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]]> Zeitschrift für
Politik, Literatur und Aunst
Herausgeber
Georg Cleinow
77. Jahrgang
Lrste- Vierteljahr
Berlin
verlas der Grsnzboten G. in. b. H»
^9^8
Litauischen Frage, Zur , Sammclbcricht von
Prof, M, Kranz........10, 275
, ^ Oesterreich ungarisch gzptii . . v, 146
> it tausend Versprechungen und den schönsten Ausblicken hat das alte
Jahr sich angeschickt von uns zu scheiden. Doch ehe es wirklich ging,
l hat es noch schnell alle Horizonte verdüstert und uns in eine Stimmung
voll banger Unsicherheit und Nervenanspannung geworfen. Unsere
! Diplomatie, die in Brest-Litowsk unser Geschick aus der Hand der
Armee in Verwahrung bekommen hat, gibt uns Rätsel zu raten, die an starke
Zumutungen grenzen. Lesen wir die amtlichen Berichte über den Stand der Ver¬
handlungen und hören wir daneben, daß nun auch tatsächlich den Polen die
Möglichkeit gegeben ist, direkt auf die Verhandlungen zu wirken, so müssen wir
uns immer wieder fragen, ob unsere Einbildung Sieger zu sein nicht doch nur
ein schöner Traum sei, der uns narrte und uns auch wachend nicht aus seiner
Umklammerung freigeben will. Was seit Eintreffen Herrn von Kühlmanns in
Brest-Litowsk geschieht, sieht aus, als diktierten uns die Russen den Frieden, nicht
aber hat es den Anschein, als verhandelten zwei zum Frieden geneigte Mächte
über dessen Bedingungen. Es scheint, als werde die Idee unserer Feinde von
jenseits des Kanals triumphieren, wonach ein Frieden ohne Gebietserwerb und
Entschädigung Deutschlands Kraft zugunsten seiner Nachbarn für ein Jahrhundert
binden soll. Vielleicht sehen diejenigen zu schwarz, die solch ein Ende voraus¬
sehen, — vielleicht ist es auch die Unkenntnis gewisser, den Unterhändlern allein zu¬
gänglicher Tatsachen, die uns alles schwärzer erscheinen läßt. Nicht zu leugnen ist,
daß unser Mißtrauen gegen die Diplomatie seit Jahr und Tag geschärft wurde, da
sie mit vollen Händen hinauswarf, was das Volk, sei es in unermüdlicher Friedens¬
arbeit, sei es im gewaltigen, blutigen Ringen sich erworben hatte. Unsere Di¬
plomatie hat immer schon sehr teuer gearbeitet, — nun scheint ihr der Frieden
ein solch erstrebenswerter Zustand, daß es keinen Preis gibt, den zu zahlen sie
nicht bereit wäre. Der Widerspruch, der zwischen unseren Leistungen auf dem
Erdball und den Ergebnissen unserer Diplomatie von jeher vorhanden ist, das ist
die Quelle des Mißtrauens auch jetzt: wollen wir einen lohnenden sicheren Frieden
haben, so muß der Widerspruch verschwinden.
Dabei stellen wir uns die Aufgabe unserer Diplomaten nicht etwa leicht
vor. Ihr Ziel ist ungeheuer weit gesteckt. Herr von Kühlmann strebt dem all-
gemeinen Frieden zu; er begnügt sich nicht mit einer Wiederherstellung der alten
vertrauensvollen Beziehungen zu Nußland. Die Frage ist nur, was er für diesen
allgemeinen Frieden zu opfern gedenkt.
Vergegenwärtigen wir uns die Lage.
Als wichtigste Tatsache des abgelaufenen Jahres haben wir festzuhalten,
daß es uns gelungen ist, den feindlichen Wall, der uns umgibt, in einer so
großen Ausdehnung niederzulegen, daß eS der Entente unmöglich ist, das ent¬
standene Loch militärisch in absehbarer Zeit wieder zuzustopfen. Rußland ist
niedergeworfen. Die russische Regierung hat den Antrag auf Einstellung der Feind¬
seligkeiten gestellt und es ist mit ihr ein Waffenstillstandsabkommen getroffen, das
in einzelnen seiner Bestimmungen schon eher einem Bündnisvertrage ähnlich sieht.
Damit wäre wenigstens in großen Umrissen das Kriegsziel dem alten Rußland
gegenüber durchgesetzt, was ich in den „Grenzboten" im Herbst 1914 als erreichbar
und wünschenswert bezeichnet habe.
Rußland ist nicht das erste Land, das sich unserem Schwert beugen mußte,
aber seine gegenwärtige Regierung ist die erste der besiegten Staaten, die mutig
die Folgerungen aus den tatsächlichen Verhältnissen zieht und dem Lande die
Segnungen des Friedens dadurch zu bringen sucht, daß sie sich und das Volk
aus der unwürdigen Abhängigkeit vom englischen Kapitalismus befreit. Durch
diesen Entschluß der russischen Regierung bekommen unsere großen militärischen
Erfolge auf allen Fronten, aber ganz besonders auf der russischen Front, die
politische Weihe, sie beginnen sich in politische Siege umzusetzen. Diesen von der
Armee eingeleiteten Prozeß, an dessen Ende der Friede winkt, wirksam zu fördern,
ist Sache nicht nur der deutschen Diplomatie, sondern auch der inneren Politik
sowie der deutschen Publizistik. Jeder an seiner Stelle.
Es muß dies betont werden, weil bei uns weite Kreise glauben, daß nun
lediglich einige Geschicklichkeit seitens der Diplomatie dazu gehöre, den allgemeinen
Frieden herbeizuführen. Dem ist durchaus nicht so und solche Auffassungen zeugen
nur von einer starken Überschätzung der politischen Wirkung militärischer Erfolge,
wie sie so häufig in diesem Kriege gewesen sind, — zeugen auch von einer Unter¬
schätzung der Zähigkeit unseres eigentlichen Feindes und seiner Absichten. Ru߬
lands Zusammenbruch ist sür die Entente zunächst erst eine militärische Niederlage,
noch dazu eine solche, die man langsam sich vorbereiten sah und auf die man sich
einrichten konnte. Das geschickte Spiel mit der Ukraina. das noch keineswegs als
beendet angesehen zu werden brauche, gibt dieser Auffassung die Berechtigung.
Nußland war wie die anderen Ententegenossen in erster Linie Werkzeug des eng¬
lischen Machtwillens, und wenn es auch heute ausscheidet, braucht England —
so wie es einmal den Krieg für sich aufgebaut hat — sein Spiel nicht verloren
zu geben. Es verfügt noch über längst bereitgestellte Reserven. Kämpfe es doch
nicht um Siege auf dem Kontinent!
Für England bedeutet das Ausscheiden Rußlands gewiß einen harten Schlag,
aber noch lange keine entscheidende Niederlage. Vielleicht wird es vorübergehend
nachdenklich gestimmt und überlegt sich die Aussichten, die an der Fortführung des
Krieges hängen. Daß es durch Nachdenken zum Entschluß käme, sich mit Deutsch-
land zu verständigen, glaube ich nicht. Das hieße ja sein Kriegsziel auf dem
Welttheater aufgeben! Auch, daß Rußland stark geschwächt aus diesem Völker¬
ringen hervorgehen mußte, gehörte zu den englischen Kriegszielen; — daß der
Zusammenbruch so früh kam, d. h. ehe England den so lange in Aussicht gestellten
Durchbruch unserer Westfront ausführen konnte, das ist sein Mißgeschick und unser
großer wohl erworbener militärischer Vorteil. Ihn gilt es auszunutzen, nicht aber
zu verwässern durch diplomatische Schritte im Westen und Experimente im Osten
oder sonstiges mildes Friedensgesäusle. Es gehe hart auf hart!
Wer sich ein Bild davon machen will, wie hart die Schläge sein müssen, die
England noch bekommen muß, ehe es sich friedlicher Gesinnung zugänglich erweisen
dürfte, der erinnere sich der großen, ja gigantischen Einzelerfolge unserer Heere
und ihrer verhältnismäßig geringen politischen Wirkung. Die Überrennung Bel¬
giens und Nordfrankreichs blieb ein militärischer Sieg, wenn auch von größter
Bedeutung für die Gestaltung der Westfront und der Sicherung unserer Ernährung
im Innern. Eine Entscheidung, die damals viele erwarteten, konnte sie aber nicht
bringen, weil wir mit dem Lande nicht auch die alte für die Katastrophe ver-
antwortliche belgische Regierung festnehmen konnten. Die serbische und monte¬
negrinische Katastrophe brachten uns den wichtigen politischen Erfolg des An-
schlusses Bulgariens, im übrigen vorwiegend militärische Vorteile. Sie darf neben
dem jetzigen Waffenstillstand mit Nußland als der größte politische Sieg
des Krieges angesprochen werden. Die Siege in Rumänien und Italien
bedeuteten nach außen lediglich ein Eindrücken der feindlichen Front und
die Gewinnung neuer Lebensmittel. In beiden Ländern bedarf es noch er-
gänzender Kriegsmaßnahmen, um die Völker zur Abkehr von der Entente zu
Zwingen. Keiner dieser Schläge hat England in seinem Kriegswillen erschüttert.
Jede Niederlage hat es vielmehr zu neuen Kraftanstrengungen veranlaßt. In
dem Maße, wie der kontinentale Kriegsschauplatz sein Aussehen zu unserm Gunsten
veränderte, in dem Maße wurde der Weltkriegsschauplatz in englischem Sinne
organisiert und schließlich alle Völker der Erde in den Kampf hineingezogen. Auf
dem Weltkriegsschauplatz haben wir noch keinen durchschlagenden Sieg errungen.
— dessen seien wir uns bewußt, — trotz des Heldenmutes unserer Flotte und
der herrlichen Kolonialkrieger. Auch die gewaltigen Leistungen unserer U-Boote
hatten England politisch zunächst Nutzen gebracht durch den Eintritt Amerikas in
den Krieg auf Albions Seite. Und wenn auch die Schädigungen durch den
U-Bootkrieg immer fühlbarer werden, so sind wir noch weit entfernt von dem
Zeitpunkte, wo sie auch politisch ausschlaggebend wirken. Noch fühlt England
sich stark genug, neue Truppen aus dem Boden zu stampfen und sich für
weitere Kämpfe zu rüsten. Einem Gegner gegenüber, dem die Erfahrungen des
Krieges das Recht zu geben scheinen, sein Vertrauen auf die Zeit setzen zu dürfen,
einem Gegner, der sich mehr und mehr als die treibende Kraft des alle Welt
umgebenden menschlichen Unglücks und der eigentliche Angreifer im Kriege ent¬
larvt hat, ist mit anderen Mitteln als denen eindeutiger Machtäußerung nicht
beizukommen. Den Boden des Rechts hatte er längst verlassen, noch ehe der
Krieg ausgebrochen war, nämlich als seine Diplomaten Belgien zur Preisgabe
seiner Neutralität zu überreden vermochten. Schon am 14. Oktober 1905 berichtet
Baron Greindl. der belgische Gesandte aus Berlin, daß „die Isolierung
Deutschlands gegenwärtig das Hauptziel der englischen Politik" sei"), und nur
ein halbes Jahr später, also 1906, war es ausgemachte Sache, ein englisches
Hilfskorps nach Belgien im Falle eines deutsch-französischen Krieges zu entsenden.*")
Nach den Veröffentlichungen aus den belgischen Archiven und Äußerungen eng¬
lischer Staatsmänner und Publizisten steht Englands lang gehegte Absicht, uns jede
Entwicklung über See zu sperren, so offenkundig fest, daß kein Wort mehr über unser
Recht verloren zu werden braucht, den Krieg so weit zu führen, daß Englands Pläne,
uns niederzuhalten, ein für allemal zuschanden werden. Unsere Regierung hat aber
ungeachtet ihrer glänzend gesicherten Stellung vor der Welt noch ein Übriges getan,
indem sie in ihrer Antwort auf die Papstnote die Bereitwilligkeit erklärte, zur
Vermeidung weiteren Blutvergießens durch Verhandlungen zu einem gesicherten,
auch unsere künftige gesunde Entwicklung gewährleistenden Frieden zu gelangen.
England hat auch dies, angesichts der Kriegslage, wie wir sie ansehen dürfen, sehr
weitgehende Zugeständnis durch Lloyd George rund abgewiesen und erklärt, nicht
eher ruhen zu wollen, bis Deutschlands Lebensnerv vernichtet sei. So gilt es
der Macht Englands, unsere eigene Macht, d. h. eine Summe aus eigener Kraft
und dem Vertrauen der übrigen Völker, — entgegenzusetzen, nicht aber bei Eng¬
land auch jetzt wieder um einen Verständigungsfrieden zu betteln. England fordert
uns heraus, einen Machtfrieden zu erzwingen. Wir dürfen uns der Aufgabe
durch keinerlei Sophismen und Bedenken entziehen. Es ist eine Aufgabe, die
uns das Schicksal stellt, ein Gebot der Stunde, dem auszuweichen Feigheit,
Schwachheit, Torheit, Preisgabe unserer Zukunft wäre. Denn in dem Augenblick,
wo wir die Kraft nachweisen, auch England den Frieden zu gebieten, werden wir
dasjenige Matz an Macht besitzen, um durchgreifend auch auf die Rechtsver-
hältnisse in der Welt einzuwirken. Ein Sieg Englands bei seiner heutigen
Geistesverfassung würde uns und alle anderen Völker rechtlos vor dem angel»
sächsischen Kapital machen, das jedem seiner heutigen Vasallen gleich seinen
Gegnern nur das Maß an Entwicklung zubilligen würde, das ihm beliebte. Unser
Sieg über England wird das angelsächsische Kapital zwingen, sich mit uns und
unsern Freunden auseinanderzusetzen und unter unserer Führung ein internationales
Recht zu schaffen, unter dessen Autorität die Völker der Erde den Anteil an den
Gottesgaben der Natur sich gewinnen können, der ihren moralischen und physischen
Fähigkeiten entspricht. Oder, wie Alfred Hettner es sagt, der Krieg solle den
Widerspruch, der zwischen dem Besitze der Völker und ihrer inneren Kraft bestand,
beseitigen.
Es war Aufgabe unserer Diplomaten in Brest-Litowsk, den Russen diese
Zusammenhänge klarzulegen und ihnen gleichzeitig nachzuweisen, welchen großen
Anteil Rußlands Staatsmänner an der Gestaltung des Völkerrechts gewinnen
würden, wenn sie helfen, der englischen Anmaßung ein Ende zu bereiten.
Statt diesen Weg zu gehen, hat die deutsche Regierung noch einmal den
Weg des Friedensangebots betreten. Bis zum 4. Januar soll Großbritannien
sich darüber entschieden haben, ob es zusammen mit uns, Rußland und der ganzen
übrigen Welt an einer Friedenskonferenz teilnehmen will oder nicht. Für die
reinen Toren des Pazifismus mag ja solch ein Weltfriedenskongreß ein ganz
erhebender Gedanke sein, - eine praktische Förderung des Friedens wäre er
nicht, im Gegenteil, nur ein Atemholen der lebenskräftigen Völker, um alsdann
mit um so größeren Kräften übereinander herzufallen.
Ob wir wollen oder nicht: wir müssen den Machtanspruch an der Ver¬
waltung der Erde unserm Können entsprechend teilzunehmen, heute noch mit den
Waffen in der Hand geltend machen. Die militärische Niederwerfung Englands
sei daher unser nächstes unverrückbares Kriegsziel, nicht aber der Versuch, es zu
Friedensverhandlungen zu zwingen.
Der eigenartige Verlauf der Friedensverhandlungen mit Rußland, der durch
das neue Friedensangebot an England seine Kennzeichnung erhält, birgt, gleichgültig
ob England in die dargebotene Hand einschlägt oder nicht, die große Gefahr für
unseren inneren Frieden in sich, die uns aus den Erörterungen über die Ursachen des
Krieges auch unter dem Stichwort der Schuld am Kriege erwächst. Der Krieg ist
eine Katastrophe, die nur vermieden werden konnte, wenn England angesichts der
heranwachsenden Konkurrenz Deutschlands einfach darauf verzichtet hätte, diesen
Gegner zu bekämpfen; er wäre vermieden worden, wenn England sich bereit
erklärt hätte, die junge deutsche Macht als „Juniorpartner" in sein Weltgeschäft
aufzunehmen. Es genügt, an diese furchtbar einfachen Möglichkeiten zu erinnern,
um ihre Unmöglichkeit darzutun. Wie kam England dazu, uns Platz zu machen,
solange wir nicht die Kraft nachwiesen, uns selbst das zu erwerben, dessen wir
bedurften. Sollen nun wir die Schuldigen sein, weil unsere wachsende Bevölkerung
gewinnbringenden Anteil an der Weltwirtschaft heischte, oder sind die Engländer
schuldig, weil Je uns diesen Anteil nach Möglichkeit zu schmälern suchten? Die
Schuldfrage wird nicht auf diesem Wege entschieden: schuldig am Weltkriege
ist, wer unterliegt! Um diese Alternative hilft uns kein Gerede von Welt-
friede und Völkerglück.
Jede weitere Untersuchung geht über unsere augenblicklichen Interessen
hinaus. Sie zielt darauf hin — bewußt und unbewußt —, dem Kriege den
Krieg zu erklären, dem ewigen Frieden einen Weg zu bereiten. Nicht knüpft sie
an an die gegenwärtigen praktisch, politischen Nöte der Völker, sondern an die
edlen Utopien der sogenannten Pazifisten. Sie liefert Waffen allen den neuerem
und Weltverbesserern, die angesichts des grenzenlosen Elends der Menschheit ihre
Stunde gekommen wähnen und die doch nur Unfrieden stiften können in den Reihen der
Kämpfenden und daheim. Sie gefährden unseren inneren Frieden, ohne dem Welt¬
frieden zu nützen. Aus solchen Untersuchungen der Schuldfrage kann ein be¬
kannter Historiker zu dem Gedanken kommen, unseren Sieg über England fürchten
zu müssen, weil in seiner Folge die Reaktion bei uns triumphieren könnte!
Welch' ein jämmerlicher Kleinmut! Es ist für unser ferneres Leben im Staate
und auf dem Erdball viel wichtiger, daß wir heute wissen, wie unsere Arbeit¬
samkeit und Tüchtigkeit letzten Endes die Ursache des Krieges geworden ist, wie,
daß uns gesagt wird, England ist neidisch! Das Bewußtsein, unverschuldet in
den Krieg geworfen zu sein, ist eine weit mächtiger sprudelnde Quelle unserer
moralischen Kraft, als die Sorge, daß wir noch einmal angegriffen werden könnten.
Nun wir wissen, was unserer harrt, wenn wir schwach werden sollten, werden
wir die Mittel zu unserer Verteidigung in der Zukunft schon finden. Es gibt nur
eine Parole: Stark sein! Bereit sein!
Dies stark sein und bereit sein bezieht sich auf alle Äußerungen unseres
völkischen und staatlichenDaseins. Darum begleiten wir auchHerrn von Kühlmann auf
dem von ihm betretenen Wege mit banger Sorge. Unsere innere Wirtschaft muß so fun¬
diert sein, daß sie zusammen mit unserem kulturpolitischen Aufbau den festen Stamm
unseres staatlichen Daseins bilden kann. Wir wissen, daß das deutsche Reichsgebiet
vor dem Kriege nicht ausreichte, um mehr als vier Fünftel seiner Bevölkerung
zu ernähren; ein Fünftel, etwa 1^ bis 15 Millionen Deutsche waren gezwungen,
außerhalb des Reiches sich nach Erwerb umzusehen. Solange das Mutterland
ihre Interessen nicht zu schützen vermochte, waren sie zur Auswanderung ver¬
dammt und wurden Angehörige solcher Staaten, bei denen sie den benötigten
Schutz zu finden hofften. Unsere auswärtige Politik war daher in erster Linie
darauf gerichtet, in allen Ländern der Erde offene Türen zu finden oder solche
für den Handel zu öffnen. Nebenher ging eine gewiß nicht stürmische Kolonial¬
politik. Diese bescheidene Betätigung in der Weltherrschaft genügte, um uns den
Zorn Englands zuzuziehen. Nach dem Kriege wird sie das Mindestmaß dessen
sein, was wir an Weltpolitik zu treiben haben werden, um unsere Bevölkerung
nicht schlechter zu beschäftigen und zu ernähren, wie es vor dem Kriege geschah.
Die Erfahrungen des Krieges und seiner Vorgeschichte haben uns aber gelehrt,
daß die Sicherungen und der Schutz, den wir vor der Weltkatastrophe aufbringen
konnten, nicht ausreichten, um selbst die bisherige bescheidene Tätigkeit im Frieden
ausüben zu können. Was wir also brauchen, ist im wesentlichen die Sicherung
unserer Arbeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wo unsere Sicherungen anzubringen sein werden, haben uns die Er¬
fahrungen des Krieges, nicht aber die Erörterungen seiner Vorgeschichte gelehrt.
Wie steht es mit diesen Sicherungen auf der Friedenskonferenz zu Brest-Litowsk?
Wir haben davon noch kein Wort gehört. Gerade aus unseren weltwirtschaft¬
lichen Nöten heraus ist Belgien zum überragenden Problem geworden, von dessen
Lösung die Entwicklung unseres Überseehandels ebenso wie die unserer Kolonial¬
politik im wesentlichen abhängt. Die Kämpfe in Flandern und im Artois sollten
jedem, der diesen Zusammenhang noch nicht erkannt hat, die Augen darüber öffnen,
was England vom Besitz des Einflusses über Belgien hält. Es ist nicht nur eine
militärische Aufgabe, die englische Armee vom Festlande zu verjagen, es ist die
Hauptaufgabe unserer Friedensunterhändler, ganz Belgien und Nordfrankreich
unter unseren Einfluß zu führen. Wir werden für jede Politik eintreten, die zu
diesem Ziele führt; über die Form der Einflußgewinnung läßt sich verhandeln.
Geht es ohne weiteres Blutvergießen, — um so bessert
Die Hauptsache aber bleibt die Neuordnung der Dinge in Mitteleuropa.
Unter Strömen von Blut ist dieses Mitteleuropa heute mehr, als ein geographischer
Begriff. Mitteleuropa ist ein Symbol der Stärke und Treue, des Vertrauens
und der Macht. Und aus diesem Symbol soll ein Faktor der realen Politik ent¬
stehen. Nicht heute und morgen. Aber in übersehbaren Jahren: Gemeinsamkeit
der Verkehrsmittel, Heer und Flotte unter gemeinsamem Generalstab und Kriegs-
Ministerium, Zoll- und Münzunion.
An ein solches solide aufgebautes Mitteleuropa werden kleinere Staaten-
gcbilde, wie Holland, Belgien, die Schweiz, Bulgarien, Rumänien, Polen sicher
gern Anschluß suchen und eine neu aufgerichtete, mächtige Türkei wird sich im
Bunde damit sicherer fühlen, als unter dem sogenannten Schutz Albions. —
Mitteleuropa wird auch tausend Anknüpfungen finden zu den neuen Gebilden,
die gegenwärtig auf dem Gebiet des alten Zarenreiches im Entstehen begriffen
sind, wobei Litauen und die Ostseeprovinzen eng mit Deutschland, möglichst durch
Preußen verbunden werden müssen.
Alle diese schon eingeleiteten Umwälzungen legen uns Deutschen aber eine
große Pflicht auf: das Reich im Innern so auszugestalten, daß es befähigt sein
wird, auch die damit verbundenen Aufgaben zu leisten. Ich sagte schon: keines
der internationalen Ideale hat vermocht, die Bedeutung des nationalen Gedankens
auch nur um ein Jota zu verrücken. Auch der nationale Kampf, so sehr wir die
Tatsache bedauern mögen, wird ein wesentliches, fruchtbringendes Element unsrer
Politik bleiben. Demgemäß wird der Gestaltung unserer Ostgrenze eine ganz
besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Das die Weichsel abwärts und zur
Ostsee drängende Polentum darf nicht in die Lage versetzt werden, Ostpreußen,
die Wiege des preußischen Königstums. und das Deutschtum im Osten von
den Brennpunkten deutschen Lebens abzudrängen. Diese Teilfrage des ganzen
Fragenkomplexes wird durch die angedeutete Gefahr zum Zentralproblem
des Ostens, gleichgültig, wie wir uns mit Rußland einigen. Vernachlässigen
wir sie. machen wir in der Polenfrage Konzessionen auf nationalem Gebiet,
so nehmen wir Steine von den Fundamenten unserer Zukunft, um damit
eine Gartenmauer zu errichten, über die jedermann hinüberklettern kann. In der
Ostmark wie im Westen, in den reinen Nationalitätsfragen wie in den Fragen
der Weltwirtschaft gilt die Parole: Stark sein! Bereit seinl
Es ist falsch, England über diesen unseren festen Entschluß im unklaren
zu lassen. All unser friedliches Entgegenkommen haben seine Staatsmänner mit
Spott und Hohn zurückgewiesen. Nach den Erfahrungen Englands in Flandern
und bei Cambrai namentlich — denn dort lernten sie eigentlich zum ersten Male
deutschen Angriffsgeist am eigenen Leibe kennen — würde eine öffentliche Be¬
kundung des Willens, England in den Staub zu werfen, zweifellos größeren
Eindruck machen, wie das neuerliche Friedensangebot. Dabei find wir uns
durchaus bewußt, daß die militärische Durchführung des Entschlusses uns
noch mancherlei Opfer auferlegen wird, politische, wirtschaftliche, menschliche.
Wir wissen aber auch, daß ohne die Hinwegräumung des englischen
Widerstandes in Jahren kein Friede zustande kommen kann, wie wir ihn
haben müssen, kein Friede, der uns und unsere Verbündeten die Möglichkeit
ertragreicher Arbeit gibt. Wo schließlich die Entscheidung fällt, will sagen,
auf welchem Kriegsschauplatz, das ist heute mit Sicherheit nicht zu bestimmen.
Es hängt ab von dem Eindruck, den unsere weiteren militärischen Teilerfolge auf
England hinterlassen werden. Ob unsere Heere den Engländer aus Frankreich
oder Flandern verdrängen, in welchem Zeitpunkt wir gezwungen werden, noch
die Weltstraße Gibraltar—Suez—Aden fest in unseren Besitz zu nehmen, ob wir
schließlich gezwungen sein werden, der englischen Flotte den Garaus zu machen,
das steht nur insofern bei uns, als wir fest und unerschüttert in unserem Willen
bleiben, England zu werfen.
Es wird also der Standpunkt vertreten, daß wir zu einem Frieden, der
unseren bisherigen Opfern entspräche, nur kommen können durch die Niederwerfung
Englands. Gelingt solches mit diplomatischen Mitteln, um so besser, — für alle
Fälle aber ist es sicher, auch alle die Machtmittel bereit zu stellen, die notwendig
sind, das Ziel zu erreichen, sofern die Kunst unserer Diplomaten doch nicht aus¬
reichen sollte, Macht ist eine Summe aus eigener sittlicher, wirtschaftlicher
und militärischer Kraft und aus dem Vertrauen, das uns Freunde und Nach¬
barn, das sind unsere Bundesgenossen von heute und unsere Geschäftsfreunde
in der Welt von morgen, entgegenbringen. Vertrauen können im Völker¬
leben nur die Nationen und Staaten auf die Dauer bewahren, deren Regierungen
stark genug sind, ihre Rechte wahrzunehmen. England genoß dies Vertrauen in
der Welt. Das auf Preußens starken Schultern errichtete Deutsche Reich genoß
das Vertrauen seiner kontinentalen Nachbarn so lange, bis es nicht zu Englands
Wettbewerber in der Weltpolitik wurde und durch die Notwendigkeit in Fragen der
Weltwirtschaft hinter England zurücktreten zu müssen, dessen Rbermachtanerkannthatte.
Weisen wir jetzt unsere Überlegenheit nach über England, wie wir sie seinerzeit
über Frankreich bewiesen hatten, so werden wir ohne weiteres Vertrauen bei allen
Völkern der Erde finden, die heute in der Gefahr der Bedrohung durch England
und Nordamerika schweben. Erbringen wir ihnen den Nachweis, daß sie sich
an uns anlehnen können zum eigenen Nutzen, so werden sie uns lieben und uns
vertrauen.
Kraft gebiert Vertrauen!
Mag der Krieg noch so günstig für uns verlausen, unser erster Schritt zur
Festigung des Friedens und zur Vermeidung von neuen Kriegen wird sein der
Wiederaufbau unserer Macht. Keine internationale Idee, weder die sozialistische
noch die römische, haben sich als eine solche Autorität unter den Völkern er
wiesen, stark genug, den Nationen, dem Nationalismus, dem wirtschaftlichen
Egoismus zu gebieten. Die Wurzeln unserer Kraft, die Sterne unserer Zukunft,
unser Alles liegt im Schoße der arbeitstüchtigen Nation. Nur diese Lehre hat
den Krieg überdauert, - alle andern sind zusammengebrochen und verweht beim
ersten Hauch des Auguststurmes von 1914. Dem deutschen Volke den Kampf
unter den Weltvölkern zu erleichtern und darum beim Friedensschluß eine breite
Basis für den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht zu bauen, das ist in Fort¬
setzung der Tätigkeit der Armee die Kernaufgabe der deutschen Diplomatie nach
außen, mit der sie nach Brest-Litowsk gereist ist, den Frieden mit Nußland in
ti-e Form einer völkerrechtlich gültigen Urkunde zu gießen.
