerem Maße angepaßt haben. Die extremsten Forderungen der Abschaffung
des Erbrechtes, des allgemeinen Arbeitszwanges und der öffentlichen Kinder-
erziehung sind fallen gelassen; die deutsche Sozialdemokratie hat sich also immerhin
mit den bestehenden Gesellschaftszuständen in stärkerem Maße ausgesöhnt, als es
der Grundrichtung des Kommunistischen Manifestes entspricht.
Die politische Arbeiterbewegung selbst stand damals in Deutschland noch in
ihren allerersten Anfängen. Das Elend des Proletariats in den ersten Jahr,
zehnten der Industrialisierung war groß. Die Hungeraufstände der schlesischen
Handweber in den vierziger Jahren sind allgemein bekannt. Seltsame Er¬
scheinungen wie der Schneidergeselle Wilhelm Weitling mit seinen kommunistischen
Schriften bilden die ersten Vorläufer einer Jntellektualisierung des Proletariats
selber. Im allgemeinen werden die Anfänge der sozialistischen Lehre von der
bürgerlichen Intelligenz getragen. Insbesondere ist der Staatssozialismus von
Rodbertus eine bedeutsame Erscheinung. Das Wort Sozialismus hatte damals
geradezu einen stark bürgerlichen Beigeschmack, während die revolutionäre In-
telligenz sich als kommunistisch bezeichnete. Ihren Ursprung nahm diese Be¬
wegung aus dem Westen. Insbesondere bildete Belgien Ende der vierziger Jahre,
als Marx sich dort aufhielt, einen Mittelpunkt des internationalen Kommunismus.
Zwei Kongresse des Bundes der Kommunisten in London im Jahre 1847 führten
dann zur Abfassung des Kommunistischen Manifestes, der ersten Zusammenfassung
der neuen Parteidoktrin.
Vorläufig aber stand hinter dieser Bewegung nur ein winziges Häuflein
Agitatoren, das noch dazu auf aller Herren Länder verstreut war. Das Programm
der deutschen äußersten Linken von 1848 zeigt zwar einige Berührungen mit dem
Kommunistischen Manifest, trägt aber deutlich seine kleinbürgerlichen Züge zur
Schau. Ein Handels- und sozialpolitisches Arbeiterprogramm erschien am
10. Juni 1848 in der dreimal wöchentlich vom Zentralkomitee für Arbeiter
herausgebrachten Zeitung „Das Volk". Leiter dieser Organisation war der
Schriftsetzer Born, der in Brüssel und Paris dem Bunde der Kommunisten an¬
gehört hatte, woraus die Beziehungen dieser Arbeiterbewegung zu dem westlichen
internationalen Kommunismus hervorgehen. In diesem Programm werden
noch die Forderungen für die FaMkanten, die kleinen Meister und die Arbeiter
gesondert. Das Verlangen nach erweiterter Ausfuhr, nach Ausfuhrprämien und
freier Einfuhr von Rohstoffen weist entschieden lauf mer-kantilistischen Ursprung.
Ferner findet sich dort die -wichtige Forderung der Schaffung gewerblicher
Korporationen. Im dritten Absatz erscheinen eine Reihe wichtiger Programm-
Punkte, die dem heutigen sozialdemokratischen Programm näher stehen, als das
ungefähr gleichzeitig erschienene Kommunistische Manifest, so die Festsetzung von
Arbeitslohn und Arbeitszeit durch gemischte Kommissionen, Assoziationsrecht für
ti« Arbeiter zur Durchsetzung von Lohnforderungen, Abschaffung der indirekten
Steuern, unentgeltlicher Unterricht, Herabsetzung der Wählbarkeit aus das
24. Fahr, Arbeitslosen- und Jnvalidenfürforge, Freizügigkeit u. a. Auf Grund
dieses Programmes wurde ein Arbeiterkongreß zum 23. August 1848 nach Berlin
einberufen. Wir finden hier die ersten Ansätze einer planmäßigen zentralisierten
Arbeiterorganisation. Noch weiter greift ein Sendschreiben an alle arbeitenden
Stände Deutschlands zur Einberufung -eines sozialen Vorparlaments vom
22. August 1848 in Frankfurt. Dieses soziale Vorparlament sollte aus Arbeit¬
nehmern und Arbeitgebern zusammentreten und Schutz und Regelung der Arbeit
durch den Staat durchsetzen. Unter -anderem wurde in diesem Sendschreiben die
Errichtung einer sozialen neben der politischen Kammer, eine gemeinschaftliche
Sozialgefetzgebun-g für ganz Deutschland, die Schaffung 'eines sozialen
Ministeriums, das sich in Kultus- und Jndustrieminifterium teilen sollte, Ver¬
äußerung aller dem Staat gehörigen Fabriken (vgl. dagegen Komm. Man.
Punkt 7) und Landgüter, aber Ankauf sämtlicher Eisenbahnen (vgl. Komm. Man.
Punkt 6)/ neue Innungsverfassung bei Freizügigkeit und Abschaffung der Kon¬
zessionen, Schaffung einer Realkreditbank als 'Grundlage eines groß angelegten
Banksystems, Arbeitslosen-, Kranken-, Invaliden- und Hinter-bliebenenfursorge,
kostenloser Unterricht und Erweiterung der Bildungs-möglichkeiten gefordert.
Es ist nicht die Aufgabe dieser gedrängten Übersicht, die Entwicklung der
deutschen Arbeiterbewegung als solche darzustellen. Die kommunistische
Bewegung kam namentlich infolge des Kölner Kommunistenprozesses im Laufe
des nächsten Jahrzehnts ins Stocken, dagegen erhielt die deutsche Arbeiter¬
bewegung um die 60er Jahre einen neuen Antrieb durch die Wirksamkeit
Ferdinand Lassalles, der seine Agitation mit realpolitischem Geschick auf bestimmte
nächsterreichbare Programmpunkte einschränkte: die Schaffung von Produktiv¬
genossenschaften und die Gewinnung von Staatskredit zu ihrer Hebung als vor¬
läufiges Ziel, -als Mittel dazu die Durchsetzung des -allgemeinen und direkten
Wahlrechts. Lassalles nationale Gesinnung im Gegensatz zu Marx' Inter¬
nationalismus wird vielfach übertrieben, dagegen ist -ein gut hegelischer Glaube
an den Staat und der Drang zur unmittelbaren Wirksamkeit auch innerhalb der
bestehenden Verhältnisse allerdings für ihn bezeichnend. Kurz vor seinem plötz¬
lichen Tode -gründete er 1863 auf Antrag des Leipziger Zentralkomitees den
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, dessen erster Vorsitzender er wurde. Dieser
Verein war Lassalles organisatorische Hauptleistung, sein früher Tod im Sommer
1864 entriß ihn einer umfassenden agitatorischen Tätigkeit.
Während sich so die deutsche Arbeiterbewegung organisatorisch verfestigte,
brachte die Weltausstellung in London 1862 einen erstmaligen Zusammenschluß
der Internationale. Ihr erster Kongreß fand 1866 in Genf statt und beschäftigte
sich besonders mit der Frage der Arbeiterschutzgef-etzgebung und der Ge-Werkvereine.
Die deutsche Sozialdemokratie zersplitterte sich nach Lass-alles Tode in inneren
Gegensätzen, hauptsächlich in taktischen Fragen. Trotzd-em machte die Entwicklung
Fortschritte. Der Verein eroberte sich im Norddeutschen Reichstage Herbst 1867
erstmals zwei Sitz-e. Um dieselbe Zeit erschien der erste Band von Marx'
„Kapital" und gab damit der sozialistischen Bewegung ihre feste wissenschaftliche
Grundlage, namentlich durch die Mehrwerttheorie. Um dieselbe Zeit gelangten
die ursprünglich von der radikalliberalen Demokratie herkommenden Gewerk¬
schaften ins sozialdemokratische Fahrwasser, obgleich Lassalle und seine Schule kein
Interesse für sie aufbrachten. Der Nürnberger Vereinstag der deutschen Arbeiter¬
vereine vom 5. September 1368 vollzog den Anschluß der deutschen Arbeiterschaft
an die Internationale Arbeiterassoziation. Er überwand den bürgerlichen
Charakter und entschied das proletarische Gepräge der deutschen Arbeiterbewegung,
in der jetzt August Bebel eine führende Rolle spielte. Einige Jahre darauf (1874)
löste sich allmählich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und dieLassalleanische
Gruppe überhaupt in die sozialdemokratische Arbeiterpartei auf, die sich auf dem
Eisenacher Kongreß 1869 auf ein neu formuliertes Programm geeinigt hatte, dem
wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Wir fassen dieses mit
dem Programm des Parteitages zu Gotha im Mai 1375 zusammen, der die Ver¬
einigung mit den Lassallsanern offiziell durchführte und daher die spezifisch
Lassalleanischen Doktrinen besonders betonte.
Auch hier gilt die Arbeit als eine Angelegenheit der Gesellschaft, das
gesamte Arbeitsprodukt gehört also der Gesellschaft, d. h. allen ihren Mitgliedern
nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen. Das
Gothaische Programm betont dabei ausdrücklich die allgemeine Arbeitspflicht
(vgl. Punkt 8 des Kommunistischen Manifestes). Die Befreiung der Arbeit, die
nur durch die Arbeiterklasse selbst erfolgen kann, erfordert die Verwandlung der
Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung
der Gesamtarbeit. Ausdrücklich wird um Eisenacher, wie auch späterhin wieder
im Erfurter Programm betont, daß der Kampf um die Befreiung der arbeitenden
Klassen nicht ein Kampf für neue Klassenvorrechte, sondern ein Kanipf für gleiche
Rechte und Pflichten und für Abschaffung jeglicher Klassenherrschaft sei. Das
Ziel ist die Beseitigung des Lohnsystems und seine Ersetzung durch genossenschaft¬
liche Arbeit. Als Weg dazu werden im Gothaischen Programm besonders die
Lassalleschen sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter
demokratischer Kontrolle des arbeitenden- Volkes erwähnt. Ferner wird wieder
ausdrücklich festgestellt, daß die Lösung dieser sozialen Frage die Erringung
politischer Freiheit und Macht voraussetzt, und daß der Kampf um die neue
Ordnung zwar im nationalen Rahmen ausgefochten wird, dennoch aber eine
internationale Aufgabe bleibt. In beiden Programmen wird die Taktik auf
gesetzliche Mittel eingeschränkt, unter dem Eindruck des Sozialistengesetzes wurde
aber diese Wendung im August 1880 auf dem Kongreß zu Wyder in der Schweiz
gestrichen.
Auch in diesem Programm werden, wie im Kommunistischen Manifest, den
allgemeinen grundsätzlichen Zielen konkrete Forderungen angereiht, wie sie sich
aus der augenblicklichen politischen Lage ergeben. In dem genannten Programm
werden folgende Punkte unterschieden:
Das Gothaer Programm fordert außerdem Verbot der Sonntagsarbeit,
Regelung der Gefängnisarbeit, volle Selbstverwaltung für alle Arbeits- und
Unterstützungskassen. Im allgemeinen ist das Gothaer Programm ausführlicher
und zudem sichtlich bestrebt, den Forderungen eine positive Fassung zu geben,
während das frühere Eisenacher Programm mehr negativ die ' Abschaffung
bestehender Mißstände verlangt.
Über die nun folgenden Jahre des Sozialistengesetzes können wir kurz
hinweggehen, da sie keine wesentliche Änderung des Programms bringen, außer
jener bereits erwähnten Abänderung im Gothaer Programm auf dem Kongreß-
von Wyder im August 1880, die den Kampf mit allen Mitteln, auch den ungesetz¬
lichen, ansagte. Zugleich erfolgte damals eine Sympathiekundgebung für die
russischen Nihilisten. Der Kongreß von Kopenhagen im März 1883 fand bereits
in der neuen Ära der beginnenden Sozialreform statt, erklärte ihr aber sein
entschiedenes Mißtrauen. Der Kongreß betrachtete die Bestrebungen der deutschen
Regierung als unehrlich und als ein lediglich taktisches Mittel, um die Arbeiter¬
klasse von ihrem richtigen Wege abzulenken. Aus dem internationalen Arbeiter¬
kongreß in Paris im Juli 1889 wurde die Gleichberechtigung der Arbeiterinnen
zum erstenmal stark hervorgehoben. Der Sozialismus machte sich damit zum
Anwalt der Frauenbewegung, der er seither geblieben ist. Der Parteitag in Halle
im Oktober 1890 brachte wichtige organisatorische Änderungen, der Parteitag von
Erfurt im Oktober 1891 ein neues Programm, das wir als bisherigen Schlu߬
punkt der Entwicklung des offiziellen sozialdemokratischen Programms bereits
kurz erwähnten. Den Entwurf für dieses Programm lieferte Karl Kautsky.
Auch hier finden wir die geläufige Trennung zwischen allgemeinen Grund¬
sätzen und taktischen Einzelforderungen. Der allgemeine Teil wiederholt die unK
bereits bekannten Doktrinen. Wiederum wird der Untergang der kleinen
Betriebe aus der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abgeleitet und als ihre
notwendige Folge die Verelendung des Proletariats hingestellt. Es folgt sodann
wieder Me Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der
Sozialisierung der Warenproduktion. Wie die Verelendungstheorie, so sind auch
Klassenkampf und Internationalismus beibehalten. Aus den Einzelpunkten
hebe ich nunmehr bloß dasjenige heraus, was über die Programme von Eisenach
und Gotha hinausgeht:
Trotzdem hiermit die Entwicklung des offiziellen sozialdemokratischen
Programms bis an die Schwelle der Gegenwart durchgeführt ist, seien noch einige
Schlußworte über die lebendigen Strömungen im sozialdemokvatischen Parteilager
seit dem Erfurter Kongreß angefügt. Schon die Tatsache, daß dieses Programm
nunmehr bereits über 25 Jahre alt ist, macht es verständlich, daß in breiten
Kreisen der Sozialdemokratie die Tendenz auf eine Fortentwicklung des
Programms auftauchte. Diese Strömungen, die auf eine Revision des kanonischen
Parteiprogramms hindrängten, wurden unter dem Namen des Revisionismus
zusammengefaßt und machten der Parteiorthodoxie aus jedem Parteitag neue
Schmerzen. Die Verelendungstheorie, der Internationalismus, der Klassen-
kampfgedanke und manche andere Punkte zogen die Kritik realpolitischer Geister
auf sich, die insbesondere durch positive Einzelarbeit, z. B. in den aufblühenden
Gewerkschaften, eine innere Annäherung an das bestehende System vollzogen
hatten. Dabei war es weniger das Endprogramm, als die taktischen Einzel¬
fragen, an denen sich ein abweichender Standpunkt der liberalisierenden Rechten
der Partei gegenüber der konservativen Linken geltend machte. Eine Abänderung
des offiziellen Programmes hat die Opposition nicht durchgesetzt. Eine besondere
Zuspitzung erfuhr diese Scheidung durch die große Frage, vor die sich die Partei
am 4. August 1914 gestellt sah. Es ist bekannt, daß die damals aufklaffende
Scheidung der Geister schließlich zu einer Spaltung der Partei geführt hat. Die
Betrachtung einiger hervorstechender Erscheinungen der sozialdemokratischen
Kriegsliteratur wird mir demnächst Gelegenheit geben, aus die damit zusammen¬
hängenden Fragen an dieser Stelle noch etwas naher einzugehen.
er bürgerlichen Revolution ist die proletarische auf dem Fuße
gefolgt. Hatte jene das monarchische Prinzip» durch das parlamen-
MWMM. H karische -ersetzt, so läßt diese mit einem gewaltigen Sprunge das
l Ziel der „neuen Ära" vom 30. September hinter sich, um wo-
tz^l^M^ möglich sogleich das Neuland des sozialistischen ZukunftSstaatcs zu
erreichen. Und das zweitemal dringt die revolutionäre Welle, durch
die allenthalben emporschießenden Arbeiter- und Soldatenräte, tief hinein in die
Organisation der staatlichen Macht und Verwaltung, eine Aufgabe, die in so
kurzer Zeit zu erfüllen nur unter Anwendung radikalster Mittel — nicht mit
den zahmen Methoden der Bourgeoisie — möglich war.
Die Revolution vom 9. November ist eine vollzogene Tatsache. Es fehlt
uns heute die Ruhe und der Abstand von den Dingen, um die Frage nach dem
Warum und dem Wie befriedigend zu beantworten. Auch bleibt jetzt keine Zeit,
den Blick nach rückwärts zu richten, da brennende Gegenwartsprobleme den
ganzen Menschen verlangen. Worauf es ankommt ist das, sich ein klares Bild
von den herrschenden Zuständen -zu machen und in den Vordergrund zu rücken,
was die oonäi^lo sine «Mg, ron der ferneren Entwicklung darstellt.
Nach dem Grundsatz: dem Sieger die Beute, teilen sich die .alte Sozial¬
demokratie und die U. S. in die Regierung, nährend die Bürgerlichen leer aus¬
gingen. Obwohl dadurch wertvolle Kräfte brachgelegt sind, was auch die
Mehcheitssozialisten erkannten, und deshalb ursprünglich verhindern wollten,
muß kühle Besonnenheit anerkennen, daß es zunächst -wichtiger war, die Bildung
einer unabhängigen Opposition zu verhüten, weil sonst die Aufrichtung der neuen
. Ordnung überhaupt gefährdet wurde. Die Umrisse dieser neuen Ordnung
tauchten überraschend schnell aus den Novembernebeln der Revolutionstage auf.
Nach dem Muster der Sowjets — wie einst England für die liberalen Ver¬
fassungen, so ist jetzt Rußland für die sozialistischen das geheiligte Vorbild — sind
bekanntlich auch bei uns Arbeiter- und-Soldatenräte begründet worden, jene
Sturmvögel revolutionärer Umwälzungen nach verlorenen Kriegen deS
zwanzigsten Jahrhunderts.
Indem die Genossen der einzelnen Betriebe, Kasernen und Lazarette sich
zu Wahlkörpern zusammenschlossen, schafften diese Organisationen in ebenso
primitiver wie konsequenter Weise dem sozialistischen 'Proletariat die Hand¬
habe, um die Diktatur seiner Klasse mit einem Schlage durchzusetzen. Denn
dadurch, daß über das ganze Land hin die A.- und S.--R. gleichsam aus dem Boden
wachsen, wird die politische Macht des aber Regimes nicht nur an der Zentral¬
stelle, sondern in allen ihren lokalen Verästelungen lahm gelegt. Die Arbeiter¬
und Soldatenräte sind also zunächst nichts weiter, als Hilfs'konstruktion-en der
Revolution, die ihre Macht sichern sollen, Träger und Stützen der sozialistischen
Befehlsgewalt, gleichsam dezentralisierte Symbole der Volkssouveränität, das
„Volk" als Proletariat gefaßt. In den Kreisen der Me-Hrheitler wird auf diese
Eigenschaft der Nachdruck gelegt; so schreiben die „sozialistischen Monatshefte":
„Die Räte sind -ein Notbehelf für die Übergangszeit, die Konstituante im Reich,
im Staat und in der Gemeinde ist das Endziel." Auf feiten der Unabhängigen,
vor allem der intransigenteu Sy-artakusgruppe (Liebknecht), denkt man über
die Lebensdauer der Institution wesentlich anders, hier ist die Errichtung eines
Reichs-Arbeiter- und Soldatenrates als endgültiger Regierungsbehörde' bereits
angekündigt worden,
Vorderhand kennt niemand die Länge der „Übergangszeit", und so nehmen
die neuen Bildungen von Tag zu Tag festere Gestalt an. Der am 9. November
.provisorisch, tags darauf in seiner eigentlichen Form ins Leben getretene Groß-
Äerliner Arbeiter- und Soldatenrat hat „bis zum Zusammentritt sämtlicher
Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands" ^) die Führung der Geschäfte über¬
nommen und als eigentliches Regierungsorgan aus seinem Schoße einen
28gliedrigen sogenannten „Vollzugsrat" gewählt, der zurzeit die höchste Gewalt
im Reiche darstellt. Vom Vollzugsrat ist das Kgliedrige „politische Kabinett" für
Preußen mit der paritätischen Spitze: H?rsch—Ströbel am 11. November ernannt
worden, zum Teil aus eigenen Mitgliedern (Ströbel, Braun). Es geschah damit
also das staatsrechtliche — wenn dieser Begriff in revolutionären Zeiten erlaubt
ist — Kuriosum, daß die Regierung eines Gebietes von 4l) Millionen Einwohnern
einem lokalen Wahlkörper ihren Ursprung verdankt,, ohne daß auch nur die
sozialistischen Elemente außerhalb Berlins gehört worden wären. Die gleiche
Erscheinung, sogar in noch krasseren Formen, begegnet uns bei der Konstituierung
der neuen Re?chsleitung. Denn der „Rat der Volksbeauftragten", der die Porte¬
feuilles des Gesamtstaats unter sich verteilte, und dessen einer Führer sich „Reichs¬
kanzler" nennt, verdankt seine Existenz nichts anderem als höchstens einer „Wahl"
wiederum jenes Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrates, wenn man dessen
Akklamation vom Sonntag angesichts der vollzogenen Einigung beider soziaksti-
scher Gruppen, und des „t'ait aoooinvli" der Ministerliste noch so nennen darf.
Diese napoleonischen Methoden der Volkswillensbestimmung sind ebenso anfecht¬
bar, wie die Herkunft der Wahlkörper selbst, läßt sich doch „irgend ein geordnetes
Wahlverfahren für die Räte, das Gewähr für gleichmäßige Vertretung aller
Meinungen gibt", nach der bereits erwähnten sozialistischen Korrespondenz
„weder schaffen noch auch nur ausdenken".
Um so eindringlicher muß der provisorische Charakter der ganzen Räte¬
regierung betont werden, da es auf „gleichmäßige Vertretung aller Meinungen"
nicht nur im Proletariat, sondern im ganzen Volke ankommt'und, wie die Dinge
liegen, wichtige und wertvolle Schichten dieses Volkes zwar nicht mehr in Wort
und Schrift, um so stärker aber in ihrer politischen Handlungsfähigkeit aus¬
geschaltet sind. Die Räte sind, nach einem glücklichem Worte aus sozialistischen
Munde, Kampsorganisationen, nicht dauernde Verwaltungseinrichtungen und
„das beste Kriegsschiff ist der schlechteste Handelsdampfer". Die ent¬
scheidende Frage ver Zukunft lautet: gehen wir den russischen Weg
weiter, um im Chaos und Elend aller Volksteile zu enden, oder ge¬
lingt es, den gesunden Elementen unserer Sozialdemokratie, die sozialistisch-
proletarische Revolution in die Bahnen der echten, alle Volksgenossen umfassenden
Demokratie überzuleiten und so durch kluges Nachgeben im einzelnen die Gefahr
zu vermeiden, daß die Errungenschaften des 9. November im ganzen aufs Spiel
gesetzt werden. Und da ist heute gar kein Zweifel: die Stimme der Mäßigung
wird weithin im Lager der Partei gehört; man will nicht in den Fehler des alten
Regimes verfallen, indem der Zustand einer Minderheitsherrschaft länger als
unbedingt nötig aufrecht erhalten wird. Redlich und mit unbefleckten Händen
will man die im Sturm der Ereignisse erlangte konstituierende Gewalt an ihren
wahren Verweser, die gvoßdeutsche Nationalversammlung des gleichen
Wahlrechts zurückgeben, wenn die Stunde gekommen ist. Denn man
fühlt: noch ist der stolze Titel von „Volksbeaustragten" ein Vorschußlorbeer, und
eine Partei, die erst vor wenigen Wochen mit dem anoic-n iZ^iwiz um eine
Regierung des wahren Volksvertrauens gerungen hat, würde ihre eigene Ver¬
gangenheit Lügen strafen, wenn sie jetzt die Gelegenheit zur Bekundung dieses
Vertrauens unmöglich machte.
, In diesen Gedanken sind sich sämtliche sozialistischen Regierungen im
Reich und den Bundesstaaten einig mit der gemäßigten Parteipresse und sie
beherrschen -ebenso die Stimmung der feldgrauen Revolutionäre, wie jeder be-
zeugen wird, der mit den Soldatenräten Fühlung hat. Unsere Bolschewisten
dagegen fordern die brutale Diktatur des Proletariats. Diese stellt nicht nur
eine andere Regierungsform, fondern einen anderen Staat dar, nämlich den
proletarischen, der eine Maschine zur Unterdrückung der Bourgeoisie sein soll.
So hat es Wladimir Lenin vor einigen Wochen ausgedrückt in einem leidenschaft¬
lichen Artikel gegen den „Renegaten" Kautsky, der es in feiner gleichnamigen
Wiener Broschüre wagte, das Evangelium von der „Diktatur des Proletariats"
anzuzweifeln und eine ehrlich, demokratische Organisierung der Gesellschaft zu
fordern.
Kautsky, der gebürtige Tscheche und künftige Unterstaatssekretär im Aus¬
wärtigen Amt Hugo Haafes, rechnet sich zu den Unabhängigen. Er wird mit
feinen besonnenen Lehren in ihrem Lager wenig Gegenliebe sinden, ist man hier
doch sehr unzufrieden mit der „lauen" Haltung der Truppen °) und nicht abgeneigt,
die Frage der Konstituante sagen wir einmal — dilatorisch zu behandeln.
Namentlich die Spartakusleute zeichneten sich von vornherein durch anarchistische
Gewaltmethoden und Hetzversuche fehr unrühmlich aus. In der „Roten Fahne",
zu der sie unter Anwendung des Terrors einen Tag lang den „Berliner Lokal-
Anzeiger" umwandeln konnten, wurde in äußerst gehässigen Tone zum Wider¬
stand gegen die Anordnungen Eberts, des „vom gestürzten Kaiser neugebackenen
Reichskanzlers", aufgefordert. Vier Jahre lang, so heißt es dort, haben die
Scheidemänner, die Regierungssozialisten such durch die Schrecken eines Krieges
gejagt, haben sie euch gesagt, man müsse das „Vaterland" verteidigen, wo es sich
nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte.' Jetzt, da der
deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie sür die Bourgeoisie zu retten,
was noch zu retten ist und suchen die revolutionäre Energie 'der Massen zu
ersticken. Der Aufruf schließt mit den Worten: Es darf kein „Scheidemann"
mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten,
solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine'Gemeinschaft mit
denen, die euch vier Jahre lang verraten haben.
Gewänne dieser Geist die Oberhand, so wären die Folgen unabsehbar.
Aber wie gesagt, augenblicklich ist das nicht zu besorgen. Der Organismus der
Arbeiter- und Soldatenräte scheint gesund genug, um Krankheits- und Giftstoffe
solcher Art auszuscheiden oder wenigstens unschädlich zu machen. Wie man in
der Zirkus Busch-Sitzung vom Sonntag sich das Unrecht einer ultraradikalen
Zusammensetzung des Aktionskomitees nicht bieten ließ,') sondern auf seinen
paritätischen Aufbau bestand, fo scheint auch innerhalb der Einzelorganifationen
das Regiment der demagogischen Hetzer und Nichtsalsagitatoren ein schnelles
Ende gefunden zu haben. In einer bekannten militärischen Behörde Berlins zum
Beispiel, die nahe dem Lehrter Bahnhof ihr Amtslokal hat, konnte sich im Drunter
und Drüber des Anfangs ein junger Mensch als Gewalthaber aufspielen, und zwar
angeblich legitimiert durch den Arbeiter- und Soldatenrat, der nichts weiter war,
als ein gemeiner Betrüger, und der, als ihm der Boden unter den Füßen zu heiß
wurde, mit Unterschlagungen das Feld seiner „Tätigkeit" räumte. Solche
Erfahrungen müssen ernüchternd und belehrend auf die allzu vertrauensselige
breite Masse wirken und haben es entschieden auch getan.
Wir können also hoffen, daß der gegenwärtige Ausnahmezustand in nicht
zu ferner Zeit wieder normalen Verhältnissen Platz macht, daß die in
Verwirrung geratenen Begriffe: „Gesetz", „Volksvertretung", „Recht" usw. von
der legitimen Konstituante des deutschen Gesamtvolkes in jene neuen Formen
gebracht werden, welche die veränderte Zeit erfordert.
Die baldige Einberufung der Nationalversammlung muß das ostsruiu
osnsso jedes wahren Volkssreundes sein. Ertönt der Ruf zu den Wahlen, so ist
es heiligste Pflicht jedes mündigen Deutschen, zu feinem Teile mitzuwirken und
nicht verärgert oder apathisch, beiseits zu stehen, wie es leider bisher unter den
sogenannten besseren Schichten der Fall war und bei ihrem weiblichen Teile
künftig der Fall zu sein droht. Lade keiner durch Säumnis die Schuld an der
Verfälschung der eigenen Zukunft auf sich! Bis zu jenem Momente aber sollten
wir alle einmütig hinter dem Ordnung und Gerechtigkeit liebenden Teile der
Sozialdemokratie stehen, und ihre Bemühungen, aus der unglücklichen Ver¬
gangenheit eine glücklichere Zukunft heraufzuführen, mit allen Kräften unter¬
stützen.
Helft diesen neuen Meistern, so bannt ihr gute .Geister!
eit langer Zeit schwebt nur ein Filu vor, der sich mir immer
deutlicher gestaltet. Ich werde ihn durchdichten und inszenieren.
Des Bombenerfolges bin ich sicher. Alle Geschehnisse ranken sich
um eine bedeutende Persönlichkeit. Nur Du mit Deiner reifen
und feinen Kunst kannst sie verkörpern. Ich rufe Dich!
Es ist eine einfache Geschichte. Ganz aus dem Leben ge¬
griffen. Alles in geraden Linien. Zum greifen wahr und echt.
Hör an!
In einer großen Residenz ein Chirurg, Geheimrat und Klinikdirektor, ver¬
heiratet, unangenehmer Mensch, unsicherer Diagnostiker und so. Sein Assistent
Dr. Scholle, sehr sympathisch, wissenschaftlich und menschlich hochstehend, natürlich
Du. Blick in das überfüllte Vorzimmer des Geheimrates. Die Mehrzahl der
Patienten drängt sich nicht in des Geheimrath, sondern in Dein Sprechzimmer,
weil Du, von allen anderen Vorzügen abgesehen, ein so besonders mitfühlender
Arzt bist. Blicke in Deine und des Geheimrath Konsultationsstunde zeigen die
verschiedene Wesensart der beiden Ärzte.
Dem mit Dir über den Flur der Klinik dahinwandelnden Geheimrat stellt
sich ein junges Weib entgegen, hilfesuchend, denn sie ist guter Hoffnung und ohne
Mittel. Der Geheimrat ist peinlich berührt, weist sie ab und entfernt sich.
Charlotte entdeckt Dir, daß der Geheimrat der Vater des von ihr erwarteten
Kindes ist. Edelmütig, wie Du bist, bringst Du sie gut unter und stellst den
Geheimrat. Dieser zeigt sich abgeneigt, zuckt einige Hundertmarkscheine als Ab¬
findung, die Du zurückweisest. In der Erregung verletzt sich der Geheimrat an
der Hand und kann daher die eilige Operation an einer hochgestellten Person
nicht, vornehmen. Die Aufgabe wird Dir übertragen. Der Geheimrat meckert
grimmig, höhnisch und eifersüchtig. Selbstverständlich gelingt die Operation
glänzend. Auch den Prinzen Franz hast Du, gegen das Votum des Geheimrates
ohne Messer geheilt. Dafür wirst Du zum ordentlichen Professor und zum Di¬
rektor der Universitätsklinik ernannt. Die Dir angebotene Erhebung in den
Adelstand lehnst Du in stolzer Bescheidenheit ab.
Inzwischen hat Charlotte ein Kindlein geboren und bittet Dich um Arbeit.
Du schlägst drei Fliegen mit Einer Klappe, indem Du Charlotte als Pflege¬
schwester in der Säuglingsabteilung der Klinik anstellst, zugleich auch das Kind bei
den Säuglingen unterbringst; so kann die Mutter Tag und Nacht für ihr Kind
sorgen, ohne daß es als das ihrige bekannt wird. Die Haltung der Oberschwester
Johanna, der Du die neue Pflegerin überantwortest, läßt schlimmes befürchten.
Charlotte bevorzugt ihr Kind, die Oberschwester will dies nicht leiden. Es
gibt einen Auftritt. Du greifst ein. Charlotte holt nächtlicherweile ihr Kind und
flüchtet. Doch Du begegnest ihr vor dem Haus. übergibst daS Kind der Ober¬
schwester, geleitest Charlotten in Dein Arbeitszimmer, erklärst ihr Deine Liebe und
verlobst Dich mit ihr. Auf die teilnehmende Frage, ob der Geheimrat der einzige
gewesen sei, antwortet Deine holde Braut mit dem unbeschreiblich rührenden Blick
der Seelenreinheit. Du hauchst Dein Glück auf dem Cello aus.
Deine Haushälterin, der Du die Verlobung mit Schwester Charlotte mit¬
teilst, telephoniert die Neuigkeit brühwarm der Oberschwester Johanna, die in
ihrer Mfcrsucht die Tätigkeit in Deiner Klinik sofort aufgibt und von dem Dir
feindlichen Geheimrat, der Morgenluft zu wittern beginnt, als Operationsschwester
angestellt wird.
Nun hast Du geheiratet und führst in Deinem eleganten Haus mit Charlotte
und dem Kinde des Geheimrates ein ungetrübt glückliches Familienleben als Gatte,
Adoptivvater, berühmter Chirurg und Geheimrat, denn auch diese Auszeichnung
ist Dir geworden, noch ehe das Kind seinen ersten Geburtstag gefeiert hat.
Der feindliche Geheimrat und die intrigante Oberschwester Johanna Hecken
scheußlich» Pläne aus. Charlotte ist. wie ein alter Aufnahmeschein zeigt, vor
Zeiten auf Empfehlung eines Malerprofessors wegen „Krankheit" in die Klinik
aufgenommen worden. Drum läßt der Geheimrat sich vom Professor malen,
lebensgroß, in Ol, Dann gibt er, um Deine Gattin unversehens mit dem Professor
zusammenzubringen, eine große Gesellschaft, zu der er auch Dich und Deine Gattin
einlädt. Großzügig und vorurteilslos, wie Du bist, bestimmst Du Deine Gattin
zur Annahme der Einladung.
Gesellschaftsabend. Beim Wiedersehen von Geheimrat und Charlotte züngelnde
Blitze in den Blicken. Doch Fassung, alles geht gut. Da wird der Malerprofessor
Deiner Frau vorgestellt. Er sagt: „Na, Lottekind, wie kommst denn Du hierher?"
Charlotte fällt in Ohnmacht. Du bringst sie nach Hause, bittest sie um Offenheit
und bist bereit, alles zu verzeihen. Sie aber antwortet wieder mit dem ihr eignen
Blick rührender Seelenreinheit.
Du gehst zum Malerprofessor, ihm Deinen Handschuh ins Gesicht zu schlagen.
Der aber sagt: „Um ein solches Weib setzt sich eine chirurgische Kapazität ersten
Ranges nicht dem Zweikampf aus- Ich war bei Charlotte nicht der erste und
nicht der letzte."
Szene in Deinem Heim:
„Nimm Dein Kind und verlaß das HausI"
"
„Wohin?
„Woher Du kamst. Auf die StraßeI"
Sie geht. Du bleibst allein. In unnennbarem Schmerz.
Die Oberschwester Johanna ist nicht mützig. Das gewagte Verfahren der
Herzoperation, das Dich berühmt gemacht hat, ist in einigen Fällen mißlungen.
Johanna verbreitet das Gerücht von Mangel an Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit,
von Verletzung ärztlicher Standespflicht. Der feindselige Geheimrat greift dies
begierig auf und gewinnt den Vorstand der Ärztekammer für Einschreiten. Drei
ehrwürdige Vertreter der Kammer erscheinen bei Dir, den das Leid der Seele
dem Wahnsinn nahegebracht hat. Die Zweifel der alten Herren erregen Dich
stark, doch Du versprichst, ihren Wunsch zu erfüllen und anderen Tages im
Sektionssaal die Herzoperation an einem Leichnam vorzunehmen. Die Herren
wollen unauffällig anwesend sein, um ein Urteil über Dein Verfahren zu gewinnen.
Wut erfüllt Dich und Wahnsinn, doch Du ermannst Dich.
Im Operationssaal. Alle Hörerplätze von Studenten besetzt. Unter ihnen
im Vordergrund unauffällig die drei alten Arzte. Auch der feindselige Geheimrat
und die Oberschwester Johanna. Der verhüllte Leichnam wird hereingetragen.
Du erscheinst im Operationskittel und schlägst das Tuch zurück.... Charlotte!
Du erstarrst. Dann küssest Du ihre Lippen, lange, langeI Es drängt zur
Katastrophe, Du setzest das Messer an, dann aber unter dem Ruf: „Ich kann nur
am lebendigen Körper schneiden und in Ermangelung eines andern--" erstichst
Du Dich und brichst zusammen. Doch die Oberschwester Johanna, vom Gewissen
geplagt, beschuldigt sich selber: „Ich habe ihn getötet. Er war ein vortrefflicher
Chirurg und hat keine Kunstfehler begangen. Wehe mir!"
Hiermit schließt das erschütternde lebenswarme Drama.
Alle Mitwirkende werden gegen Dich gebührend zurücktreten, Dir nur als
Folie dienen. Selbst Charlotte darf nicht um eines Haares Breite mehr Spiel¬
raum erhalten, als durchaus notwendig ist. Du selbst aber wirst Gelegenheit
haben, alle Register zu ziehen, Deine durchgeistigte Charatterisierungskunst,
Deine virtuose Genialität in der Mcnschendarsiellung zu entwickeln. In der
Wahnsinusszene wirst Du gleich Hamlet mit einem Totenschädel spielen können,
und daZ Schlußbild wird grandios sein wie der Tod Othellos. Damit Du auch
Deine Humore leuchten lassen kannst, gebe ich Dir eine in Dich — selbstver¬
ständlich — verliebte Haushälterin, und in jedem Akt sollst Du Dein geliebtes
Cello spielen, so oft und so lange Du willst.
Mit fieberhafter Ungeduld erwarte ich Deine Antwort.
Deinen Filu habe ich zunächst für einen glänzenden, verheerend schlechten
Witz gehalten. Im Zweifel auf alles gefaßt, mußte ich auf Fernanfrage von Dir
hören, daß es Dir ernst ist.
So will ich Dir die Wahrheit gründlich sagen.
Diese Ausgeburt Deiner ungezügelten Phantasie wird das einfältigste, läp¬
pischste und schamloseste Schauerstück sein, das jemals auf der Leinwand geflimmert
hat. Dies will viel heißen, denn was in gesteigertem Maße der geehrte Publi-
kus sich an Scheusäligkeiten bieten läßt, das geht schon auf keine Kuhhaut mehr.
Wenn man das Niveau des Films noch mehr erniedrigen kann, Dein Machwerk
erreichts.
In welcher Welt lebst Du denn, um solchen Kuhmist auftischen zu können?
und in welchen Kreisen verkehrst Du, um so geistige Gesundheit, Gleichgewicht,
Anstand und Einsicht zu verlieren?.
"
Alles in Deinem „Drama glitzert von Unkenntnis der realen Verhältnisse,
alle Voraussetzungen sind falsch, alle Geschehnisse unmöglich.
Ich greife uur das Krasseste heraus.
Dr. Scholle stellt ein Mädchen, von dem er nur weiß, daß es ein un¬
eheliches Kind geboren hat, Vater sein bisheriger Vorgesetzter, als Pflegeschwrster
in der Söuglingsabteilung der ihm cmverirauleu Klient an. Unsinn! Ohne Vor¬
bildung, Bewährung, Zeugnissei Das Loientum einer solchen „Schwester" würde
in der ersten Stunde erkannt werden, und der Skandal wäre sicher. Dr. Scholle
ist ein urleilsloser Troddel.
Charlotte soll ihr Kind gleich den anderen pflegen, ohne daß man ihre
Mutterschaft gewahr wird. Wie dunnnl Die Abstammung des Kindes muß doch
in der Anstalt bekannt sein. Auch der Familiennamen der Schwester Charlotte
läßt sich nicht verhehlen. Oder hat Dr. Scholle zu edlem Zweck eine kleine Fäl¬
schung veranstaltet? Jedenfalls muß die Mutterschaft Charlottens sich durch ihre
Zärtlichkeit verraten. Der berechtigte Argwohn der Oberschwester erwacht. Scholle,
der eine falsche Schwester in der Universitätsklinik untergebracht hat, setzt sich zu¬
dem dem Verdacht aus, die eigene Geliebte und das eigene Kind eingeschmuggelt
zu haben. Ein Quadrattroitel, reif zum Disziplinarverfahren!
Die ihm dann so überraschend anverlobie Charlotte fragt der bescettgre
Bräutigam, ob der Kollege Geheimrat der einzige gewesen sei. Der blöde Esel
fragt, und die holde Brau! läßt es sich gefallen, ohne ihm den Laufpaß zu geben.
Und er merkt nichts. .
Er heiratet Schwester Charlotte vom Fleck weg und lebt mit ihr und dem
Kinde seines Kollegen sehr glücklich und höchst stolz auf seine Frau.
Wie stellst Du Dir dies alles eigentlich vor, mein bester Haym? Der Mann
lebt doch in seiner Umwelt. Er hat seinen Verkehr, freundschaftlichen, geselligen,
wissenschaftlichen. Er versendet Verlobungs- und Vermählungsanzeigen, Papiere
sind sür das Standesamt zu beschaffen, Besuche werden gemacht und empfangen,
das Hochzeitsfest kann nicht unbeachtet bleiben — und nichts geschieht, was das
Glück des berühmten, begehrten und reichen, nach kaum einem Jahr vom Assistenten
zum Geheimrat ausgerückten, beinahe geadelten (richtiger: geadelt worden seienden)
Mannes trüben könnte.
Glaubst Du denn, daß „die Welt" einen solchen Schlag ins Gesicht, die
unter so seltsamen, mindestens seltsamen, Umständen geschlossene Verbindung mit
einer Frau von zweifelhafter, mindestens zweifelhafter, Vergangenheit hinnehmen
oder gar billigen werde? Im Leben nicht. Auf der guten Bühne nicht. Im guten
Roman nicht. Aber nicht wahr, liebster Freund, im Flimmerkasten geht alles?
Doch Du treibst es noch toller. Charlotte ist einst dem Kollegen Geheimrat,
dem Vater des Kindes, von einem Maler als „krank" in die Klinik geliefert worden.
Pfui Teufel! Darauf baut der Hintertreppenschurke, der als verheirateter Mann
mit seiner Patientin ein Verhältnis angefangen hat, den weitausholenden Plan zur
Vernichtung des jungen Ehepaares. Scholle, der Kubiktroddel, mutet seiner ver¬
götterten Frau die Qual zu, mit ihm zusammen Gast zu sein des jämmerlichen
Mannes, des letzten auf Erden, mit dem zusammenzutreffen sie über sich gewinnen
könnte —, wen» Du nicht ein so hirnverbrannter Filmdichter wärest.
"
„Na, Lottekind, wie kommst Du hierher?
Sagt so ein anständiger Mensch, geschweige ein berühmter Malerprofessor,
zur vornehmen Gattin eines nicht minder berühmten Klinikers, wenn er ihr in
Gesellschaft vorgestellt wird und eine Ähnlichkeit zu entdecken glaubt? oder gewiß
ist, daß Frau Geheimrat Scholle einst Lottelind war? In welcher Welt lebst Du
denn? frage ich nochmals.
Hast Du nun endlich genug? Ich auch.
Nur das Eine kann, ich Dir nicht schenken: mein Freund, der berühmte (alle
meine Freunde sind berühmt) Geheimrat L., hat die ganze Nrztegeschichte für
kindisch-umeife Stammelei erklärt; das Eingreifen der drei Mummelgreise von der
Ärztekammer, die Herzoperation an einem Leichnam, das Erscheinen der toten Frau
Geheimrat auf dem Seziertisch ihres Gatten und vieles andere sei nicht höherer,
sondern höchster Blödsinn, berechnet auf die rohe Schaulust, die niedrigen Instinkte
einer urteile-lösen Menge,
Liebster Haym, auf welches Publikum rechnest Du denn? Mir scheint: auf
Dirnen, Zuhälter, lichtscheues Gesindel, Entgleiste, Halbaffen, Gcmznarren, Idioten.
Hast Du denn jeden Respekt verloren vor der Kunst, vor der anständigen Mitwelt,
vor Dir selber?
Vor Dir selber und vor mir?
Mir, Deinem Freund und erstem Darsteller Deutschlands, unecht Du zu,
diesen gottverfluchten quartier latin-Schnarren zu „tragen" und den Pöbel durch
die Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit meiner begnadeten Gesichtsmuskeln, ins¬
besondere der LorruZglores supercilii, des levator tabu superioris, des lVialaris
und des ^M-matiLUZ minor, in Mitleid und Furcht, in Rührung, Staunen und
Ekstase zu versetzen?
Ich lehne ab. Ich Streite. Verrichte Dein unseliges Manuskript und bete
andere Götter aut
Deinen Einwand kenne ich. Du sagst, ich hätte schon in vielen Flimmer¬
schmarren die tragende Rolle gespielt, also —
Du hast recht. LeiderI Meine Hoffnung war, den Filu aus den Niederungen
emporzubringen. Es war ein schöner Traum! Der Filu war nicht aufzuhalten.
Er sank tiefer und immer tiefer. Künftighin werde ich nicht mehr für die Lein¬
wand spielen. Du hast mir die Augen geöffnet. Heißen Dank!
Viele Tausende von Kinos verseuchen das Land und ziehen das Volk, jung
und alt, arm und reich, zum Oden, Trivialen, Schiefer, Gemeinen hinab. An
ihren Früchten sollst du sie erkennen I An uns alle aber ergeht heute der Ruf:
Lursum Loräa l
Ich werde mit Dir noch ein Hühnchen zu pflücken haben, kummsch mer norr
emol in mei Gassi >
Waldemar Haym an Albert Ulrik Vrendel.
In Eitel Innigen Dank für Deine mir so wertvolle Zusagel
Vom 14. Oktober ab: Im Sardanapal-Saal:
Der Schläger des Tages I
, Dr. Scholle
Grandioses Drama aus der wissenschaftlichen Welt der Großstadt.
Von Waldemar Haym.
In der führenden Rolle Albert Ulrik Brendel.
In der Uraufführung vor geladenen Gästen hat diese bedeutende Schöpfung
starke Erschütterung und tiefgehende Sensation ausgelöst. ,
/'^!ach dreiwöchentlichem Aufenthalt in der deutschen Ostmark, drei
>Tage in der Reichshciupistadtl — Berlin hat mich schon immer
während des Krieges enttäuscht und abgestoßen, wenn ich. sei es
aus Polen, sei es aus meiner Batteriestellung an der Westfront
für einige Tage heimkehrte. Berlin und seine Gesellschaft kann
^ einen, der aus der Provinz hinkommt, geradezu anwidern. Berlin
ist over scheint wenigstens international. In jedem Falle ist es etwas un¬
geheuer wahllos Gemischtes. Ein Gefühl für das große deutsche Volk draußen
scheint nicht vorhanden oder nicht auszukommen. Berlin ist die kalte Stadt
der Politik, der Börse, des Rechenexempels und — der Furchtl Am An¬
fang des Krieges haben die Kreise, die sich „Berlin" nennen, Furcht vor dem
durchschlagenden deutschen Siege gehabt, später wagten sie nicht, sich «durchzusetzen
als der nach ihrer Meinung verhängnisvolle unbeschränkte U-Boottneg zur An¬
wendung kommen sollte. Berlin hat zwar der Reichstagsmehrheit von 1917 zu¬
gejubelt, aber es hat nicht gewagt, die Konsequenzen aus seinen Auffassungen zu
ziehen. Es fürchtete die Verantwortung! Berlin hat geholfen die Stimmung im
Lande zu untergraben, aber es hat .nicht gewagt gegen Ludendorff offen Front
zu machen, ehe er nicht selbst kapitulierte. Wenn heute von Luoendorffs poli¬
tischen Fehlern die Rede ist, so wird man ihnen immer die Halbheit und Schwäch¬
lichkeit der Berliner Opposition zur Seite stellen müssen, die nicht wagte so nach¬
drücklich für ihre Überzeugung einzutreten, wie es die Größe der Aufgabe erfor¬
derte. Während Ludendorff die Verantwortung für seine Anordnungen mutvoll
und in unbeschränkten! Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes
übernahm, hat Berlin, hat die Berliner Demokratie genörgelt und Mißtrauen
gesät, nicht aber freimütig und großzügig gehandelt. Man hat gewartet, bis
das System sich totlief und von selbst zusammenbrach, um dann prahlen zu
können: seht, wir haben es immer gesagt! Nun der Löwe tot ist, zaust man ihm
am Fell.
Berlin, das ist, politisch angesprochen, die Berliner Demokratie, führt nun
nach dem Zusammenbruch der monarchischen und bürgerlichen Regierung ihr altes
Leben fort. Selbst unfähig eine positiv arbeitende Regierung zu bilden, sieht sie
ihr Heil in der Negation. Das Volk, der große deutsche Begriff des Volkes ist
ihr fremd. Ihm gegenüber steht sie nur mit Furcht und ZagenI Mißtrauisch und
furchtsam steht Berlin der deutschen Sozialdemokratie ebenso gegenüber, wie den
in der Vaterlandspartei vereinigten Kräften, ohne ein Verständnis dafür zu be-
zeugen, daß in den organisierten Massen der deutschen Arbeiter im Augenblick ganz
allein noch das Fünkchen Hoffnung liegt, daß das deutsche Volk nicht vollständig
zugrunde geht. Darum ist auch der erste Sammlungsversuch, der vom Berliner
Bürgertum ausgeht, ein Erzeugnis der Furcht.
Die Berliner Demokratie glaubt die Regierung Ebert dadurch stützen zu
sollen, daß -sie ihr eben in diesen Übergangszeiten Opposition macht. Die Herren
argumentieren, wenn jetzt das Bürgertum hinter die sozialistische Regierung träte,
dann würde die Spartakusgruppe ein so starkes Agitationsmittel gegen die Regie¬
rungssozialisten erhalten, daß die Arbeiter und die aus dem Felde heimkehrenden
Soldaten sich ohne weiteres hinter Liebknecht und Rosa Luxemburg stellten, um
Ebert und Genossen zu stürzen. Allein diese Beweisführung sollte geeignet sein,
alle und jeden mit dem tiefsten Mißtrauen gegen einen Aufruf zu erfüllen, der.
von Theodor Wolff entworfen und von einigen Mitgliedern des linken Flügels
der letzten nationalliberalen Reichstagsfraktion an die Öffentlichkeit gebracht, zur
Bildung einer großen demokratischen Partei unter Ausschluß der alten Rechten
auffordert. Jeder denkende Arbeiter, der den Aufruf dieser Demokratie in die
Hände bekommt, wird sich ohne weiteres sagen, daß er es mit Vertretern eines
international interessierten Großkapitals zu tun hat, die für die wirtschaftlichen
Interessen des Großhandels eintreten wollen, nicht aber mit Männern, deren
Gefühle in dieser furchtbaren Stunde vor allem dem Wohlergehen des deutschen
Volkes gehören. Der Aufruf ist kühl und berechnend, und weil man es merkt,
daß ihm sehr kühle Berechnungen zugrunde liegen, stößt er ab und treibt die
durch die Möglichkeit eines Zusammenschlusses des internationalen Kapitals er¬
schreckten Massen erst recht von den Ncgicrungssozialisten fort in die Arme der
Spartakusleute. Der Aufruf der Berliner Demokraten entspringt nicht dem
Bedürfnis des Augenblickes, sondern ist ein Erzeugnis der Furcht vor dem
Sozialismus und vor den natürlichen Instinkten des um einen siegreichen K.ikg
betrogenen Volkes.
, Aus diesem Grunde ist es verständlich, wenn fast gleichzeitig alle jene
Idealisten, die schon längst dem Volksbunde für Freiheit und Fortschritt angehörten,
zur Gründung einer anderen demokratischen Partei, zu einer, wie sie meinen,
wahren Volkspartei auffordern. Alfred Weber ist wohl der geistige Führer dieser
Idealisten- und Professorenpartei. Dem augenblicklichen Bedürfnis entspricht aber
auch diese Gründung nicht, so sehr sie geeignet erscheint, die politische Erziehung
der'Nation, die wir unbedingt brauchen, zu fördern. Sie ist wohl kaum geeignet
eine Einigung des ganzen Bürgertums herbeizuführen, um so mehr aber die schon
vorhandenen Gegensätze in ihm zu vertiefen. In beiden Gründungen tritt nicht
der Wunsch zur Einigung zutage, sondern das Bestreben, die während des Krieges
aufgeklafften Gegensätze noch mehr zu betonen. Das ist wieder dieselbe Cliquen-
und Klüngelwirtschaft, die wir schon vor dem Kriege zu beklagen hatten, und
derselbe dünkelhafte Parteigeist, der unser innerpolilisches Leben eigentlich seit der
Beseitigung des Absolutismus beherrscht. Ich vermag in den beiden Ausrufer
nichts zu erkennen, was darauf hindeutet, daß „Berlin" etwas gelernt hätte!
Wer es heute ehrlich meint um die Sicherung der nationalen Zukunft, tritt
ohne Rücksicht auf seine bisherige Parteistellung bis zum Zusammentritt der
Nationalversammlung hinter die Regierung Eberts. die den guten Willen zeigt,
der Gesamtnation die Möglichkeit zu geben, sich eine neue freie Verfassung zu schaffen.
Trotz schwerster Bedenken gegen ihre auswärtige Politik! Das ist der Sinn der Fest¬
setzung der Wahlen für die Nationalversammlung auf den 2> Februar 1919. Die Wahl
des Termins erscheint uns zwar reichlich spät; aber im Hinblick auf die lange Zeit,
die die Demobilisierung der Armee in Anspruch nimmt, wird der Besonnene finden,
daß sie eine Berechtigung hat. Eine Gefahr ist natürlich nicht fortzuleugnen: die
lange Hinausschiebung der Wahl zur Nationalversammlung könnte den Spartakus-
leuten Gelegenheit geben, ihre Propaganda um so nachhaltiger ins Volk zu tragen,
als Ernährungsschwierigkeiten und Arbeitsmangel eine große Unruhe in den Massen
erzeugen werden. Ich möchte demgegenüber darauf hinweisen, daß die Zeit zur
Wahlvorbereitung nicht den SpartakuSleuten allein zugute kommt sondern allen
Parteien: Regierungssozialisten, Demokraten, Zentrum und Konservativen; die
Armee bringt nicht nur linksradikale sozialisiert, sondern auch Vertreter einer
bürgerlichen Wirtschaftsordnung zurück ins Land, und mit ihnen werden die
Sozialisten bei den Wahlen für die Nationalversammlung nicht minder zu rechnen
haben wie mit den Spartakusleuten. Man habe doch endlich Vertrauen in den
gesunden Sinn des deutschen VolkesI Die für die deutsche Zukunft allein
ausschlaggebenden Fragen, die der Nationalversammlung vorzulegen sind, gipfeln
in der Entscheidung, ob die deutsche Wirtschaftsordnung fortab auf der
Grundlage der sozialistischen oder ver liberalen' Weltanschauung
beruhen soll, oder ob sich, wie es wahrscheinlich ist, ein Kompromiß zwischen
den beiden Extremen findet. Neben dieser Frage treten die Fragen nach Monarchie
oder Republik vollständig in den Hintergrund. Wer es heute ehrlich meint, um
die Sicherung der nationalen Zukunft, muß alles vermeiden, was geeignet ist, die
bürgerlichen Parteien zu zersplittern.
Im klassischen Lande des Staatssozialismus ist es sehr wohl möglich, daß
bisherige Konservative zusammen mit den Sozialisten gehen, aber es scheint aus¬
geschlossen, daß die Liberalen mit den Sozialdemokraten gehen. Bei einer so weit
entwickelten sozialen Gesetzgebung, wie sie das Deutsche Reich hat, können wir
unter den Sozialdemokraten ohne weiteres ein viel gesunderes, viel natürlicheres
nationales Empfinden voraussetzen, als bei jenen Liberalen des internationalen
Großkapitals, die eben jetzt zur Bildung einer demokratischen Partei auffordern.
Aus diesen Gründen sollten die Parolen für die Nationalversammlung nicht lauten:
hie Republik — hie Monarchie! — sondern: hie Sozialismus! — hie
Liberalismus! Das wären ehrliche Parolen. Wohl geeignet, uns aus der
bisherigen Parteilüge heraufzuführen und eine Basis für ein Parteiensystem,
dessen wir nach der Parlamc-ntarisierung deS politischen Lebens bedürfen, zu schaffen.
Daraus ergibt sich: nicht Fortsetzung des Parteikampfes nach zwei Fronten mit
alten Parolen und den alten verrosteten Waffen, sondern überparteiliche Einigung.
Nicht darf die Losung für die Einigung heißen: „von Kardorff bis Stegerwald",
sondern: „von Westarp bis Stegerwald". Dazu aber ist es notwendig, daß
jüngere, noch nicht diskreditierte Kräfte in den Vordergrund treten und daß alle
jene führenden Männer, die durch ihre Halbheit im Handeln mit Schuld an
unserer furchtbaren Katastrophe sind, auf der ganzen Linie von rechts bis links
zurücktreten. Hat die Nationalversammlung entschieden, auf welcher Wirlschafts-
grundlage Deutschland fortab sich zu entwickeln haben wird, dann mögen sich
wieder alle jene Parteiungen einstellen, die anscheinend notwendig sind, um die
Entwicklung des deutschen Volkes zu gewährleisten.
Englands Sieg? England geht in die
Kirche und dankt Gott für die Errettung aus
großer Gefahr. Ist sie tatsächlich überwunden?
Hat England gesiegt? Nur dann, wenn wir
, jetzt erlahmen und die gefährliche Waffe nicht
nutzen, die uns blieb: den preußischen Geist.
Die Engländer jubeln, daß der Preußische
Militarismus vernichtet sei und wissen nicht,
daß sie sich unter sein Joch gebeugt haben:
England ist militarisiert, bleibt militarisiert
und — sollte militarisiert werden nach dem
Willen seiner Gewalthaber zu Zwecken, die
wir heute nur in ungefähren Umrissen zu
erkennen vermögen. Sein Friedensdiltat,
sein eifriges Bemühen, ein den Frieden um
jeden Preis suchendes Volk zu entwaffnen,
deutet kaum auf pazifistische Neigungen. Daß
es unser Erbe in unseren: Geiste verwalten
wird, muß jeder bezweifeln, der Englands
Geschichte und seine Praktiken kennt. Das
in den Ideen der westlichen Demokratien
wurzelnde Volk, das das Persönliche Opfer
um der Gesamtheit willen nicht verträgt, wird
nie imstande sein, den tiefen Sinn, das un¬
geheuere moralische Gewicht unseres VolkS-
heeres zu erfassen, das in einen: fünfzig-
monatigen Kampfe nicht erlag. So ist nun¬
mehr ein Keil hineingetrieben in das innerste
Mark dieses Volkes. Das ist um so gefähr¬
licher für England, als es der Gefahr aui-
gesetzt sein wird, überaltert zu erscheinen.
Den Militarismus hat es ja selbst um seiner
Nückstcindigleit willen bekämpft und dieses
Urbild der ganzen Welt eingeimpft, dem
bürgerlichen Liberalismus Englands aber
ersteht ein jugendfrischer Feind im Sozialis¬
mus, der heute sein Haupt erhebt. Es ist
kein Zufall,- daß der Sozialismus in Deutsch¬
land den Militarismus in der Herrschaft ab¬
löste. Der sozialistische Geist ist gleich dem
militärischen antiindividualistisch. Der gleiche
Nährboden brachte beide zur Reife. Bei uns
Rußland, der Sozialismus die Schule der
militärischen Disziplin, die er durchschritt,
nicht zu verleugnen. Darin liegt die Mög¬
lichkeit seines Sieges auch außerhalb Deutsch¬
lands. Wenn aber die Wogen der sozialen
Revolution bis in die fernsten Winkel des
Kontinents rollen, so ist damit seine Einigung
gegen England, den Geltungsbereich unbe¬
schränkter individualistischer Strebungen er¬
reicht. Das militarisierte liberale England
erscheint nunmehr als gemeinsamer Feind,
als Kulturhemmnis, und zwar genau im
gleichen Sinne, wie den Alliierten Preußen
erschien, nur mit dem Unterschiede, daß Eng¬
land tatsächlich durch seine Kontinentalpolitik
stets ein Hemmschuh der Entwicklung gewesen
ist. Napoleon, der dies sah, vermochte Eng¬
land nicht niederzuwerfen, und auch dem
deutschen Volke ist es nicht beschicken gewesen,
Europa durch Waffengewalt von diesem Alb¬
druck zu befreien, da die Welt seine Mission
verkannte. Aber die neue Flut des Geistes
wird ihn hinwegschwemmen, sofern wir selbst
den Glauben an uns behalten. Ein Feldzug
des Sozialismus, der nur zu vergleichen ist
mit dem Vordringen des Christentums, wird
in England den Gipfel des blutgierigen
Kapitalismus treffen und damit den Sieg
gewinnen, der uns heute scheinbar versagt
ist. Damit ist die Richtschnur sür unsere
künftige Politik gegeben: die geistigen Mächte
stärken, die das durch den unnatürlichen Zu¬
sammenschluß von staatstheoretischem Indivi¬
dualismus und Militarismus schon geschwächte
England vernichten müssen, sich mutig auf
den Boden der neuen, im Sozialismus
wurzelnden Verhältnisse stellen, ihnen die
Formen unserer hochentwickelten Kultur auf¬
drücken, denn nur so bewahren wir Europa
vor dem Chaos, das den einzigen Retter des
Kontinents, den preußischen Geist, verschlingen
würde.
in Preußen vermag auch, im Gegensatz zu
Deutschland und der Friedr. Notwendigkeiten und Möglichkeiten deutscher Zukunft¬
erörtert von G> Banner, S. Broedrich, H. Date, E. Daencll, R. Davidsohn, A. Dix.
Fr. E. Endres, H. Gaudig, K. Hampe, F. Hendrichs, H. Herkner. E. Jacks,
R. Jannasch, E. Koenemann, P, Lensch, C. von Maltzahn, H. Oncken, N. Piloty.
R. Pohle, K. Rathgen, F. Salomon, A. Schmidt, R. Sieger, W. H. Sols,
K. Stählin, K. von den Steinen, G> Steinhausen, Th. Warner, H. Waentig.
L. Wegener, W. Wygodzinski. Unter Mitwirkung von Otto Hoffmann, heraus¬
gegeben von Walter Goetz. Verlag von B G. Teüvmr, Leipzig und Berlin 1918.
Preis geb. 14 M.'
Nicht ohne innere Bewegung greifen wir heute zuBüchern politischen
Inhalts, die vor dem Absturz unserer deutschen Hoffnungen ihren Abschluß fanden.
Am 1. September dieses Jahres hat Professor Walter Goetz als Herausgeber des
vorliegenden Werkes zuversichtlichen Sinnes den letzten Federstrich daran getan.
Er bestimmte damals den Zweck des Buches dahin, daß es dem inneren Zwist
entgegenwirken und alle Vaterlandsfreunde im Zeichen des Sieges auf der Linie
richtig verstandener nationaler Interessen sammeln wolle. Schon wenige Wochen
später ertönte von weithin sichtbarer Stelle der Aufruf, aus tiefstem nationalen
Unglück ein Letztes — die Kraft der Entsagung zu retten. Immerhin, das Werk
ist nicht umsonst geschrieben. Freilich,^Unwiderbringliches ging verloren und damit
ist naturgemäß mancher fein ausgesponnene Gedanke dieser Beiträge, die klärend
den Weg in eine frohe Zukunft weisen wollten, in sich zusammengesunken. Es
gibt aber Gesichtspunkte, die wir unter allen Umständen bei der Beurteilung der
Weltlage beibehalten müssen, und es ist immer ein geistiger Gewinn, sich mit
Männern von hervorragenden Qualitäten über solche Dinge zu unterhalten. Der
Herausgeber hat bei der Wahl seiner Mitarbeiter unter unseren Besten eine Aus¬
wahl getroffen, ohne sich engherzig an den „Standpunkt" zu binden. Gründliche
Kenner behandeln die Einzelfragen, die durch den Krieg in den Umkreis unseres
lebhaften Interesses rückten: so schreibt z. V. Piloty über das künftige Völkerrecht,
Wygodzinski über den Wirtschaftskrieg und den Wirtschaftsfrieden, Endres über
den deutschen Militarismus, Sieger über Österreich-Ungarn, Broedrich über Ost-
Preußen und Litauen, Rathgen über Ostasien, Lensch über die Arbeiterfrage,
Herkner über das Finanzwesen usw. Fast alle Fragen, die der Krieg aufgeworfen
hat, werden in oft glänzenden Darstellungen erörtert. Es ist dringend zu wünschen,
daß der Wißbegierige aus dieser Quelle schöpfe, denn es ist gewiß nicht nötig, in
der Schilderung von Zukunftsmöglichkeiten eines sieghaften Deutschlands den Schwer¬
punkt dieses Werkes zu sehen, vielmehr kann man ihn in der ruhig sachlichen
Sichtung und Beurteilung von Problemen suchen, die heute durch den Gang der
Ereignisse nur in neue Beleuchtung gerückt sind, ohne völlig zu verschwinden.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Mlchnung eine Rücksendung
nicht, verbürgt werden kann.
le große deutsche Nationalversammlung, deren Zusammentritt alle
MHZ^lT^W bürgerlichen Parteien und zugleich auch die Mehrheit der Sozia»
iisdem fordern, wird die weltgeschichtliche Probe auf das Exempel
l der deutschen Revolution von 1818 zu liefern haben. Denn in
erst wird sich entscheiden, ob das deutsche Volk diejenige
politische Reife tatsächlich besitzt, die es sich zuerkennt, indem es die
letzten Reste der Bevormundung durch den dualistischen Staat gewaltsrm ab¬
schüttelt, die große Frage der deutschen Zukunft den Händen jenes bureaukratisch-
militaristischen „Hauptausschusses", seiner bisherigen Negierung einschließlich
der bisherigen verfassungsmäßigen Volksvertretung, entreißet und sie dem
„Plenum" der ganzen deutschen Nation selbst über die bisherigen Neichsgrenzen
hinaus vorlegt. Droste nicht dauernd am Horizont < das Gespenst des roten
Terrors: auch die Kreise, die nicht auf dem Boden der sozialistischen Parteidoktrin
stehen und die durch tiefgewurzelte Gefühle mit dem gestürzten monarchisch-
autoritären Staatssystem verwachsen sind — auch sie empfinden hente etwas von
jenem Kraftgefühl, wie es den ganzen Leib durchströmt, wenn man aus dem
engen GeWinkel der Stadt in die lichte Weite von Wiese und Feld hinaustritt.
Man fühlt Raum um sich, Spielraum und Blickfeld des politischen Wollens. Die
Krücken politischer Vorzugsrechte sind uns Bürgerlichen recht unsanft aus der
Hand gerissen, das zahlenmäßige Übergewicht der Massen macht uns die Selbst¬
behauptung nicht leicht. Wir sollten nicht zu laut lamentieren, daß dieser
Mechanismus gegen uns aufsteht: den kapitalistischen Mechanismus, der auf
»veiter Strecke für uns arbeitete, haben wir uns gut und gerne gefallen lassen,
obgleich er für jene, die andern, die heute das Heft in den Händen haben, das
böse Weltprinzip schlechthin bedeutete, für sie, die von jenem grauenhaften
Mechanismus zermürbt und entmenscht werden.
Es ist -güt, daß die Stunde es uns nicht leicht macht. Denn nun muß es
sich zeigen, ob es tatsächlich nur die Schlafwagen und Polsterwaggons des Privi¬
legienstaates waren, die uns gemächlich und mühelos von der 'Stelle brachten,
oder ob wir, wie die Besten unter uns — sie waren nicht immer die mächtigsten
im Wilhelminifchen Deutschland — zuversichtlich glauben und vertrauen, noch
selber kräftige Beine haben, die sich getrost auch dann zum Wettlauf stellen
können, wenn ihnen nicht ein Vorsprung von beträchtlichem Ausmaße von vorn¬
herein gewiß ist. Aber auch ohne roten Wahlterror von selten der deutschen Ab¬
leger des Bolschewismus: leicht ist die Aufgabe nicht, die dem Bürgertum bevor¬
steht. Und es gilt deshalb, sehr ernsthaft und rechtzeitig die Frage zu erwägen,
wie weit die bestehenden politischen Organisationen methodisch geeignet und aus-
reichend sind, um der großen Aufgabe zu genügen: ohne kleinliche Zersplitterung
aber auch ohne matte Verwaschenheit die Lösungstypen der deutschen Ver¬
fassungsfrage, die das deutsche Bürgertum vorschlägt, in entschiedenen gewichti¬
gen und geschlossenen Stimmkomplexen in die Wagschale zu werfen.
Ist diese Aufgabe klar und deutlich als die entscheidende erkannt, so müssen
sich lebhafte Zweifel regen, ob das überkommene Parteisystem ihr gewachsen ist.
Wenn Clausewitz den Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
nannte, fo könnte man die Revolution, in der wir stehen, als eine Fortsetzung
des Krieges mit anderen Mitteln bezeichnen. Nun hat schon im Kriege unsere
überkommene Parteiung versagt oder hat sich doch nur sehr notdürftig der. neuen
Problematik angepaßt. Der Revolution vollends steht sie schon deshalb noch
hilfloser gegenüber, weil sie bis auf die äußerste Linke grundsätzlich antirevolu¬
tionär war. Und nachdem sogar der „Vorwärts" noch vor ganz kurzem erklärt
hat, die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes sei überzeugt monarchistisch
gesinnt, nachdem die „Frankfurter Zeitung" und ihre Gesinnungsgenossinnen
such vier >irieasjahre sich als Snltze von Thron uno ''Iluir uns^eipl.le tMien,
nach allem wirkt es etwas komisch und nicht sehr würdig, mit welch unver¬
frorener Selbstverständlichkeit die bürgerliche Linke ihre monarchistische Livree
von gestern — es scheint wirklich, daß es nur eine solche war — mit dem republi¬
kanischen Sansculottenkostüm vertauscht hat: nach einer Revolution wohlverstan¬
den, die dies Bürgertum weder „gewollt" noch ins Werk gesetzt hat, bei der es
lediglich die höchst unerfreuliche Rolle des halb neugierigen^ halb ängstlichen Zu¬
schauers gespielt, höchstens sich gelegentlich heldenmütig als Claqueur. betätigt hat,
wenn die Allzuvielen gegen einen gestern umjubelten Großoktav- oder Duodez¬
dynasten „kreuziget ihn" schrien. Sollte es sich mit dem Umlernen im Novem¬
ber 1918 nicht ähnlich Verhalten wie im August 1914, wo der neunmal gescheite
Bräsig auch bald einsah, daß er zwar mit der Fixigkeit, der bedächtige Karl
Habermann aber mit der Richtigkeit vornean war. Vor Bräsig, vor allen,
die um Himmels willen nur immer auf der Höhe sein wollen, haben die
Spartakusleute keine Angst, diesen Bourgeoisthpus verachten sie gründlich und
mit Recht. Den anderen fürchten sie und wollen ihn mundtot machen, und
darum wollen wir von der Rechten dafür eintreten, daß Karl Habermann, der
eine schwere Zunge, einen geraden Sinn, einen bedächtigen gesunden Verstand
und ein treues deutsches Herz im Leibe hat, sein allzu reichlich bemessenes
Phlegma überwindet und in der Nationalversammlung ein vernehmliches Wort
spricht. Denn ohne ihn, den vielgeschmähten, von den östlicheren Literaten über¬
legen mißachteten deutschen Michel kann und soll das Haus nicht gebaut werden,
in dem der Wille des schwergeprüften deutschen Volkes feine Werkstatt, seinen
Herd und seinen Altar auftun wird.
Das Symptom des Versagens unserer Parteiung vor den Kriegsproblemen
war die Gründung eigener Kriegsparteien, der sehr zu Unrecht so genannten
Vaterlandspartei und ihres matten Widerparts, des Volksbundes für Freiheit
und Vaterland. Man rührt an den Kernpunkt ihres Gegensatzes, so wenig man
natürlich den letzteren damit ausschöpft, wenn man sie als militaristische und
pazifistische Kriegspartei einander gegenüberstellt. Und wenn es sich heute als
unser Grundfehler herausstellt, daß wir in allzu weitem Maße den Krieg als
ein traditionell-militärisches Unternehmen auffaßten, ihn zu wenig als poli¬
tischen, geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Vorgang, ihn vor allem allzu
spät als Welirevolution erkannten: dann ist eben damit die Einseitigkeit und Un¬
zulänglichkeit einer spezifisch militaristischen Kriegsauffafsung und Kriegs¬
programmatik zugegeben. Wenn also auch die Vaterlcmdspartei an diesem
Grundirrtum mit all ihren stolzen Plänen und Entwürfen gescheitert ist, geschei¬
tert wie der eine große Mann, in dem sich ihr Wesen und Wollen monumental
verkörperte: das eine Verdienst soll ihr nicht verkürzt noch geschmälert sein — sie
hat unser gänzlich in innerpolitische Ziele vergafftes Volk, das in seiner über¬
wältigenden Mehrheit ohne Kompaß und Route in diese Weltkatastrophe hin¬
eingetaumelt ist, erstmals auf große weltpolitische Ziele eingestellt. Maßlos in
ihrem Ehrgeiz, unreif in ihren Methoden hat die Deutsche Vaterlandspartei doch
immerhin aus weltpolitischen Antrieben heraus gedacht und gehandelt, während
sich die Kreise, aus denen sich die Gegengründung rekrutierte, dem Fortschritt der
Parlamentarisierung, der Entwicklung der preußischen Wahlrechtsfrage allzeit
mit brennendem Interesse folgten, für die Bedeutung Belgiens als englisches
Glacis, für das Problem der Balkanbrücke oder des Bollwerks im Osten aber
kaum zu erwärmen waren. Wenn alle Schuld am Mißerfolg heute auf die Hei߬
sporne aus jenem Lager gehäuft wird, dann muß um so lauter betont werden,
daß im Grunde die weltpolitische Gleichgültigkeit unseres Volkes zu diesem
namenlosen Zusammenbruch geführt hat.
Heute ist dieser Pazifismus obenauf. An den Verhandlungstisch, auf dem
sich das deutsche Geschick auf Jahrzehnte, vielleicht auf Jahrhunderte entscheiden
wird, sendet eine improvisierte deutsche Regierung ihre Vertreter, die konkrete
außenpolitische Ziele in ihrem Programm überhaupt nicht kennt, die in der impo¬
tenten Formel des Staws ano durch all die Kriegsjahre das Heil erblickte, die
den Krieg gar nicht als außenpolitisches Ereignis, die ihn nur um seiner Rück¬
wirkung nach innen als positiven Posten einzuschätzen weiß. Wir können es nur
als ein wahres Glück bezeichnen, daß die Entente wenigstens die abschließenden
Friedensverhandlungen erst nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung,
erst nach der Wiedereinsetzung einer für unser Gesamtvolk haftenden Regierung
einleiten will. So werden wir vor demSchlimmsten hoffentlich bewahrt bleiben,
in der Friedenskonfernz lediglich durch sozialistische Utopisten und Doktrinäre
ohne weltpolitischen Blick, ohne Erfahrungen, Interessen und Kenntnisse auf dem
Gebiete der äußeren Politik vertreten zu fein. Zugleich zeigt sich hier aber auch
die Verantwortung für die nächste Zukunft, die der Arbeit der Nationalversamm¬
lung zugemessen ist. Ihre Aufgabe ist die verfafsungsgemäße Begründung einer
Regierungsgewalt, die die gedeihliche freiheitliche Entfaltung im Innern, zugleich
aber die kraftvolle Vertretung nach außen, die Wiederherstellung der einem
70 Millionen-Volk zukommenden Weltgeltung gewährleistet. Gegenüber den
gewaltigen Entscheidungen, vor denen die deutsche Nationalversammlung stehen
wird, versagen vie Programme der bestehenden Parteien, der Friedens- wie der
Kriegsparteien samt und sonders. Die Revolution des Staates muß notwendig
eine Revolutionierung der politischen Parteiung nach sich ziehen. Es fragt sich
nur noch, wie weit wenigstens deren Fundamente dem Wiederaufbau zunutze
kommen können.
Gegen die radikale Neugruppierung unserer politischen Kräfte spricht neben
der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit vor allem die Erwägung, daß nach
einem natürlichen Gesetz der historischen Trägheit die bestehenden Organisationen
nicht von heute auf morgen zu stürzen sind, daß bei der Schaffung neuer Par¬
teien durch das rudimemäre Fortbestehen ^er allen die Zersvlmeruim und die all¬
gemeine Verwirrung wachsen würde. Ein allzu großer Troß urteilsloser Mit¬
läufer, die in allen Parteien das Gros ausmachen, würde dann jeden Halt ver¬
lieren und politisch dem Schicksal von Buridans Esel verfallen. Unendlich viele
Stimmen gerade aus dem bürgerlichen Lager würden zersplittert oder der Wahl
überhaupt entzogen werden, den Vorteil hätte die radikale Linke, die hinter ihrem
heute offiziellem Parteiprogramm in geschlossenem Zuge zur Wahlurne mar¬
schieren würde.
Der Ausweg aus dem politischen Dilemma ist gewöhnlich der Kompromiß.
Daß die überkommene Parteiung ungenügend ist, wird allgemein empfunden und
anerkannt. Zur Bildung eines völlig neuen Parteisystems fehlt zunächst der Mut
und die Entschlußkraft. So sehen wir allenthalben Versuche am Werk, die Par¬
teiung durch Verschmelzung bestehender Gruppen zu -vereinfachen, durch Zu-
fcimmenballung zu gewichtigen Stimmenkvmplexen zu gelangen. Die liberalen
Parteien gehen voran, nun scheint auch im konservativen Lager eine Fusion be¬
vorzustehen. Es scheint also, daß wir einer Art von bürgerlichem TrialismuS
zusteuern, dem ebenfalls ein sozialistischer Trialismus entgegenstände.
Dieser Doppeltrialismus bedeutet gegenüber dem großen Dualismus
unseres Kriegsparlamentarismns, hinter dem die beiden Kriegsparteien standen,
einen sichtlichen Rückschritt. Vor allem aber sehlt ihm der Bezug auf die Sonder¬
probleme, die die Nationalversammlung lösen soll, auf die hin die Wahl der Ver¬
treter, die Gruppierung der Abgeordneten und zugleich der Wählermassen .er¬
folgen soll. Mit einer gewissen Abweichung von Georg Cleinow möchte ich das
Bekenntnis zum Sozialismus als einem politischen Grundprinzip als den ge¬
meinsamen Boden aller Parteien ansprechen. Seit Bismcircks Sozialpolitik, seit
der Kaiserlichen Botschaft von 1881 sind wir ein sozialistisches Staatswesen,
handelt es sich also nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie
unseres offiziellen Sozialismus. Der Krieg vollends hat die Sozialisierung
unseres Reichsorganismus soweit vorgetrieben, daß eine wesentliche Rückwärts¬
orientierung auch unter dem alten Regime ausgeschlossen erschien. Und bis auf
die Extremisten des Spartakusbundes ist ja auch unsere sozialistische Linke über¬
zeugt, daß die überkommenen Mächte nicht von heute auf morgen vollkommen
Mattgesetzt werden können, daß also aus der Nationalversammlung nur das
Mischungsverhältnis sozialistischer und individualistischer Tendenzen zur Erörte¬
rung steht.
Auf dem gemeinsamen Fundament eines sozialistischen Unterbaues er¬
heben sich nun folgende drei Lösungstypen der deutschen Verfassungsfrage: Die
äußerste Linke, die' am liebsten die Nationalversammlung verhindern mochte, ist
für radikale Sozialisierung, für Aufhebung des Privateigentums und für Auf¬
richtung einer proletarischen Klassendiktatur. Außenpolitisch lehnt sie den Macht¬
staat, ja überhaupt die Individualisierung der Staaten völlig ab, wie ja auch in.
ihrem Jargon nicht von einer Verstaatlichung, sondern von einer Vergesell¬
schaftung der Produktion die Rede ist. Man kann sie den sozialistischen Absolu¬
tismus nennen. Hugo Preuß hat dafür die glückliche Formel des „umgekehrten
Obrigkeitsstaates" gefunden.
Die gemäßigte Linke reicht von Scheidemann, ja vielleicht schon von Haase
bis Paher. Sie ist für stufenweise Sozialisierung, für Verständigung zwischen
Kapitalismus und Sozialismus, Ausgleich des Besitzes und der Lebenshaltung,
für Gleichberechtigung aller Volksschichten, für die Herrschaft der reinen Majori¬
tät. Die ihr gemäße Verfassungsform ist die zentralistische demokratische Repu¬
blik. Außenpolitisch ist ne pazifistisch-föderativ und versieht die liberale Idee des
Völkerbundes. Ihre Muster sind die westlichen Demokratien, obschon sie deren
Imperialismus ablehnen. Der linke Flügel dieser Partei besteht ans den bis¬
herigen Mehrheitssozialistcn und denjenigen von den Unabhängigen, die durch
Beteiligung an der Verantwortung und durch die allgemeine Entspannung ihres
Ressentiments in der Revolution enlradikalisiett sind. Den rechten Flügel bilden
der Linksliberalismus und die demokratischen Kreise des Zentrums, die sich in
kulturellen Fragen ihre Sonderstellung vorbehalten. Diese Partei kann als demo¬
kratisch-republikanischer Sozialismus 'bezeichnet werden.
Die Rechte wird sich mit dem Häuslein Reaktionären schleppen müssen, die
als Klageweiber der Revolution, als Ankläger oder Schmoller, als greisenhafte
wuclatores temporig seti ein klägliches Dasein fristen. Sie wild aber gut tun,
d-ehe ihre reaktionären Mitläufer möolichst unschädlich zu machen, um sich nicht
ohne Not mit ihren: Odium zu belasten. Denn die Rechte hat durchaus ihre
positiven Aufgaben, zumal ihr die wichtige Rolle einer Oppositionspartei zufällt,
deren Gefahr freilich, nicht aber deren Notwendigkeit ein unfruchtbarer Negativis-
mus ist. .Auch die Rechte wird sich für einen organischen Fortgang der Sozia-
lisierung auf dem Wege des Staatssozialismus einsetzen, wobei sie für eine ge¬
bührende Berücksichtigung des tiefgewurzelten seelischen Unterschiedes zwischen Stadt
und Land eintritt. Dem mechanischen demokratischen Gleichheitsprinzip setzt sie
das Prinzip aristokratischer Stufung entgegen, wobei sie in sehr viel stärkerem
Maße als früher gegenüber dem bloßen Geburtsaristokratismus den Aristokratis¬
mus der individuellen Person und ihrer Leistung, insbesondere auch ihres geistigen
Ranges hervorkehrt. Dem Überwuchern der Wahl nach westlichem Muster wird
die Rechte die ergänzenden sozialen Auslesemethoden insbesondere der körperschaft¬
lichen Selbstergänzung entgegenstellen, wie sie sich in den unanfechtbaren Leistungen
der preußischen Bureaukratie und des preußischen Offizierskorps glänzend bewährt
hat. Die Wählbarkeit aller Beamten, die die Doktrinäre der Demokratie ver¬
langen, führt unrettbar zu amerikanischer Korruption, der., gegenüber selbst, das
verkalkte Konnexionenwesen bei uns das weitaus geringere Übel bedeutete. Über¬
haupt wird die Rechte sür die Interessen der Körperschaften, z. B. auch der gewerk¬
schaftlichen Berufsorganisationen, die eine gesunde Stufung unseres sozialen Lebens
nach modernen AusleseprinMeii herbeiführen, nach besten Kräften e mercken und
eine körperschafllicheDurchkonstruktion unseres gesamte nGemeinschaftsleb eus fördern,
die eine nötige Ergänzung zum einseitigen Parlamentarismus, dem Herrschafts¬
bereich der Berufspolitiker, bildet. Die Rechte dringt auf eine möglichst allseitige
Auslese der berufenen Führernaturen aus allen Schichten des Volkes und tritt
jeglicher, auch der parteipolitischer Cliquentyrcmnis entschlossen entgegen. Ihr so
verstandenes modern-autoritcn es Staatsideal kann sie auch innerhalb des repu¬
blikanischen Rahmens in die Wirklichkeit umsetzen, hält' aber an der Überlegenheit
der national-monarchischen Staatsform fest. Außenpolitisch tritt die Rechte für
kraftvolle Machtpolitik auch innerhalb der neuen internationalen Orgcmisations-
fonnen ein. Eine Abrüstung kann sie nur soweit gutheißen als diese nicht einer
bedingungslosen Unterwerfung unter die anderen Weltmächte gleichkommt. Im
Innern wie nach außen pflegt die Rechte die spezifisch deutschen Überlieferungen
und tritt für den Schutz des Deutschtums in der ganzen Welt entschlossen ein.
Die neue Rechte darf nicht lediglich aus den Konservativen bestehen, sondern muß
auch die gesinnungsverwandten Kreise des Zentrums und. der Nationalliberalen
an sich ziehen. Daß sie damit sowohl ihren ausgesprochen protestantischen wie
auch ihren betont norddeutsch-preußischen Charakter opfern muß, ist selbstver¬
ständlich. Diese Partei der größeren Rechten kann sich dann als aristokratisch¬
monarchischer Sozialismus bezeichnen, wobei freilich keines dieser beiden Attribute
im starr überkommenen Wortsinn gebraucht werden darf.
Immerhin bleibt das Bekenntnis zum monarchischen Gedanken ein Symbol,
dessen Werbekraft für einen Zusammenschluß der Rechten nicht unterschätzt werden
sollte. Solche weithin leuchtende Symbole der Sammlung brauchen wir, wenn
wir eine Neugruppierung der Geister ernsthaft cmstreven, zumal ein ganz neuer
Kreis mit diesen Wahlen erstmals ins politische Leben eintritt: die deutsche Frauen¬
welt. Die Frauen sind Noch weniger als die Männer innerlich auf die über¬
kommenen Parteiprogramme festgelegt, an ihren bedeutsamen Einfluß appellieren
wir daher auch, wenn wir zu einer Neuordnung des Parteiwesens im Hinblick
auf die Grundfrage der Nationalversammlung aufrufen. Wenn die politische Er¬
weckung der Frauenwelt richtig geleitet wird, kann sie zu einer wesentlichen Ver¬
stärkung der Rechten führen. Der konservative Grundcharakter der Frau hält
ihrem natürlichen Radikalismus zum mindesten die Wage. So' wird voraus-
sichtlich die politische Mündigkeitserklärung der Frau sowohl der äußersten Linken
wie der Rechten vorzugsweise zugute kommen. Alle Parteien aber werden jetzt
um die Frau werben müssen. Schon dieser Gesichtspunkt allein sollte für die
Aufrichtung völlig neuer Tafeln in unserem politischen Leben entscheidend sein.
kaat ist nicht Zweck, nicht Vertrag, nicht Absicht. Staat ist Folge.
Staat i se.
Staat ist kein Organismus, nichts Lebendiges. Er ist
Schema, Form, Apparat. Das Lebendige des Staates ist der
Mensch.
Staat ist um des Menschen Willen da. Wie darf der Mensch dem Staat
geopfert werden? Er darf es und er ist bereit dazu, insofern Staat Bedingung
und Voraussetzung des Menschlichen im Menschen enthält.
Wozu lebt der Mensch? Um zu werden, zu wirken, zu lieben, zu erkennen
und zu schaffen. Braucht er dazu Staat? Jawohl: Staat entlastet, schützt, ver¬
bindet, erleichtert, trögt herbei. Ohne Staat bliebe jeder einzelne ein Tier, dessen
Dasein sich erschöpfte in Beschaffung der Nahrung und Bedeckung, im Schutz des
Lebens und Eigentums. schädigt der Staat nicht zugleich das Individuum?
Man hat den Vorwurf erhoben, daß er die Prächtigkeit des Exemplars beein¬
trächtige. Das ist wahrscheinlich romantischer Irrtum: höhere Exemplare, nach
Wohlbeschaffenheit des Leibes und Mutes, als etwa heutige Kampfflieger und
U-Boot-Kommandanten sind Wohl auch im Urstcmde nicht möglich; sie sind
wahrscheinlich nicht einmal erreichbar. Daß der Staat die Massenhaftigkeit be¬
günstigt und die Auslese hemmt, ist wahr. Dieser Fehler aber liegt nicht im
Wesen des Staates und kann behoben werden.
Die schlimmste Folge des Staates ist der Krieg. Lohnt der Staat den
Krieg? Oder sollte man, um Krieg zu verhüten, auf Staat und seinen Nutzen
verzichten? Oder ist der Nutzen des Staates erreichbar ohne Staat? Ja, für
den einzelnen, der in die Wüste geht. Aber er verzichtet damit aus einen Teil
feines Menschentums. Im ganzen sind jene Fragen deshalb müßig, weil Staat
lst, mit Notwendigkeit, unvermeidbar.
Staat ist Macht durch Organisierung. Macht strebt nach Unbegrenztheit,
Organisierung nach Vollkommenheit. Staat strebt also danach, die Erde zu um¬
fassen. Die zu Ende organisierte Menschheit wäre erlöst: sie hätte den ewigen
Frieden, sie brauchte an Machtmitteln nur noch Polizei, nicht mehr Militär.
Der Sinn des Staates ist also Imperialismus. Mit erreichter Weltherrschaft
höbe der Staat sich selber auf.
So weit sind Wir noch lange nicht. Vorläufig ruft die Vielheit der Staaten
einen Kampf ums Dasein hervor, der auslesend und machtsteigernd wirkt.
steigende Macht nach außen ist zugleich steigender Zwang nach innen. Wir be¬
finden uns in einem Stadium der Prävalenz des Staates. Der Staat drückt das
Individuum und droht es zu ersticken. Wer das erkannt hat und bessern will,
muß das Heilmntcl anwenden: er muß den unbeschränkten Imperialismus er¬
streben, die zu Ende organisierte Menschheit.
Zwischen Staaten gibt es kein Recht; denn es gibt keine Macht über den
Staaten. Staaten leben nebeneinander im Urzustande der Gewalt. Zwar
schmeichelt man sich immer mit der Hoffnung und Forderung, daß die Gebote der
Ethik auch von Staat zu Staat gelten sollen. Allein man begeht einen Deut¬
fehler. Staaten sind keine Individuen, in denen Vernunft und Gewissen mächtig
wären. Staaten sind Institutionen. Klug, und also dumm, gut, und also
schlecht, können nicht die Staaten, nur ihre Beamten handeln. Der Privatmann
darf, um nicht wortbrüchig zu werden, lieber fein Glück und sein Loben preis¬
geben. Der Beamte darf nicht, um den Staatsvertrag zu halten, den Untergang
seines Staates riskieren. Gewiß wird er mit allen Kräften streben, auch im Ver¬
hältnis von Staat zu Staat die Treue zu wahren. Aus Klugheit, nicht aus Ethik;
denn auf Verträge sind die Staaten angewiesen und Treu und Glaube bleiben
ihre Voraussetzung. Sobald aber die Verpflichtung des Staates in Widerspruch
gerät zu seinem Wohl, wird kein Staatsmann der Welt die ethische Idee über
den praktischen Nutzen stellen. Er kann es nicht und er darf es nicht. Noch
immer hust das e>i> S n nneietz für t>en Swot?>u>aer: l^lit c>r vron^ —
ra? eouQtr^. überall wird der fremde Spion gehängt und gilt der eigene als
Märtyrer. Zwischen Staaten, auch wenn sie verbündet sind, kann kein anderes
Verhältnis bestehen als Feindschaft. So ist es und so wird es bleiben, so lange
es auf Erden mehr als einen Staat gibt.
Der uns Heutigen erreichbare Grad des Imperialismus ist der Großstaat.
Die ideale Form des Großstaates, die einen relativen Schutz gegen Kriege böte,
wäre der durch den Erdteil begrenzte Großstaat. Pcmamerika, ohne Zweifel im
Begriff zu entstehen, wird der gesündeste Staat der Welt sein.
'
Europas Entwicklung zum gleichen Ziele ist aus lange Zeit hinaus ver¬
dorben. Zwei seiner Glieder haben sich hypertrophisch entfaltet: Rußland über
Asien hinweg, England über den fünften Teil aller Länder der Erde. Was bleibt,
ist ein Stumpf, ist ein Haufe von Elementen, bestimmt, zwischen diesen beiden
Polen hin und her zu oszilliereu. Rußland steht vor der Auseinandersetzung mit
Asien; der Ausgang ist zweifelhaft (Asien siegt, wenn nicht die europäische
Menschheit, in rechter Erkenntnis der Entscheidung, um die es geht, seinem öst¬
lichen Bruder zu Hilfe kommt). England hat sich auf der Bahn zum unbegrenzten
Imperialismus am weitesten fortbewegt: es braucht nur noch den lange vorbe¬
reiteten Schritt zum erapirs zu wagen, so repräsentiert es einen schlechtweg vor¬
bildlichen und zukünftigen Staatstypus, dem wir uns, auf dem Wege zur voll¬
kommenen Organisation irgendwie werden einfügen müssen.
-,,
Die idyllische Zeit der Nationalstaaten ist vorüber. Der böse rationa¬
listische Mißgriff unnationaler Staaten muß wieder gutgemacht werden. Der
Staat der Zukunft ist übernational. Der Staat umfaßt/ hegt und pflegt die
Nation. Wie die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die Menschenrechte prokla¬
miert hat, so soll an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert der Ruhm haften,
die Rechte der Nation begründet zu haben. Die Nation darf fordern eigene
Sprache, eigene Sitte, eigene Religion, eigene Presse und Literatur, eigenes Ge¬
richt und eigene Verwaltung; es muß ihr die Möglichkeit gegeben werden, einen
NalionnlwilU'N he'vmzubrii'gen und zu änster»; es muß ihr EmfluK auf die
Staatsregierung eingeräumt fein. Daß jede Nation selber Staat sei, wäre an sich
der ideale Fall, steht aber der Entwicklung im Wege und ist daher nicht mehr
möglich, übrigens auch nicht nötig, so wenig wie daß jeder Kaufmann Chef oder
jeder Soldat Offizier sei. Nationales Leben, das sich natürlich und ungehemmt
entfalten darf, frei von Krampf und Kampf, verdient allein den Namen Leben.
In der Nation liegt aller Reiz, Duft und Farbe. Eine Menschheit, die nur aus
Staat bestünde, Ware Wüste.
Das eigentliche Verbrechen an der Nation ist ihre Aufteilung unter
mehrere Staaten. Eine in Fetzen gerissene Nation kann kein eigenes Leben mehr
entwickeln, keinen nationalen Willen produzieren, keinen Staatsakt ausüben. Die
geteilte Nation bildet eine Monstrosität. Teilung ruft das Streben nach Ver¬
einigung mit den anderen Gliedern hervor, nach Losreißung vom Staatsverband.
Aus der Teilung stammt die Staatsfeindlichkeit des Nationalismus, aus der
Teilung die Vergewaltigungen, welche die Nation vom Staat erleidet.
Das Nationalitätenproblem, theoretisch ziemlich leicht zu bewältigen, ent¬
hält Praktisch eine unlösbare Schwierigkeit: die Grenzen der Nationen sind nicht,
wie die der Staaten, feste Linien, fondern breite und bewegliche Zonen. Es gibt
überall zwichen ihnen Gebiete der Mischbevölkerung, und es gibt in ihnen
Ebbe und Flut, Anschwellen der einen und Abschwellen der anderen Nation bis
zu einem Kulminationspunkt, an dem die Umkehrung beginnt. Die starre Grenze-
des Staates verhindert den natürlichen Verlauf dieses' Prozesses! sie wirkt als
geschlossenes Ventil.
Es ist unsere diabolische TraD, es ist die eiternde Schmach der europäischen
Menschheit, daß ihr größter Krieg ausgefochten wurde um die Reibereien der
nationalen Mischzonen. Menschen schlachteten einander, um die läppische, die
inferiore, aber auch die unlösbare Frage zu entscheiden, ob die Staatengrenze
diesseits oder jenseits der Mischzone oder quer hindurch zu ziehen sei. Ob das
Elsaß deutsch oder französisch, ob das Trentino österreichisch oder italienisch sei,
darum rannen Blut und Tinte unmeßbar, darum wurde Partei gebildet und er-
ergiffen, Gesinnung erzeugt und bewährt, die Leidenschaften und ihr dämonisches
Gefolge von Tugenden und Lastern tanzten um dieses Idol ihren furiosen Reigen.
Alles um eine Frage, in der kein Funke Geist steckt, an der sich nichts Wesentliches
entscheidet, die nicht anders beantwortet werden kann als auf Grund mechanischer
Zählung, mit der Nennung einer Prozentziffer oder einer Proportion.
Der Aufstieg Europas stammte gewiß zum wesentlichen Teil aus der Kon-
kurrenz so vieler Nationen auf engem Raum. Aber dieser Segen wurde zum
Fluch. Heute ist das übervölkerte, vom Fetisch des Nationalismus scmatisierte
Europa in Gefahr, an seinen nationalen Kämpfen zugrunde zu gehen. Hier gibt
es nur eine Rettung: der gesamteuropäische Staat, der die heutigen Staaten¬
bildungen und -Mißbildungen nicht mehr kennt, der in tellurischen Grenzen gleich¬
berechtigte Nationen umfaßt, die — als Deutsche, Franzosen, Briten, Italiener,
Tschechen, Ungarn usw. — alle in gleicher Weise Europäer sind, die Platz finden,
an ihren Berührungsflächen elastisch zu fluktuieren, und die nicht nötig haben
und auch nicht fähig sind, wegen nationaler Eifersüchteleien die Kriegsmaschinen
ihrer Staaten in Bewegung zu setzen. Das wäre zwar noch nicht der Weltfriede,
aber der europäische Friede; es ist kein Programm für heute und morgen, aber es
ist ein Programm.
Staat ist Macht durch Organisierung. Staat ist also Organisation, nichts
weiter. Daß der Staat für Ideen kämpfe, ist Illusion; auch daß er durch Ideen
kämpfe. Er verlangt Opfer sür die Organisation. Er organisiert auch uoch Idee,
Begeisterung, Ethos und Pathos; er erniedrigt Herz und Seele zu organisatori¬
schen Instrumenten. Daß der Staat mehr sei als Organisation, daß er daS
Wesentliche, die Sache selbst, Gut und Wert bedeute, ist Selbstbetrug der Men¬
schen, deren Stolz es nicht erträgt, der Schale, dem Gerüst, der Maschinerie sich
aufgeopfert zu sehen.
Dem Staat zu dienen, steht nicht im Belieben des Menschen; er wird
hineingeboren und trägt Staatsbürgerpflichten, ohne gefragt worden zu sein. Dem
Staate zu entgehen, ist schon heute fast unmöglich und wird es mit fortschreitender
Organisierung der Erde immer mehr. Eines Tages wird der Mensch, wohin er
auch fliehen mag, Staat vorfinden. Einem bloßen Zwang zu unterliegen, schändet.
Der einzige Weg, um Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln, ist, das Unver-'
meidliche „in seinem Willen aufnehmen". Um Staat nicht nur zu erleiden, muß
man auch Staat wirken. Jeder Deutsche ist ein 65 Millionstel Organisator, Re¬
gierung, Souverän. Auf diesem Brucy muß er seine Menschenwürde ausrichten.
Es ist nicht erhebend; aber es bleibt ihm keine Wahl.'
Macht des Staates, muß gehandelt werden. Sie kann von niemandem ge^
handhabt werden, als von einzelnen, höchst menschlichen Menschen. Monarchie,
Aristokratie, Demokratie; Absolutismus, .Konstitution, Parlamentarismus: alle
diese und manche anderen Namen ändern nichts daran, daß man Leute ermächti¬
gen muß, die Hebel der Staatsmaschine zu bewegen. Für den, der auf den richti¬
gen Platz gestellt wird, gehört nicht mehr dazu, das ungeheure Räderwerk in Gang
zu bringen, als für den Mann auf der Lokomotive, seinen'Schnellzug in Bewegung
zu setzen, oder für den Kanonier, sein Geschütz abzufeuern. Ein Handgriff genügt.
Die ungeheure Wirkung steht in keinen Verhältnis zu dieser bescheidenen Ursache.
Eben darum entsteht in dem Mann am Steuer die Lust des Machtgefühls,
die Selbsttäuschung, er besitze die Macht, die er ausübt; er sei Macht. Die Schutz¬
vorrichtung ist noch nicht erfunden, die den Herrscher, den Regierenden, den Ver¬
walter und Beamten an böswilligen oder fahrlässigen oder gutgläubigen Mi߬
brauch der Macht hindert. Die Organisation namens Staat, aufgebaut auf dem
System der Über- und Unterordnung, :se ein beschämend unvollkommener Not¬
behelf. Er bedürfte, um einigermaßen gerechtfertigt zu sein, mindestens eines
zuverlässigen Verfahrens, das gestattet, aus der Masse, die gehorchen muß, die
wenigen, die befehlen sollen, nach ihrer inneren Qualifikation auszulösen. In¬
dessen außer dem monarchischen Prinzip der Erbfolge und dem demokratischen der
Wahl und einer Vermischung beider hat man bisher noch keine Methode gefunden.
Dort entscheidet der Zufall,- hier ist man nicht dagegen geschützt, daß der Staat den
Blendenden, scheinenden, den Advokaten und Schauspielern ausgeliefert werde.
Vielleicht muß man nicht durchaus auf dem Wege der Über- und Unterordnung
organisieren? Noch niemandem ist eine andere Weise eingefallen. Organisieren
aber muß man, und zwar durch Zwang, mit Strenge und Härte; denn wer sich
darauf verlassen wollte, daß die Menschen das gemeinsame Beste einsehen und aus
eigenem Antrieb zu verwirklichen streben werden, der wird sich auf das schmäh¬
lichste getäuscht finden: an Dummheit, Stumpfheit, Beeinflußbarkeit, an Trägheit,
Mißgunst und Eigennutz scheitern alle guten Absichten. Wer etwas von der
Menschheit will, muß sie zu zwingen suchen. Staat gehört zu ihrer Notdurft. Der
Einsichtige wird sich dieser beiden Seiten bewußt bleiben: daß Staat notwendig
ist, und daß er nicht notwendig sein sollte. Er sieht sich getrieben, ihn zu gleicher
Zeit zu verachten und hochzuhalten, ihn zu bekämpfen und sich ihm aufzuopfern.
Macht ist Glück. Die Umkehrung, Glück ist Macht, stimmt gewiß auch; aber
nur für den seichten Menschen besteht das Glück in der äußerlichen Macht, straflos
und willkürlich andere als Werkzeuge für eigene Wünsche zu gebrauchen. Es ist
leicht, den Staat zu wollen, sür den, der das Glück der Macht genießt, der be¬
fehlen darf. Jedoch den Staat bekämpfen, nur weil man selber gehorchen muß,
ist plebejisch. Freilich gibt es einen Weg, das Recht des Staates, mir zu befehlen,
sür meine Person aufzuheben: indem ich selber auf alles befehlen verzichte. So
lange ich noch Arbeiten von anderen verrichten lasse, vor denen ich selber mich
ekeln würde, erkenne ich das System der über- und Unterordnung an und darf
es nicht deshalb verleugnen, weil ich selber zufällig unten geblieben bin. Das
Recht, Anarchist zu sein, Feind der Staatlichkeit überhaupt, wird nur erworben
durch die strengste und härteste Entsagung auf alles, was der Mensch unter Men¬
schen erstrebenswert findet, durch ein radikales spemers se spsi-ni. Nur der
Heilige darf sich außerhalb des Staates stellen.
Daß der Staat Zweck sei, ist die häufigste Form der Selbsttäuschung aller
derer, welche die Macht des Staates verwalten, welche durch den Staat Macht
ausüben. Freilich, soweit der Staat da ist, damit Millionen leben, sich ernähren,
zeugen, genießen und es sich behaglich machen, dient er einem Zweck, für den sich
der Apparat nicht lohnt. Muß man also am Staate verzweifeln? Aber Staat ist
p»t uncl > nklicti >um >cree"'>>I ii,> weilt'- verlanaeii als lUoehelngideit, Mütze,
Raum, Stille. Durch die Schaffenden, die Forschenden, die Erkennenden, und vor
allem durch die Gütigen des Herzens, die Helsenden, die Wissenden — und durch
nichts sonst ist Staat gerechtfertigt. Nicht die den Staat schützen noch die ihn ver¬
walten, bilden Frucht und Blüte. Sie alle sind Dieinr jener Unpolitischen und
Unkriegerischen, die das hervorbringen, um dessentwillen es sich überhaupt ver¬
lohr?, doch gelebt, gearbeitet, gekämpst und gestorben wird.
Daß das königliche Amt Zeichen und Beweis su d:r königlichen Seele: das
befehlen, anordnen, organisieren an sich mehr lebende als gehorche» ausführen,
le'sten: diesen Glauben aller bisherigen Menschheit als Aberglauben zu ent¬
larven, ist Pflicht und Aufgabe der Zukunft. In Wirklichkeit ist vom Leiten
allerdings der Dummkopf und der Schwächling auszuschließen, ebenso aber der
Erleuchtete und der vom Dämon einer Aufgabe Besessene. Disponieren soll der
Mensch von mittlerer Intelligenz und mittlerer Konsequenz. Es gibt unver¬
gleichlich mehr Staatsbürger, die zum Verwalter und Regieren taugen, als
Stellen zur Verfügung stehen. Wenn es anders wäre, wie käme es sonst, daß
jeder, der durch den Zufall der Geburt, der Gunst, der sozialen Schichtung über
andere gesetzt wird, das Seinige im großen und ganzen zu leisten Pflegt?
Anordnen ist leicht, ausführen aber ist schwer. „Machen Sie mir ein Paar
Stiefel nach Maß," kann jeder sagen; sie anzufertigen aber vermag nur, wer das
Handwerk gelernt hat. Der Ausführende kommt nicht zu Rande ohne Fleiß, Ge-
schicklichkeit, Kenntnisse, Umsicht und Ausdauer. Wer am Morgen zehn Auf¬
gaben stellt und sie am Abend vollendet vorgelegt erhält, mag sich überaus tüchtig
vorkommen, so, als habe im Grunde er selber das alles geleistet. Dabei dürfte
er, gezwungen, auch nur eine dieser Arbeiten zu vollführen, in große Verlegen¬
heit geraten, und nur zu oft mag er von seinen sämtlichen Untergebenen über¬
troffen werden. Der Cebes entläßt einen Angestellten, der seinem Dienste nicht
gewachsen ist; er entläßt auch noch einen zweiten und dritten. Endlich findet er
den Rechten, der den Posten ausfüllt, und rühmt sich seiner eigenen Tüchtigkeit.
Allein er hat nur denjenigen getroffen, der tüchtiger ist als er, und der vollbringt,
was der Chef zwar anordnen und zeternd fordern, nicht aber selber ausführen
konnte.
Die Herrschenden, die Befehlenden, die Leitenden umgab überall höchste
soziale Würde. Hier ist umzuwerten. Abschaffen kann man das Regieren nicht.
Aber die Diener des'Staates sind zu begreifen als die wahrhaft Dienenden, die
um der anderen willen da sind, die Maschinisten, die das Getriebe in Gang halten,
damit das Eigentliche, das Wesentliche, das Zeitlose geschehe. Im Staate der Zu¬
kunft werden die Verwaltenden ihre Würde verloren haben, als die bloß Befeh¬
lenden, die Repräsentierenden, die scheinenden, zugunsten der Regierten, als der
Gehorchenden, der Wirklichen, der Leistenden. Auch dies kein Programm für
heut und morgen; jedoch, auch dies, ein Programm.
W und unsere Bibliotheken, so wenig sie anscheinend mit kriegerischen
D und politischen Ereignissen zu tun haben, müssen sich, gewollt oder
W ungewollt, den ehernen Gesetzen, die der Welt ihr verändertes Ge-
Wpnige geben werde», »mernnrfen. Auch sie ive-din>in tnej.kom
^bleiben, die sie vor dem Kriege waren: neue Aufgaben, die zum
Teil schon während des Weltkrieges an sie herangetreten sind, ver¬
langen neue summen, Onianimnonen u»o Meiuno n.
Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß unser Bibliothekswesen rück-
ständig gewesen sei oder noch sei. Das Gegenteil ist der Fall. Schon viele Jahre
vor dem Kriege konnte der Direktor der Universitäts-Bibiliothe! Breslau,
Milkau, in seinem Beitrag zu den „Allgemeinen Grundlagen der Kultur der
Gegenwart" (Berlin und Leipzig: B. G. Teubner, 1906, S. 386) über das
deutsche Bibliothekswesen schreiben: „Denen, die bei jeder Gelegenheit bewun¬
dernd auf die blendenden Erscheinungen des ausländischen Bibliothekswesens,
auf das Britische Museum, die Bibliothöque Nationale oder auf die mit uner¬
hörten Mitteln arbeitenden großen amerikanischen Bibliotheken hinweisen, kann
gesagt werden, daß es kein zweites Land gibt in der Welt, in dem, alles in allem
genommen, sür die Bedürfnisse der Wissenschaft im Punkte der Bibliotheken
so Wohl gesorgt wäre und sortgesetzt gesorgt würde wie in Deutschland." Wer
an der Richtigkeit dieser Behauptung Zweifel hegt und sie zum mindesten als
pro clvrnv gesprochen anzusehen geneigt ist, der mache sich die Mühe und werfe
einen Blick in die Bibliotheksstatistik nach 1966: er wird erstaunt sein, wie
geradezu sprunghaft die Ziffern im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege in die
Höhe gegangen sind. In: Betriebsjahr 1965/66 betrugen, um hier nur einige
wenige Zahlen zu nennen, die Ausgaben für Buch erkauf bei der Königlichen
Bibliothek Berlin 165153 Mark, 1913/14 dagegen 234651 Mark; die
Universitäts-Bibliothek Breslau, die sich 1965/06 noch mit 24149 Mark begnügen
mußte, konnte 1913/14 weit über das Doppelte, nämlich 61132 Mark sür
Vermehrung der Bücherbestände aufwenden. Der Anschaffungsfonds der
Hamburger Stadtbibliothek, der sich 1965/66 auf 36 243 Mark belaufen hatte,
war 1913/14 auf 56 219 Mark gestiegen.
Diese Erhöhungen der Anschassungsfonds standen in ursächlichen
Zusammenhang mit der zunehmenden Benutzung. In der Königlichen
Bibliothek, die sich in ihrem 1914 eröffneten Prachtbau ganz anders recken und
dehnen konnte, als in der alten „Kommode" am Opernplatz, betrug 1965/66 die
Zahl der abgegebenen Bestellzettel 453163, im Betriebsjahr 1913/14 waren eS
717 325. Bei der Universitäts-Bibliothek Breslau stehen den 56 468 im Jahre
1965/66 bestellten Merken 130 539. im Jahre 1913/14 abgegebene Bücher-
bestellungen gegenüber. Die Stadtbibliothek Hamburg wurde 1905/66 von
23 910 Benutzern am Ort in Anspruch genommen, i. I. 1913/14 von 33 817.
Am eindrucksvollsten prägt sich der Aufschwung der Benutzung in den Ziffern
des auswärtigen Leihverkehrs aus: die Zahl.der von der Königlichen Bibliothek
nach auswärts versandten Bände stieg von 23 699 i. I. 1965/06 auf 62 057 i. I.
1913/14. Der Anteil der Universitäts-Bibliothek Breslau am Leihverkehr betrug
1965/06 an versandten Bänden 4491, an erhaltenen 1235, i. I. 1913/14 war er
auf 16 732 und 4312 Bände angewachsen. Bei der Stadtbibliothek Hamburg
stehen den i. I. 1905/06 versandten 997 und erhaltenen 511 Bänden i. 1.1913/14
an versandten Bänden 3191 und an erhaltenen 2176 gegenüber. Der aus¬
wärtige Leihverkehr der Hof- und Staatsbibliothek in München belief sich i. I.
1913 auf 18187 Bände, wovon 745 nach Österreich-Ungarn, 126 nach der
Schweiz verschickt worden sind.
Dieser Leihverkehr von Bibliothek zu Bibliothek, der in keinem Lande so
ausgebildet ist wie in Teutschland, veranschaulicht am deutlichsten den gro߬
zügigen und weitherzigen Geist, worin schon vor dem Kriege die Schätze der
deutschen Bibliotheken weit über die nächstbeteiligten Benutzerkreise hinaus der
wissenschaftlichen und beruflichen Arbeit zugänglich gemacht wurden. Die
Grenzen des einzelnen Bundesstaates bildeten dabei so wenig ein Hindernis wie
die Reichsgrenzeu. Selbst die Benutzung kostbarer Handschriften ist den Gelehr¬
ten des Auslandes von allen deutschen Bibliotheken in entgegenkommendster
Weise ermöglicht worden. So hat im Betriebsjahr 1913/14 allein die König¬
liche Bibliothek Berlin 217 Manuskripte an preußische, 163 an sonstige deutsche
und 48 an ausländische Bibliotheken versandt. Bekanntlich hat die gleiche Libe¬
ralität der Münchener Hof- und Staatsbibliothek im Kriege durch' den Brand
der Löwener Universitäts-Bibliothek den Verlust von zwei Handschriften ge¬
kostet, eine bedauerliche Tatsache, die aber an dem Grundsatz weitgehendsten
Entgegenkommens auch dem Auslande gegenüber nichts ändern wird'.''
Wne wesentliche Förderung erfuhr der Leihverkehr durch das i. I. 1905
errichtete Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken, das die Aufgabe erhielt,
jedem Benutzer nachzuweisen, auf welcher Bibliothek sich ein gesuchtes Buch be¬
findet. Aus kleinen Anfängen hat sich dieses Institut zu immer größerer Be¬
deutung entwickelt: aus der Zahl der i. I. 1913/14 gesuchten Bucher (13 970)
geht hervor, einen wie großen Wirkungskreis sich das Auskunftsbureau allmäh¬
lich erobert hat. Ganz besonders unterstützt wurde es in seinen Bestrebungen
durch die beiden großen Münchener Bibliotheken, die Hof- und Staatsbibliothek
und die Universitäts-Bibliothek. Der tatkräftigen Mitwirkung der Hof- und
Staatsbibliothek ist es vor allem zu danken, daß dos vom Auskunftsbureau her¬
ausgegebene Gesäme-Zeitschriften-Verzeichnis noch kurz vor Ausbruch des
Krieges veröffentlicht werden konnte: das Werk, das mit Recht ein nationales
Unternehmen genannt werden kann, ist durch die Zusammenarbeit von mehr als,
300 deutschen Bibliotheken entstanden und verzeichnet rund 17 000 laufende
Zeitschrijten mit Besitzangaben, wo sie zu finden sind.
Neben dem Auskunftsbureau find besonders zwei Unternehmungen zu
nennen, die zeigen, daß der Gedanke des Zusammenwirkens — der „Koope¬
ration", die in dem vortrefflichen, von Dahl herausgegebenen Handbuch des
dänischen Bibliothekswesens neben der „Spezialisierung" als Haupterforder¬
nis moderner Bibliotheksverwoltung bezeichnet wird — gerade in Deutschland
längst in die Tat umgesetzt worden ist: der Gesamtkatalog der preußischen wissen¬
schaftlichen Bibliotheken und der Weltkatalog der Wiegendrucke. Von ersterem
standen die Vollendung des handschriftlichen Zettelmaterials und der Beginn
der Drucklegung 1914 in naher Aussicht. Auf der „Bugra", der Ausstellung für
Buchgewerbe und Graphik in Leipzig, konnte ein Probetrunk des Gesamtkatalogs
vorgelegt werden. Auch das andere für die Wissenschaft, vor allem für die Geschichte
des ältesten Buchdrucks hochbedeutsame Unternehmen, der Gesamtkatalog der
Inkunabeln, war Anfang 1914 so weit gefördert, daß an die Drucklegung ge¬
dacht und ebenfalls in ver „Bugra" ein Probetrunk ausgestellt werden konnte.
An dem kraftvollen Aufstieg, dessen sich die wissenschaftlichen Bibliotheken
in den beiden Jahrzehnten vor dem Kriege erfreuten, nahmen auch die allgemei¬
nen Bildungs- und Volksbibliotheken teil. Der Kreis der ersteren hatte sich da¬
durch, daß einer Reihe von Stadtbibliotheken, die vorher rein wissenschaftliche
und Behördenbibliotheken gewesen waren, größere und volkstümlichere Auf¬
gaben zugewiesen wurden, erheblich erweitert. Zu den Stadtbibliotheken in
Köln und Stettin, den Königlichen Bibliotheken in Wiesbaden, Hannover und
Erfurt und der Landesbibliothek in Düsseldorf, die in dieser Weise umgestaltet
wurden, war 1902 als Neugründung die Kaiser-Wilhelm-Bibliothek in Posen
getreten. Ihren älteren Schwestern gleich hat diese Anstalt in segensreichster
Weise gewirkt; sie hat in der Provinz Posen die wissenschaftliche Forschung
unterstützt, Bildung und geistige Regsamkeit verbreitet und zugleich durch die
ihr angeschlossenen Wanderbibliotheken als Mittelpunkt des Volksbibliotheks-
Wesens gedient. Zwar steckte zu Beginn dieses Jahrhunderts das Volks¬
bibliothekswesen Deutschlands noch in den Kinderschuhen, ober seitdem Nörren-
berg, von der Chicagoer Meltausstellung zurückgekehrt, das amerikanische Vor¬
bild der „Einheits- und Bildungsbücherei" auch bei uns einzubürgern mit Er¬
folg bemüht war, wetteiferten alle deutschen Städte in dem Ausbau und der
Neueinrichtung von öffentlichen Lese- und Volksbüchereien. Auch für
das volkstümliche Bibliothekswesen ergibt sich ein erfreulicher Aufschwung, wenn
man die Benntzungsziffern z. B. der Kaiser-Wilhelm-Bibliothek aus den Jahren
1905/06 und 1913/14 einander gegenüberstellt: die Zahl der abgegebenen Bestell¬
zettel, die 1905/06 rund 83 000 betragen hatte, war 1913/14 aus 135 000 gestiegen.
Noch höhere Ziffern haben andere Bolksbibliotheken auszuweisen: auf die fünf
Ausleihestellen der Städtischen Volksbücherei Charlottenbura z. B. entfielen
i. I. 1913/14 insgesamt 400 549 (1912: 353 203) Entleihungen.
Diese hier nur in Umrissen angedeutete verheißungsvolle Entwicklung
erfuhr durch den Krieg zunächst eine jähe Unterbrechung. Wie jedem von uns
der Atem stockte beim Ausbruch der welterschütternden Geschehnisse, so schien
auch in den Bibliotheken der Pulsschlag des Lebens in den denkwürdigen August¬
tagen auszusetzen. Ader es schien nur so: für kurze Zeit wurde an einigen
Orten geschlossen, bald aber össneten sich überall wieder die Lesesäle, und wenn
im Anfang Einschränkungen geboten waren, so wurden doch z. B. in der König¬
lichen Bibliothek zu Berlin, die von dem Ausfall an Arbeitskräften ganz beson¬
ders betroffen war, sehr bald, schon Ende September 1914, die Öffnungszeiten
wieder bis zum Abend ausgedehnt, und bald wurde auch hier die Versendung
von Büchern nach auswärts, zunächst für die Provinz Brandenburg, dann auch
für die übrigen Gebiete, wieder begonnen. In anderen Bibliotheken, so in der
Hof- und Staatsbibliothek München, in der Universitäts-Bibliothek Breslau, in
den Stadtbibliotheken Krefeld, Lübeck, Magdeburg, Mainz u. a., Wohl ausnahms¬
los in den Volksbüchereien, wurde der Betrieb wie in Friedenszeiten aufrecht¬
erhalten. Zwar verminderte sich fast überall, namentlich bei den Universitäts-
Bibliotheken, da ja Hörer und Lehrer zum größten Teil freiwillig zu den Fahnen
geeilt waren, die Benutzung erheblich. Im übrigen aber traf die naheliegende
Befürchtung, daß der Krieg einen Stillstand oder gar einen Rückschritt in der
Entwicklung der Bibliotheken bedeuten würde, dank der Fürsorge der staatlichen
Behörden und der hingebenden Tätigkeit des daheim gebliebenen Bibliotheks¬
personals nicht ein. Ein nennenswerter Abstrich von den Anschaffungsmitteln
hat weder in Preußen noch in den anderen Bundesstaaten stattgefunden, so daß
die Vermehrung sich ungefähr auf der gleichen Höhe wie in Friedenszeiten halten
konnte. Selbstverständlich wurden bei den Anschaffungen die Bücher auch des
feindlichen Auslandes nach wie vor genau so berücksichtigt wie vor dem Kriege,
da die Förderung der Wissenschaft als oberste Richtschnur galt; wenn in dieser
Beziehung ein Rückgang zu verzeichnen ist, so hat er andere Gründe wie die
Unterbrechung oder Erschwerung des buchhändlerischen Verkehrs, die Verteue¬
rung der Bücher überhaupt und die gesunkene Kaufkrast unserer Währung.
Im weiteren Verlauf des-Krieges näherten sich die Benutzungsziffern
immer mehr denen der Friedenszeit, nur blieben sie naturgemäß auf dem Ge¬
biete des auswärtigen Leihverkehrs erheblich zurück. Immerhin zeigt ein Blick
in die Betriebsstatistik des letzten Jahres, daß die Bibliotheken ihrem Grundsatz,
auch den auswärtigen Benutzern und selbst denen des Auslandes ihre Schätze zu¬
gänglich zu machen, treu geblieben sind. Die Königliche Bibliothek Berlin hat
im Betriebsjahr 1917/18 im Leihverkehr 15 547, an sonstige auswärtige Entleiher
12 770 Bände verschickt. Im engeren Leihverkehr von Bibliothek zu Bibliothek
entfallen auf Preußen 10 354 von Berlin aus versandte Bände, während die
Königliche Bibliothek von auswärts 640 Bände erhielt. Im auswärtigen Ver¬
kehr außerhalb des Leihverkehrs erhielten u. a. von Berlin: Bayern 629, Baden
783 und Hamburg 715 Bände. Ins Ausland gingen annähernd 500 Bände,
darunter nach Österreich-Ungarn 173, nach der Schweiz öl, nach Holland 11,
Dänemark 18 und Schweden 37. Von der Hof- und Staatsbibliothek in München
wurden 1917 nach auswärts 14 558 Bände verschickt, davon 317 nach Öster¬
reich-Ungarn und 7V nach der Schweiz. Die Stadtbibliothek Hamburg ver¬
sandte 1917 nach Orten außerhalb Hamburgs 1744 Bände; davon im amtlichen
Leihverkehr mit der Universitäts-Bibliothek Rostock, der Stadtbibliothek Lübeck,
der höheren Staatsschule in .Cuxhaven und der Hansafchule in Bergedorf
484 Bände. Anderseits erhielt die Stadtbibliothe! von 45 auswärtigen Anstal¬
ten 1446 Bände für Hamburger Benutzer.
War an sich bei der Verminderung des Personals die Aufrechterhaltung
des Betriebes schwer durchzuführen, so galt es sür die Lösung besonderer, durch
den Krieg erwachsender Aufgaben die Kräfte noch mehr anzuspannen. Dahin
gehörte vor allem die Pflicht, die auf den Krieg bezügliche Literatur zu sammeln
und künftigen Geschlechtern für das Studium dieses gewaltigsten aller Kriege
bereitzustellen. An diefem großen Kulturwerk arbeiteten fast alle unsere öffent¬
lichen Bibliotheken mit, in erster Linie die drei größten Institute, die König¬
liche Bibliothek in Berlin, die Hof- und Staatsbibliothek in München und die
Deutsche Bücherei in Leipzig, alle drei mit dem Ziel, in einer dem Charakter
und den Zwecken der Bibliothek entsprechenden größeren oder geringeren Voll¬
ständigkeit des Kriegsschrifttums habhaft zu werden. Ohne wie diese direkt
Vollständigkeit zu erstreben, sind als wirklich umfassende große Kriegssamm¬
lungen noch zu nennen: die Bibliothek des Generalstabes in Berlin, die in erster
Linie alle militärisch wichtigen Druckwerke berücksichtigte, die Stadtbibliothek in
Hamburg, für deren Sammlung die Hinzunahme eines eigenen Hauses in der
Nähe der Stadtbibliothek geplant ist, und das Kriegsarchiv in Jena. Zahl¬
reiche andere Sammlungen waren darauf bedacht, die lokal begrenzte Kriegslite¬
ratur möglichst vollständig aufzubewahren; unter ihnen ist besonders die Stra߬
burger Landes- und Universitäts-Bibliothek hervorzuheben, die, obwohl eine der
größten deutschen Bibliotheken, sich in Weiser Mäßigung als die der Westfront
unmittelbar benachbarte Staatsanstalt darauf beschränkte, die auf Elsaß-Loth¬
ringen selbst und die angrenzende Front'bezüglichen Druckschriften jedweder Art
und sonstige zur Aufbewahrung in einer wissenschastlichen Anstalt geeigneten
Kriegsdentmale zu sammeln.
Stärker noch als in dem Weiterführen des Betriebes prägt
sich die Energie des deutschen Geistes in den verschiedenen während
des Krieges errichteten Neubauten aus und in den organisatori¬
schen Maßnahmen, die von den Regierungen der Bundesstaaten
im Interesse des Bibliothekswesens getroffen wurden. Der Neubau
der Technischen Hochschul-Bibliothek in München wurde während des Welt¬
krieges begonnen und glücklich vollendet, so daß Anfang 1916 der Umzug in die
neuen Räume stattfinden konnte. Für die Hof- und Staatsbibliothek wurden
die Mittel zum Ankauf zweier anstoßender Grundstücke und deren allmählicher
Bebauung mit Büchermagazinen, die etwa 3^ Millionen Bände soffen können,
durch das K. bayerische Staatsministerium bereitgestellt. Am 1. Oktober 1915
konnte die StadtbibKothek Elbing ein eigenes Haus beziehen. Während sie bis
dahin vorwiegend wissenschaftlichen Zwecken dienend von geringerer Bedeutung
für das Allgemeinwohl gewesen war, trat sie nunmehr, zur modernen Einheits¬
bücherei umgestaltet, in die Reihe der Volksbibliotheken und steckte sich dadurch
gleich diesen das Ziel, der Pflege deutschen Wesens zu dienen, Werte inneren
Reichtums zu schaffen und Gesittung und echte Bildung zu fördern. In anderen
Städten (Leipzig, Hamburg) wurde mit der schon begonnenen Einrichtung neuer
Volksbüchereien fortgefahren, und in Köln konnte eine neue schöne Bücherhalle
(Charliersche Stiftung) dem Verkehr übergeben werden.
Dem Börsenverein der deutschen Buchhändler verdankt ihre Entstehung
die Deutsche Bücherei in Leipzig; ihre Eröffnung stellt Wohl das bedeutsamste
Ereignis dar, das während des Krieges auf dem Gebiet des Bibliothekwesens zu
verzeichnen ist. In einer Adresse, die der Vorsitzende des Vereins deutscher
Bibliothekare, Bohsen, bei der Einweihungsfeier am 2. September 1916 über¬
reichte, sind Wesen und Aufgabe der neuen, in einem modernen, künstlerisch und
technisch gleich hervorragenden Gebäude untergebrachten Anstalt mit den Worten
gekennzeichnet: „Die Teutsche Bücherei ist im Kreise der deutschen Bibliotheken
eine neue, eigenartige, von allen bestehenden wesentlich abweichende Schöpfung.
Sie soll in erster Linie eine lückenlose Sammlung aller in Deutschland oder in
deutscher Sprache seit Beginn des Jahres 1913 erscheinenden Druckschriften —
mit Ausschluß der Tageszeitungen — und mithin ein vollständiges Archiv deS
Buchhandels von dieser Zeit ab sein, ein Abbild des bedeutenden Wirkens des
deutschen Verlags und Buchdrucks." Gelingt der Deutschen Bücherei diese Auf¬
gabe, so werden sich die Worte bewahrheiten, womit am selben Tage der der¬
zeitige Direktor der Deutschen Bücherei, Wahl, seine Rede beschloß: „Wissen¬
schaft und Bildung, Buchhandel, Bibliographie und Presse werden die segen¬
spendende Kraft dieser neuen Pflanzstätte deutschen Geisteslebens erfahren, die
in einer Zeit eröffnet wird, da andere Kulturländer, wie England, des Krieges
wegen ihre Sammlungen .schließen; fürwahr ein Zeichen von deutscher Kraft
und deutschem Idealismus."
Unter den Neueinrichtungen, die während des Krieges zur Förderung deS
deutschen Bibliothekswesens von den Regierungen der Bundesstaaten getrosten
worden sind, verdient die „Errichtung einer Zentrale für Volksbücherei" beson¬
dere Hervorhebung. Von dieser durch Paul Ladewig, den rührigen Vorkämpfer
des deutschen volkstümlichen Bibliothekswesens, geleiteten Stelle aus werden
unsere Vottichiblioch'ten duich Veröfs nttichungin, V»nraae, Kur>e reiche Ämegung
erfahren. Andere Maßnahmen wie der vom 16. März 1916 datierte Erlaß des
preußischen Kultusministers über die „Neuordnung der Diplomprüfung für den
mittleren Bibliotheksdienst", ferner die in Leipzig begründete „Fachschule für
Bibliotheks- und Museumsbeamte" und die vom sächsischen Kultusministerium
erlassenen „Prüfungsordnungen für das Bibliothekswesen" können hier nur vor¬
übergehend erwähnt werden. Dagegen bedarf die von den Regierungen der
Bundesstaaten geplante, zum Teil schon mit allem Nachdruck verwirklichte Förde¬
rung der Auslandsstudien eingehender Würdigung, weil diese Ma߬
nahme auch für das Bibliothekswesen einschneidende, weit in die Zukunft
wirkende Folgen nach sich ziehen wird. In Preußen ist für 1917/18 ein Teil-
betvag von 3V 090 Mark zur Beschaffung von Literatur der Balkanstaaten und
des türkischen Orients in den Haushalt eingestellt, und bei der Königlichen
Bibliothek sind zugleich im Interesse der Universitäts-Bibliotheken 10 000 Mark
zur Heranziehung von sprach-, sach- und ortskundigen Personen für den Erwerb
ostlcindischer Literatur.ausgeworfen. In Bayern wurde die Hof- und Staats¬
bibliothek in München mit der Aufgabe betraut, das Rüstzeug für die Auslands¬
studien bereitzustellen, und zwar soll hier das Hauptaugenmerk auf den Südosten
gelenkt werden. Die Hof- und Staatsbibliothek verfügt ja seit langem für die
einschlägigen Gebiete — es kommen besonders Ungarisch, Rumänisch, Serbo¬
kroatisch, Bulgarisch, Neugriechisch, Türkisch und Arabisch in Frage — über eine
reiche Literatur und wird durch die Erhöhung ihres Etats von 120 000 auf
135 000 Mark in die Lage versetzt, ihre Ankäufe auf diesem Gebiet wesentlich zu
verstärken.
Auch die Stadtbibliothek Hamburg will sich der Pflege des Auslands¬
studiums in weitgehendem Maße annehmen. Sie hat eine besondere Sammel¬
stätte für die Literatur über das Deutschtum im Ausland eingerichtet, von dem
Gedanken ausgehend, daß Hamburg als größter deutscher Handelsplatz und
Hafen und als Sitz der ersten und größten Hochschule für Auslandsstudien hier¬
für ganz besonders in Betracht kommt.
Für das laufende Betriebsjahr 1918/19 ist an der Königlichen Bibliothek
in Berlin eine sechste Abteilungs-Direktorenstelle geschaffen worden, und zwar
für eine neu zu begründende Orient-Abteilung —, ein weiterer Beweis dafür,
wie tatkräftig die preußische Regierung sich die Förderung der Auslandsstudien
angelegen sein ließ. Hatten schon vor dem Kriege die politischen und wirtschaft-
lichen Verhältnisse die allgemeine Aufmerksamkeit in gesteigertem Maße auf den
Orient gelenkt, so wies die stärkere Betonung der Auslandsstudien naturgemäß
auf die Notwendigkeit eines vertieften Studiums der wirtschaftlichen und kultu¬
rellen Zustände des Orients hin. Die Neugründung der Orient-Abteilung der
Königlichen Bibliothek wird zu dieser Stärkung und Vertiefung wesentlich bei¬
tragen können dadurch, daß sie im Rahmen des Gesamtorganismus die besondere
Aufgabe erhält, die Welt des Orients jedem Bibliotheksbenutzer, dem Kaufmann
und Ingenieur so gut wie dem Gelehrten, nahe zu bringen und ihm, vor allem
durch Schaffung eigener Orientfachkataloge, das Hineinbringen in diesen Kultur¬
kreis zu erleichtern.'
Mit den Bestrebungen, noch während des Krieges die Auslandsstudien
auch durch die Bibliotheken zu fördern, haben wir schon die Aufgaben gestreift,
die den Bibliotheken im Gefolge des Weltkrieges erwachsen werden. Freilich
wäre es verfrüht, diese schon jetzt im einzelnen festlegen zu wollen, doch scheint
es gut, die Gedanken darauf zu lenken und sich auf die Maßstäbe, die voraus¬
sichtlich von den hergebrachten gewaltig abweichen werden, einzurichten. Mit
dem, was an Mitteln für den Ankauf von fremdländischen Büchern schon jetzt
bereitgestellt ist, und mit den anderen, an sich dankenswerten Maßnahmen ist
nur ein erster, wenn auch sehr- wichtiger Schritt getan auf einem der Wege, die
unser zukünftiges Bibliothekswesen einzuschlagen haben wird. Wer dem zu¬
stimmt, was die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förde¬
rung der Auslandsstudien sagt: „Der Krieg hat auch die, die es noch nicht wu߬
ten, darüber aufgeklärt, wie erschreckend unsere Unkenntnis des ausländischen
Denkens gewesen ist, wie bitter not uns ein staatswissenschaftliches Verstehen
der Gegenwart tut" — wer die Richtigkeit dieser Worte in tiefstem Herzen mit¬
empfindet, der wird auch von den Bibliotheken nach dem Kriege verlangen, daß
sie ihre ganze „Bibliothekspolitik" anders einstellen, daß auch sie, wie es in der
Denkschrift heißt, „innerlich zu den großen Problemen der Weltpolitik und der
Weltwirtschaft Stellung nehmen". Eine solche Stellungnahme zwingt aber so¬
gleich zu einer viel weitgehenderen Berücksichtigung der ausländischen Literatur,
und zwar nicht nur in bezug auf die Ankäufe, sondern auch durch Vermehrung
der Arbeitskräfte und Schaffung von Katalogen. Und zwar genügt es nicht, daß
einzelne große Bibliotheken sich der Pflege der - Auslandsliteratur annehmen,
sondern durch das Zusammenwirken aller muß die Erreichung des Zieles ge¬
währleistet werden.! Wenn — um ein Beispiel anzuführen -— die Hof- und
Staatsbibliothek in München ins Auge faßt, ihre Ankäufe auf dem Gebiet der
ausländischen Zeitungen noch wesentlich zu verstärken, so ist das in der Tat ein sehr
beachtenswerter Entschluß, der die Nachahmung aller anderen Bibliotheken ver¬
dient. Nur sollten die Bibliotheken hierbei einheitlich und planvoll vorgehen
und auf die Anschaffungen anderer Institute Rücksicht nehmen. Tragen sie in
dieser Weise dem Gedanken der Kooperation Rechnung, so ist zu erwarten, daß
ausländische Zeitschriften und Zeitungen in Deutschland in ausreichenderer
Weise vertreten sein werden, als es bisher der Fall ist.
über die Förderung der Auslandsstudien hinaus werden die Bibliotheken
sich — ganz allgemein gesprochen — mehr als vor dem Kriege vor Augen,halten
müssen, daß sie'in erster Linie der Gegenwart zu dienen haben. Denn auch die
Bibliotheken sind mit berufen, die schweren Wunden, die der Krieg unserm Volk
in materieller und geistiger Hinsicht geschlagen hat, zu heilen. Darum muß es
auch hier heißen: der Lebende hat recht. Das an sich notwendige Streben nach
möglichst vollständiger Aufbewahrung und Ergänzung der deutschen Bücher-
Produktion wird, wenigstens sür eine Reihe von Jahren, gegenüber den Anforde¬
rungen des Tages in die zweite Linie treten müssen. Werke und Zeitschriften,
die sür Volkswirtschaft und Volkswohlfahrt im weitesten Sinne — Wissenschaft,
Kunst und Technik miteinbegriffen — von Wichtigkeit sind, ausländische so gut
wie einheimische, dürfen auf unseren Bibliotheken nicht vergebens gesucht werden.
Und damit die Benutzer nicht durch den Bescheid „Verlieben" so oft enttäuscht
werden wie bisher, müssen wir den Grundsatz, keine Doppelexemplare anzu¬
schaffen, aufgeben, so sehr im übrigen die Rückkehr zu äußerster Sparsamkeit
harte Notwendigkeit werden wird.
Auch bei der Katalogisierung wird nach dem Kriege das Recht der Gegen¬
wart der leitende Gesichtspunkt -sein müssen. So erfreulich es ist, daß der
Gesamtkatalog der preußischen wissenschaftlichen Bibliotheken in handschriftlicher
Form seiner baldigen Vollendung entgegengeht, so kann doch die Drucklegung
des ganzen, auch die wenig benutzte Literatur früherer Jahrhunderte umfassen¬
den alphabetischen Katalogs nicht unsere nächste Aufgabe sein. Was uns not
tut, sind gedruckte Fachkataloge, die nach Wissensgebieten getrennt, mit alpha¬
betischen Registern versehen, die neueren, etwa seit 1900 erschienenen Bücher
verzeichnen, dem Benutzer einen Überblick über die ein bestimmtes Gebiet be¬
treffende Literatur gewahren und ihm zugleich die Signatur eines vorhandenen
Buches angeben. Ein solcher Katalogdruck läßt sich um so eher im Rahmen deS
Gesamtkatalog-Unternehmens durchführen, als wir seit 1898 in den Titeldrucken
ein gemeinsames Zugangsverzeichnis aller preußischen wissenschaftlichen Biblio¬
theken besitzen, außerdem die Realkataloge der Königlichen Bibliothek eine aus¬
gezeichnete und sichere Grundlage bieten, auf der sich die neuen gedruckten Fach¬
kataloge — unter ihnen auch die Orientkataloge —aufbauen lassen.
Eine besonders wichtige Rolle im Bibliothekswesen der Zukunft ist meines
Erachtens dem Auskunftsbureau — besser der Auskunftstelle — der deutschen
Bibliotheken vorbehalten. Seine Aufgaben werden eine wesentliche Erweite¬
rung erfahren müssen, um mehr als bisher das Bindeglied zwischen Bibliothek
und Benutzer abzugeben: neben dem Nachweis von Büchern sollte ihm die Förde¬
rung wissenschaftlicher Arbeit in weiterem Umfange zugewiesen werden. DaZ
Gesäme-Zeitschriften-Verzeichnis wird einer Neubearbeitung und Verbesserung
zu unterziehen sein, vor allem aber wird das Auskunftsbureau in gemeinsamer
Arbeit mit der Handschriften-Abteilung der Königlichen Bibliothek die so lange
schmerzlich entbehrte Vermittlung übernehmen müssen zwischen dem eine Hand¬
schrift suchenden Gelehrten und den Bibliotheken, die bisher doch nur einen
Bruchteil ihrer Handschriftenfckätze in gedruckten Katalogen haben verzeichnen
können.
Das für unsere großen wissenschaftlichen Bibliotheken aufgestellte Ziel, in
erster Linie der Volkswohlfahrt zu dienen, haben ja die deutschen BildungS-
büchereien immer erstrebt; sie werden es um so besser erreichen, je größer die
Anteilnahme breiter Schickten des Volkes wird und je mehr ihre materielle
Grundlage gestärkt wird: durch Spenden von Mitteln zur Ausgestaltung und
Neugründung von Büchereien und durch Aufklärung in der Presse wird daS
Volksbibliothekswesen allmählich zu einer ähnlichen Bedeutung erhoben werden,
wie sie die deutsche Volksschule seit langem besitzt.
Volkswohlfahrt und Weltwirtschaft sind die beiden Pole, um die sich jetzt
nach dem Kriege das deutsche Bibliothekswesen drehen wird und die es, sofern sie
nicht leere Schlagworte bleiben, sondern den Geist der Bibliotheken durch¬
dringen, umgestalten werden. Alle Änderungen und Neueinrichtungen aber
werden sich organisch anschließen an das Bestehende und Bewährte. In wie
hohem Maße sich unfere Bibliotheken bewährt haben, wie sie ihre großen Aus¬
gaben auch unter den erschwerenden Umständen des Krieges in glänzender Weise
gelöst haben, glaube ich in meinen Ausführungen gezeigt zu haben: auch tue
Bibliotheken haben zu ihrem Teil den Beweis geliefert, daß deutsches Geistes¬
leben und deutsche Bildung nicht zu unterdrücken, geschweige , denn zu ver¬
nichten sind.
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A.ß^z
^Un-mM>Ä5is vor etwa 1^ Jahren die Allzuklugen einen plombierten Eisen¬
bahnwagen durch Deutschlands Gaue rollen ließen, in dem Lenin
und Genossen gegen Osten fuhren, wurde dem rötesten Revolu¬
tionsgeist aller Zeiten der Weg zur Entwicklung gebahnt. Damals
schon dachten die fieberhaft arbeitenden Gehirne der Insassen
dieses Waggons daran, wie sie diesem Geiste, den wir riefen, auch
die Macht über uns verleihen könnten, auf daß der Spruch zur Wahrheit werde:
„Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortwährend Böses muß gebären!"
Der Zar war gestürzt. Die unmittelbaren Urheber des Umsturzes hatten
schon nicht mehr die Macht in Händen. Kerenski wird zum Diktator in Ge¬
meinschaft mit Arbeiter- und Soldaten-Räten, die ihm nur bedingt ergeben
waren. Der Friedenshunger im russischen Volk wuchs von Tag zu Tag. Die
große Offensive ward zum Fehlschlag. Der Zusammenbruch ließ sich nicht mehr
aufhalten.
In diesem Chaos blühte der Weizen der Bolschewisten. Lenin verschwun¬
den, dann reäivivus, packte mit flammenden Worten und noch stärkerem Geist
die Massen: der Bolschewismus siegte. Lolsolis heißt „mehr" im Gegensatz zu
mouse-Ils gleich „weniger". Maximalisten bezw. Minimalisten sind die un¬
genauen Uebersetzungen. Das theoretische Programm der Bolschewiken war
kurz: alles für alle! Es gibt keinen Besitz, kein Eigentum mehr. Jeder ist nur
Bürger des Staates. Alles geschieht durch und für den Staat.
Die Diktatur des Proletariats war nur die weitere Fortentwicklung dieser
Gedankengänge. Denkt man sich dieses Programm zu Ende durch, so liegen die
Utopien dieser Theorie, das Unnatürliche und Widersinnige, klar zutage. Für
Massen aber, die nach Freiheit lechzen, die Ideale, die Neues suchen, dem sie
folgen können, war diese Theorie des Jdealstaates das Gegebene. Glänzende
Psychologen, wie Lenin, Trotzki, Radek es sind, ergründeten sie die Seele des
russischen Volkes. Erst in kleineren Dosen, dann 'immer stärker pflanzten sie
den Bazillus des Bolschewismus in die empfänglichen Gemüter, auf daß er sich,
der Grippe vergleichbar, erst über das ganze russische Land, dann — von ihm ge¬
leitet — gegen Westen als Erreger der Weltrevolution verbreite. Herrenmen¬
schen sind sie, energisch greisen sie zur Tat und schrecken auch vor solchen Taten,
wie nur sie täglich t^en, uicht znvück.
Wenn je eine objektive Geschichtsschreibung des Bolschewismus heraus¬
gegeben wird, so muß sie anerkennen, daß der Ursprung der Bewegung, wenn
auch paradox, so doch ideal war, daß aber das Tragische, Verhängnisvolle und
tief Unmoralische der Weiterentwicklung darin lag, daß die Führer aus Sklaven
ihrer Ideen zu Sklaven ihrer Taten wurden. — „Wir werden verschwinden,
aber wir werden die Tore der Weltgeschichte krachend hinter uns zuschlagen!"
sagt Trotzki. — Das spricht Bände. Cäsarenwahnsinn in Reinkultur!---
"""
„Brot und abermals „Brot, vereinzelt „Frieden war der Ruf der
Massen, die Ende Februar r. Se. 1917 durch Petersburgs breite Straßen sich
wälzten. Ein Wechsel der Regierung, nur ein Wechsel des Regenten war die
Absicht der bürgerlichen Parteien, die den Umsturz wollten und auch erzwangen.
Der bulgarische General Protogerow, ehemals Präsident des mazedoni¬
schen Konntees, sagte mir damals: „Eine Revolution zu beginnen, ist leicht, sie
zu leiten — unmöglich." über Nacht war die Republik da. Die Duma-Regie¬
rung Lwow-Miljukoff-Golubew verschwand, Arbeiter- und Soldatenräte hatten
sich gebildet und Kerenski kam ans Ruder. Noch hatten die bürgerlichen Par¬
teien nicht ganz ausgespielt. Die linken Kadetten gingen mit dem rechten Sozial¬
revolutionär Kerenski. Ihr gemeinschaftlicher Haß gegen Deutschland verband
le. Das nutzlose weitere Blutvergießen ward zum Verhängnis. Lenin und
ein Schoten Radek, Trotzki und Genossen traten damals noch nicht so hervor,
)litten im Sommer 1917 nur geringen Anhang. Allmählich verstärkte er sich.
Kerenski verlor den Einfluß auf die Arbeiter- und Soldatenräte, mit denen zu-
sammen er die Wahl zur Konstituante ausgeschrieben hatte. Ende Oktober 1917
konnten die Bolschewisten den entscheidenden Schlag wagen. In Petersburg
relativ leicht, in Moskau nach harten Kämpfen'rissen sie die Zügel an sich. Am
7. November war der Jahrestag ihres Sieges. Immer noch vorsichtig, nicht
sicher ihrer Macht, nutzten sie diese. Die Wahlen zur Konstituante wurden nicht
verhindert, aber behindert, terrorisiert. Die bürgerlichen Parteien, d. h. nur die
linken Kadetten hatten trotz alledem noch einen starken Anhang. Die wahn¬
sinnige Zersplitterung der anderen verurteilte sie zur Machtlosigkeit; ihre Indo¬
lenz, ihre erstaunte und ängstliche Neugier zur Untätigkeit.
Endlich, nach dauernden Verschleppungen, Januar 1918 sollte der Zu-
sammentritt der Konstituante erfolgen. Da, ein neuer Trick! Die Wahllegiti¬
mation sollte durch den Kommandanten des Taurischen Palais, den späterhin
als Leiter der Petersburger Außerordentlichen Kommission berüchtigten Uritzki
geprüft werden. Nur die linken S.-R. unterwarfen sich dieser Prüfung. Die
Kadetten und rechten S.-R. streikten — die Konstituante hatte ausgespielt, sie
zerfiel! Ein unschlüssiges Bürgertum hatte sich selbst das Grab gegraben! Es
war reif für den roten Terror!'