Der Weg zum Frieden, wie ich ihn für gangbar halte, ist sicher nicht frei
von Verzichten; ohne Ausgleich gegensätzlicher Interessen ist kein Zusammenleben
von Enzelindividuen, geschweige denn von ganzen Völkern möglich. Die Verzichte
haben aber ihre Grenzen, und die ergeben sich aus unseren Lebensnotwendigkeiten.
is 18ß9 die Umgestaltung der preußischen Verwaltung in Aussicht
stand und man unter dem Einflüsse von Gneist allgemein auf das
englische Vorbild blickte, wies Miguel in den „Preußischen Jahr¬
büchern" auf die mustergültige Verwaltungsorganisation der Nieder¬
lande hin. Und in der Tat, wenn man rechtsvergleichend fremde
Einrichtungen der eigenen Gesetzgebungspolitik nutzbar machen wollte, so stand
uns unser niederdeutsches Nachbarvolk unendlich viel näher als England, dessen
Rechtszustände in der abgeschlossenen Jnsellage des Landes vielfach eine Ent-
Wicklung genommen hatten, die einen Vergleich mit den Verhältnissen des Fest
landes überhaupt nicht zuließen. Nun vollzieht sich, während wir mit Einführung
des allgemeinen Stimmrechtes in Preußen beschäftigt sind, eine Umgestaltung des
kommunalen Stimmrechtes für die nächste Zukunft zu erwarten ist, in den Nieder¬
landen, von den Tageszeitungen fast unbemerkt, der Übergang zum allgemeinen
Stimmrechte, gleichmäßig für Volksvertretung. Provinz und Gemeinde, gerade in
diesen Tagen. Deshalb gewinnen unter unserer dermaligen politischen Lage die
inneren politischen Zustände der Niederlande für uns wieder eine besondere Be¬
deutung.
Schon durch königliche Verordnung vom Is. November 1913 war ein Staats-
ausschuß von hervorragenden Politikern und Juristen zur Ausarbeitung des neuen
Wahlrechtes mit Verhältniswahl eingesetzt worden. Dieser Ausschuß erstattete
schon am 25. Mai 1914 seinen Bericht unter Vorlage der entsprechenden Gesetz¬
entwürfe. Die parlamentarische Erledigung nahm erheblich längere Zeit in An¬
spruch, da mit den Vorlagen eine Verfassungsänderung verbunden war. die eines
zwiefachen Beschlusses der Generalstaaten mit zwischen beiden Beschlüssen liegender
Auflösung der Kammern bedarf. Aber mitten in den Stürmen des Weltkrieges
wurde das Werk vollendet. Am 5, Dezember 1917 konnten die neuen Gesetze
in der altertümlichen Form von allen Nathaustreppen des Landes verkündet
werden.
Die niederländische Verfassung vom 14. Oktober 1848 ist im wesentlichen
das Werk des Leidener Staatsrechtslehrers Thorbecke als Ministers, dessen Bild,
vom Staate gestiftet, während die anderen Bilder Privatstiftungen sind, in dem
ehrwürdigen Senatssaale der Leidener Universität auf uns niederbückt. Auf Grund
der Verfassung ergingen dann im Juli 1850 das Wahlgesetz, die Gemeinde- und
die Provinzialordnung.
Für die Wahl der zweiten Kammer wurde danach das Zensuswahlrecht
eingeführt. Die Gemeinde- und die Provinzialordnung bestimmten dann das
Gemeinde- und Provinzialwahlrecht nach der Wahlberechtigung für die zweite
Kammer der Generalstaaten. Die erste Kammer der Generalstaaten wurde ihrer¬
seits von den Provinzialstaaten gewählt. Damit bestand ein durchaus einheit¬
liches Wahlrecht von der Gemeinde aufwärts bis zur Volksvertretung -- nur daß
die erste Kammer, die halb so viele Mitglieder zählte als die zweite — erste 50,
zweite 100 — aus indirekten Wahlen hervorging. Hierdurch war für alle Zukunft
die Gleichmäßigkeit des Wahlrechtes für alle politischen und kommunalen Ver»
tretungskörper gegeben.
An die Stelle des Zensuswahlrechtes trat seit 1887 ein neues, das sich im
wesentlichen dem 1867 von Disrcieli in England eingeführten Wohnungswahlrechte
anschloß. Es beruhte zuletzt auf dem Wahlgesetze vom 7. September 1896.
Voraussetzung des Wahlrechtes war männliches Geschlecht und Vollendung des
25. Lebensjahres. Im übrigen hatte jeder Wähler eine Stimme. Die Wahlen
erfolgten mit absoluter Mehrheit, nötigenfalls unter Stichwahl. Verhältniswahl
gab es nicht. Im übrigen unterschied man
1. Steuerwähler, welche irgendeinen Betrag an direkter Staatssteuer ent-
richteten, nur für die Bodensteuer war ein Mindestbetrag von einem Gulden vor¬
geschrieben;
2. Wohnungswähler, welche als Familienhäupter oder alleinwohnende Per¬
sonen ein Haus oder einen Teil eines Hauses bewohnen, wofür eine gewisse Miete
nach örtlich verschiedenen Mindestsätzen vorgeschrieben ist;
3. Lohnwähler, welche während eines Zeitraumes von einem Jahre in
nicht mehr als zwei Stellen tätig gewesen sind und als solche ein bestimmtes,
örtlich verschiedenes Mindesteinkommen von 300 bis 500 Gulden bezogen haben
oder Ruhegehalt beziehen;
4. Sparwähler, welche einen Mindestbetrag von 50 Gulden in einer an¬
erkannten Sparkasse oder von 100 Gulden im Hauptbuche der niederländischen
Staatsrentenschuld eingeschrieben haben;
5. Prüfungswähler, welche eine der vom Gesetze aufgezählten, für die
Ausübung irgendeines Gewerbes, Amtes oder Berufes erforderlichen Prüfungen
bestanden haben.
Kein aktives Wahlrecht hatten die aus der Armenkasse Unterstützten, Ge¬
fangene, Entmündigte, diejenigen, welche ihre Steuern nicht bezahlt hatten, und
aktive Militärpersonen unter dem Range eines Unteroffiziers.
Die Wahlen waren geheim. Es mußten vorher von wenigstens vierzig
Wählern unterzeichnete Kandidatenlisten eingereicht werden. Diese wurden gedruckt,
hinter jedem Namen ein weißer Kreis in schwarzem Viereck. Die Arbeit des
Wählers bestand nun darin, die gedruckte Wahlkarte in Empfang zu nehmen, da¬
mit in einen abgeschlossenen Raum zu treten und mit einem Bleistifte den weißen
Kreis hinter dem Namen des von ihm gewählten Kandidaten zu schwärzen.
Dann wurde die Karte verdeckt in die Wahlurne getan.
Auf Grund dieses Wahlrechtes besaßen bisher ungefähr 60 Prozent aller
Männer von über 25 Jahren das Stimmrecht. Wahlpflicht bestand nicht. Im
allgemeinen übten bisher ungefähr 70 Prozent der Wahlberechtigten ihr Wahl¬
recht wirklich aus.
Nach dem Gothaer Hofkalender von 1917 zählte die erste Kammer
17 Katholiken, 13 Protestanten. 3 Christlich-Historische. 18 Liberale, 2 Sozial¬
demokraten; die 1913 gewählte zweite Kammer 32 Liberale, 25 Katholiken,
11 Protestanten, 10 Christlich-Historische, 15 Sozialdemokraten, 7 Demokraten,
«tho eine ziemliche Parteizersplitterung, die man aber nach den größeren Gruppen
der Rechten, der Linken und der Sozialdemokratie zusammenzufassen 'pflegte.
An die Stelle dieses bisher geltenden Wahlrechts tritt nun das allgemeine
Stimmrecht mit Verhältniswahl und zwar, der bisherigen Entwicklung ent¬
sprechend, wiederum gleichmäßig von der Volksvertretung herab bis zu den Ge-
meindewahlen.
Eine eigentümliche Stellung nimmt die neue Gesetzgebung dabei zum Frauen-
stimmrechte ein. Dieses wird von der Verfassung zwar künftig zugelassen, so
daß seine Einführung keiner erneuten Verfassungsänderung bedürfte. Die ordent¬
liche Gesetzgebung macht aber von der verfassungsmäßigen Ermächtigung keinen
Gebrauch und führt es nicht ein. Also eine bloße Verbeugung vor dem Frauen-
stimmrechte.
Außerdem wird eine Wahlpflicht eingeführt. Der Wähler, der unentschuldigt
der Wahl fern bleibt, wird bestraft. Bei der Frage, welchen Parteirichtungen die
Wahlpflicht vorwiegend zustatten kommen wird, scheint es sich zunächst um einen
Sprung ins Dunkle zu handeln.
Auf dieser Grundlage wird nun das allgemeine Stimmrecht eingeführt.
Also die bisherigen Befähigungsnachweise auf Grund von Steuer. Wohnung.
Lohn. Ersparnissen und Prüfungen fallen fort. Bestehen geblieben sind nur Aus¬
schlußgründe, die auf rechtskräftiger richterlicher Entscheidung wegen Verurteilung
in gewissen Straffällen oder wegen Beschränkung der privatrechtlichen Verfügungs-
fähigkeit beruhen.
Ihren charakteristischen Zug erhält aber die neue niederländische Wahl-
reform durch die Einführung der Verhältniswahl. Auch diese wird gleichmäßig
für alle Wahlkörperschaften einschließlich der von den Provinzialstaaten zu wählenden
Mitglieder der ersten Kammer durchgeführt.
Der innere Grund lag in dem vielfach auffälligen Mißverhältnisse zwischen
den abgegebenen Stimmen und dem wirklichen Wahlergebnisse, wobei ganz will¬
kürlich bisweilen die eine, bisweilen die andere Partei geschädigt war. Dieser
Umstand ließ die Einführung der Verhältniswahl nicht mehr als Parteifrage
erscheinen.
Dem Bedenken, daß der rein politische Begriff der Partei mit Einführung
der Verhältniswahl seinen Einzug in daS Staats- und Verwaltungsrecht halten
würde, ist durch den Anschluß der neuen Einrichtung an den bisherigen Rechts¬
zustand der Boden entzogen. Schon bisher mußten vorher Kandidatenlisten ein¬
gereicht werden und konnten Stimmen nur auf die in der Wahlkarte enthaltenen
Kandidaten fallen. Dabei ist es geblieben, ebenso bei der Form der Abstimmung
durch Schwärzung des weißen Kreises hinter dem Namen. Die Partei bleibt
also mit ihrer Wirksamkeit ganz im Hintergrunde und ist der Rechtsordnung un¬
bekannt. Die Parteiorganisationen werden natürlich nach wie vor die Kandidaten
auswählen. Aber es ist eine bestimmte Mindestzahl von Wählern, welche die
Kandidatenliste einreicht. Auf andere, als die auf der Liste stehen, können keine
Stimmen entfallen.
' Für die neue Verhältniswahl verschwindet eine ganze Reihe von staats¬
rechtlichen und politischen Begriffen, mit denen man bisher gearbeitet hat, so die
des Wahlkreises — wenigstens in dem bisherigen Sinne, daß von jedem Wahl¬
kreise ein oder mehrere Abgeordnete zu wählen wären —, Mehrheit, absolute Mehr
heit, Stichwahl und Nach- oder Ersatzwahl. An die Stelle aller dieser veralteten
Begriffe tritt der neue Begriff des Wahlteilers. Das ist die Zahl, die sich ergibt,
wenn man die Zahl der Wähler durch die der Abgeordneten teilt.
Man hat sich das ganze Gebiet, in dem die Wahlen stattfinden, also je
nach der zu wählenden Körperschaft Staat, Provinz oder Gemeinde, als einen
einzigen großen Wahlkreis zu denken, in dem alle Vertreter nach einer langen
Liste auf einmal gewählt werden. Wer den Wahlteiler erreicht, ist ohne weiteres
gewählt. Wenn z. B. in einer Gemeinde von 2600 Wählern 13 Gemeinderath.
Mitglieder zu wählen wären, so würde der Wahlteiler 2600 :13 200 betragen,
und gewählt wäre, wer 200 Stimmen erhalten hat.
Nun werden freilich solche runden Zahlen höchst selten vorkommen. So
kann es geschehen, daß einzelne Kandidaten den Wahlteiler nicht erreicht haben,
es sind aber trotzdem noch Stellen frei. Diese entfallen nach dem Systeme der
größten Reste auf die Kandidaten, welche zwar nicht den Wahlteiler, aber die
nächst hohe Stimmenzahl erreicht haben und deshalb als gewählt zu betrachten sind.
Auch kann es, zumal man die Parteihäupter an die Spitze der Liste stellen wird,
vorkommen, daß einzelne Kandidaten mehr Stimmen erhalten, als zur Erreichung
des Wahlteilers erforderlich ist. Diese können auf die folgenden Kandidaten der¬
selben Gruppe, aber nicht einer anderen Gruppe übertragen werden.
Die Begriffe der Mehrheit und der absoluten Mehrheit verschwinden damit
von selbst. Es kommt nur noch auf die Erreichung des Wahlteilers oder seiner
Ersatzmittel an. Für eine Stichwahl bietet sich also gar keine Möglichkeit mehr.
Aber auch Nach- und Ersatzwahlen werden überflüssig. Denn wenn ein gewählter
Vertreter aus irgendeinem Grunde fortfällt, tritt der an die Stelle, der die nächst
große Stimmenzahl erreicht hat.
Die Voraussetzung, von der bisher ausgegangen wurde, daß das ganze
Gebiet nur einen einzigen Wahlkreis bilde, ist aber eine bloße Fiktion, die nur in
Gemeinden bis zu 20000 Seelen zutrifft. Für die Kammerwahlen ist gesetzlich
das ganze Land in achtzehn Wahlkreise im tunlichster Anschlusse an die Provinzen
eingeteilt. Ebenso zerfallen die Provinzen für die Wahl der Provinzialstaaten
und die größeren Gemeinden für die Wahl der Gemeinderatsmitglieder in Wahl¬
kreise, bei den Gemeinden ist deren Zahl ein für allemal aus drei bestimmt.
Innerhalb der Wahlkreise können dann wieder Stimmbezirke gebildet werden, die
nur zur Erleichterung der Abstimmung dienen. Tatsächlich werden also nicht etwa
die 100 Mitglieder der Generalstaaten auf einmal nach einer einzigen langen Liste,
sondern zunächst nur die auf den Wahlkreis entfallenden innerhalb des Wahl¬
kreises gewählt. Die großen Wahlkreise sollen verbürgen, daß sich kein Abge¬
ordneter als Vertreter besonderer Kirchturmsinteressen fühlt, aber doch auch
andererseits nicht die Interessen ganzer Landesteile, wie Seeland oder Overyssel
unvertreten bleiben. Für diejenigen Kandidaten, die innerhalb des Wahlkreises
den Wahlteiler erreichen, ist die Wahl damit erledigt. Für die anderen Kandi-
daten kann eine Übertragung der Stimmen von einem Wahlkreise auf den andern
erfolgen, die Stimmen werden vom Hauptstimmamte im ganzen Wahlgebiete
durchgezählt.
Die Auffassung, daß die Verhältniswahl hauptsächlich der Partei zustatten
kommt, welche die größte Gesamtzahl der Stimmen aufbringt — das würde bei
uns meist die sozialdemokratische sein - dürfte bei dem niederländischen Wahl¬
systeme nicht Antreffen. Denn die Parteien und die bei Einreichung der Kanin-
datenlisten für sie handelnden Wähler müssen in der Zahl der Kandidaten vor¬
sichtige Selbstbeschränkung beobachten, wenn nicht zu erwarten ist. dasz alle bei
der Wahl durchkommen. Eine gröszere Anzahl von Kandidaten wurde die Gefahr
einer Stimmenzersplitterung unter der großen Zahl in sich tragen, so daß keiner
oder nur wenige den Wahlteiler erreichen. Andererseits gibt jeder Wähler so
viele Stimmen ab. als Kandidaten zu wählen sind. Vereinigt er diese Stimmen
auf eine geringere Anzahl von Namen, so entfallen auf diese wemger Namen
natürlich mehr Stimmen. Mit bloßen Zählkandidaturen verschwenderisch um
zugehen, um nur eine möglichst hohe Gesamtzahl von Stimmen herauszubringen,
verbietet daher die einfachste politische Klugheit. ^ ^. .
Da man die Parteiführer an die Spitze der Liste setzen wird, werden diese
unter allen Umständen sichere Plätze haben. Es kann also nicht mehr vorkommen,
daß Parteinullen gewählt werden, während die Führer durchfallen oder nach einem
Wahlkreise suchen.
Daß in den Stichwahlen sich alle anderen Parteien gegen eine wenden und
diese erdrücken, ist allerdings nicht möglich, weil es keine Stichwahlen mehr gibt.
Wohl aber können mehr oder minder verwandte Parteien sich von vornherein über
gemeinsame Listen verständigen und damit dasselbe Ergebnis erreichen. Partei¬
bündnisse sind also keineswegs ausgeschlossen.
Eine größere Wahrheit des Wahlergebnisses, d. h. der Übereinstimmung des
Stimmverhältnisses mit dem Stimmergebnisse, wird allerdings wohl erreicht.
Freilich ist auch diese Wahrheit nur relativ. Denn die Behauptung, daß keine
Stimme verloren gehe, ist jedenfalls übertrieben. Solche zersplitterten Stimmen,
die nicht ins Gewicht fallen, sind sehr leicht möglich, zumal wenn d,e Parteien
unvorsichtig viele Kandidaten aufstellen.
Die niederländischen Abgeordneten haben aber die günstige Gelegenheit
benutzt, iun auch für sich selbst einige kleine Vorteile herauszuschlagen. Nicht nur
wurden die Tagegelder der Abgeordneten um die Hälfte erhöht, wofür man ja
das berühmte Vorbild der französischen (Zum-e nulle vor sich hatte, sondern es
wurde auch ehemaligen Abgeordneten, die nicht wiedergewählt werden, ein Ruhe-
gehalt ausbedungen. Getviß sehr nachahmenswert! Wie manchem Abgeordneten
würde man gern sein Ruhegehalt gönnen/ wenn er dafür von der Bildfläche ver¬
schwände. Zur Erhöhung des Ansehens der neuen Demokratie trägt es gerade
nicht bei. wenn man in dieser Weise von vornherein für den eigenen Vorteil sorgt.
Die Wirkungen des neuen Wahlrechts von vornherein zu berechnen, wird
schwer sein. Das allgemeine Stimmrecht trägt zweifellos stets einen starken Ruck
nach den radikalen Parteien der linken in sich und zwar um so stärker, je weniger
allgemein daS Wahlrecht bisher war. Nun waren die vermögensrechtlichen
Schranken des Wahlrechts in den Niederlanden bisher schon ziemlich geringe,
allerdings doch immerhin so. daß noch 40 Prozent der erwachsenen Männer von
über 25 Jahren ausgeschlossen waren. Die Zahl der auch künftig noch infolge
gerichtlicher Entscheidung vom Wahlrechte ausgeschlossenen Männer wird nicht an¬
nähernd diesen Prozentsatz ausmachen. Auf eine starke Neigung der Parteiwage
nach links kann man sich also gefaßt machen. Daß dieses Ergebnis durch die
Wahlpflicht ganz oder teilweise aufgehoben wird, läßt sich kaum annehmen. Denn
es ist keineswegs bloß der biedere Philister, der aus mangelndem Interesse den
Wahlen fernbleibt, sondern vielfach gerade der unorganisierte Arbeiter der untersten
Klassen aus Mangel an Zeit oder Interesse. Dagegen wird die Verhältniswahl
voraussichtlich den Zug nach links an sich nicht verstärken, namentlich wenn die
Parteien sich erst mit der Technik des neuen Wahlsystemes vertraut gemacht haben
und es verstehen, sich durch Parteibündnisse rechtzeitig gegen einen gemeinsamen
Gegner zu sichern.
Wohl aber dürfte das sehr verwickelte Wahlrecht und die dadurch beförderte
Zersplitterung und Zersetzung der Parteien nach Ansicht politisch erfahrener
Niederländer eine andere, von der Demokratie gerade nicht beabsichtigte Folge
haben, nämlich die Unmöglichkeit einer parlamentarischen Regierung. Man wird
vielleicht einige Zeit versuchen, wider den Stachel zu löcken, bis man allgemein die
Unmöglichkeit einsieht. Aber das Endergebnis wird dann doch wohl ein Regiment
königlicher Kabinette sein, wie schon jetzt ein solches besteht, ohne daß man deshalb
die Niederlande im Auslande, wie es mit Deutschland geschehen ist, als der Volks¬
freiheit entbehrend und von einem persönlichen Regiments unterdrückt hingestellt
hätte. Auch hier die alte Erfahrung, daß die folgerichtig durchgeführte Demokratie
sich schließlich selbst überschlägt. Eine tüchtige Dynastie verbürgt ja mindestens in
demselben Maße eine gesunde Entwicklung des Staatswesens wie die folgerichtigste
Entwicklung demokratischer Grundsätze. Und Treitschke pflegte zu sagen, es habe
in der neueren Geschichte nur zwei tüchtige Herrschergeschlechter gegeben, Oranier
und Hohenzollern.
Leichter dürfte die Einwirkung des allgemeinen Stimmrechtes auf die
kommunalen Verhältnisse von Gemeinde und Provinz festzustellen sein, nämlich
daß es hier trotz einer starken Neigung der Wagschale nach links, die namentlich
für die Großstädte ohne weiteres anzunehmen ist, keinen besonderen Schaden
anrichten wird. Die Verhältnisse liegen hier aber wesentlich anders als in
Deutschland.
Die niederländische Kommunalverfassung befindet sich nämlich in einem
ähnlichen Rechtszustande wie die deutsche im 18. Jahrhundert. Der Umfang der
kommunalen Aufgaben ist zwar sehr weit gezogen, dafür aber andererseits die
Einwirkung der Staatsgewalt ebenso stark entwickelt. »
So wird in der Gemeinde der Bürgermeister von der Krone ernannt. Die
Ernennung braucht nicht aus den Ratsmitgliedern, ja überhaupt nicht aus den
Gemeindemitgliedern zu erfolgen. Sein Gehalt bekommt er zwar aus der Gemeinde¬
kasse, doch wird es vom Provinzialausschusse festgesetzt. Alle Steuerbeschlüsse des
Gemeinderates bedürfen der Genehmigung der Krone. Endlich kann jeder Beschluß
der Gemeindebehörde, der mit den Staats- oder Provinzialinteressen im Wider¬
spruche steht, durch königlichen Erlaß aufgehoben werden, also nicht bloß wegen
Gesetzwidrigkeit, sondern auch wegen Verletzung höherer Interessen.
Die Provinzialverwaltung leitet der von der Krone ernannte königliche
Kommissar mit sehr weitgehendem Einflüsse, im Provinzialausschusse sogar mit
Stimmrecht. Das provinzielle Besteuerungsrecht ist auf engbegrenzte Zuschlage
zu einzelnen Staatssteuern angewiesen. Besondere Provinzialsteuern bedürfen
eines staatlichen Sondergesetzes. Auch jeder Beschluß der Provinzialstände kann
nicht nur wegen Gesetzwidrigkeit, sondern auch wegen Verletzung des StaatS-
interesseS von der Krone außer Kraft gesetzt oder für eine gewisse Zeit bean-
standet werden.
Bei dieser weitgehenden Einwirkung des Staates auf daS kommunale Leben
von Gemeinde und Provinz kann in der Tat das allgemeine Stimmrecht kemen
besonderen Unfug anrichten. Insbesondere ist der größten Gefahr des allgemeinen
Stimmrechtes, daß eine nach Volkstümlichkeit strebende Kommunalpolitik Ausgaben
und Steuern im Interesse der breiten Masse der Nichtbesitzenden, aber aus dem
Geldbeutel der Besitzenden beschließt oder anderweit die kommunalen Finanzen
zugrunde richtet, von Anfang an ein Riegel vorgeschoben. Während man in den
skandinavischen Ländern schrittweise mit Ausdehnung des Gemeindestimmrechtes
die Schranken gegen einen Mißbrauch der Gemeindefreiheit namentlich auf ftnan-
ziellem Gebiete verstärkt und die Gemeindefreiheit selbst unterbunden hat. war das
in den Niederlanden gar nicht mehr nötig. Der Staat hatte bereits alle Waffen
gegen einen Mißbrauch in seiner Hand. ^ . . . ^ - ^
Ganz anders liegen die Verhältnisse in Deutschland seit der Stemschen
Städteordnung von IM. die den Ausgangspunkt für tre ganze kommunale Ent¬
wicklung im 19 Jahrhundert bildete und auch die Einflüsse französischen Rechtes
im Westen und Süden Deutschlands allmählich überwunden hat. Hier hat der
Staat zwar den Kreis der kommunalen Aufgaben erheblich enger gezogen, aber
innerhalb dieses engeren Kreises dem kommunalen Verbände eine weitgehende
Freiheit gelassen. Abgesehen von den Ausnahmefällen, wo der Staat eme höhere
Genehmigung oder Bestätigung der kommunalen Beschlüsse erfordert, nimmt er
im allgemeinen nur deren Nachprüfung vom Standpunkte der Gesetzmäßigkeit in
Anspruch, nicht wegen Verletzung höherer Interessen. Die Richtung der in Aus-
sicht genommenen Verwaltungsreform in Preußen geht sogar dahin, die Falle der
Genehmigung oder Bestätigung auf das äußerste zu beschränken und damit die
kommunale Freiheit noch mehr zu erweitern. Mit dieser Richtung ist eme Er¬
weiterung des Gemeindestimmrechtes unvereinbar. Denn wie man namentlich in
den skandinavischen Ländern eingesehen hat, muß die Gemeindefreiheit eine Schranke
haben, entweder eine innere in dem hervorragenden Einflüsse der Steuerzahler
oder eine äußere in weitgehender Einwirkung der Staatsgewalt. In dieser Be¬
ziehung kann uns also das niederländische Vorbild für deutsche Verhältnisse nur
die Lehre geben: Eins schickt sich nicht für allel
er sich in friedlichen Tagen fünf Monate in fremdem Lande aufhält
und seine Zeit wahrzunehmen, die eine oder andere Verbindung
anzuknüpfen und vor allem seine Augen einigermaßen offen zu halten
versteht, kann ganz wohl den Anspruch erheben, wenn auch nicht
gerade für einen Kenner von Land und Leuten zu gelten, so doch
wenigstens darüber mitreden zu können. Anders in Kriegsläuften. Schon das
besetzte Gebiet selbst gewährt in sehr vielem einen andern Anblick als sonst, der
Dienst fordert seine ausgiebige Zeit, die Berührung mit der einheimischen Be¬
völkerung untersteht selbst dort, wo die Verhältnisse sich so seltsam friedfertig an¬
sehen wie ,in Rumänien, soweit sie nicht zur Amtspflicht gehört, gewissen
Beschränkungen, der ausgiebige Gebrauch der eigenen Sprache ist unweigerliches,
wenn auch ungeschriebenes Gebot, und wer es unter diesen Umständen dahin
bringt, mit leidlicher Sicherheit eine Zeitung zu lesen, und einer Theatervorstellung
wenigstens nicht ganz ratlos gegenüberzustehen, kann schon ziemlich zufrieden sein.
Immerhin bleibt aber zu unterscheiden zwischen denjenigen, die sich solche Mühe
garnicht erst geben, sondern unbeirrt und unberührt durch die fremde Welt hin¬
durchschreiten, und der beträchtlich geringeren Anzahl derer, die sich bestreben,
irgendein Bild zu gewinnen, in der gewiß nicht unberechtigten Meinung, daß wir
uns zu Friedenszeiten zu unserem Schaden um die Beschaffenheit derer, die jetzt
unsere Feinde sind, längst nicht genug bekümmert haben. Und so mag es mir
denn nicht als Anmaßung ausgelegt werden, wenn ich es wage, von einem ver
hältnismüßig leicht ersteigbaren Übersichtspunkt aus einen Blick auf einen be¬
stimmten Ausschnitt aus dem rumänischen Geistesleben zu eröffnen. Einen kleinen
Umweg zur Erreichung dieses Punktes wird der Leser gütig mit in Kauf nehmen.
Der Anschluß Rumäniens an die westeuropäische Kultur und dementsprechend
seine Literatur im eigentlichen Sinne sind sehr jung: man kann ihre Anfänge
kaum früher ansetzen als auf das zweite Viertel des vergangenen Jahrhunderts.