Aber auch da noch gingen die Bolschewiken vorsichtig zögernd vor. Erst
der Feldwebelfrieden von Brest gab ihnen Selbstsicherheit. Das Land litt, litt
unsäglich. Selbst das herrschende Proletariat hatte das Lachen verlernt. Wie
auf den Erlöser blickte es aus die deutsche Gesandtschaft, als diese in Moskau ein¬
zog. Eitel Hoffen! — Es kam der berüchtigte Zusatzvertrag, dem Bolschewismus
warm Tür und Tor gegen Westen geöffnet.
Man muß doch in Moskau und Petersburg gewesen sein, um das Elend,
das die bolschewistische Herrschaft über das Land' gebracht hat, ganz ermessen zu
können. Moskau, die Stadt des verstörten, unruhig blickenden Bolksgewimmels,
Petersburg, die tote Stadt, die Stadt der lebendigen Leichname, haben eine Luft,
die einem das Atmen erschwert., Ich- will keine Einzelschilderungen
machen, nicht die Bilder der Armut, des Hungers, der Angst, die sich überall
zeigen, schildern. Die Phantasie kann sie sich kaum ausmalen.
Diktatur des Proletariats!? — Selbst das ist Lüge. Diktatur einzelner,
die Cäsarenwahnsinn zu immer dotieren Streichen treibt. Kampf dem Bürger¬
tum, dem Lebensnerv des Wirtschaftslebens, bis aufs äußerste. Systematisches
Morden unschuldiger Opfer, Hunger und Elend bei den ehemals Besitzenden wie
beim Armen. Zynismus schamloser Art. Dem vor Hunger sterbenden Volke
werden zwei Züge mit Lebensmitteln entzogen, um sie als Propagandamittel nach
Deutschland zu schicken. Deutschland, wo bleibt deine Kultur, deine Moral?!!
Ein Schrei der Entrüstung müßte durch deine Gaue gehen!
Freibeit des Wortes und des einzelnen sind Schlagworte, die dort längst
zum alten Eisen geworfen sind. Knechtschaft, Knechtschaft in jeder> Form ist
Trumpf! Wer keine Arbeit hat. muß Soldat werden. Der höbe Lohn reizt.
Die Papiergelddruckmaschincn arbeiten fieberhaft. Die Offiziere, die früher dort
nicht zu Unrecht geschmähten, müssen wieder eintreten, werden sogar lobend er¬
wähnt. Reinster Militarismus. Strengste Disziplin. Todesstrafen sind an der
Tagesordnung. Ein Millionenbeer wird aus dem Boden gestampft. „Wir
müssen herrschen, herrschen!" schreien die Machthaber/ Es wäre zum Lachen,
wenn es nicht zum Weinen wäre.
Industrie, Handel, Banken nationalisiert. „Wozu braucht man Banken?
Die drucken doch kein Geld!" „Handel ist überflüssig: das macht alles der
Staat!" Unsere Kriegswirtschaft ist ein Waisenknabe gegen dieses Tolmwabohu.
Selbst die bolschewistischen Zeitungen erkennen das 'vollkommene Fiasko an.
„Zentro-Tertil", „Zentro-Tkan" — alle Warengattungen baben ihre Zentral¬
stelle. Das schon im Frieden entset-liebe Schreibwerk des russischen Bureaukratis¬
mus wächst ins Ungemessene. Gefüllte Lager, Warenhunger, alles wirr durch¬
einander. Der arme Verbraucher muß alles erdulden.
Um dem deutschen Zusatzvertrag ein Schnippchen zu schlagen, wurde am
30. Juni d. I. fast die ganze Industrie nationalisiert. Die Folge? Alles liegt
danieder! Die Vereinigte Verwaltung Sormow-Kolomna erhielt einen Kredit
von sage und schreibe 74 Millionen Rubel, um nur die laufenden Unkosten zu
decken. Der Selbstkostenpreis eines Pudes Eisen (1 Pud gleich etwa 16 Kilo¬
gramm) stieg von ca. 1 Rubel auf etwa 50. Eine Lokomotive kam auf 866 000
Rubel zu stehen. Die Kohlenförderung hörte ganz aus. Selbst die Ausnutzung
der Wälder nahm erschreckend ab. Jeder arbeitet nur sür sich, denn alles gehört
ja allen. Das rollende Material verkam und verkommt mehr und mehr. Was
drei Jahre Krieg nicht vermochten, brachte ein Jahr Bolschewikenherrschaft zu¬
stande: Rußland liegt im Sterben!
Gleichgültig, welche tönende Phrasen von dort zu ihren Freunden hier im
Lande gefunkt werden, sie müssen sich der Entente auf Gnade und Ungnade er¬
geben.
Jedoch Rußland ist groß, hat noch ungehobelte Naturschätze und ist wirt¬
schaftlich vielfach noch Neuland. Rußland kann und wird sich erholen. Aber
Deutschland?---
Sehen wir den Verhältnissen klar in die Augen. Lassen wir alle Abers,
die hier jedem Gespräch seine geistige Frische nehmen. „Aber Deutschland hat
keine Analphabeten." — Gerade, weil Deutschland keine hat, gerade weil
unser Wirtschaftsorganismus so angespannt ist, ist die Gefahr für uns zehn¬
tausendmal größer.
Wir bekommen keinen Bolschewismus? — Täuschen wir uns nicht, wir
haben ihnl Man lese die „Rote Fahne", man lese das Blättchen „Der Kom¬
munist", man lese „Die Freiheit" zwischen den Zeilen! Spitzen wir die Ohren.
Was haben die Ä.- und S.-Räte in Sachsen, was die Marine-Räte in Hamburg
und Bremen verkündet?
Ich bin kein Pessimist, kein Schwarzseher, im Gegenteil, viel eher Opti¬
mist, der aus dem Willen zur Tat die Kraft zur Gegenwehr schöpft. Ich bin so
optimistisch, aus das heimkommende Heer zu hoffen, auf die unzählige Zahl derer,
die vorn in erster Linie übermenschliches geleistet und erlebt haben. Die lassen
sich, wenn erst der erste Rausch vorbei ist, keine Diktatur, weder von links noch
von rechts, gefallen.
Aber das Bürgertum bietet ein trostloses Bild. Vor zehn Tagen wagte
es kaum zu atmen und heute schießen Vereine wie Pilze aus der Erde. Partei¬
klüngel und Selbstsucht machen sich breit. Warum werden nicht die Gefahren des
Bolschewismus jedem in die Ohren posaunt? Wo ist die Propaganda des leben¬
digen Wortes vom Gatten zur Gattin, von der Mutter zur Tochter, zu den Haus¬
genossen und ins Volk. Wo ist die Propaganda der Feder, wo die des Bildes?
Diese schwächlichen Anfänge, die jetzt gemacht werden, genügen nicht. Was
soll das: „die Entente will keinen Bolschewismus"? Wir, das deutsche
Volk, will keinen! Man entschuldige meinen Freimut, aber die Gelder
der deutschen Spießbürger, die nur an sich dachten, sind mir höchst gleichgültig.
Ich bin gegen das extreme sozialistische Programm, gegen die Verstaatlichung,
nicht um Privatinteressen zu dienen, sondern weil ich Wirtschaftspolitiker bin,
weil ich die Gefahren kenne. Ich fürchte mich vor dem Bureaukratismus, der
unfehlbar die Folge ist, der zehnmal schlimmer wie der bisherige wird, der In¬
dustrie und Handel den lebendigen Odem nimmt, der uns der Möglichkeit be¬
raubt, jemals wieder wirtschaftlich frei zu werden.
Es lassen sich bei gutem Willen hundert andere Wege finden, um dem
Sozialismus, den ich an und für sich begrüße und nur gerecht finde, zu seinem
Rechte zu verhelfen. Aber der Staat als Unternehmer ohne Konkurrenz ist ein
Unding. Ich fürchte, daß die Regierenden erst nach bitteren, bei unserer ver¬
zweifelten Lage doppelt verhängnisvollen Experimenten zu dieser Erkenntnis
kommen. Der Versuch, dies zu verhindern, ist unsere Pflicht. Dieser kann aber
nur bei geschlossenem, selbstlosen Vorgehen aller bürgerlichen Kreise Erfolg
haben. Vielleicht wecken die Demütigungen, die wir von polnischer und tschechi¬
scher Seite erleiden müssen, den nationalen Gedanken, und dieser wird zum
Kampfe gegen internationalen Kommunismus ausrufen. Aber mehr denn je
M heute das Wort: „Hilj dir selber, so hilft dir Gott!"
> le verlautet, will Amerika, als Menschenfreund und Geschäftsmann,
! uns mit Lebensmitteln versorgen, sobald es Garantie für geordnete
innerpolitische Zustände durch eine verfassungsmäßige Regierung
hat, und wenn es zugleich der gerechten Verteilung sicher ist. Wie
in dem besetzten kleinen Belgien will also demnächst Amerika mit
^1 dem umlagerten großen Deutschland als Lieferant in eine Geschäfts¬
verbindung treten, die Milliardenumsätze machen wird.
Zu diesem Behufe wird Amerika — dies kann nicht anders seinl—^wie in
Belgien die oommission lor reuet in öolZium so in Deutschland Niederlassungen
einer zentralisierten Körperschaft mit tüchtigen amerikanischen Geschäftsleuten be¬
setzen, die das ganze Land mit einem Netz von Stellen überziehen und mit den
örtlichen Verteilungsorganen — in Belgien Lomitö national ä'alimenwtivn et 6e
secours —, Gemeinden usw. in dauernder und geregelter Verbindung stehen.
Für diese ihre Bürger wird Amerika, genau wie in Belgien, wo das System aus¬
gezeichnet arbeitete, nicht nur Schutz, sondern auch gewisse Vorrechte bean¬
spruchen, die nur der Repräsentant eines geordneten Staatswesens zusagen und
gewährleisten kann.
Schon seit langen Jahren mit Problemen der Volksernährung ^mich ab¬
gebend, habe ich während meines Aufenthaltes in Belgien als Mitglied der
deutschen Zivilverwaltung mich an Hand der Literatur und sonstigen Materials
eingehender mit der Ernährungsweise der belgischen Arbeiterbevölkerung beschäftigt,
um Vergleichsmaßstäbe zu gewinnen für die Beurteilung deutscher und belgischer
Verhältnisse. Die durch Heranziehung fremder und eigener Arbeiten und unter
Anwendung von mehr oder minder verwickelten Berechnungen gewonnenen End¬
ergebnisse haben gerade heute vor dem Einsetzen der amerikanischen Hilfsaktion
einigen Anspruch auf Beachtung, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Ansicht
ziemlich stark verbreitet war und ist, daß vor dem Kriege die Ernährung des
belgischen Arbeiters an die des. deutschen Arbeiters bei weitem nicht herangereicht
habe. Diese Annahme, die ein Irrtum ist, könnte zum unzutreffender Schluß
führen, daß, von der Zahl abgesehen, die belgische Bevölkerung leichter zu er¬
nähren sei als die deutsche.
Im großen und ganzen unterscheidet sich die Friedensernährung der bel¬
gischen Arbeiterfamilie nicht wesentlich von der Friedensernährung der deutschen
Arbeiterfamilie. Gegenüber dem deutschen Verbrauch wurde in Belgien weniger
Fleisch und annähernd ebensoviel Fett verbraucht. Der Kartoffelverbrauch war in
Belgien höher, der Brotverbrauch beträchtlich höher, der Milchverbrauch bedennnid
geringer als in Deutschland. Der jährliche Verbrauch einer vierköpfigen Arbcun>
familie an den Hauptnahrungsmitteln betrug
Diese Angaben sind nicht aus den großen Zahlen von Verbrauchs- und
Produktions-Statistiker berechnet, sie stellen vielmehr die Durchschnitte aus einer
erheblichen Anzahl von Emzelerhebungen in Arbeiterfamilien dar und leiden daher
an allen den objektiven und subjektiven Mängeln, die unserer Wissenschaft zwar
bekannt sind, von ihr aber bisher nicht ausgeschaltet werden konnten und wohl
niemals ganz verschwinden werden.
Erhebungen über Fragen des Arbeiterhaushalts, insbesondere der Ernährung,
sind nur fruchtbar, wo sie bei der Familie auf einen gewissen wirtschaftlichen, sitt¬
lichen, intellektuellen Höhestand treffen: in anders gearteten Kreisen ist nichts zu
holen, denn nur wo Ordnung und Selbstverantwortung herrscht, ist auch guter
Wille da. So findet der Soziologe sein Sammelfeld in der Ober- und Mittel¬
schicht der arbeitenden Bevölkerung; die Unterschicht ist unzugänglich. Je breiter
diejenigen Arbeitn schichten eines Landes sind, in denen die Voraussetzungen für
ein geordnetes Familienleben zutreffen, desto allgemeinere Geltung ist den Erhebungs¬
ergebnissen beizumessen.
Da nun die Oberschicht der belgischen Arbeiterschaft erheblich dünner und
ihre Unterschicht merklich stärker ist als in Deutschland, so könnte man vielleicht
obigen Zahlen praktischen Vergleichswert absprechen. Zwei Umstände, die in Vor-
kriegszeiten für Belgien gegenüber Deutschland charakteristisch waren, verbessern
den etwa entstandenen Fehler: die größere Billigkeit der Nahrungsmittel und zu¬
gleich der prozentual höhere Anteil der Ernährungsausgaben an der Gesamtheit
des Haushaltsbudgets. Es liegt somit kein zwingender Grund vor, aus der Eigen¬
art unserer Arbeiterschaft, die in Hinsicht auf ausreichende Ernährung der ganzen
Bevölkerung als Prototyp zu gelten hat, die Vermutung abzuleiten, daß belgische
Maßstäbe nicht angewendet werden könnten.
Einen Maßstab für die Ernährung einer großen Bevölkerung geben die
Leistungen des belgischen Hilfskomitees an die Arbeitslosen und deren Angehörige.
Der Kreis dieser Personen umfaßte in der Mitte des Jahres 1916 670000 Männer,
310 000 Frauen und 605 000 Kinder unter 16 Jahren, insgesamt 1583 000 Ver¬
pflegte. Diese Personen erhielten die „Gemeindesuppe" und eine Brotration.
Außerdem konnten in Betracht kommen „die zweite Mahlzeit", sowie die Nahrungs¬
mittel, die man sich mittels der Hilfsfonds, die einzelne Gemeinden anstellten,
und durch Inanspruchnahme der Arbeitslosenfürsorge verschaffen konnte. Die Armen
erhielten lediglich die Suppe und das Brot.
Der bekannte Sozialforscher Dr, Stoffe, Direktor des Instituts Solvay, be¬
rechnete für die zweite Hälfte April 1916 die ausnutzbaren Nährwerte der Suppe
und der Brotration.'die in den Gemeinden Groß-Brüssels ausgeteilt wurden, auf
26.3 Gramm Eiweiß, 3,4 Gramm Fett, 206 Gramm Kohlehydrate und 1003
Kalorien.
Die übrigen Nahrungsquellen waren unbeständig und veränderlich. Nur ein
Teil der Gemeinden gewährte die zweite Mahlzeit, sei es in Form von An¬
weisungen auf die Gemeindeläger. sei es in Form von Naturalien. Der Nähr-
wert der dargeboienen zweiten Mahlzeiten minderte sich allmählich herab, ebenso
die Lebensmittelrationen, die man gegen Bezahlung in den Lagern erhallen
konnte.
Unter der Annahme, daß der Arbeitslose die Hälfte der ihm gewährten Geld¬
unterstützung für den Ankauf von Nahrungsmitteln ausgab, und unter Berück¬
sichtigung der Vorräte und der Verkaufspreise in den Lagern der Gemeinden und
Hilfskomitees, sowie der Höchstmengsn, die der Verbraucher zu beziehen berechtigt
war, gestalteten sich im theoretisch günstigsten, praktisch kaum erreichten Falle die
Ernährungsverhältnisse eines Arbeitslosen wie folgt:
Das Brot (400 z;) war mit der wichtigste Bestandteil der Nahrung: es,enthielt-
und deckte somit beinahe die Hälfte des Eiweiß, zwei Drittel der Kohlehydrate und
die Hälfte der Kalorien.
Die Suppenrativn betrug ein halbes Liter. Als Beispiel einer Wochen¬
ausgabe von 900 Rationen (6300 Portionen oder 3150 Liter) das folgende: ver¬
wendet wurden 84 KZ Reis, 147 KZ Kartoffeln, 57 KZ Erbsen, 80 KZ Bohnen,
14 KZ Teigwaren, 65 KZ Gemüse, 33 KZ Ochsenfleisch, 36,5 KZ Speck.
Als Beispiel einer vierwöchigen zweiten Mahlzeit (Abendessen) für eine
Person (28 Portionen): 150 Z Speck, 350 Z Schmalz, 800 Z Bohnen, 500 Z Reis,
80 Z Wurst, 50 Z Kaffee. 200 Z Zichorie, 2 KZ Kartoffeln.
Beispiel einer Wochencmsgabe von Schulmahlzeiten an 201 Kinder (1407
Portionen): Ochsenfleisch 11.3 KZ, Wurst 6.28 KZ. Speck 5,02, Kartoffeln 190 KZ.
Bohnen 19 KZ. Gemüse 20 KZ. Reis 26.5 KZ. Zucker 4.25 KZ. kondensierte Milch
50 KZ. Diese Mahlzeit zusamt 400 Z Brot, einem viertel Liter Gemeindesuppe
und einem Abendessen wie oben bot dem Schulkind an Nährwerten täglich 50.50 Z
Eiweiß. 29 Z Fett, 319 Z Kohlehydrate, 1672 Kalorim.
Besonders vorgesorgt war für schwächliche Kinder. Beispiel einer Wochen-
ausgäbe für 104 schwächliche Kinder (728 Portionen):
Ochsenfleisch 21,0 KZ. Kartoffeln 110 KZ. Bohnen 12.5 KZ. Reis 7.8 KZ,
Gemüse 10 KZ, Getreidemehl 5,2 KZ, Maismehl 5,2 KZ, Zucker 4.5 KZ, kondensierte
Milch 50 KZ, eingemachtes Obst 5,0 KZ, 208 Eier. Zusammen Suppe, Brot und
Abendessen erhielt jedes Kind an Nährwerten täglich 60 Z Eiweiß, 28 Z Fett,
336 Z Kohlehydrate, 1763 Kalorien.
Der tägliche Ruhebedarf an Nährstoffen beträgt durchschnittlich in Gramm:
Demnach brachte die oben dargestellte rationierte Nahrungsmittelzusuhr ohne
Berücksichtigung des Einkaufs den Erwachsenen an Nährstoffen und Kalorien durch¬
weg nur etwa die Hülste des Bedarfs. Bei gesunden Kindern betrug die Zufuhr
an Eiweiß und Fit! je 70 Prozent, an Kohlehydraten 140 Prozent, an Kalorien
112 Prozent; bei schwächlichen Kindern an Eiweiß 85 Prozent, an Fett 66 Prozent,
an Kohlehydraten 147 Prozent, an Kalorien 120 Prozent des Bedarfs. Aus
diesen Zahlen ist die Bevorzugung der Kinder, insbesondere der schwächlichen er¬
sichtlich! durch stärkere Zufuhr an Kohlehydraten, von denen die Kinder gegenüber
' der Raiion für Erwachsene verhältnismäßig bemohe das Dreifache erhielten, wurde
der Entgang an Fett etwas ausgeglichen. Die Ernährung der Erwachsenen war
durchaus unzulänglich, die der Kinder genügend. Unzulänglich und genügend nach den
strengen Forderungen der bisher geltenden physiologischen Lehrsätze, die allerdings
in der Not der Zeit durch bereite Federn manchen nicht leicht wieder zu ver¬
windenden Stoß erhalten haben.
Durch Einkauf konnte die Ernährung der Erwachsenen so verbessert werden,
daß etwa 70 Prozent der Nährstoffe und der Kalorien gedeckt waren. Aus Jxelles,
einer Gemeinde Gros>Brüsstls, wurde unter anderen das Beispiel einer fünf-
köpsigen Familie (Vater, Mutter und 3 Kinder unter 16 Jahren) angegeben.
Der Gesamtwochenverdienst betrug 24 Francs. 5 Francs nahm die Wochenmiete
in Anspruch; die Brot-Ration kostete 5,60 Francs; es blieben 13.40 Francs. In
den Magazinen des Hilfsausschusses konnten für Francs 8.35 rationierte Nahrungs¬
mittel gekauft werden. Endergebnis: es fehlten an Eiweis mehr als die Hälfte,
an Fett zwei Drittel, an Kalorien ein Viertel, die Kohlehydrate wurden annähernd
erreicht. Zwar standen noch 5,05 Francs zur Verfügung, aber es hätte etwa der
zehnfache Betrag angewendet werden müssen, um das fehlende Fett und Eiweiß
in Form von Fleisch. Eiern und Käse einzudecken. Hierzu fehlte es nicht allein
an Geld, sondern auch an den nötigen fett- und eiweißhaltigen Nahrungsmitteln.
Die theoretisch zum Verkauf freigegebenen Mengen wurden häufig in der
Praxis auch nicht annähernd erreicht, es entstanden in Nachbargemeinden oft recht
beträchtliche Unterschiede in den Darbietungen. So betrugen die für 2 Monate
(April und Mai 1916) für den Verkauf theoretisch freigegebenen Mengen an Speck
und Fett je 1 KZ, an Bohnen, Erbsen und Reis je 2 KZ. Statt dessen kamen
in den vier hier genannten Gemeinden Groß-Brüssels Erbsen überhaupt nicht zur
Verteilung, dagegen statt der angegebenen Mengen
Der Nahrungsmittel-Verwalter der Vereinigten Staaten Herbert C. Hoover,
der jetzt nach Europa abgereist ist, um hier weitere Maßnahmen für die Versorgung
mit Nahrungsmitteln zu treffen, hat sich um die Ernährung und die Gesundheit
der Bevölkerung des besetzten Belgiens eingehend bekümmert. Unter anderen hat
ein von ihm beauftragter Arzt William Palmer Lucas im Jahre 1916 mehrere
Monate lang in Belgien zugebracht, um Studien anzustellen über die Gesundheit
der Bevölkerung, besonders in Hinsicht auf das Gedeihen der Kinder und die
Entstehung von Ernährungsproblcmen.
'
Die Aufzeichnungen dieses und anderer Arzte, Volkswirtschaftler usw., die
Tätigkeitsberichte vieler Verwaltungsstellen, die für die Ernährung der belgischen
Bevölkerung wirkten, und die Ergebnisse der von Dr. Stoffe und anderen Wissen¬
schaftlern angestellten Untersuchungen lieferten dem Machthaber der Vereinigten
Staaten Nordamerikas reiche und untrügliche Materialien über die Wirkungen
eines lange dauernden Krieges auf eine Bevölkerung mit beschränkter Nahrungs-
mittelzufuhr. Wir werden uns daher nicht darüber wundern dürfen, daß Wilson
die Grenzen der Leistungsfähigkeit des blockierten Mitteleuropa sehr gut einzuschätzen
wußte, vielleicht besser als wir selbst.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
n meinem „Parlamentarischen Wahlrecht" habe ich dargelegt, wel¬
chen großen Dienst das Preußische Abgeordnetenhaus der Politik
Bismarcks, besonders seit 1879, geleistet hat. Es hat eine wahr¬
haft deutsche Reichspolitik gestützt und zugleich das Eigenleben der
deutschen Einzelstaaten gesichert. Es ist zwar oft behauptet worden,
das „preußische Junkerregiment" beeinträchtige und bedrohe
Smzelstäaten, besonders die süddeutschen. Tatsächlich sind sie jedoch
durch den preußischen Landtag gar nicht gestört worden. Ich wies darauf hin,
daß eine Gefahr ihnen vielmehr von einem radikal demokratisierten preußischen
Landtag drohe: die Gefahr der Beherrschung durch einen norddeutschen, ber¬
linischen großstädtischen Radikalismus. Als ich im Jahre 1917 in meinen
„Kriegs- und Friedensfragen" die Wahlrechtsfragen besprach, konnte ich die,
weitgehende Zustimmung feststellen, die meine Darstellung in den Kreisen der
Historiker und Juristen gefunden hatte. Ein namhafter Historiker stimmte mir
vollkommen darin bei, daß das preußische nichtdemokvatische Abgeordnetenhaus
der Politik Bismarcks in der erwähnten Zeit die wertvollsten Dienste gelei'
habe, daß ohne es eine wahrhaft deutsche Politik damals nicht möglich gewe
wäre. Aber er meinte, gegenwärtig könne man ohne Bedenken die Radikali
rung des preußischen Wahlrechts vornehmen.tet
en
le-
Wie verhalten sich die Dinge heute? Mit einer Schnelligkeit, wie ich sie
nicht im entferntesten geahnt, ist meine Prophezeiung eingetroffen. Die Radika¬
lisierung Norddeutschlands hat sofort die stärkste Wirkung auf die süddeutschen
Einzelstaaten ausgeübt. Von Norddeutschland, von preußischen industriellen
Hauptpunkten ging die neue radikale Bewegung aus. Schon ehe die bürgerlichen
Gruppen ganz an die Wand gedrückt wurden, merkte man den Einfluß des demo¬
kratisierten Norddeutschland auf Süddeutschland: die Parlamentarisierung, die
in Berlin vorgenommen Wurde, weckte schnell in Süddeutschland den Reiz zur
Nachahmung. Aber ehe noch diesem Anreiz hier in der Praxis stattgegeben worden
war, war man in Berlin vom Parlamentarismus zur einfachen sozialistischen
Herrschaft übergegangen, und sofort sprangen diese Gelüste nach Süddeutschland
über. Hier jedoch erkannte man jetzt auch sogleich die Gefahr, die der nord¬
deutsche Radikalismus den siiddeutschen Staaten bringt. Ich führe einige bezeich-
nende Äußerungen aus Süddeutschland, die in der jüngsten Zeit gefallen
find, an. In einer Versammlung des Freiburger Soldatenvats am 13. November
»918 betonten mehrere Soldaten, sie wollten den preußischen Radikalismus nicht
nach Baden verpflanzt wissen. Am Tage vorher hatte der Abgeordnete von
Schulze--Gävernitz in Mannheim in einer Versammlung der fortschrittlichen
Polkspartei erklärt: „Wenn in Berlin wirklich die bolschewistische Strömung
siege, dann müsse man sich besinnen, daß die Reichshauptstadt noch lange nicht
das Reich sei. Süddeutschland würde sich nicht von einem Berlin der Spartakus¬
gruppe, falls diese dort wirklich die Herrschaft an sich reißen könnte, zerrütten
lassen. Man müsse in diesem Fall die Reichshauptstadt etwa nach München ver¬
legen." Am 19. November äußerte in einer Freiburger Volksversammlung der
Sprecher des Soldatenrats Dr. Kraus: „Nichtbadische Elemente suche man im
Freiburger Soldatenrat nach Möglichkeit auszuschalten; auf jeden Fall mache
man die Berlinerei nicht mit." Ungefähr gleichzeitig schrieb die „Karlsrither
Zeitung", das offiziöse Blatt auch der neuen badischen Regierung, nachdem sie
darauf hingewiesen, daß sich in der letzten Zeit Partlkularistische Strömungen mit
außerordentlicher Kraft in den Vordergrund drängten: „Die erdrückende Mehr¬
heit der badische» Bevölkerung empfindet föderalistisch, bundesstaatlich; bei aller
Hingabe an das große, gemeinsame Vaterland lehnt sie den Einheitsftaatsge-
danken ab." Am 20. November erklärte der neue badische Minister des Aeußern,
Dietrich, in einer nationalliberalen Versammlung in Karlsruhe: „Wir wider¬
streben allen Absichten, die darauf ausgehen, aus Teutschland einen Einheits¬
staat zu machen. Die glückliche Entwicklung des Reiches beruht auf den kraftvolle»
Bundesstaaten, und darum .wollen wir Äadener uns wehren gegen fremde Ele¬
mente, die unsere Wesensart nicht kennen und die sich in unsere Angelegenheiten
einmischen und sich anmaßen uns zu kommandieren. Wir wollen die Ordnung
unserer Angelegenheiten selbst besorgen." (Stürmischer Beifall.)
Es sei sogleich darauf hingewiesen, daß man in Süddeutschland den nord¬
deutschen, berlinischen Radikalismus nicht bloß mit Worten, sondern auch mit
der Tat ablehnt: in Bayern, Württemberg und Baden sitzen neben Sozial¬
demokraten auch bürgerliche Vertreter, im Gegensatz zu Berlin.
Wer hätte gedacht, daß dieselben Kreise, die noch eben erst Preußen als
reaktionär, als die süddeutsche Demokratie bedrohend angeklagt hatten, so schnell
zu der Meinung gelangen würden, daß Preußen um seines demokratischen Radi¬
kalismus willen abgelehnt werden müsse! Der Abgeordnete von Schulze-Gäver¬
nitz war einer der eifrigsten Ankläger des „preußischen Junkerregiments". Er hatte
noch vor ganz kurzem seine lebhafte Freude darüber ausgesprochen, daß Preußen
unter die Leitung von Süddeutschen — Erzberger, Payer, Grober, Haußmann —
gelangt sei. Aber diese Herrschaft der Süddeutschen in Berlin war nur eine
Eintagshcrrschaft; sie hat nur gerade dazu gedient, den Übergang zur Herrschaft
der Sozialdemokratie, unter Ausschluß aller bürgerliche» Gruppen, zu erleichtern.
Im Laufe weniger Tage hat sich Abgeordneter von Schulze-Gävernitz genötigt
gesehen, seine Freunde in eine Klage über die Bedrohung Süddeutschlands durch
das radikale «Berlinerin»! umzusetzen. Und er geht nun soweit, daß er gegebenen¬
falls die deutsche Hauptstadt von Berlin nach München wegverlegen will. Die
angebliche Bedrohung Süddeutschlands durch das „preußische Iunkerregiment"
ist nie einem Süddeutschen so gefahrvoll erschienen, daß er deshalb die Verlegung
der Reichshauptstadt nach Süddeutschland vorgeschlagen hätte. Wenn der Abge¬
ordnete von Schulze-Gävernitz eine solche Verlegung nur für den Fall des Sieges
der Spartakusgruppe in Aussicht nimmt, so sieht man doch aus den angeführten
Äußerungen, daß ein allgemeiner Gegensatz gegen die norddeutsche Sozialdemo--
kratie in Süddeutschland'vorhanden ist.
Der badische Minister des Äußern Dietrich, vorher Oberbürgermeister in
Konstanz, ist ein Maler von ausgeprägt nationaler Gesinnung. Ihm liegt ganz
gewiß eigentlicher Partikularismus fern. Aber die Entwicklung in Norddeutsch¬
land erscheint ihn: so bedrohlich, daß er empfiehlt, Baden solle seine Verhältnisse
selbst ordnen, mit Ausschluß „fremder Elemente."
Es fehlt freilich auch in Süddeutschland nicht an Äußerungen des Radika¬
lismus. In eine»! Jndnstrieort wie Mannheim zum Beispiel beobachten wir
Parallelerscheinungen zu Berliner Vorgängen. Auch fehlt es nicht an der Be-
tätigung „fremder Elemente" in Süddeutschland. Kein geringerer als der jetzige
Münchener Präsident Eismer hat den Weg von Polen über Berlin („Vorwärts!")
nach Süddeutschland genommen. Aber gerade fein Beispiel zeigt, daß hier auch
die „fremden Elemente" genötigt find, sich einigermaßen anzupassen: er muß sich
in die Herrschaft mit „bürgerlichen" Vertretern teilen. Und auch gegen ihn
hat sich in München Opposition erhoben: man wolle keinen „bayerischen Trotzki".
Tös Entscheidende ist, daß in Süddeutschland die gewaltigen Heere der indu
strickten Arbeiter fehlen. Die süddeutschen Verhältnisse haben einen bescheidene,
ren, mehr mittelständischchürgerlichen Zuschnitt.
Als zuerst das Wort, von der großen deutschen Republik laut wurde,
klang es, als ob uus die Aussicht ans ein unitarisches.Deutsches Reich winke. Und
wer wollte bestreikn, daß eine Verstärkung unserer deutschen Zentralgewalt
wünschenswert ist! Während des Krieges hat sich der deutsche Partikularismus
in mehrfacher Hinsicht als schädlich erwiesen; es wird darüber später noch man
ches an den Tag kommen. Jene Aussicht weckte nun die Erinnerung an so manche
Bestrebungen und Forderungen vergangener deutscher Kämpfe. Die Erinnerung
an Treitschkes Ideal des militärischen Deutschland wachte auf.
Heikle dagegen stehen wir wieder vor Hindernissen eines Aufbaus der deut-
schen. Verfassung in der Richtung'einer deutschen Zentralgewalt. Es hat sich
gezeigt, daß der'Partikularisnius keineswegs nur in den Monarchien der Enizel-
stnaten seinen Ausdruck findet. Wer näher zuzusehen gewohnt war, wußte aller¬
dings längst, daß die Demokratie in Teutschland, zumal in Süddeutschland, eine
ihrer stärksten Wurzeln im Partikularismus hat. Vielfach ist gerade von Par-
tikillaristischen Gesichtspunkten aus und im Namen des Partikularismus die
Demokratie gefordert worden. Die Geschichte Süddeutschlands bietet ja dafür
ältere und neuere Belege in reichem Maße. Auch darauf sei nebenbei hinge¬
wiesen, daß unter der Gunst der gegenwärtigen demokratischen Bewegung die
Welsen ein „freies Hannover im freien Deutschland" fordern. So sehen wir
denn, daß die extrem demokratische Bewegung die Partikularistischen Regungen
neu belebt und daß andererseits an bestimmten Stellen aus Abneigung gegen
.extrem demokratische Erscheinungen der Partikularismus sich verstärkt, wie ins¬
besondere eben in Süddeutschland.
Wohin wird uns der Weg der politischen Ereignisse führen? Wir geben
die Hoffnung auf den guten Stern unseres Volks nicht ans. Aber ein richtiger
Weg kann nur gefunden werden, wenn man die vorhandenen Gefahren er¬
kennt. Alls sie hinzuweisen ist unser Zweck. Es liegt uns völlig fern, die Wieder¬
herstellung des alten preußischen Landtags zu verlangen. Indessen die Ereignisse
fordern gebieterisch die Erkenntnis, daß die Demokratie nicht das Allheilmittel
ist, für das man sie ausgibt; sie kann den verschiedensten Zwecken dienen. Kor
macht sich anheischig, mit der Demokratie und zwar mit der extremsten alle
Schwierigkeiten des Lebens aus dem Wege zu räumen, und es zeigt sich, daß unter
dem Zepter der Demokratie alle alten Schwierigkeiten wiederkehren. Der Parti¬
kularismus liefert ein bedeutungsvolles, aber keineswegs das einzige Beispiel
dafür. Nur von einer kräftigen Erneuerung des nationalen Gedankens kann eine
Besserung erwartet werde«.
VlMM^HN uns Großmächte gab es bei Ausbruch des Krieges auf dem euro-
,;u denen sich England al« sechste im vilen Ein opa
M^^xW gesellte. Dr>i von ihnen, Ziustland, Deutschland und Österreich-
DNF^» ^Wj Ungarn, sind infolge ihrer Niederlage im Kriege bis auf weites
DWMD WM lahmgelegt und nicht mehr auf absehbare Zeit als Großmächte ,-.u
WW^MW« betrachten. Rußland ab Österreich-Ungarn sind in mehrere Teile
ausemandergeborsten, und es ist mindestens zweifelhaft, ob Nußland sich in anderer
Form wieder zu einem einheitlichen Staat zusammenfinden wird, während bei
Osterreich-Ungarn diese Möglichkeit völlig ausgeschlossen sein dürfte. Bei Deutsch¬
land zeigen einige Raubstaaten eine zentrifugale Tendenz, die große Masse des
Landes, vermehrt durch Deutsch-Österreich, hat den redlichen Willen, auch nach
der Katastrophe zusammenzuhalten und sich zu neuem Aufbau zu rüsten, falls
nicht neue Ungeschicklichkeiten proletarischer Zaren in Berlin die Reichsverärgerung
verhängnisvoll fördern. Es besteht jedenfalls die große Gefahr, daß auch hier ein
Zerfallprozeß einsetzt, wenn die roten Diktatoren in Berlin, die zurzeit die Macht
ohne Volksanstrcig an sich gerissen haben, nicht bald von ihren autokratischen Ge¬
lüsten lassen >
Aber nicht nur die drei besiegten Großmächte in Europa sind einstweilen
in den Liste der Großmächte gestrichen; auch die beiden Sieger Frankreich und
Italien können nur mit starkem Vorbehalt noch als Großmacht bewertet werden
und müssen überdies in nicht gar sehr ferner Zeit von dem ansteckenden Zer-
setzungsprozeß, der die Besiegten erfaßt hat, ebenfalls angesteckt werden. Frank-
reich mag seine furchtbaren Menschenverluste durch die zu crwancnden Eroberungin
wieder ausgleichen; ober es ist in derartige finanzielle Abhängigkeit von England
und den Vereinigten Staaten geraten und durch die Festsetzung der Engländer
in Calais und das ungenierte Fußsassen der Amerikaner im französischen Wirt¬
schaftsleben auch politisch dermaßen unselbständig geworden, daß es auf weit ab¬
sehbare Zeit, vielleicht für alle Zukunft, ebenfalls nicht mehr als vollwertige Gro߬
macht betrachtet werden kann, und dasselbe gilt in noch höheren Maße von
Italien, dessen Macht heut gänzlich ,/an Englands Gnaden" geworden ist und
das sofort zur Ohnmacht verurteilt ist, wenn England eines Tages seine Hand
von ihm zieht.
So gibt es heute in der Tat uur noch drei echte Großmöchte: England,
Vereinigte Staaten und Japan. Aber auch über ihnen schwebt das Verhängnis,
das die besiegten Großmächte bereits mehr oder weniger ereilt hat und das bei
vollständiger Auswirkung einen Zerfall aller bisherigen Weltreiche, eine Atomi¬
sierung der Großwächte, binnen wenigen Jahren nach sich ziehen muß. Die
soziale Revolution, die zuerst im zusammengebrochenen Nußland das Licht der
Welt erblickte, stampft "von Ost nach West ub^r Europa dohn und rüstet sich,
wenn nicht alles täuscht, zu einem Welteroberungszuge, der gewaltiger ist als die
Taten der großen Eroberer Alexander, Dschingis Khan, Tamerlcm und Napoleon.
Daß diese Anschauung gerade auch von den nüchternsten und objektivster Be¬
urteilern des Zeitgenössischen Geschehens, von klugen neutralen Politikern geteilt
wird, mögen folgende Ausführungen beweisen, die ein holländisches Blatt un¬
mittelbar nach der deutschen Revolution veröffentlichte Der „Nieuwe Notterdamsche
Courant" schrieb am 11. November 1918:
„Die Folgen der Blockade drohen sich gegen den Verband zu kehren. Diese
Blockade hat nicht zum wenigsten dazu beigetragen, die Bedingungen für die Re¬
volution'zu schaffen. Jetzt verbrüdern sich schon die Soldaten. Die westlichen
imperialistischen Mächte laufen große Gefahr, daß ihnen die Früchte des Sieges
durch ihre eigenen Völker abgenommen werden: durch die Weltvölkerverbrüderung,
die dem Imperialismus ein Ende bereitet. Sie kann ebensogut Deutschland vor
einem Teil der Niederlage behüten, wie Frankreich oder Italien die Siegesfrüchte
wieder abnehmen. Es bestehen Anzeichen, daß der Verband diesen Gefahren gegen¬
über nicht blind ist und daß er sich daher bei der Ausführung der Bestimmungen
mäßigen wird."
Diese neutrale Betrachtung ist sehr interessant. Sie bestätigt gewisse Hoff¬
nungen, die man in den ersten Revolutionstagen in einigen deutschen Presse¬
organen fand, die man dann aber als Ausflüsse eines übertriebenen Optimismus
anzusehen geneigt war. Eine Verbrüderung der vorher feindlichen Soldaten, die
durch das holländische Blatt bestätigt wird, hat sicherlich stattgefunden; haben doch
nach der deutschen Revolution Flieger auch in französischen Schützengräben schon
rote Fahnen gesehen! Eine umfassende praktische Wirkung des Überspringens der
revolutionären Gesinnung aus die Feindesfront darf mal freilich nicht schnell er¬
warten. Bei einem siegreich vordringenden Heere sind Meutereien naturgemäß
eine Unmöglichkeit. Aber ausbleiben dürften die Folgeerscheinungen des tiefen
Eindrucks, den der deutsche Umsturz bei den französischen „Genossen" gemacht hat,
dennoch nicht auf die Dauer.
Denken wir daran, daß im Mürz und April 1917, nach der russischen Re¬
volution, auch ein der nordöstlichen Front Verbrüderungen in großem Umfange
.vorkamen, was die noch intakten deutschen Heere dennoch „nicht hinderte, später
die Schlachten bei Riga und Jakobstadt zu gewinnen, die Ösel-Expedition durch¬
zuführen und im Februar und März 1918 den Vormarsch ins Baltikum und nach
Weißrußland zu unternehmen, der zur Besetzung von Dorpat, Reval, Narwa,
Pleskau. Düuaburg Minsk usw. führte. Über IV2 Jahre währte die Inkubations¬
zeit, ehe die im Frühjahr 1917 erfolgte psychische Ansteckung zum Krankheits¬
ausbruch im deutscheu Heere führte. Im Westen mag sehr wohl eine ebenso lange
Zeit vergehen, ehe die hier im November 1918 erfolgte Infektion äußerlich er¬
kennbar wird. Vielleicht erfolgt freilich die Wirkung auch schneller, wenn das
feindliche Heer in die Heimat zurückkehrt, denn es ist zu bedenken, daß die Be¬
rührung mit dein revolutionären Deutschland aus nächster Nähe, wie sie die Be¬
setzung von Mainz, Koblenz und Köln und das voraussichtliche Auftauchen eng¬
lischer Marinetruppen in deutschen Hafenstädten mit sich bringt, notwendig eine
stark suggestive Wirkung ausüben muß. Empfänglich ist der Boden bei den uns
feindlichen Völkern seit langem für die revolutionäre Saat in einer Weise, von
der man sich keine rechte Vorstellung machen kann, wenn man nicht in der feind-
lichen Presse selbst die Entwicklung verfolgt hat und die Anzeichen sich hat häufen
sehen. Die Tatsache, daß bei den Franzosen der linke Flügel der Sozialisten
unter Longuets Führung, den der internationale Sozialismus zu einer scharfen
Gegnerschaft gegen alle imperialistischen Eroberungsziele und gegen den Kapita¬
lismus gedrängt hat, im Herbst 1918 die Mehrheit der Partei für sich gewann,
spricht nicht minder deutlich für ein auch dort heranziehendes soziales Unwetter,
wie die erschreckend schnelle Zunahme gefährlicher Streiks in England seit Sep¬
tember 1918. die derartig leichtfertig von den Arbeitnehmern heraufbeschworen
wurden, daß sie fast wie eine Provokation wirkten. Die englischen Zeitungen
klagten in allen Tonarten über die englische Haltung der Regierung, die, um die
Kriegsversorgung nicht zu gefährden, den Arbeitern alle Forderungen bewilligte
und immer neue Lohnerhöhungen bei immer kürzeren Arbeitszeiten zugestand.
Daß daraus in der einen oder anderen Weise Unheil erwachsen muß. ja, daß. man
in den letzten Monaten schon mehrfach haarscharf an schwerem Unheil noch eben
vorbeigesteuert ist, wurde in verschiedenen englischen Blättern mit allem Nachdruck
betont Noch steht in Frankreich und England kein vulkanischer Ausbruch zu er¬
warten, aber die Stimmung, die ihn vorbereitet, dürfte durch die deutsche sozia¬
listische Revolution mächtig gefördert worden sein und imZLcmfe des Jahres 1919
zu noch nicht übersehbaren, weitreichenden Folgeerscheinungen Veranlassung geben.
Der psychische Krankheitsprozeß, dem die zweiundzwanzig deutschen Dynastien
binnen wenigen Tagen sämtlich erlegen sind, hat sich in den neutralen Ländern
Holland und der Schweiz ebenfalls bereits bemerkbar gemacht, wenn auch vor-
tausig nur in einem ersten leichten Anfall, Er wird sich unzweifelhaft weiter
ausbreiten und dürste von den feindlichen Ländern zuerst Italien, dann Frank¬
reich und zuletzt auch England ergreifen. Die Vereinigten Staaten und Japan,
wenngleich weit vom Schuß, dürften auf die Dauer gleichfalls schwerlich ganz
imnw'n bleiben. Dasz selbst bei ihnen der Boden für sozialistische Regungen
emMnglich ist, zeigten in letzter Zeit die „Neisunruhen" in Japan, zeigte ebenso
die Ankündigung des amerikanischen Arbeiterführers Gompers, daß die Arbeiter
auch für die Friedenszeit die ungeheuren Kriegslöhne nebst der kurzen Arbeits¬
zeit zu fordern gedächten — eine Ankündigung, die bei den Arbeitgebern Helles
Entsetzen und scharfen Widerspruch hervorrief.
In den ersten Tagen nach Ausbruch der deutschen Revolution waren Ge¬
rüchte verbreitet, daß in Frankreich sozialistische Aufstünde bereits ausgebrochen
seien. Es war freilich von vornherein psychologisch unglaubhaft, daß im Augen¬
blick des Sieges politische Umwälzungen über ein Land kommen könnten. Die
Gerüchte, die offenbar nur zum Zwecke der Stimmungsmache verbreitet wurden,
waren in der Tat entweder gegenstandslos oder haben aus einzelnen unbedeutenden
Vorkommnissen, wie den Verbrüderungen an der Front, übertreibende Schlu߬
folgerungen gezogen. Dennoch dürften sie den Tatsachen nnr um einige Monate
vorausgeeilt sein. Bemerkenswerterweise ist dies nicht nur deutsche, sondern
auch neutrale Auffassung, wie folgendes Zitat aus der holländischen Zeitung
„Nieuws van den Dag" vom 15. November 1918 beweist:
„Es ist durchaus nicht unmöglich, daß der revolutionäre Wind in Frank¬
reich jetzt einsetzt, wenn die gewaltige Nervenspannung von vier Kriegsjahren
erschlafft und der Kriegstaumel vorüber ist. Der aufgepeitschte Chauvinismus
^alt die revolutionäre Idee zurückgedrängt, jetzt wird sie mit erneuter Kraft auf¬
geben. Das unterliegt keinem Zweifel."
l Auch dänische Auffassungen decken sich hiermit. Folgende Äußerung der
Kopenhagens „Finanstideude" vom 13. November ist hierfür bezeichnend:
„Alle .müssen wünschen, daß der russische Bolschewismus nicht auch die Ver¬
bandsländer ansteckt. Italien-scheint bereits bedroht zu sein. Ebenso wie die
Vergeltung über Deutschland gekommen ist, kann sie die Imperialisten in den
Verbandsländern treffen."
Daß diese Erwartung keineswegs in der Luft schwebt, daß ein Hinübel -
springen der revolutionären Bewegung auf die feindlichen Länder nur durch sehr
beträchtliche Zugeständnisse der Kapitalisten an die Arbeiter wird unterbunden
werden können, beweist ein Aufsatz Marcel Sembats in der „Hünauld6" vom
14. November 1918, aus dem zugleich die sehr lehrreiche Tatsache zu ersehen ist,
daß man in Frankreich große Besorgnis hat, dem Lande die Wahrheit über die
deutsche Revolution mitzuteilen. Sembat schreibt nämlich:
- „Wir werden in vollkommener Unwissenheit über die wunderbaren Ereig¬
nisse gehalten, die Deutschland umgestalteten. Ich verstehe wohl: man fürchtet
die Rückwirkungen, die Ansteckung! Gegen die Grippe können solche Absperrungen
vielleicht wirksam sein, aber wo es sich um soziale Umwälzungen ha bald. kann
uns nur die Erkenntnis der Wahrheit zu den notwendigen Entschlüssen führen.
„Glauben Sie," sagte mir in den Wandelgängen der Kanuner ein Mann von
klarer und kühler Intelligenz, „daß sich das französische Volk lange bescheiden
würde, wenn unsere Republik inmitten der überall entstehenden neuen Republiken
als die rückständigste erschiene?" Er setzte mir auseinander, daß in der Tat die
deutsche Republik, als Nachfolgerin eines Kaiserreiches, das interessanten sozialen
Reformen zugetan war, sozusagen nur zu bestehen brauche, um der unsrigen in
dieser Hinsicht weit voraus zu sein. Man wird das sogleich bemerken, wenn
Elsaß Lothringen wieder französisch wird. Man wird den Arbeitern dieser Gegenden
eine ganz besondere Behandlung zuteil werden lassen müssen, hinsichtlich der
Arbeiterpensionen, wenn man ihre erworbenen Rechte nicht verletzen will.') Denn
die Pensionen sind dort bemerkenswerierwcise vorteilhafter als bei uns. Und die
Lehrer in Elsaß-Lothringen? Wenn sie ihre Geholter mit denen ihrer französischen
Kollegen vergleichen? Das Problem ist jedoch viel dieser und übersteigt bei weitem
diese oder jene Einzelresorm. Denn es ist eine inne Welt im Entstehen."
Dies Zugeständnis läßt doch woh! darauf schließen, daß, wenn der Sieges'
launet in Frankreich verebbt ist, auch dort das soziale Problem wieder der Kern-
Punkt allen polnischen Geschehens werden muß. Schon jetzi treten die französischen
Sozialisten, deren nationale Gesinnung im Kriege über jeden Zweifel erhaben
war. mit großer Entschiedenheit gegen jeden ungerechten Frieden, j>de Vergewalti¬
gung Deutschlands auf. Nachdem Deutschland sozialistische Republik geworden ist,
ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß sie sich, wenn ihren sozialen Forderungen
nicht freiwillig in weitem Umfange cntgcgingelc.innen wird, mit ihren deutscheu
Parteigenossen zur Bekämpfung des 'Kapitalismus verbunden, Die „Ansteckung",
von der Sembat spricht, führt dann eben auch in Frankreich zum Ausbruch der
sozialen Krankheit.
In England liegen die Dinge nicht viel anders. Der am 22. November
kurz vor den Neuwahlen erfolgte Austritt des Atbeiterminisicrs Clynes aus der
Koaliüonsregierung läßt auf eine stark wachsende Gegnerschaft der englischen
Arbeiter gegen Lloyd Georges imperialistische Regierung schließen. Auch hier
wird man, um die Dinge zuverlässig zu beurteilen und nicht trügerischen Hoff¬
nungen zu erliegen, am besten ein englisches Zeugnis selbst zu Hilfe rufen, das
beweisen mag. wie in England gleichfalls sozialer Zündstoff in Mengen vorhanden
ist. Schon fünf Wochen vor Ausbruch der deutschen Revolution, am 6. Oktober,
schrieb das britische Parlamentsmitglied I. H. Thomas im „Sunday PicNiral",'
„Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Haltung der englischen Arbeiter bei
manchen unserer Verbündeten große Besorgnisse erweckt..... Manche Streiks
wurden — ich zögere nicht, es auszusprechen — durch Mißgriffe und Fehler der
Regierung hervorgerufen' man denke nur 'an die jüngsten Zwist igkciten der Polizei»
beamien. Andere wieder haben einen völligen Mangel an Methoden und Ver¬
ständnis bei den Behörden enthüllt. Wie war denn der Verlauf der Ereignisse?
Verhandlungen fanden statt, Verhandlungen wurden abgebrochen, der Streik folgte,
und sofort erreichten dje Arbeiter alles, was sie wollten..... Die dauernden
Kapitulationen vor der brutalen Gewalt haben bei den Arbeitern das Gefühl er¬
weckt, der Streik sei der einzige Weg. sich Gerechtigkeit zu verschaffen.. . . Solche
Methoden machen jede friedliche Aussöhnung unmöglich und arbeitn den Bot-
hes ewlsten in die Hände. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß es in England
keine Bolschewismen gibt. . . . Alle die, welche so -leichthin von den Segnungen
des Bolschewismus reden, vergessen, daß keine Nation unter einem allgemeinen
Zusammenbruch so sehr, wie gerade England, leiden würde. . , . Nach meiner
Ansicht dauert es nicht mehr lange, bis die Arbeiterpartei die herrschende Klasse
in England wird."
Noch deutlicher drückte die vorhandenen sozialen Sorgen Englands Gardiner
in seiner Zeitung „Daily News" aus:
„Niemand, der die geistige Verfassung großer Teile der arbeitenden Klassen
in England und Frankreich kennt, ist sich darüber im unklaren, wie trocken der
Brennstoff ist und wie viel trockener er noch werden wird, wenn erst der Druck
des Krieges nachläßt und die Schwierigkeiten, die Verbitterung und die mit der
Demobilisierung verbundenen Entbehrungen sowie die Übergangswirtschaft in der
Industrie sich fühlbar machen. . . . Kann. Havelock Wilson seine Gewerkschaft
gegen Henderson ausspielen, so können die Eisenbahnarbeiwr, wie Thomas an¬
drohte, den Eisenbahnverkehr auf Kosten der Feinde der Arbeiter lahmlegen."
Im September 1918 war übrigens bereits ein sehr gefährlicher Eisenbahner-
, Streit ausgebrochen, der schließlich nur durch schleunige Nachgiebigkeit der Regierung
beseitigt werden konnte. Auch sonst fanden letzthin Riesenstreiks in so großer Zahl
statt wie nie zuvor in der englischen Geschichte, und überall konnte nur durch
Nachgiebigkeit der Regierung größerem Unheil gesteuert werden.
Resigniert klagte „Manchester Guardian" am 8. November, also mock vor der
Berliner Revolution:
„Der Krieg hat für die meisten Beteiligten gar zu lange gedauert. Die
Revolution Hot bereits halb Europa und Sibirien erfaßt', noch ist sie nicht er¬
schöpft. Die russische Influenza ist sehr ansteckend. . . . Revolution liegt in der
Luft, man hört den dumpfen Donner der Kräfte in der Tiefe. Wir sind gewarnt!"
Soweit dürfte man erkennen, daß auch in England eine weitgehende Um¬
wälzung in nicht gar zu ferner Zeit durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt.
Die Gefahr ist dabei für England weit größer als für Deutschland. Wir sehen
ja, daß die sozialistische Diktatur in Berlin die Gefahr eines Zerfalls des deutschen
Reiches bedenklich nahe gerückt hat. Man darf freilich als gewiß annehmen, daß
ein solcher Zerfall, wenn er wirklich infolge nicht rechtzeitiger Wahl einer National-
Versammlung noch eintreten sollte, nur vorübergehender Art sein würde, aber wenn
der soziale Umsturz selbst bei einem Äolk mit gleicher Sprache und von durchweg
starker Anhänglichkeit ans Reich Zerfallserscheinungen auslöst, so mag man dacaii
ermessen, welche Rückwirkungen ein gleicher Vorgang in dem ans hundert dis>
kordcmten Bestandteilen zusammengesetzten und zum Teil von stark zentrifugalen
Tendenzen (Irland. Burenstaaten.' Ägypten, Indien I) erfüllten britischen Welt¬
reiche haben muß.
Diese Auffassung wird auch in neutralen Ländern schon hier und da ge-
teilt/ dürfte also der wahren Sachlage gut entsprechen. Sehr bezeichnend war
vor allem eine Auslassung der 5kopenhagener „Finanstidende" vom l3. November:
„England wurde durch Hunger reich. Noch vor 1914 hieß es, daß jeder
dritte Mensch in England hungerte. Nach diesem Kriege läßt sich derartiges nicht
wiederholen. Es scheint im Gegenteil eine sehr kräftige soziale Umwälzung im
Gorge zu sein, die auch vor 1914 schon Besorgnis erregte. . . . Auf alle Fälle
ist es ein sozialer Prozeß, der Englands Kräfte in einer Reihe innerer Aufgaben,
z. B. der Bodenfrage und der Staatskontrolle über die Industrie, zersplittern wird.
Die Vernichtung des preußischen Imperialismus, die England bewirkte, kann des"
halb die des englischen Imperialismus nach sich ziehen, während fernere und
jüngere Militärmächte, Amerika, die Kolonien und Japan der Ansteckung weniger
ausgesetzt sind."
Sollte die von Vielen gehegte und im Grunde nicht unwahrscheinliche Er¬
wartung sich erfüllen, daß der soziale Umsturz mehr oder weniger gewaltsam all¬
mählich die ganze Kulturwelt erobern wird, so scheint ein Zerfall aller großen
Weltmächte auf die Dauer unvermeidlich zu sein. Das Zeitalter der Großmächte
würde dann nahe vor seinem Abschluß suchen, und die aus imperialistischen Ge¬
lüsten erwachsenen Kriege würden bis auf weiteres von sozialen Kämpfen inner¬
halb desselben Volkes und von unzähligen, bewaffneten oder friedlichen Konflikten
der vielen neuen Staatlein und Natiönchen 'miteinander abgelöst werden. Statt
des erträumten Völkerbundes und dem Zeitalter des ewigen Friedens wäre uns
dann eine Balkanisierung und Atomisierung des größeren Teiles Europas und
ein Rückfall in den Zustand fortgesetzter mittelalterlicher Kleinkriege beschert, zu
dem die prompt einsetzenden Bandenkriege zwischen Polen und Ukrainern, Russen
und Finnen. Tschechen und Magyaren, Süöslaven und Italienern bereits den er¬
baulichen Auftakt liefern.
Kapitalismus und Imperialismus haben die großen Einkreisungskriege
gegen Deutschland entwickelt und haben vorläufig mit einer Vernichtung des
deutschen Imperialismus und einer schweren Bedrohung des deutschen Kapitalis¬
mus geendet. Aber der Prozeß ist noch nicht beendet und kann leicht mit einem
Zusammenbruch jeglichen Imperialismus und Großkapitalismns enden. Schon
am Tage der Berliner Revolution gab der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" dieser
Auffassung drastischen Ausdruck:
„Der große Krieg hat alle Aussicht, in einer Weltrevolution zu enden. Die
Regierenden 'in England beginnen dies bereits einzusehen, wie sich aus Churchills
Anordnungen ergibt. Er dersügte nämlich, daß die Herstellung von Munition
fortgesetzt werden sollte, da ernste Unruhen ausbrechen könnten (I). Gerade die
Aufgabe Deutschlands, die der Verband so verhöhnte, das Ordnungschäffen. in
Rußland, also die Bekämpfung der Revolution, hat der Verband bereits von
Deutschland übernommen und wird sie in Deutschland selbst übernehmen, falls er
befürchtet, daß die Revolutions-Ansteckung nach dem Westen übergreift. So würde
denn der Kampf zwischen den verschiedenen Gruppen imperialistischer Mächte zu
einem Weltklassenkampf werden Es erhebt sich nur die Frage, wie lanqe es
dauern wird, bis auch die Heere des Verbandes angesteckt werden. Man hat
festgestellt, daß auch Tiere von der Influenza angesteckt werden können. Wenn
auch der deutsche und der österreichische Adler an der revolutionären Influenza
gestorben sind, sind sie doch noch nicht vollkommen unschädlich. Wenn der gallische
Sahn und der britische Löwe sich zu lange im Sterbezimmer aufhalten, können
sie angesteckt werden, so wie der verstorbene russische Bür zuerst die Krankheit über¬
tragen hat."
Der Welt-Sozialismus erhebt sein Haupt, und bei ungeschicktem Verhalten
der Regierenden kann er sogar schließlich in Welt-Bolschewismus ausarten. Die
letztere Gefahr ist ja vorläufig noch als gering zu erachten, und selbst für Deutsch¬
land ist (von einzelnen großen Städten abgesehen) die eigentliche bolschewistische
Gefahr nicht sehr groß. Aber die Welt-Revolutionierung dürfte in den nächsten
Monaten und Jahren stetige Fortschritte machen, zunächst das ganze alte Europa
Hinstürzen und schließlich auch die anderen Erdteile ergreifen. Man mag diesen
Gang der Dinge beklagen oder bejubeln, in jedem Fall muß man sich mit ihm
abfinden. In allen Ländern drohen den Kreisen, die den Krieg entfesselt haben,
die Felle wegzuschwimmen, und der Sieger im größten Ringen der Menschheits-
geschichte wird schließlich weder Frankreich noch Italien, noch England, noch
Amerika sein, sondern unerwarteterweise der Sozialismus l
olitik und ihre Richtung ist Tagesgespräch, mehr Interesse für Politik,
politische Erziehung des Volkes die Forderung des Tages. Lehr¬
aufträge für Politik und ihre verschiedenen praktischen Teilgebiete
sind für unsere Hochschulen in Aussicht gestellt.
Da erhebt sich die Frage: Ist denn Politik eine Wissenschaft,
ist eine wissenschaftlich geleitete Politik denn überhaupt möglich, gibt
lich gefundene, allgemein gültige Grundlagen der Politik? Diese
Frage gleicht einem großen unentwirrbaren Bündel von Unterfragen. Vor allem
die Vorfrage erhebt ihr Haupt: Was ist Wissenschaft? Denn daß die Frage nach
der wissenschaftlich möglichen Behandlung der Politik sich nicht durch einen ledig¬
lich fachwissenschaftlich gerechtfertigten und vergleichenden Hinweis auf andere
„Wissenschaften", wie etwa die Wirtschaftswissenschaft, die Staatswissensmaft oder
die Geschichte erledigt, erscheint von vornherein selbstverständlich. Diese Be¬
merkung trägt aber bereits den Keim zur Lösung jener Frage in sich.'
Es istzu scheiden zwischen lediglich fachlich orientierter wissenschaftlicher
Behandlung eines begrenzten, gegebenen oder als gegeben angenommenen Stoffes
und einer Methode, die, als „Wissenschaft" schlechthin bezeichnet, im Ergebnis
ihrer Untersuchung allgemein gültige Begriffe und Ziele findet, die für das jeweils
in Betracht kommende Stoffgebiet absolut gültig und maßgebend zu erachten sind.
>Es muß einmal — ganz im allgemeinen — die grundsätzliche Unterscheidung
zwischen der rein fachwissenschaftlichen, sei es naturwissenschaftlichen oder historischen,
jedenfalls aber genetischen Art der Beweisführung und Begriffsbildung und der
nach allgemein gültigen Begriffen und Ideen strebenden systematischen formalen
Untersuchung logisch.begrifflich-erfaßbarer Lebenserscheinungen gemacht werden.
Wir verstehen das so, daß nur die systematische, formale, kritische Untersuchungs¬
methode in der Lage ist und sein kann, an der Hand des vorliegenden Erfah¬
rungstatsachenstosses, unter ständiger Ausschaltung jeden Inhalts die formalen
allgemein gültigen Begriffe für das betreffende Gebiet zu suchen und dann, auf
die Frage nach der Richtigkeit, wie die Begriffe allgemein gültig zu handhab«,
sind, in der Praxis der Welt die Ideen als Zielpunkte und Richtung gehendes
Gestirn für unsere einzelne Handlung zu finden.
Das Streben der Menschen geht nach der Einheit des Bewußtseins, nach
der Einheitlichkeit des Einordnens aller Dinge unserer Erkenntnis, danach, einen
gemeinsamen Punkt zu finden, in dem alle Fragen, die ihr Haupt zweifelnd
erheben, zusammenfließend, wenn auch.nicht beantwortet, so doch einer einheitlichen
Lösung näher zugeführt erscheinen.
Das kann in der bewußten Bewältigung der Aufgabe allgemein gültig nur
die Form unseres Denkens sein, die wir für alle Gebiete unseres Interesses zu
suchen und zu finden haben. Die Form allein, losgelöst von jedem Inhalt, der
wechselt, ist allgemein gültig und deshalb die einzige'Möglichkeit, jenes EmyeitS-
sehnen zu erfüllen, jener gemeinsame Punkt im Sehnen und Streben aller zu sein.
Der allgemein gültige Begriff der Politik ist auf diesem Wege der kritischen
Untersuchung zu finden, der Begriff von Politik, der diesem verschwommenen,
von tausend verschiedenen Inhalten erfüllten Worte eine allgemein gültige, an
keine Zeit und geschichtliche Talsachenwelt gebundene Bedeutung gibt. So gut
wie alle Lehrbücher der Politik übersehen bisher diese grundlegende Vorfrage und
arbeiten mit mehr oder weniger inhalterfüllten, halben und viertel Begriffen von
einem Dinq, das sie Politik nennen. Ein Beispiel für viele: Treitschke beginnt
seine „Politik" mit dem Wort: Alle Politik ist Kunst! Keine Frage erhebt sich,
was denn nun Politik sei. Es bleibt dem Leser überlassen, welchen Tatsachen¬
oder Gedanlenkornplex er sich darunter vorstellen mag. Und wo Politik sonst zu
definieren der Versuch g> macht ist, stets ein mit Inhalt behafteter Begriff ist ef-
ter als Ergebnis der Untersuchung sich darstellt.
Hierzu noch eine Bemerkung zu dem Wesen dieser formalen Methode. Was
ist Wissenschaft? Offenbar doch das: ein Kritizismus unserer Erkenntnismöglich¬
keit, ein Erkennen der formalen Erkenntnismöglichkeiten und Bedingungen in
bezug auf ein Individuelles, Typisches, der Versuch nach der Erfassung der allgemein
gültigen formalen Begrisiseigentümlichkeit dieses Individuellen.
Eine Untersuchung, die Politik als Wissenschaft zu ergründen, will, kann,
garnicht anders vorgehen, als allem' auf dem Weg der systematischen formalen
Methode, die die Form unseres Denkens, ohne die wir nicht das sind, was wir
sind, voraussetzt und in ihr versucht, den Begriff der Politik zu fassen. Damit
ist nicht gefordert, daß jede Untersuchung, z. B der Gegenwartspolitik, etwa mit
dieser Frage Ab civo anfängt; sie wird genetisch vorgehend die Zustände der
gegenwärtigen politischen. Lage in ihrer historischen und wirtschaftlichen Entwick¬
lung — also fachwissenschaftlich — zu untersuchen haben. Daß sie als Grundage
den „wissenschaftlichen" Begriff voraussetzen muß, wird nur selbstverständlich
sein müssen.
Eine Untersuchung jedoch, die die Frage nach der Möglichkeit einer wissen¬
schaftlichen Politik schlechthin beantworten will, hat zu geschehen auf dem von
jedem Inhalt freien Wege der kritischen, formalen Methode. Einzig und allein
Rudolf Stammler hat vor allem in seinen, in letzter Zeit bekannt gewordenen
neueren Forschungen diesen Standpunk! auf die Untersuchung nach den wissen¬
schaftlichen Grundlagen der Politik angewandt"). Von ihm wird jenes Ziel der
wissenschaftlichen formalen Methode im Suchen nach Begriff und Idee des jeweils
in Betracht gezogenen Stoffgebietes zum Grundsatz seines Forschens erhoben und
damit auch zum Inhalt seiner Untersuchung gemacht.
Was ist nun seinem allgemein gültigen Begriff nach Politik?
Politik ist nach Stammler etwa die Willenserscheinung einer sozialen Ge¬
meinschaft, d- h. einer Verbindung von Zwecke setzenden Menschen^) unter recht¬
lichen Formen,
Soziales Wollen ist ihm die Vorstellung dieses Verbindens menschlicher
Zwecke. „Es wird das Streben des einen als Mittel für den andern genommen
und wieder umgekehrt in Wechselseitigkeit"), Man könnte Politik auch kurz so
definieren: ein soziales Wollen rechtlicher Art. Das lchtere ist wichtig, es bedeutet
die rechtliche Regelung, d. h. die selbstherrliche, unverletzliche Eigenart des Rechts¬
gedankens. Politik ist kein erweitertes rechtliches Wollen mit dem Ziele des
objektiv richtigen Inhaltes des die verbundene Gruppe von Menschen verbindenden
Wollens.
Damit ist aber bereits der Begriff der Politik überschritten und eine Findunq
der Idee gegeben, nach der im Zielpunkt als wissenschaftlicher Grundlage jede
Politik zu handhaben und leiten wäre. Dieses Ziel, diese Grundlage, diese Richt-
linie ist die Idee der reinen Gemeinschaft. Es ist die Vorstellung von eine»-,
solchen rechtlichen Verbinden, da keiner in stärkerer Weise als Mittel für Persön-
liches Begehren des anderen eingefügt wird, als ihm die anderen verbunden
sind"). Mit anderen Worten: Politik auf wissenschaftlicher Grundlage heißt nach
unserer Methode dasselbe wie eine Verbindung von Zwecke setzenden Menschen
mit dem Zielpunkt der Schaffung einer Gemeinschaft frei wollender Menschen'»,
Im praktischen Leben soll so der einzelne grundsätzlich als Selbstzweck noch
geachtet sem°), andrerseits soll der, der einer rechtlichen Zwangsordnung eingefügt
ist, daran auch in Wahrheit teilnehmen und nicht z. B. im Falls der Not ver-
einzelt dem Ringen um sein Bestehen überlassen werden.
In der großen Politik, das heißt, im Leben der einzelnen Gemeinschaften,
in dem jede Gruppe geschlossen als Träger des politischen Willens erscheint, ist
gleichfalls der Begriff'und die Idee des politischen Wol»us zu untersuchen.
Der gefundene Begriff von Politik als soziales Wollen rechtlicher Art ist
nur dann geeignet auch für die große Politik, wenn das Geschehen der Geschichte,
das die rechtliche Regelung zu sprengen scheint, der Krieg, mit einem Wollen
rechtlicher Art vereinbar wird. Das bedarf einer besonderen Untersuchung, wie
es vielleicht auch nicht unangebracht erscheint, in der inneren Politik die Idee
der Politik auf ihre notwendige Durchführung zu prüfen. Daß sich eine solche
Prüfung der Anlegung jenes Maßes anschließen muß an wirtschaftliche Zustände
und vorliegende politische Tatsachen, dürfte selbstverständlich sein. Begriff und
Idee der Politik sind anzulegen an die fachwisienschaftlich gefundenen Motive und
Ergebnisse der politischen und wirtschaftlichen Gegenwart, an die jeweiligen Zu¬
stände und Probleme der Gegenwartspolitik.
Letzteres sei als das allgemeinere zuerst versucht. Wie lösen sich mit unserm
Begriff von Politik und ihrer Idee Fragen wie Macht und Recht, Freiheit des
einzelnen und die Beherrschung seiner Selbstbestimmung? Das sind die, ewigen
alten Fragen von Ziel und Hemmung, vom Zwiespalt von Ethik und Tat.
Jene erste Frage von Recht und Macht hat Stammler in seiner oben bereits
erwähnten Arbeit zu lösen gesucht und hat in ihr auch die Antwort auf die oben
aufgeworfene Frage gegeben, wie der Krieg mit dem rechtlichen Wollen der sozialen
Gemeinschaft, innerhalb der wir als Staat leben, vereinbar ist. Im Gegensatz
zum Recht, das heißt einer allgemein gültigen Weise des Ordnens, dessen Klar-
Stellung sonnt eine erkenntniskritische Ausgabe ist und das ein logisch bestimmendes
Merkmal darstellt, mit dessen Hilfe allein eine systematische Einteilung ordnender
Betrachtungen möglich wird, ist Macht, als Fähigkeit, auf bestimmte Menschen
einzuwirken, nur in psychologischem Sinn zu erfassen.
Sie hat es in ihrer Eigenart mit einer einwirkenden Verknüpfung von
Menschen miteinander zu tun. Es ist die Einwirkung als solche, die bei ihr den
Allsschlag gib!. Dagegen zeigt die Erwägung der Macht an und für sich noch
gar nichts über den Inhalt dessen an. wofür Macht nun ausgeübt wird. Hieraus
erhellt, daß der erkenntniskritisch herausgeschälte Rechtsgcdanke einerseits und die
psychologisch erwogene Vorstellung der Macht zum andern Teile in der tatsächlichen
Ausgestaltung des sozialen Lebens sich ergänzen müssen
So liegen die verknüpfenden Beziehungen zwischen den beiden unüberbrück¬
baren Polen klar zutage. Aber erst die Macht, die im Sinne eines rechtlichen
Willens vorgeht, ist als solche prinzipiell begründet"). Und „das Recht hat
wiederum die Macht nötig, um sich durchzusetzen"'). DaS Recht braucht Macht
nicht nur als Rechtsquelle,' sondern vor allem als Rechtsschutz. Das liegt schlechthin
in: Wesen des Rechts als eines selbstherrlich-unverletzbar-gültigen Wollens. Daß
in der Welt der Praxis diese Wcsenseigenschaft des Rechts überhaupt erhalten
bleibt, ist lediglich Aufgabe der jeweils geschichtlich bedingten Macht. „Es ist das¬
jenige Mittel einzusetzen, das unter gegebenen Verhältnissen die Verwirklichung
von Recht und Gerechtigkeit am sichersten gewährleistet"'"). Somit wird der Krieg
eine Rechtseinrichtung, taugliches Mittel des Rechtsschutzes und Rechtszwanges,
solange nicht ein besseres schützendes Mittel des Rechtes geschaffen werden wird.
Sowohl im Krieg, als letztem Mittel des Rechtszwanges, als auel im Rechtsleben
des Tages treten die Unzulänglichkeiten und Hemmungen des täglichen Lebens
hervor, die den einzelnen in seinem äußeren und inneren Leben arg beciniräch.
eigen und Schädigungen werden, und die deshalb eine Verwirklichung der politischen
Idee stets verhindern werden und müssen. Das ist die alte menschliche Tragik,
die in dem steten Zwiespalt zwischen Ziel und Hemmung, zwischen ethischer Ziel-
stimmung und Tat liegen wird.
Hier mag eine Zwischenbemerkung eingeschaltet sein über das Verhältnis
von Ethik und Tat, von ethischer Zielstimmung und dem Versuch ihrer Aus¬
führung. Wir haben die letzteren Bezeichnungen sehr sorgfältig gewählt.' ethische
Zielstimmung und Versuch ihrer Ausführung. Unsere Ethik als Wissenschaft hat
bisher fast stets geglaubt, Ethik auf Grund der fertigen Handlung feststellen, aus
der Tat, der getaner Ausführung, die ethische Forderung und Leistung finden zu
können. Dieser Irrtum ist erklärlich aus der geringen psychologischen Grund¬
legung der ethischen Wissenschaft. Die echte, wahre Ethik ist vortatlich. sie liegt
mir der Handlung, Ethik ist keine Lehre, wie das Leben nach irgendeinem meta-
physischen Wert und Ziel — die dogmatische, die Erfolgsethik und die individua¬
listische Ethik haben solche Werte und Ziele des Handelns — einzurichten ist,
welche Handlungen der Annäherung an diese Ziele entsprechen, — Ethik ist etwas,
was der Tat völlig fern liegt, was tiefstinnerlich im Menschen ruht uns schlummert
und in seinem wertvollsten Teile gar nicht —- trotz des Dranges danach — in
Tat und Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Ethik ist Erlebnis, ist Zielstimmung
noch unaussprechlichem menschlichen Werte. Ein kleiner Teil dieser Zielstimmung
kann in unserer Welt dreidimensionaler ErfassungSmöglichkeit zur Tat werden,
die höchsten und tiefsten Werte des menschlichen Wollens können nicht einmal zu
Worten geformt sich verständlichen, begrifflichen Ausdruck verschaffen, geschweige
denn als Handlungen in die Wirklichkeit treten.
Diese Zwischenbemerkung gibt allein schon Wegweiser zur Lösung des Kon¬
fliktes von Jdealpolitik und augenblickspolitischer Notwendigkeit, Sie stellt fest.
duß die nicht wissenschaftlich zu findenden Hemmunger, im praktischen Leben so
ungeheuerlich, zahlreich und stark sind und stark sein werden, daß allein sinon
dadurch der Eintritt des idealen Zieles in die Wirklichkeit unmöglich wird. Die
politische Idee — ein ethisches Ziel, bissen Notwendigkeit wir schlechterdings an¬
erkennend bejahen, kann eben nicht zur Wirklichkeit werden, weil sie, ihrer Her-
kunft aus jener ethischen Zielstimmung entsprechend, nur in einen; jeweils mehr
oder weniger gelungenen Versuch der Ausführung infolge jener wissenschaftlich
nicht faßbaren und dadurch nicht fortzuschaffenden Hemmungen in die Wirklichkeit
treten kann. Damit ist die Einschränkung der ..wissenschaftlichen" Erfassung des
Weltbildes, der Lebenselscheimmgen, des Lebens in dem umfassendsten Sinne
dieses Wortes behauptet. Es bleibt bei jedem Versuch der wissenschaftlichen Er¬
fassung des Lebens, ja der einzelnen unscheinbarsten Lebenserscheinung jener un¬
antastbare Restbcstanb übrig, der nicht auf wissenschaftlichem Wege regisinnt,
erfaßt oder einheitlich untergebracht werden kann. Die Einheit des Lebens ist
nicht durch wissenschaftliche Methode völlig erreichbar, der Logos als Methode zur
Einheit versagt. Vielleicht liegt das an dem Bau unserer Denknotwendigkeit.
Diese Hemmungen des Alltags sind es. die — soll nicht der einzelne oder
die ganze Gemeinschaft zu Schaden kommen — verhindern, daß die polnische
Idee, jene gefundene wissenschaftliche Grundlage der Politik, zur Wirklichreit mürb
und werden darf. Der Versuck der Anlegung der gefundenen Grundlugen einer
wissenschaftlich geleiteten Politik als Maßstab 'ein die einzelnen Gebiete der Tages¬
politik wird sich als unmöglich und unausführbar erweisen.
Die cwzelmn Gebiete txr Politik scheiden sich naturgemäß nach äußerer
und innerer Politik. Die innere Politik ist die jenige Willensei scheinung. die die
Gruppengemeinschast des im Staat organisierten Volles als soziales Objekt Hut,
während die äußere Politik mit den Subjekten der einzelnen Staaten in der
Gemeinschaft dieser das Objekt ihres sozialen Willens besitzt. Auch bei nutzerer
Politik ist das einzelne Individuum nicht auszuschalten in seiner Stellung zur
engeren Gemeinschaft des Staates, für den es sich z. B. im Falle des Krieges
unier Hintansetzung seines eigenen Willens vielleicht wird nusopfnn müssen.
Unsere Fragestellung lautet also: ist die Idee der Politik als Zielpunkt i es
politischen Handelns, nämlich die Schaffung einer reinen Gemeinschaft bei ?er
praktischen Handhabung der Politik, der äußeren und inneren, notwendig und —
brauchbar? Die äußere Politik arbeitet mit Objekten von Gruppengemeinschaften,
den einzelnen Saaten, aber auch mit den einzelnen Angehörigen dieser Gemein-
schalten. Es sind letzten Endes diese einzelnen, für die jenes Ziel der Gemein¬
schaft freiwolleuder Menschen aufgestellt ist.
Ob der politische Wille der einzelnen nun aber hinreichend genug ist, um
den Gang der äußeren Politik regeln zu können, ist unter Verwertung der to.t-
sächllchen fachwisjenichaftlich zu findenden Unterlagen, z. B. geographischer, histo¬
rischer, wirtschaftlicher und anthropologischer Art billigerweise zu bezweifeln. Sind
doch fast alle diese Tatsächiichkeiten — so Lüge, Klima, Wirtschaftsform, Rasse
und ihre Eigentümlichkeit — völlig unabhängig von dein sozialen Zweckwollen
des einzelnen Staatsbürgers, sowie auch unbeeinflußbar und nur in geringem
Maße durch fremden Einfluß veränderlich von dem Wollen der Gemeinschaft oder
der Gesamtheit der Gemeinschaft. - ,
Doch jene Idee, wenn sie nicht ihrem Wesen als Idee widersprechen will,
soll ja auch nur Zielpunkt sein und nicht etwa in tatsächliche Wirklichkeit umge¬
setzt werden. Was soll diese innere Unwahrhaftigkeit eines sophistischen Mrobatcn-
sprunges! Gewiß sind wir von der Wesensart der Idee als nie erreichbaren,.
Endziel durchdrungen', das hindert uns aber nicht daran, uns im ewigen Glauben
stets unter wieder erneuter Anspannung möglichst im Fortschritt zur Idee dem
als notwendig erkannten Zielpunkt nähern zu wollen, und unser Handeln, unsere
Politische Tat einzustellen nach dem Richlungspunkte. den Geist unseres Handelns
sich bestimmen zu lassen von der Idee.
Wir müssen zur Beantwortung jener Frage, zur Lösung jenes Problems
nun die Ergebnisse der Fachwissenschaften heranziehen, die auf dem Boden einma!
gegebener oder als gegeben angenommener Tatsachen mit den Dingen rechnen,
wie sie sind. Wir müssen bei der Gestaltung der äußeren Polili! ihre Objekt.',
die Staaten, ansehen als von den Wollungen einzelner unabänderliche, tatsäch¬
liche Wesen, die, wie sie Kjellön in seinem ebenso betitelten Buche") bezeichnete.
Lebensformen darstellen, für die ganz andere, als persönliche menschliche Willens-
einflüsse nachzuweisen sind. Der Staat ist nicht Objekt der Wollung des ein¬
zelnen zur politischen Idee, er ist vor allem Land und als solches Untersuchungs¬
objekt mit feststehenden geographischen und klimatischen Sonderheiten für die
Geopolitik, er ist damit zusammenhängend ein jeweils besonderer Ausdruck einer
eigenartigen Wirtschaft, er ist als Objekt der Ethnopolitik Volt, als Vorwurf für
die Sozialpolitik Gesellschaft und Vottsgesellschast und endlich als Rechtsträger
Niitersuchungsgegenstand der Rechts- oder Herrschaftspolitik'-).
Diese verschiedensten Seiten des Staates, die nur zum geringsten Teil dem
politischen Willen unterliegen können, der sich nach jener politischen Idee lichtet,
entziehen sich im größten Umfang jeder erkemchnskritischen. allgemeingültigen
Zielsetzung und damit den mit der Idee offenbar gefundenen Grundlagen einer
wissenschaftlich geleiteten Politik. Es liegen nun eben im Staat vor allem als
Reich und Volk eine Fülle von spezifischen Naturelementen, die als Natursaktoren
jeder kritisch gefundenen Idee und ihrer gewollten Durchsetzung spotten.¬
Aus diesen Nattirelementen der Staaten, die eben jene Hemmungen dar
stellen, entsprii ge überhaupt das Problem, das letzten Endes sich in den beiden
Schlagworten Macht- und Rechtspolitik darstellt, in seiner völligen Unlösbarkeit.
Die politische Politik, wie wir sie bezeichnen wollen, würde zur Selbstvernichtung
ihres eigenen Körpers, nämlich des «Staates und damit dessen Einzelangehörigeu,
gelangen, wenn sie unter Hintansetzung und Überhebung aller jener erdenschweren
Tatsachen, aus denen allein sich die äußeren Levensbedingungen der einzelnen
ergeben, eine Politik des Rechts, der Idee führen wollte. Dasselbe gilt zwischen
den Völkern und Staaten für die Wirtschaftspolitik, wie für die vielleicht besser
und zutreffender Zivilisationspoliiik bezeichnete Kulturpolitik im engeren Sinne
ixs Wortes. Ebenso ist im Verhältnis der Völker als Nationen, deren Taisäch-
lichreit doch nicht zu übersehen ist, die Handlungsweise der einzelnen nicht über¬
wiegend durch Vernunf!gründe, sondern einzig und allein durch Triebe, durch
Willen zur Selbsterhaltung, zum Leben, zur Macht bestimmt.
Damit ist aber nun keineswegs die völlige Ablehnung der politischen Idee
für die Handhabung der großen Politik ausgesprochen. Diese Idee wird zwar
für den Staat, der ja selbst verantwortliche Gemeinschaft für die Lebensmöglich¬
keit seiner Genossen ist, nicht Zug um Zug, wenn nicht unter Selbstmvrdgesuhr
und verantwortungsloser ideologischer Schemapolitik, durchführbar sein, kann und
soll aber wohl als hohe Richtlinie der Gedanken gelten.
„Niemals kann ein geschichtlicher Zustand diesem unbedingt richtenden Ge¬
danken voll und ohne Rest entsprechen. Aber es bildet diese Idee doch den Leit-
stern der bedingten Erfahrung"").
Dasselbe gilt in etwas verändertem Maße für die innere Politik. ,
Doch gelten hier noch einige besondere Teilartm der politischen Auswirkuug
wie bei der großen Politik Gewiß spielen hier auch wirtschaftliche und nationale
Gesichtspunkte entscheidend mit, aber die eigentliche Domäne der inneren Politik
.ist doch wesentlich das Gebiet der sozialen Politik, die selbstverständlich wiederum
beeinflußt wird durch wirtschaftliche Tatsächlichkeiten. Das leidende Objekt der
inneren Politik ist innerhalb der Gemeinschaft des Staates der einzelne Genosse
dieser Gemeinschaft. Sein persönliches Leben wird als Mittel für persönliches
Begehren eines anderen in unverhältnismäßig stärkerer Weise eingefügt, als ihm
der andere verbunden ist, d. h, die Idee der Politik ist nicht nur nicht als Ziel
und Richtungspunkt unserer Gedanken beachtet, sondern wird und nutz aus Lebens-
notwendigkeit heraus mißachtet werden. Das aber ist unbedingt zuzugeben, daß
in der inneren Politik, einer Gemeinschaft, sei es in der wirtschaftlichen, der
sozialen, der kulturellen, parteipolitischer und auch der nationalen (letztere, kommt
sonderlich für Gemische-Nationalstaaten in Frage) mehr als bisher der versöhn¬
liche Gesichtspunkt der politischen Idee der reinen Gemeinschaft Geltung gewinnen
müßte. Letzteres wird aber erst dann in Erfüllung gehen können, wenn nicht
allein eine tiefreichendc soziale und politische Erziehung des Volkskörpers durch¬
geführt wird, sondern vor allem gesunde Lebensbedingungen für den einzelnen
geschaffen werden, die es zulassen, daß der wahnwitzige Wettkampf um den gewinn¬
bringendsten, klingenden Lohn der Arbeit abgeschwächt wird von einer Ablösung
dieses letzten Arbei'tswerters, des Geldes, durch den gleicherweise lebengewährenden,
wie unwägbar wertvollen Ertrag der natürlichen Arbeit eines Volkes, die Er¬
trägnisse der Landarbeit, d. h. Lurch eine immer mehr einsetzende innere Kolonisation
und einen Abbau unserer, auf Befriedigung zivilisatorischer Bedürfnisse aus-
gehenden, Uberbedarf erzeugenden Industrialisierung.
Also auch hier, auf dem Gebiete der inneren Politik, obwohl mit weniger
Einschränkung, ist das Ergebnis, wenn nicht Untergang, Lebensverzicht eines
großen Teiles der Bevölkerung eintreten sollen, daß die praktische Durchführung
dieser wissenschaftlichen Grundlegung ohne schwerste Schädigung des sozialen
Körpers der jeweiligen Politik eine Unmöglichkeit ist.
Das Ergebnis unserer Untersuchung ist demnach voll schmerzlicher Resignation.
Die Grundlagen einer wissenschaftlich geleiteten Politik sind wohl wissenschaftlich
erfaßbar, Politik kann wohl als Wissenschaft gelten und die Allgemeingültigkeit
der gefundenen Idee kann nicht geleugnet werden,, aber diese Idee' der Politik als
Wissenschaft ist nicht anwendbar, darf z. Zt. nicht Wirklichkeit werden.
Der Weg. der unter den Richtzeichen der Idee einer Politik zu gehen ist.
ist der, eine immer weitere Durchdringung der inneren Politik in einer politischen
Handhabung im Sinne unserer politischen Idee zu versuchen. Vielleicht ist dann
der Tag einstmals zu erhoffen, an dem es auch möglich sein wird, die äußere
Politik etwas nach dem Grundsatze der politischen Idee zu handhaben. Das wird
dann der Fall sein > können, wenn innerhalb aller einzelnen politischen Gemein¬
schaften,, in den einzelnen Staaten, die politische Idee als maßgebender allgemein¬
gültiger Zielpunkt der praktischen Anwendung anerkannt würde. > ^
Somnier 1917
haben die große Güte gehabt, mir drei Tage für die Überlegung zu gönnen, ob
ich gegebenenfalles, sofern ein Ruf der Krone an mich ergehen sollte/bereit sein
würde, das Amt des Reichskanzlers zu übernehmen.
Nachdem ich zwei Tage und zwei Nächte in meinem Gewissen schwer ge¬
rungen habe, darf ich mich heute beehren, Euere Durchlaucht verehruugsvoll'zu
bitten, mich gütigst außer Betracht lassen zu wollen. Mein Entschluß steht un¬
widerruflich fest, und ich würde es mit größtem Tant empfinden, wenn Euere
Durchlaucht mir die Ehre antun wollten, die Motive meiner Ablehnung wohl¬
wollend zu würdigen.
Vor allem habe ich mich gefragt: ist es nicht meine Pflicht, eine Berufung,
sei es welche es wolle, ohne weiteres anzunehmen,, die Pflicht eines deutscheu
Mannes und treuen Dieners seines Kaisers? Doch ich gelangte aus alleu Er¬
wägungen heraus zum Schluß, daß es im Gegenteil meine' unverbrüchliche Pflicht
sei und sein müsse, Verzicht zu leisten.
Seit über dreißig Jahren habe ich in den verschiedensten Stellungen als
Beamter Dienste geleistet, habe manche Erfahrungen gesammelt, auch manche
Erfolge gehabt, und ich darf ohne Überhebung sagen, daß ich die Gebiete, auf
denen ich tätig war, durchaus beherrschte. Ich bin eine „Intelligenz" und ein
„tüchtiger Beamter". Mein Ehrgeiz strebte nie nach einem höheren Ruf; denn
ich kenne die Grenzen meiner Befähigung.
Der Reichskanzler muß eine überragende, parlamentarisch und diploma¬
tisch geschulte Persönlichkeit sein, ein Staatsmann. Das alles bin ich nickt und
kann es niemals werden. Hierzu fehlen mir alle Voraussetzungen. Ich habe
mich niemals mit auswärtiger Politik abgegeben. Mit innerer Politik! stets nur
in meinem eng begrenzten Ressort. Parlamentarisch bin ich ungeschult. Für
einen Staatsmann fehlt mir der weite Blick. Ich beherrsche kein einziges der
dem Reichskanzler zustehenden Gebiete. Ich wäre in allem auf die Kenntnisse
und das Glück meiner Mitarbeiter angewiesen und müßte mich mit meinen Ent¬
scheidungen auf sie einstellen, mich mit dem Vortrag ihrer Ausarbeitungen vor
dem Reichstag und so weiter begnügen und mit der Repräsentation, zu der ich
am allerwenigsten -der Mann bin. Ich bin, dies weiß ich, kein überzeugender
Redner und keine Persönlichkeit von suggestiver Gewalt, sondern ein trockener
Bureaukrat, der in so langer Tätigkeit am grünen Tisch alle die Maßstäbe nie¬
mals kennen gelernt hat, die einen: weitausschcmenden Staatsmanne nötig sind.
Nun haben Euere Durchlaucht gütigst zu erkennen gegeben, daß es ins¬
besondere die in meinen bisherigen Dienststellen bewährte Energie und Festigkeit
sei, die mich für das Amt des Reichskanzlers besonders vergeeigenschaftet er¬
scheinen lassen.
Demgegenüber wollen Euere Durchlaucht gütigst mir den Hinweis ge¬
statten, daß es nicht schwer ist, Energie und Festigkeit zu entwickeln in einem
Ressort, das nur Regierende und Regierte kennt und Widersprüche und Jnkon-
oenienzen einfach durch Verordnungen und andere Willensakte aus der Welt zu
schaffen vermag. Der Reichskanzler dagegen hat mit der Krone, mit den Bundes¬
regierungen, mit dem Reichstag, mit dem preußischen Abgeordnetenhaus, mit der
Obersten Heeresleitung, mit zwei Kabinetten, mit dem Kriegsministerium, mit
den Getteralgouverncuren der besetzten Gebiete, mit den Parteien, mit den Mehr¬
heiten, mit den Minderheiten, mit dem Zuge der Zeit, mit der Presse, mit all
dem Verworrenen und Ungeklärten zu rechnen und sich abzufinden, das der Krieg
an die Oberfläche gebracht hat, und außerdem mit den Neutralen, mit dem
Papst, mit den feindlichen Mächten, nebenbei auch mit tausend Imponderabilien.
Daß auch nicht der geringste Bruchteil der vom Reichskanzler zu lösenden Pro^
bleue mit der Formel „Energie und Festigkeit" abgetan werden kann, darüber
werden Euere Durchlaucht nicht im Zweifel sein. Für diese Aufgabe ist nur ein
Vollmensch tauglich. Das bin ich nicht; ich bin ein Bureaukrat. Und mehr noch:
ich bin ein positiv gerichteter Christ.
"
Man kann Wohl „Christ und Staatsmann sein. Aber ein überzeugter
gläubiger Christ, ein Bekennn zur Gotteskindschaft, ein Propagator christlicher
Lebensführung, der selber Christi Lehre lebt, der :se allen denen gegenüber, die
sich nicht von diesem leiste leiten 'lassen, als Geschäftsmann unterlegen. Auch
von diesem Standpunkt aus bin ich zum Reichskanzler nicht tauglich.
Indem ich zu vertrauen wage, daß Euere Durchlaucht mir Ihr mich be¬
glückendes Wohlwollen erhalten, benutze ich auch diese Gelegenheit, Euerer Durch¬
laucht die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung und Verehrung zu
geben, womit ich die Ehre habe zu fein
Herbst 1917
Ob eine Anfrage an mich gerichtet werden dürfe? Soll dieser Kelch wirk¬
lich nicht an mir vorübergehen? Kann ich als deutscher Patriot vorweg Nein
sagen? Ist es nicht wenigstens meine Pflicht, zu hören, was man will und welche
Möglichkeiten sich eröffnen zur Erfüllung des Gebotes der Stunde?.
Wenn ich Ja sage, bin ich schon gebunden. Man «will nicht meinen Rat,
sondern die Einsetzung meiner Person.
Ich stehe mitten im achten Jahrzehnt meines Lebens. Bei solcher Be-
tagung säße ich schon längst nicht mehr im Ministersessel, wenn Frieden wäre.
Doch es ist Krieg, und ein jeder hält durch, so lange er auf seinem Platze etwas
nützen kann.
Gelassenheit, Lebenserfahrung, Geschäftskenntnis, Menschenkunde, For¬
men, Ruf, Autorität, über mehr brauche ich für mein Amt als Ministerpräsident
eines großen Bundesstaates und kleinen Königreiches nicht zu verfügen. Ich bin
umgeben von Kollegen und Mitarbeitern, die ich kenne, die mich kennen, die mich
stützen, die mein Gedächtnis und mein Wille sind. Denn am Gedächtnis und am
Willen beginnt's zu hapern. Ich bin wie der Seniorchef eines großen wohl-
gefesteten 'Handelshauses, dem die Juniore» und Bevollmächtigten zur so¬
genannten Entscheidung respektvoll Dinge vortragen, für die sie bei mir Inter¬
esse vermuten, oder für deren selbständige Erledigung sie die Verantwortung
nicht übernehmen wollen oder formell nicht dürfen.
Und nun, mein lieber und verehrter Freund, soll ich gefragt werden, ob
ich auf meine alten Tage auf den Spuren von „Onkel Chlodwig" wandeln und
— vest-isla tsrrsnt. — der sechste in der Reihe der Bismarck-Nachfolger zu werden
mich unterfangen wolle.
Solche Anfrage hätte ebenso viel Sinn, nimm mir meine Offenheit nicht
übel, wie die an den betagten und behäbigen Chef einer im Erfolg blühenden,
mit seidenen Schürzen handelnden Provinzialfirma, ob er nicht eine Übersee¬
ausfuhr für eiserne Träger einrichten und leiten wolle.
Nun sagst Du, ich sei der gewiesene Mann. Einen anderen wisse man
nicht. Ich müsse!
Vielleicht bin ich unter den Blinden der Einäugige. Ist man so genügsam
geworden? In dieser schweren Zeit braucht das Reich einen vollsinnigen Mann,
einen Kapitän, der allen Ballast, seien es chinesisches Porzellan, abgestandene Be¬
griffe, eingefleischte Vorurteile oder andere Kostbarkeiten, über Bord wirft, ohne
blinkende Zähre, ohne Lohengringestus. Schlichtweg und ohne Umstände über
Bord wirft, nicht sich abringen läßt.
Solch einen Menschen findest Du allerdings nicht unter denen, die bisher
uns Minister und Kanzler geliefert haben. Unsere versandete und sterile Bureau¬
kratie bewältigt mit Ach und Krach Tagesaufgaben; mehr kann sie nicht. Wer
in der defekten Korkweste stets nah am Versaufen ist, wie mag der Brücken und
Dämme bauen? Alls dem Mandarinentum, das nach Pfauenfedern schielt,
kommen die Männer nicht, die wir brauchen.
. Jetzt ist in der Hecke mal wieder ein Loch. Ich soll mich mit dem Rücken
davor setzen. Dafür bin ich zu gut. Es ist nicht die Zeit, zu si-inter. Die Stunde
gebietet einzureihen und aufzubauen. Dafür bin ich zu alt und zu stumpf.
Ich kann reden, sehr klug, sehr weise, ober ich kann nicht handeln. Der Mann,
den ich ersetzen soll, hat es auf hundert Tage gebracht. Mir würden vielleicht
dreihundert oder vierhundert beschieden fein. Dreihundert oder vierhundert zu
viel kostbare Tage, die ungenützt verrinnen". Diese Verantwortung kann ich nicht
übernehmen vor Gott, vor der Geschichte, vor mir selbst.
Derohalben, mein lieber Freund: Abgekehrt!
November 1918
Wirklich sehr nett von Ihnen, meiner so gütig zu gedenken. Na, ich kann
es ja mal auf ein paar Wochen probieren, ob die schöne Kammerrede, die mir
mem Freund Johannes Müller zurecht gedeichselt hat, mich über Wasser halten
wird. Jedenfalls -wird er mich nicht im Stich lassen. Wenn Not an Mann geht,
habe ich noch eine kleine Sammlung prächtig wirkender Stichworte.
Denken Sie wirklich, mein bester pio^ssssur, daß ich Ihnen so schreiben
würde? Davon bin ich weit entfernt. Ich setze meinen Ruf und meine Grund¬
sätze weder nach links noch nach rechts aufs Spiel.
Teilen Sie Ihren Freunden mit, daß sie ein für allemal auf mich ver¬
zichten müßten. Mag ein anderer Fiasko machen!
SWcum man ein Jahr lang unter Norddeutschen und in Berlin gelebt
hat, wird einem gefühlsmäßig deutlich, wie wenig sich trotz funfzig-
jährigen Zusammenlebens in einem Reich der Süden und der Norden
kennen; und es erscheint einem, beiläufig gesprochen, dabei als eine
Utopie, die Verständigung - unter den Völkern von einem besseren
Sich kennenlernen zu erwarten. Völker können sich gar nicht kennen
fernen; und soweit sie es tun, trägt das zum Sichvertragen und Sichlieben noch
lange nicht bei. Der norddeutsche stellt sich uns gegenüber wie der Erwachsene
dem Kinde; er muß uns die Zusammengehörigkeit konzedieren, aber er ist im
Innersten davon durchdrungen, daß unser Tun ein Spielen ist, und daß das
wirkliche Leben nur im Norden gelebt wird. Wir vom Süden umgekehrt sind
dadurch einigermaßen in die Rolle von Primanern gegenüber dem Lehrer hinein¬
gedrängt worden; wir sind uns unseres Eigenlebens und seines besonderen Wertes
sehr wohl bewußt, aber wir sehen vor uns einen Stärkeren, der dieses Leben
nicht so recht gelten lassen, es vielmehr in Modelle zwingen will, die wir als uns
nicht gemäß fühlen müssen.
Das alles ist in den Friedensjahren zurückgetreten; der Druck als unab¬
änderlich angesehener Verhältnisse kann ja wie eine Hypnose den sozusagen geistigen
Körper eines Volkes in den ungewöhnlichsten Stellungen festhalten — solange
festhalten, daß die Verrenkung als Natur erscheint. Aber lassen wir die Hypnose
aufhören, und die senkrecht emporgereckten Arme fallen nieder; so hat die Um¬
wälzung in dem Kriege und nach dem Kriege den Bann gelöst, unter dem der
alte Partikularismus stille gelegen hatte, und heute erhebt der Totgeglaubte in
nie wieder für möglich gedachter Kraft sein Haupt.
Das ist in der Tat der überwältigende Eindruck, den in diesen Tagen jeder
haben muß, der mit Verständnis im Süden hört: der süddeutsche Partikularismus
ist wieder geboren. Er ist nicht mehr bloß eine unschädliche Stimmung von
Bierbankphilistern von Tuntenhausen und Wurmlingen, sondern er hat die brei¬
testen Kreise des Volkes, der Führung, der Wirtschaft ergriffen. Er wird ganz
zweifellos die zum größten Teil norddeutsch-sozialistischen Männer fügsam machen,
die die Revolution im Süden in die Wege geleitet und eingeführt haben. Und
er wird aus Stimmung zu politischem Wollen, zu einer ernstesten Gefährdung der
deutschen Einheit werden, wenn — und wir scheinen schon nahe davor zu stehen —
ihm politische und wirtschaftliche Bedürfnisse des,,^ Südens eine feste Grund¬
lage geben.
Die Ausgangspunkte des süddeutschen Partikularismus sind, wenn man
auf einen längeren geschichtlichen Zeitraum zurücksieht, in den einzelnen Teilen
Süddeutschlands nur teilweise die gleichen. Es fällt auf. daß die Sachsen, deren
Partikularismus sonst nicht der kleinste war, diesmal ziemlich unitarisch kommen,
und daß die separatistischen Wünsche fast nur in den Gebieten laut werden, die
vor zweitausend Jahren unter römischer Herrschaft gestanden haben; es fällt auf,
aber ich gestehe, daß ich eine Folgerung daraus nicht herleiten kann. Denn daß
diesen Gebieten von damals her eine höhere oder gemeinsame Kultur zugesprochen
wäre, wird sich doch nicht behaupten lassen. Denn ihre weiteren Schicksale waren
denn doch lange Zeit hernach recht verschieden.
In Bayern ist der Partikularismus fortlaufende Tradition; schon unter
den alten fränkischen Königen, und immer wieder unter den Kaisern bis zu der
Stauferzeit haben die Bayern ein Eigenleben zu erzwingen verstanden und, oder
wenigstens immer wieder auch mit schweren Opfern angestrebt. Und später
waren die Bayern bis zum Ende des Reichs die einzigen unter den Süddeutschen,
die dauernd große Politik gemacht haben, während sonst im Süden der Sumpf
übelster Kleinstaaterei stagnierte. Nimmt man dazu, daß das Land seit 1180
unter der gleichen Dynastie gestanden hat, und daß dadurch die Assimilation der
dem Kernlande zuwachsenden, zum Teil recht fremdartigen Stücke sehr rasch und
sehr gründlich erfolgte, so ergibt sich das Bild einer einheitlichen geschichtlichen
Individualität, deren Partikularismus unter jedem Aspekt verständlich ist.
Die anderen süddeutschen Staaten find — teils mehr, teils minder, alle aber
überwiegend — unnatürliche Gebild!-, die der napoleonische Sturm um einen
kleinen 'Kern zusammengeblasen hat. Keiner von ihnen konnte in seinen Grenzen
vor 100 Jahren ein dynastisches. Staats- oder sonst ein Zusammengehörigkeits¬
gefühl vorzeigen: sie sind auch heute noch konfessionell und in den Dialekten in
sich selbst nichts weniger als einheitlich. Was sie trotzdem zusammenschweißte
(so fest, daß ihre ganz willkürlichen Grenzen auch die jetzige Umwälzung über¬
dauern dürfte), das waren — eine außerordentlich lehrreiche Tatsache — die im
Verhältnis zu ihrer deutschen Umwelt ungemein freiheitlichen Verfassungseinrich¬
tungen, mit denen sie fast unmittelbar nach ihrer Entstehung begabt wurden und
die seither in ununterbrochenem 'Fortschritt weitergeführt wurden; das liberale
„Musterländle" Baden ist ja sprichwörtlich, steht aber längst nicht allein. Ähnlich
wie wir das in Amerika sehen, floß aus diesen Zuständen ein gewisser bürger¬
licher Stolz („ve are in a rres countr^"), floß eine- gewisse demokratische Grund¬
stimmung, nicht so sehr in den staatsrechtlichen Formen (dem weniger wichtigen),
als in der Gesinnung von Mensch zu Mensch, von Bürger zu Staat und Re¬
gierung. Wozu noch beigetragen haben mag, daß sich das ganze öffentliche Leben
im Dialekt abspielt und die Scheidung zwischen der Sprache der Herrschenden und
der Bevölkerung, wie sie im niederdeutschen Sprachgebiet die Regel bildet, dem
Süden unbekannt ist und monströs erscheint.
Die zuletzt geschilderte Entwicklung ist in Bayern gleichlaufend vor sich
gegangen; mit dieser Einheitlichkeit der Grundstimmung sind die Süddeutschen
1870 in das Reich eingetreten. Die innere Annäherung machte nach Überwindung
der ersten Schwierigkeiten zunächst rasche Fortschritte; aber etwa von Beginn des
neuen Jahrhunderts an setzte eine Gegenströmung ein, deren letzte Ursache ich in
der preußischen Wahlrechtsfrage erkennen zu müssen glaube. Das ausführlicy zu
begründen, würde zu weit führen; es sei nur darauf hingewiesen, daß im ganzen
Süden der Adel weder wirtschaftlich noch politisch eine irgendwie ins Gewicht
fallende Rolle spielt, und daß daher die ausschlaggebende Stellung des preußischen
Kleinadels in Preußen und damit im Reich, wie sie das preußische Wahlrecht
garantierte, dem Süddeutschen (auch dem Konservativen) unsympathisch war und
unwürdig vorkam, umsomehr, als sich im „Junkertum" neben vielen tüchtigen
doch auch gerade die minder-liebenswürdigen Züge des Preußentums in teilweise
recht aggressiver Weise verkörpert fanden. Daß der Instinkt des Südens, der
dies nicht den „Junkern", sondern den „Preußen" im allgemeinen zurechnete,
damit nicht so ganz im Unrecht war, beweist die Gegenwart.
Nun kam der Krieg. Soweit es sich um die Kämpfer draußen handelte-
hätte er, trotz nicht immer ganz unbedeutender Häkeleien unter den Truppen der
einzelnen Stämme, sicher letzten Endes die Einheit nur gestärkt; die entscheidenden
Fehler wurden auch in diesen Dingen in der Heimat gemacht. Die vollendete
Kopflosigkeit der militärischen Bürokratie gegenüber der Tatsache eines nicht bloß
vierteljährigen Krieges führte zu der bekannten Konzentration der Kriegswirtschaft
und vor allem der Kriegs auftrüge in Berlin; es drohte dahin zu kommen, daß
die ganze ungeheure Vermögensumwälzung, die die Kriegsgewinne mit sich
brachten, fast ausschließlich dem Norden zugute kam, während an den Menschen¬
opfern und Geldkosten der Süden ebenso trug wie der Norden. Ganz soweit tst
es ja nun nicht gekommen; ober es bedürfte langer Zeit und unendlicher und
verbitternder Kämpfe, um eine einigermaßen gerechte Verteilung der Kriegsanf-
träge herbeizuführen/ Und die Tatsache, daß so gut wie alle Witschaftszentralm
in Berlin vereinigt waren, mit allen Schwierigkeiten und Reibungen und unver¬
meidlichen Zurücksetzungen, blieb.
Noch tiefer grub sich in die öffentliche Meinung die Tatsache ein, daß in den
ersten Zeiten der beginnenden Ernährungsschwierigkeiten die Rationierung (wie ich
aus eigenen Erfahrungen begründen kann) z. B. in Württemberg und Baden viel
früher und strenger durchgeführt wurde als im Norden; und wie dann die Ver¬
hältnisse sich umkehrien und für den Norden die auch bei uns anerkannten schweren
Tage begannen, da wurde dies durch die alsbald einsetzende außerordentlich preis¬
steigernde Hamstertätigkcit der Norddeutschen überkompensiert. Und dann begann
mit der zunehmenden Zermürbung der Nerven das große Schimpfen, das sich bei
also gut vorbereiteten Boden (vielleicht unter Nachhilfe von außen) ganz von selbst
gegen die „Preußen" richtete; daß „uns die Preußen den Krieg eingebrockt hoben",
ist infolgedessen eine weitverbreitete Überzeugung.
In diese Lage hinein kam die Revolution. Sie war wohl einheitlich über
dos ganze Reich hinweg vorbereitet und mußte daher — bei der gleichfalls überall
gleichgearteten Stellungnahme der alten Gewalten — zunächst zu den gleichen
Wirkungen führen. Aber dann zeigten sich sogleich die Unterschiede. Schon die
Form des Abgangs der Monarchen war vor allem in Württemberg, Baden und
Hessen, aber auch in Bayern, eine unvergleichlich würdigere; aber noch wichtiger
war, daß nun die oben gekennzeichnete demokratische Grundstimmung der Süd-
deutschen gerade in den wichtigsten Stücken wirksam wurde. Nirgends ist bei uns
länger als für ein paar Stunden das bürgerliche Element ausgeschaltet worden;
dann gelang überall die Zusammenfassung/ aller der neuen Lage irgendwie zu¬
gewandten Kreise und damit eine unerschütterliche Verankerung der von der breitesten
Allgemeinheit als wünschenswert erfühlten Neuerungen im Bewußtsein und Willen
des ganzen Volkes. Daß bis jetzt im Norden die Revolution den genau entgegen¬
gesetzten Weg gegangen ist, daß insbesondere der Groß-Berliner Arbeiter- und
Soldaten-Rat in sachlich völlig unberechtigter Weise und in einer an nichts mehr
als an Oloenburgiana erinnernden Form die Leitung des ganzen Volks an sich
gerissen hat und sich vorerst nur unbedeutende Zugeständnisse sichtlich ungern
abringen läßt, daß im Norden der Einfluß der Spartacusleute, von denen kein
Süddeutscher etwas wissen will, sich gegenüber der schwach« der Volksbeauftragten
immer breiter macht — das hat im Süden nach all dein Vorangegangenen vollends
verheerend gewirkt. Uns erscheint die Forderung nach sofortiger Einberufung der
Nationalversammlung als das schlechthin Selbstverständliche; wenn die norddeutschen
Kreise, die ihre Hinausschiebung wollen, sich noch weiter durchsehen, dann bedarf
es nur eines kleinen Wirth der Entente, nur der Erklärung, daß man bloß mit
einer vom ganzen Volk in ordentlichen Wahlen bestätigten Negierung Frieden
schließen werde, damit die Volksstnmnung im Süden die dortigen Regierungen,
selbst wenn sie innerlich widerstrebten, zum Abschluß eines Sonderfriedens auch
um den Preis der Aufgabe der Reichseinheit unwiderstehlich zwingt.
Es Hot keinen Sinn, bestehende Gefahren dnrch Leugnen aus der Welt
schaffen zu wollen: der Norden, der 1870 die Einheit des Reichs geschaffen hat,
ist im Begriff, sie zu zerstören, wenn er für die politische Eigenart und die wirt¬
schaftlichen Bedürfnisse des Südens (und eines großen Teils des Westens) nicht
im letzten Augenblick noch etwas anderes als papierne Beschlüsse findet. Wir
Süddeutschen wissen genau, daß auch ein großer Teil, vielleicht die Mehrzahl
unserer norddeutschen Brüder, denkt wie wir; und es darf auch gesagt werden, daß
selbst heute noch der Überzahl von uns jede Trennung bitter schwer fiele. Aber
wenn im Norden die andere Richtung siegreich oder auch nur unbesiegt bleibt,
dann wnd auch das beste Wollen der Reichösreunde im Süden über die Gewalt
der Volksstimmung und der Tatsachen nichts vermögen.
lP,MWt i,,M^«i^<,
G^UM.^'
WWGcum Wir einmal versuchsweise Literatur mit Schrifttum übersetzen
sollen, so erhellt sofort, daß der Ausdruck erzählende Literatur
ein Widerspruch in sich ist. Denn „erzählt" wird, wenn wir das
Wort in seiner natürlichen Bedeutung auffassen, mündlich und
vor Zuhörern, während Schrifttum Leser voraussetzt. Tatsächlich
wird man zu gewissen Zeiten der Dichtungsgeschichte die erzählende
Literatur als Entartung aufgefaßt haben können, wie zu andern die unge-
sungene Lyrik und das Lesedrama. Alle drei setzen eine bedeutende, sozusagen
naturgewachsene Entwicklung voraus, zugleich aber ein Publikum, das sich von
den 'gewissermaßen natürlichen Gepflogenheiten der Dichtung losgemacht hat,
nicht mehr in Gemeinschaft hört, nicht mehr singt, nicht mehr anschaut, sondern
sich zurückzieht und liest. Diese Entwicklung gibt zwar dem Künstler eine große
Menge anderer,und neuer Ausdrucksmöglichkeiten (Umfang, Verknüpfung, Be¬
schreibung, Schilderung, Analyse usw.), belade dafür aber die Gattung, auch bei
der Lyrik, wo man es vielleicht am wenigsten zuzugeben geneigt sein wird, mit
einem eigentümlichen Zwittercharakter, den sie nie wieder losgeworden ist und der
das kritische Einstellen ungemein erschwert.
Weswegen lesen wir erzählende Dichtungen? Zunächst aus demselben
Grunde, aus dem man sich früher erzählen ließ: zur Unterhaltung vor allem,
danach auch zur Belehrung. Die Anregung der Phantasie, die neue Gestalten
sieht, oder sich an alten erfreut, vom Verlauf einer Handlung gespannt wird,
von Geschehnissen erheitert oder gerührt, die Erweiterung des Gesichtsfeldes,
Klärung und Formung der eigenen Lebenseindrücke durch bestimmte Formeln
und Typen, das etwa sind die hauptsächlichsten Reize, die wir vom Buche fordern.
Damit ist aber zugleich gesagt, daß das gleiche Buch verschiedenen Lesern viel
oder wenig bedeuten kann und daß eine nur am Formaten geübte Kritik weder
dem Buche noch den Lesern ganz gerecht wird. So mancher wird auch in einem
schlechten oder minderwertigen Buche eine Fülle der Spannung, der Bereiche¬
rung oder irgendwie des Genusses finden, und mancher ein gutes Buch als lang¬
weilig oder interesselos beiseite legen. Denn leider sind ja die Zeiten, da der
Schriftsteller oder Dichter für einen in sich abgeschlossenen Kulturkreis schuf, sei
es für einen ritterlichen Adel, für höfische Humanisten, für ein wohlhabendes
mittleres Bürgertum, sür ein bestimmtes großstädtisthes Theaterpublikum oder
für das Volk, mit der zunehmenden Verwischung der Standesgrenzen und unter
dem nivellierenden Einfluß der allgemeinen Bildung vorbei, und wenn auch
einige große Verleger heute noch immer mit bestimmten irgendwie gleichmäßig
vorgebildeten Schichten des Publikums rechnen, die Dichter haben das sichere
Gefühl für ihre Wirkungsmöglichkeiten vielfach zum Nachteil eines reinen, in sich
zielbewußter Stilwillens verloren.
Das Volk selbst aber oder genauer das Lösepublikum hat es in der Hand,
die Qualität seiner Schriftsteller durch Boykott der Schlechten zu verbessern,
eine Pflicht, die unerbittlich auszuüben eine lange nicht genug beobachtete Ange¬
legenheit unseres Kulturlebens ist. Bequeme Kritiklosigkeit, leckerhaftes Tändeln,
unbesonnene Befriedigung primitiver Instinkte sündigen hier mehr, als uns sür
gewöhnlich zum Bewußtsein kommt. Der sogenannte naive Genuß mag etwas
sehr Schönes sein, gewöhnlich artet er jedoch in demoralisierende Denkfaulheit
und entnervende Opiatbetäubung aus. Der einigermaßen kultivierte Mensch
trinkt ja auch nicht aus schmutzigen Gläsern und fragt sogar bei seiner Schokolade
nach Qualität, er wird auch bei seiner Lektüre nicht auf grobstosfliche Spannung,
Sensation, Befriedigung seiner natürlichen Abenteuerlust oder augenblicklichen
Sucht nach geistigen Räuschen ausgehen, wenU diese Reize wider sein fein ausge¬
bildetes Stil- und Sprachgefühl gehen, wenn er ins Vage, Schlüpfrige, oder in
eine Welt nicht der Dichtung, sondern der Verlogenheit geführt wird. Einen
Tendenzroman wie Artur Dinters antisemitische, H. Se. Chamberlain gewidmete
„Sünde Wider das Blut" (Wolsverlag, Leipzig) wird ein gebildeter Mensch ab¬
lehnen, Meil die Wirklichkeit hier verzerrt und die künstlerische Gestaltung schwäch¬
lich ist, und ein Buch wie Frances Külpes „Blaues Feuer" (Georg Müller Ver¬
lag, München), in dem ein neugeborenes Kind seinen ersten „heiligen" Schrei
tut und die erschöpfte Wöchnerin spricht: „Begrüße deinen Sohn, Bater", in dem
der vom Lichtgott geschnellte Frühsonnenstrahl „neugierig" und ausgerechnet am
offenen Fenster eines Berghäusleins hängen bleibt, weil ein neugeborenes ihm
„furchtlos die Augen entgegenschlägt", in dem eine Seele, nirgends Halt findend,
im Leide zerflutet, vier Zeilen weiter über der Leidvolle sich in seinem Leide
bergen will wie in einem .Kastell, als redensartliche, gemeinplätzige Talmipoesie
schon nach den ersten zwanzig Seiten in die Ecke feuern. Die Feuilleton-Ware
H. Essigs („12 Novellen", Eckstein-Verlag, Lichterfelde) wird er als für die Buch¬
form zu leichtwichtig, R. Schickeles „Trimpopp und Manasse" (Verlag der
Weißen Bücher, Leipzig) als unnötig weitschweifig empfinden, aber ein Buch,
in dem die Jugendjahre des Helden von käuflichen Dirnenaugen „durchsickert"
werden und ein Kuhhirt sich äußert: „Es ist schön, ein Dichter zu sein, und
ich bin nur ein armer Hirtenknabe" (Max Glaß, Die stillen Wunder, Leipzig,
Verlag L. Stackmann) als überspanntes Gerede abtun, über die soziale Lage
det nordfranzösischen Bauern wird ein ernsthafter Leser sich nicht gerade durch
das künstlerisch ganz belanglose, verständig den vergeblichen Versuch der Grün¬
dung eines Bauernsyndikats darstellende Buch Emile Guillaumins „Ein Kampf
um die Scholle" (aus der Sammlung „Der Bauernspiegel", Eugen Diederichs,
Jena), sondern durch wissenschaftliche Unterlagen Zu unterrichten suchen, und
ein Werk wie des Holländers L. Couperus kalt gearbeiteter „Heliogabel" (Rütten
u. Loening, Frankfurt a. M.) mit seinen uninteressanter Menschen wird mit den
fleißig zusammengetragenen Kulturgemälden aus der spätrömischen Kaiserzeit
höchstens für den Historiker Reiz haben. Th. Birth „Novellen und Legenden
aus verklungenen Zeiten" und Karl Gjellerups „Goldener Zweig" (beide Quelle
u. Meyer, Leipzig) beruhen auf stilistischen Irrtümern. So dankenswert die
Absicht, uns antike Sagen- und Novellenmotive zurückzugewinnen und lebendig
zu machen auch ist, mit den Mitteln einer willkürlichen und weitschweifigen
modernen Dutzendromantechnik ist das nicht möglich, es gilt, sofern man sich schon
nicht aus einfaches sachgemäßes Erzählen beschränken will, nicht die Antike zu
banalisieren, sondern die Gegenwart mit Hilfe der Antike zu heroisieren. Ein
Sammetbändchen hingegen wie das Jahrbuch lübeckischer Dichter „Glückhafft
Schiff" (Bad Nassau, Lahn), wird bei aller Anspruchslosigkeit gerade wegen des
lokalgebundeuen Einheitstones dankbare Leser finden, .während Büchern wie
Charlotte Nieses „Tante Jda und die Andern" (R. Hermes Verlag, Hamburg),
Wilhelm Specks „Zwei Seelen" (Berlin, Martin Warneck) und Max Drehers
„Nachwuchs" (L. Staackmann Verlag, Leizig) .je nach dem Bildungsgrad der
Leser, denen sie in die Hände fallen, verschiedene Ausnahme beschieden sein wird.
Menschen mit ausgebreiteter Menschenkenntnis und fester Lebenserfahrung wer¬
den weder die fachlich belanglosen Menschen des flüchtig gearbeiteten Dreyer-
schen Buches, noch die nicht gerade oberflächlich, aber doch auch ohne tiefere
künstlerische Eindringlichkeit und ohne feste Formkraft gestalteten Vagabunden
Specks, noch die imLUten wie bösen Sinne Alltagsmenschen Eh. Nieses viel zu
sogen haben, aber alle drei Bücher sind doch wenigstens frei von Geschmacklosig¬
keiten, entstellenden Verlogenheiten und bombaftiischen Gemeinplätzen, und harm¬
lose und zumal jugendliche Gemüter werden an Eh. Nieses ehrlicher und schlich¬
ter Erzählungs- und Darstellungskunst, an Specks sich trotz aller Versuchungen
zu seelischer Reinheit durchkämpfendem Helden viele Freude finden und als
künstlerische Ewigkeitswerte oder Offenbarungen über Gott, Welt und Mensch¬
heit werden kaum die Versasser selber ihre Werke ansehen. Sachlich lebendiger,
durch ausgezeichnete Beobachtung des Sprechtons und eigentümlichen Dialekts
und der Volksart höher stehend ist Arthur Babilottes „König von Herrstadt"
(Verlag Fr. W. Grunow, Leipzig), der in ansprechender Weise das Leben einer
elsässischen Kleinstadt schildert. Hoch über all diesem und mit keinem der er¬
wähnten Bücher auch nur zu vergleichen, steht jedoch der neue große Roman von
Hermann Stehr „Der Heiligenhos" (S. Fischer Verlag, Berlin). Formale Be¬
denken entstehen auch hier. Die spröde Enge von Stehrs früheren Werken ist
jetzt freilich durch eine großzügige reifere Formengeoung ausgeweidet, aber doch
möchte man dem großen Dichter leinen nicht krittelnden, doch beratenden Mentor
zur Seite wünschen, der hier einen Satz klarer rundet, dort eine Episode zurecht¬
rückt, hier eine breite und unnötige Reflexion streicht, dort Wiederholendes zu¬
sammenpreßt oder qualmend Loderndes zu wie immer ungefügen, so doch leuch¬
tendem Feuer reinigt. Auch meint man zu spüren, daß der Dichter seinem Werk
bei der letzten Feile noch nicht ganz kühl gegenüberstand, in einige Figuren zum
Nachteil der anderen sich verliebt hat, und mancherlei stehen geblieben ist, was auf
Konzeptverschiebungen während der Arbeit deutet. Wäre Stehr ein solcher
Berater gegeben, so hätte er dieses Werk nicht als „Dank!" an seine Retter hinaus¬
gehen zu lassen brauchen, denn menschlich hat Stehr so viel zu sagen, daß er bei
reiner künstlerischer Arbeit, die ihm mehr aus innerer echt deutscher Überfülle,
denn aus gelegentlichem künstlerischen Versagen nicht durchweg zu gelingen
scheint, einer umfassenden und überzeugenden Wirkung gewiß sein kann. Das
ganze Westsalentum, wo es ans Rheinland stößt, lebt in dein Werke, mit unge¬
bärdigen, rätselhafter, abgrundtiefen Charakteren, mit Goldsuchern und Fanatikern
voll unbändigen Wahnsinns und tiefer Gottverfunkenheit, mit irren Bettlern,
neidischen Bauern und seltsamem Sektirer- und Blindenwesen. Es ist ein Buch
voll zartester Menschlichkeit und sichcrgehender Mystik, durchwirkt von einer aller¬
dings lyrischen, aber lautersten und lebendigsten Poesie, die in Anschauung und
Formung die glücklichsten, energisch sich einprägenden Griffe tut, für ernste Men¬
schen ein Buch von fesselnder und nachhaltiger Wirkung.
Nicht minder tiefsinnig, wenn auch im Wollen durchaus im Rahmen der
Novelle bleibend und durch äußerste Konzentration, strengsten, hier und da frei¬
lich zu Manier verengten Stilwillen und ironische Lebensbetrachtung nur ge¬
übten und nachdenklichen Lesern zugänglich ist Carl Sternheims „Posinsky"
(Berlin, Verlag Heinrich Hochstim). Indem nämlich dem Dichter das formale
Bedürfnis, der rein rhetorischen Unwirklichkeitspoeste mit ihrer metaphorischen
Betrachtungsweise Kampf anzusagen, zu einer Angelegenheit der Weltanschauung
wurde, erschuf er unter dem Einfluß der Beobachtung, wie während des Krieges
bei den Zuhausegebliebenen alle geistigen Fragen im öffentlichen und
privaten Leben tatsächlich und kaum versteckt den rein materiellen Nahrungs¬
mittelnöten nachgesetzt wurden, die Figur eines philosophischen Hamsterers, der,
allein seiner leiblichen Gedeihnis hingegeben, voll tückischer Schadenfreude zu¬
sieht, wie ein Schiller deklamierendes Schauspielerpaar bei sür derlei Erregun¬
gen unzureichender Nahrung in posierendem Idealismus zugrunde geht. Das
geistreichen Werkchen ist allerdings weniger eine Erzählung als die Umschreibung
eines Charakters, aber so sest und sicher geformt, daß man trotz der kalten Men¬
schenverachtung, die unausgesprochen hinter dem Ganzen steht, schon um der
vorzüglichen Arbeit willen, viel Freude an ihm haben kann.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann._
teuerlos schwankt das deutsche Reichsschiff auf den Wogen, erzittert
bis in die letzten Spanten von jedem Schlag, den ihm die an¬
stürmenden Wellen versetzen. Leck an mehreren Stellen, sinkt es
tiefer und tiefer, während keine Pumpen in Betrieb gesetzt werden
können, da die Besatzung sich um Führerschaft und Verwendung
der nachgevliebenen Vorräte streitet. Nach menschlicher Berechnung kann das
Schiff höchstens noch wenige Wochen oder gar nur Tage schwimmen, wenn nicht
Selbstbesinnung das Ärgste abwendet. Soweit ist es mit uns gekommen......!
Die Kop'losigkeit in Berlin ist vollkommen. Der sechsteilige Reichs¬
kanzler hat, wie Bethmann Hollweg, zwei Seelen in seiner Brust, eine bolsche¬
wistisch-revolutionäre und eine sozialistisch-reformerische. Haase begünstigt, ob
absichtlich oder unabsichtlich kommt auf dasselbe heraus, die Spartakusmänner
und sucht zu verhindern, daß das deutsche Volk zu Ruhe und Besinnung kommt;
Ebert, dem am Freitag, den 6.d.M. die Präsidentschaft von einer Kompagnie Soldaten
zum ersten Male angeboten ward, erschauert vor dem Gedanken, auch nur einen
Schritt mit bürgerlichen Parteien zusammen gehen zu sollen. Darum geschieht
nichlsl Gearbeitet wird nicht, wenn man von Solfs Klagebriefen an die Entente
absehen will, von regieren merkt man nichts. Die vortragenden Räte des Aus¬
wärtigen Amts können Reste aufarbeiten, die des Neichsamts des Innern schreiben
Noten an die Reichskanzlei aus Ernährungsrücksichten. In Gedankenarmut und
Feigheit brütet der sechsköpfige Reichskanzler über die Merkwürdigkeit der Tat-
sache, daß aufbauen schwerer ist, wie einreihen. Noch ein paar Tage so weiter
und die Maschine der Reichsregierung ist zertrümmert.
Die große innerpolitische Frage des Augenblicks ist, ob die reformsozialistische
Hülste des Reichskanzlers den Mut findet, die ihr von der Berliner Garnison
angebotene Hilfe anzunehmen und mit den SpartakusleuKn aufzuräumen, oder
ob sie, sich noch fernerhin der Diktatur des Vollzugsausschusses der Berliner
Soldaten- und Arbeiterräte unterwerfen will. Der ursprünglich achtundzwanzig
Mitglieder zählende Vollzugsausschuß ist inzwischen auf dreiundvierzig angewachsen;
er ist so etwas wie ein Regentschaftsrat, der sich dauernd automatisch verjüngt.
Wem es von seinen Miigliedern beifüllt, sich in aufbauende Arbeit zu vertiefen,
dem wird sofort ein ent'prechmd junger Nachfolger bestimmt, der eine gewisse
Gewähr dafür bietet, den Umsturz durch neue Melhooen vielseitiger auszugestalten.
Es gehört zum Befähigungsnachweis auch eine gewisse Virtuosität in der Ver¬
schleuderung von Staatsmitteln. Die Unterbringung von 8(X) Millionen Mark
im Zeitraum von zwei Wochen scheint, wie der Etat der Soldaten- und Arbeiter¬
räte zeigt, noch lange keine Rekordleistung zu sein. Herr Ebett könnte der ganzen
Venvirrung in Berlin mit einem Schlage Herr werben, wenn er die dreitausend
Unteroffiziere der Berliner Garnison als Negierungsgarde anerkennen und ent-
sprechend verwenden würde, die sich ihm am 5. d. M. zur Versügung gestellt
haben. Doch — man fürchtet sich dadurch der Reaktion in die Arme zu werfen.
Darum wird lieber gar keine Entscheidung getroffen. Man wartet die Entwicklung
ab und hofft wohl im stillen auf Engländer und Franzosen, die Ordnung schaffen
mögen, damit nur das deutsche Militär nicht wieder zu herrschen beginne.
In das Auswärtige Amt ist Herr Kautsky mit seiner Gattin ein¬
gezogen. Frau Kautsky hat gleich in den ersten Tagen ihres Erscheinens den
Nachweis dafür erbracht, daß nicht ihr Mann, sondern sie das Regiment führt.
Sie bestellt vortragende Räte und Direktoren, sie erläutert ihnen die Richtlinien
ilner Politik, sie ordnet die Einrichtung der Bureaus sowie des inneren Dienstes
an. Er, — er ist schweigsam dabei. Die toben Räte des Auswärtigen Amis
haben das Unwürdige, das ihnen zugemutet wird, natürlich begriffen. Sie haben
sich die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten doch wohl etwas anders ge¬
dacht, als sie dem Einzug Davids und Scheidemanns zujubelten. Nun sie den¬
noch ausharren, bringen sie dem Vaterlande Opfer, die sich in ihrer Schwere
windig allen den Opfern anschließen, die die Nation draußen in den Schlachten
und drinnen schon gebracht hat. Wer heute einen Blick in die Bureaus des Aus¬
wärtigen Amis zu werfen Gelegenheit hat, wird ein Märtyrertum finden, das
ans Herz greift. Aber wie lange kann die seelische Folter ausgehalten werden?
Es kann sich nur um Wochen handeln, und wenn Dr. Sols etwa gezwungen
werden sollte, seinen Posten, den er zäh unter Aufbietung aller Energie im In¬
teresse des Vaterlandes verteidigt, zu verlassen, können uns nur noch Tage von
dem Zusammenbruch des gesamten auswärtigen Dienstes trennen. Und — die
Herren Liebknecht, Haase, Elsner fordern, daß einer der ihren Solfs Platz ein¬
nehme, angeblich, weil ein Sozialist schneller zum Frieden kommen würde, wie
der „reaktionäre" Sols.
Schlimmer noch, wie im Auswärtigen Amt sieht es im preußischen
Kultusministerium aus, seit Adolf Hoffmann dort das Szepter führt. Herr
Hoffmann bleibt mit seinen Eingriffen nicht an der Oberfläche des bureaukratischen
Amtslebens; er greift der Nation ans Mark. Nicht anders kann die Wirkung
der Berufung des „Pädagogen" Dr, Wyneken in das Kultusministerium, dessen
Wirksamkeit als Gründer der „Freideutschen Jugend" und ihrer Zeitschrift „Der
Anfang" vor Jahr und Tag in den Grenzboten gewürdigt worden ist, bewertet
werden. Ein führender holländischer Sozialdemokrat, der bei der „Freideutschen
Jugend" seinen Sohn verlor, kennzeichnete das System Wynekens als „eine
Schweinerei"; mit siebzehn Jahren seien die Mädchen schwanger, die jungen
Barschen verseucht und entnervt. Zu diesem Urteil paßt, was Wyneken im „An¬
fang" sagt:
„Wir sind doch keine Schulreformer! Derartige Ausbesserungsarbeiten
können wir ruhig den Leuten vom Bau, den Wirklichen Geheimen Ober- und
Unterregierungsräten überlassen. Wir wollen die Schulrevolution. Wir wollen
die Schule abschaffen, d. h. sie von Grund aus umgestalten, daß sie etwas ganz
anderes, neuartiges darstellt, nämlich einen Sammelplatz für die Jugend."
Hierbei soll namentlich das Liebesleben eine Rolle spielen, deshalb schrieb
Herbert Blumenthal in der genannten Zeitschrift „Anfang":
„Wir übernehmen die Erotik mit allem Drum und Dran an Unkultur in
Bausch und Bogen, und wer da nicht mitgeht, verfällt der Mißachtung als ein
Quietist, ein Totschweiger, ein Feigling, ein Krüppel. Wir veranstalten Winters
und Sommers unsere Feste, die nur von uns und für uns sind, wi'' machen den
Tanz deutlich erotisch, wir flirten und lieben, wo wir nur können."
Dies alles soll erreicht werden durch die „freie Schulgemeinde", in der die
Lehrer wie die Schüler die gleichen Rechte haben, um sich auszuleben. Vom
Christentum als positiver Religion will die freideutsche Jugend nichts wissen.
Deshalb hieß es in dem Festberichte über dem freideutschen Jugendtag 1913 auf
dem Hohen Meißner:
„Das Altertum kaun uns nicht mehr die Kultur schlechtweg sein, so wenig
wie das Christentum die Religion . . . Euer Geist und Gemüt möchte nickt ge¬
bunden bleiben an die Vorstellungen und sittlichen Regeln einer einzigen Form
der Religion."
Der geistige Vater dieses Rummels, bemerkte die „Rhein- und Wied-
Zeitung". Wyneken, von Hoffmanns Gnaden jetzt vertragender Rat im Ministerium,
hat nun so überall in Deutschland seine Freunde in der studierenden Jugend.
Er versandte ja auch seinen „Anfang" vorsichtigerweise auf Wunsch unter Kuvert,
damit die Eltern nichts davon merken sollten. Unter seinen Anhängern befindet
sich auch ein junger Herr aus Neuwied, Paul Vogler mit Namen, der das Neu-
wieder Gymnasium mit dem Zeugnis der Reife für Oberprima verließ, um sich
privatim auf das Abiturium vorzubereiten, wollen wir einmal sagen. Er Hot eine
Schwester, die als technische Lehrerin am Neuwieder Lyzeum und Oberlyzeum
wirkt und ebenfalls die heutigen Bestrebungen Dr. Wynekens unterstützt. Ge¬
nannter junger Mann — er ist Heuer ganze 19 — neunzehn Jahre alt und selbst
unter dem demnächstigen Wahlrecht noch nicht wahlberechtigt, viel weniger gro߬
jährig — ist plötzlich, gewissermaßen über Nacht, etwas „Hohes" geworden: denn
er ist nunmehr Staatskommissar für Westdeutschland, um Material für den neuen
Ministerialrat Dr. Wyneken zur Schulreform zu sammeln.
Armes deutsches Volk.
Das deutsche Bürgertum steht allen diesen Erscheinungen des Zerfalls
recht eigentlich ratlos gegenüber. Die Parteizerklüstung ist größer denn je und
neue Splitterungen bereiten sich vor. Es scheinen lediglich wirtschaftliche Gesichts¬
punkte für die Parteibildung maßgebend zu sein und doch sind es vor allen
Dingen persönliche. Zu Tode gehen zunächst die alten liberalen Gruppen: die
nationalliberale und die freisinnige. Der Freisinn ist bereits in die von Alfred-
Weber und Theodor Wolff unter Mitwirkung einiger Herren aus der national-
liberalen Partei begründete Deutsche demokratische Partei aufgegangen; ihnen,
hat sich Herr Friedberg, zeitweilig deutscher Vizekanzler, angeschlossn, und damit
einen neuen Beweis für seine ungeheure Wandlungsfähigkeit gegeben. Der vom
Internationalismus noch nicht verseuchte Teil der Nationalliberalen sammelt sich
unter Stresemann in der deutschen Volkspartei, die in West- und Nordwestdeutsch-
land aber auch in Baden und in den östlichen Provinzen feste Grundlagen in
Stadt und Land findet.
„National belastet" — damit ist die Lage beim Bürgertum gekennzeichnet..
Jeder, der bisher mutvoll für nationale Ideale eingetreten ist, wird als reaktionär
verdächtigt und gilt als untauglich an der Gestaltung der deutschen Geschicke mit¬
zuwirken. Internationalismus ist für die Deutschen Trumpf, — internationale
Demokratie ist die Losung. Wer ein Herz für das deutsche Volkstum bekundet,,
gilt nicht nur als unmodern, sondern als gefährlich. So bestimmt es Theodor
Wolff. Was Polen und Dänen, Tschechen und Italienern ohne Widerrede zu¬
gebilligt wird, nämlich für ihre besondere nationale Kultur zu sorgen, ist dem
deutschen Volte verboten. Der Deutsche hat zu gehorchen: in Posen, West- und
Ostpreußen den Polen, in Schleswig den Dänen, im Elsaß den Franzosen, in
Berlin Herrn Theodor Wolff und seinem international-großkapitalistischen Klüngel.
Und wenn das Bürgertum nicht doch noch aufwacht werden wir es erleben, daß,
rote und goldene Internationale, d. h. die Scheidemann- und die Wolff-Mosse-
Parteicn sich zur Bekämpfung der nationalen Selbständigkeitsbestrebungen im,
deutschen Volke als regierende Partei zusammenschließen.
Was sollte und was kann geschehen? Noch können die bürgerlichen
Parteien in der Tat bestimmend in die Entwicklung der Dinge nicht eingreifen.,
Sie können weder auf die Straße gehen, um zu demonstrieren und sich mit dem
Pöbel der Spartakusgruppe herumzuschlagen, noch können sie eine bürgerliche
Regierung schaffen, die stark genug wäre, Ordnung zu bringen. Zum Regieren,
gehören folgsame Massen. Das Bürgertum hat sich diese Gefolgschaft aus der
Hand nehmen lassen durch die zersetzende Tätigkeit gerade der Kreise, von denen
es jetzt sein Heil erwartet. Der „Vorwärts" und die sozialdemokratische Partei,
haben in den großen gewerkschaftlichen Organisationen wenigstens den Anfang,
einer neuen Staatsunterlage geschaffen, das „Berliner Tageblatt" und die Demo¬
kraten haben nur zerstört ohne an, die Stelle des Alten etwas Neues zu setzen.
Die Diskreditierung der Armee, die Herabsetzung der männlichen Opferbereitschaft
in Heer und Marine und infolgedessen die Auflösung des größten Teils der
Armee ist, wenn man auch die Überlastung des Apparates in Rechnung stellt,
ein Ergebnis der Tätigkeit der Kreise um Theodor Wolff. Es ist darum Wahn¬
sinn, die demokratische Partei zum Träger der künftigen Wohlfahrt des deutschen
Bürgertums machen zu wollen. Diese Partei kann uns nur der Sozialdemokratie
ausliefern und mit deren Hilfe der Ausbeutung durch daS internationale mobile
Großkapital. — Wer wirklich zur deutschen Nation als Träger des deutschen
Volksstaates hält, wird gut tun, sich in den Kreisen zusammenzuschließen, wo es'
keine Schande ist, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen und das sind die
Deutsche Volkspartei mit ihrer liberalen und die Deutschnationale Volkspartei mit
ihrer konservativen Grundlage, Die Prüfungen werden noch einige Wochen
weiter gehen. Die Berliner Bevölkerung wird besonders zu leiden haben. Möge
die Provinz die Gelegenheit nützen, sich frei zu machen von Berliner geistiger
Bevormundung und selbst trachten, neue Parteigrundlagen zu schaffen.
s ist kein Zufall, daß die Lockerung des Besitzverhältnisses durch
das siegreiche Vordringen sozialistischer Grundsätze mit der
politischen Mündigkeitserklürnng der Frau zusammenfällt, denn
der Besitz ist der Orientierungspunkt für das soziale und
politische Machtverhältnis der Geschlechter gewesen, das infolge
größerer Erwerbsfähigkeit zugunsten des Mannes verschoben war.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die bessere körperliche Eignung des Mannes
für den Erwerb primitiver Gitter auf der ersten Entwicklungsstufe der mensch¬
lichen Gesellschaft der Anlaß gewesen ist, die ursprünglich bestehende Weiber¬
herrschaft zu brechen, die teils in der Mutterschaft, vor allem aber in der
größeren Bindung des Mannes durch seine Geschlechtlichkeit ihre Wurzel hatte.
Der Besitz wurde zu einem Äquivalent der Machte die die Frau in ältester Zeit
dank ihrer physiologischen Beschaffenheit: als Ziel männlichen Begehrens und als
geheimnisvoller Jungbrunnen der Menschheit, besaß, um allmählich in der
Gestaltung der menschlichen Gesellschaft zum ausschlaggebenden Faktor zu
werden und dein Mann die Herrschaft zu verbürgen. Erst im letzten Drittel des
vorigen Jahrhunderts hat die wirtschaftliche Emanzipation zahlreicher Frauen,
die in den Kampf um das Brot getrieben wurden und ihre Kraft zur Selbst-
erhaltung erwiesen, die durch die Geschichte geheiligten Vorrechte des Mannes
erschüttert. Aber erst jetzt, in der Morgenluft des Sozialismus sind sie
gebrochen, denn es sind weniger die liberalen Ideen der Gleichberechtigung aller
Menschen, als der Geist der Gemeinschaft, des sozialen Ausgleichs, des 'Getragen¬
seins des Einzelwesens durch die Gesamtheit, die die Frau auf die Höhe der
Gesellschaftsordnung heben. Fühlte sie sich stark genug infolge ihrer wirtschaft¬
lichen Emanzipation die politische Gleichberechtigung zu fordern, so wurde sie
ihr gegeben 'in der Erkenntnis, daß nicht der Besitz für die Einreihung in die
gesetzgebenden Faktoren ausschlaggebend ist, sondern die Notlage der Gesamtheit,
die nur durch den Willen und die Tat der Gesamtheit selbst behoben werden
kann. Nicht zuletzt sind es die Fragen der Bevölkerungspolitik, die der Frau die
Macht, die sie einst besaß, aufs neue in die Hände legen, denn es muß durchaus
unzweckmäßig erscheinen und einer gesunden Lebensauffassung widerstreben, daß
ureigenste Angelegenheiten des weiblichen Geschlechts, die aus dem Umkreis
privater Interessen herausgetreten sind, allein vor dem Forum der Männer
beurteilt und geregelt werden. Daß das Bevölkcrungsproblem in den nächsten
Jahren stark im Vordergrund der Erörterung und praktischer Lösunggsversuche
stehen wird, ist nicht zu bezweifeln, denn der Schaden, den unser Volkstum durch den
Krieg, in ersterReihe durch die unerhörte Hungerblockade genommen hat, wird erst
voll ermessen werden, wenn die friedliche Arbeit einsetzt und die durch Krankheit und
Tod gerissenen Lücken in der Allgemeinwirtschaft fühlbar werden. Die Gefahr
liegt vor, daß der Staat, dessen Allgegenwart wir immer stärker zu spüren
bekommen werden, in seinem Lebensdrange den Bannkreis überschreiten könnte,
der um das Individuum als Selbstzweck gezogen ist. Hier wird es die neue, im
Vollgefühl ihrer politischen Verantwortlichkeit erzogene Frau selbst sein, die
richtunggebend wirken wird und wirken muß. Und so sehen wir den Kreis sich
schließen: von der Machtstellung als Serualwesen in der primitiven menschlichen
Gemeinschaft schreitet die Frau über die Entrechtung durch ihre nicht völlig zu
überwindende wirtschaftliche Schwäche im Werdegang der sozialen Entwicklung
zurück zur Machtstellung durch die Mutterschaft innerhalb eines sozialisierten
Staates.
Es ist ein müßiges Beginnen jetzt über den Eintritt der Frau in das
politische Leben den Kopf zu schütteln. Der Beschluß ihrer politischen Gleich¬
berechtigung angesichts der Nationalversammlung ist gefaßt und wird durch die
Konstituante selbstverständlich nicht umgestoßen "werden, da sie selbst mit Hilfe
der Frau zustande kommt. Wir haben uns also mit einer gegebenen Tatsache
abzufinden. Immerhin verdient es festgehalten zu werden, daß eine nicht
unerhebliche Anzahl von Frauen wenige Monate vor Kriegsende gegen die
Gewährung des Mahlrechts schwer« Bedenken äußerte. Sie hatten damals in
einer Kundgebung darauf hingewiesen, daß breite Frauenschichten überhaupt
kein Interesse am Fvauenwahlrecht haben, daß ihre persönlichen Wünsche auch
ohne Stimmrecht erfüllt werden könnten, daß die Frau sich nicht für den Partei¬
kampf eigne und die urteilslose Masse durch das Wahlrecht der Frau ein
erdrückendes Übergewicht gewinnen .würde. Diese Frauen.waren sich auch
darüber klar, daß Sozialdemokratie und Zentrum, also diejenigen Parteien, die
infolge ihrer straffen Organisation einen überaus starken Einfluß auf die
Frauen auszuüben vermögen, in erster Linie Zuwachs erhalten würden, was,
naturgemäß ihrer Auffassung nach dem Staatswohl nicht förderlich fein könne.
Antworten auf diese Kundgebung von liberaler Seite sind nicht ausgeblieben.
Sie waren nicht schwer zu geben, denn die rechtsstehenden Frauen hatten den
Boden, von dem aus sie zu fechten gedachten, zu eng begrenzt, auch mußten jene
überzeugender wirken, weil sie statt in der Negation stecken zu bleiben, positive
Ziele wiesen und an die Stelle von Mißtrauen das Vertrauen setzten. Mit
Recht wurde von liberaler Seite an das Wort Jork von Martenbergs erinnert,
daß der Staatsmann das, was in der natürlichen Entwicklung der Zukunft liegt,
regeln und beherrschen und nicht zu verhindern suchen soll. Hierin aber lag der
Fehler aller konservativen Elemente, nicht nur bezüglich des Frauenwahlrechts,
sondern der Frauenbewegung überhaupt: sie konnten nicht regeln und beherrschen,
deshalb suchten sie zu verhindern. Gewiß nicht aus Feindseligkeit gegen die
Frau, vielmehr infolge einer gewissen Verschlossenheit gegen die Forderungen
der Zeit. Erst sehr spät, zu spat entschlossen sich die Konservativen zu
Konzessionen, jedoch nie zu dem mutvollen Bekenntnis, daß die Kraft der Frau
in ihrem schweren Existenzkampf, zu dem sie durch äußere Umstände gedrängt
wurde und der den Kernpunkt der Frauenbewegung ausmacht, durch Herkommen
und Vorurteil nicht im geringsten gebunden werden darf, daß sie im Gegenteil
geschützt und gefördert Werden muß auf alle mögliche Weise. Sie aber wollten
„das Weib" erhalten und töteten die Weiber. — Man wolle über die Hüter
überkommener Ideale nicht den Stab brechen. In der Dramatik der Ent¬
wicklung einer der wichtigsten sozialen Fragen möchten wir ihr Schwergewicht
nicht missen, aber die Folgen für die praktische Politik konnten nicht ausbleiben.