Daß unter diesen Umständen überragende Leistungen, welche Kraft genug besäßen,
sich über das einheimische Sprachgebiet hinaus durchzusetzen, nicht aufzuweisen
sind, kann niemanden verwundern, was indes nicht ausschließt, daß die Zeit über
ehrlich und allem Anschein nach auch mit gutem Erfolg gearbeitet worden ist, wie
das auf dem Gebiet der bildenden Kunst oder doch wenigstens der Malerei ganz
zweifellos der Fall ist. Soviel getraue ich mich aber jedenfalls zu behaupten, daß
die eigentümliche, aus römischer Provinzialmundart erwachsene, aber stark mit
fremden, namentlich slawischen Bestandteilen durchsetzte Sprache sich, von der
richtigen Hand gemeistert, als ein über Erwarten leistungsfähiges Instrument
erweist und noch gute Entwicklungsmöglichkeiten in sich birgt. Darüber, wie weit
das rumänische Theater es gebracht hat, darf ich mich wieder nur mit vorsichtiger
Zurückhaltung äußern. Zunächst habe ich zwar wahrheitsgemäß zu bekunden,
daß die Gesellschaft des Nationaltheaters im Sommer 1917, vom Juni ab im
Freien, vorwiegend fragwürdiges, teilweise selbst fragwürdigstes Zeug aus aller
Herren Länder gespielt hat, indes ist schwer zu entscheiden, welcher Anteil an
diesen erfolgreichen Angriffen auf Lachmuskeln und Tränendrüsen auf Rechnung
erschwerter Daseinsbedingungen und notwendiger Rücksicht auf ein ganz vorwiegend
kleinbürgerliches Sommerpublikum zu setzen ist, und zu denken gibt es nur, daß
gerade von den beiden einheimischen Stücken, die ich zu sehen Gelegenheit hatte,
das eine recht tüchtig, das andere sogar vortrefflich war. Der „Manche" von
Ronetti Roman, ein schon etwas älteres Werk, bewegt sich äußerlich etwa auf
den Bahnen der Angler und Sardon, saßt aber sein Problem, das Judentum alter
und neuer Generation, mit bemerkenswerter Sicherheit an den Hörnern, wahrend
die ganz neue Tragikomödie „Die rote Leidenschaft" von Mihail Sorbul (1916),
wenn auch nicht ohne merkliche Einwirkung der Nordländer und Russen ent¬
standen, mit erstaunlich fester Hand in das Bukarester Studentenleben der Gegen¬
wart greift und durch die sichere Gestaltung dieser bezeichnenden Sonderwelt eme
sehr beträchtliche Eigenfärbung gewinnt. Was die darstellerischen Leistungen an¬
betrifft, so darf man den Rumänen unbedenklich eine starke Begabung für das
Theater nachrühmen, nicht zuletzt auch, soweit Humor und Laune in Betracht
kommen, namentlich den vortrefflichen Tonecnu habe ich in dieser Richtung Proben
eines voll gereiften Talentes ablegen sehen. Vor allem steht aber vor meiner
Erinnerung die Verkörperung der ernsten Hauptrolle in Sorbuls eben genanntem
Stück durch Frau Marioara Voicurescu, eine ungewöhnlich stark begabte voll¬
wertige Künstlerin, bei der ein großes Feingefühl für seelische Vorgänge mit einer
scharfen Beobachtungsgabe aus das glücklichste Hand in Hand geht Leider hat
sich die Darstellerin den weitaus größeren Teil des Sommers der Öffentlichkeit
entzogen, um erst in den Wintermonaten in eigenen Kammerspielen wieder hervor-
Zutreten. Wenn ich noch hinzufüge, daß mich ihr Spiel gelegentlich merkwürdig
an die Duse erinnert hat. so will ich damit weniger em Werturteil abgeben als
die Richtung ihrer Begabung bezeichnen. Es liegt ihr - was auf rumänischen
Boden durchaus nicht so häufig vorkommt - etwas- unverkennbar Romanisches
im Blute.
Einmal ausgesprochen, mag dieses Wort dazu dienen, gleich einige weitere
Betrachtungen daran anzuknüpfen. Wer Rumänisch nach einem einheimischen Lehr
duch betreibt, sieht sich alsbald zur Übersetzung des schönen Satzes aufgefordert:
„Die Italiener und die Rumänen sind Brüder." Gesetzt, diese Behauptung wäre
ebenso wahr wie sie volltönend ist. so ließe sich dem Rumänen wohl kaum der
Vorwurf ersparen, daß er von dieser nahen Verwandtschaft auffallend wenig Ge¬
brauch mache, denn außer ein paar vortrefflichen italienischen Gemälden in der
überraschend wertvollen Sammlung des mit der gesamten neueren Kunst Europas
vollkommen vertrauten Herrn Anastasius Sinn, der zum Unglück aber bulgarischer
Abkunft ist, habe ich in ganz Bukarest nichts anderes Italienisches gefunden als
wirklich recht gute und taugliche Regenschirme. Wenn ich nicht irre, taucht zwar
in friedlichen Tagen von Zeit zu Zeit die ja überhaupt recht wanderlustige italienische
Oper in der rumänischen Residenz auf und wird dann wohl kaum verfehlen, die
üblichen lauten Triumphe zu feiern, im allgemeinen ist aber das geistige Leben
Italiens dem Rumänen ziemlich Hekuba. Die schwere alte Kultur des sprach¬
verwandten Landes liegt dem jungen Volke nicht, und der Italiener der Gegenwart
ist ihm längst nicht unterhaltsam genug, wozu noch kommt, daß die gegebene
Schnellzugverbindung nach Paris nicht über Mailand, sondern über Wien und
München führt. Denn Paris bleibt nun einmal für den bessergestellten Durch¬
schnittsrumänen das Höchste, wobei die bestechende Außenseite und leichte Ein-
gänglichkeit der französischen Kultur, der gerade bei den rückständigen kleinen
Nationen noch unerschütterte Glaube an ihre unbedingte Überlegenheit, die Fabel
von der „lateinischen Rasse" und die verhältnismäßig leichte Erlernbarkeit der
Sprache mit- und durcheinander wirken. Infolgedessen gibt es in Bukarest keine
halbwegs nennenswerte Buchhandlung, die nicht auch in ausgiebigen Maße fran¬
zösische Bucher führte, ja, eine recht leistungsfähige erhält sich sogar ausschließlich
von deren Vertrieb, und die Büchereien in Privathäusern nehmen sich entsprechend
aus; namentlich ist die Grande Encyclopedie das Konversationslexikon des
Rumänen. Ähnlich steht es zum großen Teil mit dem architektonischen Bild und
insonderheit mit den öffentlichen Baulichkeiten der Stadt, die entweder geradezu
französische Arbeit sind oder doch französischen Mustern folgen, wennschon sich
daneben, vorwiegend in Privathand, verheißungsvolle Ansätze zu einem einheimischen
Stil regen. Alles das, obwohl die französische Kolonie am Ort zahlenmäßig gegen
die sehr beträchtliche deutsche niemals hat aufkommen können, und man vom
Gasbadeofen bis zur Zentralheizung, von der elektrischen Birne bis zum Klavier
kaum einen kultivierteren Gebrauchsgegenstand zu Gesicht bekommt, der nicht
deutschen Ursprungs wäre. Nur Puder, Schminke und Modeartikel bilden eine
bezeichnende Ausnahme; wer einen Strohhut oder ein paar Kragen benötigt, wird
nicht leicht an französischer Ware vorbeikommen.
Ob man es freilich mit dem Anschluß an das französische Geistesleben
ebenso eilig hat wie mit dem an die französische Kleidung, steht dahin. Es gibt
doch zu denken, daß im Sommer 1917 in sämtlichen Buchhändler-Schaufenstern
Bukarests eine stattliche Übersetzung von Zolas „Germinal" als aufsehenerregende
Neuheit auflag, und über die Gründlichkeit der französischen Studien habe ich
nicht nur als skeptischer Betrachter der oder jener architektonischen Leistung, sondern
vor allem als Zensor französisch geschriebener Briefe rumänischen Ursprungs mir
sehr meine eigenen Gedanken zu machen gelernt. Um mich höflich auszudrücken:
Untadliges ist selten dabei; und schließlich dringt Französisch auch gesellschaftlich
nicht so tief ein wie man vielleicht annehmen möchte: im praktischen Leben kommt
man mit Deutsch ohne Zweifel wesentlich weiter.
Einem im besten Sinne praktischen, zugleich aber auch geistig wertvollen
deutschen Vorbilde folgt denn auch das Unternehmen, auf welches ich es besonders
abgesehen habe und nun endlich zu sprechen kommen möchte: die „Bibliothek für
alle" des Bukarester Verlags Alcalay entspricht in allem und jedem unserer
Reclamschen Universalbibliothek. Schon das Format, der ziegelrote Umschlag und
der bescheidene Preis — 30 Bari für die Nummer — weisen deutlich darauf hin.
Allerdings, bei einer Sprachgemeinschaft von 10 Millionen Köpfen, muß mit einem
weit geringeren Abnehmerkreis gerechnet werden als bei einer solchen, die, alles
in allem genommen, nicht weit hinter dem Zehnfachen zurückbleibt, und so steht
denn die rumänische volkstümliche Bücherei an Ausstattung und leider auch an
Sauberkeit und Gewissenhaftigkeit des Druckes hinter ihrer deutschen Schwester
nicht unbeträchtlich zurück, und da Reclam bereits ein halbes Jahrhundert hinter
sich hat, Alcalay dagegen, wie sich aus einer vereinzelten Angabe der Druckzeit
auf einem älteren Bändchen errechnen läßt, schwerlich viel mehr als ein Dutzend
Jahre, so nimmt sich die Bukarester Sammlung mit ihren 1000 Nummern gegen¬
über der Leipziger mit 6000 einigermaßen bescheiden aus. Der Rahmen ist aber
um nichts enger gespannt: Dichtungen, dramatische Werke. Romane und Novellen,
Märchen und Jugendschriften, antike Klassiker. Philosophie (gerade diese freilich
bei Alcalay etwas spärlich) und Erziehungslehre. Geschichtliches. Biographisches.
Reisebeschreibungen, Schriften zur Kunst und Literatur, Naturwissenschaftliches,
selbst Wörterbücher sind hier so gut vertreten wie dort. Emheumsches und aus
den verschiedensten fremden Sprachen Übersetztes steht beidemal bunt nebeneinander,
und die beträchtliche Überzahl der Nummern entfällt in Rumänien wie in Deutsch-
land auf die schöne Literatur. Auf diese möchte ich mich auch un folgenden be-
schränken, teils weil sie eben ein so ausgiebiges, teils weil sie besonders lehrreiches
Material für allerlei Betrachtungen an die Hand gibt. Auf einen Hauptbestand,
teil, die rumänische Literatur, muß ich dabei freilich aus einem zwiefachen Grunde
verzichten: einmal, weil ich dem Leser nicht mit Titeln und Namen aufwarten
möchte, mit denen er wahrscheinlich nichts Rechtes anzufangen weiß und zu deren
Erläuterung auch meine eigenen Kenntnisse nicht entfernt ausreichen wurden,
ferner aber auch, weil die Aufnahme neuerer Schriftsteller in die Bibliothek ähnlich
wie bei uns urheberrechtlichen Beschränkungen untersteht, em Bild von einiger
Vollständigkeit also so wie so nicht zu erzielen wäre. Für das ausländische
Schrifttum dagegen fällt nicht nur jenes erste Bedenken fort, da es ganz vorwiegend
mit bekannteren Werken vertreten ist. sondern auch das zweite: durch keine Berner
Übereinkunft beschränkt, kann der Rumäne Altes und Neues so viel übersetzen,
wie er Lust hat.
Die Bestimmung dessen, was unter schöner Literatur zu verstehen sei. war
verhältnismäßig leicht zu treffen. Es ist alles herangezogen worden, was steh
als Gedicht oder Dichtung. Drama. Novelle oder Roman erwies, auch wo das
Verzeichnis der Bücherei die betreffenden Werke unter anderen Stichworten auf¬
führt. Nur an der Grenze nach der Märchen- und Jugendliteratur zu waren
einige Entscheidungen nach subjektivem Ermessen zu treffen. So habe ich eine
Auswahl aus Grimms Märchen, obwohl sie, wie schon die Beigabe von Bildern
zeigt, ausschließlich für kleine Leser bestimmt ist, schon deshalb unbedenklich mit
einbezogen, weil, was für den Franzosen Perrault recht war. für die deutschen
Brüder unbedingt als billig gelten mutzte. Dagegen habe ich mich nicht ent¬
schließen können, aus der unzweifelhaft gebotenen Ausschaltung eines Doppel-
bändchens Franz Hoffmannscher Jugenderzählungen die Folgerung zu ziehen, daß
nun auch Edmondo de Amicis' „Cuore" zu streichen sei. denn so schrecklich
mir persönlich daS Buch ist, kann es doch immerhin gewisse literarische An¬
sprüche stellen.
Ich möchte nun zunächst mit einer Liste aufwarten, die ein zahlenmäßiges
Bild davon gibt, in welcher Stärke die verschiedenen fremden Literaturen (mit
Ausnahme der antiken, auf die wir für unsere Zwecke verzichten können), in der
„Bibliothek für alle" vertreten sind. Es ergibt sich dabei folgendes Bild, wozu
nur zu bemerken ist, daß kleinere, in einem Bändchen vereinte Werke nur als
eines gerechnet sind:
Von vereinzelten Vertretern anderer Nationen soll weiter unten gelegentlich
die Rede sein.
Es ergibt sich also, daß die Franzosen der Verfasserzahl nach nicht nur
an erster Stelle stehen, sondern es sogar mit den vier anderen großen Nationen
insgesamt aufnehmen können; noch auffälliger ist aber, daß sie hinsichtlich der
Nummern selbst dann noch ein kleines Übergewicht behaupten, wenn man die
Skandinavier mit in die andere Wagschale legt. Lediglich in der Anzahl der
Werke stehen sie hinter den vereinten vier Hauptmitbewerbern etwas zurück.
Gewiß spielen bei der mehr oder minder wahlloser Zusammenstellung einer
Sammlung, wie die „Bibliothek für alle" eine ist, namentlich im einzelnen allerlei
Zufälligkeiten eine Rolle. Das soeben gebotene Gesamtbild wirkt aber trotzdem
so unbedingt überzeugend, daß sich von seinen Ergebnissen nicht viel wird ab¬
dingen lassen, wie sicher jeder bestätigen wird, der von rumänischen Verhältnissen
eine Vorstellung hat. Die Führerstellung der Franzosen kann kaum überraschen,
und auch damit, daß ihnen zunächst, wenn auch in beträchtlichem Abstand, die
Deutschen folgen, hat es seine Nichtigkeit. Freilich würde die Zahl ihrer Werke
um ein volles Dutzend, die der entsprechenden Nummern um 14 steigen, wenn
wir unter den Verfassern als Ur. 21 Carmen Sylva einstellen wollten. Ich habe
davon jedoch mit gutem Bedacht Abstand genommen, nicht so sehr, weil die Ru¬
mänen ihre Königin mit großer Naivität für sich in Anspruch nehmen, als weil
die auf Zufallsgründen beruhende starre Vertretung der fürstlichen Dichterin in
das Bild einen ganz falschen Zug bringen würde. Alsdann folgen, ganz ein¬
leuchtend, die Russen, die zwar hinter den Engländern und Amerikanern um zwei
Köpfe zurückbleiben, in den beiden übrigen Spalten aber doppelt so hohe Zahlen
aufweisen als diese und somit zweifellos den Vortritt beanspruchen können, und
daß die Italiener erst hinter den Angelsachsen aufrücken, und zwar mit Zahlen,
die für recht bescheiden gelten müssen und in zlvei anderen Fällen selbst von den
Skandinaviern überboten werden, entspricht genau unseren oben gegebenen Aus¬
führungen. Dagegen kann die Vertretung der Nordländer für verhältnismäßig
gar nicht so übel gelten. Sie beweist zudem, daß man doch auch am Strande
der Dambovitza die letzten Jahrzehnte nicht ganz verschlafen hat.
Damit die von uns zusammengestellten Zahlen einiges Leben gewinnen,
müssen wir uns nunmehr die Frage vorlegen, welche Schriftsteller und mit welchen
Werken sie vertreten sind, wobei wir bei den Franzosen in Rücksicht auf ihre
stattliche Anzahl getrost auf Vollständigkeit verzichten und uns auf eine starke
Auswahl des Bezeichnender beschränken dürfen. An der Spitze marschieren die
beiden großen Tragiker des Siöcle de Louis Quatorze, Corneille mit dem Cid
und dem Horace, Racine mit der Andromache und der Athalie, und für die Über-
Seezungen des Horace und der Athalie zeichnet verantwortlich ein geschätzter lebender
Dramatiker. Haralamb Lecca. Man ist versucht, daraus zu schließen, der fran¬
zösische Klassizismus wirke auf die Rumänen lebendiger als auf uns, vielleicht
weil bei ihnen die Vorstellung mit im Spiel ist. ein Verhältnis zu dieser Art
Kunst komme Römerenkeln zu. Breiteren Raum beansprucht allerdings Molidre
mit sechs Werken, worunter der Tartüffe. der Geizige und der Eingebildete Kranke;
der Misanthrop fehlt dagegen, seine Herbheit mag dem rumänischen Geiste weniger
liegen, während der Sinn für handfestere Komik recht entwickelt ist und dement¬
sprechend von Molieres Nachfolgern Negnard mit seinem ausgelassenen Legataire
universel aufwarten darf. Mit drei recht bezeichnenden Beispielen ist der Roman
des achtzehnten Jahrhunderts vortreten: Lesages Hinkenden Teufel Prevosts
Manon Lescaut und Se. Pierres Paul und Virginie; man wird nicht abstreiten
können, daß sich daraus schon etwas lernen läßt: mit Verstand gelesen, spiegeln
die drei Werke nicht weniger wider als die Entwicklung dreier ganzer Gene
rationem. Daß Rousseau gänzlich fehlt, wird man leichter begreifen, als daß sem
Gegenfüßler Voltaire sich mit dem einen Zadig begnügen muß. wogegen Beau¬
marchais' Barbier von Sevilla ganz am Platze erscheint.
Ziemlich vielseitig gibt sich die neuere Zeit. Von Chateaubriand findet man
die drei bekannten Meisternovellen Atala, Rene und Der letzte Abencerrage, von
Constant den spröderen Adolphe, von Lamartine die Graziella. Daß Victor Hugo
einen Übersetzer für seine Feuilles d'automne gefunden hat darf a s besondere
Auszeichnung gelten, da im übrigen fremder Lyrik gegenüber fast vollständige Ent-
haltsamkeit geübt wird; der Dramatiker Hugo kommt mit Hernan und Le Ren
s'amuse wenigstens einigermaßen zu seinem Recht, dagegen fällt es auf daß außer
den Letzten Tagen eines Verurteilten namhafte Prosawerke des Dichters fehlen,
insonderheit vermißt man Notre-Dame de Paris, was sich allerdings daraus er-
klären mag. daß gegen umfänglichere Bände überhaupt eine merkliche Abneigung
besteht, sei es nun. weil den Übersetzern oder auch ihrem Publikum die Geduld
mangelt, sei es. weil der buchhändlerische Absatz sich schwieriger gestaltet. In
dieser Hinsicht ist Musset. soweit er nicht als Lyriker völlig ausscheidet, em be-
quemerer Autor; man trifft ihn daher auch mit vier Novellen, worunter seine
Meisterstücke Emmeline und Frederic et Bernerette, und zwei kleineren drama¬
tischen Arbeiten an. Ihm mag gleich Theodore de Baronie angereiht sein, der
mit einer einzelnen Novelle allerdings wohl kaum sonderlich bezeichnend ver¬
treten ist.
Was den neueren Roman angeht, so geben von Balzacs Können die Femme
de trente ans, Eugenie Grandet und der Pere Goriot, an dem wieder Lecca seine
Kunst versucht hat, einen wenn nicht ausreichenden, so doch guten Begriff. Da¬
gegen langen für Flaubert drei Novellen, deren Titel aus dem Katalog leider nicht
ersichtlich sind, sicher nicht, und ebenso kommt Zola, von dem außer ein paar
kleineren Sachen nur die Therese Raquin vorhanden ist, auffällig zu kurz; die
vorhin erwähnte anderweitige Übersetzung des Germinal scheint also doch nicht
ganz überflüssig zu sein. Daudet, der leicht eingängliche, darf dafür vier Haupt¬
werke vorweisen: zu Le Petit Chose gesellen sich der unvermeidliche Tartarin,
Fromont jeune et Rister ains und der Jack, und ähnliches gilt von Maupassant,
von dem die Romane Une vie, Bel-Ami, Fort comme la mort und ein paar
BSndchen Novellen Aufnahme gefunden haben, unter denen die Boule de suif
nicht fehlt. Man darf wohl annehmen, daß diese Sachen bei den Rumänen gut
gehen, aber auch Anatole France mag mit seinem humoristischen Gelehrtenroman
Le crime de Silvestre Bonnard und ein paar kleineren Sachen dankbare Leser
finden. Etwas bescheiden nimmt sich das neuere Drama aus. Dumas bleibt auf
die einzige Denise beschränkt (die Kameliendame erscheint nur unter den Romanen),
Angler, in Verbindung mit Sandeau, aus den Gendre de Mr. Poirier; von
Heutigen mag ihnen der fragwürdige Henri Bernstein mit La clef d'or zugesellt
sein. Außerdem wären noch zu nennen Fran?vis Coppöe mit dem Luthier de
Crömone, Hervieu mit La course du Flambeau, sowie von Zeitgenossen Rostand
mit La princesse lointaine und Maeterlinck mit Soeur B6atrice. — Am Ende der
Liste angelangt, wird man wohl anerkennen müssen, daß sie, trotz einzelnen Fehl¬
griffen und manchen Lücken, im ganzen doch einen gediegenen Eindruck macht; es
ist wahrlich nicht das Schlechteste, was die Rumänen hier von den Franzosen
übernommen haben.
Den Eindruck, daß man es mit dem Anschluß an das Neueste besonders
eilig habe, wird man allerdings auch diesmal nicht gewinnen.
Die deutsche Literatur setzt begreiflicherweise beträchtlich später ein als die
französische. Sieht man ab von Raspe-Bürgers Münchhausen, der, obwohl erst
1786 ans Licht getreten, in gewissem Sinne für vorklassisch gelten kann, so er¬
öffnet Goethe die Reihe. Faust und Werther genießen überall im Ausland so
hohen Ruhm, daß ihr Auftreten auch in unserer Bibliothek sich beinahe von selbst
versteht. Daß auch Hermann und Dorothea, in Prosa übersetzt, hinten in der
Walachei Leser sucht und anscheinend auch findet, erwartet man schon weniger;
daß aber in den beiden einzigen weiteren Goethebändchen Werke enthalten sind,
die dem Fremden so wenig naheliegen wie die Laune des Verliebten, und die
Achilleis (diese im Bunde mit dem »poena" Prometheus, unter dem doch wohl
das dramatische Bruchstück zu verstehen ist), mutet wie ein Rätsel an. Vielleicht
mag dem Jugendwerk seine Verwandtschaft mit französischer Kunst zugute ge-
kommen sein; die Berücksichtigung der Achilleis wüßte ich mir aber nur zu er¬
klären, wenn ihre Übersetzung etwa von der gleichen Hand herrühren sollte, die
sich an Hermann und Dorothea versucht hat und es nun vielleicht mit einer
zweiten epischen Hexameterdichtung hat wagen wollen. Klarer liegen die Dinge
bei Schiller. Die drei Jugendwerke, Räuber, Fiesco und Kabale und Liebe, haben
auch für naivere Leser etwas Zugkräftiges, für den Don Carlos spricht außer der
starken Leidenschaftlichkeit die freiheitliche Gedankenwelt, die gerade dort, wo die
politischen Zustände noch unfertig sind, starken Reiz ausüben mag, und auch bei
der Aufnahme des Tell in die Sammlung mag neben der großen Berühmtheit
des Werkes das Motiv angesprochen haben. Die übrigen Dramen vermißt man;
Wallenstein vermutlich, weil er zu ausgesprochen deutsch, Maria Stuart, weil sie
zu spröde ist, und daß die Jungfrau von Orleans und die Braut von Messina
als befremdlich empfunden werden, kann man sich erst recht vorstellen. Die drei
großen Nachklassiker findet man mit vereinzelten, aber gewichtigen Arbeiten ver¬
treten: Kleist mit der Verlobung in Se. Domingo, welcher im gleichen Bändchen
noch Der Findling und Das Bettelweib von Locarno beigegeben sind, Grillparzer
mit Des Meeres und der Liebe Wellen (sein Gefolgsmann Halm erscheint daneben
mit dem bescheidenen Camoens) und Hebbel mit Judith und Gyges. Das zeugt
zum mindesten von ehrlichem Bemühen, und von der Kleist-Übersetzung von
Sanielevici, wenigstens kann ich aus Erfahrung versichern, daß sie einen recht ge°
wissenhaften Eindruck macht, ohne deshalb ins Angstliche zu verfallen. Mit vollen
vier Werken, Rienzi. Fliegender Holländer. Tannhäuser und Lohengrin ruckt
Wagner auf. Die Übersetzungen von Se. O. Josif. die ich an anderer Stelle etwas
eingehender behandelt habe, schließen sich gewissenhaft den Versuchen ihrer Vor.
lagen an und bestehen auch sonst, ungeachtet einer Anzahl von Fehlern und
Flüchtigkeiten, ganz leidlich; von Einsicht zeugt es jedenfalls auch, daß der Über¬
setzer die ungleich schwierigeren Spätwerke Wagners sich und semen lesenden Lands-
leuten nicht zugemutet hat. Die Erzählungskunst des neunzehnten Jahrhunderts
wird in spärlichen aber vorwiegend guten Proben vorgeführt. Channssos Peter
Schlemihl erfreut sich seit alters eines so bedeutenden Rufes in der Fremde, daß
seine Berücksichtigung nicht weiter verwundert. E. T. A. Hoffmann, der bei den
Franzosen so hoch in Ehren steht, konnte gleichfalls die Fahrt nach Rumänien
unbedenklich wagen, ohne daß ich leider genauer angeben konnte, was das Doppel-
bändchen mit seinen phantastischen Erzählungen enthält; weniger ist man darauf
gefaßt. Hauffs Bettlerin vom Pont des Arts anzutreffen, die trotz ihres Pariser
Schauplatzes durchaus nicht französisch anmutet. Weiterhin stoßt man auf Gott¬
fried Kellers Namen, allerdings um die befremdliche Erfahrung zu machen, daß
es sich nicht um irgendwelche Novellen von ihm. sondern um die Sieben Legenden
handelt. Heyse könnte bezeichnender und stärker vertreten sein als in,t seinem
Marienkind, dagegen kann man sich die Aufnahme von Wildenbruchs Kindertränen
gefallen lassen; mit einer zweiten Novelle von ihm. Neid, verbinde ich keine Vor¬
stellung. Daß in der Heimat schon halb Vergessenes in der Fremde noch für
recht berühmt gelten kann, bezeugt die Übersetzung von Pult.dz Was sich der Wald
erzählt; Anziehungskraft deS Ostens auf den Osten liegt dagegen wohl vor. wein,
der selige Sander Masons mit einer Novelle Hadaska auf dem Plan erscheint.
Das neuere Drama weist nur zwei Vertreter auf. Wenn der eine davon Sude»
manu heißt, so fällt die Verantwortung dafür weniger auf die Rumänen als an?
die Deutschen; zudem könnte er ungünstiger vertreten sein, als mit dem Johannes
und Stein unter Steinen, und seinen einzigen Mitbewerber überragt er jedenfalls
um ein Beträchtliches, denn es ist dies kein anderer als Wilhelm Meyer-Förster.
Aber die Rumänen, die für Empfindsames nun einmal nicht unempfindlich sind,
haben an Alt-Heidelberg schon lange vor dem Krieg einen Narren gefressen. DaS
Stück hat sich bereits vor Jahren auf dem Bukarester Nationaliheater einen Platz
erobert, und ich selber habe noch im vergangenen Sommer eine der zahlreichen
Aufführungen im Blanduzic Garten gesehen, die, unter richtigem Gesichtswinkel
betrachtet, für recht tüchtig gelten konnte und sogar hinsichtlich der Bühnenaus¬
stattung, das Heidelberger Schloß keineswegs ausgenommen, allen billigen An¬
sprüchen genügte. Wie stark das Stück eingeschlagen hat, geht deutlich daraus
hervor, daß der Verlag Alcalay sich hat gestatten können, das Buch mit Bildern
einzelner Szenen und Typen auszustatten, die indes leider nicht der Bukarester
Aufführung entnommen sind. Höchst ergötzlich ist es, daß der Übersetzer in seiner
Vorrede bekennt, neben dem deutschen Text auch die französische Übersetzung heran¬
gezogen zu haben. Ob wohl wirklich nur, weil diese, wie er hinzufügt, genauere
Bühnenanweisungen gibt? Allzuhoch braucht man übrigens den Fall Alt-Heidel¬
berg nicht aufzunehmen. Er ändert jedenfalls nichts daran, daß man die Ver¬
tretung unseres Schrifttums in der kleinen rumänischen Bibliothek, so erwünscht
auch Ergänzungen für ältere und neuere Zeit sein müssen, als würdig bezeichnen
kann. Es fehlt wahrlich nicht an Werken, die geeignet sind, unsere Nation bei
der fremden Leserschaft in Respekt zu setzen.
Auch die Russen haben sich zum wenigsten, was die Namen ihrer Vertreter
anbetrifft, nicht zu beklagen, merkwürdig ist nur, daß man wiederholt gerade die
Werke vermißt, auf deren Aufnahme man am sichersten gesaßt ist. Gleich Puschkin
würde, wenn nun einmal auf seine Versdichtungen verzichtet werden mußte, mit
der Hetmanstochter immer noch bezeichnender vertreten sein als mit dem Du-
browski, von Gogol findet man zwar den vollwichtigen Revisor und vier Bänd¬
chen Erzählungen, nicht aber die Toten Seelen; erst Lermontows Name begegnet
in Verbindung mit seiner Hauptleistung Ein Held unserer Zeit. Auch bei Tur
gerieft fallen Väter und Söhne und in ihrer Art nicht minder die Gedichte in
Prosa stark ins Gewicht, es fragt sich aber, ob man von den fünf Bändchen mit
kleineren Erzählungen das eine oder andere nicht gern gegen den Roman Rauch
oder auch gegen Die neue Generation eintauschen würde; eigentümlich auch, daß
man unter Dostojewski zwar Flegeljahre und Kinderseele findet, nicht aber Schuld
und Sühne, das doch den Namen des Verfassers mehr als alles andere durch
alle Welt getragen hat, und daß von Tolstoi zwar Kreutzersonate und Auferstehung,
sowie verschiedene kleinere Sachen ihren Übersetzer gefunden haben, nicht aber die
beiden großen Romane der Frühzeit, bei denen vielleicht wieder mit der Möglich¬
keit zu rechnen ist, daß ihr großer Umfang abschreckend gewirkt hat. Ziemlich zu¬
frieden können Korolenko und aus unseren Tagen Gorki sein, von deren Wesen
im einen Falle Makcrrs Traum und Sibirische Novellen, im andern Nachtasyl
und Konowalow jedenfalls einen Begriff geben. Schließlich sind noch zwei
Novellenbändchen von Tschechow, vier von Andrejew zu verzeichnen, der übrigens
auch eine dramatische Arbeit auszuweisen hat. Eine gewisse Fülle wird man dieser
Gesamtliste trotz der diesmal besonders befremdlichen Ausfälle nicht abstreiten
können. Man gewinnt daraus den Eindruck, als mache man sich in Rumänien
mit der russischen Literatur recht liebevoll und eindringlich zu schaffen; vielfach
ziemlich nah verwandte Kulturvoraussetzuugen mögen dabei mitsprechen. Andre
Slawen spielen so gut wie keine Rolle. Denn wenn Sienkiewicz mit vier Werken
aufwarten darf, an erster Stelle natürlich mit dem unumgänglichen Quo vadis, so
bedeutet das wohl nicht mehr als eine Huldigung an die Tagesmode, und in der
Übersetzung einer Versdichtung von Svatopluk Cens wird niemand etwas anderes
erblicken wollen als eine Merkwürdigkeit. Und um von Böhmen gleich nach
Ungarn überzuspringen, so bleibt die Einfuhr auch von dort sehr schwach. Sie
beschränkt sich auf Petöfis Dichtung Der Apostel und seinem Roman Der Strick
des Henkers, woran wohl weniger die Abneigung des Rumänen gegen den
Magyaren schuld sein wird als die geringe Ausdehnungskraft der magyarischen
Literatur.
Käme es lediglich aus berühmte Namen und Titel an. so würden die Eng¬
länder in unserer Bibliothek vortrefflich abschneiden; aber gerade die Begrenzung
der Übersetzungen auf das allgemein Bekannte und in aller Welt Anerkannte tut
auf das deutlichste kund, daß den Rumänen, wie auch gar nicht anders zu er¬
warten, jedes nähere Verhältnis zum englischen Geistesleben fehlt. Dafür spricht
es auch, daß ein wirklich schweres Gewicht nur der Dichter in die Wagschale legt,
der am stärksten über die Grenzen seiner Nationalität hinausgewachsen ist, Shake¬
speare. Romeo und Othello, Hamlet und König Lear wollen, wennschon sie nur
einen Bruchteil seines Schaffens darstellen und durch die Bezähmte Widerspenstige
recht unzureichend ergänzt werden, schon etwas besagen und ihr Vorhandensein
beweist, jedenfalls so oder so, daß es auch in Rumänien doch mit den Franzosen
allein nicht getan ist. Gehört doch zum wenigsten der Hamlet sogar der leben¬
digen Bühne an. wovon ich mich selbst habe überzeugen können, wenn auch mit
dem Ergebnis, daß die sonst so glücklich entwickelte Darstellungskunst zu diesem
Werke denn doch nicht so ganz leicht ein Verhältnis finden wollte. Für die
übrigen Engländer genügt eine bloße Aufzählung; es treten auf: Defoe mit dem
Robinson, Swift mit dem Gulliver. Goldsmity mit seinem Vicar, Scott mit der
Highland widow. Bulwer mit den Letzten Tagen von Pompeji, naturlich auch
Tennyson mit Enoch Arten. und endlich als einziger Vertreter der Gegenwart der
würdige Vater des Sherlock Holmes. Connan Doyle. der einzige zugleich, der es
auf drei Bändchen bringt. Von Amerikanern schließen sich an Washington Irving.
Poe, Twain und die Verfasserin des Little Lord Fauntleroy, Mrs. Burnett. Ich
weiß nicht, ob sie damit im ganzen nicht noch wesentlich besser bestehen, als die
Italiener, derentwegen es tatsächlich nicht einmal lohnt, eine neue Zeile anzu¬
fangen. Älteres mangelt ganz, unter den Neueren sind Capramca. Do.no, Pal-
merini. Simoni zum mindesten für mich Namen ohne Klang; de Amicis außer
mit dem Cuore nur mit einer Erzählung vertreten, kann auch nicht für
allzu vollwertig gelten, und ob d'Annunzio Kraft genug hat. mit einer nur
nicht bekannten-Tragödie Das Licht unter dem Scheffel und em paar Novellen
die Sache seiner Landsleute zu retten, sei dahingestellt. Man mochte gern fort
fahren: „Wieviel glänzender nehmen sich demgegenüber, wenn auch nur durch den
einen Cervantes vertreten, die Spanier aus" — aber, wenn man bemerkt, daß
der unter seinem Namen gehende rumänische Don QmMe gerade eine Nummer
der Bibliothek füllt, bleibt einem das Wort in der Kehle stecken und bange Furcht
überkommt einen, es möchte hier dem wackeren Meister Miguel übel mitgespielt
worden sein. Endlich noch der Norden. Über Dänemark ist kaum etwas zu ver
melden, denn Andersens Bilderbuch ohne Bilder und seine Märchen fallen unter
denselben Gesichtspunkt wie etwa der Vicar os Wakefield oder Enoch Arten —
es läßt sich ihrer Übersetzung nichts entnehmen, und Michaelis' Revolutions¬
hochzeit muß sich einen andern Lobredner suchen als mich. Dafür hält man bei
den Norwegern unwillkürlich inne. Eine einzelne Novelle von Björnson besagt
ja vielleicht nicht viel, die Ausnahme seines Schauspiels Ein Fallissement bedeutet
aber schon ein Stückchen Programm, und wir sind dadurch einigermaßen darauf
vorbereitet, seinen größeren Landsmann Ibsen mit vier seiner Dramen anzu¬
treffen: Stützen der Gesellschaft, Nora, Volksfeind und Wenn wir Toten erwachen.
Das ist im Verhältnis viel, und wiegt auch: seitdem ich Sorbuls Rote Leiden¬
schaft kenne, zweifle ich nicht daran, daß es in Rumänien Leute gibt, die diese
Stücke zu lesen und daraus zu lernen wissen. Ich halte das für verheißungsvoll,
noch mehr aber fast gibt mir eine andere Tatsache zu denken: als einzige Saum-
lung fremdländischer Lyrik neben Victor Hugos Herbstblättern verzeichnet der
Katalog der „Bibliothek für alle" Ibsens Gedichte. Mir will scheinen, auch darin
trete wieder deutlich zutage, daß die breite Vorherrschaft der Franzosen im
rumänischen Geistesleben sich keineswegs mit zwingender Notwendigkeit aus der
Veranlagung des Volkes ergibt, sondern daß sich schon heute neben den Göttern
von der Seine auch durchaus andersgeartete behaupten können, vielleicht sogar
mit der Aussicht, ihr Gebiet mit der Zeit nicht unwesentlich zu erweitern.
Darüber, ob diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werden wird, läßt sich in
unseren Tagen wohl noch weniger etwas voraussagen als sonst. Erwünscht wäre
eine breitere Einwirkung germanischen und vor allem deutschen Geisteslebens schon
deshalb, weil, wie gerade Rumäniens Verhältnis zu Frankreich lehrt, starke
kulturelle Einflüsse leicht entsprechende politische nach sich ziehen. Aber ob die
führenden Schichten Rumäniens sich nach dem Kriege grollend von Deutschland
abwenden oder ob sie, der Stimme wahrlich nicht der Schlechtesten aus dem
eigenen Volke folgend, ihre Ansicht einer gründlichen Durchsicht unterziehen und
die zum guten Teil sehr fruchtbaren früheren Beziehungen zu dem Lande ihrer
Besieger wieder anknüpfen werden, steht dahin. Wir können die Entscheidung
mit gelassener Zurückhaltung abwarten. Zur Liebe kann man niemand zwingen
und in Geschmackssachen entscheiden erst recht keine Machtsprüche. Rumänien selbst
aber würde bei einer Entscheidung im neuen Sinne schwerlich übel fahren.
nseren Unterhändlern den Rücken stärken, heißt nicht alles gut heißen,
was sie zustande bringen. Wenn die Dinge in Brest-Litowsk in
Bahnen gleiten, die uns verhängnisvoll scheinen, so müssen und
werden wir es sagen. Die Personen der Unterhändler interessieren
uns dabei nur soweit, als wir annehmen können, daß sie auch be¬
fähigt sind, die schwierige, ihnen von der Geschichte zugewiesene Aufgabe zu be¬
wältigen. Die richtigen Männer an den richtigen Platz zu stellen, ist Sache des
verantwortlichen Leiters der Reichspolitik. Daß die Aufgabe ganz besonders
schwierig ist, wird von keiner Seite bestritten. Unsere Diplomaten müssen heute
mit Verhältnissen arbeiten, für die sie nicht nur nichts können, sondern gegen die
sie zum Teil angekämpft hatten. Sie haben nicht nur das moralische Kapital der
militärischen Siege als Bundesgenossen, sondern auch die Fehler der Auslands¬
politik mancher Jahre als drückende Last hinter sich. Das wird ihnen gern zu¬
gute gehalten.
Nichtsdestoweniger brauchten sie sich nicht in die Sackgasse führen zu lassen,
in die sie geraten sind durch die Forderung der Russen, wir sollten die besetzten
Gebiete von unseren Truppen räumen und dort eine „freie" Abstimmung der
Nationalitäten herbeiführen, nach deren Ausfall dann die künftige Zugehörigkeit
dieser Gebiete bestimmt werden solle. Hineingeraten ist man durch me gro߬
artige Geste des neuen Friedensangebotes an die Westmächte. Man arbeitet
wieder genau nach demselben Rezept, wie man in Polen arbeitete: erst laßt man
sich die Atouts herauslocken und dann wundert man sich, daß der Gegner
immer noch neue Forderungen stellen kann. Im vorliegenden Falle wurden
die Russen zunächst ermächtigt, die Westmächte zur Teilnahme an den Friedens-
Verhandlungen aufzufordern. Erst nachdem sie diesen daS Ansehen der Russen
in der Welt gewaltig steigernden Entschluß gut geheißen, gehen die Herren
Diplomaten daran festzustellen, auf welcher Grundlage eigentlich verhandelt werden
soll! Natürlich bauen nun die Russen, die kaum noch etwas zu verlieren, aber
alles zu gewinnen haben, diese Basis so breit wie möglich aus Sie stellen er¬
neut eine Forderung, die ihnen General Hoffmann rund abschlagen konnte: die
Räumung der besetzten Gebiete und schlagen mit dieser Klappe gleich em halbes
Dutzend Fliegen auf einmal. Sie führen die Verhandlungen zurück auf den
sozialistischen Boden, indem sie die Selbstbestimmung der kleinen Nationen prak¬
tisch durchzuführen streben. Dadurch erwerben sie sich nicht nur starke Sympathien bei
den Bewohnern des Westgebiets und im neutralen Auslande, sie stärken die ^zu er¬
nationale in Deutschland' selbst, wie der Sonntagsleitartikel des Vorwärts dar ut
stärken auch ihre eigene Position in Nußland, wo eine Regierung die em Gebiet
von der Größe Preußens beim Friedensschluß ohne Schwertstreich preisgibt, doch
mit gefährlichen Gegenströmungen rechnen müßte. Schließlich songer sie unsere
Unterhändler, sich als Bundesgenossen die Polen kommen zu lassen! Die Polen
als ..sachverständige Berater"! Als wenn sich in einer dreyahngen Besetzung und
Verwaltung Polens nicht genug deutsche Sachverständige hatten heranbilden
können! Der Polen Mitwirkung hat übrigens auch ihre guten Seiten, - sie
sollen ein andermal beleuchtet werden.5
In welcher Richtung ein Sieg der Russen in der Frage der Gebietsräumung
wirken würde, mögen unsere Unterhändler aus folgenden Ausführungen des
Dichters Otto Fiale über Lenin erkennen; wir entnehmen sie der Zeitschrift des
Sozialisten Parvus „Die Glocke". Die große Mission des russischen Revolutionärs,
dessen Beauftragte schließlich die Herren Trotzku und Josse find, erscheint dem
deutschen Dichter wie folgt:
„Es ist ein Name zu vergeben. Der Krieg ist reif zum Frieden, der wie ein Kind
hinter dem Vorhang steht: man braucht es nur an der Hand zu nehmen und ihnen allen
zuzuführen — aber niemand findet sich. Warum? Wohl weil keiner unter denen, die sich
so haßerfüllt bekämpfen, die reine Hand hat. Ein Vermittler? Ach, aus diesem Stadium
ist der Streit lange herausgewachsen; ein Vermittler appelliert an letzte Gefühle, die geblieben
sind; ein Vermittler söhnt aus — da ist nichts auszusöhnen, da ist ein Halt zu sprechen
durch einen, der die Wahrheit erkennt und sie in die Welt ruft: Ihr habt Euch so tief ein¬
gelassen, daß Ihr die Ordnung, in der Ihr lebtet, zerstört habt; Ihr könnt Euer Leben
nicht mehr aufnehmen, wie es war; Ihr müßt neue Form finden, daS vergangene Ideal
töten und das junge an seine Stelle setzen.
Spricht so der Vermittler, werden alle ausbeuten, weil sie ihre Macht nicht aus
Händen geben wollen, die doch schlaff geworden sind. Unter ihnen muß einer so sprechen,
unter ihnen einer die Auflösung erzwingen, unter ihnen einer Dämon sein, der mitleidslos
ist, damit er Gutes wirken kann.
Ist es in England, Frankreich, Italien, in Deutschland, Österreich, Bulgarien?
Seht, hier sind alle unrein; denn sie wollen Beute heimbringen oder von ihrer Gesellschafts¬
ordnung retten, was noch zu retten ist. Sie wollen sich nicht trennen, so oder so, von Zielen
oder von Zuständen; sie sind alle der Politik verschrieben, keiner der Idee.
Soviel Kräfte des Materiellen sind entfesselt, daß keine Verschiebung innerhalb ihrer,
wie sie auch sei, den Frieden entbinden wird. Dieser Frieden wird nur aus dem reinen
Willen, dem Fanatismus, dem Befehl und Gebot geboren werden, aus einem Zustand des
Denkens, dem der Zusammenbruch der Gesellschaft gleichgültig ist; es sei denn etwa, daß er
sie sogar beschleunigt und voll Unerbittlichkeit vollends herbeiführt.
In dem Land der Kriegführenden selbst wird das geschehen, wo der Zusammenbruch
der materiellen Grundlagen so fortgeschritten ist, daß Platz wurde für die Idee; in dem
Land, wo Phasen des Sozialismus, die anderswo noch nicht gewagt werden, Wirklichkeit
geworden sind; im Land des Extremen, Radikalen und Äußersten — in Rußland.
Seht, wie unwahr Franzosen sind, die doch auch einmal eine Periode hatten, in der
die Prinzipielle Idee wütete und mitleidslos aus dein Weg räumte, was ihr nicht gehorchte.
Seht, wie beschränkt ober jetzt selbst Engländer sind, die nicht anders können, als den
Gedanken des Irrationalen verachten, und seht, wie Deutsche der Vorstellungskraft ermangeln.
Weil sie glauben, das da drüben im Osten gehe sie nur insofern an, als dadurch ihr Vater¬
land gewinne. Aber es ist in diesem Kriege schon viel geschehen, was niemand für möglich
gehalten hätte, und es wird der Augenblick kommen, wo der Name dessen, der den Frieden
erzwingt, ins Legendenhafte, Unvergeßliche, in die Phantasie und Herzen der Welt wächst.
Es ist ein Name zu vergeben. Neutrale, Stockholmer und der Papst griffen nach ihn.
Keines Kraft reichte so weit. Aber in Nußland ist einer, der zwei Dinge zu Ende dachte,
den Krieg und den urchristlichon Gedanken: er knüpft sie zusammen, indem er den einen
durch den andern erzwingt. Vielleicht ist er nicht Christ im kirchlichen Sinne, denn er ist
Sozialist; aber er ist es im Sinne des Slawen. Protestantismus versagte ganz, an der
Schwelle des fünften Jahrhunderts der Reformation: wie verherrlicht er den Krieg — so
sehr, daß man hinter seinem christlichen Gott den alten deutschen Wotan zu sehen glaubt.
Katholizismus besann sich tiefer; aber er ist vorsichtig und will Erworbenes nicht gefährden.
Dem Slawen allein ist der Schoß der Dinge geöffnet, aus dem die Idee sich ringt.
Noch weiß man wenig von den Zügen dieses Mannes, doch schon etwas von dem
Dunkel, das ihn überschattet. Gedrungen und breitnackig soll er sein — er paßt gut zu
dem zähen Trotz und der Entschlossenheit, die ihn leiten müssen. Die Phantasie der Völker
wartet wie ein lebender Muttermund auf den Namen, der sie befruchten wird. Ewiger
noch als der Name der Feldherren, die ihr Land retteten, wird der des Einen sein, der den
Frieden brachte, denn jener ist eine nationale Angelegenheit, dieser eine der Welt. Wie
beschränkt an Kraft, wie national gebunden sind die Männer aller kriegführenden Völker
außerhalb dieses einen Rußland, denn sie sind außerstande, sich über ihre eigene Not
zu erheben. Wie national, wie technisch, wie unmythisch sind sie alle, die Wohl den
Krieg organisieren, ihn aber nicht in sich überwinden können. Einer trat auf und wollte
Schiedsrichter aller sein; er ließ sich hineinziehen, Wilson; einer blieb außerhalb, aber nur,
weil er ohne weltliche Macht ist, er meinte es gut. Als dieser zu den Völkern sprach, der
Papst, träumte man den Großen nach, die seine Vorgänger waren: sie hatten den Bann
gebraucht, der bei allen Völkern verfehmte. Konnte dieser Späte nicht auch den äußersten
Machtspruch wagen, selbst auf die Gefahr, Märtyrer zu werden? Er gebrauchte ihn nicht,
die großen Zeiten der Kirche sind tot. Nur ein Sozialist kann ähnliches versuchen, und es
verschlägt wenig, daß die Sozialisten aller Länder versichern, daß sie seinen Extremismus
nicht anerkennen oder nicht für anwendbar in ihren Völkern halten; dieser Extremismus
hätte seine Aufgabe erfüllt, wenn aus ihm, dem Zentrum des äußersten Drucks, der Friede
käme. Auch Kerenski war Sozialist; er wollte bewahren und zusammenhalten, darum ver»
sagte er. Äußerstes kommt nur aus Äußersten. Das gibt nach so vielen Seiten zu denken."
Was hier verherrlicht wird, ist ein Phantom. Die russischen Sozialisten
haben noch nichts geleistet, was die aufbauende Kraft des Sozialismus nachwiese.
Sie haben nur mit liberal-anarchischen Mitteln zerstört: nichts aufgebaut. Jetzt
sollen unsere Diplomaten ihnen überhaupt erst die Daseinsberechtigung schaffen.
Mögen unsere Unterhändler niemals auch nicht auf Sekunden vergessen, dasz
wir Deutsche der Beglückung durch den anarchischen Sozialismus der Russen gar
nicht bedürfen und daß unser Volk ihn auch nicht will. Wir haben ja selbst eine
Macht hervorgebracht, moralisch und physisch stark genug, breit im Bewußtsein
des Volkes gelagert, um unsere Zukunft sicherzustellen. Diese Macht ist unser
eigenartiges deutsches Staats- und Pflichtbewußtsein mit seinen starken konservativ¬
demokratischen, aber beileibe nicht anarchischen Elementen. Fiale nennt uns „unrein"
mit den Engländern und Franzosen auf einer Stufe, weil wir „von unserer
Gesellschaftsordnung retten wollen, was noch zu retten ist". Eine Gesellschafts¬
ordnung, die diesen Krieg überdauern konnte, ist doch noch nicht so morsch, daß
sie „gerettet" zu werden braucht. Ein Volk, das so für seinen Staat und seine
Nationalität eingetreten ist mit seinen besten Kräften, wird auch bereit sein, hinter
seine Unterhändler zu treten, die seine Interessen kraftvoll und zielbewußt vertreten.
Die Frage, ob und wie das deutsche Volk durchhalten und die ganz außer¬
ordentlichen Aufgaben jeder Art nach dem Kriege meistern wird, ist nicht nur eine
Magen- und Wirtschaftsfrage, sondern weit mehr, als dem oberflächlichen Be¬
urteiler scheinen mag, eine Bildungs-, eine Erziehungsfrage im tiefsten Sinne.
Trotz der erstaunlichen Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes auf fast allen Ge-
bieten dürfen wir doch die Augen nicht davor verschließen, daß der Krieg Mi߬
stände und Gefahren in'den deutschen Lebensverhältnissen aufgedeckt hat. .die nur
durch eine zielbewußte, ganz umfassende Erziehungs- und Bildungsarbeit beseitigt
werden können. Ich erinnere nur an die unser ganzes Wirtschaftsleben — trotz
der Herrschaft des sozialen Gedankens — verunstaltende Selbstsucht weiter Volks¬
kreise, an den Wucher, an den politischen Zwiespalt, den Mangel an einheitlichem
Zielbewußtsein, kurz an den Mangel an staatsbürgerlicher Erkenntnis und an
staatsbürgerlichen Pflichtbewußtsein.
Bestrebungen, in dieser Hinsicht Besserung zu schaffen, waren schon vor dem
Kriege in so vielerlei Gestalt vorhanden, wie es nun einmal deutsche Eigenart,
deutscher Vorzug und deutsche Schwäche ist. Es kann hier nicht versucht werden,
auch nur mit wenigen Worten ein Bild zu geben von dieser vielgestaltigen, lebens-
und liebevollen Tätigkeit in Schule und Verein, in Stadt und Land. Es sei statt
dessen verwiesen auf einige Hauptwerke unserer Jugendpflege- und Volksliteratur:
auf das umfangreiche, als Ganzes wie im einzelnen vorzügliche „Handbuch der
Jugendpflege" (15 M.), auf Reims „Handbuch der Pädagogik" (beide im Verlag
Beyer u. Söhne in Langensalza), auf die Schriften der Zentralstelle für Volks¬
wohlfahrt (Carl Heymcmns Verlag, Berlin), auf die vortrefflichen „Jugendpflege"-
Bände des Verlages Eugen Diederichs und schließlich auf die sehr brauchbaren
Übersichten, die die Sammlungen der Verlage Göschen und Teubner enthalten
aus der Feder bekannter Fachmänner wie Siepers und Wiemann.
Die Fragen der Volksbildung und Jugendpflege nun, die gegenwärtig im
Vordergrunde der Erörterung stehen, knüpfen sich an die Gegensätze: Zwang oder
Freiheit? Staatliche Regelung oder freie Jugendvereine? Allgemeine Fortbildungs¬
schule oder Fachschule? Humanistische oder nationale Bildung? Verstandes- oder
Gemüts-und Willensbildung? Schul-oder Gemeinschaftserziehung? Massenschule
oder Begabtenschule? — Es sind die alten Antinomien der menschlichen Daseins¬
kräfte, zumal des deutschen Lebensbedürfnisses, die in diesen Schlagworten zum
Ausdruck kommen. In ihrer Verschmelzung, im Ausgleich wird das Heil der
Zukunft liegen. Wer uns einen Weg zeigt, der in das Haus führt, da diese
Gegensätze sich zur -Harmonie bequemen, der muß uns hochwillkomner sein, auch
wenn er das Pflaster für den Weg und das Gerüste für das Haus zum guten
Teil von Nachbarn jenseits der schwarzweißroten Pfähle geholt hat.
Darum, scheint mir, ist das Buch von Dr. Elfe Hildebrandt. Die
schwedische Volkshochschule, ihre politischen und sozialen Grundlagen (Berlin
1916, Carl Heymanns Verlag. Preis 4 M.), auch nach seiner Bedeutung für
unser Bildungswesen, höchst verdienstlich. Es ist, hervorgegangen aus einer
Doktordissertation, nicht eine Programmschrift, sondern eine ganz sachlich-wissen¬
schaftliche Darstellung (das Schlußkapitel ausgenommen). Man kann es ein Muster
deutscher Gründlichkeit nennen. Die Einleitungsabschnitte, die die wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Grundlagen der Volkshvchschularbeit in Schweden er¬
örtern, verarbeiten eine solche Fülle von historischem, rechtlichem und statistischen
Stoff, daß ihnen ein Wert für sich zukommt, wenn auch andererseits der Zu¬
sammenhang mit dem Gegenstand der Schrift oft nicht genug in Erscheinung tritt.
Wem zum ersten Male diese nordisch-germanische Schulform der Volks¬
hochschule in den Gesichtskreis kommt, wird gefesselt durch das Erlebnis einer
klaren, zielbewußter und höchst erfolgreichen Eigenwilligkeit. Sie zieht unwider¬
stehlich in ihren Bann und spornt an zur Nacheiferung. Wer einen unmittel¬
baren Blick in diese Welt mit eigenen Augen tun möchte, der vertiefe sich in das
ansprechende Bildchen in dem Langewiescheheft: „Dänische Maler", S. 74, das
einen Festtag der Schule darstellt. Die Volkshochschule stammt ja aus Dänemark,
das in Grundtvig und Kolb die Begründer seiner hohen Bauernkultur und seines
erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwungs (auf Grund der Genossenschaft und
Gemeinbürgschaft) verehrt. Da haben wir wirklich das Vorbild, das uns gerade
angesichts gewisser Kriegserfahrungen zur Nacheiferung veranlassen sollte —
trotz des Bewußtseins unserer abweichenden Lebensbedingungen und unserer
Eigenart.
Wir machen uns oft noch ein falsches Bild von der nordischen Volkshoch,
schule. Sie ist nur insofern etwas mit unseren akademischen „Volkshochschule
kursen" verwandt, als sie ebenfalls freiwillig Erwachsene „aus dem Volke", nicht
— mehr oder weniger zwangsweise — halberwachsene Schulentlassene versammelt
und als Unterrichtsform den Vortrag, in der Zielsetzung eine gehobene allgemeine
Bildung bevorzugt. Ihr Eigenwert liegt in der bewußt nationalen und staats¬
bürgerlichen Erziehung und in dem Gemeinschaftsleben des ländlichen Schulheims.
das mit warnender Kraft die ganze Schule durchdringt und zusammenhält. Es
sind private bzw. genossenschaftliche Unternehmungen, die —und das ist wiederum
sehr beachtenswert — staatliche Unterstützung und Förderung in steigendem Maße
genießen und fast durchweg Bauernhochschulen bzw. ländliche Hochschulen für
junge Leute beiderlei Geschlechts (mit auf Winter und Sommer verteilten oder
gemeinsamen Kursen) aus allen, aber doch vorwiegend ländlichen Kreisen.
Die Frage, ob und wie wir diese Schulform übernehmen sollen, ob sie
empfehlenswert, brauchbar oder gar notwendig für uns ist, kann hier auf knappen
Raum naturgemäß nicht erörtert werden. Sie hat erklärlicherweise schon manchen
deutschen Erzieher beschäftigt. Die vortreffliche Schrift von Dr. A. Hollmann
„Die dänische Volkshochschule" (Berlin 1909, Parey. 3 M.) legt dafür beredtes
Zeugnis ab; desgleichen — um nur einiges zu nennen — vor allem die ver¬
schiedenen Berichte von Professor Rein-Jena, besonders der ausgezeichnete, knappe
Überblick in seinem „Handbuch", ferner die Hefte von Fr. Lembke (Lipsins und
Tischer, Kiel bzw. Dürerbundflugschrift42), sowie die sehr empfehlenswerte Arbeit von
Romberg Mathem: Grundtvig und die dänischen Volkshochschulen (Beyer und
Söhne, Langensalza, Pädagog. Magazin Ur. 253; 1,60 M); und schließlich ein
Wegweiser, an dem niemand vorübergehen sollte: Gröndahl: staatsbürgerliche
Erziehung in Dänemark (Teubner 1911, 0,t>0 M.). (Außer dem Hollmcmnschen
Buche sind diese Schriften bei E. Hildebrandt nicht genannt.) Eine sehr erfreuliche
Ergänzung zu ihrer Hauptarbeit hat Dr. Elfe Hildebrandt in der Tatflugschrift 16
des Verlags Eugen Diederichs, Jena, „Arbeiterbildungsfragen im neuen Deutschland"
geliefert. Sie ist geeignet, den Eindruck des unvollkommenen und recht anfecht¬
baren Schlußkapitels ihres Buches und einer allzu harten gelegentlichen Kritik
unserer Jugendpflege völlig zu verdrängen und deutsche Arbeiterhochschulen wirklich
als wünschenswert und durchführbar, ja als eine Forderung des Tages erscheinen
zu lassen. Das Studium dieser Schrift ist ein Genuß und ein Gewinn.
Das läßt sich zwar nicht in gleichem Maße von einer „Denkschrift zur Be¬
gründung einer deutschen Volkshochschule" von Bruno Tcmzmann (Wcmderschriften-
Zentrale, Dresden-Hellerau 1917) behaupten. Sie wird aber manchem nicht
unwillkommen sein und darf nicht unerwähnt bleiben, weil sie die Aufgabe mit
viel ehrlichem und tatkräftigen Willen und mit manch gutem Rüstzeug angreift.
Die Form der Darstellung zeigt jedoch so erhebliche Mängel des Aufbaues und
des Stils, die der Verfasser nur zum Teil mit der raschen Entstehung entschuldigen
kann, daß das Lesen allzu oft durch Unklarheiten und Fehler gestört wird und
der Gesamteindruck ein unruhiger ist. Trotz dieser Mängel und trotz einer lauten
Germanomanie und anderer Einseitigkeiten sei das Buch zur Anregung und als
Hilfsmittel der Beachtung empfohlen.
Eine eingehende Erörterung der hier angedeuteten Fragen im Anschluß an
obige Schriften war bereits im Frühjahr dieses Jahres fast vollendet, als die
ganze Büchersammlung mitsamt der Handschrift auf einer Urlaubsfahrt verloren
ging, d. h. wohl einem — Fleischmarder zum Opfer fiel. Der Berichterstatter,
dem es jetzt an der nötigen Muße fehlt, die Vorstudien zu wiederholen, hofft
nach dem Kriege seinen ursprünglichen Auftrag ausführen zu können.