Heute sehen wir sie mehr als die anderen Parteien dazu verurteilt, um die Frau
zu werben. In aller Eile wird nunmehr das Interesse der Frauen für politische
Dinge, die man ihnen bisher fernhalten wollte, in Anspruch genommen,, sie
werden politisch gebildet, in wenigen Wochen soll nachgeholt werden, was in
Jahren versäumt wurde. Täuschen wir uns nicht über die Lage. Tatsächlich
werden die Sozialdemokratie und das Zentrum aus die große Masse rechnen
können, und zwar nicht nur um ihrer straffen Organisation, sondern auch um der
Werbekraft einfacher Formeln willen. Die Sozialdemokratie wendet sich an die
primitiven sozialen Instinkte der Mehrzahl ihrer Wähler, das Zentrum appelliert
ein > Gemütswerte, denen die religiöse Frau sich nur schwer entzieht. Breite
Schichten der bürgerlichen Frauen werden ins liberale, demokratische Lager
gehen. Sie sind dessen eingedenk, wo sie zuerst Verständnis sür ihre Forderungen
fanden. Mit Grauen erinnert sich manche Frau aus konservativen Kreisen der
furchtbaren Vereinsamung in ihrer angestammten Umgebung, als sich rhr die
subjektive Möglichkeit geistiger Entfaltung offenbarte und der ungestüme Drang
nach befreiender Tat die ihm gemäße Erfüllung nicht finden sollte. Der
Kampf der Frau war schwerer als irgendein anderer sozialer Kampf, nicht zuletzt
weil in ihm das Gift der Suggestion geistiger Minderwertigkeit in überreichen
Maße in Anwendung kam. Wer überwand, in dem klang die Verachtung für
die gesprengten Fesseln noch lange nach. „Links" war die Losung, wo individuelle
Freiheit auf dem Panier geschrieben stand. So kam die geistig rege Frau durch
ureigenstes Erleben, nicht etwa durch staatstheoretische oder politische Überlegung
zum Liberalismus, und sie traf hier mit der geistig Armen zusammen, die in der
Seichtheit radikaler Problemlösungen, wie sie der Liberalismus in großer Zahl
bietet, die ihr angemessene Nahrung sand. Es ist sehr beklagenswert, daß die
Mehrzahl politisch reifer, in Theorie und Praxis bewährter Frauen infolge der
Zaghaftigkeit -der, ehemaligen konservativen Partei in das flinke Lager gedrängt
wurde. Schon jetzt, bei der Vorbereitung des Wahlkampfes, macht sich ihr
Gewicht geltend. Ob die Rechte das zündende Wort für die Frau und die
geeigneten Persönlichkeiten, die es ihr künden könnten, finden wird? Mit dem
hörbaren Abrücken von der Sozialdemokratie ist es wahrhaftig nicht getan.
Positives verlangt die Stunde! Wird sie den Frauen sagen, daß es ganz und
gar nicht ihre Aufgabe sein soll, sich durch oberflächliche Lektüre und Vorträge
politisch zu „orientieren", mit stumpfen Zähnen in die Probleme der inneren
und auswärtigen Politik zu beißen, daß sie vielmehr hinabsteigen sollen in den
tiefen Schacht unseres Volkstums, das jetzt so schwer bedroht ist, und das zu
schützen sie berufen sind: sie vor allen — die Mütter des kommenden Geschlechts.
Nur von hier aus, durch die Erkenntnis der unendlichen Überlegenheit des Volks-
bürgertums über das Staatsbürgertum wird der wärmende Hauch in die Seele
derer dringen, die hilflos und schaudernd vor dem unendlichen Dafür , und
Dagegen der Probleme des öffentlichen Lebens stehen. Das Volkstum — wir
finden es überall, wo wir mit willigem Ohre lauschen: >in Sprache, Sitte
und altüberkommenen Bräuchen, in Märchen und Sage, im schlichten Volkslied
und in den Wunderwerben aller Künste, im Gottesdienst und in der Philosophie,
in der Arbeit draußen in Wald und Feld und in den Werkstätten der Menschen.
Alles was Leben heißt, formt sich innerhalb einer Gemeinschaft zur eigentüm¬
lichen Prägung, und diese gilt es in ihrer Eigenart zu hegen, zu Pflegen und zu
entfalten, wenn wir fähig bleiben wollen, am Wiederaufbau einer zerstörten
Welt zu wirken und zu schaffen. Seien wir uns darüber klar: Deutschlands
zukünftiges Eigenleben wird sich in seinem Volkstum erschöpfen. Weltpolitik
kann es nicht mehr treiben, zu Macht und Reichtum kann es nicht mehr gelangen,
aber das deutsche Volk wird bestehen und neue Werte zeugen, wenn es den
Zusammenhalt findet, sowohl innerhalb der Grenzen des Reichs als auch überall
dort, wo die deutsche Zunge klingt und das Bekenntnis zum Deutschtum kündet.
Das nationale Volkstum also sei das Programm sür die Frauen. Liegt das
Grundmotiv der Sozialdemokratie im sozialen Ausgleich, das des Liberalismus
in der ungehemmten Entfaltung des Individuums, fo mache die Rechte den
Dienst am Volkstum zu dem ihren. Mit dem Herzen soll dann die Frau
wählen, echt deutsch auf Grund einer Weltanschauung, und so politisiere man sie,
indem man ihr das Volkstum nahe bringt und ihr als der erhaltenden Kraft die
Wege weist zu seiner UnVergänglichkeit.
! le Vermutungen über die weiteren Ereignisse in Deutschösterreich,
> die ich in meinem Aufsatz in den Grenzboten Ur. 47 ausgesprochen
habe (er wurde am 6. November abgeschickt), sind bisher in allem
Wesentlichen bestätigt worden. Die Republik ist glatt und ohne
jedes Hindernis ins Leben getreten; auch die Christlichsozialen als
»Partei haben sich lauf ihren Boden gestellt, obwohl ein Teil von
ihnen sie Wohl nur für die unmittelbare Gegenwart als notwendige und nützliche
Staatsform ansehen mag. Auch die Tschechen haben sich für sie entschieden und
die durch Mehrheitsbeschlüsse nur zu verdeckende, nicht zu beseitigende Spaltung
der Südslawen in eine republikanische, eine im Augenblick vorwaltende, den
Karageorgievic freundliche und eine mehr verborgene und abwartende hcibs-
burgische Richtung muh uns davor warnen, die Frage der Staatsform nicht als
für absehbare Zeit erledigt anzusehen. Das könnte nur die Aufrechterhaltung
der Sicherheit und Ordnung und die Durchführung der unaufschiebbaren wirt¬
schaftlichen und sozialen Maßregeln gefährden. Andrassy und Lammasch sind
sang- und klanglos abgetreten und auch die staatsrechtlich unklare Form, in der
Kaiser Karl zurückgetreten ist, hat zwar niemand befriedigt, aber auch niemand
ernstlich beunruhigt. Mehr Begeisterung, als die Ausrufung der Republik hat
die Erklärung des Anschlusses an das Deutsche Reich erweckt; auch die kühle Auf¬
nahme, die sie bei dessen Regierung gefunden hat, vermag die Hoffnung auf ihre
baldige Verwirklichung nicht wesentlich zu vermindern. Man sieht in ihr eine
nationale und politische, aber auch eme wirtschaftliche Notwendigkeit und er¬
kennt, daß sie durch die republikanische Staatsform erleichtert wird. Diese Ein¬
sicht und die Erwartung, daß eine Wiederkehr des Kaisers und seiner persönlichen
Ratgeber, aber auch die Regierung eines anderen Mitgliedes der Dynastie, von
denen nur wenige beliebt waren, aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Deutschland
gerichtete Bestrebungen neubeleben müßte, hat viele zu Republikanern gemacht,
die grundsätzlich auf monarchistischem Boden stehen. War der Völkerstaat Öster¬
reich ohne Monarchen nicht denkbar, so darf man den Deutschösterreichern Wohl
die politische Reife zutrauen, um sich selbst zu regieren. Die autonomistischen
Bestrebungen gewinnen von Tag zu Tag mehr Boden; in Tirol und Vorarlberg
wurde die Forderung nach eigener Vertretung bei der Friedeusverhandlung, ja
nach Anschluß an die Schweiz erhoben. Aber wie bisher alle politischen Be¬
wogungen, scheint sich auch diese in Deutschösterreich ruhiger zu vollziehen als im
Reiche und das Einvernehmen zwischen der Wiener Regierung und den Landes¬
ausschüssen ist bis zur Stunde, da ich dies schreibe (28. "November) ein gutes ge¬
blieben.
In der Verwaltung sind keine durchgreifenden Änderungen zu gewahren.
Die Auflösung der gemeinsamen Unter hat der deutschösterreichische Staat als
Treuhänder der beteiligten Staaten unter Vorbehalt ihrer Ansprüche und Ver¬
pflichtungen und der späteren Abrechnung übernommen; über den Beamtenaus¬
tausch sind Verhandlungen im Zuge, denen freilich die Ungeduld der Slawen
vielfach, auch in gewaltsamer Weise, vorgreift, die aber bei Entfaltung der nötigen
Entschiedenheit von deutscher Seite ebenso zu einem befriedigenden Ergebnis
führen können, wie jene über die Teilung der Mittel und der Lasten des Gesamt¬
staates und über andere finanzielle Fragen, vor allem über die allen Teilstaaten
gleich wichtige der Valuta. Erschwert werden sie allerdings dadurch, daß die
Tschechen und Südslawen sich als Bundesgenossen der Entente und somit als mit¬
bestimmende Sieger betrachten, und die Madjaren Lust zeigen, das gleiche zu
tun. Es wird immer gefordert und unbedingtes Nachgeben erwartet. Das
müßte aber nicht von Erfolg sein, wenn das nach Victor Adlers Tod von dem
Linkssoziali sten Otto Bauer verwaltete Auswärtige Amt es sich mehr angelegen
sein ließe, die Machtmittel Deutschösterreichs zu sammeln und zu verwerten und
die Gegensätze zwischen den feindlichen Nachbarn diplomatisch auszunützen, als
den Sünden der früheren Regierung nachzuspüren und (ganz im Sinne Eisners
und Friedrich Wilhelm Försters) den Scheinbeweis zu erbringen, daß die Mittel¬
mächte die Urheber und die alleinigen Verlängerer des Krieges seien. Ab¬
gesehen davon, daß dies angesichts der Brüsseler Aktenfunde und der Ent¬
hüllungen über Rußlands Verhalten 1914 ein vergebliches Bemühen bleiben
muß, könnte selbst ein solcher Nachweis, wenn er zu erbringen wäre, weder die
Schuld unserer Defaitisten an dem ungünstigen Ausgang des Krieges irgendwie
mildern, noch auch die Stimmung der feindlichen Staatsmänner günstig beein¬
flussen. Dieser Nachweis und ganz ebenso ein unbegründetes Schuldbekenntnis
der Teutschen in Osterreich und dem Rerch könnte vielmehr diese nur in ihren
Vergeltungsansprüchen und ihrer Rachsucht bestärken. Das Beispiel ist bezeich¬
nend dafür, daß die neue Regierung vielfach einem unfruchtbaren Doktrinaris¬
mus huldigt, der die Gefahr leidenschaftlicher Gegenströmungen leicht auslösen
könnte und nur dank der Besonnenheit und Wohl auch vielfach der Mutlosigkeit der
bürgerlichen Mitglieder der Nationalversammlung bisher noch' nicht ausgelöst
hat. Dagegen sind die Fortschritte in der Beseitigung des Bureaukratismus bis¬
her nicht sehr erheblich. Ein Spötter meinte kürzlich, der Amtsschimmel sei nun
rot aufgezäumt, aber sonst der alte. Man darf die Schwierigkeit der Aufgabe,
die hier zu bewältigen ist, nicht verkennen und muß auch eingestehen, daß die Be¬
völkerung bei ihrer Bewältigung nur geringe Unterstützung leistet. Tatsache
bleibt aber, daß die Zentralen - M i ß wirtschaft (von dieser sollte S. 174 die Rede
sein, was der Druckfehlerkobold verschleierte) zwar gemildert wurde, aber die
Zentralen-Wirtschaft mit manchen vermeidbaren Übelständen im wesentlichen
noch besteht (die zentrale Bewirtschaftung entspricht ja der sozialdemokratischen
Theorie und ist zurzeit Wohl noch unentbehrlich) und daß nicht nur neue unprak¬
tische Maßregeln der Zentralen, sondern sogar Höchstpreiserhöhungen in einer
Zeit erfolgt sind, in der Regierung und Bevölkerung fortwährend von: „Abbau
der Preise" reden. Was dem gemeinen Mann an den „Zentralen" vor allem
auffiel und die nationalen Politiker verstimmte, der starke Einfluß des Juden¬
tums, ist geblieben und in der neuen Regierung sind, wie im Deutschen Reiche,
die Angehörigen dieser Nation unverhältnismäßig stark vertreten. Bei dem Um¬
fang des Antisemitismus in Deutschösterreich, der in der Kriegs- und Kriegs¬
gewinnzeit noch erheblich gewachiseu ist, muß es Wohl als Beweis anerkennens¬
werter Disziplin bezeichnet werden, daß dagegen keine Einsprache erhoben wurde.
Im übrigen hat dieser Tage ein Staatssekretär mit Rücksicht auf das Bestehen
eines jüdischen Nationalrates die Rechtslage der Juden und ihren Anspruch aus
die Staatszugehörigkeit als offene Frage bezeichnet, die durch Verhandlungen mit
diesem Nationalrat zu lösen sei — und so werden vielleicht, wenn diese Zeilen
gedruckt werden, die Gefahren klarer zutage liegen, die aus der Stellung der
Sozialdemokratie zum Judentum hervorgehen, vielleicht auch die Mittel, sie zu
bannen. Auch die Tschechen scheinen gewillt, zu der Judenfrage, die mit der
Gründung des Nationalstaates in Palästina ein neues Gesicht' bekommen hat,
nachdrücklich Stellung zu nehmen.
Die dringlichsten Fragen des neuen Staates sind die der Nationalversamm¬
lung, die Verteldigungs-, die Eruöhrungs- und die Abgrenznngsfrage, von denen
die drei zuletztgenannten auf das engste miteinander zusammenhängen. Nur
von ihnen soll hier die Rede sein, da die Wahlordnung und Wahlkreiseinteilung
für die „Konstituante"— auch wenn man von den Problemen der künftigen Ver-
heissung, welche die Wahlprogramme beeinflussen müssen, ganz absieht — eine
selbständige eingehende Behandlung verlangen würde.
Der Druckfehler, der auf S. 17? der Grenzboten -ans der „Nahrungs¬
mittelzusuhr uach Wien" eine „Nahrungsmittel g e f a h r" gemacht hat, trifft
leider nicht nur für Wien die Tatsachen, die sich aus der Verquickung des Ver¬
sorgungsproblems mit der militärischen Schwäche Deutschösterreichs und den Ge-
bieisansprüchen seiner Nachbarn ergeben. Nicht um die Nahrungssperre, sondern
auch die anderer wichtiger Bedarfsartikel, vor allem Kohle, insbesondere Gas¬
kohle, nickt nur die Sperre der Ausfuhr, sondern auch die der Durchfuhr aus dem
Deutschen Reich wird von den Tschechen als Mittel politischen Druckes auf die-
Wiener Regierung und auf die Verwaltungen der einzelnen deutschösterreichischen
Länder verwendet. Sie droht die Industrie brachzulegen, die uns die Austausch¬
objekte für die wirtschaftlichen Verhandlungen mit Ungarn und den Südslawen
liefern muß und sie erschwert das Aushalten und bedroht dadurch die innere Ord¬
nung. Die Gasbeleuchtung von Städten, wie etwa Graz mit mehr als ISO WO
Einwohnern, ist seit einiger Zeit eingestellt, die Beleuchtung und der Straßeu-
bahnverkehr der Millionenstadt Wien bedroht. Ungarn antwortet auf die schüch¬
terne Forderung nach Angliederung der deutschen Komitate (Haidebeueru und
Heanzen) in Westungarn — die für 'Wien als Hinterland erwünscht erscheinen —
mit der Drohung der Ausfuhrsperre und nötigt den Staatsrat zu einer gewunde¬
nen Erklärung vorläufigen Verzichts. Und bei den Südslawen schwindet die Nei¬
gung zur Verständigung in dem Maße, als der serbische Einfluß bei ihnen das
Übergewicht erlangt. Nichteinhalten zugesagter Lieferungen, Absperrung gegen
Aus- und Durchfuhr wird auch von unserer Südgrenze immer häufiger berichtet.
Und wie zum Hohne schickt die Entente den Tschechen 45 Waggons Lebensmittel,
denen Rohstoffe folgen sollen, durch Deutschösterreich. Der Staatssekretär erklärt
auf eine Mahnung empörter Beamter, er könne das nicht hindern, da die
Tschechen Bundesgenossen der Feinde seien und diesen der freie Transport im
Waffenstillstand zugesagt sei. Und während die Not steigt, folgt ein Protest und
eine Borstellung den andern, ohne auch nur beantwortet zu werden. Noch hat ja
die Entente und Wilson unsern Staat nicht einmal anerkannt.
Aber man wartet nicht lab, bis derlei Zwangsmittel die Wirkung erzielen,
die in der Abtretung beanspruchter Gebietsteile oder in dem freiwilligen Anschluß
ihrer notleidenden Bevölkerung liegen soll, man greift mit fröhlicher Gewalttat
auf das deutsche Gebiet. Nicht nur'Sprachinseln und Sprachgrenzorte, nein auch
mitten im geschlossenen Sprachgebiet liegende Städte — selbst Warnsdorf, Außig
u. a. — werden von Tschechenbanden, Sokoln, Truppen und entlassenen feind¬
lichen Kriegsgefangenen überfallen, — wenn nicht behauptet, so doch geplündert
oder mit Kontributionen bedacht. Auch hierin sind die Südslawen gelehrige
Schüler. Bis ins geschlossene deutsche Sprachgebiet der Steiermark sind sie vor¬
gedrungen, die deutschen Schutzwehren Kärntens haben sie auf das Nordufer der
Drau zurückgedrängt und erklären nun, mit dem Landesausschusse -über eine vor¬
läufige Abgrenzung verhandeln zu wollen, wenn die Deutschen anch viles slowe¬
nische Sprachgebiet im Norden der Drau ihnen zur Besetzung überlassen. Nach
südslawischer Ansicht sind aber die „germanischen" Landesteile, die teils seit länge¬
rem deutsch geworden, teils von beiden Völkern in friedlichem Zusammenleben
und zweisprachigem oder sprachmischendem Verkehr bewohnt sind („Gogganesisch"
bezeichnet der Volkswitz als dritte Landessprache), slowenisches Gebiet; die
extremen Forderungen erstrecken sich nicht nur auf die willkürlich als „Sprach¬
insel" bezeichnete Landeshauptstadt Klagenfurt, sondern ans ganz Körnten! Bei
den Südslawen ist das Bestreben, die Teutschen durch getrennte Verhandlungen
mit Steiermark und Körnten zu spalten und sich dadurch Zugeständnisse zu sichern,,
die ein Präjudiz für die Entscheidungen des Friedenskongresses bilden sollen, mit
dem den Tschechen abgelernten Grundsatz verbunden, „ol^ l^c-ti" deutsches Ge¬
biet an sich zu reißen, dessen Bevölkerung mit den bewährten Mitteln der Krainer
Gewaltpolitik für eine eventuelle Volksabstimmung „präpariert" werden soll. So
ergäben sich drei „Rechtstitel", erpreßte Zustimmung der Nachbarländer, faktischer
territorialer Besitz und Anschlußbcreitschaft der eingeschüchterten Bevölkerung!
Die Südslawen haben übrigens ein besonderes Mittel, um deutsche Gegenwehr
bei ihren Überfällen, auszuschließen. Sie verwenden dazu serbische Kriegs¬
gefangene, die nun entlassen und bewaffnet sind, oder gehen mit serbischen Ab¬
zeichen oder unter Führung serbischer Offiziere vor. Sie treten also als Truppen
der Entente auf, denen der Waffenstillstand das Besetzungsrecht eingeräumt hat.
Der Widerstand der Deutschen in Böhmen und Mähren, wie in Südöster-
reich gegen solches Unrecht, das nicht selten in Widerspruch zu kaum erst oder
gleichzeitig gegebenen Zusagen verübt wird, muß unter dem Mangel an militäri¬
schen Hilfsmitteln schwer leiden. Auch wenn Mir davon absehen, daß der Krieg,
den Deutschen viel schwerere Blutverluste auferlegte, als den Tschechen — die
Südslawen haben sich bester gehalten und daher ebenfalls stark gelitten — ergibt
sich ein großer Unterschied daraus, daß die Truppen aller anderen Völker ent-
weder früher sich nach Hause wandten oder aber von den Feinden in der Heim¬
kehr weniger behindert, ja gelegentlich heimgeschickt werden. Deutsche Truppen
lind besonders Offiziere standen zum Teil an den fernsten Fronten, wie Beß-
arabien, Albanien, Frankreich; Deutsche bildeten den Kern der Tiroler Verteidi¬
gungsstellung und sind durch deren Umgehung und durch die vertragswidrigen Ge¬
fangennahmen im Etschtal in großer Zahl in die Hände der Italiener gefallen.
Die Heimkehrenden konnten nach der Katastrophe am Piave, wo sie das Opfer der
Zurückgehenden geworden waren, nicht wie diese in geschlossenen Verbänden mar¬
schieren und sich ans Feindes- und Freundesland versorgen'. Sie wurden vielfach
von ihren bisherigen Kampfgenossen, der Bevölkerung und den als Bundes¬
genossen der Entente auftretenden südslawischen und italienischen Behörden ent¬
waffnet, beraubt, ja entkleidet. Dabei haben auch die Madjaren einen ebenso
starken, wenig rühmlichen Anteil gehabt, wie an Raub und Plünderung auf den
Rückmärschen. Kann man sich Wundern, daß ein großer Teil der deutschöster¬
reichischen Krieger, auch aus geschlossen heimkehrenden Gruppen, einfach in die
Heimatorte ging, nachdem sie wochenlang eine solche Auflösung gesehen hatten?
Da die deutsthösterreichische Staatsgewalt'über Nacht ins Leben treten mußte —
ihre Einrichtungen waren ja nicht, wie die der Tschechen und Slowenen, durch
eine systematische geheime Zusammenarbeit einheimischer Verschwörer und der
„Emigration" vorbereitet worden — so griff sie nicht rasch genug ein, um einen
erheblichen Teil der Heimkehrer beisammen Zu erhalten. Es drohte den Durch¬
zugsländern Südösterreichs, vor allem der Steiermark aber eine weit größere Ge¬
fahr als die von auseinanderlaufenden, zuchtlosen,und verwilderten Kriegern, die
vielfach Waffen, Ausrüstung und Pferde verkauften, vielfach auch Neigung zum
Räuberleben zeigten, nämlich der Durchmarsch von Hunderttausenden bewaff¬
neter, räuberisch' oder feindselig gesinnter Madjaren, Tschechen und Südslawen.-
Wo diese nicht aufgelöst, sondern geschlossen in Eisenbahntransporteil und Marsch-
Verbänden kamen, waren sie fast eine größere Bedrohung, welche die Städte vor
allem betraf, als die über das flache Land zerstreuten Marodeure. Daß wir dieser -
Gefahr Herr wurden, mit gelegentlichen Plündereien und Schießereien auf den
Bahnen und in der Nähe der Bahnhöfe 'wegkamen, danken wir der Entschlossen¬
heit, mit welcher aus Studenten, Arbeitern, Bürgern, verbleibenden und gegen
hohen Sold neu gewordenen Soldaten, auch den heimgeschickten deutschen Ma¬
trosen Stadt- und Volkswachen und Bahilhofswach'en gebildet wurden, zu einem
sehr großen Teil aber der opferwilligen Tatkraft der deutschen Eisenbahner. Wäh-
rend'diese für möglichst raschen Abtransport sorgten — der Privatverkehr war so
gut wie ganz eingestellt — führten die Bahuhofwachen die Entwaffnung und
(nach dem Vorbild der anderen Völker, aber mit größerer Zurückhaltung und'
ohne Roheiten) die Beschlagnahme des Materials' und des Übermaßes mit¬
geschleppter Lebensmittel und anderer Vorräte durch. Dieses entschlossene Vor¬
gehen bewirkte, daß da und dort Vereinbarungen mit den Nachbarn über gegen¬
seitigen Durchzug erzielt wurden. Nachdem so die plötzliche Gefahr vorüber¬
gegangen war, wurde die Nenaufstellung von Volkswehren systematischer durch¬
geführt. Aber sie sind zu schwach, um wirklichen feindlichen Einfällen erfolgreich
zu widerstehen, auch unzuverlässige Elemente fanden anfangs in sie Eingang und
gegen den Willen der Regierung bildete und erhielt sich in Wien eine Rote Garde,
der mißlungene Putschversuch gegen die Nationalversammlung bildete eine hä߬
liche Begleiterscheinung bei der Ausrufung der neuen Republik. Deutschböhmen
konnte keinen Widerstand gegen die meisten tschechischen Einbrüche wagen. In
Südmähren hat nur Znaim eine leidlich zureichende Verteidigungstruppe organi¬
sieren können. In den Sudetenländern, wie im Süden mußten große deutsche
Sprachinseln (Brunn, Olmütz, Marburg und so weiter) und Randgebiete Preis¬
gegeben werden. Eine Zeitlang hatte man — wie in Tirol beim Einmärsche der
Bayern — auch in Böhmen hoffen dürfen, daß das Deutsche Reich den Verteidi¬
gungskampf aufnehmen und die Grenzgebiete besetzen und schützen werde, und
selbst in den Alpenländern begann man Freiwillige für diesen Kampf des Gesamt-
oeutschtums zu werben, von dem wir eine Verbesserung der Waffenstillstands-
bedingungen erhofften. Aber das kam anders.
All diese Tumulte wirkten auf die in den Grenzboten Ur. 47 erwähnten
Verhandlungen mit den Slawen vielfach störend ein. Lage und Aussichten haben
sich aber auch durch das Vorgehen der Italiener nicht unwesentlich verändert.
Dazu kommt noch, daß innerhalb der Jugoflavia nicht nur die Meinungsunter¬
schiede über Staatsform und gegebenenfalls Herrscherhaus, sondern auch die
Gegensätze zwischen Serben, Kroaten und Slowenen allmählich schärfer hervor¬
treten. Die Abwehr der italienischen weitgehenden Ansprüche, aber auch die zu¬
nehmend aggressive Haltung gegen Ungarn und Deutschösterveich, bei der auch
der Einfluß der Tschechen und jener der leidenschaftlichen, tätigen und geschickten
Serben eine große Rolle spielt, verschleiern diese inneren Gegensätze uns werden
Wohl anch um so geflissentlicher betont, um sie zu verschleiern und zur Ruhe
kommen zu lassen. Aber die Stellung der kroatischen republikanischen Bauern¬
partei unter Radin und der Sozialdemokratie läßt sie deutlich erkennen. Trieft
und Fiume dürften weder den Südftawen verbleiben, noch jene unmiiteware
Selbständigkeit erlangen, für welche die Triester Sozialdemokratie noch vor kurzem
eintrat. Werden sie italienisch, so kann die Jugoslawia sie von ihrem deutschen
und ungarischen Hinterland absperren, und wird dies vielleicht in der Hitze der
Erregung alsbald versuchen. Das gemeinsame Interesse zwischen Südslawen und
Dcutschösterreichern an den Verkehr dieser Häfen und dem Zugang zu ihnen, in
dem eine wichtige Grundlage gegenseitiger Verständigung lag, wird dadurch aus¬
geschaltet und Dentschösterreich muß sich einen Zugang zur Adria sichern, der
nicht in den Händen der Slawen liegt. Mit andern Worten, es muß dahin
streben, an einer oder mehreren gut gangbaren Stellen unmittelbar an Italien
zu grenzen. Der Besitz von Tarvis und den Zugängen zum Predil und Pontebbe-
pasz, wo deutsche Sprachinseln von ziemlicher Größe sind, und ihr Zusammen¬
hang mit Vliland gewinnt dadurch an Wert, Ist es nicht zu erlangen, so ist es
das weitaus kleinere libet, wenn hier Italien seine wesentlich gesteigerten An¬
sprüche durchsetzt, als wenn ein — an sich unnatürlich begrenzter — Zipfel
slawischen Gebiets auch hier sich zwischen uns und Italien einschiebt und uns
nicht nur von Trieft, sondern auch von Venedig abriegelt. Wir können also in
der Streit zwischen südslawischem und italienischem Größenwahn nicht einseitig auf
die eine oder andere Seile treten; wir müssen unsere Unterstützung demjenigen
gewähren, der uns dafür mehr bieten kann und mehr gewährleisten will und eine
kluge Politik kann uns von beiden Seilen wertvolle Zugeständnisse sichern. Dabei
ist nicht zu übersehen, daß außerhalb Tirols kein unbedingter Gegensatz zu Italien
besteht, namentlich zu einem republikanischen Italien, das durchaus un Bereich
der Möglichkeit liegt. Aus Trieft sind wir in jedem Fall verdrängt und der
Gegensatz zwischen der klerikalen Habsburger- und der Savoyen-Dhnastie kommt
nicht mehr in Frage. Schwanken wir aber haltlos herum, so verderben wir es
mit beiden Teilen und der Gedanke mancher Südslawen, für das Zurückweichen
von Italien Ersatz auf unsere Kosten zu finden, kommt zur Verwirklichung. Wir
brauchen eine natürlich geschützte Grenze, die anch den Nachbar gegen uns gut
sondert und schützt. Die Kartuschen Alpen und Karawanken, der dünnbewohnte
waldige Bachem, die verwilderte Drau unterhalb Marburg stellen, je weiter west¬
lich desto ausgesprochener, eine solche dar, eine Scheide zwischen natürlichen Ver¬
kehrs- und Wirtschaftsgebieten. Sie verläuft größtenteils in slavonischem Sprach¬
gebiet, aber jede weiter nördlich gezogene Grenze, selbst die Dmulinie oberhalb
Marburg, die von den Slovenm immer mehr als Minimalgrenze ihrer Ansprüche
bezeichnet wird (früher war es ihr Maximum), würde dem jugoslawischen Staat
eine offene, zu Zwistigkeiten führende Begrenzung geben. Sie würde die Deutschen
UM die östliche Häute der Bahnverbindung Marburg—Vliland mit um die mit
dem geschlossenen Sprachgebiet fest zusammenhängende Marburger Sprachinsel
bringen, also das innerösterreichische Bahndreieck zerschneiden. Ostlich von
Marburg ist keine gute Grenzlinie nördlich der Drau zu finden. Nicht um die
Billigkeit würde also hier von den Südilawen, die ohnehin so viel deutschen Volks-
uuo Kulturboden el> heimseu. ein Zurückweichen hinter ihre Sprachgrenze und den-
Verzicht auf die Angliedcrung von Gebieten verlangen, deren slawisch? Bevölkerung
sich mit den Deutschen gut vertrug und in eingewurzelten Ländespamvtismus
keine Abtrennung von Steiermark und Körnten wüuschie; auch die kluge Für¬
sorge für ihr eigenes ruhiges Gedeihen und für ihre nationale Autarkie in einem
gulbegrenzlen Gebiet weist in der gleichen Richtung Die Deutschen werd, n gleich-
wohl das Ziel, das sie bei den Friedensverhandlungen anstreben müssen. , nur
durch eine ^ kluge vorsichtige Politik erreichen können, welche Bundesgenossen zu.
erwerben vermag.
Unsere dringendste Sorge bleibt die um die Ernährung. Von ihrer Be¬
seitigung hängt es ab, ob wir der Anarchie entgehen. Will Wilson. will England,,
will das von Umsturzbestrcbungen am meinen bedrohte Italien wirklich Europa
vor Erschütterungen bewahren, die höchstens die wahnwitzige Rachsucht Frankreichs
befriedigen mögen, so müssen sie dafür sorgen, daß auch in Dcutschösterreich eine
Hungersnot hiutangestellt wird; drückender Mangel herrscht ja längst schon.
Humboldt zu Hoffmann! - Seltsame Marksteine geschichtlichen
^^WW« „Aufwärtscutwickluug". Bekanntlich gehört es in wahrhaft fort-
MM>^W schrittlichen Kreisen zum guten Ton, dem alten preußischen
MWA^M Privilcgienstaat seine reaktionäre Verhärtung dauernd vor Augen
halten, während sich Bethmann Hollweg ungemein modern
W^MWÄ Vorkam, als er das im Grunde so triviale Wort „Freie Bahn dem
Tüchtigen" prägte. Wir wollen die Aussichten, die sich für uns an die neuen
Gewalthaber knüpfen, nicht verallgemeinernd an den eben genannten zwei Namen
messen. Der Zehn-Gebote-Hoffmann als Kultusminister: das ist einer jener
Witze, mit denen uns die Weltgeschichte wie ein guter Zahnarzt über die
Schmerzen des Zahnziehens hinweghelfen will. Und wir wollen auch nicht
ungerecht sein: von Humboldt zu Trott zu Solz oder Schmidt, — das bleibt im
Rahmen des alten Regimes und zeigt doch auch leinen traurigen Verfall, beweist
recht schlagend, wie kläglich die wilhelminische Ära die herrlichen Möglichkeiten
genutzt hat, die die Freiheit der Ministerwahl dem keinem Parlament versklavten
Monarchen in die Hände legte. Mit Konrad Hänisch aber ist nicht einer jener
geistigen Anonymi ins Kultusministerium eingerückt, wie wir sie seit langem an
diesen, wichtigen Posten sahen, fondern ein in öffentlicher Wirksamkeit bewährter
Schriftsteller, ein maßvoller geradgewachsener Politiker, ein frischer und Heller
Kopf greift bei der Neuordnung der Preußischen Staatskultur mit an, zu dessen
Umsicht und Besonnenheit auch diejenigen Zutrauen haben können, die nicht auf
dem Parteiboden des Sozialismus in seiner spezifisch marxistischen Zu¬
spitzung stehen.
Man kann Wohl sagen, daß keines der Unter seit der Revolution soviel von
sich hat reden machen, wie gerade das Kultusministerium. Zum großen Teil
liegt das daran, darf kein Personenwechsel an leitender Stelle eine gleichstarke
-Herausforderung >an das geistige Deutschland bedeutete, wie die Berufung — oder
soll man sagen: Kaltstellung? — Adolf Hoffmanns ausgerechnet auf diesen
Posten. Bei einem Akte seiner Regierung hat allerdings der neue Kultur-
gewaltige die begeisterte Beistimmung der öffentlichen Meinung gefunden,
nämlich als er bei seinem Amtsantritt kindlich-zutraulich erklärte, daß ihm die
Bildungsvoraussetzungen für sein neues Amt gänzlich abgingen. Gut gebrüllt,
Löwe; nur war es bislang mit den guten Überlieferungen des Preußentums
nicht Wohl vereinbar, daß man sich zu Verantwortlicher Posten drängt, für die
man nicht den Kopf, sondern bloß das warme Herz mitbringt. Aber wir haben
Revolution, da gelten ja Wohl neue Grundsätze.
Neben dieser Personenfrage ist es vor allem der politisch einschneidendste
Programmpunkt der neuen Machthaber, die beabsichtigte Trennung von Kirche
und Staat, wodurch in breiten Schichten unseres Volkes eine alarmierende
Wirkung ausgeübt worden und sogar politisch bereits eine verhängnisvolle Rück¬
wirkung auf die Loslösungsbestrebungen des katholischen Westens zutage getreten
ist. Das ungeheuer verwickelte Problem des Zusammenhanges von Kirche und
Staat, wie er sich unter dem Einfluß der Reformation im Geiste des frühneuzeit-
lichen autoritären Machtstaates herausgebildet hat, kann hier nicht von allen
Seiten beleuchtet werden. In glücklicher Weise hat kürzlich der bekannte Kirchen¬
rechtler Kahl die verschiedenen Teilprobleme der Frage auseinandergegliedert.
Soviel ist ober jedenfalls zu sagen, daß gerade die ausgesprochen autoritären
kirchlichen Gruppen, insbesondere also der Katholizismus, kein Interesse an einer
allzu engen Bindung an einen grundsätzlich autoritätsfeindlichen, demokratisch-
gleichmacherischen Staat haben, wie er sich — als geschichtliche Übergangsform
zum mindestens — zunächst bei uns herausgestalten wird. Was die finanzielle
Seite anlangt, so müßten die kirchlichen Körperschaften den Anspruch aus Wieder¬
erstattung der Vermögensstücke beim Staat anmelden, die er einstmals dem kirch¬
lichen Bermögensbestande entzogen hat. Im Zeitalter der Reformation hatte
sich die Kirche beim Staat gewissermaßen in Leibrente begeben. Kündigt der
Staat einseitig diese Rente, so ist er auch zur teilweisen Rückgabe der eingezahlten
Vermögensbestände verpflichtet. Auf dieser Linie werden sich jedenfalls die
finanzrechtlichen Verhandlungen zwischen Staat und Kirche bewegen müsse::.
Nicht nur die Nationalisierung, auch die Entnationalisierung wie im vorliegenden
Falle muß sich aus dem Wege von Abfindungen vollziehen. Im übrigen wird
sich jetzt zeigen müssen, ob das kirchliche Leben in Deutschland in der Tat nur
noch vom Staat künstlich gestützt wird, oder ob es noch in sich selbst lebensfähig ist.
Möglicherweise wird die Entziehung dieser Krücken sogar lebendige Kräfte in ihm
entbinden, von deren Existenz wir lange nichts mehr gespürt haben. Und wenn
die neue offizielle Kulturpolitik tatsächlich den ganzen Aertranenskredit bei den
bürgerlichen Massen verwirtschaften sollte, könnten den kirchlichen Körperschaften
auch wieder die kulturellen Aufgaben zuwachsen, die im Mittelalter in ihren
Händen nicht so übel aufgehoben waren, wie eins gewisse aufgeklärte Geschichts¬
schreibung uns das noch immer glauben machen will.
"
Die „Freiheit hat kürzlich ein Programm des Kultusministeriums ver¬
öffentlicht. Eine nachträgliche Tesavonierung seitens des Ministeriums bezog
sich nicht sowohl auf seinen sachlichen Inhalt, als aus die Tatsache der Veröffent¬
lichung. Es scheint den Herren nicht lieb gewesen zu sein, daß irgend ein Über¬
eifriger aus der Schule geplaudert hat. Es handelt sich nach dieser amtlichen
Richtigstellung bei diesem Programm nicht um eine endgültige Fassung, sondern
nur um vorläufige Richtlinien. Dieser Vorbehalt gilt also auch sür die Kritik,
die wir an dieses Programm knüpfen.
Zunächst tritt darin die Rückwirkung der Trennung von Kirche und Staat
auf den Schulbetrieb in Erscheinung, indem die geistliche Schulaufsicht auf¬
gehoben und die Ersetzung des konfessionellen Religionsunterrichts durch einen
konfessionslosen Moralunterricht vorbereitet wird. An diesem Punkt müssen wir
einen Rückfall in die längst überwundenen Verirrungen der Aufklärung, also
«inen durchaus liberal-reaktionären Akt des Kultusministeriums feststellen. Die
berechtigte Kritik, die sich an den Religionsunterricht in seiner überkommenen
Gestalt schließt, fußt auf der Einsicht, daß Religion ihrem Wesen nach nicht
lehrbar ist, daß Religionsunterricht also einen inneren Widerspruch birgt und
eine irreligiöse, ja eine antireligiöse Handlung darstellt. Auch läßt sich gegen die
unvermeidliche Berslachung der Religion durch den Durchschnittsunterricht
gerade von: religiösen Standpunkt aus Gewichtiges einwenden. Derselbe Vor¬
wurf aber trifft in gesteigertem Maße den konfessionslosen Moralunterricht.
Moral ist ebenso wie die Religion nicht Sache der Lehre, sondern der Ver¬
kündigung. Ein irgendwie kanonischer, also als Unterrichtsgegenstand eins-
' münzbarer Moralbestand ist außerhalb der kirchlichen Dogmen in unserer Kultur
nicht vorhanden. Adolf Hoffmann wird ihn durch seine Erlasse so wenig aus dem
Boden stampfen können, wie es etwa den Jüngern Nietzsches, des letzten großen
deutschen Moralisten, gelungen ist, seinen Werttafeln die Geltung in der Zeit zu
erringen. Tolstoi, Ibsen, Strindberg und Wedekind wird das Kultusministerium
vermutlich auch nicht zur Rep. Preußischen Staatsmoral erheben wollen,
ebensowenig wie den schalen Absud der stoisch-aufklärerischen Welttradition, an
Gehalt und Ausprägung weltenweit hinter dem Moralbestand der Evangelien
zurückstehend. Da die Kirchen aber die Jugendunterweisung vermutlich in einer
anderen Form doch beibehalten würden, könnte der Staat, wenn er ihnen das
Gastrecht in seiner Schule kündigt, sich den Moralunterricht auf Grund seiner
Neutralität in Weltanschauungsfragen dann auch schon ganz schenken; bloß sür
die Dissidentenikinder darf er uns nicht die Bezahlung von Lehrkräften zumuten.
Mögen doch Herrn Ostwalds Monistenbund oder andere Formen organisierter
aufgeklärter Freigeisterei zusehen, wie sie einen Ersatz für den verabscheuten
Religionsunterricht der Kirchen schaffen.
Viel wichtiger als der höchst fragwürdige Moralunterricht, der sehr lebhast
an den im Kern verfehlten vaterländischen Unterricht im Heere erinnert, scheint,
mir die Vermittelung religious- und kirchengeschiclMcher Kenntnisse in dem
Umfange, wie er als allgemeiner Bildungsbestandteil unerläßlich ist. Auch hier
schafft die Entfernung des konfessionellen Religionsunterrichts erhebliche
Schwierigkeiten, denn eine neutrale Behandlung dieser Fragen ist unmöglich, es
sei denn, daß der Staat sich auf den protestantischen Standpunkt vorurteilsfreier
Wissenschaftlichkeit stellt, wodurch er aber die ganze katholische Hälfte unseres
Volkes vor den Kopf stoßen und mit Notwendigkeit einen neuen Kulturkampf
heraufbeschwören würde. Noch größere organisatorische Schwierigkeiten macht
der Bildungsstoff, den die sogenannte biblische Geschichte bisher schon in früher
Jugend vermittelte. Ganz abgesehen von der religiösen Seite ist selbst um des
Verständnisses der ganzen abendländischen Kunst und Dichtung willen ein
gewisses Bertrautsein mit dem mythischen Stoss der Bibel, einerlei ob man ihn
historisch, absolut oder legendarisch auffaßt, schlechterdings unerläßlich. Auch
hier stellt jeder Schritt, der vom bisherigen Religionsunterricht wegführt, die
Reform vor neue Schwierigkeiten.
Auch die Koedukationsftage ist ein verwickeltes Problem, das nur aus dein
Boden der Erfahrung gelöst werden kann. Ich habe mich selbst als Gymnasiast
in Elsaß-Lothringen durch Augenschein von den höchst unerfreulichen Begleit¬
erscheinungen dieser Erziehungsform überzeugen können. Insbesondere ist unter
den Knaben die Abneigung gegen die Teilnahme von Mädchen an ihrem Unter¬
richt sehr tief eingewurzelt. Durch nichts löste ein Lehrer, der selber ein Gegner
der Koedukation war, stürmischeren Beifall bei den Jungen aus, als wenn er
die Mädchen in oorporo abfahren ließ. Eine Schuldirektoren-Konferenz in
Baden hat einige Jahre vor dem Krieg überwiegend schlechte Erfahrungen mit
der Koedukation zum Ausdruck gebracht. In der Tat werden grundsätzlich alle
diejenigen dieser Erziehungsform abgeneigt sein, die nicht in der hemmungslosen
Gleichmacherei das Heil der Welt erblicken. Eine andere Frage ist die Zulassung
der Koedukation als Notbehelf an Orten, wo den Mädchen sonst die höheren
Bildungsmöglichkeiten verschlossen sind. In diesem Sinne ist eine Aufhebung des
grundsätzlichen Verbotes der Ko>edukation in Preußen zu begrüßen. Aus den
Richtlinien geht nicht mit Deutlichkeit hervor, wie weit' sich das Kultus-
min.jier um bedingungslos auf den Boden dieses Prinzipes stellt.
Recht fragwürdig erscheint auch die Gewährung des Selbstverwaltungs-
rechts an Lehrer und Schüler. Daß gewisse Gepflogenheiten des alten Polizei¬
staates, zum Beispiel die regelmäßigen geheimen Berichte des Schulleiters über
die Lehrerschaft, in die diese keinen Einblick verlangen darf, im neuen Deutsch¬
land abgeschafft werden müssen, das ist natürlich keine Frage. Überhaupt muß
das Vorgesetztenverhältnis zwischen Direktor und Lehrkörper und ebenso zwischen
Lehrer und Schülern aller Atavismen aus den Kafernenhofüberlieferungen ent¬
kleidet werden, wozu eine gewisse Selbstverwaltung der Lehrer und Schüler das
Ihrige beitragen mag. Wer aber die zersetzende Wirkung revolutionärer Ideen
auf Zucht und Geist, auf Frische und Gesundheit der Jugend vom Augenschein
aus Nußland kennt, wird mit schweren Bedenken dem Experiment gegenüber¬
stehen, allzu offenkundig den Grundsatz der Autorität und des gesunden Zwanges
aus den Schulen zu entfernen und im kurzen Abstand von zwei Wochen Ausein¬
andersetzungen zwischen Lehrer- und Schülerschaft in den sog. Schulgemeinden
einzuführen, die an den Takt auf beiden Seiten fast übergroße Anforderungen
stellen und das gegenseitige Verhältnis unnötig einer überaus schweren
Belastungsprobe aussetzend) Wichtig ist, daß den Schülern der höheren
Klassen — jedoch allerfrühestens von Unter-, besser Wohl erst von Obersekunda
an — eine deutlich erkennbare Sonderst eilung im Schulorganismus eingeräumt
würde, während sie bisher die Schulordnung mit den jüngsten Nonanern über
einen Kamm schert. Das Verbot des Rauchers oder des Wirtshausbesuches, die
Behinderung im Vereinsleben bei vielfach erwachsenen Menschen ist eine Zurück¬
setzung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor gleichalterigen Proletariern,
die längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Selbstjustiz der Schüler spielt
bereits gerade in den „reaktionären" Kadettenanstalten eine große Rolle. Daß
der Korpsgeist der Schüler gesteigert werden sollte, ist gerne zuzugeben, nur
sind die dafür in Aussicht genommenen Einrichtungen allzu mechanisch den
Mustern anderer Lebensgebiete nachgebildet, und die Rückführung des Ver¬
trauens- auf ein allzu nacktes Rechtsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern
ist eine höchst bedenkliche, gemeinschaftszersetzende Nebenerscheinung der geplanten
Neuerung.
Die offizielle Verbannung des Chauvinismus aus dem Geschichtsunter¬
richt steht psychologisch ungefähr auf demselben, ein wenig primitiven Stand¬
punkt, der früher eine gewisse patriotische Gesinnung offiziell „verlangte". Die
Übergänge von vaterländischen Stolz bis zur nationalistischen Selbstüberhebung,
vom nationalen Heroenkult zum hurrapotriotischen Götzendienst in der Geschichte
sind bekanntlich fließend. Und so »venig ein Lehrer sich eine bestimmte Gesinnung
auf einen Erlaß des Kultusministeriums hin eintrichtern lassen kann, ohne einer
widerlichen Heuchelei zu verfallen, so wenig vermag ein solcher zu verhindern,
daß menschliche Beschränktheit und geistige Unzulänglichkeit die Milch der
regierungsfrommen Denkart in altdeutsch gä-hrend Drachengift verwandeln. Ich
nehme nicht an, daß mit der Verbannung des Chauvinismus aus den Lehr¬
büchern -unsern Kindern auch die Liebe und Verehrung zu den Großen unserer
Geschichte, den Gekrönten wie Friedrich dem Großen und Kaiser Wilhelm dem
Ersten, den Ungekrönten wie Blücher und Stein, Bismarck, Moltke und
Hindenburg ausgetrieben werden soll, obgleich sich diese Verehrung nicht gerade
aus republikanischen Prinzipien herleiten läßt. Dies Verlangen würde einen
Gewissenszwang für die überwältigende Mehrheit unserer Lehrerschaft bedeuten,
den ihr das Kultusministerium hoffentlich nicht zumuten wird. Und wenn die
Verherrlichung des Krieges unterbleiben soll, so wird man unsern Jungen doch
hoffentlich noch sagen dürfen, daß ihre Vorväter bei Leuthen und Leipzig, bei
Gravelotte und Seoan, daß ihre Väter und Brüder bei Tannenberg und Gorlice,
von Flandern bis zum Elsaß Taten getan haben, für die ihnen der ehrfürchtige
Dank und die heiße Bewunderung von Geschlechtern gebührt. Im Grunde rennt
dieser Reformpuntt offene Türen ein. Kriegshetzerei ist in unseren Schulen nie
und nirgends in irgend beachtenswerten Maße getrieben worden, wie das im
Gegensatz zum „militaristischen" Deutschland im demokratischen Frankreich der
Fall war. Im übrigen werden die nächsten Monate zeigen müssen, ob wir das
Schwert für absehbare Zeit beiseite legen können, oder ob uns die Sklavenkette
der Friedensbedingungen die Vorbereitungen für einen neuen und letzten
Verzweiflungskampf aufzwingt. Die heute herrschende Partei, die vorab die
Interessen der Arbeiterschaft vertritt, dürfte Wohl die letzte sein, die die Wirt-
schaftlicye Versklavung und Verelendung Deutschlands als einen endgültigen
Zustand anerkennen konnte.
Den Zusammentritt einer Reichsschulkonferenz wird man nur begrüßen
können. Entscheidend ist freilich ihre Zusammensetzung. Was bisher über die
Auswahl von pädagogischen Vertrauensleuten Adolf Hoffmanns bekannt
geworden ist, gibt den breitesten Befürchtungen Raum. Der Umgang, in dem
die Entmilitarisierung der Jugendpflege, die ich bereits zu Anfang des Krieges
befürwortet habe, bei der nunmehrigen Entwicklung der Dinge Platz greifen
kann, hängt mit dem soeben angeführten Gesichtspunkte zusammen. Die Um¬
gestaltung der Abiturien und die Verminderung der Prüfungen wäre sehr ver¬
dienstlich, das Übermaß an Prüfungen und der daran geknüpfte Apparat
abstrakter Berechtigungen hat bei uns einen fast chinesischen Zustand herauf¬
geführt, vor dem schon dem alten Friedrich Paulsen graute. Das Problem der
Einheitsschule ist eine organisatorische Frage zweiten Ranges. Der Abbau der
Vorschule ist eine Folgeerscheinung der allgemeinen Demokratisierung, mit der
sich die bislang gesellschaftlich führenden Kreise wie mit mancher unliebsamen
Neuerung abfinden müssen. Es lassen sich gute Gründe sür die Beibehaltung der
Vorschule anführen, die jedoch im Augenblick auf so wenig Resonanz recynen
können, daß es nicht lohnt, sich bei ihnen auszuhalten.
Damit wären die Hauptpunkte gekennzeichnet, die sich auf die Umgestaltung
der Schule beziehen. Wesentlich kürzer sind die Reformpläne für die
Universitäten. Daß der sozialistische Staat namhafte Vertreter des wissenschaft¬
lichen (Vvzialismus auf die Lehrstühle der Universitäten berufen will, ist
verständlich, obgleich die Auswahl an Gelehrten von unanfechtbaren wissen¬
schaftlichem Rang nicht gerade groß sein dürfte. Ein großer Fortschritt wäre es,
wenn das Kultusministerium in der Tat auch unbegüterten Gelehrten den
Zugang zur Universitätslaufbahn öffnete. Die gegenwärtige Verteuerung der
Lebenshaltung würde die höchst unerfreuliche Plutokratisierung unserer
Professorenschaft noch steigern und der Überflutung der Hochschulen mit
Lehrern aus den Kreisen der kapitalkräftigen Judenheit noch unliebsamen
Vorschub leisten. Im übrigen ist die Verfassung unserer Universitäten viel
reformbedürftiger als das niedere Schulwesen. Die Vergreisung der Hochschulen,
die Entrechtung der Privatdozenten und der außerordentlichen Professoren, also
des gesamten wissenschaftlichen Nachwuchses, ist dem Fortschritt sehr im Wege.
Auch wäre zu fragen, ob die mittelalterliche Fakultäteneinteilung, die bei manchen
Berufungen zu unsinnigen Mehrheitsverhältnissen führt, nicht endlich durch eine
moderne Einteilung der Lehrfächer ersetzt werden könnte. Sehr erfreulich wäre
es, wenn in den Universitätskreisen selber der Wille zu durchgreifenden
Neuerungen erwachte. "Wir würden es auf das lebhafteste bedauern, wenn die
Hochschulen ihre altüberkommene korporative Selbständigkeit immer mehr
einbüßten und durch geistige Verkalkung die Behörden zu gewaltsamen. Ein¬
griffen von außen her zwängen. Wer die Entwicklung der Universitäten in der
letzten Zeit beobachtet hat, kann sich lebhaften Besorgnissen in dieser Richtung
nicht verschließen. In einzelnen Fächern, wie in der Philosophie, Literatur- und
Kunstwissenschaft, war die Tyrannei gewisser Universitätsmachthaber und ihrer
Hintermänner im Kultusministerium, war die Willkürlichkeit und die Einseitigkeit
der Berufungen in der letzten Zeit schon so skandalös, daß man ein Herabsinken
der Universitäten auf die kulturelle Bedeutungslosigkeit etwa der Kunstakademien
in allem Ernst befürchten könnte.
In der Frage der Volkshochschulen und der Reorganisation der Technischen
Hochschule und des Theaterlebens wird man die kommenden Einzelmaßnahmen
abwarten müssen. Die völlige Abschaffung der Theaterzensur dürfte recht
unerfreuliche Wirkungen zeitigen, mit denen auch die Gegner der heutigen geist¬
losen Geistespolizei nicht ganz einverstanden sein könnten. Die Fürsorge für
beschäftigungslose Künstler und Schriftsteller ist eine dankenswerte Maßnahme,
sehr wünschenswert wäre die Einbeziehung der freien Geistesarbeit in die staat¬
liche Zwangsversicherung und die Einführung staatlicher Aufsicht über die
jämmerlichen Lohnverhältnisse der geistigen Arbeit. Insbesondere hat der Krieg
kaum einen Stand so schwer getroffen wie die freien Schriftsteller, denen die
Erwerbsmöglichkeiten durch die Zeitlage außerordentlich verengert und dazu noch
die Honorarsätze im selben Maße gedrückt, als die Löhne des jüngsten Buchdrucker¬
lehrlings gesteigert wurden. Der kommende sozialistische Staat wird auf ganz
neue Formen sinnen müssen, um das deutsche Schrifttum vor völliger
Verelendung in den heraufziehenden schweren Zeiten zu bewahren.
Obgleich also diese Richtlinien in manchen Einzelpunkten zu einer scharfen
Kritik herausfordern, kann doch auch der Nichtsozialdemokrat ihnen in nicht
unbeträchtlichen Umfange folgen. Zu begrüßen ist vor allem, daß auf diesem
Gebiete überhaupt einmal der Anlauf zu wirklichen Reformen genommen wird.
Arbeit von bleibendem Werte wird freilich auch auf diesem Gebiet nicht geleistet
werden können, so lange die ganze bürgerliche Geistigkeit von der Mitwirkung
bei der Neugestaltung unserer Kultur ausgeschlossen ist. Die wenigen Führer
von geistigem Range, die unser Sozialismus aufzuweisen hat, sind einer solchen
Riesenarbeit, wie sie hier vor uns liegt, für sich allein natürlich nicht im
entferntesten gewachsen.
Die neue Regierung sollte sich Wohl vorsehen, daß sie nicht durch über¬
stürzte Reformen gerade auf religiösem Gebiete den Bestrebungen Vorschub leiste,
die sie als Gegenrevolution zusammenfaßt. Die Gegenparole, mit der das
geistige Bürgertum auf das Losungswort ver Trennung von Kirche und Staat
und auf andere Herausforderungen antworten könnte' heißt: Trennung von
Staat und Kultur. Wenn das Millionenheer von Geistesarbeitern, das bisher
auf dem Boden bürgerlicher Anschauungen im Staatsdienste Kulturarbeit
geleistet hat, dermaßen brüskiert wird, daß es dem Staat die Mitarbeit kündigt
und sich in neuen bürgerlich-sozialistischen Formen verselbständigt, dann soll der
neue sozialistische Staat einmal zusehen, wo er die Menschen herbekommt um
sein radikales Kulturprogramm durchzuführen. Nicht die neue „proletarische"
Regierung, sondern der alte bürgerliche Beamtenapparat hat uns in den letzten
Wochen vor dem Hungertode bewahrt, im Vertrauen auf sein geduldiges und
entsagendes Fortarbeiten konnten wir uns sogar den Luxus sich höchst absurd
gebärdender A.- und S.-Räte eine Zeitlang leisten. Das geistige Bürgertum ist
eine Großmacht, die bloß noch nicht zum Selbstbewußtsein gekommen ist, weil sie
das Gängelband des Obrigkeitstaates allzu sehr gewohnt war. Dies Bewußtsein
beginnt zu erwachen und es nähert sich damit die Stunde, wo dies Bürgertum
seine Forderungen auch auf kulturpolitischem Gebiet im Rahmen des freien
deutschen Volksstaates anmelden wird. Hoffentlich kann es alsdann diese Ver¬
handlungen mit einem Kultusminister führen, der nicht nur in einwandfreien
Deutsch Rede und Antwort zu stehen weiß, sondern, der auch über die Schlag-
Worte des Parteikampfes hinaus einen wirklichen Einblick in die nationalen
Kulturprobleme besitzt. Mit einem solchen Kultusministerium wird unser Volk
in der Tat besser fahren als mit den Exzellenzen und Geheimräten von ehedem,
deren Gesichtskreis vielfach eng und beschränkt genug war, — nicht ganz so eng
freilich wie der Kreis, in dem der jetzige Nachfolger Wilhelm von' Humboldts
einen heldenhaften Kampf mit „mir" und „rach" ausficht und mit warmem
Herzen die Giftsaat des Atheismus und Radikalismus in den Kulturboden der
deutschen Schule ausstreut.
Aus Ur. 264 des „Dzienntt Poznanski"
(Posen) vom 16. November 1918. Polenl
Gesprungen sind die Fesseln, die unsere Frei¬
heit knebelten. Mit vollem Vertrauen warten
wir das Urteil des Friedenskongresses ab,
der unter unserer Mitbeteiligung die West¬
grenzen unseres Vaterlandes Polen fest¬
setzen wird.
Genug polnisches Blut ist in diesem mör¬
derischen Kriege geflossen. Darum beab¬
sichtigen wir auch jetzt auf friedlichem Wege
zu dem ersehnten Ziele, zur Bildung eines
vereinigten Polens zu gelangen, Von diesem
Standpunkt werden wir uns nicht abdrängen
lassen durch Herausforderungen, mit denen
die Leute nicht sparen, die bisher das deutsche
Volk gegen uns aufgehetzt haben.
Wir stellen jedoch fest, daß die Geduld
des polmschen Volkes einer schweren Probe
ausgesetzt wäre, wenn die Vertreter der
früheren Behörden, die uns bisher gepeinigt
und bedrückt haben, ihre unterirdische Arbeit
nicht unterlassen sollten. Man kann auch für¬
wahr von dem polnischen Volke nicht verlangen,
daß es mit denen zusammenarbeite, die es
bisher gekränkt und bedrückt haben.
Das polnische Volk hat das Recht, die
Beseitigung der Leute zu verlangen, die ihm
bisher mit Gewalt die Habe, die Sprache,
die nationalen und religiösen Ideale zu ent¬
reißen suchten. Das polnische Volk hat das
Recht, schon jetzt die Beteiligung an der Ne¬
gierung zu verlangen, die man ihm bisher
ungerechie-weise versagt hat.
Das Polnische Volk hat das Recht, Achtung
für seine Heiligtümer zu fordern, ebenso, wie
es selbst fremde Ideale achtet.
Das polnische Volk hat das Recht, die
Rückgabe dessen zu verlangen, was Eigen¬
tum der Nation ist; denn das Verbrechen der
Teilung ruft nach Wiedergutmachung des ge¬
schichtlichen Unrechts.
Unsere Interessen heischen unbedingt ein
gleichmäßiges leitendes Zentrum in der Pol¬
nischen Bewegung unserer Landesteile.' In
Anerkennung dieses Bedürfnisses haben die
Abgeordnetenfraktionen und der Exekutivaus¬
schuß des bisher nicht zu Tage getretenen
bürgerlichen Zentralkomitees den unterzeich¬
neten Kommissären die Bildung eines
Obersten Volksrats
als einer Vertretung aller Polen übertragen,
die in den bisher durch die Grenzen deS
deutschen Reiches einbegriffenen Landen woh¬
nen. Gleichzeitig hat man uns provisorisch
die Ausübung der Tätigkeit dieses Vollsrats
übertragen.
Die Bildung des Obersten VolksratS wird
auf aufrichtig demokratischer Grundlage durch
Delegierte des polnischen Volkes vollzogen,
die gewählt werden sollen durch die Stimmen
aller Polnischen Männer und Frauen im Alter
von mehr als zwanzig Jahren. Die ge¬
wählten Delegierten männlichen und weib¬
lichen Geschlechts berufen wir zu einem
Polnischen Teilgebiets-Landtage,
der am Dienstag, den 3. Dezember,
11 Uhr vormittags, im Lambertschen Saale
in Posen zusammentreten wird.
Der Eröffnung des Landtages wird um
VzW Uhr eine feierliche Andacht mit Land¬
tagspredigt in der Pfarikirche vorangehen.
Die Durchführung der Wahlen übertragen
wir im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden
des Zentral-Wahlkrmilees den bisherigen
WahIVrganisationen. Dei, wo eine solche bezw.
deren Leiter fehlen, wende man sich an uns
um Weisungen.
Angelegenheiten in ihren Bezirken, und sie
Werden
1. über die Aufrechterhaltung von Plan¬
mäßigkeit, Ordnung und öffentlicher Sicher¬
heit wachen,
Eine spezielle Instruktion werden wir in
kurzem veröffentlichen.
2. da, wo Soldaten- und ArbciterrSte
bestehen, werden sie bestrebt sein, sich mit
diesen zu verständigen und polnische Vertreter
in sie hineinzubringen,
'Die Wahlen sind bis Sonntag, den 1. De¬
zember einhebt. durchzuführen.
Der Teilgcbiets-Landtag wird uns den
Weg des Handelns für die nächste Zukunft
vorstecken.
3. sie werden mit den bisherigen Be¬
hörden sich ins Einvernehmen setzen zwecks
Mitwirkens in der Leitung der öffentlichen
Angelegenheiten, wobei sie ihre Hut auch auf
die Personen und die Habe der nichtpolnischen
Bevölkerung erstrecken werden,
1. Er wird den Obersten Volksrat als
unsere oberste Behörde wählen für die Zeit
bis zur Übernahme unserer Landesteile durch
die Polnische Negierung.
4. sie werden sich der vom Militär heim¬
kehrenden oder durch den Kreis ziehenden
Soldaten annehmen, ihnen im Bedarfsfalls
Beistand gewährend, ebenso der zurückkehren¬
den Landsleute von jenseits der Grenze her.
2. Er wird die Grundsätze dafür auf¬
stellen, wie dieser Volksrat interimistisch die
Regierungsgeschäfte zu führen hat.
3. Er wird unsere nationalen Forderungen
bestätigen, wie sie so vielmal von unseren
Abgeordnetenfraktionen unentwegt ausge¬
sprochen worden sind.
Polen I Aus einem Meere von Blut
schwingt sich der Weiße Adler empor, die
Erfüllung unseres Sehnens, unserer Wünsche
und Hoffnungen, die uns gestärkt haben in
den schweren nationalen Erfahrungen, treten
wir daher in Reih und Glied, um die Grund¬
lagen des neuen Polens zu festigen!
Bis zur Einsetzung des Obersten Volks¬
rats durch den Polnischen Teilo.ebiets-Lo.nd-
tag verbleibt die Leitung der polnischen
Angelegenheiten in den Händen der unter¬
zeichneten Kommissare.
Polen! Der jetzige Augenblick heischt von
uns Ruhe, die Anstrengung aller Kräfte,
materielle Hingabe, Disziplin und Eintracht.
In Anbetracht des Mangels an Zeit und
angesichts dringlicher Bedürfnisse werden wir
ausschließlich die wichtigsten und unbedingt
notwendigen Sachen erledigen. In die Hände
des polnischen Teilgebiets-Landtages werden
wir nach Erstattung des Berichts die uns
anvertrauten Unter niederlegen.
Posen, den 14. November 1913.
Das Kommissariat des Obersten Volksrats.
Geistlicher Se. Adamski.
Zwecks Organisierung unserer Landesteile
ordnen wir folgendes an:
Ur. 274 des „Dziennik Poznans!»" vom
29. November 1918. Tagesordnung des
Polnischen Teilgebiets-Landtages, der im
Apollosaal am 3, 4. und 5. Dezember 1918
tagen wird.
1. die in den Kreisen bestehenden Bürger-
lomittees geben ihre Tätigkeit bekannt und
nehmen den Namen „Kreis-Volksräte" an,
2. die zur Wahl der Delegierten für den
polnischen Teilgebiets-Landtag bestimmten
Wählerversammlungen wählen endgültig,
organisieren und ergänzen die Kreisvolksräte,
I. Dienstag, den 8. Dezember. .
1. Die Andacht in der Pfarrkirche um
9^/2 Uhr wird der, Herr Erzbischof abhalten.
Die Landtagspredigt wird Prälat Stychel
halten.
3. die Bildung der Volksräte in den
Stadt- und Landgemeinden durch Wahlen
der Bevölkerung wird in Versammlungen
vollzogen, die von den Kreisvolksrälen ein¬
berufen werden.
2. Nach der Andacht werden sich die De¬
legierten im Festzuge zum Versammlungssaal
begeben.
3. Um 11 Uhr im Apollosaale:
Erste Vollversammlung des Landtages mit
folgender Tagesordnung:
Die Volksräte in den Kreisen, Stadt- und
Landgemeinden übernehmen die polnischen
1. Eröffnung und Begrüßung der De¬
legierten. '
2. Vorlage und Annahme des vorläufigen
Reglements für die Landtagsverhandlungen
ohne Aussprache,
3. Wahl des Vorsitzenden, von vier stell¬
vertretenden Vorsitzenden und sechs Schrift¬
führern.
4. Festsetzung der Reihenfolge der Land¬
tagsverhandlungen.
6. Bestellung der Delegierten für die
Ausschüsse:
6. Bericht der Kommissare über die
Tätigkeit des Kommissariats.
7. Schluß der ersten Vollversammlung.
Nachmittags 3 Uhr werden die Verhand¬
lungen in den Ausschüssen beginnen. Die
Kreisdelegierten müssen sich so verteilen, daß
jedem Ausschuß wenigstens ein Kreisdelegisrter
angehören würde. Die einzelnen Ausschüsse
werden in folgenden Räumen verhandeln:
1. Überblick über die Politische Lage
Polens.
2. Berichte über die Verhandlungen der
Ausschüsse:
III. Am Donnerstag, den 5. Dezember, um
10 Uhr vormittags, im Apollosaale, dritte
Vollversammlung des Landtags.
Am Donnerstagnachmittag um 4 Uhr
Versammlung des Obersten Volksrats zum
Zwecke:
Zur Eröffnung des TeilgeViets-Landtags
schreibt der „Dziennik Poznanski" vom '3, De¬
zember 1913 u. a.:
Erhobenen Hauptes, mit Würde und Ruhe
wollen wir die offene Arbeit der Wieder¬
geburt beginnen — wir, die wir bisher nur
insgeheim unsere heiligsten Rechte verteidig¬
ten. Nötigen wir Achtung und Bewunderung
denen ab, deren Haß uns ausrotten wollte
und die heute in ohnmächtiger Wut über
uns herfallen, ihre verdiente Furcht verheim¬
lichend. Mögen sie nichts fürchten! Uns hat
heut nicht Haß. fondern Liebe vereinigt. Wir,
die wir zu warten verstanden, als die ganze
Welt gegen uns war, werden noch ihr offene»
Urteil abwarten, wo sie ganz für uns ist.
Wir kommen nicht zusammen, um „vollzogene
Tatsachen" zu schaffen, um den Ereignissen
vorzugreifen, die unwiderruflich eintreten
müssen. Die Tatsachen sind schon vollzogen.
Die Stunde der Gerechtigkeit hat aus der
Uhr der Geschichte geschlagen. Gerächt ist
das ein Jahrhundert währende Unrecht, be¬
straft ist die Gesetzwidrigkeit, und im Staub
liegen diejenigen, die ihre verbrecherische
Hand gegen die Majestät eines freien Volkes
erhoben haben.
1. der Ausschuß für Politische Angelegen¬
heiten im großen Bazarsaal, 2. der Organi¬
sationsausschuß im Mielzynski-Museum, 3. der
Ausschuß für dringende soziale und Arbeiter¬
angelegenheiten im Hause des Obersten Volks-
rats (Se. Martin 40), 4. der Ausschuß sür
Volksbildung und Schulwesen in den Stern-
sehen Sälen, 5. der Ausschuß für Angelegen¬
heiten der Verwaltung und der öffentlichen
Sicherheit im Mielzynski-Museum.
Die Verhandlungen der Ausschüsse werden
mit Unterbrechungen bis zur Erschöpfung
des den Ausschüssen überwiesenen Materials
dauern. Soweit die Ausschüsse die Arbeiten
am Dienstag nicht beenden, können sie die
Verhandlungen am Mittwochvormittag zu
Ende führen.
II. Am Mittwoch, den 4. Dezember, um 1 Uhr
nachmittags, im Apollosaale, zweite Vollver¬
sammlung des Landtags.
Polen entsteht nicht infolge Polnischer Er¬
eignisse, sondern als sichtbarer Beweis dafür,
daß die Welt andere Mächte regieren, deren
drohende Stimme ertönt, wenn sich das Böse
in der Welt zu sehr breit macht. Es ertönte
die Stimme: „Erhebe dicht" Die zerrissenen
Teile des Volles streben mit übernatürlicher
Kraft zueinander, schließen sich zusammen.
Das Voll ist wieder ganz, geeint, unzertrenn¬
lich. Niemand mehr wird zum zweiten Male
imstande sein, es in Ketten zu schmieden.
Der Ausdruck dieser sich zusammenschließen¬
den Kraft ist die heutige Kundgebung unseres
Teilgebiets . . .
In Warschau hat die Polnische BolkS-
part-i „zu Ehren der Koalition" eine große
Versammlung abgehalten, die folgende Ent¬
schließung annahm:
1. Die Versammelten fordern den Kom¬
mandanten Pilsudski auf, eine nationale
Dreiteilgebiets-Regierung zu bilden, die für
die allgemein-nationalen Interessen einzu¬
treten und — auf die Koalition gestützt —
die Grenzen des ungeteilten Polens zu ver¬
teidigen und zu festigen hat.
2. Die Versammelten fordern den Kom¬
mandanten Pilsudski auf, bei Bildung einer
gleichmäßigen polnischen Armee diese auf
eine ungesäumt angeordnete Aushebung zu
stützen. Die Versammlung spricht sich ganz
kategorisch gegen eine Zersetzung des Heeres
durch irgendwelche konkurrierende Organi¬
sationen aus.
3. Die Versammelten fordern den Kom¬
mandanten Pilsudski auf, sich mit dem
Nationalkomitee in Paris zu verständige», in
Sachen:
a) der Besetzung der Hauptpunkte deS
preußischen Teilgebiets durch Polnisches und
Koalitionsmilitär, und zwar zu dem Zwecke,
um zur rechten Zeit einem Einspruch der
Deutschen in der Ausführung des Wilsonschen
Programms vorzubeugen,
b) in Sachen dessen, daß von der Koalition
unter der Drohung der Wiedervergeltung auf
die deutsche Regierung ein Druck ausgeübt
werde anläßlich der Barbareien, die von der
mit der Waffe in der Hand heimkehrenden
deutschen Soldateska verübt wurden;
c) in Sachen dessen, daß Polen von der
Koalition 5 Konto der Entschädigung einen
Teil des der Koalition auszuliefernden
deutschen EisenbahnparkeS erhalten soll, und
zwar zu dem Zwecke einer leistungsfähigen
Inbetriebsetzung unserer Eisenbahnen sür die
Durchfuhr der Kriegsgefangenen aus Deutsch¬
land und Österreich durch Polen, sowie der
Masse unserer Arbeiter, die fortgesetzt in der
Sklaverei erhalten werden bei den Gro߬
grundbesitzern und Fabrikanten in der
„deutschen Volksrepublik". (KurierPoznanski
274 v. 29. November.)