Eine Sammlung kleiner Aufsätze, die während des Krieges entstanden und
veröffentlicht worden sind, keine Abhandlungen, die belehren wollen und doch
gelegentlich stärker wirken als wohlgesetzte Reden über Moral — Glossen, die kleinsten
Auswirkungen der großen Ereignisse gelten, Charakteristisches im Momentvild
bannen und unter fröhlichem Lachen die Geißel schwingen. Für den Tag ge¬
schrieben, werden sie über ihn hinaus Wert behalten, denn sie tragen in die
Kriegsliteratur Züge, die das Bild der Zeit zu vervollständigen geeignet sind.
Unser Denken trennt sich schwer vom Kriege, daher wirken Bücher wie das vor¬
liegende so wohltuend, indem sie die völlige Richtungsänderung der Gedanken
nicht verlangen und uns doch aufatmen lassen unter den wärmenden Strahlen
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
Verantwortlich: der Herausgebor Georg Cleinow in Berlin-Lichterselde West. — Manuskriptsendungen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
An die «christleitmia der Grcnzbot-n in Berlin SW 11, Tcmpelliofcr Ufer!!!>».
Fernsprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 483, des Verlags und der Schriftleitung: Amt Littzow Will,
Verlag: Verlag der Grenzboten G> in. b. H. in Berlin SV II, Tempelhofer Ufer 35»
Druck: „Der Reichsbote" G, in, b, H, in Berlin SV 11. Dessauer Striche 8»/»7,
on zahlreichen Deutschen lebhaft begrüßt, von ganzen Parteigruppen
bekämpft, aber nur von wenigen Menschen in seinem vollen realen
Wert erfaßt, hat der geographisch-politische Begriff Mitteleuropa
Eingang in unsere Sprache gefunden, wie etwas ganz Selbstver¬
ständliches. Den meisten ist Mitteleuropa vertraut als Kartenbild,
an dessen rechter und linker Seite die deutschen und anderen Schützengräben entlang
laufen. Vielen hunderttausend Männern verbindet sich damit die Erinnerung an
eine fünf- bis sechstägige ununterbrochene Eisenbahnfahrt ohne Paß- und Zoll¬
revision, die sie von Flandern nach Bukarest oder von Mazedonien nach Kurland
geführt hat. Einige Auserwählte sind im Balkanzuge von Berlin nach Kon¬
stantinopel gereist und für die ist dann schon ebenso wie für die ehemalige Inter¬
nationale Schlafwagen-Betriebsgesellschaft das Wort zu der geschmacklosen Bildung
Mitropa zusammengeschmolzen. Aber was Mitteleuropa bedeutet und unter ge¬
wissen Voraussetzungen bedeuten könnte für jeden einzelnen von uns, für jeden
Volksstamm, der zwischen Nordsee und Bosporus um sein Dasein ringt, für die
einzelnen Gewerbe ebenso wie für die Staaten und nationalen Kulturen,
davon haben sich, wie schon gesagt, bisher nur ganz vereinzelte Persönlichkeiten
eine feste Vorstellung gemacht. Selbst die Schriftleitung des Fachblattes „Mittel¬
europa" kann unmöglich dem Kern der Sache nähergekommen sein, — andernfalls
würde sie nicht unter der schönen Flagge fast ausschließlich Besprechungen, Nach¬
richten und anderes über die polnischen Dinge bringen. Die Polenfrage ist doch
noch nur ein Teil des mitteleuropäischen Problems und zwar ein Teil zweiter,
wenn nicht dritter Ordnung, wenn auch gewisse Kreise sie geflissentlich in den
Vordergrund drängen.
Über Mitteleuropa geographisch braucht nicht gehandelt zu werden; der
geographische Begriff ist in unserem Zusammenhange unerheblich, da er sich mit den
Wirtschafts und staatspolitischen Begriffen durchaus nicht zu decken braucht. Unser
politisches Ziel unter der Flagge Mitteleuropa wäre z. V. schon lebensfähig gemacht,
wenn nur Deutschland und Österreich-Ungarn eine Art Zollverein miteinander ein¬
gingen, und es könnte sich unter Umständen als schwer gefährdet erweisen, wenn sich
außer den genannten Staaten noch Bulgarien, Rumänien, Polen, die Schweiz,
Belgien und Holland zusammenschlossen, also das gesamte geographische Mitteleuropa.
Mitteleuropa ist vor allen Dingen ein Wirtschafts-politischer Begriff, der
anknüpft an die Bestrebungen des alten Zollvereins und getragen wird von der
durch den Krieg geweckten Erkenntnis, daß weder das Deutsche Reich, noch die
Habsburgische Monarchie jedes für sich befähigt sind, im Wirtschaftskampf der
Völker des Erdballes auf die Dauer zu bestehen und ihre Selbständigkeit zu be¬
wahren. Um diesen realen Kern winden sich mehr oder weniger ideelle Wünsche
und Bestrebungen der Völker und Fürsten, der Nationalitäten und Gewerbe, der
Finanzmächte und Kulturvereine. Jedes strebt die Verbreiterung seiner Wirtschafts¬
grundlage an, um an den weltwirtschaftlichen Möglichkeiten um so mehr beteiligt zu
werden, sei es auf Kosten, sei es mit Hilfe des nächsten Nachbarn. Dementsprechend
gibt es auch gerade unter den an der Weltwirtschaft bereits stark Beteiligten Gegner
der Mitteleuropa-Politik, da genug wirtschaftliche und kulturelle Kreise durchaus
zutreffend erkennen, daß dies Mitteleuropa von ihnen viele Entsagung und manchen
Verzicht fordern wird, ohne ausreichende Gegenleistung. — Wir sind „Mittel¬
europäer" aus einem tiefempfundenen Freiheitsorange heraus. Die Erde, die
Gott den Menschen zur Besiedlung und Nutzung übergeben hat. sollte frei sein
von allen künstlichen Schranken, die wir aufzurichten noch gezwungen sind, um
die Niederlegung der natürlichen durchführen zu können. Auf dem Wege dahin
liegt die Bildung der Weltreiche, der Zusammenschluß der Einzelstaaten zu Bundes¬
gebieten. Je freier sich der Warenverkehr von allen Zoll- und Tarifhemmungen
vollziehen kann, um so näher kommen wir auch dem großen Augenblick, wo der
Mensch als Herr der Erde überall auf ihr sich wird tummeln können, ohne darin
durch andere Menschen behindert zu werden.
ES gibt leider kein Buch oder, um mich vorsichtiger auszudrücken: ich kenne
kein Buch, das das mitteleuropäische Problem so klar zur Darstellung brächte,
um es als Leitfaden zur Einführung allein gütig zu empfehlen. Eine Zeitlang
habe ich Friedrich Naumanns Schrift „Mitteleuropa", Berlin 1915, Druck und
Verlag von Georg Reimer, für eine Arbeit gehalten, die diesem Anspruch gerecht
wird, bin aber davon zurückgekommen, nachdem ich mich durch einen Berg von
mehreren Dutzend Büchern und Heften hindurchgelesen habe. Naumann ist als
Einführung sogar völlig ungeeignet. Seine Darstellung verwirrt mehr, als sie
klärt. Unbequeme Teilfragen übergeht er mit einigen glatten Sätzen. Schön,
dichterisch schön geschrieben, wirkt, wie alles, was Naumann veröffentlichte, auch
sein Mitteleuropa ästhetisch angenehm. Damit aber ist der Nutzen der Schrift
erschöpft. Man erkennt wohl das Ideal, zu dem er strebt, aber nicht den Weg,
um es erreichen zu können. Naumann lenkt die durch ihn angeregte Phantasie
auf Irrwege und weit über das erstrebenswerte Ziel hinaus; er läßt den Leser
hurtig werden, dann überläßt er ihn der Noel Der Vorzug von Naumanns
„Mitteleuropa" liegt auf einem anderen Gebiet: es versetzt die Masse der un¬
kritischen Leser in den optimistischen Glauben, als seien die inneren Widerstände
und Gegensätze in Mitteleuropa so geringfügig, daß es nur des Willens der Re-
gierenden bedürfe, um dem Ideal zum Siege zu verhelfen. Dadurch wird die für
die Durchführung großer Dinge im Völkerleben notwendige Stimmung erzeugt,
mit der schließlich energische Führer die Probleme der Menschheit zu lösen wissen.
Ob das Jahr 1915 schon den Zeitpunkt brachte, Um eine solche Stimmung zu er¬
zeugen? Die Frage stellen, heißt sie verneinen!
Noch gehörte die Stunde der wissenschaftlichen Durchdringung des Problems
und unsere Gelehrten brauchen, wie auch die schwere Zeit der Kriegsnot erneut
lehrte, keiner künstlichen Aufpeitschung ihres Forschungseifers. Auch um unser
Problem ist eine tiefgründige wissenschaftliche Literatur entstanden, von der noch
die Rede sein soll, da eine Einführung in das Problem selbst das dreibändige
Werk des Vereins für Sozialpolitik nicht ist, das unter Heinrich Herkners sach¬
kundiger Leitung von den bedeutendsten deutschen Nationalökonomen herausgegeben
wurde (Duncker u. Humblot, München) und das Problem unter Beschränkung auf die
wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten
in mehreren wissenschaftlich tief durchgearbeiteten Aufsätzen angreift. Es wendet
sich an solche Leser, die das Problem als Ganzes bereits überschauen und wissen¬
schaftliche Aufklärung in Einzelfragen suchen.
Mir hat, nachdem ich Naumann und einige Einzelaufsätze zur Frage gelesen
halte, ohne Klarheit zu gewinnen, die Schrift von Dr. Erich Pistor, Sekretär der
Wiener Handelskammer, die „Volkswirtschaft Österreich-Ungarns und die Verstän¬
digung mit Deutschland", X u. 175 Seiten stark, Berlin 1915, Druck und Verlag
von Georg Reimer, den Weg zur gewünschten Einführung gewiesen. Man lese
zweckmäßig zuerst das letzte „Die Zukunft" überschricbene Kapitel (S. 130—175)
und greife dann zurück auf den Anfang, auf die Abschnitte Land, Leute, Land¬
wirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr, die wichtigsten Bilanzen. Aus diesen
Stichworten erkennt der Leser schon, daß Herr Pistor an das Problem von Wirt-
schaftlichen Gesichtspunkten aus herantritt. Es sind habsburgische Sorgen, die
dein Autor die Feder führen. „In Osterreich-Ungarn muß . . . baldigst ungleich
mehr als bisher der Drang nach der Welt zur Betätigung gelangen, es muß zur
vollwertigen Mitarbeit gebracht werden, soll nicht der richtige Zeitpunkt auf immer
versäumt werden." (S. 133). Seine Schrift will, wie Pistor selbst sagt, „die
Machtentfaltung des habsburgisch-lothringischen Herrscherhauses"; „die endliche
vollständige Erschließung der Reichtümer der Donaumonarchie an Menschen und
Gütern"! „die Weltgeltung deutscher Kultur und die einheitliche Weltwirtschafts¬
politik der Mittemächte und ihrer Bundesgenossen". (S. III) Während Friedrich
List noch „um die Wende der achtzehnhundertvierziger Jahre von der Überlegen¬
heit der österreichischen Industrie gegenüber jener des Zollvereins" (S. 130)
sprechen konnte, erkennt Pistor an, daß mit der Reichsgründung „auf dem einstigen
Gemengsel von Mittel- und Kleinstaaten, dank glänzender Organisation größten
Stiles . . .", nachdem „eine vollkommen gefestigte und genügend breite Basis
der Entwicklung gesichert war", „Deutschland begann, als wirtschaftlicher Faktor
emporzublühen" (S. 130). Diese Feststellung führt den Autor zu der Anerkennung
der Tatsache, daß Österreich-Ungarn seinen großen Anteil an der Weltwirtschaft
gewinnen könne durch Zusammenschluß mit Deutschland: „es handelt sich nicht
. . .um die Anhäufung von eroberten Gebieten . . ., sondern um die Schaffung
großer, gemeinsamer Entwicklungssphären von Kultur, Wirtschaft und darauf
fußend von politischer Macht nach innen und außen". (S. 133.)»
„Nach dem Kriege wird vermutlich die alte Erscheinung Platz greifen, daß
Deutschland kraft seiner weitreichenden Beziehungen und der ihm zur Verfügung
stehenden Basis von hochstehender, unternehmender Bevölkerung und leistungs¬
fähiger Produktion an den besseren oder schlechteren Absatzchancen einen unver¬
gleichlich größeren Anteil nimmt, als die Monarchie . . . Ein solcher Ausblick
kann den österreichischen Volkswirt kaum befriedigen und gerade jetzt, wo die alte
Donaumonarchie in diesem Weltkriege, dank dem Opfermute und der Begeisterung
seiner Bevölkerung, eine Kraft bewiesen hat, die es einer glücklicheren Zukunft als
Vergangenheit würdig erscheinen ließe, müßte doch die Regierung, das Unternehmer¬
tum und das Volk alles daran setzen, um bessere Grundlagen zu schaffen und vor
allem die Monarchie aus ihren, im Verhältnis zu anderen Großstaaten beschei¬
denen Verhältnissen und Beziehungen zum internationalen Verkehr und Handel
herauszureißen, das Reich enger an den Weltverkehr, die Weltkonjunkturen und
die damit verbundene günstigere Verteilung der Risiken zu knüpfen. Nur mit einer
kleinen Änderung in der Steuerung unserer Volkswirtschaft, begleitet von liebens¬
würdigen Gesten und Worten gegenüber Deutschland wird sich dieser notwendige
Umschwung in den Grundlagen der Volkswirtschaft und ihren Beziehungen nicht
herbeiführen lassen." (S. 134.)
„Es ist . . eine grundlegende Änderung des Kurses um sonotwendiger, als
möglicherweise nach der wunderbaren Windstille, die während des Krieges und
unter dem militärischen Regime in den nationalen und politischen Kämpfen der
Monarchie eingetreten ist, angefacht wie von einer Windsbraut, der alte politische
Hader in erhöhtem Maße wieder emporwächst, mit seinen lähmenden Wirkungen
alle wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen üverspinnt und so die Bestrebungen
der Expansion weitgehend hemmt. Da kann nur der Blick auf Weltschicksale und
Weltverkehr, auf gesteigerte Einflußnahme hieran den Völkern Österreich-Ungarns
jene Energie des Zielbewußtseins geben, die zur Regeneration von Staat und
Volkswirtschaft notwendig ist, die zu den bewundernswerter, für den Krieg ge¬
brachten Opfern freiwillig und freudig neue Opfer wie für einen zweiten großen
Krieg fügt, um den erzielten Erfolg wirtschaftlich voll auszunützen, um Österreich-
Ungarn neben Deutschland zu stellen, um auch unseren: Vaterlande aus diesem
Kampf um die Weltherrschaft und um den Einfluß auf seine zukünftige Entwick¬
lung den gebührenden Anteil zu sichern. Als dieses Mittel der Neuorientierung
Österreichs in Außen- und Innenpolitik, sowie in seiner Volkswirtschaft, kommt
nur das viel erörterte Instrument der wirtschaftlichen Verständigung mit Deutsch¬
land in Betracht." (S. 134/S.)
Pistor untersucht dann „die Aufgaben und Bedingungen", denen die Ver¬
ständigung zu entsprechen hätte, „weil sich danach der Grad der gegenseitigen
Annäherung bestimmt". Mit anderen Worten, der Autor rollt nun das Problem
in seiner Gesamtheit vor unseren Augen auf. Spricht er auch vom österreichisch¬
ungarischen Standpunkte, so gilt das meiste im wesentlichen auch für uns Reichs¬
deutsche, die, wenn, auch in industrieller Beziehung besser gestellt wie die Donau-
Monarchie, mit dieser einen großen gemeinsamen Gesichtspunkt hat. „Es sollte
sich ... die Möglichkeit ergeben, von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer und
von der Ostsee, ja vielleicht sogar von weiter nördlich ausgehend bis zum Mittel¬
ländischen Meere ein wirtschaftlich geeintes europäisches Zentralgebiet zu schaffen.
das wie ein zentrales, europäisches Kartell für den Einfluß auf die Weltwirtschaft
alle Vorteile moderner Organisation im großen besäße I" (S. 135).
Pistors Schrift gipfelt in einer einstimmig beschlossenen Kundgebung der
Wiener Handelskammer vom 21. Oktober 1915, der sich eine Reihe von öfter
reichischen Handelskammern und wirtschaftlicher Körperschaften angeschlossen haben,
worin die Einleitung von Vorarbeiten zur Ergänzung der militärischen und
politischen Bundesgenossenschaft Österreich-Ungarns durch ein wirtschaft¬
liches Bündnis mit dem Deutschen Reiche gefordert wird. (S. 173). Dann
heißt es:
„Um sich die nötige Handlungsfreiheit für den Abschluß eines derartigen
Bündnisses zu sichern, ist erforderlich, daß sich die beiden Reiche bereits vor dem
Beginn der Friedensverhandlungen über die in diesen gemeinsam zu vertretenden
wirtschaftlichen Forderungen einigen. Namentlich ist zu verlangen, daß das Wirt¬
schaftsbündnis der Zentralmächte bereits in den Friedensverträgen mit dritten
Staaten Anerkennung findet und jede Anfechtung unter dem Titel der Meist¬
begünstigung von vornherein ausgeschlossen wird.
In der Monarchie selbst bildet eine der Hauptvoraussetzungen der ange»
strebten neuartigen Regelung unserer handelspolitischen Beziehungen zu Deutsch¬
land und zu dem übrigen Auslande ein neuer Ausgleichsvertrag mit Ungarn,
welcher den Neugestaltungen entsprechend Rechnung trägt. Die bisherigen Aus¬
gleichsvereinbarungen werden zu diesem Zwecke in wichtigen Punkten, namentlich
in den die Handels- und Verkehrspolitik betreffenden, wesentliche Änderungen
und Ergänzungen erfahren müssen. Jedenfalls wird diesmal die oft geforderte
„langfristige" Regelung unseres Verhältnisses zu Ungarn erfolgen müssen, ohne
die irgendeine weiter ausgreifende Umgestaltung unserer wirtschaftlichen Beziehungen
zum Deutschen Reiche nicht denkbar ist." (S. 174.)
Nach Durchsicht des eben besprochenen letzten Kapitels, in dem ein Öster-
reicher auch die Vorteile sachlich dargelegt, die Deutschland aus dem Wirtschafts¬
bündnis fließen würden, empfehle ich die Lektüre einer kleinen Schrift von Karl
Kumpmann „Friedrich Lißt, als Prophet des neuen Deutschland". Tübingen 1915
Verlag von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Auf wenigen Seiten (15—22), die
dem Zollverein und der politischen Einigung Deutschlands gewidmet sind und
den weiteren (S. 22—31), die von den Voraussetzungen für Deutschlands Macht¬
stellung handeln, findet man eigentlich alles, um die Frage im ganzen beurteilen
zu können und einen Begriff davon zu bekommen, wie weit die deutschen Belange
mit denen Österreich-Ungarns gleichlaufen, wo unser Interesse kühler ist, wo das
der Österreicher mehr im Vordergrunde steht. Die Aufmerksamkeit wird dadurch
auf den deutschen Zollverein gelenkt und aus die Frage, warum er sich nach der
Reichsgründung und der Schöpfung des Zweibundes durch Bismarck und Andrassy
nicht mehr weiter entwickeln konnte. Wir erinnern uns auch, daß zur Zeit Caprivis
(1892) Annäherungsverhandlungen zwischen den Verbündeten scheiterten. Sehr
lesenswert ist darum in diesem Zusammenhange die knappe historische Übersicht, die
Philipowitsch in seiner bei S. Hirzel 1914 in Leipzig erschienenen Schrift „Ein
Wirtschafts- und Zollverband" über die Schicksale der Vereinigungsbestrebungen
gibt. Wir erfahren dort, daß schon der bedeutende österreichische Finanzminister
Brück in den 1850er Jahren für den Wirtschaftsbund eintrat,*) lernen auch die
Zusammenhänge der Ideen mit den Bestrebungen der Freihändler kennen.
Nun hat sich der Leser zu entscheiden, ob er den historisch-politischen oder
den historisch-geographischen Weg zur weiteren Durchforschung des Problems be-
schreiten will. Ich selbst möchte vorschlagen, nunmehr Robert Siegers, des
Grazer Geographen 1915 bei B. G. Teubner erschienene höchst interessante Schrift
„Die geographischen Grundlagen der österreichischen Monarchie und ihrer Außen¬
politik" (54 Seiten) zu lesen. Solch eine geographische Abschweifung ist
besonders bei Österreich-Ungarn ganz gut, weil sie uns zwingt, uns
einmal zu vergegenwärtigen, welch ein politisches Chaos bei unserm
Bundesgenossen herrscht. Das Buch ist wichtig für uns, einmal, weil es die
natürlichen (geographischen) Grundlagen der Habsburgischen Monarchie aufzeigt
und den Beweis liefert, daß ihr Zusammenhalt durchaus nicht allein auf die
historische Entwicklung seiner Völker und durch die alteingewurzelte Dynastie be¬
wirkt wird, wie Sven Hedin, Hettner und andere meinen, daß vielmehr eben die
geographischen Verhältnisse die Staatbildung außerordentlich begünstigen. Neben
der Bedeutung von Donau und Adria wird uns klar, welche elementare Kräfte
auf die Gestaltung der inneren Politik der Habsburger wirken und was letzten
Endes der Grund dafür ist. wenn diese Politik immer mehr in den Dienst des
Slawentums zu treten scheint, jedenfalls seit einem halben Jahrhundert den Ein¬
fluß des deutschen Elementes zurückdrängt. Es sind tiefe Einblicke, die uns hier
der Geograph in die Politik eröffnet!
Mitten in die Politik führt uns wieder der Münchener Professor der Rechte,
Dr. Karl Freiherr von Stengel, mit seinem Aussatz „Zur Frage der wirt¬
schaftlichen und zollpolitischen Einigung von Deutschland und Österreich-Ungarn."
Verlag von Georg D. W. Callwey in München 1915 (44 Seiten). Das Verdienst
dieser Arbeit liegt in der großzügigen und klaren Darstellung der Interessen, die
Deutschland und Österreich-Ungarn an einer wirtschaftlichen und zollpolitischen
Einigung auf mitteleuropäischer Grundlage haben. Im ersten und zweiten Ab¬
schnitt werden uns als Folgen des Dreißigjährigen Krieges vorgeführt die Zer¬
reißung des Deutschtums in ein protestantisches und katholisches Lager und die
Befreiung Frankreichs und Englands von deutscher Machtentfaltung. Ein weiteres
Kapitel zeigt den langsamen inneren Wiederaufbau der Macht durch wirtschaft¬
lichen Zusammenschluß unter Preußens Führung, wobei auch besonders auf die
Arbeit von Philipowitsch hingewiesen wird. Die große Bedeutung des staats¬
rechtlichen Verhältnisses zwischen Österreich und Ungarn wird dem Leser veran¬
schaulicht; er bekommt eine feste Vorstellung von dem Begriffe des „Ausgleichs".
„An die wirtschaftliche Einigung zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich-
Ungarn wird daher erst dann ernstlich herangegangen werden können, wenn das
Deutsche Reich bei Verhandlungen über eine solche Einigung Österreich-Ungarn
als eine dauernd geschlossene Einheit sich gegenüber hat". (S. 39).
Aus den angeführten Arbeiten werden die Leser schon ein völlig abge-
runderes Bild von dem haben, was von dem Mitteleuropa Naumanns praktisch
übrig bleibt. Bei Befolgung meiner Lesemethode wird jeder gebildete Laie bei
einem Kostenaufwand von etwa 3—4 Mark, mit denen er zu seinem Buchhändler
geht, sich selbst in den Stand setzen, in wenigen Stunden anregender Lektüre das
ganze so wichtige wirtschafts-politische Zentralproblem unsrer Zukunft zu über¬
blicken, er kaufe nur die vier in diesem Aufsatz empfohlenen Schriften der Reihe
nach, wie es angegeben ist. Das Lesen der Schrift Naumanns wird sie aber um
so mehr interessieren, als sie nun befähigt sind, seinen Gedankengängen kritisch zu
folgen, was ja bei einem so glänzenden Schriftsteller immer seinen eigenen Reiz hat. —
Aber dem Leser werden aus der bisherigen Darstellung der Literatur mehr oder
minder nebelhaft auch die Hindernisse emporgewachsen sein, die der Verwirklichung
jedes mitteleuropäischen Wirtschaftsbündnisscs entgegenstehen, geschweige denn allen
den Projekten, die über ein „Mitteleuropa" zu den „Vereinigten Staaten von
Europa" hinsteuern. — Von diesen Hemmnissen nur so viel: man vermeide in Politik
und Presse das mitteleuropäische Ziel mit neuen und unnatürlichen Hemmnissen zu
belasten. Will die Zeitschrift „Mitteleuropa" wirklich dieser schönen Aufgabe
dienen, so höre sie auf, Propaganda für die österreichische Lösung der Polenfrage
zu treiben. Der Schlüssel zur Lösung unseres Problems liegt in Auflösung,
einmal der wirtschaftlichen Spannung zwischen Osterreich und Ungarn und daneben
in der Beseitigung des Pessimismus bei den Deutschen Österreichs. Wollte die
Zeitschrift „Mitteleuropa" über diese schwierigen Dinge als unbefangener und
sorgender Freund allseitig und sachlich berichten, sie würde nicht nur eine grosze
Lücke in der Literatur ausfüllen, sondern sich auch am dereinstigen Zustandekommen
Mitteleuropas ein unschätzbares Verdienst erwürben.
as abgelaufene Jahr lag schon in den letzten Zügen, als es unserem
Ernährungssystem hinterrücks noch einen Hieb versetzte, der mehr
Genugtuung als Bedauern auflöste. Denn die Unzulänglichkeit der
Ernährungspolitik hatte zu lange wie ein Alp auf uns gelastet, um
seine öffentliche Bloßstellung nicht wie das Schuldgeständnis einer
alten Sünderin schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen. Die Rache eines Jahres
der Unterernährung erscheint der ungeheuren Mehrheit der Reichsbevölkerung wie
eine längst herbeigewünschte Quittung über begangene Fehler und geduldete Ver¬
säumnisse, wie ein zeitgemäßer Anruf an die Anwälte des Volkswohles, zuzu¬
schauen, daß das gefährdete Ernährungswesen nicht in noch schlimmere Verhängnisse
hineingerät. Die bekannte Beschwerdeschrift des Neuköllner Magistrats über seine
höchst bedauerlichen Erfahrungen bei seinem nicht ganz einwandfreien Kampfe um
die Heranschaffung von Lebensmitteln für die dortige Gemeinde brachte den Stein ins
Rollen. Letzterer lag ohnehin lose genug, denn der Unmut wegen der offen¬
kundiger Entartungen der staatlichen Ernährungsvorschriften war schon seit langem
wie schwelende Glut. Nun brachte daS von der Neuköllner Stadtgemeinde vor¬
gelegte Beleuchtungsmaterial zu den unlauteren Schiebungen und verdmnmens-
werten Wuchergeschästen, die neuerdings epidemisch um sich gegriffen hatten, den
verhaltenen Grimm zu offenem Aufflackern. Den Kritikern kamen die enthüllenden
Einblicke in die Machenschaften der Schieber und Gewinnsüchtigen sehr gelegen,
um mit dem ganzen „System" ins Gericht zu gehen. Dabei ergab sich auch
reichliche Gelegenheit, dem parteipolitisch mißliebigen Manne an der Spitze des
Kriegsernährungsamtes mit derbem Schelten in die Parade zu fahren.
Daß das von Herrn von Waldow gegenwärtig verantwortlich vertretene
Ernährungssystem infolge des Neuköllner Vorstoßes auf den öffentlichen Tadelstuhl
versetzt wird, wäre an sich von keinem Belange, hingegen ist es eine Frage größter
Wichtigkeit, ob die seit über drei Jahren befolgten Richtlinien für die öffentliche
Bewirtschaftung der Lebensmittel falsch veranlagt oder angewandt sind. Es
handelt sich um das System, nicht um den einzelnen Mann, um die schwere
Beeinträchtigung der Allgemeinheit, nicht um einzelne Ausschreitungen. Was die
Neuköllner nach ihren Behauptungen an üblen Ersahrungen zu beklagen haben,
gewinnt erst allgemeines Interesse durch das Auftreten derselben bösen, Vor¬
kommnisse an vielen Orten. Leider kann nicht bestritten werden, daß die fast
demonstrative Verletzung der Höchstpreisbestimmungen und der unmoralische
Schleichhandel mit allen Gegenständen des täglichen Bedarfes überall eingerissen
sind. Wer die Denkschrift ans Neukölln mit ihren Angaben über schmähliche
Wuchereien liest, muß über die dreiste Verhöhnung der obrigkeitlichen Verfügungen
entrüstet sein. Er dürfte demnach geneigt sein, den Anklägern Recht zu geben,
die von einer „Ausplünderung des Volkes" und einem „Zusammenbruch des Er¬
nährungssystems" reden und schreiben. „Die Zustände", so lesen wir in einer
anklägerischen Epistel, „sind dadurch herbeigeführt worden, daß das Wirtschafts¬
system der Reichsstellen für Lebensmittelversorgung vollkommen versagt hat." Ist
das wahr, so ist kein Urteil über die verfehlte Ernährungspolitik streng genug,
ist es hingegen eine geflissentlich aufgebauschte Verzerrung, so möge man die
Scheidegrenze zwischen Dichtung und Wahrheit aufzeigen.