Der Niese! brant bis Weltkrieges hat ausgetobt. „Lord" Northcliffe bittet
um Enthebung von seinem Amte, also scheint auch die Volke, Verhetzung sa seta
gelegt und für Bücher wie das oben genannte dem günstiger Augenblick zur Be¬
sprechung, Wirklich? Gehören nun auch die geistigen Molduistiummte der
letzien Jahre ins Zeughaus als Kuriosiiäten einer kühl sachlich urteilende» Nach,
weit, oder muh nicht vielmehr jetzt in deutschen Herzen das Gambctlawort auf¬
glühen : immer daran zu denken und auch — anders als es der französische
General wollte — offen darüber zu reden, was und wie die ausländische Propa-
ganda gearbeitet hat? Wir sagen: Ja, dreimal ja, denn körperliche Wunden
mögen, auch noch so schwer, schließlich vernarben, angetanen Schimpf vergißt
kein Volk von Ehre und bestände es aus lauter Pazifisten. Es,ist aber viel mehr
als Schimpf, es ist ekle Besudelung, was die Feinde, weit voran die „Al^reif
Nation", dem deutschen Wesen zu bieten wagten, und mag man im einzelnen
noch so viel „psychologisches" Verständnis aufbringen, die Tatsache bleibt
unerschütterlich: sie hoben einen anderen Geist als wir; wenn dieses Wort für
ihre aus Abgründen des Hasses geborenen Produkte perversester Phantasien nicht
zu schade ist. Jeder, der sich zwingt, die von Avenarius gesammelte Galerie der
Scheußlichkeiten (es hängen auch harmlosere Produkte daneben) aufmerksam zu
durchwandern, muß zu diesem Ergebnis kommen. Oder sagen wir vorsichtiger:
er sollte es."
Gewiß: „Vor Tische las mans anders. Zur Zeit des Burenkrieges haben
französische Karikaturisten ähnliche Greuel wie sie jetzt die bonnes angeblich ver¬
übten, dem geliebten Ententefreunde England nachgesagt. (Vgl die von Avenanus
reproduzierte Nummer der „Assiette an Verirre" aus dem Jahre 1901) ebenso
wie man gelegentlich wohl bei sich selber Grausamkeiten konstatierte (S. 37).
Gewiß: sie haben nicht nur den deutschen Kaiser, sondern auch ihren vergötterten
Bonaparte als Kleinkinderfresser hingestellt. (Die geipi ßten Kinder sind ein altes
Greuelmvtiv, das man am Engländer ebenso wie 1870 am Bayern in Bazeilles
übt, vgl. Trüffel, lVrlistoirs cis Trance en imaZes, 86 e l'ableau.)
Schließlich ist dem Verfasser zuzugeben, daß wir Deutschen, deren Land von
dem eigentlichen Elend des Krieges verschont blieb, es immerhin leichter hatten,
besonnen zu bleiben als zumal die Franzosen, und daß wir keine deißköpfigen
Romanen sind. Trotzalledem, es bleibt ein Rest, der bei aller Entschuldigung und
Erklärung nicht aufgeht, und dieser Nest ist gerade der Bodensatz der Gemeinheit,
ein geistiger Unflat von so widerlichem Verkommen ins Abdominale, und die Kloake,
daß man schaudert. Wir verzichten auf Wiedergabe der betreffenden Schmutzereien,
möge der reife Leser sich selbst überzeugen.
Wahilich wir haben einen anderen Geist als sie, trotz unseres Zusammen¬
bruchs oder gerade deswegen können wir das frei bekennen, und wenn die gewiß
edle Absicht des Kunstwartherausgebers, durch Niedrigeryängen der Pasquille auf
friderizianische Manier den Geist der Verleumdung und Verhetzung auszutreiben,
ihren Zweck erreichen soll: wir haben einen kürzeren Weg der Läuterung zu
gehen als jlne.
Wo hat sich der durch alle Kotgassen der Verleumdung geschleifte Deutsche
je zu solchen Verirrungen erniedrigt? Man zeige uns Beweise. Ehe das nicht
geschieht, halten wir es für einen bedauerlichen Mangel an nationaler Würde,
Artunterschiede zu solchen des Gradis abzuschwächen und jene dadurch zu ver¬
wischen, indem man wie z. B. Edgar Se> iger in der „Frankfurter Zeitung" (bei
Besprechung unseres Buches) vor phansäe-hafler Selbsigerechtigkcit und Üoerhebung
warnt, weil es ja auch auf unserer Seite während des Krieges „Geschmacklosig¬
keiten genng" gegeben habe. Geschmacklosigkeiten gewiß, aber nicht dergleichen
Perversitäien, wie sie das Avenariussche Buch in Fülle bietet, über die allerdings
Herr Steiger milden Auges hinwegsieht. Nein, es ist kein Pharisäerdünkel, hier
den Trennungsstrich scharf zu ziehen (auch der Herausgeber tut das, vgl. beispiels¬
weise S. 136, 222), Wohl aber ist das steigerte Verhalten ein typisches Beispiel
für das krankhafte Gerechtigkeitsgefühl, vor dem schon Klopstock die Deutschen
warnte, und das heute nach unglücklich verlaufenem Kriege — besonders in einem
Teile unserer Tagespresse — zu wahren Ekstasen der Selbstbefleckung geführt hat.
Die Neuordnung unseres staatlichen Lebens hat mit den Rechten auch die
Pflichten des einzelnen auf eine ungeheure Höhe gehoben. Für jedermann ist
es zur unabweislichen Forderung geworden, sich im Labyrinth wirtschaftlicher und
politischer Probleme den Ariadnefaden zu suchen, solem die Befähigung zu ihrer
sachlichen Beurteilung noch nicht vorliegt. Nüchternheit, strenge Piüfung der
Begriffe, die wie Scheidemünze von Hand zu Hand gehen und nichts weniger als
scharf umrissen sind, klares Wollen — das ist die Devise des Tages I Somit
brauchen wir im Reiche des Geistes Führer, die keine Pyrasenmacher sind, auf
eigenen Füszen stehen: Aufklärer, die aus der Erkenntnis den Willen zur Tat
einbinden. Hallen wir Umschau unter den Büchern auf dem Gebiet der Volks¬
wirtschaft, die dem Nichifachmann nicht ein Gerippe der systematischen Forschung,
sondern ein Gebilde von Fleuch und Bein vermitteln, so gibt es deren nicht viele,
die sich mit der kürzlich neu aufgelegen Volkswirtschaftslehre des alten, um letzten
Jahre leider verstorbenen Carl Jentsch messen können. Den Lesern der „Gienz-
boten" ist die Frische und Anschaulichkeit, mit der Jenisch se ne Probleme dar¬
zustellen wußte, wohl bekannt. Sie seien nachdrücklich auf das vorliegende zeit¬
gemäße Buch verwiesen, das bereits in mehr uls 30000 Exemplaren in unserem
Volke wirkt. Dr. Rose hat der noch von Jentsch selbst vorbereiteten Neuausgabe
zum Dasein verholfen und ihr ein warmherziges Lebensbild seines väterlichen
Freundes hinzugefügt. Ihm gebührt für seinen hingebungsvollen Dienst an der
Hinterlassenschaft des Altmeisters der Publizistik besonderer Dank und Anerkennung.
Allen Manuskripten ist Porto hinpizufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt Werden kann.
Wir bitten die Freunde der ::
Grenzboten
den Bezug zum I, Vierteljahr 1919
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanstalt entgegen. Preis 9.-— M.Verlag der
Grensboten
«. in.». H.
Berlin SWu
Wir entnehmen diesen Aufsatz mit Erlaubnis des Ver¬
fassers und Verlages dem in diesen Tagen erscheinenden
Werk von Otto Hammann „Zur Vorgeschichte des Krieges.
Erinnerungen aus den Fahren 1897—1906." (Verlag von
Reimar Hvvbing in Berlin, 1918),
anchem geschriebenen und gesprochenen Worte des Fürsten Bismarck
ist das Unrecht widerfahren, daß es von der Zeit und d u Um¬
ständen, in denen er es gebrauchte, losgelöst und als allgemein
und fortdauernd gültige Wahrheit angesehen wurde. Da seine
ganze Politik den wechselnden Ereignissen und Bedürfnissen ange¬
paßt war, so können auch seine Aussprüche nur aus den Zusamnum-
tzaugen mit den Zwecken und Zielen, denen sie jeweilig dienen solum, richiig
begriffen werden. Wer den wahren Wert seiner staatsmännischen Kunst ert unen
will, darf die Bedingtheit seiner Worte nicht übel sehen, die in Fülle während
einer funfzigjährigen politischen Tätigkeit entstanden, oft genug scheinbare Wider¬
sprüche untereinander enthalten. Der bleibende Kern ruht in seinen Teller>)
Was den großen Meister vor allem auszeichnete, war das klare Erkennen
der geschichtlichen Gründe für das Müchteverhältnis in Europa, das feinste Emp¬
finden für die nationalen Schwächen und Kioske des deutschen Volkes, und der
hellseherische Blick, vereint mit Kühnheit im Ersoffen der Zukunft. In einfachen
großen Linien mögen wir uns die Grundgedanken, die sein Werk erfüllen, etwa
so vorstellen:
In den vorangegangenen Jahrhunderten hatten die beiden Flügelländer
Europas, Nußland im Osten, England im Westen, ihre Macht allmählich immer
weiter ausgebreitet, während sich die Grenzen im Zentrum, unter beständigen
Kriegen ohne große Eroberungen, bald so bald , so, in geringem Umfang ver¬
schoben. Wie tue Allianzen unter den Herrschern und Kabinetten wech'eilen, so
wechselten auch die Siege und die Niederlagen. Unter den blutigen Opfern der
Völker und der Verwüstung der von den Kriegen heimgesuchten Gegenden blieben
der Länderbesitz und die Mächteverhältnisse so ziemlich die alten. Als stärkste
Macht unter den Rivalen in den innereurvpäischen Kämpfen erwies sich Frank¬
reich, weil es in sich national geschlossen war und einheitlich regiert wurde. Was
es aber etwa an Landstreifen gewann, wurde reichlich aufgewogen durch die
Stellungen, die es in anderen Erdteilen, Amerika und Asien, zugunsten Englands
verlor. Ähnlich erging es der österreichischen Hausmacht. Nach den Erfolgen
ihres Widerstandes gegen das Vordringen der Türken trat das im Zeitalter
Peter des Großen und der Zarin Katharina erstarkte Rußland als Erne des
„kranken Mannes" in Konstantinopel für den sutorem Euiopas auf. Nach Westen
vergrößerte es seinen Besitz durch Zertrümmerung des allmählich durch Mißwirt¬
schaft und inneren Streit zerrütteten Wahitoiiigreichs Polen. Dabei fielen kleinere
Teile an Osterreich und an das während des Beifalles des allen deutschen Reichs
aus eigener Kraft unter dem großen Kurfürsten, dem Soldatenkönig und seinem
großen Sohn emporgekommen«; Preußen.
Aber Rußland blieb, abgeschlossen von den Hauptstraßen des Weltmeeres,
immer noch Großmacht nur zu Lande. England dagegen hatte sich, inzwischen
Beherrscherin der Meere geworden, an den Küsten aller Eidteile Stützpunkte
geschaffen und große Kolonien erworben und trat so in allen E> steilen als Welt¬
macht auf. Als solche konnte sich England erst recht frei nao innen und außen
festigen und entwickeln, nachdem sein grimmigster Gegner, Napoleon, rü.l Hilfe
der Zentralmächle und Rußlands niedergerungen und von einem englischen Schiff
als Gefangener nach Se. Helena verbracht woroen war.
Auf dem Wiener Kongreß wurde mit Errichtung des deutschen Bundes¬
tages als Zentrale der Glieder des ehemaligen Reiches die deutsche Frage, die
Frage der Bildung eines Nationalstaates unter B.teiligung des Volles üm Ge¬
stalten seiner eigenen Geschicke, in die Zukunft verschoben nicht gelöst. Getöse
werden konnte sie nicht vom großdeutscheu Standpunkte aus, der den Nationalitäten¬
staat an der Donau gespalten hätte, sondern unter Fiihrung der deutschen Macht,
die innerlich am festesten gefügt und militärisch am stärksten war.
Als Herr von Bismarck-Schönhausen als preußischer Gesandter nach Frank¬
furt ging, empfand er noch österreichisch im Sinne der dualistischen Auffassung
Österreich-Preußen für die deutsche Frage. Dort sah er bald ein, daß die gegen¬
seitige Anlehnung von Preußen und Österreich em „I-gern träumt" war, und
daß der gordische Knoten der deutschen Zustände mit der passiven Planlosigkeit
der preußischen Politik nicht in Liebe dualistisch gelöst, sondern nur iniliiärisch
durchhauen werden konnte, am leichtesten in Fühlung mit Ruß>a d. Bei seinem
Pariser Aufenthalte gewann er mi> dem Scharfblick des Mensch, nknners in der
Unterredung mit Napoleon dem Dritten den Eindrnck, daß die er nicht das Mine
ein asi, als welches er in der Welt galt, sondern ein von Piesng, nahm ergriffener
Schwächling war, der mit dem Gedanken, wenn nicht der Einverleibung des
ganzen linksrheinischen Gebietes, so doch einer pstite reLtikication 6es krontiöres
und eines von Frankreich ganz abhängigen Italiens mit iranzöuschen Küsten¬
punkten spielte. Auf den „Zwischenzustairo", der b>s zu dem in der Budget¬
kommission des preußischen Landtages gesprochenen Wort vom Blut und Euer
(30. September 1862) dauerte, folgte alsbald die erste vorbereitende Tat, die
vielgescholtene, aber für die notwendige Rückendeckung a» Rußland glücklich fort¬
wirkende Hilfe in dem Kampfe gegen die polnische ni point on.
Eine zweite, auf die Zukunft berechnete diplomatische Großtat war die dem
König Wilhelm dem Ersten abgerungene Mäßigung im Nlolsbnrger Frieden.
Der Donaumonarchie wurde ohne Teiuüngnng u> d Gebielsverkleiuernng der
Rang einer bündnisfähigen Großmacht erhalten, die berufen war, den Weg nach
Konstantinopel für Mitteleuropa offen zu halten und die Teilung des Besitzes der
Türkei zwischen Rußland und England zu verhindernd
Für das Werk der nationalen Einigung, unter Ausschluß von Osterreich,
war mit der Begründung des Norddeutschen Bundes die größere Hälfte getan.
Seine Vollendung wurde zum Glück noch dadurch erleichtert, daß sich der Fran¬
zosenkaiser in seiner eitlen Rolle als festländischer Schiedsrichter dazu treiben
ließ, als Kompensation für Scidowa die bayrische Rheinpfalz und Rheinhessen
mit Mainz zu verlangen. Die Folge davon war der beschleunigte Abschluß von
Verhandlungen über Verträge, durch die sich die deutschen Südstaaten verpflichteten,
ihre Heeresmacht im Kriegsfall umer preußischen Oberbefehl zu stellen. Die beiden
Flankenmächle Europas ließen es zu, England leichter und williger als das'Ru߬
land Go-tichakows, daß von nun an die inneren Zustände Deutschlands nicht
mehr zum Vorwand für fremde Einmischungen und Machtgier dienen konnten.
Nach der blutigen Abrechnung mit dem friedlosen Nachbar im Westen ward
endlich das Schlußstück des deutschen Einigungswerkes im Saale von Versailles
vollendet. Die französischen Rheingelüste aus dem Zeitalter der Ludwige hatten
die große Revolution und des großen Napoleons Aufstieg und Sturz überlebt,
sie traten wahrend des zweiten Kaiserreichs wieder offen zutage und verschwanden
auch nach 1870 nur w-chlbehütet unter die Obeifläche. um zu gegebener Zeit von
neuem emporzuschießen. Der starke Sinn des Franzosen für Prestige war durch
Sedan viel empfindlicher gereift worden als durch Waterloo oder Sadowa. Des¬
halb hätte die vom Westen drohende Gefahr für das neue Reich vielleicht auch
ohne den Wiedererwerb Elsaß-LothnngenS fortgedauert, zu dem sich Bismarck
weniger, aus sentimentalen historischen Gründen als wegen der notwendigen
Sperrung der Einfallstore nach Süddeuischland verstand.^ Jedenfalls konnte die
Gefahr erst ausbrechen, wenn es Frankreich gelänge, Bundesgenossen zu einem
neuen Krieg gegen Deutschland zu finden. Das zu verhindern, war die Haupt¬
aufgabe der vorausschauenden Politik des Fürsten Bismarck in den beiden Jahr¬
zehnten nach der Reichsgründung bis zu seinem Rücktritt,
Die Kultur wies das junge Reich noch. Westen, die Geschichte nach Osten.
Vom Westen kam die Gefahr am Rhein, die unter den freundlichen höfischen Be-
zuhungen zwischen Bellin und Petersburg die Fortdauer der Rückendeckung an
Rußland empfahl. Aber Rußland war und blieb ein Erobererstaat mit abstoßenden
asiaiisch barbarischen Rcgierungsmethodcn. Zur Erhaltung und zum inneren Aus¬
bau brauchte das von Bismarck geschaffene Werk den Frieden, Rußland dagegen
den Krieg, weil ohne ihn die zarische Willkürherrschaft über eine Vielheit unter-
jochter Völker nicht von Bestand sein konnte. Das Drei-Kaiser-Bündnis von 1872
h as fürs eiste über die Sorge hinweg, die Richtung der aggressiven Tendenzen des
russischen Nachbars von der Mitte Europas abzulenken und einen Bund zwischen
ihm und dem allen Feind im Westen, wenn nicht zu verhindern, so doch wenigstens
hinauszuschieben. Aber schon 1876 wurde Fürst Bismarck von dem russischen-
Kanzler Füist Gortscka'off, der sich im Jahre vorher als Friedensrettcr aufzuspielen
ve> sucht holte, vor die Frage gestellt, ob Deutschland im Falle eines Krieges mit
Österreich-Ungarn wegen der orientalischen Fragen neutral bleiben würde. Die
Antwort lautete dahin, das; sich bei Gefährdung der Integrität Österreich Ungarns
für Deuischlund die Zwangslage ergäbe, für die Monarchie einzutreten, deren
lebensgefährliche Verwundung es nicht dulden könnte. Die Gegenfrage Bismarcks,,
ob Gorlsch't'vff gegen Unwstiitzung im Orient auf einen Garantievertrug für den
deutschen Besitzstand eingehen wolle, wurde rundweg abgelehnt,
Lubesdienste konnten Rußland nicht für die Dauer an Deutschland fesseln.
Bismarck war sich stets klar darüber, daß den russischen Despoten und ihrem
panslaw heischen Anhang d.r Wen der deutschen F Kundschaft durch ein möglichst
freundliches Verhältnis zu England fühlbar gemacht werden müßte. Umgekehrt
lag freilich der Fall ganz ähnlich: Ein offenes Zerwürfnis mit Rußland hätte uns
abhängig von England gemacht. Deshalb widerstand er jeder offenen oder ver¬
steckten englischen Versuchung, die russiche Freundschaft der englischen zu opfern»
und suchte eine Vorzeit ge Option für die eine oder die andere Seite zu vermeiden.
Wie er voraussah, stieß d>r russische Koloß bei seinem Vorrücken im türkischen
Kriege über den Balkan bis vor den „Eckstein der Erde" auf den Einspruch der
Weltmacht England,
Der Berliner Kongreß sah den Fürsten Bismarck auf der Höhe seiner
diplomatischen Kunst. Aber trotz aller ehilichen Maklerschafl verließ Fürst Gorlschcikoff
den Kongreß mit ungestillten Ehrgeiz. Bald darauf erscholl zum erstenmal aus
der panslawistischen Presse der Ruf: „Konstantinopel muß in Berlin erobert
werden", der später in wenig veränderter Fassung aus dein Munde Skvbeleffs
zum geflügelten Wort wurde. Fürst Bismarck hatte gesagt, im Reichstag am
L. Dezember 1876: „Niemand als die kaiierlich-ruisiiche Regierung selbst wäre-
imstande, in die erprobte hundertjährige Freundschaft zwischen ihr und der
pieußischcn Regierung einen Riß zu machen", und zu Gortschatvff in Berlin 1873
während des Kongresses: „Zwingen Sie mich nicht, zwischen Nußland und Österreich-
Ungarn zu wählen." Der Inhalt der Warnung wurde schon 1879 zur Tatsache.
Die Umstände, unter denen sich Bismarck zum' schleunigen Abschlüsse des Bünd¬
nisses mit Österreich-Ungern gedrängt sah, sind noch nicht in allen Einzelheiten
aufgeklärt. Ganz klar wird man erst sehen, wenn veraltete Rücksichten fallen und
die Alten des Auso, artigen Amtes den Geschichtschreibern zur vollständigen Einsicht
geöffnet werden. Jedenfalls waren es nicht die wütenden Ausfälle der russischen
Presse gegen Deutschland nach dem Einrücken Österreich-Ungarns in das Limgebiet
(Novivozar), auch nicht bloß der Drohbrief des Zaren Alexander des Zweiten an seinen
kaiserlichen Oheim, sondern auch geheime, auf ein offensives Vorgehen gerichtete
Besprechungen zwi chen Petersburg und Paris, die im Hochsommer 1879 den
Füisten Bismarck bestimmten, während seiner Gasteiner Kur und in Wien zu¬
sammen in>t dem Grafen Andvassy das Schutz- und Trutzbündnis mit Österreich-
Ungarn ins Werk zu setzen. Schon im Juni 1879 hatte Fürst Gortschcikoff in
Baden-Baden einem vom Herzog von Decazes empfohlenen Vertreter des Pariser
„Soleil" erklärt, er habe sich die Feindschaft Bismarcks zugezogen, weil er offen
die Ansicht vertrete, daß Frankreich sich stark machen und wieder die ihm gebührende
Stellung unter den europäischen Mächten einnehmen müsse. °)
Viel schwieriger gestaltete sich im zweiten Jahrzehnt nach der Reichsanindung
die Aufgabe, die nunmehr verbündeten Mächte der Mitte vor einer Mianz der
revanchedurstigen Gallier im Westen mit den eroberungssüchtigen Si wen im
Osten zu beivahren. Der Lguolismar clss Loalitions ivurde bis zum Eude der
Amtszeit des Fürsten BtSmarck immer drückender, Zmmchst gelang es noch einmal
mit Hilfe der guten dy lastischen Beziehungen zwischen Berlin und Petersourg
Nußland zur Mitte herüberzuwehen. Im Frühjahr 1880 erhielt der Botschafter
Sabnroff vam Zaren Alexander dem Zweiten, der mit seinem Drohbrief nach
eigenem Geständnis eine Dummheit begangen hatte, den Auftrag, in Besprechungen
mit dem deutschen Reichskanzler über Fragen des nah n Orients einzutreten.
Fürst Bismarck verlangte den Beitritt Qste>reich-Ungarns und brachte nach langem
Widerstreben des Wiener Kabinetts jenes geheime dreiseitige Neuiraliiätsabkomm n,
zunächst auf drei Jahre, zustande, das er selbst fünfzehn Jahre später, nachdem
es längst abgelaufen war, vor der Mitwelt enthüllte, und das heute noch im
Meinungsstreit von Politikern und Gelehrten fortlebt Dieser sogenannte Rück-
versicberungSvertrag wurde 1884 auf wettere drei Jahre erneuert, 1887 aber nur
von Rußland und Deutschland fortgesetzt, bis er San zu gleicher Zeit mit dem
Rücktritt Bismarcks von seinen Amiern erlosch. Mit dem Ausscheiden des Dritten
im Bunde war der Draht nach Rußland dünner u d brüchiger geworden.
Wirksamer als dieses Mittel zum Schutze gegen einen Kueg mit zwei Fronten
erwies sich die Aufnahme Italiens in das mitteleuropäische Bündnis. Der Flanken¬
schutz, den die alt Frankreich nach der Besetzung Ägyptens überwoifene Weltmacht
England wegen ihrer Mtttelmeerinteressen dnn Dreibünde gewahr e, erleichterte es
Bismarck. für die überschüssige Kraft des Reiches vorsichtig und behutsam koloniale
Erwerbungen in der Südsee und in Afiika zr, machen, Aber immer noch saß ihm
das rusnsche Hemd näher als der englische Rock, Als für Rußland nach seinem
Vorstoß gegen Merw ein ernster Konflikt drohte leistete er ihm den Dienst durch
Druck aus die Pfade, daß die Dardanellen gegen Kriegsschiffe verschlossen blieben.°)
Erst in den letzten Jahren der Amtszeit des Fürsten Bismarck, als das
Drängen der Franzosen zu einem Bündnis mit Ruszlqnd immer offener zu Tage
trat und die Saat des Hasses und der Verachmng in den russischen Oberschichten
üppiger aufging, mehren sich die Anzeichen für eine Hinneigung zu engerer Freund¬
schaft mit England. Es war die Zeit des Boiilcmgis aus in Frankreich, des Be¬
ginns der riesigen französischen Geloopser für Rußland, der ersten russischen
Wasfenbestellungeu in Frankreich. Man verablade die beiden Reden des Für >en
zur Begründung der Nork'ge vom Herbst 1886 wegen Erhöhung der Friedens¬
präsenz des Heeres, Die erste, in der Reichsiagskomnussion am 11, Januar 1887
gehalten, lehnt noch die Annahme ob, daß Rußland nach Bündnissen suchte und
wir einer Koalition Von Frankreich und Rußland gegenübe> zutreten haben würden,
nennt die Freundschaft mit Rußland noch heute über jeden Zweifel erhaben und
sieht die größte Gefahr darin, daß der seit drei Jahrhundeiten zwischen Deutsch¬
land und Frankreich schwebende Prozeß noch nicht beendigt sei rend daß unter
dem Dr, et energischer Minoritäten, die in schweren Momenten immer die Ent-
schließungen bewirkt hätten und heute von dem ieu sncrö der Revanche ergriffen ^
wären, ein neuer, diesmal ein letzter, weil mit einem saiZner ä blanc endigender
Wassergang drohe. Italien und England werden nur der Vollstnnd gien halber
erwähnt, weil kein Grund vorliege, daß wir für beide Regierungen und sie für
uns gegenseitig nicht das größte Wohlwollen haben sollten. Die zweite, die von
allen Bismarckceden berühmteste,- vom 6, Februar 1888, ist auf einen anderen Ton
gestimmt. Da kommt die Klage über unsere geographische Lage, daß Gott uns
die kriegerischste und unruhigste Nation, die Franzosen, an ti>> eine Seite gesetzt
und auf der anderen, der russischen, kriegerische Neigungen hat grosz werden
lassen. Da wird zum eisten Male von dem mit turor teutonicus geführten
Volkskriege gegen zwei Fronten gesprochen, und da sprudeln nach hittoriichen
Erinnerungen die markigen Worte hervor: „Um Liebe werben wir nicht mehr,
weder in Frankreich noch in Rußland. Wir drängen uns nicht auf. Wir haben
versucht, das alte vertraute Verhältnis (zu Rußland) wieder zu gewinnen, aber
wir laufen niemand nach l" . Italien und England kommen nur noch 'in ein paar
historischen Betrachtungen vor.
Zwischen der ersten und der zweiten Rede liegt die Verlängerung des Ver¬
trags mit Italien, zu dem nach dem Besuche Cnspis in Friedrichs! us noch eme
Mitttärkonventivn hinzukam, liegt anch der Brief Bismarcks an Sotisbiuu vom
W, November 1887. In ihm wurde England zu einem Zusammenschluß mit dem
Dreibund gegen Rußland eingeladen und anf die panslawistischen Umtriebe und
inneren Anstünde des russischen Reichs hingewiesen, wo Reaktion und Revoluiion
gleicherweise ihr Ziel durch Krieg zu erreichen suchten'). Lord Salislmry gab
eine ausweichende Antwort. Ebenso wie sich Bismarck so lange alT möglich die
freie Hand bewahren wollte, scheute Solisbmy vor einer formellen Bindung
zurück. Was er leisten wollte, war allenfalls moralischer Beistand iür den Drei¬
bund, den Bismarck mit der Abwehr wiederholter russisch französischer Versuche,
der englischen Okkupation in Ägypten Schwierigkeiten machen zu helfen, vergalt
und zugleich befestigtes).
Am letzien Ende kam es immer darauf an/ die eigene Kraft des Reiches so
sehr als möglich zu stärken. Mit der Vorbereitung einer neuen, vom Kriegs¬
minister von Verdy und dem Nachfolger Moltkes, dem Grafen Waldersee, aus¬
gearbeiteten Wehrvorlage schloß seine Minister- und Kanzlerzeit ab S e endete,
wie sie ochtundzwanzig Jahre vorher begonnen hatte: mit dem Schanden nnli-
tärischer Waffen zu Schutz und Trutz als Rückhalt für die Führung der auswör-
tigen Politik.
Das ist in groben Umrissen das Bub. das die Taten des großen Realisten
uns liefern. Wir sehen ihn groß in der Konzeption seiner Ziele, ebenso groß im
Wechsel der geeigneten Mittel' und Wege. In der ersten Hälfte seines polnischen
Lebens tritt mehr die Kühnheit der Gedanken und Einschlüsse, in der zweiten mehr
das kluge Maßhalten und die stets wache Umsicht hervor. Mag sein, daß die
Zeichnung banal ist und keinen neuen Zug enthält. Dos Einfache sieht immer
banal aus, und das Ganze im Wirken gottbegnadeter Persönlichkeiten ist nicht
immer bekannt, auch wenn es alle Einzelheiten sind. Wie mir scheint, hat e se
beim Herannahen und ivähreiid des Weltkriegs die historische Forschung mit ge-
steigcriem Hang .u MoblemstelliMgen" und „Zielsetzungen" die Ginudlinien der
polnischen Mochioerschiebungen in Europa seit 1850 und damii auch der Staat-'
kunst Bl?i»a,als 'chaN herauszuarbeiten g such,»)^
So hat also Bismarck anfangs mit der Zerrissenheit der eigenen Nation
und den Stammesfehlern im deutschen Vaterland, später aber nach vollendetem
Neubau des Reichs mit dem Verhängnis gerungen, das Hintze in die Worte faßt:
Unsere geographische Lage ist unser historisch-politisches Schicksal. Deshalb blieb
seine Politik bis zum Schluß immer nur europäisch orientiertund .trotz der
rücksichtslosen Anwendung von Blut und Eisen war sie niemals Prestige- oder
Machtpolitik, sondern immer nur sah ex die Größe Deutschlands in innerer
Stärke. Macht reizt zu Gewalt und Widergewalt, Stärke trägt die Bürgschaft
der Zukunft in sich selbst. Macht ist immer gefährlich, Stärke, in der Verbin¬
dung von militärischer Tüchtigkeit mit geistigen und moralischen Kräften, nie¬
mals.
Bei einem Vergleich des Bihma-rak im Ruhestande mit dem in
Macht und Würden, dem Reiche und seinem kaiserlichen Herrn dienenden Bis¬
marck muß man zugunsten jenes davon ausgehen, daß er keine Taten mehr voll¬
bringen konnte, sonder»! auf Worte angewiesen blieb. Ihm war der ständige
Überblick über das geheime Getriebe der Diplomatie entzogen, und sein Rat
wurde nicht leingeholt. Gleich blieb sich nur die Sorge um den Schutz seines
Wertes vor inneren und äußeren Gefahren. Er war widerwillig und unter har¬
ten Kämpfe» vom Felde seiner Taten gewichen, und aus seinen Worten sprach
nicht nur Weisheit, sondern auch leidenschaftlicher Groll. So mußte Wohl der
gealterte, erbittert die neuen Männer am Steuer befehdende Bismarck ein ande¬
rer sein als der im Vollbesitze seiner Möcht und seines Einflusses auf die Ge¬
schicke des Reichs und Europas.
Von Persönlichen, mitunter allzu Persönlichen, abgesehen, hat er sich in
seinen öffentlichen Reden, Tischgesprächen, Eingebungen in den ihm ganz er¬
gebenen Blättern während der acht Jahre vom Rücktritt bis zum Tode als War¬
ner hauptsächlich in zwei Richtungen vernehmen lassen: Gegen die Sozialdemo¬
kratie und über unser Verhältnis zu Rußland.
Die große innere Krisis des Reichs, die schweren Kämpfe um die Frage,
ob gegen die noch ganz vom Geiste des kommmnstischen Manifestes von Marx
und Engels beherrschte sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Umsturzgefahr
ein n e u e s S o z la ki se e n g e s e dz, sei es auch unter Verfassungsbruch, erlassen
werden füllte oder nicht, habe ich schon in dem „Neuen Kurs" ausführlich zu
schildern versucht. Unter den äußeren Gründen für die Entlassung des Fürsten
Bismarck aus seinen Andern hatte sein Widerstreben gegen die vom Kaiser ge¬
wünschte Ära verstärkten Arbeiterschutzes die Hauptrolle gespielt. Umgekehrt war
der Sturz seines Nachfolgers, des Grafen Caprivi, durch dessen Weigerung ver¬
anlaßt, nach dem von einem Anarchisten ein dem Präsidenten Carnot verübten
Morde mit einem neuen Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterpartei vorzugehen.
Fürst Bismarck hat diesen Umschwung mit Genugtuung begrüßt und bis zu
seinem Lbensende alles getan, was in seinen Kräften stand, um die Minderheits-
Parteien zum Kampfe gegen den Umsturz anzufeuern. Nur wenige seiner per¬
sönlichen Anhänger unter den Parlamentariern und in der Presse folgten eben
hierin nicht und bewahrten sich ihr selbständiges Urteil.
Aus dem Todesjahre ist noch eine charakteristische Äußerung nachzutragen,
die Fürst Bismarck bei einem Besuch von Verehrern aus Sachsen tat und kurz
nach seinem Tode Professor Kümmel in Leipzig veröffentlichte. Der Fürst sagte:
„Als Deichhauptmann mußte ich nach dem Satze Verfahren: Wer nicht will mit¬
deichen, der muß weichen. In Rom war squ» vt igai illtsiäiotvs. wer sich
^ulj.erhcilb der Rechtsordnung stellte, im Mittelalter nannte man das nahten.
Man sollte die SozialdemotraUe ähnlich behandeln, ihr die politischen Rechte,
das Wahlrecht nehmen. So weit würde ich gegangen sein. Man behandelt jeyt
die Sozialdemokratie viel zu leichtsinnig .... Der Kaiser war eingeschüchtert.
Er sagte mir, er wolle nicht einmal Kartütschenprinz heißen und nicht gleich am
Anfang seiner Regierung bis an die Knöchel im Blut waten. Ich sagte ihm:
Ew. Majestät werden noch tieser hinein müssen, wenn Sie jetzt zurückweichen."
Das entsprach ganz, dem Wort vom „blutigen Kataklhsmus", der, wie der Fürst
kurz nach seiner Entlassung meinte, die Lösung der sozialistischen Wirren fein
werde. Ein großer Irrtum! Wir haben es erlebt, daß die ganze Arbeiterschaft
und ihre Führer, als die Stunde der Not des Vaterlandes kam, mitgedeicht haben.
In der auswärtigen Politik war das A und das O des Mahners im
Sachsenwalde: Rückkehr zu Nußlan d. In seinen öffentlichen Ansprachen
wie in seinen Eingebungen für die „Hamburger Nachrichten" kehrte häufig die
Klage wieder, daß die Rückendeckung bei Rußland leichtsinnig preisgegeben
worden sei. Gegründet war sie auf die Tatsache, daß sein Nachfolger das Neu-
tralitätsabkommen, das von 1887 bis 189!) ohne den früheren dritten Teilnehmer,
Oesterreich-Ungarn, fortgesetzt worden war, hatte versallen lassen. Dabei befand
sich Fürst Bismarck in dem Irrtum, daß das persönliche Vertrauen Alexanders
des Dritten zu ihm, wovon nach seiner eigenen Meinung der Wert des ganzen
Abkommens hauptsächlich abhing, in Wirklichkeit nicht vorhanden war. Die in
Narwa (Sommer 1890) zu Kaiser Wilhelm und seinem neuen Kanzler gesproche¬
nen Worte, in denen der ohnehin von Natur argwöhnische Zar sein tiefes Mi߬
trauen gegenüber dem alten Kanzler bekundete, sind erst lange nach dem Tode
Bismarcks bekannt geworden.
Die Nachfolger schwiegen über das Bekenntnis des Zaren und beschränk¬
ten sich gegen den wiederholten Vorwurf, den Draht nach Rußland abgerissen zu
haben, auf die Versicherung, daß die guten dynastischen und amtlichen Be¬
ziehungen zwischen Petersburg und Berlin keinen Schaden gelitten hätten. In
der Tat waren sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, besonders
seit der Thronbesteigung des Zaren Nikolaus des Zweiten, viel freundlicher als
im letzten Jahrzehnt der Amtszeit des Fürsten Bismarck. Was bedeuteten aber
die notgedrungen schwachen Einwände Caprivis, Hohenlohes, Marschalls gegen¬
über dein vernichtenden Urteil eines Bismarck wegen der Nichterneuerung des
russisch-deutschen Versicherungsvertrags! Wie bei einem großen Teil der Zeit¬
genossen, so setzte sich bei den meisten späteren Geschichtsschreibern die Ansicht
fest, daß der Verzicht auf das' Abkommen ein folgenschwerer Fehler gewesen sei.
Erst während des Weltkrieges hat sich hierin ein Wandel angebahnt.' Hermann
Oncken ist in seinem gleichzeitig mit meinen Erinnerungen über den neuen Kurs
in den Druck gegebenen Werke: „Das alte und das neue Mitteleuropa" in eine
Nachprüfung des grimmigen Stempels eingetreten, den der große Kämpfer nach
seiner Entlassung auf jenen Verzicht gedrückt hat, und dabei zu einem ganz ähn¬
lichen Ergebnis wie ich gekommen.
Nun hat sich auch mein älterer Kollege aus dem Auswärtigen Amt, der
Gesandte a. D. Wirkliche Geheime Rat L. Raschdau, in den „Grenzboten" zu dem
gleichen Thema vernehmen lassen. Wie kaum ein anderer ist er berufen, mehr
Licht in das Dunkel der Geschichte des RückVersicherungsvertrags und seines
Werth für Teutschland zu bringen. Er war seit 1886 Vortragender Rat im
Auswärtigen Amt und seit seinem Übergang von der handelspolitischen in die
politische Abteilung (1888) mit Behandlung der russischen Angelegenheiten be¬
traut, er gehört zu den wenigen, die' den Inhalt des deutsch - russischen Ab¬
kommens genau kennen und ist unter den fünf oder sechs Amtspersonen,, die bei
dem Entschlüsse, auf die von Rußland, gewünschte Verlängerung nicht einzugehen,
mitgewirkt haben, der einzige Überlebende. Bei dem Besuche/ in Narwa (1890)
befand er sich mit dem Kanzler von Caprivi im kaiserlichen Gefolge.
Wie aufrichtig Raschdau den Altkanzler verehrte, geht aus seinen Bei¬
trägen zu den von Erich Marcks, A. v. Brauer u. a. herausgegebenen persön¬
lichen „Erinnerungen an Bismarck"") hervor. In seinem Grenzboten-Artikel
bestätigt Raschdau, daß der Zar, auf dessen Haltung Fürst Bismarck nach seinen
öffentlichen Erklärungen fest vertraute, gerade in der letzten Vertragsperiode „be¬
denkliche Beweise von Unsicherheit" zu erkennen gegeben hatte. Nach einer
Schilderung, wie sich die deutsch-russischen Beziehungen in den Jahren 1881 bis
18W tatsächlich entwickelt hatten, stellt Raschdau die Frage: „Kann ein Un¬
befangener, der sich diese Vorgänge (Ersatz des Nihilismus durch den Panslawis-
mus, russisch-französische Verbrüderungsfeste seit 1887, russische Maßregeln gegen
die Ausländer, besonders dos Deutschtum, deutscher Feldzug gegen die russischen
Werte kurz vor dem Besuch des Zaren in Berlin, darauf folgende Veröffent¬
lichung des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisvertrages usw.) ins Ge¬
dächtnis zurückruft, wirklich die Meinung hegen, daß der Nückversicherungs-
vertrag einen günstigen Einfluß auf die gegenseitigen Beziehungen der beiden
Großmächte geübt habe? Es läßt sich nur erwidern, daß ohne ihn die Lage viel-,
leicht noch gespannter gewesen wäre."
In meinen Erinnerungen hatte ich gesagt, daß sich nur ein Staatsmann
von der Meisterschaft und den unvergleichlich reichen Wirkungsmöglichkeiten
eines Bismarck zutrauen durfte, das Spiel mit den fünf Kugeln (Dreibund und
Ruckversicherungen mit Nußland Und Rumänien) auszuführen, ohne daß die
eine.mit der anderen karambolierte und zu Boden fiel. Infolgedessen sei der
Verzicht auf das russische Geheimabkommen eine Notwendigkeit gewesen, wenn
Bismarck ging. Einige .Kritiker wollten darin ein höchst blamables Zeugnis für
die Unfähigkeit der deutschen Diplomaten der nachbismarckschen Zeit erblicken.
Eine sonderbare Auslegung! Als ob Bismarck nur ein Diplomat von gutem
Durchschnitt, nicht aber der alles überragende Staatsmann Europas im vorigen
Jahrhundert gewesen Ware! Dagegen heißt es in dein Raschdauschen Aufsatz:
„Nicht sowohl von der Existenz unseres Vertrages als vielmehr von der Staats¬
kunst des Fürsten Bismarck hing es ab, daß die fortdauernd kühlen Beziehungen
sich nicht weiter verschlechterten. Als dann mit seinem Ausscheiden das un¬
geheure Gewicht seines Namens entfiel, das keinem seiner Nachfolger, wer es
auch sei, beiwohnen konnte, mußte die Frage in den Vordergrund treten, ob dem
Vertrag die ursprünglich zugedachte Bedeutung noch beizumessen sei und ob bei
einer längeren Fortdauer nicht, unser Verhältnis, in erster Linie zu Österreich-
Ungarn, dann aber auch zu anderen Staaten, denen gegenüber wir in unseren
Bewegungen durch das Abkommen eingeschränkt waren, darunter leiden müsse."
Wie oft hat Fürst Bismarck während seiner Amtszeit über die brutale
panrussische Erobererpolitik gestöhnt und sich dagegen aufgebäumt, der „Vasall"
oder, wie sich der Abg. Jörg einmal .ausdrückte, der „Kettenhund des Pan-
slawismus" zu sein! Noch um Jahre 1897 aber hegte er Zweifel an einem ver¬
brieften Bunde zwischen Rußland und Frankreich. Nachdem endlich bei dem Be¬
suche des Präsidenten Faure in Petersburg vom Zaren Nikolaus des Zweiten
das in Paris sehnlich erwartete Wort Allianz ausgesprochen war, sagte er zu dem
Herausgeber der „Zukunft":") nstions kllioes könnte unter Umständen eine
bloße Artigkeit, .eine Unterstreichung des ebenso unverbindlicher Wortes nstion«
armes gewesen sein, schwerlich würde auch der Inhalt eines Vertrags, wenn
überhaupt einer existiere, den Franzosen gefallen, man überschätze heutzutage
vielfach das Dekorative in der Politik. Woran er mit der Hartnäckigkeit des
hohen Lebensalters im.Gedenken längst vergangener Zeiten nicht glauben mochte,
das war schon am 27. August 1891 durch einen Notenaustausch begonnen und
1892 durch eine Militärkonvention, 1894 weiter durch einen förmlichen Bündnis¬
vertrag vervollständigt worden.
Unter dem Tiiel „Die deutsche Weltfrage" schrieb Dvßojewsli in einem im
Mai 1877 veröffeiulichten Amiet:"j ,,l1ut da kommt nun noch (zu der vilen
Gewöhnung der Denischen c»> Zeripaltung. die nicht so schnell ve> schwinde wie
ein ousgell'unteres Glas Wasw) da!' Nninrgesctz selber sino: Deutschland ist
in Europa immerhin das Land, das in der Mitte liegt. Wie start es auch sein
mag — auf der einen Seile bleibt Frankreich, auf der anderen Rusland Es ist
ja wahr, die Nüssen sind- vorläufig noch höflich. Wie aber, wenn sie plötzlich er¬
raten, daß nicht sie des Bündnis mit Deutschland brauchen, woh> aber Deutich-
l::ut das Bündnis mit Rußland, und überdies noch, daß die Mhänchgk'it von
dein Bündnis mit Rußland allein Anschein nach die verhängnisvolle B ftimmnng
Deutschlands ist und besonders seit dein denses^fianzöfisch u wiege (»n Oriuinol
gesperrt gedruckt). Das ist es ja, warum an die allzu große Ehrerbietung Ru߬
land!:' selbst ein von seiner Kruft so überzeugter Mensch/ wie B'!>marck, rictu im-
stande ist zu glcinben" Was der geniale, die deutsche Nuliur Ueb.nde. aber von
mystischem Glauben ein die Herrlichkeit des russischen Gones beherrschte Dichter
vom Erraten seiner Russen ahnte, traf bald genug ein, und uleichzeitig wiutis das
Mißtrauen, von dem sich der deutsche Kraftmensch gegenüber der rusnschen Ehr¬
erbietung leiten ließ. Aber nur auf die Dauer seiner Amtszeit. Der Biswarck
im Ruhsstande ließ in seimn vielen öffentlichen Äußerungen 'meng mehr davon
merken, und so wurde die unuerbrüchliche Freundschaft mit Rußland in dem
weiten Kreise seiner dankbaren Verehrer allmählich zum Dogma.
Im inneren Zusammenhang mit den Ermahnungen zum engen Anschluß
an Nuszlund standen die Angriffe des entamteteu Kämpfers . ge.im den neun
Polenturs in Preußen. Die Politik Caprivis nach innen war auf mänlichste Zu-
saminenfafsrng aller Kruste, mit El Schluß der ehemaligen „Neichsfeinde". einge¬
stellt. Die Hauptbeschwerdcn der dentschen Katholiken waren schon von Bismarck
durch den Nbbnn der preußischen Maigesetze gewittert worden, dagegen fand der
Nachfolger noch eine verschiffte Behandlung der - polnischen Jrredenta in Preußen,
nicht bloß in Foeur von Schutzmaßregeln für die in Posen und Westpreußen
.mener mehr zilrückgedrängte deutsche Besiedelung, sondem auch auf dein Gebiete
*ver Kirche und Schule vor. Nach dein Tode des Erzbischofs Dinder wurde das
Eizbistum Gncson wieder mit einem Siockpolen in der Person des Prälaten
von Stablewsli bes'tzr. cer als Abgeordneter in der Kulturkampfzeit einer der hef¬
tigsten Redner gewesen, nun aber zu einer versöhnlicheren Haltung bereit our.
Der Kultusminister Graf Zedlitz-TrützschZer. vorher Oberprändent ner Provinz
Posen, erließ alsbald tiach ieiner Ernennung eine Verfügung (vom 11, April 1891),
die den Voüsjckullchrerüi die Erteilung von Privatunterricht im polnischen Lej.n
-lind Schreiben im SchuIgebmiZe gestattete. Die Neuerung besiaud iiur darin,
daß der polnische Pnvaiunienicht im Lisen und Schreiben alles in öffenilichcn
Schülgebiuiden abgeyalien werden durste. Trotzdem erregte sie damals schcufe
D vatieii. bei denen Anhänger des alten Kurses so taten, als ob die Hergabe von
Samlhäusern . zur Erleichterung des PnvatunterncktS in den Elementen der
Muüeisproche in s der Perwirilichiino in vßpolinstber Träume näher oiächie.
Beide Maßregeln, die Wahl eines Polnischen Erzbischofs und der Schul¬
erlaß -des Kultusministers, hatten -zunächst den günstigen Erfolg, -daß die polnische
Fraktion im Reichstage ihren reinen Proteststandpunkt verließ und begann, an
den Reichsangelegenheiten, namentlich den militärischen und maritimen, mitzu¬
arbeiten. Tös dauerte aber nicht lange. Gegen die sog.' Hospartei des .Herrn
v. Koscielski (spottweise Admiralski genannt) erhob sich das -demokratisch gerichtete
polnische Bürgertum in den Städten, zum Teil mit Unterstützung von Kanzel
und Beichtstuhl, und bei der hundertjährigen Wiederkehr des Tage's der zweiten
Teilung Polens (1M5) erschienen in der polnischen Provinzpresse Artikel, in
denen die Wiederaufrichtung des alten Polenre-ichs, womöglich von Meer zu
Meer, d. h. von der "Ostsee bis zum Pontus Euxinus, gefordert wurde. Auch
fehlte es in den Ostmarken nicht an brutalen Ausschreitungen sanat-isierten
Volkes gegen preußische Beamte.
Fürst Bismcirck hielt die Tendenz des von Caprivi begonnenen
und vom Fürsten Hohenlohe fortgesetzten versöhnlichleren Polenkurses
von vornherein für verfehlt und schädlich: für verfehlt, weil sie doch
ihr Ziel, die deutschen Polen zufriedener zu machen, als die geknechte¬
ten russischen waren, nicht erreichen würde, für schädlich, weil- das
zarische Rußland Anlaß hätte, daran zum Nachteil der alten freundnachbarlichen
Beziehungen Ärgernis zu nehmen. Schon im Juli 1892 ließ er in den „Ham¬
burger Nachrichten" schreiben: die Verschärfung der Gegensätze zwischen Berlin
und Petersburg sei -hauptsächlich durch die Politik erfolgt, die von preußischer
Seite in den polnischen Fragen unter den Einflüssen des Zentrums ausgeführt
werde, die Aussicht, daß wiederum Borbereitungen zur Revolutionierung des
russischen Polens getroffen würden, könnte unmöglich das Vertrauen zwischen
den beiden Nachbarreichen fördern. Diese und ähnliche Äußerungen stimmten
weder mit der Tatsache überein, daß sich schon -in den letzten drei Jahren der
Bismarckschen Kanzlerschaft die russisch-deutschen Gegensätze verschärft hatten,
noch trafen sie den wahren Sinn der neuen Polenpolitik. Ebenso merkwürdig
war die wiederholtvom Fürsten B-ismarck im Ruhestande ausgesprochene Auf¬
fassung, die Panslawisten seien nicht so gefährlich, die schlimmsten Kriegshetzer
seien Polen, Juden, Nihilisten und Franzosen, besonders der Pole mit seiner
höheren Bildung und seiner Meisterschaft im Verschwörerwesen mache die
russische Presse gegen Deutschland mobil. Richtig daran mochte sein, daß die pol¬
nischen Beamten und Journalisten eine bessere .Kenntnis der inneren russischen
Schwäche besaßen und hauptsächlich darauf ihre Zukunftshoffnnngen stellten.
Während seiner Amtszeit hat Bismarck Stunden gehabt, ,in denen er sich für
den Fall eines deutsch-russischen Zusammenstoßes mit dem Gedanken einer Los¬
trennung Kongreßpolens von Rußland beschäftigte. Das stärkste Zeugnis dafür
liefert eine Stelle in den Hohenloheschen Denkwürdigkeiten (II, S. 343) aus dem
Jahre 1833. Danach äußerte Fürst Bismarck: Ein Krieg mit Rußland, bei dem
Mir Osterreich unterstützen, müßten, sei ein Unglück, denn wir könnten ja nichts
gewinnen, nicht einmal die Kriegskosten bekommen. Bei günstigem Verlauf
«lichten wir Polen bis an die Dura und den Tnjepr Herstellen. Wir würden
zwar Polen nicht revolutionieren, aber Österreich-Ungarn gewähren lassen, das
dann einen Erzherzog zum König von Polen machen würde. Gegen das neue
Königreich würde sich dann wieder ein Drei-Kaiser-Bündnis bilden. Im
Oktober 1887 warf Bismarck zu seinem Friedrichsruher Gast Crispi die Be¬
merkung hin: Wenn man den Polen «in wenig hülfe, sich zu erheben, könnten
sie ihr Joch abschütteln und unter einem österreichischen Erzherzoge einen selb¬
ständigen Staat bilden. Drei Jahre später, kurz noch seiner Entlassung, sagte
er zu einem russischen Zeitungsmann: Betaue Deutschland in einem Kriege mit
Rußland die Oberhand, so müßte es die Polen nehmen, deren wir schon genug
hätten. Gewiß, der erste und dritte Ausspruch richteten sich gegen das Unglück
eines Krieges mit Rußland. Aber für den schlimmsten Fall 'hi'ete sich der Alt¬
meister doch-den Weg zu einer vollständig veränderten Behandlung der Polen¬
frage offen.
Hermann Oncken, der sich in seiner erwähnten Schrift über das alte und
das neue Mitteleuropa ausführlicher mit der Polenpolitik beschäftigt, beruft sich
auch auf das Buch: „Bismarck. Zwölf Jahre deutscher Politik 1871 bis 1833",
erschienen in Leipzig 1884, in dem ein wundersames Gespräch Bismarcks mit
dem Grafen Se. Ballier (von 1878 bis 1882 französischer Botschafter in Berlin)
wiedergegeben ist. Die Unterredung sollte nichts Geringeres zum Gegenstand
gehabt haben, als einen Freundschaftsbund zwischen den Großstaaten Mittel¬
europas (Teutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn), der an Innigkeit alle
Allianzen übertreffen, die Teilung der Türkei zwischen Rußland und England
verhindern, dem gegenseitigen Zerfleischen von Deutschland und Frankreich ein
Ende machen und durch seine weltpolitische Bedeutung den Streit um Elsaß-
Lothringen zu einer Winzigkeit Herabdrücken würde. Dabei sollte Fürst Bis¬
marck auch die wegen der steten Gefahr am Rhein notwendige russische Rücken¬
deckung beklagt haben, die dazu geführt hätte, daß die deutschen Mächte mit ge¬
bundenen Händen zusehen mußten, wie das Nachbarland Polen ruiniert wurde,
und daß sich Preußen wie ein wachsamer Hund vor die polnischen Tore Ru߬
lands legte.
In der Annahme, daß diese Veröffentlichung amtlicher oder halbamtlicher
Herkunft gewesen sei, folgt Oncken dem 1892 anonym erschienenen Werke „Ber-
lin-Wien-Nom" von Julius von Eckardt. Dieser vortreffliche Schriftsteller von
Welterfahrung, politischer Schulung und reichem Wissen war, aus seiner balti¬
schen Heimat wegen seiner deutscheu Gesinnung verdrängt, zuerst in Hamburg
tätig und wurde baun unter Bismarck, der sich für ihn interessierte, in den aus¬
wärtigen Dienst übernommen. Unter Caprivi kam er von dem Konsulat in
Marseille auf .den Posten des Generalkonsuls in Stockholm. Sein Berlin-Wien-
Rom wurde von dem Strudel, der bei der Wiener Reise des Fürsten Bismarck
und durch die Veröffentlichung des Uriasbriefes entstand, verschlungen, ist aber
heute noch lesenswert. Die Annahme jedoch, daß jene „Zwölf Jahre auswärti¬
ger Politik" unter amtlicher Billigung erschienen seien, unterliegt starkem
Zweifel.
Die Schrift rührte von dem Journalisten Hermann Robolskh her. Er
war zu jener Zeit schon in reifen Jahren, ich kannte ihn oberflächlich und er¬
innere mich noch seiner heiter-gutmütigen Augen. Sein Brot verdiente er mit
leicht geschriebenen Artikeln und Berichten, hauptsächlich aber mit der Her¬
stellung von Büchern. AIs Bücherfabrikant war er ein Proteus. Bald verbarg
er sich unter drei Sternen,, bald erschien er unter dem Namen Wiermcmn, bald
tauchte er als A. v. Niedern und ähnlichen unfaßbarer Gestalten auf. Aus den
dicken Bänden der von Poschinger herausgegebenen Aktenstücke: „Preußen am
Bundestag" verfertigte er einen kleinen Poschinger, und für die zwei Bände:
„Der deutsche Reichstag. Seine Parteien und seine Größen" stand ihm eine
reiche Sammlung von Zeitungsausschnitten zur Verfügung. Überhaupt war in
seinen Büchern viel Scherenarbeit. Bei der Eile, mit der er sie herstellen mußte,
fehlte ihm Zeit und Lust, um in der Angabe seiner Quellen genau zu sein. Auch
hierin verschleierte er gern. Im Falle Bismarck-Vallier war es „ein dem Für¬
sten nahestehender Parlamentarier", der ihm das Gespräch mitgeteilt hoben
sollte. Sicherlich war Robolsky stramm bismarckosiiziös, aber freiwillig und
ohne Auftrag.
Die Äußerungen des Fürsten zu Se. Ballier nehmen bei Robolsky fast
sieben Seiten ein. Ob Bismarck gegen das Gespräch nach seinem Erscheinen
Widerspruch erheben ließ, konnte ich nicht ermitteln. Dagegen spricht, daß Ro¬
bolsky im Jahre )889 in einen: neuen, von ihm unter dem Namen A. von Unger
herausgegebenen Buche: „Unterredungen mit Bismarck" die Äußerungen zu dem
französischen Botschafter wörtlich wieder abdrucken ließ. Nur die früher an¬
gegebene Quelle, der dem Fürsten Bismarck nahestehende Parlamentarier, fehlte.
Dafür war in der Vorrede gesagt, daß das Buch nichts bringe, was nicht in
längst verwehten Zeitungsblättern, in Memoiren und Tagebüchern zerstreut zu
finden sei. Auch jetzt erfolgte, soviel mir bekannt, kein amtlicher Widerspruch
gegen die angebliche Unterredung mit Se. Ballier.
Erst nach dem Erscheinen des Eclardtfchen Buches kam eine Verwahrung.
Hugo Jacobi erklärte nach Rücksprache mit Friedrichsruh in der „Allgemeinen
Zeitung" das angebliche Gespräch für willkürlich erfunden und hob als unsinnig
namentlich die Behauptung heraus, daß Bismarck das türkische Festland nur den
Ostereichern, Franzosen und Deutschen vorbehalten wissen wollte. Auch von der
Möglichkeit eines russischen Ranbzuges wollte man in Friedrichsruh damals
nichts wissen und nannte sie eine Utopie, die durch demokratische und polnische
Preßeinflusse großgezogen werde.
Aber neben der schwachen Stelle über die europäische Türkei enthält die an¬
gebliche Unterredung mit Se. Ballier sehr starke Sätze, die sich Robolsky gewiß
nicht erfunden hat und Fürst Bismarck sehr Wohl in der Zeit der russischen
Kriegsdrohungen 1879 zu einem so diskreten und verständigen französischen
Vertreter, wie es der damalige Botschafter in Berlin war, gesprochen haben
könnte. Bismarck hatte ja auch in Wien vom Kaiser Franz Joseph und Grafen
Andrassh bestätigen hören, daß der Gortschakofische Plan eines Bündnisses mit
Frankreich an der Abneigung der Pariser Negierung bisher gescheitert sei.
Neben einer packenden Schilderung des historischen Verlaufs der Kriege in der
Mitte Europas darf man zu den starken Stellen in dem Bericht z. B. diese
rechnen: „Wenn England und Rußland fand ihren Satrapen Gelegenheit fänden,
sich in den Besitz der Türkei zu teilen — denn ans den Antagonis-
m u s de r beiden Welt in ächte die Hoffnu n g zusetzen, wäre
w ohIWahnsinn — dann hätten die Siege oder 'Niederlagen der mittel¬
europäischen Mächte allerdings den traurigsten Ausgang genommen, und ihr
Schicksal wäre besiegelt."
Also bei der Berufung auf die Robolskysche Sammelschrift zum Beweise
für gelegentliche polenfreundliche Anwandlungen Bismarcks im Kanzleramt
bleibt ein mein Uauot. Der Bismarck im Ruhestande ist jedenfalls bei seinen An¬
griffen auf den neuen von den alten „Reichsfeinden" Zentrum und Fortschritt
unterstützten Polenkurs in Preußen fortwährend davon ausgegangen, daß dieser
den deutsch-russischen Beziehungen abträglich sei. Tarin ließ er sich auch durch
den selbstherrlichen Dünkel nicht beirren, in dem das Zarenregiment die Ver¬
gewaltigung des Baltikums durchführte und periodisch den unterdrückten Kon¬
greßpolen ein größeres Maß von Freiheit in Kirche und Verwaltung verhieß,
ohne sich dort um deutsche Empfindlichkeiten und hier um etwaige Rückwirkungen
auf die preußischen Ostmarken im mindesten zu kümmern.
Neben der Sorge um die Pflege der -Freundschaft mit Rußland hat das
Verhältnis zu England den Geist Bismarcks nach seinem Sturze nur
wenig beschäftigt. Im Anfange fehlte es nicht an abfälligen Bemerkungen über
englische, durch'die Kaiserin Friedrich vermittelte Hoseinflüsse. Als aber in einer
Londoner Korrespondenz der „Kreuzzeitung" .behauptet wurde, daß zur Zeit des
Berliner Thronwechsels 1883 eine starke Verstimmung zwischen dem Londoner
Kabinett und dem Berliner Auswärtigen Amt bestanden hätte, gingen die „Ham¬
burger Nachrichten" scharf dagegen ins Zeug. Sie nannten es eine dreiste Un¬
wahrheit, daß nach dem Rücktritt Bismarcks eine Wandlung der deutsch-engli¬
schen Beziehung?» erforderlich gewesen wäre, -vielmehr wäre seit dem Amts¬
antritt Lord Sulisburys stets kein von beiden Seiten diskret und erfolgreich ge¬
pflegtes Unternehmen vorhanden gewesen. Auch bei der Kritik des Helgoland-
Vertrags hielt Bismarck an dem Grundsatz fest, daß dos Bestreben, mit England
aus gutem Fuß zu bleiben, ditil-genswert sei..-
Auf zehn Bismarckartikel über Rußland kam ungefähr einer über Eng¬
land. Zum Teil erklärt sich das daraus, daß Bismcirck, wie die „Hamburger
Nachrichten" bezeugten, -an der Festigkeit der englischen Freundschaft, solange
Lord Salisbury im Amte war, keinen Zweifel hegte. Das Vertrauen war hier
ebenso wie beim Rückv-ersichlerungsvertr'ag gang auf die maßgebende Person ge¬
stellt. Andere Klänge aus dem Sachsenwalde vernahm man erst zur Zeit des
Krügertelegramms. Die Explosion, die die baiserliche Glückwunschdepesche an
den Präsidenten der Burenrepublik verursachte, war dem Fürsten Bismarck über¬
raschend. Sein Hamburger Organ wollte sich kaum eines Ereignisses aus neue¬
rer Zeit erinnern, durch das die Unehrlichkeit der englischen Presse so festgenagelt
worden wäre wie in dem zornigen Ausbruch gegen das Telegramm, in dem der
Teutsche Kaiser doch, „genau betrachtet", nur der sittlichen Entrüstung der eng-
l i schen Regierung über den räubereischen Einbruch in Transvaal den Beistand
seiner europäischen Autorität leistete. „Die russische Politik hat ja auch ihre
Strebsamketten, aber ohne christliche Heuchelei und mit geschickterer Beachtung
der äußeren ForiNen."
Ende Januar 1896 kam dann noch ein langes Register von englischen Un¬
freundlichkeiten gegen - Deutschland aus der Vergangenheit, von der Zeit des
siebenjährigen Krieges ab und seit dem Wiener Kongresse, hinzu. Dos Ham¬
burger Organ stimmte damit ganz, ohne die sonst gegenüber dem Kabinett Salis¬
bury beobachtete Schonung, in den allgemeinen Chor der deutschen Presse Wider
England ein. Die schon vorhandene Anglophobie in der deutschen Öffentlichkeit
nahm nun erst recht zu und unterstützte die alte Mahnung, nur in der Freund¬
schaft mit Rußland das Heil gegen den Druck auf die Mitte zu -suchen.'
Der hellblickende Botschafter a. D. Graf Monts hat in einem seiner für
das „Berliner Tageblatt" geschriebenen Artikel") die Vermutung geäußert, Bis¬
marck habe Rußland deshalb stets nur mit Samtha-ndschuhcn angefaßt, weil er
hoffte, über kurz oder laug müsse der Zusammenbruch in sich selbst erfolgen.
Dafür spricht vielleicht die Stelle des Briefes an Lord Salisbury vom.22. No¬
vember 1887, wo Bismarck neben den panslawistischen Umtrieben die innere»
revolutionären Zustände des russischen Reiches als gefährlich für den europäi¬
schen -Frieden erwähnt. Auch das zu Bernhard von Bülow gesprochene Wort
aus den Endjahren der Amtszeit des großen Kanzlers, von dem russischen Faß,
in dem es ganz bedenklich gäre und rumore, konnte herangezogen werden. Aber
das war noch der Bismarck in der Fülle seiner Macht, der grollende Kämpfer
nach 1890 war ein anderer, Und das eben -ist bei nüchterner Betrachtung seiner
politischen Wirksamkeit im Ruhestande -der hervorspringende Punkt, daß qlle
seine Erinnerungen und Ermahn u n-gen viel mehr an d en
Er l eb n iss en d er s e es zige r u n d siebzig e r I ahre des vorigen
I a hrhund erts als a n denen d e r letzten z e h n Jahre seiner
Amtszeit hasteten. Wie im Innern das Zentrum, das ihm während
der achtziger Jahre die Schutzzoll- und die Arbsi-tervevsicherungspolitrk durch¬
bringen half, wieder wie in der Kulturkampfzeit zu den Reichsfeinden gerechnet
wurde, so lebte im Äußeren das alte freundliche Verhältnis aus der > Zeit des
Zaren Alexanders des Zweiten wieder auf und traten die schlimmen Erfahrun¬
gen mit Rußland aus der Zeit nach dem Berliner Kongreß, sowie die Lehren des
„vierzigjährigen Tableaus"' in der Rede vom 6. Februar 1888 fast ganz zurück.
Zu den einseitigen autoritativen Aussprüchen des Altreichskanzlers über die Not¬
wendigkeit der Anlehnung an Rußland fehlte das Gegengewicht.
So blieb bei Bismarcks Tode in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck
zurück, daß sein teuerstes Vermächtnis an die Station die Zareufreundschaft sei,
die seine Nachfolger vernachlässigt hätten, obgleich sie schon mit mäßigem diplo¬
matischen Geschick zu erhalten gewesen wäre.
Dieses von der Atlasse der Anhänger des Altreichskanzlers treu gehütete
Vermächtnis bildete das schwerste Hindernis für jeden Versuch, einen ver¬
trauensvollen Ausgleich der Gegensätze der stärkstell iFestlandsmacht und der
Weltmacht England herzustellen. Ein Beispiel möge zeigen, wie fest das Dogma
von der unbedingten russischen Rückendeckung in den Köpfen saß. In der Rede
zur Enthüllung des Natioualdenl'mals für Bismarck in Berlin am 16. Juni 1901
sagte der inzwischen mit der Grafenwürde ausgezeichnete und als Nachfolger
Hohenlohes zum Reichskanzler erwählte ehemalig: -Staatssekretär Bernhard
v. Bülow: „In jeder Hinsicht stehen wir auf seinen Schultern. Nicht in dem
Sinne, als ob es vaterländische Pflicht wäre, alles zu billigen, was er gesagt und
getan hat. Nur Toren oder Fanatiker werden behaupten wollen, daß Fürst Bis¬
marck niemals geirrt habe. Auch nicht in dein Sinne, als ob er Maximen auf¬
gestellt hätte . . . Starre Dogmen gibt es weder in: politischen noch im wirt¬
schaftlichen Leben, und gerade Fürst Bismarck hat von der Doktrin nicht viel ge¬
halten." Gleich darauf war in den „Hamburger Nachrichten" zu lesen: Das sei
im allgemeinen schön und richtig, aber es gäbe Fundmnentalsätze der Bismarck-
schen Politik, von denen niemals abgewichen werden dürfe, und ein solcher
Fundamentalsatz sei: Rücken an.Rücken mit Rußland, weil wir sonst unberechen¬
barsten 5kompWationen ausgesetzt wären.
Die russische Fassade strahlte damals noch in vollem Glänze. Sie täuschte
uns über die stürzenden Mauern und Balken dahinter. Nicht nur uns, die ganze
westliche Welt, zum Glück auch England. Die Täuschung war erlaubt, bis sich
1W5 der große Trümmerhaufen hinter der Fassade zeigte. Um die Jahr¬
hundertwende aber taten einerseits das von Bismarck hinterlassene Dogma und
' Burenbegeisterung in der deutschen Öffentlichkeit, andererseits Handelsneid und
Herrenbewußtsein in der englischen so gründlich ihre Wirkung, daß nur das eine
und das andere Abkommen von Kabinett zu Kabinett noch möglich, aber ein
Bündnis von Volk zu,Bol! kaum mehr durchzuführen war.
er Mangel an Rohstoffen, das Ausbleiben der Kohle, und der
Raub unserer Transportmittel iverden und müssen zur starken
Arbeitslosigkeit führen. Verstärkt wird diese, da während des
Krieges jeder Posten eigentlich zum zweiten Male besetzt worden
ist. An Stelle des Mannes, der im Felde war, trat die Frau, das
Mädchen oder der Ersatz. Diese werden nur ungern und zum
Teil das Feld dem Heimkehrenden räumen; schon deshalb nicht, weil bei der
heutigen Teuerung auch dieser Verdienst in der Familie erwünscht, wenn nicht
erforderlich ist. ^ '
Die kommende, und in den Anfängen schon vorhandene Arbeitslosigkeit
wird hier mit Gewalt Bahn schaffen, ebenso wie sie teilweise wenigstens' die
unsinnigen Lohn- und Gehaltsforderungen von selbst beseitigen wird. Die-
Arbeitslosigkeit wird unser Volk aber in noch größeres Unglück stürzen, als es sich
schon befindet, und wird zeigen, daß auch diese Revolution', wie jede bisherige, die
Erfahrungen der Geschichte nicht berücksichtigt, und mit dem Überlebten auch,
die Grundlagen der Ordnung beseitigt hat. Zu spät werden die Herren unserer
Regierung einsehen, daß es der schwerste Fehler war, von unten anfangen zu
wollen, und nicht gleichmäßigen Abbau und Neubau von oben zu beginnen.
In dem Elend sind wir drin, verstärkt durch den Fuß unserer Feinde im
Nacken. So schwer es auch halten mag, und so sehr gerade das Volk selbst durch
seine unvernünftige Haltung jeden Aufbau stört, wenn nicht verhindert, so sehr
muß jeder einzelne und jedes Unternehmen, jeder Betrieb das Seine tun, um
zu geordneten Verhältnissen zurückzufinden.
Da die Grundlagen unserer Wirtschaft, durch die Art der Umwälzung und
die Maßnahmen der Regierung mehr oder weniger zerstört sind, so kann sür
Jahre, vielleicht für Jahrzehnte hinaus, an Aufstellung eines geordneten Wirt¬
schaftsplanes im einzelnen, wie im ganzen nicht gedacht werden. In erster
Linie kommt es darauf an, Arbeit zu schaffen, um jedem Volksgenossen seinen
Platz anweisen zu können. Natürlich wird bei der Auswahl der Arbeit immerhin
die Überlegung Platz greifen müssen, daß man keine Unwerte schafft, sondern
Dinge, die wenigstens einer späteren Zeit Nutzen bringen können, und Unkosten
vermindern.
Großzügig mit weitem Blick, schnellem Handeln und sicherem Griff nutz
vorgegangen werden. Zuerst prüfe man die Dinge, auf welchen heut die größten
Unkosten ruhen. Hier steht in erster Linie der Transport und die Bewegung der
Massengüter: Erze, Eisen, Kohle, Steine, Nahrungsmittel und Menschen.
Unsere Eisenbahn stand vor- dem Zusammenbruch. Schiene, Rad und
Verkehrsmittel waren abgenutzt und ausgearbeitet. Den Rest besorgte der Feind
durch Raub der Lokomotiven und Wagen. Also als wichtigste Arbeit muß die
Bahn wieder in brauchbaren Zustand gebracht werden. Schienen wird man nur
soweit bestellen können, als Eisen und Stahl nicht für andere Zwecke not¬
wendiger gebraucht werden, aber für Lokomotiven und Wagen ist ein fünf- besser
zehnjähriges Programm zu entwerfen. Es sehlen uns 30 (M Lokomotiven und
mehrere hunderttausend Güterwagen. Personenwagen kommen erst in zweiter
Reihe an Wichtigkeit. Man wird also eine Staffel aufstellen müssen mit sehr
großer Fertigung für die erste Zeit, welche dann allmählich lauf den laufenden
Bedarf abzuhauen ist. Wenn nun zum Beispiel 5—6000 Lokomotiven in der
ersten Zeit jährlich gebaut werden sollen, so darf dies nicht in sehr vielen ver¬
schiedenen Typen geschehen, sondern man muß sich auf vier bis fünf Einheits-
formen beschränken. Nun sind unsere Lokomotivsabriken, selbst wenn die
Behinderung durch Rohstoffmangel und Verminderung der Leistung durch
den Acht-Stunden-Tag nicht beständen, gar nicht in der Lage, diese Überleistung
zu bewältigen. Falsch wäre auch diese mit Nachtarbeit und drei Schichten zu
füllen, während andere Industrien leer stehen. Also Unterteilung und Heran¬
ziehen von Hilfsindustrien. Wiederum muß die Überlegung der Vereinheitlichung,
Vereinfachung, Massenherstellung und Verminderung der Transporte eintreten.
Die Achsen wird man zweckmäßig direkt bei den Hüttenwerken fertig bearbeiten.
Man kaun ein oder mehrere Werke nur auf diese Arbeit Hinstellen, denn das
Programm gewährleistet ja gleichmäßige Beschäftigung auf Jahre hinaus.
Der laufende Bedarf an Achsen und Radsätzen ist sehr hoch und bekannt.
Der Staat kann also an geeigneten zentralen Punkten vorhandene Werkstätten
erwerben, un>d mit den besten und arbeitsparendsten Einrichtungen versehen, um
die Radsätze selbst fertig zu machen. Bei richtiger Organisation kann dies
verhältnismäßig billiger geschehen als bisher.
Jeder Teil der Maschine muß auf Massenfertigung geprüft werden. Viel
mehr als bisher läßt sich verallgemeinern, normalisieren und vereinfachen.
Wenn man «wen Niet durch Verbessern der Form oder der Herstellung um
einen Pfennig verbilligt, und tausend der Niete an der Lokomotive sind» so"macht
dies bei den 80 000 Lokomotiven schon 300 000 M. aus. Millionen können auf
diese. Weise erspart werden. ,
Als denkender Ingenieur auf langen Eisenbahnfahrten hat Verfasser, oft¬
mals den V-Mögen gemustert; mit der Frage: „Was könnte man hier in Massen¬
herstellung vereinfachen und verbessern, und Mas sehr wichtig ist, ohne Schaden
der Sicherheit erleichtern?" Tausende von Kilometern durchläuft jeder Wagen im
Jahr) und jedes Gramm an Gewicht lässt sich in Kilogrammen an Kolstenverbrauch
ausdrücken. Eine falsche Eleganz hat sich in unseren Wägen breit gemacht.
Unbeschadet des guten Aussehens können die Schnörkel, Leisten und Verzierungen
zum guten Teil fortbleiben. Arbeit, Kosten, Gewicht und damit Betriebskosten
sind zu vermindern. Und wieviel läßt sich bei gutem Willen vereinfachen und
vereinheitlichen. Stanzen, Pressen, Maschinen, Handgriffe, Lagermengen, Lager¬
räume und aufgewendete Kosten, Kapital und Verzinsung werden geringer, sobald
weniger Typen angewandt werden. Die Frage der Ersatzstoffe ist zu prüfen. An
Stelle von Bronze kann vielfach Aluminium oder Eisen treten, der gefällige
Weiße oder ftcmbgraue Anstrich der gepreßten Mustertapete den Rang streitig
machen. Ecken, Kanten, Leisten und Winkel sind abzurunden, um die Staub¬
ansammlung zu verhindern. Von falschen amerikanischen Gedanken und Aus¬
sichrungen beeinflußt, haben wir den Prunkwagen gebaut. Der Zweckwagen der
Zukunft in Gemeinschaft mit Künstlern entworfen, wird mindestens dieselbe
Befriedigung erwecken, und weit billiger sein, schneller hergestellt werden, weniger
Unterhalt benötigen und an Betriebsstoff sparen.
Wie wenig in der Normalisierung noch getan ist, und wie weit dies auf
andere Gebiete des Wirtschaftslebens übergreift, mag folgendes Beispiel
erläutern. Als auf Friedensfertigung umgestellt werden sollte, erklärte der
Leiter einer großen Metallschraubenfabrik dies nicht tun zu können, da es bei ihm
weder Vorrat, noch einheitliche Modelle gibt! Marine, Eisenbahn, Straßen¬
bahnen usw. haben ihre ganz verschiedenen Formen von Schrauben; jede will
nur ihre Modelle, hat andere Borschristen und Bedingungen, so daß nur auf feste
Bestellung gearbeitet werden kann. Für jede Behörde und jede Schraube müssen
andere Werkzeuge, andere Verpackungen und somit Samuel- und Lagerräume
sein, so daß auch hier wiederum Kapital und Arbeit unnütz brach liegt und ver¬
geudet wird. Bei ernstem Willen, großzügigem Blick und Einsicht ließen sich
schnell auf den Hauptgebieten gemeinsame Grundlagen schaffen, die Vielheit der
Formen, beseitigen und Massenherstellung einrichten. Die abseits liegenden
Jirdustrien würden sich schnell der Mehrheit anschließen.
Die Hilfsindustrien müssen bei den: Beispiel der Lokomotiven einen Teil
der Arbeit übernehmen. Man wird die Teile abzweigen, welche gesondert
hergestellt werden können, oder nach Lehren passend anzufertigen sind. Die Werk¬
stätten sind hierfür zu wählen, welche geeignete Einrichtungen besitzen und den
geringsten Transportweg bedingen.
Weit mehr noch als bei den Lokomotiven und Personenwagen kann die
Vereinfachung bei den Güterwagen getrieben werden. Jedes Profil und joder
Winkel ist zu prüfen, ob er nicht durch Einheitsmodell ersetzt und maschinell
bearbeitet werden kann. In diesen Mengen wird man beinahe alles billiger
pressen können. Die Eisenbahnbehörde hat zu entscheiden, ob Wagen größeren
Inhaltes nicht günstiger sind. Auch hier wieder das Moment der Betriebs¬
unkosten. Die Nerschiebearbeit und Zeit ist dieselbe, ob der Güterwagen 10 oder
40 Tonnen faßt. In Amerika ist man zu immer größeren Einheiten über¬
gegangen.
Die Einführung der mechanischen Bremse aus allen Güterwagen wird
Tausende von Arbeitern jahrelang beschäftigen. Ein neues Moment kommt
hinzu; mit mechanischer Bremse kann man die Züge schneller fahren. Erhöhung
der Geschwindigkeit heißt überall Steigerung der Leistung, also auch hiernach
müssen wir streben. Außerdem werden Bremser für bessere Tätigkeit frei.
An der Eisenbahn ist ausführlicher gezeigt, was für alle Gebiete gilt.
Unendliche Werte haben wir durch oberflächliche Behandlung, Schwerfälligkeit,
mangelnden Einheitsgeist und Gehenlassen jährlich vergeudet. Nicht nur bei
uns, sondern auf der ganzen Erde. Wir wenigstens tonnen uns diesen Luxus
nicht mehr erlauben, wollen wir aus dem Verderben heraus, so müssen wir mit
allen Kräften in dieser Richtung arbeiten.
ES wird eingewendet, daß von einer gewissen Massenfertigung an keine
Verbilligung mehr möglich sei, und es mithin belanglos wäre, wenn man den
Teil in meyrere Modelle auflöst. Vom Gesichtspunkt des ganzen aus betrachtet,
ist dies nicht richtig. Verpackung, Lagerung, Transport und Lagermenge sind
bis zum doppelten bei Verwendung von zwei Teilen aufzuwenden. Vor allen
Dingen greift dies aber zurück auf den Ersthersteller. Für zwei Schrauben
oder stifte benötigt man zwei verschiedene Profile an Eisen oder Messing. Das
Walzwert muß zweimal die Walzen einstellen, benötigt nwglicherweise doppelt
den Raum für zwei Maschinen usw.
Von der Eisenbahn leitet die Überlegung zur Straßenbahn über. Auch
diese müssen auf ganzer Linie erneuern. Wenn nun jode kleine Bahn nach dem
Geschmack des Leiters oder Stadtoberhauptes nach anderem Modell die paar
Wagen bestellt, welche sie benötigt, so gibt dies eine Vielheit im Briefwechsel,
Abmachungen, Konstruktionsbureau, Berechnung, Beschaffung der Teile und
Fertigung, die zurzeit nicht geduldet werden bann. Auch hier ist für die Über¬
gangszeit die Einigung auf wenige Einheitsausführungen möglich und geboten.
Für später sei die Beschränkung wieder aufgehoben. Örtliche Erfordernisse sind
zu berücksichtigen. Der Fortschritt und Geschmack darf nicht militarisiert und auf¬
gehalten werden, und jeder neue Gedanke hat irgend einen Borten.
Die Straßenbahnen sollen Außenbezirke der Siedlung und dem Verkehr
erschließen nach weitschauendem Plan; trotz der Kosten sind Erweiterungen
vorzuueymen.
Die Bewegung der Massengüter ist auf Wasserstraßen an sich billiger als
durch die Bahn, und auch ohne dies vorzuziehen, denn sie spart an nationalem
Eigentum, an Kohle. Auch können weniger Menschen größere Mengen
bewältigen. Als Notstandsarbeit sind die im Entwurf vorbereiteten Kanäle zu
bauen, einheitlich die Schiffstypen zu entwerfen und rechtzeitig zu beginnen.
Entlade- und Lagerstellen nach dem Grundsatz der Ersparnis vorzusehen. Auch
hier wieder möglichste Hinaus schiebung der Grenzen für Größe, Schnelligkeit,
Leistungsfähigkeit; Ausdehnung des Äanalbetriebes auf die Nachtzeit.
Eines der traurigsten Kapitel ist die Kohlenverteilung und der Kohlen-
Verbrauch. Mit diesem Besitz treiben wir Raubbau. Wo Wasserweg möglich,
sollte der Transport auf der Bahn höher bezahlt werden, damit nur in
Ausnahmefällen für Schnellverkehr lauf'diesen zurückgegriffen wird. Für jede
Stadt stelle man den Normalbedarf fest. Entweder die Stadt oder der Verband
der Kohlenhändler beschafft fortlaufend gleiche Mengen das ganze Jahr hindurch.
Von zentralen Sammellagern geschieht der Ausgleich des Winter- und Sommer-
bsdarss. Einheitslastautos fassen in gleichen Ladeeinrichtungen die Kohlen und
bringen sie den Kleinhändlern und Verbrauchern zu. Während das Auto unter¬
wegs ist, werden neue Kästen geladen und ohne Zeitverlust an Stelle des leeren
gesetzt, damit der Wagen unverzüglich zu neuer Fahrt bereit ist. An den Häusern
sind Einwurfschächte anzubringen, an welche der Wagen Heransahren kann. Mit
Kippvorrichtung wird der Kasten.gehoben, und ohne Träger und stundenlanges
Schaufeln wird der Inhalt in den Lagerraum befördert. Alle Zentralheizungen
können so versorgt werden. Wenn man auf diese Weise Spekulation, unnütze
Lagerung, Zinsverlust, Verbringearbeit und Zeitverlust ausschaltet, so können die
Kohlen mit geringeren Unkosten geliefert werden als heut, und die stoßweise
Belastung der Bahn im Winter fällt fort.
Die Schaffung eines Normalmodelles dieser Kohlenautos hat keine
Schwierigkeit. Bei gleichmäßiger Verwendung in allen Städten Deutschlands
sind an 50 00V Lastautos nötig mit einem jährlichen Ersatz von 6—10 000 Stück.
Eine Riesenautomobilsabrik hätte dauernden gleichbleibenden Absatz derselben
Wagen jahraus jahrein. Die Verbilligung der Fertigung kann bis zum äußersten
getrieben werden.
Dieselben Autos können aber für Straßenreinigung und Lebensmittel¬
transport (Wechsel der Wagenkasten) dienen, denn auch den letzteren werden die
Städte mehr noch als im Kriege in eigene Verwaltung nehmen müssen.
Man wende nicht ein, daß dieser Vorschlag Utopie sei. Technisch bietet er
keine Schwierigkeit, wirtschaftlich ist er von Vorteil, und eingeführt kann er sofort
werden, sobald der Wille zur Einheit da ist, oder die Stadt den Willen durch
Monopolisierung aufzwingt. Die Rückwirkung auf die Eisenbahn, durch
Beseitigung der Winterspitze wäre außerordentlich. Von einem Neichsamt aus
kann die einheitliche Einführung in allen Städten geleitet werden. Von der
Einschränkung des Kohlenverbrauches selbst, und dohinzielender Mittel, sei hier
nicht berichtet, da dies aus dem Rahmen des Aufsatzes hinausgehen würde.. Es
sei z. B. nur auf die- Verschwendung in den Sammelheizungen hingewiesen. Bei
der elektrischen Beleuchtung ist man schon lange von der Pauschallampe
abgekommen, und -hat Zähler eingebaut, da der Abnehmer verschwendet und die
Lampe Tag und Nacht durchbrennen läßt. In der Sammelheizung dagegen
kennt man noch keine Ersparnis und Einschränkung, da bisher der Zähler fehlte.
Technisch ist jedoch auch diese Frage gelöst.
Aber man kann noch weiter gehen, man kann überhaupt den Kohlen¬
transport in den Städten einschränken, kann zu Preßgas übergehen, und die
Sammelheizungen mit Gas betreiben. Dies verringert überdies den Arbeits¬
aufwand des einzelnen, und gestattet die Ausnutzung der Kohlen noch ihrer
chemischen Zusammensetzung. Dieser Gedanke ist so weitgehend, daß er so schnell
nicht durchgeführt werden kann, aber Stadtverwaltungen' mit nah zusammen¬
liegenden städtischen Gebäuden sollten hier bahnbrechend mit Versuchen vor¬
gehen, damit die besten Formen der Feuerung gefunden werden, und der Grad der
Wirtschaftlichkeit festgestellt werden kann.
Für Baustoffe und Steine, welche ebenfalls sehr hohe Transportunkosten
verursachen, sind vereinfachte Mittel der Bewegung und Lagerung zu suchen. Aus
diesem Gebiet wird bereits das Lastauto, welches im Kriege das Pferdegespann
verdrängt hat, Neuerungen bringen; das übrige werden die hohen Baukosten und
Arbeitslöhne von kaltem bewirken. Regelung und Vereinheitlichung von einer
Stelle an dürfte nicht erforderlich sein. Jedoch auch dies Gebiet ist neuen
Gedanken zugänglich. Durch die Entwicklung sind wir z. B. zu einer bestimmten
Größe der Ziegelsteine gekommen. Es ist zu prüfen, ob diese nicht verbessert
werden kann. Nimmt man an, daß es ohne Nachteil möglich ist, jedem
Stein doppelten Inhalt zu geben, so benötigt man für den Hausbau nur die
Hälfte der Steine. Jeder Handgriff beim Transport und Bau wird auf die
Hälfte vermindert, denn dieser ist nur von der Anzahl der Steine, und nicht von
der Größe abhängig. Joder Maurer kann fast die doppelte Leistung in gleicher
Zeit vollbringen, und der Bau wird erheblich billiger ausfallen. Ein sehr frucht¬
bares Gebiet für die Normalisierung sind die Einzelheiten des Hausbaues.
Fenster, Türen, vor allen Dingen aber Baubeschläge lassen sich um Hunderte von
Formen vermindern, ohne daß hierdurch die Auswahl zu klein würde. Man
betrachte nur die Liste einer Firma von Baubeschlägen, Schlössern oder Riegeln,
und wird auf den ersten Blick empfinden, welche unsinnige Vielheit von Formen
und Ausführungen vorherrscht. ,
Natürlich darf sür alle Dinge des täglichen Gebrauches und Verbrauches,
mit denen sich der Mensch in seinem Heim umgibt, keine starre Schematisierung
getrieben werden, denn zu uniformierten Einheitsmenschen, welche in gleich¬
mäßigen Kasernen wohnen, wollen wir uns nicht erniedrigen. Im Gegenteil,
Geschmack, Kunst und Empfinden dafür sollen bis in die letzten Kreise des Volkes
gefördert werden. Wie weit man hierbei gehen kann, ohne den Eindruck der
Schematisierung zu erwecken, zeigt das japanische Haus. Dieses ist mit Matten
belegt, für diese Matten besteht im ganzen Lande eine Einheitsgröße. Das
einzelne Zimmer ist wiederum in seinen Ausmaßen hierdurch bestimmt, denn ob
größer oder kleiner, immer muß eine bestimmte Anzahl Matten untergebracht
werden können. Auf diese Weise ist letzten Endes das ganze Haus in seinen
Ausmaßen festgelegt, denn auch für Balken, verschiebbare Trennwände, Fenster¬
rahmen ergeben sich so Einheltsabmessungen. Man > kann sagen, daß das
japanische Haus wie aus einer Spielzeugschachtel aus denselben Elementen auf¬
gebaut ist, je nach der Größe sind mehr oder weniger der Bausteine verwendet.
Auf joden Fall hat es der Architekt im Entwurf, der Zimmermann in der
Zurichtung der Hölzer und der Bauhandwerker im Ausbau sehr einfach. Derselbe
Teil und derselbe Handgriff wiederholen sich bei.jedem Neubau immer wieder.
Es ist hier also die Schematisierung bis zum äußersten getrieben, und doch
wird man in einer japanischen Stadt nicht den Eindruck der Gleichheit der
Häuser haben. Es gibt trotzdem noch soviel Möglichkeiten der Abänderung und
Ausstattung, daß kein Haus dem anderen genau gleicht. Also die Furcht, die
Vereinheitlichung könne bald zuweit getrieben werden, ist nicht begründet.
Vollkommen ungelöst sind die Probleme der Lagerung, Bewegung und
Verteilung der Nahrungsmittel. Da wir bisher nicht in'Gedanken für das Volks,
ganze zu denken gewohnt waren, so war es jedem einzelnen überlassen, wie er
Kohl, Kartoffeln, Rüben, Getreide usw. durch den Winter hindurch lagern und
verwerten wollte. Ganz neue Woge müssen hier beschritten werden. Durch das
Verderben der eingemieteten Kartoffeln gehen jedes Jahr an 200 Millionen Mark
verloren, ganz abgesehen davon, daß beinahe 29 Millionen Menschen von dieser
Menge den Jahresbedarf an Kartoffeln decken könnten. Vermeidet man also
diesen Verlust durch Verfaulen, so kann von derselben Flächeneinheit, welche jetzt
für den Kartoffelanbau zur Verfügung steht, eine viel größere Menschenmenge
ernährt werden. Der Geldverlust ist bisher verschmerzt worden. Aber den
Gewinn an Boden zu anderer Nutzung können wir in Zukunft nicht missen. Die
schon vor dem Kriege begonnene Anlage von Trocknungsanstalten muß über das
ganze Land ausgebant werden. Noch etwas kommt hinzu. Beim Trocknen der
Kartoffeln entfernt man das Wasser, welches nichts nützt, und unerwünschter
Ballast ist. Gelingt es nun, nur die Hälfte unserer Kartoffelernte als getrocknete
Flocken zu verwenden, so sind 20 Millionen Kubikmeter Masser im Jahre weniger
hin und her zu fahren, das sind nach jetzigen: Ausmaß 2 Millionen Eisenbahn-
Wogen voll. Die Frachten werden gespart und wiederum die .stohlen zur Fort¬
schaffung dieser Eisenbahnwagen. So greift eines immer in das andere ein. Es
kommt in der Zukuuftswirtschaft nicht so sehr darauf an, welcher Geldbetrag wird
erspart, sondern darauf, kann eine neue Maßnahme oder Anordnung dazu fuhren,
Rohstoffe, d. h. völkisches Eigentum zu sparen, oder Boden, Betriebsmittel und
menschliche Arbeit für besseres Schaffen freizumachen.
Hier wiederum ist nur ein Beispiel herausgegriffen, um den Weg zu weisen,
der möglich ist. Bei der Mehrzahl der landwirtschaftlichen Erzeugnisse lassen sich
ähnliche Möglichkeiten ohne jede technische Schwierigkeiten ausführen. Die
Hemmung liegt lediglich im Willen und Verstehen des einzelnen. Zu den
wichtigsten Aufgaben des neuen Staates wird es gehören, Aufklärung und
Belehrung in die Massen zu bringen.
Ungeheure weitere und fruchtbare Aufgaben bietet die Industrialisierung
der Landwirtschaft. Die Fachleute sind sich einig darüber, daß unsere Erde das
deutsche Volk ernähren und zum großen Teil auch kleiden kann, wenn die Land¬
wirtschaft wissenschaftlich, im GenMinsinn und mit allen Errungenschaften der
Technik betrieben wird. Die Schaffung der Einrichtungen hierzu wird Hundert¬
tausend«: von Arbeitern dauernd Beschäftigung und Unterhalt gewähre!?.
Ernährer wir uns im Lande selbst, so werden nach dem jetzigen Kurs bis zu
10 Milliarden Mark im Jahr erspart, die wir als Tribut dem Ausland
zahlen müssen.
Nur wenige Schlaglichter konnten auf den Stand der Dinge geworfen
werden, um darzutun, daß an allen Ecken und Enden mit frischem Mute zugepackt
werden kann; trotz unserer ungeheuren Verschuldung würde es durch diese richtig
geleitete Sozialtsierung möglich sein, in absehbarer Zeit erträgliche Verhältnisse
zu schlaffen und in Jahrzehnten Deutschland von den unerträglichen Lasten des
Auslandes zu befreien.
Um auf diesen Wegen vorwärtsschreiten zu können, ist ernste Arbeit gerade,
derjenigen notwendig, welche bisher schon am Probleme der Zeit mit offenen:
Blick gearbeitet hoben, und Ruhe und Ordnung. Leider Hot es unsere neue
Regierung bisher nicht verstanden, diese Richtung einzuschlagen. Industrie,
Kapital, Unternehmungsgeist, Organisation und Ordnung sind abgesetzt. Statt
dessen regiert Unordnung, Zerfahrenheit, Streik und Forderungen der Massen,
die selbst das Goldland Ophix nicht imstande wäre zu erfüllen, geschweige denn
unser am Rande des Abgrundes stehendes Baterland.
Vor allen Dingen sind die unzeitgemäßer Versuche, alles sozialisieren zu.
wollen, verderblich. Hier hat leider auch das Buch von Rathenau viel Unheil
angerichtet. Die große Menge verspricht sich das Heil aller Dinge von der
Sozialisierung vieler Betriebe. An der falschen Stelle angewendet, wird sie nur
Verderben und Rückschläge bringen können, nicht aber um das Vielfache ver¬
mehrte Staatseinnahmen. Im allgemeinen arbeitet der Staatsbetrieb immer
teurer als die Privatwirtschaft. Hieran wird auch die neue Zeit nichts ändern
— im Gegenteil —. Der Borten des Staatsbetriebes liegt, wie aus vorstehendem
hervorgehlen dürfte, in der Vereinheitlichung und Zusammenfassung der Kräfte
und Leitung nach einer Richtung hin., Dies kann aber nur auf gewissen Gebieten
vorteilhaft geschehen, und nur auf solchen Gebieten, lauf welchen die Bedürfnisse
aller die gleichen sind. Mir benötigen alle mehr oder weniger dieselben Mengen
an Kohle zum Heizen und. Kochen,' die gleiche Menge Brot, Kartoffeln, Wasser,
Licht und Raum zum aWien. Diese Gebiete kann man daher, ohne den Wunsch
und Willen des einzelnen zu stören, zusammenfassen, vereinfachen, leiten und
bestimmen. Wir benötigen auch alle dieselbe Menge an Kleidung, und doch ist
dies Gebiet schon nicht "mehr der Regelung zugängig, denn hier spielt der
Geschmack und das Glücksgefühl des einzelnelü bereits eine zu große Rolle.
Es kann gesagt werden, daß es gelingen wird und muß, allen Teutschen
Beschäftigung und Unterhalt in absehbarer Zeit zu schaffen, denn zu viele sind
der Aufgaben und Arbeiten, die unserer harren, aber erstes Erfordernis hierzu ist,
daß die Regierung alle Volksgenossen nach Fähigkeit, Vorbildung und Tätigkeit
heranzieht, und nicht wie jetzt den größten Teil des Volkes von jeder Mitarbeit
ausschließt. Und zweites Erfordernis ist, daß jeder ernsthaft an die Arbeit geht,'und nicht mit Streiks, Lohnforderungen, Vier- oder Fünf-Stundentag, sowie
Versammlungen und Mahlen die Zeit vertrödelt. Genau so wie eine Ersparnis
und Vereinfachung andere nach sich zieht, genau so wirkt ein Streik auf viele
andere Gebiete zurück und hemmt und hindert auch dort. An der Arbeitslosigkeit
sind mithin die Arbeiter und Regierung zum guten Teile selbst schuld.
All der Geistesauswand, der zurzeit in den Aufgaben der er¬
zwungenen Sozialisievnng getrieben wird, ist nutzlos' verschwendet.
Nicht' - wir werden bestimmen, «wie wir die Arbeit in den
nächsten Jahren einteilen werden, sondern unsere Feinde. Nicht wir werden
bestimmen, welche sozialen Masmahmen letzten Endes durchgeführt werden,
sondern unsere Gegner. Wir haben den Fuß der Feinde im Nacken, und da jede
soziale Maßnahme in gewisser Weise drüben in Forderungen ihren Widerhall
findet, so wird man schon Mittel und Wege finden, uns so zu knebeln, daß wir
nur das durchführen können, was man uns erlaubt. Wir sollten daher unsere
Zeit in genieinsamer Arbeit des Volksganzen besser darauf verwenden, Werte zu
schaffen/die Ernährung aufzurichten, die Ordnung wieder herzustellen und jeden
Mann und jede Frau zu beschäftigen, als darüber zu streiten, ob die eine oder
andere Maßnahme früher oder spater kommen soll.
Weniger Theorie und mehr Praxis! das tut uns zur Zeit not auf der einen
Seite, und arbeiten und nicht verzweifeln auf der anderen. Den Glauben an
unser Können, an unser Volkstum dürfen wir nicht aufgeben, und den Mut
nicht verlieren.
regieren die Welt.
Fast überall, und besonders bei uns, soll mit Macht und aus
Grunde demokratisiert werden. Allein, was damit gemeint
Lsei, darüber scheint nicht einmal bei uns, geschweige denn überall
zu herrschen. Reformierung der alten Gesellschaft,
der sozialen Abstufungen gehört immerhin zu den
anerkannten und weitverbreiteten Programmpunkten jeder ernsthaften Demo¬
kratisierung. Im Osten haben sie damit blutigen und schrecklichen Ernst ge¬
macht; niemand weiß, was' wir selbst on allmählichen oder gewaltsamen Um-
formnngen des Gesellschaftsorganismus noch erleben mögen. Überschätzung der
sozialen Ordnung, die bei uns traditionell ist, steht vorläufig schroff gegen die
Unterschätzung oder völlige Nichtschätzung, die sie im Rußland der Revolution
theoretisch und praktisch findet. Es gilt, die Ansprüche abzuwägen und irgend¬
einen Ausgleich herzustellen. Die Meinungen über diesen Punkt sind aber nicht
nur geteilt und einander widersprechend, sondern Wohl auch in einem hohen
Grade verschwommen und unklar, und der Energie und Unbedingtheit, mit der
hier Forderungen gestellt werden, entspricht keineswegs das Maß an Durch¬
dachtheit und Bewußtheit dessen, was erkämpft werden soll. Es gilt also außerdem,
selber zu denken und womöglich zu Ende zu «denken. .
Nehmen wir einmal an, demokratisch bedeute gerecht. Bekennen wir uns
ferner zu dem Grundsatz, unsere soziale Schichtung sei ungerecht. Erklären wir
uns daher bereit, sie durch eine gerechtere oder sogar durch die schlechtweg gerechte
zu ersetzen. 'So wäre zunächst zu fragen: Welche Schichtung ist gerecht? Ist es
gerecht, daß die, die bisher unten waren, endlich mach oben kommen, und dafür die,
die bisher oben standen, auch einmal nach unten gelangen? So daß also das alte
System sozialer Abstufung erhalten wird und nur die Träger wechseln? Gerecht
oder nicht: so scheint jedenfalls Demokratisierung von dem Rußland der Bolschewik
verstanden zu werden, so würden die Massen sie gewiß überall auffassen wollen,
wenn sie zur Macht gelangten.
Allein daß statt derer, die herkömmlicherweise befehlen «dürfen, eines Tages
irgendwelche anderen Leute an die Hebel, Räder und Ventile treten, mit denen
die große Maschine gesteuert wird, ist, vom Standpunkt der Allgemeinheit
betrachtet, ohne alles Interesse. Ja, wenn schon hier befohlen und dort gehorcht
werden muß, so wird beides, Gehorchen und Befehlen, leichter vonstattcu gehen,
wenn die Leitenden außer über Macht, auch noch über ein möglichst hohes Maß
von Schulbildung, Fachwissen, Weitläufigkeit, Verwaltungspraxis und Befehls¬
tradition verfügen. Und falls es hierbei je zu einem nackten Interessenkampf
kommen sollte, nach der Maxime, was du hast, will ich haben, so wäre die
Stellung aller derer, die nicht zum Proletariat gehören, so wäre unsere Stellung
die des Gegenkampfes gegen solche Umschichtung und der entschlossenen
Verteidigung der bestehenden Rangordnung.
Wenn durchaus ungeschichtet werden soll, so dürfte es also nicht nach dem
System der Vergeltung geschehen. Das einzige gerechte, das einzige diskutable
Prinzip wäre die Schichtung entsprechend der von der Natur selbst vorgebildeten
Rangordnung.
Indessen, vou mancherlei theoretischen Bedenken abgesehen: um die natür¬
liche Schichtung nachzuformen, müßten wir in der Lage sein, Wert und Wesen
jedes einzelnen Menschen an sich, unabhängig von Stellung, Leistung und Erfolg,'
zu erkennen. Die Wahrheit heißt aber, daß wir dazu nicht in der Lage sind.
Denkt man ernsthaft darüber nach, mit welchen Mitteln ein zutreffendes, ehrliches,
unbestochenes, unvoreingenommenes Urteil über Mensch und Menschenwert zu
erlangen sei, so sieht man sich einem heillosen Skeptizismus ausgeliefert. Dieser
hat Erfolg, jener hat keinen Erfolg. Dieser hat den Erfolg, hundert Jahre nach
seinem Tode weltberühmt zu werden und es dreihundert Jahre lang zu bleiben,
zener hat den Mißerfolg, nie genannt worden oder endgültig und unwiderruflich
vergessen zu sein. Weiter gelangen wir nicht. Gerechtigkeit? Verdienst? Wer
weiß etwas darüber?
Wenn denn also die natürliche Rangordnung von uns unvollkommenen
Menschen nicht verwirklicht werden kann, so bleibt der Demokratisierung noch ein
anderer Weg offen: Abschaffung der sozialen Schichtung. Es soll überhaupt nicht
der eine oben und der andere unten stehen. Diese Formel klingt so einfach, so
einleuchtend, so gerecht, daß man meinen sollte, jeder Unvoreingenomniene müßte
sie sich ohne weiteres zu eigen machen und zu seinem ethischen Ideal erheben.
Allein wie das mit den einfachen, einleuchtenden und gerechten Formeln so geht:
sie haben alle diese Eigenschaften nur, fo lange man ihren langenehmen Klang mit
den Ohren aufnimmt und nicht bis in die Mühle des Denkens gelangen läßt.
Wenn wir von sozialer Schichtung, von Rangordnung, von einem
Stufenbau reden: worin besteht die Verschiedenheit? Welches ist der rangbildcnde
Faktor? Offenbar ist es die Macht, über die jeder verfügt, Macht im aller-
weitesten Sinne genommen. Worauf aber beruht seine Macht? . Offenbar auf
dem, was man tut und treibt, auf dem Beruf, auf der Arbeit, der Begriff wieder
im allerweitesten Sinne genommen, worunter denn auch fallen würde, daß man
überhaupt nicht zu arbeiten braucht. Ob einer mit dem Kopfe schafft oder mit der
Faust, ob er anordnet oder ausführt, ob er arbeitet, wann, wie und was er will,
oder ob man ihn zwingt zu arbeiten, und zu dieser Zeit, in dieser Weise, an
diesem Fleck zu 'arbeitet:: davon 'hängt alles weitere ab. In gewisser Weise läuft
Rangordnung der Menschen hinaus auf Rangordnung der Arbeit.
In bezug auf den Rang der Arbeit sind nun zwei Anschauungen gleich¬
zeitig im Schwange. Man kennt den brav demokratischen Grundsatz: Arbeit
schändet nicht. Und den anderen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wem
ist es schon aufgefallen, daß diese Sätze einander widersprechen und sich gegen¬
seitig aufheben? Arbeit schündet nicht, bedeutet: eine Arbeit ist so viel wert wie
jede andere; es ist im Grunde gleich, ob einer auf dem Katheder der Universität
steht oder im Heizraunl des Schnelldampfers, ob er mit -der Feder arbeitet oder
mit der Steinhacke. Wer nicht'arbeitet, soll auch nicht essen, das bedeutet: Arbeit
ist ungleichwertig, Arbeit hat Rangunterschiede. Es ist ungerecht, daß die
niederen Arbeiten dauernd von dem einen, größeren Teil der Menschheit geleistet
werden müssen, während der andere, kleinere, dauernd von ihm befreit bleibt. Es
ist ungerecht, daß die einen für die anderen arbeiten sollen, daß die einen die
anderen für sich arbeiten lassen dürfen. Zwischen Gleichwertigkeit und Abstufung
der Arbeit müsste denn also zunächst entschieden werden.
Unzweifelhaft gibt es einen Standpunkt, von dem aus die eine Arbeit als
so viel wert wie die andere betrachtet werden darf; nämlich insofern sie alle gleich
notwendig sind. Es muß regiert werden, es muß Recht gesprochen werden, es
muß gelehrt werden — aber es müssen auch die Straßen gekehrt, die Kamine
gefegt, die Latrinen geräumt werden. Dies ?se richtig. Wer aber daraufhin die
Gleichwertigkeit der Arbeit zum Prinzip erhebt oder' als Dogma verkündet, der
verrennt sich in eine bloße Theorie, die vom Leben in jedem Augenblick Lügen
gestraft wirb. In der Wirklichkeit gibt es die Rangordnung der Arbeit. Freilich
fehlt durchaus der entscheidende Maßstab. Soll man nach der Schwierigkeit und
Seltenheit des Berufes urteilen? Dann gehört Seiltänzer und Feuerfressen zu
den ganz hohen Berufen. Soll man die geistige Arbeit über die körperliche stellen?
Dann hat der Nevolverjournalist oder Verfasser von Schundromanen mehr Wert
als der Elektromonteur oder der Flugzeugführer. Soll die Gefährlichkeit
entscheiden? Dann steht der Feuerwehrmann über dem Bürgermeister, der Lotse
über dem Schiffsreeder. Die Rangordnung der Berufe herzustellen, ist also eine
verzweifelte Ausgabe. Bleibt endlich als einfache und unzweideutige Skala die
Höhe der Einnahmen. Auch sie'entscheidet nicht. Indessen der Lohn ist immerhin
eine Wertung, die sich greifen, nennen und messen läßt, und die Abstufung der
Arbeit nach dem Preise besitzt daher eine teils willkommene, teils schauerliche
Realität. Man mag den Preis gerecht oder ungerecht finden, entscheidend oder
äußerlich: er ist es, der das Lebensniveau des Arbeitenden bestimmt, nicht nur
des Arbeitenden, sondern zugleich seiner Familie, seiner Nachkommen, und auch
noch der Nachkommen dieser Nachkommen, durch ungezählte Generationen. .Es
ist der Preis, der die Mehrzahl der Menschen auf ihrer Stufe festhält wie mit
einer Fußfalle oder in einem Gefängnis. Daß der Sohn des Bergmanns wieder
in den Schacht steigen soll, trotzdem Wunsch und Kraft ihn zum Wirten über Tage
treibt, und daß der Sohn des Direktors oben bleiben, von Schreibtisch und Klub¬
sessel aus dirigieren und mit Auto oder Jacht in der Welt sich tummeln darf,
trotzdem sein fetter Körper träges Blut und stumpfe Seele umschließt — nur weil
sein Vater das Geld hatte, ihn in alle Schulen zu schicken und ihn in der
sogenannten Gesellschaft Verkehren zu Kissen, während der Sohn des anderen nur
gerade Lesen und Schreiben lernen durfte und über den Kreis mühseliger Berufs-
genossen nicht hinauszublicken vermochte: das ist die große Ungerechtigkeit, mit der
die Welt im Kampfe liegt.
Man proklamiert jetzt jedem Tüchtigen freie Bahn. Dagegen ist nichts
einzuwenden; nur daß es den Aufstieg aus tieferen Schichten in Ausnahmefällen
immer gegeben hat; und daß man über Ausnahmen, die der Zufall schafft, nie
hinausgelangen wird. Alle Tüchtigen sollen nach oben? Ja, wer wäre denn, bei
entsprechender Ausbildung (worunter nicht nur das bloße Lernen zu verstehen ist)
nicht imstande, Fabrikdirektor zu werden? Gewiß zwei Drittel der Menschen
hätten die Anlagen dazu. Wie viele gibt es denn, über deren natürliche Intelligenz
die Funktion eines Majors, eines Ncgimcntskominandeurs, ja noch höherer
Chargen hinaufginge? Die Hindenburgs sind selten — wer zweifelt daran? —
aber was Beruf und Amt als solche fordern, das kann man mit dem gesunden
Menschenverstand und dem gehörigen Fachwissen leisten. Der Unterschied
zwischen dem Gemeinen und dem kommandierender General, zwischen dem Bor-
schullehrer und dem Mltusminister, zwischen dem Fabrikarbeiter und dem
Fabrikdirektor ist nicht so groß, wie Direktor, Minister und General sich und
anderen einzureden lieben. Freilich, sie haben das Missen, die Praxis, den
Schliff, die Tradition, lauter Dinge, die nicht unterschätzt werden dürfen; lauter
Dinge, die kaum nachgeholt werden können, sondern von Jugend auf leicht und
harmonisch erworben sein wollen. Aber eben darin liegt das Fatum der realen
Rangordnung der Berufe: daß sie leinen Autonmtismus erzeugen, dem sich der
einzelne nur unter ganz besonderen Glücksumständen entziehen kann: daß sie von
vornherein, vor kalter Prüfung der Fähigkeit und Würdigkeit, den einen zum
Herrn, den anderen zum Knecht, den einen zum freien, klugen, ehrlichen, unan¬
gefochtenen „höheren" Menschen, den anderen zum gezwungenen, dumpfen,
schwerkämpfenden, auf List und Gewalt angewiesenen Proletarier macht. Immer
wird der Sohn des Offiziers, der Sohn des Universitätsprofessors, der Sohn des -
Großkanfmanns einen ungeheueren, nie einzuholenden Borsprung vor dem Sohn
des Fabrikarbeiters haben. Dieser beginnt seinen Lauf an einem Punkt, der
zweihundert Jahre hinter dem Start jener zurückliegt.'
Da es -also eine Abstufung der Arbeit gibt, und da wir kein Mittel kennen,
sie entsprechend der natürlichen Begabung zu verteilen, so wäre es denn gerecht,
daß jeder an der niedrigen Arbeit beteiligt wird? Dies wäre schon deshalb
ungerecht, weil zwar der Arzt gezwungen werden kann, täglich ein oder zwei
Stunden lang die Straße zu reinigen, nicht aber der Straßenfeger imstande ist,
die Praxis des Arztes zu 'verwalten. Und welche Gesellschaft dürfte sich die Kraft¬
vergeudung gestatten, den Forscher laus seinein Laboratorium zu holen, damit er
Holz sägt, den Abgeordneten aus dem Parlament zu führen, damit er Steine
schleppt,' den Feldherrn von seinen Karten wegzuschicken, damit er Posten steht?
'
Kurzum: Schichtung ist ungerecht; aber wir vermögen sie weder ins
Gerechte zu korrigieren noch abzuschaffen. Um sie abschaffen zu können, müßte
etwas ganz anderes möglich sein: Abschaffung der Macht überhaupt. Das erst
wäre die demokratische Forderung in ihre^ radikalsten Konsequenz. Allein so
lange wir auf Organisation angewiesen sind und so lange wir nicht anders zu
organisieren wissen, als auf die uralte Meise, daß die einen befehlen, die andere»
gehorchen, die einen anordnen, die anderen ausführen, die einen den Überblick,
die anderen die Fertigkeit besitzen: so lange kommen wir laus der Schichtung mit
samt ihrer Zwangsläufigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit nicht heraus. So
primitiv, wie es sich die Leute bei uns und anderwärts denken, und wie man es
in Rußland vermittels des Mossenterrors auszuführen versucht, kann man nicht
demokratisieren. Auf diese Meise kann man zwar die Menschen von ihren bevor¬
zugten Plätzen stoßen und andere darauf setzen; das System der sozialen Rang¬
ordnung aber bleibt unangetastet. Denn es ist zwiefach in der Weltordnung
verankert: in der Ungerechtigkeit der Natur, welche ihre Gaben mit Willkür
verteilt, und in der Unvollkonlmenheit des Menschen, der Wert und Wesen nicht
unmittelbar anzuschauen vermag.
Ist also Demokratisierung letzten Endes Utopie? Keineswegs! Sie enthält
eine praktische Konsequenz, sie umschließt eine hohe Pflicht und stellt eine lockende
Aufgabe: da die soziale Schichtung selbst nicht aufgehoben werden bann, »ruß
ihre Wirkung gemildert werden. Wenn die Berufe abgestuft sind, so müssen, die
Menschen auf gleicher Stufe leben können. Der Beruf muß aufhören, uns wie ein
lebenslängliches Gefängnis zu umschließen. Das, was man tut, zu sein, ist das
Niveau des Tieres: die "Königin der Bienen wird nicht gewählt, sondern gezüchtet;
das Netz der Spinne ist nicht eine Erfindung von ihr, sondern ein Drüfensekret.
Nur der Mensch hat das Vorrecht, dies und jenes nicht zu sein, sondern zu machen.
Dieses Recht aber ist noch ganz unnusgebildet und muß weiter entwickelt werden.
Die Mittel dazu, oder einige davon, "ohne Kommentar: Einheitsschule, Freiheit
des Unterrichts bis zur Universität; Einschränkung der täglichen Arbeitszeiten;
jährliche Urlaubspflicht für jeden Arbeitenden, Begrenzung des Arbeitsalters;
Erhöhung der Bezahlung der sogenannten niederen Berufe; Beschränkung der
oberen Grenze des Einkommens; Machtkontrolle. Daß wir neben unserem
Beruf Menschen sind, daß wir Zeit und Recht und Kraft haben, es in der ganzen
Tiefe und Weite zu sein, zu der uns die Natur begabt hat: dies ist das reale,
erstrebenswerte und erreichbare Ziel, das sich unter dem Schlagwort
Demokratisierung verbirgt.
Bis wir dahin gelangen, wird noch manches Jahr und Jahrzehnt vergehen.
Inzwischen werden die Schieber und Macher fortfahren, das Geld zu Scheffeln und
sich Schlösser zu bauen, mit Emlipagen zu fahren und von obenher zu blicken.
Und manch ein feiner Kopf und manch ein stolzes Herz werden sich begnügen
müssen, von einem armen unterernährten .Körper in ausgefranzten Anzug an den
Zäunen entlang geführt zu werden. Da hilft es nichts: bis jenes Programm der
Ausgleichung erfüllt sein wird und während wir daran arbeiten, mußt du mit der
Demokratisierung bei dir selber anfangen. Durchschaue die Komödie. Laß dich
nicht blenden von Möcht, Geld, Erfolg, Ruhm. Halte dich nicht für besser, weil es
dir besser geht. Halte dich nicht für überlegen, weil du zufällig dort stehst, wo
befohlen wird. Aber auch, wenn du dahin gerätst, wo du zu gehorchen hast, werde
nicht irre an dir. Laß nicht ab, den Menschen unter den: Kostüm zu erkennen
und zu werten, höre nicht aus, von dir zu glauben, daß du bleibst, was du bist.
Des Lebens letzte Weisheit ist uralt; sie heißt: «porn-zro 8L sy-zimi. Diese Kunst
ist im Laufe der Jahrhunderte nicht leichter geworden. Wer sie übt, wird
Steigen und Fallen, Schichtung und Umschichtung leichter tragen und mag die
Zeit der Erfüllung in Ruhe erwarten.
Das klingt freilich mehr nach Moral als nach Politik. Aber vielleicht darf
man finden, daß es in letzter und vorletzter Zeit etwas zu viel Politik, und etwas
zu wenig Moral gegeben hat.
„I hin not AoinZ to prsäiet oben the
ma ok the var will come. l>1o man in
bis fersch voulä prolonZ it one hour ik
tbsre vers an opportun!!/ lor a rest ana
s Isstin^ pescs. Lud it must be s IsstinZ
pesce. It must not be a peace vbieb is
s preluäe to s new ana s mors äevs-
ststinZ wer."
„^zuläst all äiscussions sbout derus
ana concessions here sua eher» of must
I<eep our e/es stesäkasil/ on the Zreat pur-
poses ok ins vör. It is not s question ok
territorial resäjustment, except in so ksr
hö lust is necesssr/ lor the reeo^union
ok national rignt^ It is not s czuestion ok
inäemnities, except in so ksr hö tbst is
essential in oräsr to compenssts lor vvronZ
inklictsä^"
„Ich will nicht voraussagen, wann das
Ende des Krieges kommen wird. Kein Mensch,
der bei Sinnen ist, würde ihn auch nur um
eine Stunde verlängern wollen, wenn sich
die Gelegenheit zu einem wahren und dau¬
ernden Frieden böte. Aber es muß ein
dauernder Friede sein, kein Friede, der ein
Vorspiel zu einem neuen und noch verheeren¬
deren Krieg ist."
„In allen Erörterungen über Friedens¬
bedingungen und Zugeständnisse hüben und
drüben müssen wir unser Augenmerk fest
auf die großen Ziele des Krieges gerichtet
halten. Es handelt sich nicht um die Neu¬
ordnung von Gebiete», außer soweit eine
solche zur Anerkennung nationaler Rechte not¬
wendig ist. Es handelt sich nicht um Ent¬
schädigungen, außer soweit sie wesentlich sind,
um geschehenes Unrecht wieder gutzumachen."
„We are not kixbtinx s war ok sZ-
xressinn sgsinst eile (Zermsn people, Ibeir
lesclerZ have persmiäeä eben tust the/,
fre fZbtin^ s vör ok seit-äeksne« g^first
s lesxue ok rivsl nstions heut on the
äestruction ok Oermsn/, Ibat is not so.
Ins äestruction or äisiuption ok Oerman/
or tre Liermsn people bas never been s
war hin vnd us iron the kirst as/ ok
teils vör to this as/"
„Ihe kirst requirements, tberekvre, al-
vs/s put korwarä b/ the IZritisb (Zovern-
ment sua their ^lües bös been the com-
plete restorstion, poiiticsl, territorial, sua
economie, ok the inäepenäence, ot Leljzium
sua such reparation hö can be msäe lor
the äövgsistion ok its tovns ana pro-
vinces. Ibis is »o äemsnä lor war in-
äemnit/, such hö that imposseä on Kranes
b/ (Zeimsn/ in 1871. It is not an sttempt
to sbikt the cose ok vsrlike operstions
kron one belliZerent to snotber,"
„V/leb re^fra to the Qerman colonies,
I bsve repesteäl/ äeclsreä that the/ srs
bela se the äispossl ok s Lonkerenee vbose
äeeision must have primär/ regsrä to the
„Wir führen keinen Angriffskrieg gegen
das deutsche Volk. Seine Führer haben es
überredet, daß eS einen Verteidigungskrieg
gegen einen Bund von Nebenbuhlern führt,
die eS auf seine Vernichtung abgesehen haben.
Das ist nicht wahr. Die Vernichtung oder
Zerreißung Deutschlands oder des deutschen
Volkes hat vom ersten Tage dieses Krieges
bis heute niemals zu unseren Kriegszielen
gehört." l
„Die vornehmsten Forderungen der briti¬
schen Regierung und ihrer Verbündeten waren
stets die völlige politische, territoriale und'
wirtschaftliche Wiederherstellung der Unab¬
hängigkeit Belgiens und seine Entschädigung,
soweit eine solche möglich ist, für die Zer¬
störung seiner Städte und Provinzen. Das>
ist keine Forderung einer Kriegsentschädigung
wie die, die 1871 Frankreich von Deutsch¬
land auferlegt wurde. Es ist kein Versuch,
die Kosten der Kriegführung von dem einen
Kriegführenden auf den anderen abzuwälzen."
„Was die deutschen Kolonien betrifft, habe
ich wiederholt erklärt, daß sie zur Verfügung
einer Konferenz stehen, deren EnischeidunK
zu allererst auf die Wünsche und Interessen
visbes s.na interests ok the radios inkabi-
tants ok Snell colonies.
der eingeborenen Bewohner dieser Kolonien
Rücksicht nehmen muß.
Keines dieser Gebiete ist von Europäern
bewohnt. Der beherrschende Gedanke muß
daher in allen diesen Fällen sein, daß die
Bewohner einer Verwaltung unterstellt wer¬
den, die ihnen selbst annehmbar erscheint und
deren Hauptzweck sein wird, ihre Ausbeutung
zum Besten europäischer Kapitalisten oder
Regierungen zu verhindern."
p
„Vou can ont^ malae peaos vnd a
Oovenunent. Ik the (Zoveinmsnt cives not
represent dirs people ok Qernmn/, let
tuom ebsnZe their Oovernment, an6 ik
this (Zovernmsnt cives not repressiv! the
peopls ok this countr^, tbez? can clmnZs
it." . . . ^ veleoats asks: „Ik the (Zernmn
people clee!6e upon s. similar (Zovernment
to tbst pied is nov in existence in üussia,
pill this (Zovernment reL0Ani^e their re-
presentatives?" iVlr. tlo^c! QeoiZs: „^Ve
pill rscoxni^e the reprssentatives ok an^
Oovernment sei no b^ tus Qerman people,
vbatever it is."
„Man kann nur mit Regierungen Frieden
schließen. Wenn eine Regierung keine Ver-
trelung des deutschen Volkes ist, so soll das
Volk sie ändern, und wenn meine Regierung
keine Vertretung des englischen Volkes ist, so
kann auch dies sie ändern." . . . Ein Ab¬
geordneter fragt: „Wenn das deutsche Volk
sich für eine ähnliche Regierung entscheidet wie
die gegenwärtig in Nußland bestehende, wird
dann die englische Negierung diese Vertreter
anerkennen?" Lloyd George: „Wir werden
die Vertreter jeder von dem deutschen Volk
eingesetzten Regierung, was sie auch immer
sei, anerkennen."
„I hin lor Ä I^eaxue ok Kations. In tact,
tre l^eagus ok Kations bas beZun. Ihe
Kritisb IZmpire is a I^e-iAue ok Kations.
I'be aillent countries vbo,are kiZbiin» the
ballte ok interimtional right are all a I^ssAue
ok Kations. Ik, alter edle var, (Zerm-in^
repucliates ana conciemns ber perkici/, or
röther the perkiäy ok ner rulers eben s
Qerman^ kreeck kron müitar^ cZomination
will be welooms into the ^real I^saZus
ol Kations. . . . I'ders Imve been ottier
derus vbieb Kave been inclieateä. I have
ststecl tbsm repsateäly on beKalk ok.the
Kritisb Nation. I'be^ vere so moclvrate
'gs to commancl even the support ok the
vbols ok the tracZe union labour repre-
sentalives ok this countr/. presiäent
Wilson das stateä eben kron time
to time, and ve flaua b^ eben. I
vjll ont/ make this further obssivation
about peace. It must be peace that xvill
„Ich bin für einen Völkerbund. In
Wahrheit hat die Bildung eines Völkerbundes
schon angefangen. Das britische Reich ist ein
Völkerbund. Die verbündeten Länder, die
für das Völkerrecht kämpfen, sind alle zu¬
sammen ein Völkerbund. Wenn noch dem
Kriege Deutschland seine Wortbrüchigkeit oder
vielmehr die Wortbrüchigkeit seiner Beherr¬
scher bereut und verurteilt, dann wird ein
Deutschland, das von der Militärherrschaft
befreit ist, in dem großen Völkerbund will¬
kommen sein. . . . Noch andere Friedens¬
bedingungen sind angedeutet worden. Ich
habe sie wiederholt im Namen des englischen
Volkes zusammengestellt. Sie waren so ge¬
mäßigt, um sogar die Unterstützung sämtlicher
Gewerkschastsvertreter Englands zu finden.
Präsident Wilson hat sich von Zeit zu Zeit dar¬
über ausgesprochen und wir halten daran fest.
Nur noch eine Bemerkung über den Frieden
wVll ich machen. Es muß ein Friede sein
lsnä itselk to the common sense frei
con?cierce ok Ine nstion Sö s vvbols. It
must not be clictstec! be extreme
wen on either siäe. Vou csnnot sliov
the IZolsbevists to fnrce on us s pesce
so bumiIistinZ Sö to äisbonour frei to
nisks s repetition 01 the borrors ok tuis
wör inevitsble. I>lor esu we sllov Lb-ru-
vinists to impose derus tbst pill lesve s
stsin upon the conscience ok In« ^.Iliecl
people sua Subject eben to tre ine-
vitsble punisbment tbst wron^-äoinc;
brin^s in its trsin. V/e must not fra
Oermsn)? vnd s real vvronZ,"
der sich dem Gemeinsinn und dem Gewissen
des Volkes als ganzen empfiehlt. Er nutz
nicht von den äußersten Flügeln einer der
beiden Welten diktiert werben. Die Bolsche-
wisten dürfen uns keinen so erniedrigenden
Frieden aufzwingen, daß wir dadurch entehrt
werden und eine Wiederholung des Schreckens
dieses Krieges unvermeidlich wird. Ebenso¬
wenig können wir den Chauvinisten gestatten,
Bedingungen festzusetzen, die, das Gewissen
der Verbündeten Völker beflecken und sie der
unvermeidlichen Strafe aussetzen würden, die
jedes Unrecht nach sich zieht Wir dürfen Deutsch¬
land keine Waffe in die Hand geben dadurch,
daß wir ihm ein wirkliches Unrecht zufügen.'
I believs lust I spesk lor eben oben
I Sö^ too" tbinzs: .... Leconci, tbst,
wbsn tre times Loach tbst we esu als- ^
aufs pescs, — oben tre Liermsn people
bsve spoicesmsn v/hoff vorcl ve esu
believe s»6 oben ttiose spokesmen fre
resä^ in ins nsme ok their people to se-
cept the common juciZsnient ok the n-itions
hö to vbst sbsll bencekorlb be the böses
ok Isv sua ol covensnt lor the like 01
tre worlci, ve sbsli be villinz; sua Ziscl
to psy the lüll pries lor pesce, frei ps/
it unZruclj-in^I^. We icnow wirst tbst
price will be. It will be in>I, impsNisl
justice, — justice civile se every point
frei to every nstion tbst the kinsl zettle-
ment must slkeet, our enemies hö well hö
our iriencis.
Vou csteb, vier me, elle voices ok'
numsnil^ tbst fre i» elle Sir^. 1'be/ grov
6iii!^ more sucliblo, mors srlieulste, more
persnssive, sua the^ come kron the liesrts
ok men ever^ obere. 'I^liey insist tbst elle
wör sbsll not mal in vinciictivs fallor ok
su/ Kina; tbst no nstion or people sbsll
be robbecl or punisbeä beesuse the irres-
ponsibls rulers ok s sinZIs countr^ bsve
themselves civile cleep frei sbominsbie
>vro»Z. It is tuis thought tbst bös been
expressecl in elle kormuis: „1>Jo snnexs-
tions, no contributions, no punilive in-
clemnities."
Ich glaube, daß ich für das Volk spreche,
wenn ich zweierlei sage:.....Zweitens,
daß, wenn die Zeit kommt, wo wir über
Frieden sprechen können — wenn das deutsche
Volk Sprecher haben wird, deren Wort wir
vertrauen können und wenn diese Sprecher
bereit sein werden, sich namens ihres Volkes
dem allgemeinen Alten der Nationen darüber
zu unterwerfen, was künftig die Grundlage
von Recht und Abmachung im Leben der
Welt sein soll, — daß wir alsdann freudig
bereit sein werden, den vollen Preis ,für den
Frieden zu zahlen und ihn ohne Murren zu
zahlen. Wir wissen, welches dieser Preis
sein wird. Es wird volle, unparteiische Ge¬
rechtigkeit sein, — Gerechtigkeit in jedem
Punkt und gegen jede Nation, die die schlie߬
liche Auseinandersetzung angeht, unsere Feinde
ebenso wie unsere Freunde.
Sie hören mit mir die Stimmen der
Menschlichkeit durch den Äther klingen. Tag.
lich klingen sie vernehmbarer, deutlicher, über¬
zeugender und gewinnender, und sie kommen
von überall aus den Herzen der Menschen.
Sie bestehen darauf, daß der Krieg nicht
mit einem Racheakt irgendwelcher Art enden
soll, daß keine Nation, kein Volk beraubt
oder bestraft werden soll, weil die un-,
Verantwortlicher Herrscher eines Landes ihrer¬
seits ein schweres und verabscheuuug?würdiges
Unrecht begangen haben. Es ist dieser Ge¬
danke, der in der Formel „keine Annexionen,
keine Kontributionen und keine strafweiscn
Entschädigungen" zum Ausdruck kommt.
vnd the thet tbst s v/ronZ use bös
been ahnte ok s just !6es is no resson
we>x ^ riz>de use sboulä not be ahnte ok
it, le ouZKt to be brought unäer the
pstrons^e ok its real kriencls.
Ws sbsll be kree to böse pesce on
xenerositv frei justice, to the exelusion
ok sit selkisb elsims to sävsnt^ige even
on the psrt ok the Victors.
V/e mesma no wronZ sZsinst the (Zer-
msn IZmpire. >Jo one is tbresteninZ the
oxistence or ed6 inclepencienee or the pesee-
kul entreprise ol the (Zermsn lZmpire.
'
Ibe vronZS, the ver^ äeep wrongs,
committecl in «bis war will Ksve to be
riMecZ. ?bst ok course.
Lud tbev csnnot frei must not be
riZbtecl do the eomniission ok similsr
vvroiiks sZsinst (Zermsnv frei ber filles.
I'dö v/orlcl will not permit the com-
Mission ok similsr v/ronZs Sö s achus
ok repsrstion frei sett'emsnt, Ltstesmen
must do this time Ksve lesrneci tbst
the opinion ok the porta is evervwbere
winke Sohle frei kullo eomprebenäs the
issues involveci.
Aber die Tatsache, daß mit einem ge¬
rechten Gedanken Mißbrauch getrieben worden
ist (gemeint ist von selten Deutschlands), ist
kein Grund, daß nicht ein richtiger Gebrauch
davon gemacht werde. Er nutz unter den
Schutz seiner wahren Freunde gestellt werden.
Es wird uns freistehen, den Frieden auf
Großmut und Gerechtigkeit aufzurichten unter
Ausschluß aller selbstsüchtigen Ansprüche, selbst
auf feiten der Sieger.
Wir haben kein Unrecht gegen das Deutsche
Reich vor. Kein Mensch bedroht Dasein,
Unabhängigkeit oder friedliche Betätigung deS
Deutschen Reiches.
Die Rechtsverletzungen, die sehr schweren,
in diesem Kriege begangenen Rechtsver¬
letzungen, werden gutgemacht werden müssen.
DaS ist selbstverständlich.
Aber sie können und dürfen nicht durch
die Begehung ähnlicher Rechtsverletzungen
gegen Deutschland und seine Bundesgenossen
gutgemacht werden. Die Welt wird die Be¬
gehung ähnlicher Rechtsverletzungen als ein
Mittel zur Wiederherstellung und Ausein¬
andersetzung nicht zulassen. Die Staatsmänner
müssen nachgerade gelernt haben, daß die
öffentliche Meinung der Welt allerwärts wach
geworden ist und die Fragen, um die es sich
handelt, vollständig versteht.
?be cisVl0k eonczuest frei szMsno'i?e-
uere is Zone do; so is also the 6so ok
Leeret eonvensnts enterecl into the in-
terest ok psrticulsr Aovemments frei
likelv se some unlookecl-lor Moment to
upset the pesce ok the worlcl. It is
lisppv thet, now elesr to the vico/ ok
everv publie usu whose tboußbts alö no
se!» linder in su sZe tbst is clesä sua
Zone, vbicb mskes it possible lor everv
nstion v/bose purposes fre eonsistencl
with justice frei the pesce ok the v/orlcl
to svow now or se suo other time the
objeots it Kss in vico.
Der Tag der Eroberungen und Ver¬
größerungen ist vorbei, ebenso der Tag heim¬
licher Verträge, die im Interesse einzelner
Regierungen geschlossen und geeignet sind, in
einem unvorhergesehenen Augenblicke den
Weltfrieden zu stören. Diese beglückende
Tatsache liegt jetzt klar für jeden Staatsmann,
dessen Gedanken nicht noch jetzt in einem
Zeitalter, das tot und vergangen ist, verweilen;
.sie macht es für jede Nation, deren Ziele mit
der Gerechtigkeit und den Frieden der Welt
vereinbar find, möglich, jetzt oder zu jeder
anderen Zeit die Ziele, die sie vor Augen
hat, zu bekennen.
„Lett-cleterminstion" is not s msrs
pbrsss. It is su imperative Princips! ok
Sallon, vvbicb ststesmen will KeneekortK
iZnore se their peril.
Das „Selbstbestimmungsrecht" ist nicht
eine bloße Phrase, es ist ein gebieterischer
Grundsatz des Handelns, den die Staats¬
männer künftig nur auf ihre eigene Gefahr
mißachten werden.
V/s Ksve ourselves proposscl no in--
justice, no sZression, ^Ve srs resllj?,
vksnever tre kinsl recKoninZ is mscie,
to dö just to elle (Zermsn people, cleft
thir!^ widu tre Oermsn power, hö vitlr
s» oiliers. I'nere esu de na clikkerence
between peoples in elle kinsl juögemsnt,
ik it is inäeecl to de s riznteous juäge-
ment. 1"o propose su^tiiinx but justice,
evenngncleä frei clispss^ionste justice, to
Qermsnit/ se su^ time, wnstever ins
vutcome ok tre vör vvoulä be to re-
nouncs sua clislionor our o^vn csuse.
?or ve ssk notninZ tust we fre not
willinZ to sceord.
In suam s proZrsm our iäesls, tre
idesls ok justice frei numsnit/ frei u-
den/, tre principle ok tre kree seit-
Determination ok nstions upon ^vliicn all
tre modern vorld insists, esu pis)? no psrt.
Ine/ fre rejecteel lor tre iclesls ok
power, lor elle principle else elle stronZ
must rule elle vest, erst erste must
kollow elle klsZ, vlietner drohe to vvnom
it is löken welcome it or not, tust elle
peoples ok tre porta »re to be ahnte Sub¬
ject to tre pstronsZe frei overloräsliip ok
tkose vvlio Ksve the pover to erkorne it.
17use proZrsm once csrriecl out, ^me-
rics frei all who ehre or äsre to störet
olim Ker must arm sua prepsre them-
selves to contest the msster/ ok elle
V/orta, s msster/ in on'en tre riglits
ok common usu, the riZlits ok women
frei ok all vllo fre vest, must lor tre
time being be troclclsn nunter look sua
äisregsrcled, frei tre viel, sge-Ion^ struZZIe
lor kreeclom sua riZIrt begin sZsin se its
be^inninx. IZver^tliinZ erst America Kss
brinZ to s xlorious resli^selon will nsve
ksllen in utter rum frei elle xstes ok mere/
once more pitilessl/ Slud upon msnkincll
Wir wollen keine Ungerechtigkeit und haben
keine Angriffsabsichten. Wir sind bereit, bei
der Endabrechnung gerecht gegen das deutsche
Volk zu sein und Deutschland genau so wie
die anderen Mächte redlich zu behandeln.
Bei dieseni Endurteil kann kein Unterschied
zwischen den Völkern gemacht werden, wenn
eS wirklich gerecht ausfallen soll. Wir würden
unsere eigeneSacheentehren.wenn wir Deutsch¬
land anders als gerecht und unparteiisch und
mit dem leidenschaftlichen Wunsch nach Ge¬
rechtigkeit nach allen Seiten behandelten, wie
auch der Krieg ablaufen möge. Denn wir
fordern nichts, was wir nicht ebenfalls zu
bewilligen bereit wären.
In einem derartigen Programm finden
unsere Ideale der Gerechtigkeit und der Mensch¬
lichkeit, der Freiheit und des Selbstbestimmungs-
rechts der Völker, die bon der ganzen Welt
gefordert werden, keinen Platz. Sie würden
verdrängt durch das Machtideal, durch den
Grundsatz, daß der Starke den Schwachen
regiert, daß der Handel der Flagge folgen
muß, gleichgültig, ob diese Flagge von denen,
zu denen sie gebracht wird, gewünscht wird
oder nicht. Die Völker der Welt würden
dem Schutz und der Herrschaft jener unter¬
worfen werden, die die Macht haben. '
Wenn ein derartiges Programm einmal
ausgeführt ist, dann müßten Amerika und alle,
die sich an seine Seite stellen, sich bewaffnen
und zum Kampf für die Freiheit der Welt
und gegen die Herrschaft vorbereiten, unter
der die Rechte der Bürger, die Rechte der
Frauen und die Rechte aller, die schwach sind,
Mit Füßen getreten werden. Der alte jahr¬
hundertelange Kampf für Freiheit und Recht
müßte wiederum seinen Anfang nehmen.
Alles, wofür Amerika gelebt, was es geliebt
und gepflegt hat, würde zusammbrechen und
der Welt würde mitleidslos jede Gnade ver¬
sagt sein.
Our action is absolutely 6istintereste6,
and ik z^on ehre to Stück/ tre Seeleute ok
our people z?on alni see eine notnink
stimulates eilen mors cleep!^ kühn tre ss-
suranee trat as kar hö >ve fre eoneemeä
Unser Handeln ist von keinem Eigeninteresse
geleitet, und wenn Sie die Haltung unseres
Volkes studieren wollen, so werden Sie sehen,
daß es durch nichts mehr angespornt wird
als durch die Überzeugung, daß wir für
ve srs MgginZ this v/ör lor purel/ icls-
slistic purposss.
'
Ibese fre the mas lor vvbieb the ss-
soListeä peoples ok ins porta srs kizKtinZ
sua vbieb must be conceäeä tbsm bekore
there esu be pvsce.
'
lbe settlement ok ever^ quesiion,
whether ot territor^, ok sovereiZntx, ok
economie srrsn^samt, or ok politicsl re-
lstionsbip, upon the bases ok the iree se-
ceptsnee ok tbst settlement b/ the peopls
immeäistel^ eoncerneä, sua not upon the
böses ok the msterisl interest or sävsntsxe
ok mi^ other nstion or people vvbieb ins^
Wesirs s äiskerent settlement lor the höle
ok its von exterior mkluvnee or Masters.
unsern Teil den Krieg für rein idealistische
Ziele führen.
Dies sind die Ziele, für die die verbun¬
denen Böller der Welt kämpfen und die
sie erreichen müssen, bevor Frieden werden
kann.
Regelung aller Fragen, sowohl der terri¬
torialen, wie der Souvt'rümtätsfragen, der
wirtschaftlichen und politischen Fragen auf der
Grundlage einer freien Annahme dieser Re¬
gelung durch das Volk, das unmittelbar davon
betroffen ist, und nicht auf der Grundlage des
materiellen Interesses oder Vorteils irgend
eines anderen Volkes, das eine andere Re¬
gelung zur An?breitung seines Einflusses oder
seiner Herrschaft wünscht.
W>r haben die Kernfragen des Krieges
als Tatsachen, nicht als Konstruktion irgend¬
einer Gruppe von Menschen hier oder dort
hingenommen, und wir können auch kein Er¬
gebnis hinnehmen, das ihnen vollständig ge¬
recht wird. Die Kernfragen sind folgende:
Soll die Militärmacht irgend eines Staates
oder einer Staatengrappe die Geschicke von
Völkern bestimmen dürfen, über die sie kein
HerrschcMrecht außer dem der Gewalt haben?
Sollen starke Staaten schwachen unrecht
tun dürfen und sie zum Mittel ihrer Zwecke
und Interessen machen dürfen?
Soll es einen allgemeinen Maßstab von
Rechten und Vorrechten für alle Böller und
Staaten geben, oder sollen die starken tun
können, was ihnen beliebt, während die
schwachen wehrlos leiden ausholt?
Diese Fragen müssen gelöst werden end¬
gültig ein für allemal unter voller unzwei¬
deutiger Wahrung des Grundsatzes, daß das
Interesse des Schwächsten und das des
Stärksten gleich heilig ist. Das ist es, was
wir meinen, wenn wir von einem dauernden
Frieden sprechen, sofern wir das aufrichtig,
verständnisvoll und mit wirklicher Kenntnis
und Auffassung des Gegenstandes tun.
Wenn es in Tat und Wahrheit das gemein¬
same Ziel der gegen Deutschland vereinten
Regierungen und ihrer Völker ist, in den
kommenden Friedensverhandlungen einen
sicheren und dauernden Frieden zustande zu¬
bringen, werden alle, die am Verhandlungs¬
tische Platz nehmen, bereit und Willens sein
V/e sceepteä the issues ok the vör Sö
thats, not Sö filz^ ^roup ok men either
here or elsewhere dha äekineä tbsm, sua
ve esu sccept no outcoms vbisb aves
not squarel^ meet sua settle tbsm. ?Kese
is5»es srs these: LKsII the militsr^ power
ok su^ nation or group ok nstions be
suikereä to ästermine the kortunes ol peo¬
ples over vnom the^ bsve no riZKt to
ruls excspt tbs ri^de ok koree?
Lbsll stronZ nstions be kree to vronZ
offt? nstions sua ufte eben Subject to
their purposes sua interest?
Lbsll there be s common stsnäsrä ok
riZnt sua Privilegs lor sit peoples sua
nsüons or sbsll the stronZ av hö they
will sua the vest fuller vitbout re-
äress?
'l'be/ fre the issues ok it; sua the^
must be settleä äskinitel^ sua once lor
all sua vnd s lüll sua unsquivocsl sc-
eeptsnce ok the prineipls tbst the interest
ok the veskest is Sö ssersä hö the inter-
est ol the stronZest. 'sbis is vbsr >ve
mean oben ve spsak ok s permanent
pesce, ik ve spsske sincerely intelliZsntl^,
sua with s res> KnovIeäZe sua compre-
bension ok the mstter of acht vnd.
Ik it be inäeeä sua in trutb the common
objects ok tbeQovernments sssocisteä >pill be
sZsinst Qermsn^ sua ok the nstions whom
the^ govern, hö I believe it to be, to
sebieve b/ the cominZ settlements s se-
cure sua IsstinZ pesce, it pill be ne-
eesssr^ tbst all who sit äov/n se the pesce
wdie sbsil eoms leget)r anni willing to p-i^
tbs price, tre onlv price ib-it will prncure
it; frei iesä^ «incl villinA, olso, lo erests
in some virile fssbion the onlv instru
möliwlily by which it esu be mscie certsin
Just the Sö^reemenis ok >be p^See will be
Konnreä sua kulii keck. 'I'bst price is im-
psrtial ju?eine in everzr item ok the seit-
lement, no mstter v/tlo?e interest is cross^et;
frei not ont/ impsrti-.I j^seine tut si<c> ins
sstisksction ok the several pe pich vvbeise
fortunas fre (ieslt vier, 1'bat in6>spens>b!e
instrumentslil/ is a I^eil^ne ol I^Isiions
formeci unäer covensnts that will be eiki-
cacians. V/ilbout sum su inslrament-iliiv,
do v/dich the pesce ok the portal esu be
ßnsssnteech peace will re^t in phil upun
tre worä ok ouiliiws, sua onlv upon eh^t
v/or<^ l^or Oermsn/ will have to reeleem
eier ckarscler, not do wbst bsppr-us se
the peace tadle but v.bat follows.
müssen, den einzigen Preis zu^ zahlen, um
den er allein zu haben ist, auch müssen sie
bereit und willens sein, mit männlichem Mut
das einige Werkzeug zu schaffen, das die
Ausführung der ftrievensbedingungen sicher¬
stellen kann. Dieser Preis ist unparteiische
Gerechtigkeit in jedem Punkte, gleichgültig,
wessen Zmeresse dadurch durchkreuzt wird, und
nichr nur unpnnensche Gerechtigkeit, sondern
auch Befriedigung aller Völker, deren Ge¬
schicke zur E ticheidnng komnien. Und dieses
unparteiische Wettzeug ist ein Bund der
Völker unier Verträgen, die ohne ein solches
den Wellirieden sicherndes Werkzeug un¬
wirksam sein werden. Sonst wird der
Friede teilweise oder ganz auf dem Wort
v.n Geächteten beruhen, denn Deutschland
wird seinen guien Ruf Wieder herzustellen
haben, nicht durch das, was am Ver¬
handlungstisch borgeht, sondern durch das,,
was nachfolgt. ,
Allen Manuskripten ist Porio In» uiziifiigcii, d« unter»f>i»S bei 'Alilchnunn eine Rücksendung
nicht verbürgt werd n kann.
^Wir bitten die Freunde derGrenzboten
den Bezug zum I Vierteljahr 1919
erneuern zu wollen. — Bestellungen Verlag der
-—" ^ l Gi'en2boten
nimmt jede Buchhandlung und jede <s.in.b.s.
Postanstalt entgegen. Preis 9.—M. Berlin SW n
^_^_---
er Arbeitsausschuß zur Verteidigung deutschler und katholischer
Interessen im Weltkrieg hat im Sommer dieses Jahres aus zahl¬
reichen Beiträgen katholischer Wissenschaftler ein Sammelwerk
erscheinen lassen unter dem Titel „Deutschland und der Katholizis-
'mus; Gedanken zur Neugestaltung des deutschen Geistes- und
Gesellschaftslebens" (herausgegeben von Dr. Max Meinertz und
Dr. Hermann sachter bei Herder in Freiburg, 2 Bände, geb. 29 M.). Geschrieben
sind die Abhandlungen zu einer Zeit, als die Hoffnung auf einen deutscheu Sieg
noch stark war: das Vorwort, datiert vom Feste Peter und Paul (29. Juni 1918),
deutet diese Voraussetzung mit folgendem Sal« ausdrücklich an: „So mag denn
dieses Wer! zu einer Zeit, da das deutsche Volk die Früchte seiner beispiellosen
Kraftleistung reifen sieht, hinausgehen." Gelesen werden muß es nun aber in
einer Lage, wo unsere weltpolitischen Hoffnungen zerbrochen sind. Die Früchte,
die uns gereist sind, schmecken bitter, und noch wissen wir nicht, wie wir sie über¬
haupt vertragen werden. Alle Verhältnisse sind gründlich geändert. Wahrschein¬
lich hat der Leser heute wenig Lust, sich mit einem umfangreichen Werke zu
beschäftigen, das mit Vorausseymigen zu rechnen scheint, die bei weitem nicht
mehr zutreffen. Indessen darf man gerade diesen Bänden gegenüber nicht ver¬
gessen, daß es sich um eine Kundgebung des Katholizismus handelt, dessen
politische und kulturelle Anschauungen auch unter der neuen Staatsordnung gewiß
nicht belanglos sein werden. Denn sie sind älter als jede Staatsordnung, die im
heutigen öffentlichen Leben als alt oder neu diskutiert wird, und jede"muß sie
berücksichtigen, wenn sie nicht auf Granit' beißen will. Kürzlich erzählte mir ein
evangelischer Feldgeistlicher von seinen Eindrücken aus der jüngsten Umsturz¬
bewegung: niemand habe in dem Revolutionstrubel der Soldaten eine ruhigere
Figur gemacht als sein katholischer Kollege, ein feiner alter Fvanzislanerpater,
der auf seinem Pferde gegenüber dem allgemeinen Geschrei und der Auslösung so
recht die Ruhe verkörpert habe, die mau auf dem Felsen Petri auch dann findet,
wenn Staat und Gesellschaft aus den Fugen gehen.