Die Furcht vor der Lebensmittelteuerung stand bereits an der Eingangstüre
zum Kriege. Ihr verdanken wir die Ermächtigung des Bundesrates vom 4. August
1914 zur Festsetzung von Höchstpreisen. Das Problem erschien der verantwort
lichen Staatsleitung zunächst aber nicht dringlich. Das ergaben die Marktver-
Hältnisse. Die Preisgestaltung für manche Artikel des Tagesbedarfs verriet zwar
von Anbeginn eine Neigung zum „Aufschwung". Die allgemeine Preisentwicklung
konnte aber abgewartet werden, denn ein fühlbarer Mangel an Lebensmitteln lag
vorläufig nicht vor, so daß auf den natürlichen Ausgleich zwischen Angebot und
Nachfrage sich hoffen ließ. In jedem Falle bedeutete die Einführung von Zwangs¬
preisen für Gegenstände des Alltages und Massenverbrauches einen Sprung ins
Dunkle, da man nicht absehen konnte, wie das Wirtschaftsleben auf einen so
harten Eingriff reagieren würde. Doch bald nötigten privatwirtschaftlicher Eigen¬
nutz und feindliche Absperrungsmaßnahmen zur Anwendung des Rüstzeuges,
zumal ein auffälliges Zusammenschrumpfen der Nahrungsvorräte sich bemerkbar
machte.
Das erste Höchstpreisgesetz wurde am 28. Oktober 1914 erlassen. Die maZna
criarta der bundesrätlichen Befugnisse zu Preisfestsetzungen wurde von da ab in
schneller Folge immer reichlicher besetzt. Ein vom Kriegsernährungsamt heraus¬
gegebenes alphabetisches Vcrzeichnes derjenigen Gegenstände, für die bis zum Jahre
1917 Höchstpreise öffentlich bekanntgegeben waren, weist bereits 763 Nummern
auf. Die Höchstpreiswirtschaft hat seitdem nicht stillgestanden. Ob das Jahr
1918 bereits den tausendsten Höchstpreis auszeichnen kann, wagen wir nicht zu
behaupten.
Man mag sich dessen erinnern, daß den ersten Höchstpreisen auf Brod¬
getreide ein beträchtliches Murren begegnete. Der Unverstand großstädtischer
Konsumenten zeterte über Verteuerung des Brotes infolge der angeblich zu hohen
Preisansätze für Roggen und Weizen, die Produzenten bedauerten die Kürzung
ihrer Gewinnaussichten durch die Preisschranken und der ganze Chorus der
Zwischenglieder vom Landwirt bis zum Bäcker fand seine Erwerbsbeeinträchtigung
unerhört. Dabei war die Regierung unter möglichster Schonung der Interessenten
vorgegangen. Die aus dem Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sich
ergebenden wirtschaftlichen Verhältnisse waren gebührend berücksichtigt worden.
Die Preise für Roggen und Weizen wurden so hoch angesetzt, daß sie hinter den
letzten Notierungen auf den Getreidemürkten nicht weit zurückblieben. Ersichtlich
war man bestrebt, die staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsgetriebe auf das
geringste Maß zu beschränken, bei dem der ins Auge gefaßte Erfolg noch er¬
reichbar war. Besonders sollten dem Handel innerhalb des durch die Preisfest¬
setzungen gespannten Rahmens Spielraum und Anreiz zur Betätigung belassen
werden. Die Eindämmung der Preisspekulation, ohne den natürlichen Ausgleich
zwischen Vorrat und Bedarf gar zu störend zu beeinflussen, erwies sich allerdings
alsbald als eine stumpfe Waffe. Die gewinnsaugenden Schröpfköpfe wurden von
den Warenverkäufern überall angesetzt, wo aus Preisdifferenzen sich Nutzen ziehen
ließ. Das konnte geschehen, da ein Teil der Nachfrage wegen unzureichenden
Angebotes ungedeckt bleiben mußte. Die Tendenz ging dahin, den Konsumenten
den Brotkorb — außer anderen notwendigen Nahrungsmitteln - immer höher
zu hängen. Zu den Preissteigerungen kamen jetzt die Besorgnisse wegen Knappheit
der Vorräte hinzu. Einzelne Maßnahmen zur Reglementierung des Verbrauches,
Wie die Beimischung von Kartoffeln zum Roggenbrod u. a., erschienen angebracht.
Jeder weitere Schritt zur Regelung der Nahrungswirtschaft drängte aber auch zu
einer verstärkten Einmischung der staatlichen Behörden in den Kreislauf der
Nahrungsmittel. Die Beschlagnahme landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die strenge
Reglementierung des Verbrauches bildeten neben den Höchstpreisen die hauptsäch¬
lichen Tragebalken des Systems der öffentlichen Bewirtschaftung.
Die Dreieinheit von Höchstpreisen, Beschlagnahme und Rationierung ist also
das Fundament der Zwangsbewirtschaftung, die für unsere Lebensmittelversorgung
gegenwärtig maßgebend ist. Hat dieses System sich als brüchig erwiesen, wie jetzt
vielfach behauptet wird, so sind es schiefe Gedankengänge gewesen, die in dieses
Labyrinth von durcheinanderlaufenden Organisationen und Verordnungen uns
hereingeführt haben. Dabei bedarf es keiner tiefgründigen Überlegung zur Er-
terrenis, daß von den drei genannten Hauptstücken das eine oder andere nicht
als besonders lästig beliebig ausgeschaltet werden kann, ohne das ganze Wirt¬
schaftssystem umzustoßen. Unsere eigene Erfahrung im ersten Kriegswirtschasts-
jahr läßt hierüber keinen Zweifel. Höchstpreise für sich allein sind ein schwankendes
Luftgebilde, sofern hinter ihnen nicht die Willensmacht steht, die von ihnen be¬
troffenen Waren im Verkehr festzuhalten. Ein jeder Höchstpreis, auch der nach
laienhaften Begriffen „zu hoch" angesetzte, wird dem Verkäufer als „zu niedrig"
erscheinen, weil er ihn stets mit den im freien Marktverkehr geltenden Waren¬
preisen vergleichen wird. Selbstverständlich wird eine Differenz zuungunsten
des amtlichen Preisansatzes hervortreten, denn dieser bezweckt ja gerade, den
Schwingungen nach oben vorzubeugen. Der Verkäufer mit genügender Kenntnis
der Marktlage wird daher sein Angebot zurückhalten in der zumeist sicheren Er¬
wägung, daß die Nachfrage „ihm kommen muß". Will der Staat die Folgen
einer solchen passiven Resistenz gegen seine Preisbestimmungen nicht auswachsen
lassen, so muß er seiner Preisvorschrift die Nötigung zum Verkauf hinzufügen,
d. h. Beschlagnahme und Enteignung. Die Sicherung der Volksernährung ist
freilich auch damit nicht verbürgt, wenn die Vorratsmengen nicht groß genug sind,
um alle Ansprüche zu befriedigen. Jetzt sind die Verbraucher darauf bedacht,
nicht nur ihren augenblicklichen Bedarf zu decken, sondern auch für die Zukunft
vorzusorgen, indem sie ihre Vorratskammern mit den für die Allgemeinheit knapp
gewordenen Waren ausfüllen. Die staatliche Fürsorge muß daher als drittes Glied
die Verteilung in ihre Ernährungspolitik aufnehmen.
Dieser Hergang ist die Stufenfolge einer Kriegswirtschaft, die die Preis¬
bildung den Friedensfaktoren von Angebot und Nachfrage nicht überlassen darf.
In normalen Zeiten prägt sich im Preise das Verhältnis von Versorgung und
Bedarf aus; in ihm kommen Erzeugung und Verbrauch zum Ausdruck und in
ihm findet der Ausgleich zwischen Produzenten und Konsumenten statt. Die Preis¬
wage schwankt nach der Stärke der Kräfte auf selten des Angebotes und der Nach¬
frage um die Gleichgewichtsfrage, wird aber im Kriege infolge einseitiger Belastung
untauglich. sinkendes Angebot und steigende Nachfrage lassen den Preis bei
Bewegungsfreiheit steigen. Der höhere Preis wiederum spornt die Erzeugung an
und schränkt den Verbrauch ein, so daß ein Druck auf den Preis ausgeübt wird
und letzterer wieder sinkt. So regeln Angebot und Nachfrage den Preis und der
Preis regelt wieder Angebot und Nachfrage/')
Die übliche Preisbildung nun wird durch den Krieg mit seinen bekannten
Folgeerscheinungen gänzlich verwirrt. Denn es fehlt an der Voraussetzung für
daS Gleichgewichtsproblem, an der Möglichkeit, Erzeugung und Verbrauch im
Einklang miteinander zu halten. Das ist schon im Frieden schwierig, im Kriege
unmöglich. Die Ursachen hierfür sind geläufig, die Folgen bilden den Ausgangs¬
punkt für die öffentliche Bewirtschaftung. Wir haben keinen freien Wettbewerb
mehr zwischen Verkäufer und Käufer, daher auch keine Konkurrenzpreise, sondern
Monopolpreise: auf der einen Seite das Übergewicht der Versorger, deren Zahl
infolge der Absperrung des Auslandes abgenommen hat und deren Solidarität
durch die steigenden Schwierigkeiten und Kosten der Produktion immer fester
gefügt wird, auf der anderen Seite die gleichbleibende Masse der Verbraucher, die
sich nicht immer weiter einschränken wollen und können, die die Abnahme der
Vorräte mit Sorge verfolgen und nun einen Wettlauf um die Lebensmittel be»
girren. So werden die Preise immer weiter getrieben, wenn nicht Einhalt ge¬
boten wird. Weil ein geringerer Teil der Verbraucher hohe Preise, zum Teil jeden
Preis anzulegen vermag, steigen die Preise zuletzt so, daß die große Masse sie
nicht mehr bezahlen kann.*)
Die zwangsläufige Wirtschaft war und ist eine bittere Notwendigkeit, um
mit unserer Ernährung durchhalten zu können. Von diesem Grundstein können
wir nicht abgehen, selbst wenn eine ungeheure Mehrheit des deutschen Volkes ihn
verwerfen sollte. Denn niemand von den vielen, die an unserer NahrungSwiri-
schast abfällige Kritik geübt haben, vermag einen besseren Weg anzugeben, der
zur Überwindung der Ernähruugsschwierigkeiten geeignet wäre. In Wirklichkeit
haben auch die Anklagen gegen das seit Kriegsbeginn eingeleitete Ernährungs¬
system nicht das ihm zugrunde liegende Leitmotiv zum Zielpunkt, sondern die
einzelnen Ausführungsakte. Es ist zuzugeben, daß die Höchstpreispolitik, das Maß
der staatlichen Eingriffe in die Produktionsverhältnisse, die Umständlichkeiten des
Verteilungsprozesses und der gesamte organisatorische Aufbau der staatlichen Wirt¬
schaft in vielen Punkten sich bemängeln lassen, das alles kann aber die Not¬
wendigkeit des staatswirtschaftlichen Eingreifens in die privatwirtschaftliche Lebens¬
mittelversorgung nicht erschüttern. Man bessere aus, was sich als schadhaft
erwiesen, und fülle die Lücken, aus denen allerlei Unkraut emporwuchert, lasse
seinen Zorn aber nicht aus an einem Notbau, den wir jetzt noch schaffen müßten,
wenn wir ihn noch nicht hätten.
In neuerer Zeit werden die Vorzüge besonders eindringlich herausgestrichen,
die der freie Verkehr vor der Zwangsbewirtschaftung haben soll. Von den literarischen
Federn, die dieser Aufgabe mit Hingebung sich unterziehen, sei die des Herrn
Dr. G. W. Schiele in Naumburg genannt.**) Gewiß sagt er viel Beachtenswertes,
kann aber Andersgläubige nicht bekehren, weil er den Wald der praktischen Mög¬
lichkeiten vor den Bäumen seiner theoretischen Konstruktionen nicht erkennen will.
In gesetzlichen Preisnormierungen erblickt er eine Verrenkung normaler Ent¬
wicklung, die im alten Ausgleichsspiel von Verbrauch und Versorgung die allein
gedeihliche Unterlage habe. Die Preise müßten und würden sich immer wieder
selbst regulieren, wenn man dem Handel die erforderliche Bewegungsfreiheit ließe,
anstatt ihm Daumschrauben anzulegen. Die Preise würden zwar zeitweilig hoch
emporsteigen, doch würde ihre Senkung infolge der vervielfachten Bemühungen
der Erzeuger und Händler binnen kurzem wiederum eintreten. In jedem Falle
sei es vorzuziehen, den Bedarf zu hohen Preisen zu decken, als bei papiernen
Preisen leer auszugehen. Auch im Kriegszustande ließe der uns zur Verfügung
stehende riesige Binnenmarkt beim Walten freien Verkehrs und Anspornung der
Produktion für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln
sich Herrichten, wenn die unnatürliche Zwangsregulierung verschwände. Durch
diese erst werde eine künstliche Not heraufbeschworen, die nicht zu sein brauchte,
wenn man von der öden Gleichmacherei zwischen Reich und Arm sich freimachen
konnte, was so viel heißt wie: den Warenpreisen ihren Lauf lassen und den
zahlungsschwachen Volksteilen mit Notstandsmaßregeln und Neichszuschüssen unter
die Arme greifen.
Eine Widerlegung der Schieleschen Ideen über die zweckmäßigste Form der
Ernährungspolitik muß hier unterbleiben. Ihre Schwächen liegen unseres Er-
achtens deutlich zutage. Wir glauben nicht an die Möglichkeit, den landwirt¬
schaftlichen Boden der Mittelmächte von heute auf morgen für den Gesambedarf
von 120 Millionen Menschen instandzusetzen und halten den Ausweg für un¬
gangbar, die durch die unfehlbar zu erwartenden Preistreibereien in schlimmste
Bedrängnis geratenden Volksklassen — wahrscheinlich viele Millionen! — auch
nur kürzere Zeit hindurch aus öffentlichen Mitteln zu erhalten. Das Vertrauen
auf die Bändigung der Preisorgien durch die Konkurrenz der Händler nach Wegfall
der obrigkeitlichen Schranken steht auf schwachen Füßen so lange, wie es jetzt der
Fall ist und wohl noch geraume Zeit dauern wird, die Herbeischaffung neuer
Waren mit den schwersten Hindernissen zu kämpfen hat. Der Preis hat im
Kriege die Kraft verloren, Waren in benötigtem Umfange dem Verbrauch zuzu¬
führen. Was er aufzutreiben vermag, kommt in erster Linie den kaufkräftigeren
Schichten und denen zugute, die für die Lebensmittelbeschaffung die höchsten
Forderungen zu erfüllen geneigt sind. Den in unserem Ernährungssystem ver¬
anlagten Sicherungsdämmen haben wir es allein zu danken, daß wenigstens die
Hungersnot in schlimmster Gestalt von den unbemittelten Volksklassen ferngehalten
wird. Der Preis versagt als selbsttätig wirkender Regulator der Erzeugung und
des Verbrauchs. An die Stelle der freien Preisbildung muß daher die behörd-
liche Preisfestsetzung treten, an die Stelle des freien Handels die Beschlagnahme,
die Verbrauchsregelung, die öffentliche Bewirtschaftung. Das bestätigt uns auch
die Betrachtung der Nahrungswirtschaft in den uns feindlichen und den neutralen
Staaten, die in dem Maße, wie bei ihnen die Schwierigkeiten der Lebensmittel¬
versorgung wachsen, sich dem deutschen Verfahren nähern, mögen auch ihre wirt¬
schaftspolitischen Traditionen noch mehr als bei uns der staatlichen Regelung
widerstreben.*)
Die Kennzeichnung der staatlichen Ernährungspolitik als einer Notbrücke,
zu deren Errichtung wir infolge der feindlichen Aushungerungsabsichten schreiten
mußten, widerspricht der, Unterstellung, daß eine Fortdauer der zwangsläufigen
Nahrungswirtschast über den Krieg hinaus wünschenswert sein könnte. An un¬
verständigen Schwärmern für die Herrlichkeiten eines Staatssozialismus, der die
unentbehrlichen individualistischen Triebkräfte unserer Volkswirtschaft nach Mög¬
lichkeit unterbinden soll, fehlt es ja nicht, sie sind sogar der Meinung, daß die
offenbar gewordenen Schwächen des gegenwärtigen Ernährungssystems hauptsäch¬
lich auf die mangelhafte Anwendung der obrigkeitlichen Zwangsgewalt gegenüber
der Erzeugung und dem Verbrauch von Lebensmitteln zurückzuführen sind. Mit
diesen abwegigen Ideen der Verwirklichung des sozialistischen ZukunftsstaateS uns
hin auseinanderzusetzen, können wir füglich verzichten. Den Interessen der All
gemeinheit wird weder mit einer staatlichen Reglementierung der landwirtschaft¬
lichen Produktion noch mit einer Beseitigung der den freien Marktverkehr bin¬
denden Schranken gedient.
Die praktischen Erfordernisse der Kriegswirtschaft widerstreiten sowohl einer
grundsätzlichen Sozialisierung des Wirtschaftslebens, durch die dem Organisations¬
prinzip als einer vermeintlich höheren Form wirtschaftlicher Betätigung ein Vor¬
rang eingeräumt werden soll, als auch dem unbekümmerten Gewährenlassen privat¬
wirtschaftlichen Gewinnstrebens. Zwischen organisatorischer Überspannung und
dem freien Spiel der individualistischen Wirtschaftsfaktoren klafft ein Gegensatz,
den eine staatsmännische Abwägung der Licht- und Schattenseiten auszugleichen
suchen muß. Die Ernährungssicherung im Kriege durfte nicht die Lebensmittel¬
erzeugung in eine Zwangsjacke stecken und den Handel wie einen allgemeingefähr¬
lichen Schädling proskribieren, sondern muß in beiden Richtungen die durch die
Notlage bedingten zweckmäßigsten Ordnungen in Gang bringen. In der Art der
Problemlösung kann man sich hier und da vergreifen, über die grundsätzliche
Stellungnahme darf kein Zweifel bestehen. Daß unsere Nahrungswirtschaft eine
verfehlte Bahn eingeschlagen hat, wird beim Rückblick auf das, was sie in drei¬
einhalb unendlich schweren Kriegsjahren geleistet hat, nur ganz vereinzelt selbst
aus den Kreisen bestritten, denen die „ganze Richtung" nicht zusagt. Die kalte
Theorie einer Wirtschaftsverfassung, die dem persönlichen Eigennutz den weitesten
Spielraum ließ, konnte vor dem Gebot einer einheitlichen Zusammenfassung aller
Volksgruppen gegen die Widerwärtigkeiten der Verpflegungshindernisse nicht auf¬
rechterhalten werden. Diese Erkenntnis kann heute trotz den abweichenden Urteilen
einer verschwindenden Minderheit als Allgemeingut gelten, wird auch von denen
schließlich geteilt, die als die eifrigsten Ankläger des bisherigen Kriegsversorgungs¬
wesens aufgetreten sind. Da wir bereits Herrn Dr. Schiele als scharfen Gegner
der staatlichen Ernährungspolitik genannt haben, so sei erwähnt, daß auch sein
Reformprogramm die öffentliche Bewirtschaftung keineswegs als unhaltbaren Fehl¬
griff abweist. Er befürwortet aber deren Einschränkung in bezug auf deu Kreis
der Menschen und Waren. Er wünscht die Versorgung nur für das Heer und die
Großstadtbevölkerung einschließlich der industriellen Provinzen (Rheinland, West¬
falen, Sachsen) und die Freistellung aller leichtverderblichen Waren von der öffent¬
lichen Bewirtschaftung. Die Begründung dieser Grenzscheidung mag man in seinem
Büchlein „Programm einer Änderung unserer Ernährungspvlitik" nachlesen, für
uns ist die Hauptsache, daß auch er solche Eckpfeiler des Ernährungssystems wie
Kontingentierung der Warenmenge und Rationierung des Verbrauchs durch Fleisch-
und Brotkarten beibehalten möchte. Im übrigen sind manche der Schiele'schen
Verbesserungsvorschläge durchaus beachtenswert. >
Als Eideshelfer für die Grundzüge des Ernährungssystems sei noch ein
Jurist angeführt, der es sich geradezu zur Aufgabe gestellt hat, die Verkehrtheiten
der staatlichen Reglementierung aufzudecken.*) Er schreibt: „Das Reich, um allen
seinen Bewohnern die erforderlichen Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen zu¬
gänglich zu machen und eine gleichmäßige Verteilung der notwendigsten Lebens¬
mittel für alle Bevölkerungsklassen herbeizuführen, war zu einschneidenden staats¬
sozialistischen Maßnahmen gezwungen." Auf die Verbeugung des Wohlwollens
folgt allerdings eine lange Reihe von Beschwerden über die Beeinträchtigung des
freien Handels, wobei jedoch zugegeben wird, daß die teilweise Ausschaltung des
Handels das kleinere Übel sei, um die große Gefahr der Aushungerung bezwingen
zu können. Die Befehdung der Höchstpreispolitik, weil sie bei zu niedrigen Preis¬
ansätzen die Waren aus dem freien Verkehr vertreibe, ist berechtigt, läßt aber den
eigentlichen Kernpunkt der Frage unberührt, ob ohne Preisgrenzen einer uner¬
träglichen Bewucherung der unbemittelten Volksklassen vorgebeugt werden kann.
Die Höchstpreisfestsetzung darf eben nicht nach einem willkürlich gewählten Ma߬
stab erfolgen, sondern ist nach den Auffassungen des Kriegsernährungsamts eine
wirtschaftspolitische Kunstübung.*) Das Schwergewicht der Neukamp'schen Be¬
mängelungen trifft das oft kaum begreifliche Schalten und Walten der Überzahl
von Kriegsgesellschaften, deren Verantwortlichkeitsgefühl der Allgemeinheit gegen¬
über häufig genug vieles zu wünschen übrigläßt. Es ist aber unzulässig, von
der Unzulänglichkeit des ausführenden Apparats auf die Verschieben der Wirt¬
schaftsgesetzgebung zurückzuschließen. Letztere ist in der absolutistischen Reglemen¬
tierung des Warenmarktes bisweilen vielleicht zu weit gegangen, hat die Bewe¬
gungsfreiheit von Erwerb und Handel mehr eingeengt, als durch die Sachlage
geboten war, ihr Mobilmachungsplan aber ist den Notwendigkeiten der Wirtschafts,
revolution angepaßt gewesen. Daher ist es auch ausgeschlossen, daß zu dem von
manchen Seiten angeratenen „Abbau" der zwangsweisen Bewirtschaftung früher
geschritten werden kann, als bis die gegenwärtigen Verpflegungsbedrängnisse ihren
gefahrdrohenden Charakter verloren haben werden.
An der Zuversicht der Aufrechterhaltung des von Herrn von Waldow ge¬
leiteten Ernährungssystems könnte man freilich irre werden, wenn man die aus
seinem Schoße geborenen Mißbräuche zu schweren Übelständen heranwachsen sieht.
Die in der Neuköllner Denkschrift angeführten Erfahrungstatsachen zeigen, welchen
Umfang die Gesetzwidrigkeiten angenommen haben. Während die Rationierung
auf das knappste Maß zugeschnitten ist und die meisten Lebensmittel im Markt-
Verkehr überhaupt nicht zu haben sind, gehen den Gemeindeverwaltungen und
großen industriellen Werken fortgesetzt von Schiebern Angebote auf Lieferung der
verschiedensten Nahrungsmittel in größten Mengen zu, für die allerdings Preise
gefordert und gezahlt werden, die die Höchstpreise um ein Vielfaches übersteigen.
Nebenher gehen grobe Verstöße gegen die Bestimmungen zur Sicherung der Volks¬
ernährung: so wird Saatgut zur Verwendung als Lebensmittel ohne Saatscheiu
in ganzen Wagenladungen angeboten, ebenso wird Zucht- und Nutzvieh im Schleich¬
handel widerrechtlich zum Abschlachten vertrieben, ferner werden Butter, Eier,
Wurst und vieles andere zu den unverschämtesten Preisen unter der Hand an
Leute feilgeboten, die jeden Preis zu bewilligen willens sind, kurzum, der Nahmen
der öffentlichen Nahrungswirtschaft wird nach allen Seiten durchbrochen, so daß
manche ohnehin Mißvergnügte den „Zusammenbruch" des amtlichen Gefüges
herannahen sehen. In welcher Beziehung der Zusammenbruch stattfinden soll, ist
allerdings nichts weniger als deutlich erkennbar. Die öffentliche Bewirtschaftung
kann, wie bereits dargelegt, überhaupt nicht preisgegeben werden, ohne daß eine
wüste Anarchie auf den Lebensmittelmärkten platzgreift. Also kann es sich immer
nur um Korrekturen handeln, sei es, daß der Zwang zur Ablieferung der den
gesetzmäßigen Ordnungen entzogenen Waren durch verschärfte Kontrolle wirksamer
gemacht wird, sei es, daß nunmehr der Fachhandel zur Heranziehung und Ver¬
teilung der vom Markt verschwundenen Lebensmittel in erweitertem Maße wiederum
eingeschaltet wird, was aber nur geschehen könnte, wenn auf die Verpflichtung
zur Befolgung der Höchstpreise verzichtet wird. Die Meinungen der Kritiker
unserer Ernährungspolitik, die entweder der einen oder anderen Richtung zuneigen,
entsprechen ziemlich genau den gegensätzlichen Interessen zwischen Produzenten
und Konsumenten, Staatssozialismus und Wirtschaftsliberalismus, Bedarf und
Verbrauch, Stadt und Land.
Das für die Bewährung des staatlichen Versorgungswesens Verantwortliche
Äriegsernährungsamt kann gegenüber den Anfechtungen von rechts und links nur
auf der bisher eingenommenen mittleren Linie beharren und den Zusammenbruchs,
idem seiner Kritiker mit planmäßiger Fortsetzung seiner Arbeiten begegnen. Die
objektive Beurteilung der zweifellos vorhandenen, teilweise kaum erträglichen Er¬
nährungsschwierigkeiten, sowie der strafwürdiger, in manchen Stücken aber auch
entschuldbaren Verfehlungen gegen die obrigkeitlichen Verfügungen muß ihm den
Weg zeigen, um den die Allgemeinheit schädigenden Mißständen zu Leibe zugehen,
ohne die Erwerbsinteressen ganz an die Wand zu drücken. Was hierzu geschehen
nutz, mag der wirtschaftliche Generalstab des Herrn von Waldow feststellen. *)
n unseren früheren Aufsätzen**) wurde gezeigt, daß die Proklamation
vom 5. November 1916 niemanden befriedigt hatte. In Polen ging
es keinen Schritt vorwärts. Den Ausbau der Sonderstellung Galiziens
nahm niemand ernst; denn selbst die gemäßigten Polen gaben die
Hoffnung auf den Anfall dieses Landes an Polen nicht auf. Die
Ententestaaten wurden durch die Konzessionen der Zentralmächte an die Polen
veranlaßt, die polnischen Emigranten mit allerlei Versprechungen zum Widerstand
gegen das neue Polen zu bewegen, und ihre Agenten schürten in Polen und in
Galizien gegen Österreich und Deutschland und hetzten zu immer weitergehenden
Forderungen. Jede ruhige Arbeit wurde so in Polen verhindert; die jagiellonische
Idee mit ihrem Schlagwort von Meer zu Meer lebte aus und regte die Gemüter
hüben und drüben auf. Die Warschauer Regierung wurde nicht allgemein
anerkannt; im Ausland entstanden Nebemegierungen, und während die Bildung
des polnischen Heeres in Polen im Anschluß an die Legionen verhindert wurde,
ging man an die Schaffung von polnischen Armeen in den Ententeländern. Die
polnischen Parteiungen in Polen gestalteten sich wirrer als je früher. Unter den
österreichischen Polen erhielten die unruhigen Elemente die Oberhand; der Polen¬
klub trat zur Regierung in Opposition, nicht so sehr wegen der galizischen Ver¬
hältnisse, sondern wegen des neuen Polens, seines Ausbaues und seines Heeres.
Wir haben gesehen, wie schließlich der polnische Staatsrat infolge dieser
gegen ihn von polnischer Seite betriebenen Opposition und der sonst ganz un¬
haltbaren Verhältnisse zurücktrat (29. August), trotzdem die Erfüllung weitgehender
Zugeständnisse durch Osterreich und Deutschland bevorstand. Der Pilsudskifall
und die damit zusammenhängende Abziehung der Legion aus Polen war nur der
Vorwand für diesen Rücktritt. Der „Dziennik Lubelski" stellt daher schon am
3. September fest, daß von einer Liquidierung der bisherigen polnischen Politik
keine Rede sein könne. Auch der Austritt der Linken aus dem Staatsrate sei
nichts anderes gewesen, als „lediglich eine Feststellung der Tatsache, daß die Politik
in den bisherigen Bedingungen nicht geführt werden könne. Sollten sich jedoch
die Bedingungen insofern grundsätzlich ändern, als unsere Interessen nicht nach
der Auffassung fremder berücksichtigt werden, sondern danach, was die Gesellschaft
selbst verlangt, dann ist die Wiederaufnahme der gemeinsamen Arbeit durchaus
möglich . .."") Und „Godzina Polski" vom 6. September führt aus: „Der Befehl
des Ausmarsches der Legionen auf das galizische Gebiet, der die Meinung des
Königreiches so aufwühlte und beunruhigte, kann gleichzeitig ein Herausreißen
der Legionen aus der vergiftenden Atmosphäre des Politisierens werden, ein Zurück¬
führen auf das den Legionen eigene Gebiet der Tat, ein Wiedererwecker der
früheren Stimmung, der Anfang neuer, gemeinsam mit den Armeen der Zentral¬
mächte über den gemeinsamen und noch immer drohenden Feind erfochtener
Siege." Im großen und ganzen griff auch sonst eine ruhigere Stimmung um
sich*"), zumal am 1. September die polnischen Gerichte eröffnet und eine Verlaut¬
barung der neuen Zugeständnisse bevorstand.