Mitteleuropa, im Kriege besiegt und aller Klammern der bisherigen poli¬
tischen Ordnung beraubt, ist heute eine Hexenkessel durcheinanderwogender An¬
sprüche von Nationalitäten und sozialer Klassen. Die dringendste Aufgabe des
Tages ist zunächst, überhaupt Frieden zu schlaffen und neue geordnete Beziehungen
unter den Völkern Europas. Je nachdem, ob diese Beziehungen Bürgschaften der
Versöhnung in sich tragen oder leine latente allgemeine Verseindung bewahren
wevden,wird auch der innere Aufbau unseres Staates verschieden ausfallen. Ich
halte es daher für zeitgemäß, aus der reichen Fülle des Materials nur eine Ab¬
handlung des katholischen Sammelwerkes hier auszuwählen, indem ich mir vor¬
behalte, auf andere bei späterer Gelegenheit zurückzukommen. Es handelt sich um
die des Regensburger Domdekans Franz Taver Kiefl über den „Katholizismus
als völkerverbindende Macht der Zukunft" (Bd. I S, 407 bis 428).
Kiefl.schätzt die völkerverbindenden Kräfte des Katholizismus besonders
hoch ein. Er kann sich dabei auf das Urteil Maeaulahs und Auguste Comtes be¬
rufen. Man wird ihr Vorhandensein in der Tat gern anerkennen. Die schwerste
Belastungsprobe für dies Anerkenntnis bildet die Tatsache des großen Geistes¬
kampfes zwischen dem deutschen und dem französischen Katholizismus, deu der
Krieg hervorgerufen hat. Ich habe früher in diesen Heften darüber berichtet.')
Kiefl weist darauf hin, daß die Kriegserklärung des französischen Katholizismus
an den deutschen nicht in der Form erfolgt sei, daß die Franzosen einfach die kirch¬
liche Gemeinschaft mißachteten, fondern weil sie den deutschen Staats- und Volks¬
geist unter dem Einfluß Hegels oder Nietzsches fiir kirchenfeindlich und die deutsche
Kirche unter der Wirkung solchen Geistes selbst für nicht mehr gut katholisch
hielten. Man könnte also sagen, daß gerade die Sorge um die katholische Einheit
die Angriffe des französischen Klerus auf die deutsche Kirche hervorrief. Kiefl
selbst betont, daß die Auffassung nur unter einem sehr subjektiv-nationalen Ge¬
sichtswinkel zu gewinnen war, unter dem die französischen Katholiken um fo lei¬
denschaftlicher die Dinge betrachteten, je mehr sie unter dem Abfall der Mehrheit
der eigenen Volksgenossen vom Katholizismus herbe religiöse und patriotische
Schmerzen litten. Zugegeben, daß die französischen Katholiken ihre Augriffe auf
den deutschen Geist wirklich nicht bloß aus nationalistischen Beweggründen, son¬
dern auch aus katholischer Überzeugung heraus unternahmen, so konnten sie doch
die Überzeugung, die deutsche Kirche sei von einem gefährlichen akatholischen
Geiste vergiftet, nur gewinnen, weil sie sie nicht ohne nationalistische Vorein¬
genommenheit und eine gewisse Eifersucht angesichts des durch die Kirchenfeind¬
schaft breiter maßgebender Volkskreise drohenden Niederganges der französischen
Kirche ansehen konnten. Kiefl wird nicht leugnen, daß französisch-lateinischer
Rassenchauvinismus denn doch bei den Franzosen zeitweilig mächtig genug war,
das katholische Bewußtsein zu trüben. Diese Tatsache habe ich in meinem vor¬
hin zitierten Aufsatze absichtlich scharf hervorgehoben. Wir würden uns selbst
täuschen, wenn wir sie vergessen wollten. Ich will aber nicht im mindesten daran
zweifeln, daß durch eifrige Propaganda für die Erkenntnis der Wahrheit und An¬
erkennung des brüderlichen Geistes auch gegenüber den deutschen Katholiken in
Zukunft ein besseres Verständnis der französischen Kirche sür die deutsche an¬
gebahnt werden kann. Ich glaube und hoffe von Herzen, daß der Katholizismus
gerade auch zwischen Deutschland und Frankreich manches Band der Versöhnung
knüpfen könnte. Nur muß man nicht denken, daß der französische Katholizismus
aus dem Kriege heraus schon völlig versöhnungsfertig käme. Das beste ist hier
erst noch zu tun.
Hat also der Katholizismus, wie das Beispiel der tiefen Verfeindung. auch
der Gläubigen Deutschlands und Frankreichs beweist, sür die Aufgabe der Völker¬
versöhnung leider nichts Vollkommenes geleistet, so hat Kiefl zweifellos recht,
wenn er sagt, daß andere Mächte, die dazu berufen gewesen wären,'Wohl noch
mehr versagt hätten. Von Comte stammt die Idee, daß die internationale
moderne Wissenschaft an Stelle der alten vnnoo?<ZkmUa oaÄioliog, berufen sei,
die Völker zu vereinigen. Bewußt oder unbewußt in seinem Geiste haben vor
dem Kriege die europäischen und amerikanischen Akademien nicht nur an der Be¬
wältigung internationaler Aufgaben der Wissenschaft gearbeitet, sondern auch
durch AÜstauschprofessuren, Kongresse und Festlichkeiten die völkerversöhnende
Aufgabe der Gelehrtenrepublik direkt zu fördern gesucht. Kiefl weist aber mit
Recht darauf hin, daß diese modernen Bestrebungen die mittelalterliche Solidari¬
tät der katholischen Wissenschaft mit ihrer internationalen lateinischen Lehrsprache
bei weitem nicht erreicht haben. Bei Ausbruch des Krieges siegte in den Aka¬
demien sehr vielfach sofort der nationalistische Geist; die Wissenschaft selber stellte
sich in den Dienst der Kriegsrüstung und Kriegspropaganda, und ein Gelehrter
Wie Wundt hat ja den Philosophien der europäischen Kulturvölker ihre nationale
Bedingtheit nachgewiesen.
Die Versöhnung zwischen Deutschland und England speziell hat neben der
modernen Wissenschaft immer der Protestantismus sich als Ziel gesetzt. Aber
auch er ist damit gescheitert. Das protestantische Bistum Jerusalem, das einst
Friedrich Wilhelm der Vierte in Gemeinschaft mit der anglikanischen Hochkirche
gründete, hat keinen Bestand gehabt. Das Ideal einer protestantischen Weltkirche'
ist seiner Verwirklichung nicht näher gekommen. „Harnacks weit vorausschauen¬
des hochsinniges Streben, die eherne Notwendigkeit des heraufziehenden Krieges
durch Betonung der geistig-religiösen Gemeinschaft zwischen Deutschland und
England zu bannen, wird stets ein Denkmal deutscher Friedensliebe bleiben.
Aber sein Ideal der geistigen Kulwrgemeinschaft zwischen Deutschland und Eng-
laud-Amerika als der Lenkerin der Weltgeschichte, liegt in Millionen Scherben
zerbrochen" (Kiefl S. 419). Die Kulturgüter, die hüben und drüben die beiden
Völker einigen sollten, stiften vielmehr Wettbewerb und entzweien sie. Im enge»
ren religiösen Sinne aber ist, wie Kiefl mit Recht betont, das deutsche Luthertum
doch grundsätzlich sehr verschieden vom englischen Protestantismus. Am schroff-
sten ist der innere Gegensatz zu den großen angelsächsischen Freikirchen, besonders
den überseeischen Gewächsen unter ihnen. Dieser angelsächsische Calvinismus ist
die religiöse Seite des Kapitalismus (vgl. die Forschungen von Max Weber und
Ernst Troeltsch), der dein Geiste des Lutherrums nicht minder fremd ist als den:
des Katholizismus. Das Luthertum verdankt der in England entstandenen Auf¬
klärung, die das englische Christentum selbst nicht zersetzen konnte, nur allerhand
auslösende Tendenzen. Die englische Hochkirche aber ihrerseits hat die Versuche
einer Union mit den: deutschen Protestantismus damit beantwortet, daß sie die
ihr eigentümlichen ri Walistischen und katholisievenden Elemente verstärkte und
von jeder Gemeinschaft mit anderen Protestanten weiter abrückte als je zu¬
vor.") Angesichts dieser Tatsache geht Kiefl so weit, daß er statt des Protestantis¬
mus für die Zukunft weit eher dem Katholizismus die Fähigkeit zuschreibt, der
Versöhnung zwischen dem deutschen und dem englischen Volk zu dienen. Er be¬
ruft sich darauf, daß im englischen Protestantismus der positive Christenglaube
weit weniger erschüttert ist als im evangelischen Teile des deutschen Volkes, und
er rechnet damit, daß der kapitalistische Geist, der heute in der angelsächsischen
Welt den Calvinismus als adäquate Religionsform begünstigt, doch einmal vom
Throne gestürzt werden müsse. Dann werde/ wenn nur der Christenglaube in
den angelsächsischen Völkern erhalten-bleibe, die Tradition des vorkapitalistifchen
katholischen England wieder zum Leben erwachen. Kiefl wird sich wohl selbst
bewußt sein, daß, wenn die Dinge so liegen, für die Gegenwart vom Katholizis¬
mus kaum stärkere verbindende Klammern zwischen uns und den Angelsachsen
zu -erwarten sind, als sie der Protestantismus schmieden konnte. Solange der
angelsächsische Kapitalismus seine Triumphe feiert, hat diese Rasse wenig Sinn
für europäische Solidarität. Aber auch wir deutschen Protestanten werden gern
mit Kiefl gläubig auf den Tag hoffen, da dieser Götze in den Staub sinkt. Wir
hoben unsern Militarismus ertragen, weil wir glaubten, er trüge dazu bei. Da¬
mit sind wir gescheitert. Viele werden sich jetzt mit dem Sozialismus abfinden,
weil sie hoffen, daß aus ihm vielleicht der Rächer erstehen könnte, der uns von
dem Joch, das uns jetzt der -englische Kapitalismus auferlegt, wieder befreit.
Den Sozialismus erwähnt Kiefl nicht unter den Mächten, die für Völker¬
versöhnung zu wirken versucht haben. Er hätte zu der Zeit, wo er seine Abhand¬
lung schrieb, auch nur sagen können, daß der Sozialismus dieses Ziel ebensowenig
erreicht hat wie die anderen geistigen Mächte. Auch die internationale Arbeiter¬
bewegung hat den Krieg nicht verhindern können, auch sie hat nationalistische
Einflüsse erfahren, auch ihr Versuch, -auf einer internationalen Konferenz in
Stockholm einen Verständigungsfrieden vorzubereiten, ist mißglückt. Aber in¬
zwischen hat der Sozialismus, mehr wie jede andere Richtung, wieder neue Zu-
versieht bekommen, daß er das große Ziel der Völkerverbrüderung dennoch er¬
reichen werde. Er hofft, den imperialistischen Kapitalismus jetzt durch gewalt¬
same Revolution stürzen zu können. In Rußland und in den mitteleuropäischen
Reichen hat die Revolution bereits gesiegt. Bald, so glaubt er, wird auch über
Italien, über Frankreich, über England die rote Fahne wehem Dann ist
Raum für eine neue Weltordnung der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Völker¬
versöhnung.
Wenn heute ein Sozialdemokrat den Satz von Kiese liest: „Es gibt nur eine
Macht, welche die Völker sittlich binden und innerlich verbrüdern kann: das
Christentum" (S. 424), so wird er noch weit lieber als früher geneigt sein, über¬
legen zu lächeln und mit guter Zuversicht am Rande bemerken, der Sozialismus
werde noch viel vollkommener die Völker binden und verbrüdern, als es das
Christentum je vermocht höbe. Die Weltrevolution ist nahe herbeigekommen.
So wie die ersten Christen das Kommen des Reiches Gottes über Nacht erwarte¬
ten und fast täglich nach den Wolken des Himmels sahen, ob nicht der Welten¬
richter auf ihnen herniederschwebe, so hat der Weltkrieg den gläubigen Sozial¬
demokraten die Aussicht beschert, daß sie den Zukunftsstaat, ihr ersehntes Para-
dies lauf Erden, in wenigen Jahren noch zu -erleben hoffen dürfen. Der alte
Bebel, erwartete auch, den Zukunftsstaat noch zu schauen. Dieser schier apoka¬
lyptische Glaube hat sich an ihm zwar nicht erfüllt, tut es aber vielleicht an seinen
unmittelbaren Nachfolgern. Auch außerhalb der Sozialdemokvatie stellt man
uns die Weltrevolution in sichere Aussicht: ich verweise z. B. auf den Aufsatz von
Dr. Richard Hennig: „Die drohende Atomisierung der Großmächte" in Ur. 49 der
Grenzboten. Der Weltrevolution aber muß es dann doch Wohl ein Leichtes sein,
den sozialistischen Grundsätzen über Völkerverständigung Anerkennung zu er¬
zwingen.
Ich für meine Person möchte noch bezweifeln, ob die Weltrevolution wirk¬
lich unmittelbar bevorsteht. Man kann nicht ohne weiteres sagen, ebenso gut, wie
der russische Umsturz nach ein! bis anderthalb Jahren auf Teutschland über¬
gegriffen habe, werde er in kaum längerer Zeit auch die Enteuteländer anstecken.
Deutschland war Mährend der ganzen Entwicklung der russischen Revolution
bereits ein Staat, der, wie wir heute wissen, langsam aber sicher einer schweren
Niederlage entgegenging. In solcher Lage war der Boden doch noch anders für
die Revolution vorbereitet, -als heute im siegreichen Frankreich oder England,
mag dort auch noch so viel revolutionärer Zündstoff aufgehäuft sein. Aber selbst
wenn Frankreich und England heute der Revolution entgegentrieben: wer kann
wissen, ob nicht bis dahin in Rußland und Deutschland' die Revolution bereits
abgewirtschaftet hüt! In Rußland scheint das Bolschewikiregiment seinem Ende
zuzusteuern, und in Deutschland wird unter dem Druck der Ententeheere und dem
wachsenden Unwillen der FronsioldatM und sehr weiter sonstiger Volkskreise die
Herrschaft der Arbeiterräte bald von einer geordneten demokratischen Zentral¬
gewalt abgelöst werden. Die Nationalversammlung wird uns wahrscheinlich eine
demokratische Republik mit starkem sozialistischen Einschlag, aber keine proleta¬
risch-revolutionäre Diktatur bescheren. Dann wird Deutschland nicht in dem
Grade Propagandaherd für den Umsturz in Westeuropa sein, wie das bolsche¬
wistische Rußland es für uns gewesen ist. Siege aber wirklich die proletarische
Revolution, wenn nicht jetzt, so doch bei späterer Gelegenheit, in der ganzen Welt,
dann werden die siegreichen Arbeitermassen erst den Beweis zu erbringen haben,
ob sie gegenüber den kapitalistischen Unternehmern die internationalen Be¬
ziehungen wirklich veredeln können. Es ist auch möglich, daß der kapitalistische
Imperialismus nur von einem Sozialimperialismus abgelöst wird, der vielleicht
kaum minder wilden und gewalttätiger Haß zwischen den Völkern sät. In
Australien z. B., wo die Arbeiterpartei längst die Herrschaft hat, ist sie der Träger
des unerbittlichen Rassenhasses gegen die Gelben. Nicht anders denken die
Weißen Arbeiter im Westen von NordameriZa über die „Völkerverbrüderung".
Die proletarische Revolution sührt an Stelle des Klasseninteresses der Unter¬
nehmer das Klasseninteresse der Arbeiter zur politischen Macht. Es ist zu fürch--
ten, daß die Interessen der überall siegreichen sozialistischen Revolution sich auch
bald Volk Wider Volk wenden würden. Auch dem Kapitalismus hat man zur
Zeit Cobdens völkerversöhnende Wirkungen zugeschrieben. Man meinte,' der
Weltfriede sei nahegerückt, wenn nur erst der Feudalkaste und den Kabwetten der
Fürsten die politische Macht genommen, und die bürgerliche Klasse überall sieg¬
reich sei. Statt dessen haben sich die Gegensätze unter den Völkern verschärft bis
- zur jetzigen Katastrophe. Der Sozialismus ist uns erst den Beweis schuldig, daß
er es besser machen würde, als dos kapitalistische Bürgertum, wenn er in der Welt
zur Macht käme. Den schönen Phrasen jetzt zu glauben, haben wir nach den Er¬
fahrungen mit der Bourgeoisie keinen Anlaß. Es ist auch nicht wahrscheinlich,
daß Bildung und Sittlichkeit der siegreichen Arbeiter auf ein höheres Niveau
kommen würden als beim Bürgertum in seiner Blütezeit.
Der Sozialismus begeht einen verhängnisvollen Fehler, indem er seine
Hoffnung, die Beziehungen der Völker verbessern zu können, auf das materielle
Interesse einer Klasse stützt. Der materialistische Geist des Marxismus, der die
Sozialdemokratie so hoch aufwärts geführt hat, wird auch wieder ihr Totengräber
werden. Sittlich binden und verbrüdern kann auf die Dauer keine Klassensoli¬
darität, und wäre sie auch noch so fest begründet, sondern nur jene Macht, die die
Herzen der Menschen zur Liebe lenkt: die Religion. Darum gebe ich auch heute,
wo der Sozialismus meint, die Welt erobern zu können, Kiefl recht, wenn er sagt,
nur das Christentum könne die europäischen Völker einander wahrhaft annähern.
Unter den christlichen Kirchen verfügt die katholische bei weitem über die besten
internationalen Beziehungen, zum mindesten in Europa. In den überseeischen
Ländern mag ihr der angelsächsische Calvinismus vielleicht gleichstehen. Darum
glaube ich mit Kiefl, daß trotz allem Sozialismus die völkerverbindenden Kräfte
des Katholizismus uns beim Wiederaufbau Europas besonders wertvoll sein
müssen.
Für günstig hält Kiefl die Aussichten keiner Annäherung der orientalischen
Christenvölker an Europa dadurch, daß es gelingen könne, sie mit der katholischen
Kirche zu vereinigen. Mir will scheinen, als hätte die Niederlage Mitteleuropas
und der Zerfall Österreichs diese Aussichten allerdings wieder verschlechtert.
Anderseits ist mit dem russischen Zarismus der antirömische Mittelpunkt der öst¬
lichen Kirchen verschwunden. Nach wie vor hat jedenfalls im Osten die römische
Kirche wirklich ein weites Feld für eine Kulturmission, die wir vom deutschen
Standpunkt jetzt nur ebenso warm unterstützen können, wie wir es getan hätten,
wenn es uns vergönnt gewesen wäre, als Sieger die Mitte und den Osten Euro¬
pas neu zu ordnen. Die Christianisierung der Menschenherzen ist in Ost und
West, ja in aller Welt der einzige Weg, auf dem die Völkerversöhnung wahrhaft
gefördert werden kann. Denn Friede auf Erden kann es, wie die Engel in der
Christnacht verkündeten, nur bei den Menschleu werden, die eines guten Willens
sind.
cum man die deutschen Zeitungen der letzten Wochen liest, so kommt
man ^ soweit sie überhaupt einen positiven Inhalt haben und
sofern >^ die Meinung des deutschen Volkes zum Ausdruck
bringen, zu der' Überzeugung, daß es bisher doch nur recht
wenigen klar geworden ist, was es heißt, den Krieg verloren zu
haben. Wäre dies den großen Massen des Volkes zum Bewußt¬
sein gekommen, so würden sie erkannt haben, daß es zunächst gilt, der äußeren
Lage des Reiches gerecht zu werden und dann erst an den grundlegenden Neu-
aufbau im Innern zu denken. Sicher würde dann nicht soviel zerstört werden,
was doch mit Mühe und Not wieder aufgebaut werden muß! Es ist sich wohl
kein denkender Deutscher darüber im Zweifel, daß eine grundsätzliche Reform
unserer inneren Verhältnisse notwendig ist. denn die ganze Nation hat die Fehler
des alten Systems furchtbar zu büßen und trägt kein Verlangen nach einer Rück¬
kehr desselben. Die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes will, daß an
Stelle des alten ein freies, auf demokratischer Grundlage aufgebautes Deutsch-
land ohne die Fehler des alten Systems, aber auch unter Hinnübernahme dessen,-
was an diesem gut war, erstehen möge. Sind wir nnn aber frei? Können wir
uns diese Demokratie zurzeit so einrichten, wie wir es für richtig hallen und wie
wir es gerne wollen, selbst vorausgesetzt, daß wir im Innern wirklich, einig über
die Art der Durchführung der Reformen wären, was leider nicht der Fall ist?
Wir sind es richti Vielmehr sind wir in eine solche Abhängigkeit von unseren
Gegnern — leider durch eigene Schuld — geraten, daß diese über uns zu be-
schließen haben. Selbst wenn diese — was noch gar nicht sicher steht — sich in
der nächsten Zukunft nicht direkt in unsere inneren Verhältnisse einmischen werden,
so werden sie es aber umsomehr indirekt tun, ohne daß wir imstande sind, uns
dagegen aufzulehnen.
Um den Gewinn des Krieges für sich sicher zu stellen, werden sie in der
Hauptsache eins von uns fordern, nämlich Arbeit und wieder Arbeit. Unser
Selbstbestimmungsrecht gewinnen wir erst wieder, wenn wir diese von unseren
Gegnern für notwendig erachtete Arbeit geleistet haben. Wir müssen in der
nächsten Zukunft doppelt arbeiten, um unser Selbstbestimmmigsrecht wieder zu
erlangen, um uns als freie Bürger unserer geliebten Heimat fühlen zu können.
Alle anderen Gedanken haben hinter diesem wichtigsten zurückzutreten.
Unter diesen Verhältnissen mutet es wie kindlicher Unverstand an, wenn,
wie wir es in den letzten Wochen häufig feststellen konnten, alles getan wird, um
unsere Arbeitskraft zu verringern, d. h. die Abhängigkeit von unseren Gegnern zu
verlängern, und die Durchführung der notwendigen großen inneren Reformen auf
eine unbestimmte Zeit hinauszuschieben.
Eine solche zwar gut gemeinte, aber doch sehr übereilte Maßnahme der
derzeitigen Machthaber im deutschen Reiche ist der Achtstundentag. Er ist zunächst
eine theoretische Konstruktion und dadurch wird seine Durchführung zum Experiment.
Und zwar zu einem solchen, das an die Wurzeln unseres ganzen bisherigen
Wirtschaftslebens faßt. Ist es, wie der Krieg neben allen früheren Erfahrungen
zur Evidenz gezeigt hat, für ein Volk schon an und für sich eine große Gefahr,
in schwierigen Zeiten überhaupt in so weitem Maßstabe zu experimentieren, so ist
dies noch viel mehr der Fall, wenn sich ge^i dieses Experiment die gewichtigsten
Bedenken erheben lassen. Was bedeutet den.i der Achtstundentag, so wie er ein¬
geführt worden ist, für das deutsche Wirtschaftsleben? Kurz ausgedrückt lautet
die Antwort: Eine Verringerung der Produktion um ein Fünftel und damit
Erhöhung der Produktionskosten um mehr als das gleiche. Das heißt doch in
anderen Worten: Wir können weniger an das Ausland liefern und müssen es
zu teureren Preisen verkaufen, wenn wir ein dauerndes Geschäft machen wollen.
Man kann hier nun einwerfen, daß eine Verringerung der Arbeitsleistung nicht
unbedingte Folge der Verkürzung der Arbeitszeit sein muß, und daß der Arbeiter
bei guter Ernährung, konzentrierter Arbeit und entsprechender Organisation der
Betriebe dieselbe Durchschnittsleistung wie bisher erzielen könne. Abgesehen davon,
daß dies nur bei einer beschränkten Anzahl von Industrien und Betrieben mög¬
lich ist, würde dies doch eine gründliche Vorbereitung nicht nur in Organisation
und Arbeitsmethodik der Betriebe, sondern auch vor allen Dingen der Arbeiter
zu einer erhöhten Konzentration der Arbeit- zur Voraussetzung haben, und ich
glaube nicht, daß ein Betrieb nachgewiesen werden kann, der bei gleicher Arbeiter¬
zahl nnter Anwendung des Achtstundentages dasselbe leistet, wie vorher.
Die Konzentrierung der Arbeit kann nicht von heute auf morgen erfolgen
— auf dem Papiere Wohl, aber nicht in der Praxis — sie ist auch wesentlich
abhängig von technischen Erfindungen und neuen Methoden der Arbeitsweise
(Aroeüsteilung usw.). Auch liest man nichts davon, dasz diejenigen, die den Acht»
stundentag als die größte Ermngenschast der Revolution preisen, gleichzeitig sich
um die Erhöhung der Leistungsfähigkeit unserer Produktion Gedanken machen
und nach einer Lösung des Problems der Arbeitskonzentration suchen.
Es hat den Anschein, als ob ihr Kampf lediglich der Schädigung des Kapi¬
tals gilt, und sie vergessen ganz dabei, daß sie den am allermeisten schädigen,
dem ihre Fürsorge gilt oder in dessen Interesse sie zu handeln glauben, nämlich
den Arbeuerl Denn die Früge des Achtstundentages und der Arbeitslöhne ist nicht
nur eine Frage, die zwischen Kapitalisten und Arbeitern auszufechten ist, sondern
eine Frage der Lebensfähigkeit der ganzen Nation. In der Praxis prägt sich
die Folge des Achtstundentages heute'so aus: Nehmen wir das Beispiel- einer
mittleren Fabrik, die mit einem Kapital von einer Million Mark arbeitet, dabei
600 Arbeiter beschäftigt und diesen im Jahre 1.4 Millionen Mark Arbeitslöhne
zahlte. Die Fabrik hat als Aktiengesellschaft in den letzten Jahren 25> Prozent Dipl°
derbe verteilt. Das Beispiel beruht also aus durchschnittlichen Kncgsverhältnissen
— obwohl mancher Unternehmer anders darüber denken wird. Unter den neuen
Verhältnissen wird die Fabrik nicht dieselben Einnahmen haben wie früher, sondern
nur V- der Waren liefern können. Die Unkosten werden auch dadurch erhöht,
das; das Betriebsinaterial des Unternehmens nicht in gleicher Weise ausgenutzt
werden kann, dafür hat sie aber für diese geringere Proouküon, gesetzt den Fall,
dasz keine Steigerung des Durchschnittslohnes erfolgt, 280000 Mark Löhne mehr
an ihre Arbeiter zu zahlen. Sie wird also schon der Arbeitslöhne wegen mit
Unterbilanz arbeiten und bald Reserven und Betriebskapital aufgezehrt haben.
Der Zusammenbruch dieser Betriebe läßt sich mathematisch errechnen.
Wären wir nun ein geschlossener Wirtschaftsstnat, d. h. könnten wir uus
mit allem, was wir benötigen, selbst versorgen, und wären nicht im Nohstoff-
und Leben-mittelbezug vom Auslande abhängig und müßten wir diese bezogenen
Güter nicht mit Arbeit, d. h, mit Waren vergüten, so würde dieses Experiment,
so gefährlich es auch ist, doch nicht diese grundeinschneidende Bedeutung haben,
die es unter den obwaltenden Umständen hat, wo jedermann im Volke weiß, daß
wir, um leben zu können, auf den Export von Gütern angewiesen sind.
Die Preise, die wir sür unsere Produkte erhalten, werden nicht durch die
innere Marktlage, sondern durch die allgemeine Weltmarklslage bestimmt. Wir
können daher nicht die Preise nach unserem Belieben, sondern nur nach der inter¬
nationalen Konkurrenz einrichten. Wird diese nun in Zukunft auch so teuer
arbeiten wie wir, sodaß wir konknrrenzsähig bleiben, oder wird sie uns in den
Preisen unterbieten? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn wir wissen
noch nicht, wie sich die Produktionsverhältnisse in den Ländern, die unsere
Konkurrenten auf dem Weltmarkte darstellen, nach dem Kriege gestalten werden.
Sicher ist aber jedem, der die Verhältnisse nüchtern beurteilt, und der sich nicht
mit schönen Redensarten begnügt — weil sie zeitgemäß sind — daß ein ungeheurer
Konkurrenzkampf einsetzen wird. Dieser wird sür uns um so schwerer sein, weil
wir im Vergleich zur Zeit vor dem Kriege im Rohstoffbezuge behindert und benach¬
teiligt sind. Unsere Feinde werden uns auch nach dem Kriege so viel als möglich
zu schädigen versuchen, das heißt doch mit anderen Worten, daß wir, um konkurrenz¬
fähig zu bleiben, lediglich mit unserer Arbeitsmenge und mit der Qualität unserer
Arbeit konkurrieren können. Wenn niam ein Optimist ist, so wird man beim Nach-,
denken über diese Frugen zu dem Schlüsse kommen, daß jede Verringerung unserer
Arbeitsleistung eine Gefahr für unser nationales Lebeir bedeutet; und wenn
man mit weniger Hoffnung in die Zukunft sieht, so steht die Katastrophe schon
an der Wand geschrieben. Diese heißt Arbeitslosigkeit.
Wenn auch nicht auf allen Gebieten, so steht es doch sest, daß wir auf
vielen Gebieten infolge der Arbeitsverringerung konkurrenzunfähig werden, weil
wir einfach die internationalen Preise nicht halten und unterbieten können, sind
wir doch schon sowieso etwa um einunddreiviertel Millionen der leistungsfähigsten
Arbeitskräfte durch die im Kriege Gefallenen geschwächt. Die betroffenen In¬
dustrien werden Arbeiter entlassen müssen, und diejenigen, die in der Konkurrenz
geschwächt sind, d. h. die gesamte übrige deutsche Industrie wird diesen frei¬
werdenden Arbeitern Arbeit nicht gewähren können, denn Voraussetzung dafür
wäre doch ein erhöhter Absatz ihrer Produkte auf dem Weltmarkt. In dem Maße
wie ein Arbeitsüberangebot besteht, werden die Löhne sinken und wird auf Wunsch
der Arbeiter die Arbeitszeit gesteigert werden müssen.
Wie, so muß man sich doch fragen, wollen wir unter diesen Umständen die
Kontrolle, der uns unsere Gegner unterwerfen wollen, je los werden? Soll
Deutschland der dauernde Sklave seiner jetzigen Gegner werden?
Unsere Gegner, die heute und in der nächsten Zukunft Macht über uns
haben, werden selbst schon dafür sorgen, daß wir die von ihnen für notwendig
gehaltene Arbeit leisten. Sie werden, wenn wir die nötige Arbeit nicht leisten,
uns dazu zwingen, und wenn sie sich dadurch geschädigt fühlen, ohne nach den
Wünschen der deutschen Arbeiter auch nur einen Moment zu fragen, den Acht¬
stundentag einfach abschaffen.
Die Regierung, die den Achtstundentag eingeführt hat, muß bedenken, daß
sie in dem Moment, wo sie die Regierung übernommen hat, aus der bis¬
herigen Verantwortungslosigkeit herausgetreten ist und daß sie neben den Rechten
auch die Pflichten der Gewalthaber übernommen hat, d. h., daß sie die Verant¬
wortung für die ganze Zukunft des deutschen Volkes und nicht nur der
Fabrikarbeiter trägt. Der hier beschrittene Weg führt aber zum Verderben des
ganzen Volkes.
Zu dieser Überzeugung muß jeder kommen, der sich nicht nur theoretisch
mit Wirtschllftsfragen von internationaler Bedeutung beschäftigt hat, sondern auch
in der Praxis des Weltmarktes bewandert ist und weiß, wie schwer es ist, hier
Boden zu behaupten, geschweige denn zu gewinnen. Es liegt uns nur daran,
liier den Nachweis zu führen, daß diese Fragen nicht vom Standpunkte eines
Parteiprogramms aus aufgefaßt werden dürfen, und daß ihre Lösung abhängig
ist von der Wirtschaftslage des Reiches und unseren politischen Beziehungen zu
unseren Gegnern. Im Wesen ist es mehr eine Frage der Außenpolitik, als der
Regelung der inneren Verhältnisse des deutschen Reiches. Damit ist die Frage
der R-gelung der Beziehungen des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber, die Frage der
Beteiligung der Arbeiter am Gewinne und der Svzialisienmg der Betriebe, d. h.
die innere Organisation der deutschen Arbeitskraft, nicht berührt. Sie gehört nicht
zu unserer Fragestellung.
So ungünstig der Achtstundentag unter den gegenwärtigen Verhältnissen
und in der Form, wie er eingeführt wurde, auf unsere ganze Wirtschaftslage
wirken muß, so sehr hat er Aussicht, die Basis einer fortgeschritteneren Wirtschafts¬
stufe der Zukunft zu werden. Ja es ist,nicht ausgeschlossen, daß der Arbeitstag,
in nicht allzuferner Zukunft, in vielen Betrieben noch weiter verkürzt werden kann
als zurzeit allgemein eingeführt ist.
Das Prinzip, das jegliche industrielle Entwicklung in das Leben der Völker
hineingetragen hat, ist das, die menschliche Arbeitskraft soviel als möglich durch
Maschinen zu ersetzen und durch Arbeitsteilung, verbunden mit sinnreicher
Konstruktion und Anordnung der Maschinen, den Menschen zum Höchstmaß der
Leistungen zu bringen. Daß wir hier noch nicht am Ende der Entwicklungs¬
möglichkeit angekommen sind, bedarf keiner besonderen Begründung. Jeder Tag
bringt neue Erfindungen und jede neue Fabrik — wenigstens der Durchschnitt —
zeigt solche Verbesserungen gegenüber den alten. Es ist nun klar, daß jede Ver¬
vollkommnung dieses Systems den Arbeiter im allgemeinen schneller physisch
erschöpfen muß. Und zwar wird er immer mehr, auch bei relativ einfachen
Maschinen, zum Kopfarbeiter, indem er immer mehr seine fünf Sinne anstrengen
muß. Vielfach wird auch der gewöhnliche Arbeiter 'lediglich Aufseher über
maschinelle Arbeitskräfte und hat so i> i.rhaupt keine Handarbeit mehr zu verrichten.
Hierüber ist von zünftigen Volkswulen soviel geschrieben, daß sich eine weitere
Auseinandersetzung an dieser Stelle erübrigt. Theoretisch wird in diesen Betrieben
die zulässige Arbeitszeit durch den Moment der physischen Ermüdung bestimmt.
Letztere darf nur eine solche sein, das? die Gesundheit des Arbeiters reinen Schaden
darunter leidet. Die physische Ermüdung tritt nun je nach der Betriebsart zu
ganz verschiedenen Zeiten ein. Deshalb ist die Festsetzung eines einheitlichen
Stundentages für alle Arbeiter ein Unding. Viele Arbeiter werden hierbei über¬
müdet, während andere durchaus nicht erschöpft werden. Die Grundlage der
Festlegung des Arbeitstages muß der Kräfteverbrauch bilden und nicht ein
agitatorisches Schema. Dies gilt für alle Hand-, Land- und Kopfarbeiter.
Es ist aber auch klar, daß wenn der Kräfteverbrauch mit der Intensivierung
der Arbeit, d. h. mit der Vollendung der Arbeitsmaschinen und Methoden zunimmt,
und dadurch' die Arbeitskräfte sich schneller erschöpfen, die Arbeitszeit verkürzt-
werden musz.
Es ist sicher, daß für manche Beschäftigungsweisen heute schon der Acht¬
stundentag eine übermäßige Belastung bedeutet, für andere Berufe ist er angemessen.
Für die' große Masse hat er aber zurzeit noch keine Berechtigung. Hier kann
ein eine Verkürzung der Arbeitszeit erst gedacht werden, wenn die Arbeitsmethoden
vollendeter werden, oder wenn gewisse andere Voraussetzungen zur vollendeteren
Ausnutzung der Arbeitskraft des einzelnen geschaffen sind.
Die Natur hat dem Menschen selbst Grenzen in seiner Arbeit gesetzt. Sie
hat ihn dem 24stündigen Tage angepaßt, der wieder je zur Hälfte in Nacht und
Tag zerfällt. Nach diesen ist das menschliche Leben geordnet und so wird es
auch bleiben. Jede Verkürzung der Arbeitszeit bedeutet daher eine Verlängerung
der Ruhe- und Erholungszeit. Es muß nun der Punkt kommen, wo der Mensch
am Tage mehr Erholungszeit hat als er benötigt. Denn, wenn wir den Grund¬
satz aufstellen, daß die Arbeitsermüdung nur eine solche sein darf, daß keine ge-
sundhmlichen Schädigungen daraus entstehen, so muß der normale, gesunde
Mensch mit 8 Stunden Schlaf erholt sein. Geben wir ihm 4 weitere Stunden
zum Essen und Vergnügen, so bleiben noch 4 Stunden am Tage übrig. Ich
gehe wohl nicht fehl mit der Annahme, daß diese Zeit in den meisten Fällen
nicht genutzt wird und der Nation verloren geht. Was macht der Durchschnitt
mit dieser Zeit? Von der Ausnutzungsmöglichkeit dieser Stunden wird im wesent¬
lichen die weitere Verkürzung der Arbeitszeit bei der großen Masse unserer Hcmd-
und Kopfarbeiter abhängig zu machen sein.
Jede Minute, die hier verloren geht, ist ein Verlust im internationalen
Konkurrenzkampf und ein Minus am Nationalvermögen und am Wohlstande der
Arbeiter. Nun ist es natürlich, daß ein Arbeiter, der 8 Stunden z.B. eine Maschine
bedient hat, die ihn zur äußersten AusnuMng seiner physischen Kraft zwingt, die ihm
vcrbleibendeZeit derArbeitsmöglichkeit müde in der gleichenForm wie in den 8Arbeits-
stunden verbringen kann. Wenn er Ökonomie mit seinen Kräften treiben will, so wird
er sich für diese Zeit eine Beschäftigung suchen müssen, die ihn körperlich nicht an¬
strengt, ihn aber von anderen N.roer Gebrauch machen läßt, als bei seiner acht¬
stündigen Arbeitzeit ausgenutzt wurden. Ein Schwerarbeiter, den seine Tätigkeit
zu großem Kräfteverbrauch zwingt, ist geeignet, sich in der ihm verbleibenden
Zeit der Arbeitsmöglichkeit theoretisch weiter zu bilden, um später einen höheren
Arbeitsbereich in dem Betriebe, in dem er tätig ist, einnehmen zu können.
(Arbciterfortbildung)., Oder er wird einen Beruf erlernen, mit dem eine sitzende,
wenig Körperkräfte verbrauchende und geistig unterhaltende Tätigkeit verbunden ist.
Um ein Beispiel zu geben, kann er sich mit der Uhrmacherei, der Feinmechanik,
der Schnitzerei oder sonstigem Kunsthandwerk je nach persönlicher Veranlagung
befassen, und so noch produktiv tätig sein. Nach dem gleichen Grundsatze wird
man für solche Arbeiter, die in ihrer achtstündigen Arbeitszeit eine rein sitzende
den Körper wenig anstrengende Tätigkeit ausüben, einen Nebenberuf in freier
Luft zu finden haben, der ihm ermöglicht, seine Glieder und Lungen von der
Staublust zu erholen. Derartiger Möglichkeiten gibt es viele, zum Beispiel den
Garten- und Feldbau. Es ist eine bekannte Tatsache, daß es bei intensiver Bewirt-
Z10
schaftung möglich ist, auf einer Gartenfläche von 4—S00 Quadratmetern den
ganzen Bedarf einer durchschnittlichen Familie an Gemüse, Obst und Eiern
zu erzeugen. Wenn nun die Arbeitslöhne in den Betrieben so gestellt werden,
daß sie für die Bestreitung des normalen Lebensunterhalts ausreichend sind, so
wird der Arbeiter in der Lage sein, in seinem Nebenerwerbe rein sür sein Fort¬
kommen, seine Gütervermehrung tätig zu sein. , Es müssen ihm nur die Möglich¬
keiten eines solchen Nebenberufs geschaffen werden. Er muß die Fonbildungs-
möglichkeit haben- er muß die Möglichkeit haben, einen Nebenberuf zu erlernen-
und es müssen ihm die Mittel an die Hand gegeben werden, seinen Nebenberuf
auszuüben. Wenn er z. B. einen Garten bebauen will, so muß er einen solchen
haben; daß der deutsche Arbeiter vermöge seiner guten Schulbildung und seiner
Intelligenz hierzu befähigt ist, hat der Krieg in allen Berufen gezeigt. Kein
Volk der Welt konnte sich so schnell auf eine andere Arbeitsweise einstellen als
das deutsche.
Mit der Durchführung dieser Gedanken würden wir nicht nur ein arbeits¬
fähiges, seßhaftes Geschlecht von Arbeitern gewinnen, sondern auch unseren Volks^
Wohlstand beträchtlich vermehren. Ich glaube, daß nus viele zusümmcn werden,
wenn wir der Ansicht sind,, daß bei einer überlegten Durchführung dieses Systems
die Wahrscheinlichkeit besteht, in den meisten Betrieben in den 8 Sander mehr
zu leisten als früher in zehn, weil eben der Arbeiter hierbei physisch gleichmäßiger
beansprucht wird als vorher, und dadurch eine größere Arbeit^freudigkeit erzielt
wird. Die Unlust zur Arbeit ist doch nur eine Folge des Unhcfriedigtseins von
der Arbeit.
Was wir hier dem Leser in Form einer abstrakten Theorie vorgetragen
haben, ist nicht neu, es ist im Gegenteil in der Praxis schon vielfach erprobt.
Nur ist es nicht zum System erhoben, nicht allgemein durchgeführt und organisiert
worden! Vor allen Dingen haben die Arbeiter selbst und ihre Führer sich dieser
Frage prinzipiell zu wenig angenommen. Daß Bedürfnisse unter den Arbeitern in
dieser Richtung vorliegen, beweist die sozialdemokratische Literatur, und die Fort-
bildungsbesirebungcn in Arbeiterkreisen. DaS beweisen auch die Schrebergärten,
Laubenkolonien, die überall da, wo Fabriken und große Betriebe entstehen, wie
Pilze aus der Erde schießen und alle großen deutschen Städte wie ein Kranz umgeben.
Das zeigen auch die Bestrebungen großer Unternehmungen zur Arbeilerkolonisation.
Alles dies ist aber, unabhängig vom Betriebe und von der Betriebsart entstanden
und durchgeführt, und die Forderung müßte doch die sein, daß sie in Zusammen¬
hang und Harmonie damit gebracht würde. Es würde Aufgabe des Neichsarbeits-
amtcs sein, diese Frage im Zusammenhang mit sachverständigen Betriebsleitern
Arbeitern, Medizinern, Architekten und Gartenbausachversländigen zu prüfen und
Grundsätze aufzustellen für die künftige Organisation der großen Betriebe. Da¬
mit wäre die Verteilung der arbeitenden Bevölkerung neu zu gestalten.
Wird auch das theoretisch Mögliche nicht erreicht, und werden nur die
Grundgedanken Gemeingut, so wird Deutschland Fortschritte in der Produktion
einerseits und andererseits in der Volksgesundheit und Arbeitsfreudi^keit erzielen
zu denen die meisten unserer Konkurrenten auf dem Weltmärkte infolge der ge¬
ringeren Schulbildung der Mehrzahl ihrer Arbeiter und daher der geringeren
Verwendungsmöglichkeit derselben zunächst nicht befähigt sein werden.
So sehr der Achtstundentag als Schema und bei seiner Anwendung auf
alle arbeitenden Klassen ein Unding ist, und eine Schädigung des ganzen Volkes
bedeutet, so sehr kann die Verkürzung der Arbeitszeit, wenn sie nicht als Kampf¬
mittel gegenüber dem Kapital betrachtet und mit Maß und Ziel eingeführt wird
— nämlich dem Ziele, die Volksgesundheit nicht zu schädigen, und eine aus¬
gleichende Ausnntzungsmöglichkeit der Volkskraft in anderer Richtung zu finden
— von unübersehbarem Vorteil für unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung werden.
urch die Revolution ist die alte Frage der Trennung von Staat
und .Kirche plötzlich brennend geworden. In kirchenpolitischen
U^W MWj « Kreisen ist sie seit Jahrzehnten erlvogeu; die ursprünglich noch viel
Beziehungen zwischen Staat und Kirche sind durch die
Entwicklung des modernen Stcmtsbegriffs, der grundsätzlich die
auf religiösem Undine erklärt !;ut, innrer lockerer
qoworden; auch im Interesse der ungehinderten Entfaltung aller religiösen und
kirchlichen Kräfte ist die Freiheit der Kirche vom Staat oft gewünscht worden.
Durch die Trennung der Kirche vom Staat in Frankreich und der Schweiz in dem
letzten Jahrzehnt ist dann das Problem immer mehr ein Gegenstand politischer
Erwägung geworden. Trotzdem kommt uns der Entschluß der heutigen, doch nur
provisorischen, Negierung sehr eigenmächtig und übereilt vor. Und diese Schroff¬
heit des Entschlusses erregt den 'starken und berechtigten Widerspruch aller kirch¬
lichen Kreise. Wir wehren uns nicht gegen eine gerechte verständnisvolle Aus¬
einandersetzung; ober wir lehnen die "-einseitige Entscheidung über eine so
tiefgehende Angelegenheit unbedingt ab. Die Verwirrung auf den: allgemeinen
politischen Gebiet ermutigt nicht zu dem Vertrauen, daß nach der revolutionären
Trennung von Staat und Kirche > eine befriedigende Grundlage für einen
Neubau des kirchlichen Lebens sofort da ist. Es ist deshalb mit Genugtuung
llnzuerkenneit, daß der jetzige preußische Kultusminister Haenisch die Gefahr eines
neuen Kulturkampfes kommen sieht und eine solche Gefahr jetzt nicht herauf¬
beschwören möchte; auch Adolf Hoffmann scheint einzusehen, daß ein radikaler
Eingriff in das gesamte kirchliche Leben sehr viel Verstimmung in den
Kirchengemeinden herbeiführen kaun, und auch er rodet deshalb jetzt von einer
allmählichen, statt plötzlichen Entziehung der staatlichen Unterstützung für
die Kirche.
Der endgültige Schnitt zwischen Staat und Kirche ist also noch nicht
geschehen. Trotzdem -ist es gut, sich auf ihn vorzubereiten und die Aufgaben für
die Zukunft zu sehen.
Sie betreffen zunächst die Verfassung unserer Landeskirche. Durch die
Abdankung des Königs von Preußen ist unserer preußischen Landeskirche auch
ihr Oberhaupt genommen; er war der Landesbischof, dem die kirchlichen Behörden
unmittelbar unterstellt waren; ihre Mitglieder wurden vom König ernannt und
waren ihm verantwortlich. Erst durch die General- und Synodal-Ordnung ist
neben diese von der Obrigkeit ernannwnMrcheltbehörden eine von den Gemeinden
gewählte Vertretung der Volkskirche getreten; sehr spät, nach Jahrhunderten
kirchlicher Obrigkeitsvegiernng. Alle diese königlichen Behörden schweben jetzt
sozusagen in der Luft. Sie müssen durchaus vol'kskirchliche Behörden werden, die
von den Gemeinden zu wählen und zu, erhalten sind. Diese in Zukunft viel
engere Beziehung zu den Gemeinden ist mit Freuden zu begrüßen. Die Kirchen¬
behörden werden dadurch an Volkstümlichkeit gewinnen. Schon jetzt haben sie in
sicherer Beurteilung der gegenwärtigen Lage sich durch einen Vertrauensrat
ergänzt, in den angesehene "und bewährte Männer des gesamten kirchlichen Lebens
gewählt sind. Zu wüirfchen ist, daß später diese Behörden durch direkte Wahlen
aller kirchlich-iwlahlberechtigten gebildet werden; ebenso wie die Superiutenden
nicht mehr berufen, sondern ebenfalls gewählt werden müssen. An der Spitze
der Konsistorien und der gesamten preußischen Nolkskirche werden dann hoffent¬
lich bewährte und bekannte Theologen und nicht mehr wie bisher Juristen stehen.
Ein evangelischer Landesbischof, der von dem Vertrauen der Gemeinden getragen
wird und durch seine öffentliche Wirksamkeit auf der Kanzel und im sonstigen
geistlichen Amt allen bekannt und vertraut ist, kann die preußische Volkskirche
viel erfolgreicher vertreten als der beste juristische Präsident.
Mit allen Mitteln -ist zu verhüten, daß die evangelischen Gemeinden aus¬
einanderfallen. Die Uneinigkeit der Evangelischen war immer ihr eigener
Schaden. Der bisherigen landeskirchlichen Leitung bleibt das Verdienst, daß sie
die Zersplitterung verhütet und eine schroffe kirchliche Parteiherrschaft im
wesentlichen ferngehalten hat. Auf dieser Grundlage der Weitherzigkeit ist ganz
allein die Existenz der künftigen Volkskirche möglich. Nur jetzt nicht auch noch
kirchliche Unversöhnlichkeit! Und wenn es sich nur.um leinen kirchlichen „Zweck¬
verband" handelte, der sür -alle mehr äußeren Dinge bestände, er müßte geschaffen
werden. Wir wollen und dürfen uns nicht durch theologische und kirchliche Partei¬
gegensätze schwächen; die Laien hätten -daran die geringste Freude und würden
einer solchen streitsüchtigen Kirche wenig Liebe entgegenbringen. Von den
religiös angeregten „Gemeinschaften" ist zu -erwarten, daß sie die „er-zu^a, asi",
den kirchlichen Frieden im Dienste Gottes ernst nehmen. Alle ernsten Kräfte
müssen der Gesamtheit dienen!'
Das kirchliche Wahlrecht wird den Frauen zu gewähren sein; wir ver¬
sprechen uns von ihrer Mitarbeit wertvolle Dienste. Die Form der Kirchen-
Wahlen kann in der jetzigen Form (persönliche Anmeldung zur Wählerliste) nicht
bleiben; irgendwie muß aber eine Sicherheit erstrebt werden, daß nur solche
wählen, denen -an dem Aufbau der Kirche liegt;,in -dieser Beziehung wird auch
der Appell an das Gewissen ergehen müssen.
Eine neue Sorge -aver ist, ob solch eine Volkskirche in unserer Zeit noch mög¬
lich ist oder ab es schon zur spät für sie ist. Hat die Gesamtheit unseres Volkes
noch Neigung, das kirchliche Leben zu Pflegen und zu schützen? Wir bleiben der
bisherigen Swatsverfasfung dafür dankbar, daß die Religion nicht lediglich als
„Privatsache", sondern -als „Volkssache" angesehen wurde.' Auch bisher galt die
Religion grundsätzlich als persönliche Angelegenheit des Staatsbürgers; wirk¬
lich gezwungen werden konte niemand, wenn auch nicht geleugnet werden kann,
daß trotzdem nicht immer ein gewisser Druck auf die Erfüllung kirchlicher Pflich¬
ten namentlich bei den Beamten vermieden wurde. Grundsätzlich war in der
preußischen Verfassung Religionsfreiheit garantiert.. Trotzdem fühlte sich der
Staat verpflichtet, die Möglichkeit zu regelmäßiger Pflege der Frömmigkeit als
einen Teil seiner allgemeinen Kulturaufgaben zu betrachten. Genau so wie er
für Bildung, Kunst und Wissenschaft sorgt, ohne den einzelnen zu Kunst und
Wissenschaft zu zwingen, -genau so handelte der Staat recht, wenn er die Religion
als eine Kulturaufgabe in seine allgemeinen Pflichten hineinnahm. Und es
wird auch auf protestantischer Seite als eine verletzende Schroffheit -der neuen
republikanischen Verfassung empfunden werden, wenn auf der einen Seite der
Staat von den Bürgern ungeheure Opfer fordert, anderseits aber plötzlich für die
Pflege eine noch so tief wurzelnden Kulturgutes, der Religion und Kirche, nichts
mehr bewilligte. Es wäre ungeheuer kurzsichtig, wenn man die 'Unkirchlichkeit
in den Großstädten zum Maßstab sür die Schätzung -der Kirche im ganzen Volke
machen wollte. Es -gäbe einen Sturm des Zornes gegen „Berlin", einen neuen
Kulturkampf, noch schlimmer als den ersten zu Bismarcks Zeiten.
Der Staat trat ferner bisher mit vielen Schutzbestimmungen für die Heili¬
gung der kirchlichen Feiertage ein, für -die Pflege der Frömmigkeit in den staat¬
lichen Erziehungsansr.alte-n, Lazaretten und im Herr und Marine; — wird die
Volkskirche Kraft hoben, auf den Staat einen Druck auszuüben, daß diese religiöse
Pflege zum mindesten nicht gehindert wird, wenn sie von der Kirche übernommen
werden müßte?
Die finanzielle Regelung bei der etwaigen Trennung ist sehr sorg¬
fältig zu behandeln. Bis jetzt wurden -die Kosten für d-as kirchliche Leben auf
dreifache Weise aufgebracht: durch Staatsbeihilfe, Kirchensteuern und durch das
eigene Vermögen der Kirche. — Um mit dem letzten anzufangen, so ist dem viel¬
fach verbreiteten Irrtum entgegenzutreten, als wenn die preußische Landeskirche
über großen Reichtum verfügte.' Davon ist keine Rede! Natürlich hat die Kirche
Vermögen. Wer es ist kein Vermögen in „toter Hand". Die „Hand" ist sehr
lebendig. Ohne -dies Vermögen wäre die kirchliche Pflege der Frömmigkeit gar
nicht möglich. Mit diesem Vermögen werden die Pfarrer zum größten Teil be¬
soldet, werden die Kirchen gebaut und erhalten und alle anderen kirchlichen Be¬
dürfnisse nach Möglichkeit bezahlt. Allerdings ist meines Wissens eine Statistik
des kirchlichen Gesamtvermögens an Ländereien, Kapitalien und Berechtigungen
noch nicht erschienen; unmöglich würde sie nicht sein, und irgend ein Interesse an
einer Verheimlichung besteht nicht. Im Gegenteil würde sich zeigen, daß die
evangelische Kirche keine „reiche" Kirche ist. Sonst würde sie wahrhaftig nicht zu
dem Mittel der Kirchensteuern gr'eifen und nicht auf einen Beitrag des Staates
angewiesen sein. Die Kirchensteuern sind aber notwendig; über 7i/> Prozent der
Kirchensteuern jeder Gemeinde werden in die Allgemeine Kasse der Landeskirche
abgeliefert, damit die leistungsschwachen Gemeinden eine Beihilfe zu ihren kirch¬
lichen Bedürfnissen bekommen, über diese Kirchensteuer wird in jeder Synode
genaue Auskunft gegeben, nur im dringendsten Fall entschließt man sich zur Er¬
höhung von Kirchensteuern. — Die Staatsbeihilse beträgt also nur einen, aber
bis jetzt notwendigen Teil zu den allgemeinen kirchlichen Kosten. Im Etat des
preußischen Kultusministeriums vom Jahre 1914 betrug die Gesamtausgabe:
281,1 Millionen; davon sielen allein auf die Volksschulen'180,89 Millionen, auf
die Universitäten 18,3 Millionen, auf die höheren Lehranstalten 22,75 Millionen,
auf die evangelische Landeskirche 25,5 Millionen, aus die katholische Kirche
9,5 Millionen; nimmt man dazu noch einen Teil der Beträge für Kultus und
Unterricht gemeinsam, der im ganzen sich auf 5,4 Millionen Mark beläuft, für die
evangelische Kirche hinzu, so war der Staatsbeitrag für die Landeskirche ungefähr
26 Millionen. In dieser Höhe steht er-erst seit dem Jahre 1908. Damals wurde er
um 11 Millionen Mark erhöht, um die Gehälter der evangelischen Pfarrer nur
annähernd in Einklang mit den sonstigen Gehaltserhöhungen der Beamten zu
bringen. Bis dahin betrug der Staatsbeitrag rund 14^2 Millionen Mark. Nur
durch diesen Staatsbeitrag ist es bisher möglich gewesen, das Durchschnittsgehalt
eines preußischen Pfarrers nach 24 Dienstjahren auf den Höchstbetrag von
K000 Mark zu bringen. Bis zum Jahre 1908 waren es 4300 Mark; und vorher
noch viel weniger. Der Lebensunterhalt eines Pfarrers ist im ganzen auch heute
noch sehr bescheiden. Dieser Betrag des Staates war nicht bloß in der An¬
schauung begründet, daß die Pflege der Religion eine Pflicht des „Kulturstaates"
sei, — sondern folgte auch aus der Überzeugung, daß der Staat bei der Säkulari¬
sierung vieler Kirchengüter im Jahre 1810 die feierliche Verpflichtung über¬
nommen hat, für ausreichende kirchliche Pflege seinerseits zu sorgen. Mag man
auch über die Tragweite des § 4 des maßgebenden Ediktes des Königs von
Preußen vom 30. Oktober 1810 verschieden urteilen können, — zweifellos dürfte
sein, daß die heutige Leistung des Staates noch keine erschöpfende Erfüllung der
damals übernommenen Verpflichtungen bedeutet. Von einer unbegründeten,
gänzlich freiwilligen Gabe des Staates an die Kirche kann für Sachverständige
Leine Rede sein. Es ist allerdings zu bedauern, daß die evangelische Kirche es
längst nicht so gut wie die katholische Kirche verstanden hat, ihre Ansprüche an
den Staat genau zu fixieren und durchzusetzen. Man darf auch darauf hin¬
weisen, daß der Beitrag des Staates an die Kirche um das vier- bis fünffache
von dem übertroffen wird,' was die Kirche an Kosten dem Staat abnimmt dnrch
die von ihr begründeten und erhaltenen Anstalten der Barmherzigkeit und sozia¬
len Hilfsbereitschaft. Die Kirche übt diese Nächstenliebe von Herzen gern und
würde sich kaum dvzn entschließen, sich notgedrungen auf die eigentliche religiöse
Seelenpflege zu beschränken, aber sie erwartet vom Staat ein gerechtes Verständ¬
nis und eine Anerkennung der Gegenseitigkeit der Leistungen. — Würde die
Kirche auf ihr Vermögen und ihre Kirchensteuern allein angewiesen sein, so
könnte der Staat noch 'so weit gehen, wie er es in der feindseligen Trennung in
Frankreich getan hat; er könnte Kirchengut konfiszieren und die Kirchensteuer un¬
möglich machen, so daß die Kirche verarmte und lediglich auf private Barmherzig¬
keit angewiesen wäre. Doch ist von der jetzigen Regierung eine so brutale Knebe¬
lung der Kirche labgelehnt. Das Recht der Besteuerung der Kirchengemeinde
wird also Wohl bleiben. Trotzdem ist damit zu rechnen, daß infolge einer erneu-
ten > Agitation zum Massenaustritt »aus der Landeskirche auch die Höhe der
Kirchensteuerbeträge sinken wird; manch einer wird noch um des lieben Geldes
willen sich, ohne daß er es nötig hätte, von der Kirchensteuer drücken. Warten
wir ab, wie die Dinge verlaufen werden! Auf jeden Fall werden wir uns zur
energischen Vertretung unserer Rechte gegen den Staat rüsten müssen, und im
übrigen uns zur Sparsamkeit und Opferwillig-l-eit erziehen. Zweifellos können
manche geistlichen Stellen in den Großstädten und auf dem Lande eingezogen
werden; die Kräfte und Gelder können dann an ander«» Stellen verwendet
werden. Unsere Gemeinden müssen über die finanzielle Lage ihrer Kirche noch
viel mehr aufgeklärt werden; es fehlt schon jetzt nicht an Beweisen, daß sie sich
bereitfinden lassen, für die Erhaltung der kirchlichen Pflege die notwendigen
Opfer zu bringen.
Im engsten Zusammenhang damit steht die Trennung der Kirche
von der Schule und die Lösung des Religionsunterrichts aus dem
Lehrplan der Schule. 'Darüber, an dieser Stelle nur wenige Worte!
Über die Aufhebung der geistlichen Ortsschulinspektion trauert ans evan¬
gelischer Seite nur eine Minderheit. Auch bei der Aushebung ist ja die freund¬
schaftliche Beziehung zwischen Pfarrer und Lehrer namentlich auf dem Lande
durchaus nicht zerstört. Dem Pfarrer wird irgendwie doch im Rahmen der
Schulverfassung die Möglichkeit bleiben, seine Wünsche wie jedes ändere Ge¬
meindeglied zum Ausdruck zu bringen. Aus eine Verständigung freundschaft¬
licher Art ist zu hoffen; das frühere „Vorgesetzten"-V-erhälinis soll ja im neuen
Staat durch sin ollgemeines „Vertrauensverhältnis" überall ersetzt werden.
'
Außerordentlich viel Mithilfe in der religiösen VoltLerziehnng
ginge der Kirche verloren, wenn wirklich die kürzlich erschienenen Be¬
stimmungen des Ministers Haenisch über die künftige Bedeutung des Religions¬
unterrichts im allgemeinen Jugendunterricht endgültig sein sollten. Die -Kirche
müßte dann den gesamten Religionsunterricht selbst organisieren und auch Wohl
selbst bezahlen. Mit größter Freude sehen wir jetzt schon, daß der weitaus größte
Teil der Lehrerschaft an allen Schulen bereit ist, den Religionsunterricht weiter¬
hin'zu erteilen.. Wir sind gewiß, daß die jetzt sich zeigende Bereitwilligkeit nach¬
haltig bleibt, und wollen kirchlicherseits alles tun, um das Vertrauensverhältnis
zwischen Kirche und Lehrerschaft zu vertiefen.
Wahrscheinlich würden bei einer Trennung von Staat und Kirche auch
die theologischen Fakultäten -an den Universitäten sich im der heutigen Form; nicht
halten lassen; zum Teil würden die einzelnen Disziplinen bei der philosophischen
Fakultät untergebracht werden, zum Teil würden sie, namentlich die „praktische"
Theologie, über die in dem letzten Jahren schon sehr viel verhandelt ist, in einer
Umformung auf Instituten der Kirche betrieben werden können.
Die Zukunft der .Arche ist also voller Sorgen und Nöte. Mit ub-erstiege-
nen Idealismus lassen sich diese Sorgen nicht gleich überwinden. Mag das
religiöse Leben wahrer und ehrlicher werden, wenn alle weltlichen Stützen zer¬
brechen, — es kann auch manches Leben sterben, weil die Not zu groß wird.
Kirchliche Sitte ist leichter zerstört als ausgebaut. Und der Wert guter kirchlicher
Sitte steht außer- Zweifel. Auch der Trost ist nicht hinreichend, daß die jetzt er¬
klärte Opferwilligl'an der Kirchentreuen bleiben wird; — wer kennt die harte-
Zukunft? Die Sorgen bleiben und machen Besonnenheit zur Pflicht.
Aber am notwendigsten bleibt natürlich eine starke religiöse Kraft.
Aus unserem kirchlichen Leben muß -alles überlebte, enge, büreaukratische,
hierarchische heraus, alle übertriebene Hochschätzung des altertümlichen,
und hinein muß der Mut auch zu neuen Formen der Andacht, eine immer
wärmere soziale Gesinnung, eine immer tiefere Versenkung in die Geheimnisse
und Seligkeiten des Glaubens, eine immer größere Andachtskraft und Festigkeit
gegenüber den Versuchungen und Wankelmütigk-eilen des irdischen Lebens. Einer
charaktervoller, 'einigem, volkstümlichen, seelenreinen Kirche -werden die Menschen
auch heute ihre Liebe schenken.
Die revolutionäre Grippe. In Ur. 49
der „Grenzboien" vom 6, Dezember wies
ich darauf hin, wie bedeutend nach Zeugnis
aus feindlichem und neutralem Munde die
Wahrscheinlichkeit ist, das; die sozialistische
Welle, die im November Deutschland
überspülte, in wenigen Monaten auch die
siegreichen Ententeländer erfassen w.ird. In
der seither verflossenen kurzen Zeit haben die
Anzeichen hierfür sich so beträchtlich verstärkt,
daß ein nochmaliges, kurzes Zurückkommen
auf das Thema berechtigt erscheint,
Zwar in Frankreich und in dem von der
Zersetzung noch mehr bedrohten Italien waltet
die Zensur mit eiserner Strenge und laßt
keinen Ton hioausschallen, der der Regierung
nicht genehm ist. Dennoch ist aus den spär¬
lichen Meldungen zu ersehen, daß man sich
in beiden Ländern Vielfach vor der Rückkehr
der eigenen Truppen und der Demobilsierung
geradezu fürchtet. Trotz lebhaften Verlangens
der französischen Kammer, daß die älteren
Jahrgänge bis 1891, sogleich demobilisiert
Werden möchten, lehnte die Pariser Re¬
gierung (Ävrami) dies Verlangen ab, um
sie wenige Tage später dennoch zuzugestehen
und überdies das Versprechen abzugeben,
daß die allgemeine Demobilisierung baldigst
folgen solle. Ließ schon diese Ziellosigkeit
vermuten, daß irgend etwas nicht in
Ordnung sei und daß Teile des Heeres
Neigung zeigten, „sich selber zu demobili-
. hieran", so lagen aus Italien am 3. De¬
zember schon Meldungen vor, daß einzelne
Truppen begonnen hätten, ohne Befehl in
die Heimat zurückzukehren, Meldungen, die
unverbürgt waren, aber nicht unglaubhaft
klangen. In Berliner Arbeiterkreisen waren
Gerüchte verbreitet, daß auch in Paris die
rote Fahne schon hier und da' erschienen sei.
Die Nachricht mag übertrieben sein, ist aber
im äußersten Falle den Ereignissen nur um
mehrere Wochen oder Monate vorausgeeilt.
Daß eine starke, den imperialistischen Be¬
strebungen der Regierung recht unbequeme
Bewegung drüben im Gange sein muß, ging
trotz aller Zensurmaßnahmen aus dem „Libre
Parole" vom 25. November hervor, worin
Klage geführt Wurde, daß in Paris Flug¬
blätter verteilt worden seien, worin es u, a.
hieß:
„Fordert die Regierung auf. das Joch
des verwünschten Engländers abzuschütteln,
der früher oder später Frankreich aus¬
hungern wird ... In der Kammer
kommt das Volk nicht zu Wort. Nieder
mit Clömencecm und dem Militarismus,
die Frankreich zu Englands Sklaven ge¬
macht haben. England hat uns in einen
imperialistischen Krieg hineingezogen . . . .
Verlangt für Elsaß-Lothringen Volks¬
abstimmung!"
Und 14 Tage darauf brachte die „Huma-
nitb" einen Artikel, der zwar von der Zensur
stark beschnitten war, dessen höchst bezeich¬
nende Übeischrift „Das erste Blut in Paris" (I)
aber die Spähaugen des Zensors übersehen
hatten Aus dem Artikel selbst ging hervor,
daß Sozialisten triumphierend verkündet
hatten, die rote Fahne flattere schon vom
Rhein bis nach Asien hinein, und daß es
nachher zu Zusammenstößen mit der Polizei
gekommen war. Im „Popülaire" wurde
gleichzeitig gedroht, wenn man erst von der
Leber weg schreiben dürfe, so könne Clö-
menceau etwas an Kritik erleben. „Frank¬
reich habe ehedem gegen die Könige Krieg
geführt; jetzt habe eS dem Volke den Krieg
erklärt. Der Zorn des Volkes sei be¬
rechtigt usw."
Am interessantesten aber sind die engli¬
schen Pressestimmcn, die von der Zensur am
wenigsten „geniert" werden. Obwohl dort
die soziale Unisturzgefahr nicht annähernd so
groß wie in Italien und Frankreich ist,
macht sich doch anch dort eine Massenbewegung
von elementarer Wucht bemerkbar. Die
„Morning Post" vom 26, November erinnert
an eine von Ramsay Macdonald verfaßte
Druckschrift „XVK^ we are se ^vör", die
Deutschland als Opfer der Verbandsmächte
bezeichnete, und teilt im Anschluß daran mit:
„Es bildete sich in allen Industriezentren
eine große Anzahl von Gesellschaften, deren
Zweck und Ziel nach dem Vorbild der Bolsche¬
wik! der Kampf gegen das Kapital und die
Regierung ist. Der Krieg sei nur ein Krieg
der Kapitalisten, dtL sich noch mehr be-
reichern wollen .... Unter den Kohlen¬
arbeitern in Südwales sind besondere Unter¬
richtskurse zur Verbreitung der Marx'schen
Lehren und des Bolschewismus eingerichtet.
In dem monatlich erscheinenden Organ der
Partei „The Revolution" sind zur Belehi ung
von jungen Sozialisten die zehn Gebote der
Partei veröffentlicht. Das zweite Gedvi mutet:
„Du sollst kein Patriot sein, denn ein Patriot
ist ein internationaler Schurke" .... Das
vierte Gebot: „Du sollst an keinem Krieg
des Bürgertums teilnehmen, denn alle
modernen Kriege sind nur das Ergebnis von
Wettbewerb auf wirtschaftlichem Gebiet" . . .
In der Oktobernummer dieses Organs heißt
es: „Wir bereiten den Weg zu einer briti¬
schen Revolution, unser Programm ist ein
Vierstundenarbeitstag (I), gleiches Recht und
gleicher Lohn für alle Arbeiter . . . Unsere
Bolschewisten sind ebenso skrupellos wie. ihre
russischen Kameraden .... Sie verfolge»
mit Aufmerksamkeit die Maßnahmen der
Regierung für den Wiederaufbau und —
warten auf den. richtigen Augenblick, um
Unheil zu stiften. Schon sind deutliche An¬
zeichen hierfür erkennbar."
„Viele rote Fahnen werden von der
Galerie geschwenkt (!). Über der Redner¬
tribüne befand sich ein Plakat mit den
Worten: „Setzt die Gefangenen freit' . . .
W. N. Ewes brachte eine Entschließung
ein, in der er den Völkerbund auf der
Grundlage der Abrüstung, Abschaffung des
Militärzwanges und Selbstbestiinmungs-
recbtes der Völker (einschließlich Irlands
und anderer Völker des britischen Reiches!!)
verlangte . . . P. Snowden erklärte, die
englischen Arbeiter hätten keinen Streit
rin dem deutschen Volke. Man solle die
Aushebung der Blockade gegen Deutschland
verlangen, die nur ein Akt der Grausam¬
keit sei. Nach der Versammlung marschierte
eine Anzahl von Mitgliedern der Ver¬
sammlung durch den Londoner Westen,
wobei sie eine rote Fahne (Is vor sich her¬
trugen art revolutionäre Lieder sangen.
In Piccadilly.wurden sie von einigen Offi¬
zieren und Soldaten angehalten, die ihnen
nach einem Handgemenge die' rote Fahne
entrissen."
Gewiß sind dies alles örtliche Vorgänge
ohne größere Bedeutung, aber sie sind sym¬
bolisch. Genau ebenso fing in Berlin die
Umwälzung im April 1917 und Januar 1918
auch an. Nach den Pulsader vorn 31. Ja¬
nuar 1918 jubelten die russischen Bolschewiki,
weil sie glaubten, die Revolution sei nun
auch auf Deutschland übergesprungen, und
der Gewaltfrieden werde ihrem Lande erspart
bleiben. Sie irrten sich, hatten sich aber nur
um 9 Monate verrechnet. Genau ebenso
irren diejenigen, die heute in Deutschland
glauben, die roleFlamme des Umsturzes werde
schnell auf die Verbandsländer übergreifen.
Diese befinden sich heute ungefähr auf dem
Stande, den Deutschland am 31. Januar
einnahm, z. T. schon einige Monate weiter.
Ein 9. November wird auch ihnen auf die
Dauer nicht erspart bleiben, und das Jahr
1919 bringt für Europa vielleicht den großen
Wendepunkt, in dem sich „die Proletarier
aller Länder vereinigen" und genieinsam dem
Kapitalismus alter Form den Krieg erklären,
in dem die sozialen Klassenkämpfe im Leben
der Völker wichtiger werden als die nationalen
Streitigkeiten--.
Am 23. November fand im Hippodrome
Woolwich in London eine große Arbeiter¬
versammlung statt, in der laut Bericht der
„Times" vom 25. November ein Redner u.
a. die Versammlung aufforderte, „das System
zu zerschmettern, nach dem die Arbeiter nur
ein Zahnrad in den Maschinen der Industrie
seien, das man herausnehmen könne, wenn
man seiner nicht mehr bedürfe". Die Ver¬
sammlung trennte sich „unter Absingung der
.Roten Flagge'", nachdem sie ohne Wider¬
spruch (I) eine Resolution angenommen hatte,
wonach „nationale Arbeiterausschüsse zu be¬
gründen seien, die eine Kontrolle der In¬
dustrie durch die Arbeiter selbst bezwecken"
sollte, d. h. also — Arbeiterräte, damit
„die kapitalistische Produktionsweise ab¬
geschafft und eine industrielle Republik er¬
richtet" werde. Noch deutlicher wurde man
am 30. November auf einer anderen Arbeiter¬
versammlung in der Londoner Albert Hall,
die erst verboten war und dann unier unge¬
heurem Zulauf doch stattfand. Der Bericht
der „Times" vom 2. Dezember über diese
Veranstaltung besagt u. a.:
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.