Diese wurden bekanntlich mit dem Patent vom 12. September am 15. Sep¬
tember gleichzeitig von Österreich und Deutschland verkündet. Polen erhielt damit
un Regentschaftsrat eine Vertretung, die bis zur Berufung des künftigen Staats¬
oberhauptes als oberster Vertreter des polnischen Staates gilt und unter dem
Vorbehalt der völkerrechtlichen Stellung der Okkupationsmächte die Rechte des
Staatsoberhauptes ausübt. Er beruft den Ministerpräsidenten, den zu be¬
stätigen die verbündeten Mächte sich vorbehalten. Der Ministerpräsident hat teils
selbst, teils mit den Okkupationsbehörden die Regierungsbehörden (Ministerien) zu
organisieren. Ein erweiterter und mit vermehrten Rechten ausgestatteter Staatsrat
soll Vorläufer des polnischen Landtages sein und die Gesetzgebung besorgen.
Während der provisorische Staatsrat nur beratende Stimme hatte, erhält der neue
auf legislativen Gebiete beschließende Stimme. Bemerkenswert ist, daß gleich-
zeitig in den kaiserlichen Handschreiben und in den offiziösen Mitteilungen des
Wiener „Fremdenblattes" und der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" daraus
verwiesen wurde, daß dieser Ausbau Polens „im selbstgewählten Anschlusse an
die Mittemächte", „auf der Basis fester nachbarlicher Gemeinschaft mit den Staaten
der Mittemächte" stattfinde.
Die Aufnahme dieser Zugeständnisse war im ganzen in Polen ziemlich kühl.
Der Warschauer „Kurjer Polski" vom 16. September verwies darauf, daß die
„norddeutsche Allgemeine Zeitung" die oktroyierte Verfassung nur als eine durch
den Kriegszustand bedingte Form bezeichne. „Aber es wäre ein schlimmeres
Zeichen der Verblendung, diejenigen Horizonte zu übersehen, welche uns das
Septemberpatent auf dem Gebiete der Staatsbildung eröffnet. Wir erhalten in
Wirklichkeit die oberste Staatsgewalt, den obersten Repräsentanten des polnischen
Staates, nämlich den Negentschaftsrat. Ferner erhalten wir die gesetzgeberische
und die kontrollierende Gewalt, welche dem Landtag unmittelbar vorangeht und
thu vertritt, nämlich den Staatsrat. Schließlich die Exekutivgewalt, die in einem
besonderen Artikel des Patentes erwähnt wird und die Rechtsgültigkeit der Ver¬
ordnungen des Negentschaftsrntes von der ministeriellen Gegenzeichnung abhängig
macht. Von diesen drei Körpern wird der Staatsrat zuletzt entstehen .. . Laßt
uns der guten Hoffnung sein, daß das Ausführungsgesetz, welches dem Patent
folgen muß, in einem schnelleren Tempo realisiert werden wird, als die von dem
früheren Staatsrat erlassenen Gesetze, und daß die Beschleunigung das Vertrauen
stärken wird, welches allein zum Zement weiden kann, der die freundschaftlichen
Beziehungen der benachbarten Völker von europäischer Kultur zusammenfügt."
Ähnlich führt der Krakauer „Piast" unter der Überschrift „Was gibt der Sep¬
tember-Akt" aus: „Der September-Akt bringt zweifellos viel, aber jedenfalls nicht
so viel, wie seitens der polnischen Volksgemeinschaft erwartet wurde und mit Recht
erwartet werden konnte. Es ist nur der erste Schritt zur praktischen Lösung der
Unabhängigkeit des Königreiches, ein Schritt, der keine wirkliche- Unabhängigkeit
gibt, sondern erst deren Möglichkeit schafft. Das, was der September-Akt gibt,
ist. wie die deutschen Zeitungen feststellen, eine Freiheit unter Kuratel, eine gesetz-
geberische Macht unter fremdem Patronat, eine Verwaltungsbefugnis am Bande
und unter Aufsicht. Aus jeden: Abschnitt des Patentes lugt der Generalgouvemeur
hervor, der über der Volksgemeinschaft und über den dieser Volksgemeinschaft ge¬
gebenen angeblichen Staatsämtern steht. Man hoffte, daß in dem Patent vor
allem die Aufhebung der Okkupationsgrenzen festgestellt sein werde. Dies ist leider
nicht geschehen. Man rechnete damit, daß das Patent die litauische und kur-
ländische Frage berühren werde, um so mehr, als die deutsche Presse ihnen in
der letzten Zeit viel Interesse gewidmet habe. Die litauische und kurländische
Frage ist in dem Patent mit keinem Worte erwähnt. Schließlich nahm man an,
daß das Patent die polnische Heerfrage klarstellen und damit zugleich der Krise
unter den Legionen ein Ende machon werde. Leider wurde diese Angelegenheit
Weder in dem Manifest noch in den Patenten berücksichtigt, und doch wäre dies
die einfachste Feststellung, daß in Sachen des polnischen Staatsbaues ein Wende¬
punkt eingetreten sei und daß die Okkupationsmächte die wesentlichsten Wünsche
des Volkes berücksichtigen." Hier wird also die wichtige Frage des Umfanges
Polens angeschnitten, wobei bezeichnenderweise nach dem Schicksal von Kurland
und Litauen vor allem gefragt wird. Der Anfall der ruthenischen Gebiete an
Polen scheint dem Krakauer Blatte so sicher zu sein, daß es das gar nicht er-
örtert. Interessant ist, daß Lempicki. das bekannte Mitglied des provisorischen
Staatsrates, auch in dem der Regierung nahestehenden Wiener „Fremdenblatt"
(Ende September) für die Unterstützung der aktivistischen*) Partei in Polen durch
die Zentralmächte eintritt und dazu Vorschläge macht (eigene polnische Regierung,
Armee, Bundesgenossenrechte, Befreiung der polnischen Kriegsgefangenen). Sonst
fand die starke Betonung der Patente über den Aufbau Polens „im Anschluß an
die Mittemächte" keinen lauteren Widerhall. Doch rief dies ganz offenbar das
Gerücht hervor, das der „Illustrierte Kurjer Czodzienny" (Krcckau. 20. September)
verzeichnet. Danach hätten die Zentralmächte von dem Regentschaftsrate ein enges
Bündnis mit den Zentralmächten und sofortige Kriegserklärung an Nußland ver¬
langt. „Das Gerücht habe in Warschau, obgleich es unwahrscheinlich ist, großen
Eindruck gemacht." Welcher Art dieser sei, wird nicht gesagt. Sonst waren die
Erörterungen der polnischen Presse den Kandidaten des Ministerrates und der
Person des Ministerpräsidenten gewidmet. Am hundertsten Todestage Kosziuskos
(15. Oktober) wurden mit dem Handschreiben beider Kaiser der Warschauer Erz-
bischof Kokowski, der Stadtpräsident von Warschau Fürst Lubomirski und der Gro߬
grundbesitzer Josef von Ostrowski als Mitglieder des Regentschaftsrates eingesetzt.
Inzwischen konnte als Zeichen, daß sich die Verhältnisse beruhigt hatten, schon
im September auch die Wiedereröffnung der Warschauer Universität für anfangs
November angekündigt werden. Tatsächlich fand diese am 11. November statt.
In Rußland scheint sich die Stimmung der Polen zugunsten der Warschauer
Regierung gebessert zu haben. Aus Stockholm wird gemeldet, daß unter dem
Ehrenpräsidium Alexander Lednickis am 19. Oktober die Beratungen der Tagung
polnischer demokratischer Organisationen in Petersburg begonnen haben. Anwesend
waren 608 Delegierte, die 49 Komitees und demokratische Klubs repräsentieren,
deren Politik gegen die nationaldemokmtische Part« Dmowskis (vgl. Grenzboten
1917 Ur. 42, S. 82) gerichtet ist. Diese nahmen eine Resolution an, die dem
Regentschaftsrate in Warschau huldigt und den Gehorsam ausdrückt. Die Resolution
betont aufs entschiedenste, daß die Polen in Rußland keine eigene Politik führen
dürfen, sondern sich den Aufträgen des Vaterlandes fügen und beim Ausbau des
polnischen Staates mitwirken müssen. Zugleich wurde aber auch die Resolution
gefaßt, daß die einzige richtige Lösung der polnischen Frage in der Bildung eines
vereinigten (nämlich mit Posen und Galizien) unabhängigen polnischen Staates
mit' einem Zugang zum Meere bestehen könne. In demselben Sinne hat schon
früher Lednicki zu einem Vertreter des „Stockholmer Dagblad" sich geäußert:
„Die in Rußland weilenden Polen sind in der Auffassung des grundsätzlichen
(von der russischen Regierung gutgeheißenen) nationalen Programms unbedingt
einig: sie fordern die Wiederherstellung und die Vereinigung eines unabhängigen
Polens mit einem Zugänge zum Meere, der eine notwendige Vorbedingung für
die normale Entwicklung deS Wirtschaftslebens des Landes ist. Die polnischen
Emigranten ertragen mit Geduld die zahlreichen Entbehrungen in der Hoffnung,
daß der Krieg ihre nationalen Aspirationen vollständig realisieren wird." Nach-
träglich wird bekannt, daß Lednicki auch die Ententemächte für die Erweiterung
der Grenzen Polens bis zur Ostsee einzunehmen, suchte. Da er aber gegen die
Bildung einer polnischen Armee in Rußland war, fand er wenig freundliches Ent-
gegenkommen. Gegen eine polnische Armee in Rußland sprach sich auch eine
polnische Konferenz in Petersburg am 21. Oktober aus. Weit geringer ist der
Anhang der Warschauer Regierung in den westlichen Ententeländern. Zwar
erfahren mir, daß ein Teil der polnischen Emigration in Paris sich gegen die
Bildung der polnischen Armee in Frankreich aussprach und betonte, daß Paris und
Frankreich höchstens anderthalbtausend polnische Soldaten stellen könnte. Die
französische Regierung betreibt aber mit der Mehrheit der Polen in
Frankreich, England und Amerika die Werbung weiter und hat zu
diesem Zwecke polnische Abgeordnete nach Brasilien und Nordamerika geschickt.
Zahlreiche Polen sollen sich hier gemeldet haben und jubeln Frankreich zu. Die
„Times" vom 8. Oktober drückt darüber ihre Freude aus und veröffentlicht die
Zustimmung des amerikanischen Kriegsdepartements und den Aufruf Paderewskis,
des Präsidenten des polnischen Nationalkomitees in Amerika, der in überschweng¬
lichen Worten die Polen zum Kampfe ruft. Am selben 100. Todestage Kosziuskos.*)
an dem die Mittemächte Polens Regierung aufbauten, möchte dieser Aufruf eine
polnische Armee auf dem Kontinent erstehen sehen. „Frankreich hat diese Armee ins
Leben gerufen und ihr Unterstützung angeboten. Frankreich benötigt nicht Polens
Opferblut-, es kann ohne unsere bescheidene Hilfe auskommen. Unsere Armee ist
nicht für Frankreich, sondern für Polen nötigt" Die „Times" vom 20. Oktober
berichten, daß die Ententemächte das polnische Nationalkomitee bestehend aus
Dmowski (Paris), Fürst Ladislaus Lobowsti (England) und Paderewsti (Ver¬
einigte Staaten) anerkannt haben. Das Ziel des Komitees sei: Polen mit einem
Zugang zum Meere, Kampf der polnischen Armee an der französischen und russischen
Front bis zur Vernichtung des preußischen Militarismus und zum endgültigen
Siege der Alliierten. „Zu diesem Zwecke wird das Komitee eine aktive Propa¬
ganda in allen Ländern entfalten."
In der Presse Polens und Galiziens werden Nachrichten über das polnische
Heer in Frankreich ziemlich kühl behandelt. Aber eine genügend scharfe und klare
Zurückweisung ist noch nicht erfolgt. Noch weniger hat der frühere Staatsrat
und der neue Negmtschaftsrat bisher dagegen klare Stellung genommen. Sonst
findet man aber doch manche polnische Stimme, die gegen die Sirenengesänge
der Entente auftritt. „Ziemia Lubclska" (21. September) behandelt die „Illusionen
und Schwindeleien der Entente und die Wege der Realpolitik": „Jetzt weiß man
also deutlich, warum der Bau des polnischen Staates so widerspenstig vor sich
geht. Die polnische Mehrheit wird stets, ohne es zu wissen, am Gängelband der
englischen Interessen geführt*). Ist es nicht besser, das Erreichbare zu nehmen,
als mit hysterischen Stimmen nach Allein zu schreien/' Ähnlich schreibt die
„Godzina Polski" vom 5. Oktober: „Die Gegner des Aufbaues des polnischen
Staates arbeiten unermüdlich im Sinne der bekannten Weisungen der Entente,
welche in der allgemein bekannten .Instruktion' des Herrn Dmowski veröffentlicht
waren. Nachdem sie sahen, daß die bisherigen Mittel der Nichtzulassung zur
staatlich-schöpferischen Arbeit nicht ausreichten, ergreifen sie ein neues, im Lager
der Nationaldemokratie längst erprobtes Mittel. Es ist dies die Versteigerung
der Zugeständnisse. Die Zentralmächte geben die Unabhängigkeit, .das ist zu
wenig' — sagen die Nationaldemokraten ,wir wollen die Unabhängigkeit mit
der Zulassung zur See/ — Selbstverständlich ,den besten Patrioten', als welche
sich einzig die Nationaldemokraten betrachten, paßt es nicht, darauf einzugehen,
was die Deutschen geben. — Die .einzigen, wahren Vertreter des Volkes' müssen
doch am meisten verlangen, denn sonst wären sie nicht die einzigen."
Auch die „Wiadomosci Polski" betonen, daß der Ban eines polnischen
Staates in Anlehnung an die Entente nicht möglich sei. Ein polnischer Staat
kann gegen das Interesse der Zentralmächte nicht gebildet werden. Die „Passivistcn"
vergraben Polen in ihre Herzen; die „Aktivisten" wollen ein lebendes Polen
haben und verlassen daher die Sphären der schönen Trünme. Diese und
ähnliche polnische Stimmen veranlassen die Times am 1. November zur Klage, daß
die Lage in Polen sehr kritisch sei und die Verhältnisse zur Verwirklichung der
deutschen Hoffnungen führen. Dabei darf man aber nicht vergessen, daß andere
Zeitungen Polens entsprechend den polnischen Parteien*"), die sie vertreten, auch
einen verschiedenen Standpunkt einnehmen werden. Diese Parteiungen im Lande
bilden die große Schwäche Polens gegenüber dem geschlossenen Vorgehen der
Mehrheit der ententefreundlichen Polen im Auslande, ein Umstand, der zur
berechtigten Besorgnis Anlaß gibt. Interessant ist es nachzulesen, wie Herr
A. Boleski (Wien) in einem Artikel in „Mitteleuropa" S. 216 zu beweisen sucht,
daß die Polen in Frankreich sich mit den Franzosen verbrüdern müssen, weil dies
den mitteleuropäischen Gedanken fördere.
In Österreich hat sich die polnische Stimmung etwas beruhigt. Der Polen¬
klub ist nach langem Konklave für die Obmannswahl endlich wieder verhandlungs¬
fähig geworden und seit Anfang Oktober fand eine Annäherung an die Negierung
statt. Schon am 2. Oktober stellt der Obmannstellvertreter Daszynski fest, daß
die Polen keine Politik gegen den Staat und das Parlament machen wollen und
gegen entsprechende Zugeständnisse mit der Regierung gehen würden. Die
Forderungen betreffen zunächst die Zivilverwaltung Galiziens und die galizische
Legion, die nur an der Ostfront verwendet und als Kader für das polnische Heer
betrachtet werden solle. Nach erhaltene,?, Zugeständnissen stimmten die Polen
für das viermonatliche Budgetprovisorium. Aber der geschäftsführende Obmann
Dr. Glombinski hat es sich nicht versagt, am 20. Oktober zu erklären, „daß die
polnische Frage, wie alle (?) Polen glauben, nur auf internationalem Wege,
hoffentlich auf einem Weltkongreß, gelöst werden kann." Bemerkenswert ist auch,
daß anfangs Oktober der Abgeordnete Witos öffentlich jene polnischen Legionäre
scharf angegriffen hatte, die in den Reihen der deutschen und österreichisch¬
ungarischen Armeen geblieben sind und dort den vorgeschriebenen Treueid geleistet
haben. Daraufhin hat das Offizierkorps der Legionen durch Major Lazarski von
Witos Genugtuung gefordert. Auch das Oberste polnische Nationalkomitee hat
sich mit dieser Angelegenheit befaßt und Witos die Mißbilligung ausgesprochen.
Im allgemeinen hat sich die gemäßigte Richtung wieder mehr durchgerungen.
Dem entspricht auch die Anfangs Oktober gemeldete Bildung einer neuen polnischen
politischen Partei unter dem Namen „Gruppe der nationalen Arbeit". Sie will
eine Organisation der gemäßigten Elemente aus allen polnischen Parteien durch¬
führen und in allen Ortschaften Galiziens Vereine der nationalen Arbeit gründen.
In einem Aufruf der Gründer der neuen Organisation wird gegen den unfrucht¬
baren politischen Maximalismus, welcher sich gegenwärtig in Galizien breitmacht,
und den Polen großen Schaden zufügt, Stellung genommen. Bezüglich der Lösung
der polnischen Frage steht die neue Organisation auf dem Boden des Programms
des Obersten Nationalkomitees. (Vgl. mein „Polen und die polnisch-ruthenische
Frage" 2. Aufl.. S. 100 f.).
Die deutsche Presse nahm zu den Patenten vom 12. September je nach
ihrer Stellung eine verschiedene Haltung ein. Während die liberalen und demo¬
kratischen Blätter den Schritt guthießen, tadelten ihn die konservativen und völ-
kischen. Der Kern aller dieser Ausführungen ist: die Polen waren und sind un¬
zuverlässig; sie haben stets gegen Deutschland und Osterreich gehetzt; werden sie
jetzt ihre Politik wirklich ändern und im engsten Anschlusse an die Zentralmächte
allein ihr Heil suchen: wird das selbständige Königreich und sein Reichstag nicht
ein Tummelplatz für die uns feindlichen Mächte sein und wird es nicht dem
folgen, der mehr gibt, oder doch verspricht? Das neue Königreich ist von Berlin
nur wenige Stunden entfernt. Preußen ist aus dem Zerfall Polens entstanden,
auch Ostpreußen ist ehemals polnisches Land. Der polnische Staatsgedanke, den
wir als Waffe gegen unsere Funde und als Sicherung unserer Grenzen gebrauchen
wollten, würde für Deutschlands Zukunft gefährlich werden, zumindestens müßte
dafür gesorgt werdeu, daß das neue Reich militärisch, politisch und wirtschaftlich
unauflöslich mit den Mittemächten verbunden bleibe, daß auf das Verkehrs¬
wesen uns Einfluß zustehe, Polen niemals wirtschaftlich zum Kampfplatz für uns
werde u. dergl. Die Rechte der deutschen Ansiedler sind festzulegen. Es wird
auch der Vorschlag gemacht, die Polen aus Preußen und Osterreich zum Teil auf
die polnischen Staatsgüter zu versetzen. Viel seltener sind Aufsätze, die Vorschläge
machen, wie der polnische Staat auszubauen sei. Darauf kommt es aber vor
allem an! Ein österreichischer Politiker legt in der Deutschen Zeitung (Berlin,
2. Oktober) dar, daß an ein Festhalten Polens in deutscher Hand nicht zu denken
sei. Käme es aber doch dazu, so würden die Polen Galiziens in Osterreich bleiben,
es nach den Erfahrungen der letzten Monate mit der slawischen Majorität ganz
beherrschen und dann auch eine gegen Deutschland gerichtete Politik durchsetzen.
Um Österreich dem bisherigen Bündnisse zu erhalten, müsse daher Galizien aus
Osterreich ausscheiden. Das könne aber nur geschehen durch Angliederung an
Polen und zwar nur unter der Bedingung, daß der Kaiser von Osterreich pol¬
nischer König werde; sonst würde Osterreich seine größte Provinz nicht aufgeben
können. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt wenige Tage später (9, Oktober) ein
Artikel in „Mitteleuropa". Auch er verweist darauf, daß ein vollständig sich selbst
überlassener polnischer Staat uns gefährlich werden könnte, besonders wenn er
auch ruthenische, weißrussische und litauische Gebiete umfassen würde. Eine An-
gliederung an Deutschland sei undurchführbar. Denn Polen kann kein deutscher
Bundesstaat werden; die Verbindung mit einer Personalunion führt zu nichts!
die Entsendung eines deutschen Fürsten nach Polen ist durchaus keine Bürgschaft
für die Politik eines sonst selbständigen Polens. Ein neutralisiertes Polen würde
das Schicksal finden, wie die seinerzeit am Wiener Kongreß errichtete Republik
Krakau. So bliebe noch die Möglichkeit! Polen dem österreichisch-ungarischen
Staate anzufügen.*)
Wie man sieht, kehren diese Vorschläge dazu zurück, was in Österreich schon
lange als der gangbarste Weg bezeichnet wurde. Ich habe das schon in „Polen
und ?le polnisch-ruthenische Frage" (Leipzig 1916) angedeutet, soweit es die Zensur
möglich machte, und in dieser Zeitschrift (Ur. 29 dieses Jahres) als den gang¬
barsten Weg bezeichnet, von dem der Akt des 5. November 1916 abwich. Wie es dazu
kam. möchte ich auch gegenwärtig unerörtert lassen. Ob die Schuld ganz Beth¬
mann Hollweg trifft, oder ob es richtig sei, daß eine schon im November 1915
von Deutschland geplante Ordnung im Sinne der jetzt wieder aufgenommenen
Form durch Ungarn verhindert worden sei, das die von Deutschland geforderten
Garantien nicht bieten wollte, wird sich erst in Zukunft zeigen (siehe Grazer
Tagespost 2. November 1917).
(Schluß folgt).
!le Vorgänge in und um Brest-Litowsk finden eine blitzartige Ve-
^ leuchtung durch die in der sogenannten alldeutschen Presse („Rheinisch-
! Westfälische Zeitung", „Deutsche Zeitung", „Post", Berliner und
! Leipziger „Neueste Nachrichten") am Sonnabend und Sonntag ver¬
breitete Nachricht, daß der Erste Generalquartiermeister der Armee
Generalleutnant Ludendorff „wegen Brest-Litowsk" sein Rückirittsgesuch eingereicht
habe. Aus einer amtlichen Ableugnung geht hervor, daß ein solches Rücktritts¬
gesuch nicht vorliegt, soll wohl heißen, daß es nicht mehr vorliegt. Denn eine
Nachricht von solcher die Stimmung aufpeitschenden und zugleich zermürbenden
Tragweite, wie die vorliegende, wäre von einer verantwortungsbewußten Presse
nicht verbreitet worden, wenn sie nicht tatsächlich der Wahrheit entspräche.
Ludendorffs Entschluß scheint bei oder nach dem Kronrat vom 6. Januar erörtert
worden zu sein. Unsere Lage in Brest-Litowsk hatte sich in der Tat so zugespitzt
und wird durch die Haltung der „Mehrheits"-Presse weiter so auf des Messers
Schneide gehalten, daß es nur erklärlich erscheint, wenn General Ludendorff sein
Amt in die Wagschale werfen zu müssen glaubte, um zu retten, was noch zu retten ist.
Die Armee hat uns unter der Führung der Hindenburg und Ludendorff aus den
Krallen der Feinde befreit, in die wir geraten konnten dank Deutschlands so über¬
aus schlechten Militär-geographischen Lage vor dem Kriege. Vergessen wir niemals
die Bedeutung jener Schlachten bei Tannenberg, an den Masurischen Seen, dann
nach dem Rückzug Dantis der um Lodz, denen später die großen Durchbruchs-
schlachten im Osten und Süden folgten. Und jetzt soll alles das umsonst gewesen
sein? Jetzt sollen die Verhältnisse wieder hergestellt werden, die den Russeneinfall
in Ostpreußen und Galizien möglich gemacht hatten, wo nicht nnr unser ober-
schlesisches Industrie-Revier, sondern auch Wien bedroht war? Und das in einem
Augenblick, wo wir uns berechtigt glaubten, nach der Palme des Sieges zu
greifen? In Brest-Litowsk wird der .Krieg gewonnen oder verloren! Des bleiben
wir uns bewußt und ebenso, daß dem Unterliegenden die moralische Schuld am
Kriege mit allen ihren wirtschaftlichen und politischen Folgen auferlegt werden
wird. Zum Siegen gehört auch der Mut und die Tatkraft, den Sieg politisch
auszuwerten.
Ich möchte nicht gern in den Chorus derer einstimmen, die Herrn v. Kühl-
mann und seine Mitarbeiter als Dummköpfe behandeln. Doch scheint richtig zu
sein, daß Herrn v. Kühlmanns Kraft nicht ausreicht, um zu verhindern, daß die
Verhältnisse, die er bei seinem Amtsantritt vorfand, sich nicht zu „Gott gewollten
Abhängigkeiten" entwickeln. Und zu diesen Verhältnissen gehört vielleicht in erster
Linie seine Stellung zum internationalen Sozialismus. Ich kann mich des Ein¬
drucks nicht erwehren, als habe Herr v. Kühlmann durchaus verkannt, wer sich
uns eigentlich als russischer Friedensunterhändler nahte, und welche innere Gründe
die Herren Lenin und Trotzki ermutigten, gegen den Willen eines großen Teiles
des russischen Volkes mit uns einen Waffenstillstand abzuschließen. Man komme
mir nicht mit dem Hinweis aus den Zusammenbruch der russischen Armeen.
Gewiß, die Armee war geschlagen, aber wir hätten sie vielleicht nicht so bald ge-
worfen, wenn nicht die Fäulnis der russischen Gesellschaft sie dem radikalen Sozia¬
lismus ausgeliefert hätte, diesem schleichenden Gift, das sich an alle schwachen
Organe der Volksgemeinschaft setzt. Man glaubt mit Rußland zu verhandeln und
verhandelt doch mit den Abgesandten der internationalen Revolution. Rußland
ist durch das Zusammenwirken dieser Revolution und unserer Schläge zusammen¬
gebrochen, jetzt sollen wir an die Reihe kommen und unter dem Zusammenwirken
der Westmächte und der Revolution ins Knie gebeugt werden.
Vergegenwärtigen wir uns doch, was in Rußland unter der Regierung, die
das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten zur Grundlage der politischen Ord¬
nung auf der Welt bestimmt hat, geschieht: die Selbstbestimmung ist gebunden
an die Weisung, daß sie sich nach angeblich demokratischen Grundsätzen richtet.
In Wirklichkeit werden alle Möglichkeiten für eine Demokratie beseitigt, indem
die betreffenden Gebiete zunächst der Anarchie ausgeliefert werden. Daß die zarische
Regierung gestürzt wurde, hatte Sinn vom demokratischen Standpunkt aus; daß
aber in Reval der Estlandischen Ritterschaft, einem Organ der Selbstverwaltung,
das Vermögen fortgenommen wird, ist ein schwerer Vorstoß gegen den Grundsatz
der Selbstbestimmung. Daß den Herren Lenin und Trotzki im übrigen an der
Volksgesamtheit nicht gelegen ist, sondern ausschließlich an dem Wohlergehen ihrer
Verhältnismäßig kleinen Gefolgschaft, das geht hervor aus der Beraubung der
Privatbanken. Nicht Volkswohlfahrt steht auf dem Panier der russischen Sozialisten,
sondern Klassenkampf, Anarchie. Und dieselbe Anarchie, die sie in Rußland ver¬
breitet haben, wünschen sie nun zuerst in die von uns besetzten Gebiete hineinzu¬
tragen und, nachdem sie alles verseucht und verwüstet haben, zu uns. Wir sollen
unsere Truppen zurückziehen und ihre Agenten einlassen; wir sollen unsere Freunde
und Stammesgenossen in den baltischen Provinzen, in Litauen und Polen einer
künstlich entflammten Volkswut preisgeben und damit unser Ansehen bei den
kleinen Nationalitäten. Diesem Streben der Russen kommen alle jene Kreise bei
uns und bei unsern Bundesgenossen bewußt oder unbewußt entgegen, die glauben
an die Formel vom 25. Dezember 1917 gebunden zu sein.
Was man sich von der Formel „Selbstbestimmungsrecht der Völker" ver¬
spricht, ist ja klar: man denkt vor allen Dingen daran, England zugunsten unseres
türkischen Bundesgenossen zu schädigen; man ist überzeugt, daß, wenn wir selbst
das Selbstbestimmungsrecht der kleineren Nationalitäten wahren, Ägypten und
Indien bei uns Rückhalt in ihrem Kampf um die Selbständigkeit suchen werden.
Das ist alles viel zu künstlich und weitblickend gedacht. Zeigen unsere Unter
Händler auch nur einen Anflug von Schwäche, indem sie vor den Ansprüchen,
den Anmaßungen der Bolschewiki zurückweichen, so gehen wir des Vertrauens
verlustig, das wir uns in diesem Kriege in blutigen Schlachten erkämpften. Nur Kraft
gebiert Vertrauen, — der Unterliegende trägt die Verantwortung am Weltkriege!
Aber auch für unser künftiges Verhältnis zu Rußland ist es unbedingt
erforderlich, daß wir!den Ansprüchen der Bolschewiki gegenüber standhalten.
Mit dem künftigen Rußland, das ein bäuerliches auf dem Individualbesitz be¬
gründetes sein wird, können wir nur in vertrauensvolle Beziehungen kommen,
wenn wir uns stark als Beschützer des Privatbesitzes und legitimer Rechte er¬
weisen. Wir werden einen großen moralischen Sieg und daraus folgend einen
praktischen Sieg in Rußland erringen, wenn wir die heutigen russischen Unter¬
händler bewerten als anarchistische Ideologen, die von den Idealen eines Marxs
und Engels, wie von dem edlen Wollen des Sozialismus überhaupt nicht einen
leisen Hauch verspürt haben.
Nicht wir sind auf Lenin, Trotzki und Genossen angewiesen, wohl aber sie
auf uns: sie können aus unserer Hand den Frieden empfangen, dessen sie be¬
dürfen, um Rußland einer ruhigen Entwicklung entgegenzuführen. Wollen sie den
Beweis für ihre menschenfreundliche Gesinnung erbringen, so mögen sie bei sich
zu Haus beginnen: das heilige Rußland ist gewiß ein ansehnlicher Teil der
Erde. Den Weltfrieden herbeizuführen, haben sie weder die Physische noch die
moralische Kraft.
Allen Manuskripte» ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterfelde West. — Mannjlriptiendnngen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
A» die Echriftlcituna der Grenzboten in Berlin SV U, Tempelhofer User 35
Fernsprecher deS Herausgebers: Amt Licht-rfelde 498, des Verlags und der SchrifUeituug: Amt Lützow (!5l0
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. v. H, in Berlin SV/ 11, Temp-lhoser Ufer SS-r
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b, H, in Berlin SW le. Dessmier Strasze SS/N.
it größeren Sympathien als die gründlich verfahrene polnische
Staatsgründung wird die Entstehung eines selbständigen finn-
ländischen Staates in Deutschland begrüßt werden. Beide verdanken
ihre Entstehung den Waffen der Mittemächte, Polen unmittelbar
der militärischen Befreiung seines Gebietes, Finnland der aus der
russischen Niederlage erwachsenen Revolution und dem Sturze des russische«
Zarentums. In Polen begründete die schöpferische Tat der Mittemüchte den
neuen Staat, in Finnland löste das Volk selbst die Bande, die das Land bisher
an das russische Reich knüpften. Der neue Polenstaat wird dem Deutschen Reiche
und Preußen noch manche Sorge bereiten. Finnland ist als Vormauer Deutsch,
lands und Skandinaviens gegen die russische Ostseemacht auf das engste an die
germanische Welt Mittel- und Nordeuropas gebunden.
DaS Land ist mit seinen 377426 Quadratkilometern, von denen über 40000
aus die inneren Gewässer entfallen, größer als Preußen. Bei seiner Durchsetzung
mit Binnengewässern wird es als das Land der tausend Seen bezeichnet. Die
nördliche Lage erklärt die dünne Bevölkerung von etwa 3200000 Einwohnern,
die, abgesehen von 52000 Orthodoxen, fast durchweg evangelisch sind. Der Ratio°
nalitllt nach handelt es sich um etwa 2571000 Finnen und 339000 Schweden,
letztere hauptsächlich an dem südwestlichen Küstenstreifen, aber gewichtiger wie an
Zahl als Träger der alten Kultur des Landes.
Kaum ein Jahrhundert ist es her, bis 1809, daß Finnland nichts anderes
war als ein geographischer Begriff. Es bildete einen Bestandteil des schwedischen
Reiches und umfaßte eine Reihe von schwedischen Landschaften. Nur den südöst¬
lichen Zipfel, Karelier mit der Hauptstadt Viborg, das Land um den Ladogasee,
hatte Peter der Große nach der .Niederlage Karls des Zwölften 1721 von Schweden
losgerissen, da er mit kecker Hand seine neue Hauptstadt Se. Petersburg in den
Winkel des finnischen Meerbusens setzte.
Doch die russische Politik führte weiter. Der Drang nach dem offenen
Meere und der Umstand, daß Se. Petersburg immerhin noch beinahe Grenzstadt
war, bildete bei der späteren Zerrüttung des schwedischen Reiches eine unwider-
Seehunde Versuchung für Rußland, sich ganz Finnlands zu bemächtigen. Dies
geschah auf Grund der Erfurter Verabredungen Alexanders des Ersten mit Na¬
poleon von 1808 schon im folgenden Jahre 1809 während des russisch-schwedischen
Krieges.
Es war nun eine geniale staatsmännische Tat des russischen Selbstherrschers,
da er sich schon während des Krieges sobald wie möglich zum rechtlich anerkannten
Herrn des militärisch besetzten Gebietes machen wollte, Finnland nicht einfach
dem russischen Reiche einzuverleiben, sondern den aus Finnland stammenden Teil
der schwedischen Reichsstände nach der schwedischen Reichstagsordnung zu einem
besonderen finnländischen Landtage in Borga zu versammeln, hier die alten Grund-
gesetze des Landes, die einfach die schwedischen waren, zu bestätigen, Finnland als
künftig zum Range der Nationen erhoben zu erklären und sich als Großfürsten
von Finnland huldigen zu lassen. Während das im März 1809 geschah, erfolgte
erst im Herbste desselben Jahres nach einer inzwischen in Stockholm stattgehabten
Thronrevolution durch den Frieden von Frederikshamm die Abtretung des Landes
an Rußland. Später vereinigte der Kaiser auch das russische Gouvernement Viborg
mit Finnland.
Damit ergab sich eine eigentümliche Zwitterstellung des Landes. Indem
Alexander der Erste sich noch während des Krieges als Großfürsten von Finnland
huldigen ließ, begründete er eine neue finnländische Staatsgewalt in engster Ver¬
bindung mit Rußland. Aber diese neue Staatsgewalt blieb auf das innere Staats¬
leben beschränkt. Sie ist nie in die Völkerrechtsgemeinschaft eingetreten oder von
anderen Staaten anerkannt worden. Denn völkerrechtlich hatte Schweden Finnland
an Rußland abgetreten, völkerrechtlich im Verhältnisse zu anderen Staaten bildete
Finnland einen Teil Rußlands, machten beide zusammen das russische Reich aus.
Beide Teile fühlten sich dabei wohl. Rußland war im Norden seiner Haupt-
stadt und im finnischen Meerbusen durch Finnland gedeckt. Finnland andererseits
erfreute sich innerer Selbständigkeit und gelangte unter dem starken Schutze Ru߬
lands zu großer wirtschaftlicher Blüte. Namentlich machte sich die große Masse
der finnischen Bauernbevölkerung von dem beherrschenden Einflüsse des Schweden-
tums frei und entwickelte eine eigene finnische Kultur, wobei Rußland den Gegen¬
satz der Nationalitäten beförderte. Den Höhepunkt erreichte das beiderseits ver¬
trauensvolle Verhältnis unter Kaiser Alexander dem Zweiten, der 1869 den Land¬
tag in der altertümlichen Form der vier Stände, Adel, Geistlichkeit, Bürger und
Bauern, wieder berief und eine neue Landtagsordnung erließ.
Erst unter Alexander dem Dritten beginnen die Versuche, die finnische Selb¬
ständigkeit zu untergraben, die sich dann unter seinem verblendeten Nachfolger
Nikolaus dem Zweiten im Jahre 1899 zum förmlichen Verfassungsbruche steigerten.
Unter dem Drucke der russischen Revolution von 1905 wurde dann allerdings die
finnländische Selbständigkeit wiederhergestellt und sogar die alte ständische Ver¬
fassung durch eine neue auf breitester demokratischer Grundlage mit allgemeinem
Stimmrechte einschließlich des Frauenstimmrechtes ersetzt. Doch sobald die Be¬
ruhigung des revolutionären Sturmes eingetreten war. begannen unter dem
Ministerium Stolypin die Versuche, die finnländische Selbständigkeit zu unter¬
graben, von neuem. Am 2. Juni 1908 bestätigte der Kaiser die entsprechenden
Vorschläge des Ministerpräsidenten.
Es war ein Kampf ums Recht.
Die Finnländer verteidigten ihre alte Verfassung und innere staatliche
Selbständigkeit, indem sie ihre Treue gegen Kaiser und Reich betonten. Dabei
suchten sie vor allem 'in weitesten Matze die Sympathien der europäischen Kultur-
länder für ihre Sache zu gewinnen. Das gelang ihnen auch im weitesten Matze,
nicht nur in Deutschland und in den skandinavischen Ländern, sondern auch in
England und Frankreich. Nicht nur in Finnland selbst, sondern in jedem der
genannten Länder entstand eine reiche Literatur über „Rußland und Finnland.*)
Erst als mit den Einkreisungsversuchen König Eduards des Siebenten die West-
mächte mit dem Zarismus in engere Beziehungen zur Niederschmetterung Deutsch-
lands traten, rückten Engländer und Franzosen von ihren bisherigen finnländischen
Freunden deutlich ab. Auch russischerseits stützte man sich auf Rechtsgründe und
behauptete, Finnland gehöre kraft Eroberungsrechtes auch staatsrechtlich zu Nutz-
land, und das aemeinsame Band mache, unbeschadet der von Alexander dem Ersten
bewilligten besonderen provinziellen Einrichtungen, auch gemeinsame Einrichtungen,
für das ganze Reich einschließlich Finnlands notwendig.
Jede unparteiische Erwägung der Gründe und Gegengründe mutzte zu dem
Ergebniste führen, datz die Finnländer im Rechte waren, und datz Rutzland mit
fadenscheinigen Rechtsvorwänden sich lediglich auf die Macht stützte. Doch es sind
ja nicht formale Rechtsgründe nach Art derjenigen, wie sie etwa in einem Zivil-
Prozesse vorgebracht werden, wodurch die grotzen weltgeschichtlichen Prozesse ent.
schieden werden. Mit der Anerkennung der finnländischen Selbständigkeit sind
wir von dem alten russisch-finnländischen Streite bereits so weit abgerückt, um
auch die russische Machtpolitik, wie verfehlt sie sich auch erwiesen hat, unparteiisch
würdigen zu können.
Die ganze russische Politik seit Peter dem Grotzen ist beherrscht von dem
Drange nach dem offenen Meere. In der Ostsee und im Schwarzen Meere hatte
Rußland endlich vom Binnenlande das Meer erreicht, war aber wieder in Sack¬
meere gelangt. Wie man aus dem Schwarzen Meere nur herauskonnte durch
die türkischen Meerengen, so über die Ostsee weg nur über das nördliche Skan¬
dinavien nach den eisfreien Häfen des nördlichen Norwegen am Golfstrome.
Wollte man aber hier weiter greifen, so mutzte man zunächst Finnland unbedingt
beherrschen, es mutzte wirklich der russischen Staatsgewalt unterworfen sein. Und
für den russischen Patriotismus war es ein unerträglicher Gedanke, daß unmittel¬
bar vor den Toren der russischen Hauptstadt, durch Zollschranken und eigene
Staatsorgane deutlich erkennbar, wenn auch unter der Herrschaft des russischen
Zaren eine fremde Staatsgewalt begann. Dabei übersah die russische Macht¬
politik allerdings, datz die innere Verschmelzung des vom Grotzrussentum fast un-
berührt gebliebenen großen Landes für das herrschende Staatsvolk doch ein zu
harter Brocken war, und datz man durch die russische Machtpolitik die Selbständig-
keitsgelüste der Finnländer, die man fürchtete, erst geradezu grotzzog. Alexander
der Erste hatte unter diesen Umständen das, getan, was einzig möglich war.
Das letzte Geschlecht wollte mehr tun und überschätzte dabei seine Kräfte.
Zunächst trug die russische Politik mit der Macht auch den Erfolg davon.
Indem man den Grundsatz zur Geltung brachte, daß gemeinsame Reichsinteressen
allein durch die Reichsgesetzgebung zu befriedigen seien, wobei Rußland allein
entschied, wo die Grenzen der gemeinsamen Reichsinteressen lagen, stand die finn-
ländische Verfassung tatsächlich zur Verfügung der russischen Machthaber. Die
Selbständigkeit Finnlands bedeutete nichts anderes mehr, als das Spiel der Maus
zwischen den Pfoten der Katze, die jeden Augenblick losschlagen konnte.
> Die Sache Finnlands schien also verloren. In England und Frankreich
wollte man von den Finnländern überhaupt nichts mehr wissen. Auch in Deutsch¬
land hatten sie sich seit ihrer radikalen politischen Strömung manche frühere Sym¬
pathien verscherzt. Auf die öffentliche Meinung der europäischen Kulturwelt, die
ihnen überhaupt gegenüber Rußland nie viel genutzt hatte, konnten sie sich nicht
mehr in demselben Maße wie früher berufen. Irgendwie sonst gegen die russische
Macht auszukommen, war aussichtslos. Trotzdem setzten sie unentwegt den Kampf
ums Recht fort.
Nun ist aber jedes Recht Machtausdruck. Ein Recht, das nicht mehr die
Macht hat, sich durchzusetzen, wird zum wesenlosen Schatten. Das, was die Finn-
> lauter noch als ihr Recht behaupteten, hatte nicht mehr Bedeutung als manche
entschwundene Legitimität.
Unter diesen Umständen empfahl ich den Finnländern, sich einfach auf den
Boden der gegebenen Verhältnisse zu stellen,, wie es die Buren einst nach ihrer
Niederlage getan, um damit zu retten, was noch zu retten war, und durch eigene
Wirksamkeit in ihrem Lande wenigstens das russische Beamtentum möglichst fern
zu halten und unschädlich zu machen. Äußerlich loyale Unterwerfung war wenigstens
noch das einzige Mittel, um weitere russische Zwangsmaßregeln und wohl gar
eine Besiedelung des Landes durch großrussische Bauern zu verhüten. Die Finn¬
länder haben mir diese in der ganzen politischen Lage wohl begründeten Rat-
chläge sehr übel genommen und ihren Kampf ums Recht weiter geführt. Daß
ich auf feiten damaliger russischer Minister warme Zustimmung fand, beweist
noch nicht, daß durch eine solche Politik der Finnländer russischen Interessen ge¬
dient gewesen wäre, sondern nur, daß die russische Politik damit ihr nächstes un¬
mittelbares Ziel erreicht sah, ohne damit weiter zu kommen. Hätten die Finnländer
beim Ausbruche des Krieges die leitenden Stellen des Landes in ihrer Hand
gehabt, so hätten sie jedenfalls früher und entscheidender in die Entwicklung ein¬
greifen und ihre Unabhängigkeit eher aus eigener Kraft erringen können. So
vertrauten sie nach dem Ausspruche ihres Landtagspräsidenten Svinhuvfed, den die
Russen nach Sibirien verschleppten, auf Gott und Hindenburg.
Doch haben sie nun auch auf diesem Wege erreicht, was sie erstrebten. Mit
der Entthronung des Zaren war das Band des gemeinsamen Herrschers, das sie
bisher an Nußland geknüpft, zerrissen. Kerenski hat zwar noch einen Versuch
gemacht, eine Obergewalt des republikanischen Rußland über Finnland festzuhalten.
Mit seinem Sturze ist auch dieser Versuch gescheitert. Der finnländische Landtag
konnte nach Beschwichtigung der inneren Unruhen die Unabhängigkeit des Landes
auch nach der völkerrechtlichen Seite und damit die volle Loslösung von Rußland
erklären. Mit der Anerkennung seitens der Mächte tritt der neue Staat in die
Völkerrechtsgemeinschaft ein.
Die Loslösung Finnlands vom russischen Reiche muß aber/ wenn sie sich
dauernd behaupten läßt, von der schwerstwiegenden Bedeutung werden für die
weitere Entwicklung der russischen Politik, vorausgesetzt, daß Großrußland und
Ukraina überhaupt eine politische Gesamtmacht bleiben.
Der russische Drang nach dem offenen Meere machte sich in der bisherigen,
Entwicklung Rußlands immer stoßweise nach verschiedener Richtung geltend, ging
zeitweise nach Nordwesten. Skandinavien bedrohend, zeitweise nach Südosten gegen
die Türkei, dazwischen auch einmal in Mittelasien näher an den Indischen Ozean
oder im äußersten Osten nach dem Gelben Meere. Ein Mißerfolg auf der einen
Seite bewirkte gewöhnlich, daß die russische Politik sich einer anderen zuwandte,
so noch zuletzt der Mißerfolg gegen Japan in der Mandschurei die Wiederauf.
nähme der Balkanpolitik. Die Unterdrückung Finnlands war eine vorbereitende
Maßregel im Sinne des nordwestlichen Durchbruches nach der eisfreien nor¬
wegischen Küste.
Von den vier Ausbruchswegen ist der nordwestliche gegen Skandinavien mit
der Loslösung Finnlands endgültig verschlossen. Denn Skandinavien gegenüber
bildet Finnland die notwenige Operationsgrundlage, was die russische Verge¬
waltigungspolitik gegenüber Finnland ganz richtig erkannt hatte. Das unabhängige
Finnland bildet die Vormauer für das unabhängige Skandinavien. Wohl behält
Rußland die Murmanküste auf der Halbinsel Kola mit dem eisfreien Hafen
Alexandrowsk, neuerdings mit Se. Petersburg durch eine Eisenbahn verbunden.
So wichtig diese Seeküste für den Handelsverkehr Rußlands werden kann, nament¬
lich nach dem Verluste anderer und näher gelegener Häfen, so ist sie doch bei ihrer
abgelegenen Lage im hohen Norden vollständig ungeeignet, die Angriffsgrundlage
Rußlands gegen Schweden und Norwegen zu bilden, wenn man dabei ein un¬
abhängiges Finnland im Rücken lassen muß. Die russische Nordwestpolitik gegen
Skandinavien ist mit der Unabhängigkeit Finnlands erledigt.
Das bedeutet aber gleichzeitig eine Entlastung Deutschlands nach der
russischen Seite und im ganzen Gebiete der Ostsee. Seit dem ausgehenden Mittel-
alter schwebt die politische Machtfrage des vominium maris Kaltioi. Von größter
Bedeutung ist sie für Deutschland. Denn wie der Weltkrieg gezeigt hat, war
dies die einzige Seite, wo Deutschland von vornherein nicht abgeschnürt werden
konnte. Selbst nach Südosten war erst ein gewaltsamer Durchbruch erforderlich.
Wie die weitere Entwicklung auch ausgehen mag. Rußland kommt mit der Un¬
abhängigkeitserklärung Finnlands als Mitbewerber für die Herrschaft über die
Ostsee nicht mehr in Betracht. Dagegen find Deutschland und das unabhängige
Finnland durch die engste Interessengemeinschaft als Bundesgenossen aufein¬
ander angewiesen.
Die Unabhängigkeit Finnlands muß aber noch eine weitere Folge von der
größten politischen Bedeutung nach sich ziehen. Se. Petersburg kann nicht länger
russische Hauptstadt bleiben, sondern die russische Regierung muß nach Moskau
zurückkehren.
Peter der Große hatte wenigstens mit dem Erwerbe Kareliens einen weiten
Kreis russischen Gebietes um seine Hauptstadt gelegt. Aber die Sicherheit seiner
Hauptstadt war nach der Erklärung Alexanders des Ersten gegenüber Napoleon
ein wesentlicher Grund für den Erwerb Finnlands. Und bis in die neueste Zeit
empfanden es patriotische Russen als verletzend, daß dicht vor den Toren ihrer
Hauptstadt eine fremde Staatsgewalt begann, obgleich der eigene Zar ihr Träger
war. Das sollte die russische Gewaltpolitik gegenüber Finnland rechtfertigen.
Jetzt liegt die Hauptstadt etwa 30 Kilometer von der Reichsgrenze entfernt, das
ist eine Entfernung wie etwa von Berlin bis etwas hinter Potsdam, etwa bei
Werber. Da beginnt also jetzt die Grenze eines ganz fremden Staates, der mit
Rußland nicht das geringste mehr zu tun hat. Daß das für die Hauptstadt eines
großen Reiches ein auf die Dauer unmöglicher Zustand ist, bedarf keines näheren
Beweises. Bleibt also Finnland unabhängig, so muß die Hauptstadt wandern.
Der Sitz der russischen Regierung geht mit Naturnotwendigkeit wieder nach
Moskau.
Das wirkt zunächst wieder auf die auswärtige Politik zurück. Es war die
schärfste Betonung der nordwestlichen Politik, die mit der Eroberung der bis dahin
schwedischen Ostseeprovinzen durch Peter den Großen einsetzte, daß dieser seine
Hauptstadt in den eben von Schweden erworbenen Winkel des Finnischen Meer¬
busens verlegte. Die Zurückverlegung des Regierungssitzes nach der alten Landes¬
hauptstadt Moskau bedeutet den — freilich erzwungenen — Verzicht Rußlands
auf weitere Fortsetzung seiner Ostseepolitik. Gewissermaßen das Gesicht der aus¬
wärtigen Politik Rußlands wendet sich wieder nach Asien zu. Die ganze Politik
muß wieder einen rein festländischen Charakter annehmen.
Alle diese Erfolge der Unabhängigkeit Finnlands lassen sich freilich nur er¬
warten, wenn es dem finnländischen Staatswesen gelingt, sich zu behaupten. Und
hier muß man leider noch ein großes Fragezeichen machen.
Bei dem gewaltigen Vergehen und Entstehen von Staaten in der Napoleo¬
nischen Zeit pflegte die Mutter Napoleons, Lätitia Bonaparte, zu sagen: pourvu
que cela clure. Dieselbe skeptische Bemerkung muß man bei den mannigfachen
neuen Republiken machen, von deren Entstehen auf dem Boden des alten russischen
Reiches fast alltäglich die Zeitungen berichten. Alle diese Länder bildeten doch
bisher eine große politische und wirtschaftliche Einheit, deren Teile aufeinander
angewiesen waren. Das Bedürfnis der Zusammengehörigkeit wird sich wieder
geltend machen. Und in der geschichtlichen Entwicklung pflegt so gewiß wie der
Wechsel der Tages- und Jahreszeiten auf die Anarchie die Gewaltherrschaft zu
folgen. So steht auch ein neuer russischer Gewaltherrscher zu erwarten, der freilich
nicht der in Sibirien gefangene Schwächling vom Zarenthrone sein wird.
Gegen das künftige neue Rußland wird sich Finnland zu behaupten haben.
Von Skandinavien hat es nichts zu erwarten. Auf Gott und Hindenburg zu ver¬
trauen ist freilich sehr bequem. Aber des Daseins wert ist nur der Staat, der es
versteht, sich aus eigener Kraft zu behaupten. Und in dieser Hinsicht liegen die
Aussichten für Finnland ziemlich trübe.
Das Land war in den letzten Jahren der russischen Herrschaft von Rußland
absichtlich wehrlos gemacht. Von der allgemeinen Wehrpflicht befreit, zahlte es
an Rußland eine Abfindungssumme. Wird das Land jetzt bereit sein, eine schwere
Rüstung auf sich zu nehmen? Die radikale Gestaltung seines Wahlrechtes läßt
dies kaum hoffen. Der Landtag zählt dermalen 92 Sozialdemokraten, 64 bürger¬
liche Finnen, 21 Schweden und 25 Agrarier. Der Republik fehlt gegenüber der
radikalen Strömung jeder feste Halt. Die Einführung der Monarchie würde dem
Lande in den völkerrechtlichen Beziehungen und nach innen eine stärkere Stütze
gewähren, wie dies verständige Finnländer auch selbst einsehen. Aber wenn nicht
eine überwiegende Mehrheit dafür ist, kann sich das Land innere Kämpfe um die
Verfassungsform nicht leisten. Vor allem kommt es also jetzt auf die Finnländer
selbst an, die Freiheit, die ihnen der Weltkrieg als Geschenk in den Schoß ge-
schüttet, zu erwerben, um sie zu besitzen.
> me gewaltsame Aneignung von Gebieten, die während des Krieges
l besetzt worden sind, liegt nicht in den Absichten der verbündeten
Regierungen", so heißt es in der Weihnachtsbotschaft, die Graf
Czernin als Sprecher der vier verbündeten Mächte zu Breit-Litowsk
der Welt verkündet hat. Und weiter lesen wir: „Es liegt nicht in
den Absichten der Verbündeten, eines der Völker, die in diesem Kriege ihre politische
Selbständigkeit verloren haben, dieser Selbständigkeit zu berauben." Damit ist
offenbar der Standpunkt der Regierungen nicht nur für die Neuordnung der Ver.
Hältnisse im Osten ausgesprochen, sondern überhaupt für den Wiederaufbau der
politischen Welt, überall wo die alte Ordnung zusammengebrochen ist. Es geht
aus dieser Kundgebung von neuem hervor, daß auch die Annexion Belgiens nicht
unser Ziel ist. Wir haben also Belgien nicht erobert, um es einfach zu behalten.
Gute Gründe dafür gibt es. Man wird die Früchte der Eroberung in anderer
Weise nutzbar machen: für die belgischen Völker selber, in erster Linie für die
Flamen, für deren Forderungen wir uns einsetzen werden, und dann für uns
selber, nämlich als Faustpfand.
In Brest-Litowsk ist die Rückgabe der deutschen Kolonien verlangt worden.
Diese sind heute englisch und müssen darum den Engländern wieder abgenommen
werden. Daß dies mit Waffengewalt an Ort und Stelle geschehen könnte, ist ziem-
lich ausgeschlossen. Also muß in Europa über ihr Schicksal entschieden werden,
und dabei fällt, da England heute weniger als im vergangenen Sommer und
Herbst Aussicht hat, die flandrische Küste zu erobern, der Besitz Belgiens auf
unserer Seite gewaltig in die Wagschale. Da hat nun mit vollem Recht in
Heft 51 der „Grenzboten" (1917) Professor Hashagen auf Grund der historischen
Erfahrungen davor gewarnt, allzu einseitig auf den Rückerwerb unserer Kolonien
und überseeischen Positionen auszugehen. Unsere weltpolitische und weltwirtschaft¬
liche Stellung vor dem Kriege war keineswegs schlechthin ideal. Es kann also
auch kein unbedingtes Kriegsziel für uns sein, daß wir genau das wiedererlangen,
was wir vor dem Kriege hatten. Wir haben uns heute in Europa so viel bessere
Positionen erkämpft, als wir sie vorher besaßen, daß wir uns bei jeder einzelnen,
die wir halten könnten, überlegen müssen, ob wir auch wirklich gut daran tun,
wenn wir überseeische für sie eintauschen. Nur wenn wir uns über die Gesamtheit
unserer Kriegsziele eine klare Vorstellung bilden, gewinnen wir ein Urteil darüber,
wie wir die Eroberung Belgiens beim Friedensschluß verwerten dürfen.
Der materiellen Wohlfahrt unseres Volkes ist die höchste Bedeutung beizu¬
messen, aber wir dürfen uns niemals einreden lassen, daß deswegen der Gewinn
überseeischer Rohstoff- und Absatzgebiete unser wichtigstes Kriegsziel sei. Der
Boden, in dem wir selber wurzeln, ist stets die erste Bedingung unseres Daseins.
Darum gibt es kein vornehmeres Kriegsziel als die Sicherung alles Bodens, auf
dem in Mitteleuropa unser Volkstum seßhaft ist. für deutsche Arbeit und Kultur.
Diese Sicherung der Gesundheit und Einheit deutschen Volkstums in Europa kann
nur durch ein festes, dauerndes Bündnis mit Österreich-Ungarn erreicht werden.
Deshalb ist unser allerwichtigstes Kriegsziel das mitteleuropäische, der Ausbau
unseres Bundes mit dem Habsburger Reiche zu einer Politisch - wirtschaftlichen
Einheit von mehr als bloß völkerrechtlichem Werte. Dazu ist als notwendige
Ergänzung dringend wünschenswert die Anlehnung der selbständigen oder wieder
selbständig gewordenen Völker östlich und südöstlich der Grenzen der beiden
Zentralmächte an den mitteleuropäischen Bund. Denn die Kultur unseres Erd¬
teils verlangt, daß sie friedlich mit uns gemeinsam arbeiten, statt sich feindlich
gegen uns zu wenden. Wir müssen also bestrebt sein, in den bisherigen russischen
Westprovinzen, in Serbien und Rumänien solche staatliche Ordnungen aufzubauen,
daß diese Länder mit dem Bund der Zentralmächte in fruchtbare Beziehungen
treten. Der Krieg ist für uns gewonnen, wenn es gelingt, die politische Interessen
gemeinschaft der mitteleuropäischen Völker durch reale Bedingungen zu einer
Tatsache zu machen, aber auch nur dann. Und nur dann haben wir auch Aus¬
sicht, dem Bündnis mit Bulgaren und Türken mehr als episodische Dauer zu
erhalten, so daß das ganze weite Gebiet von Mitteleuropa bis nach Vorderasien
ein Feld bleibt, wo deutsche Kulturarbeit niemals ausgeschlossen werden kann,
daß also die Gefahr gebannt bleibt, die uns die Entente diesmal androhte. Unsere
Heere haben die Einheit Mitteleuropas vorläufig verwirklicht; sie wissen es nach
allen Seiten zu schützen. Nun müssen die Völker selber beisammen bleiben wollen,
und die Diplomaten müssen Formen finden, in denen die Staaten ohne schwere
Reibungen nebeneinander zu leben vermögen. Mitteleuropa zu bauen, ist nicht
die Sache irgendeines bloß militärischen Erfolges, und sei er auch noch so groß,
sondern ein politisches Kunstwerk, daS eben geschaffen werden muß. So war auch
die Schöpfung des Deutschen Reiches ein politisches Kunstwerk. Nicht Moltkes
erfolgreiche Strategie an und für sich macht die große politische Leistung der Jahre
1366 und 1870 aus. sondern Bismarcks politisches Kunstschaffen. Ebenso können
auch jetzt niemals die Siege Hindenburgs an und für sich die deutschen Kriegs¬
ziele verwirklichen, sondern ein großer Staatsmann muß in Völkern und Staaten
dem Willen zur neuen Einheit politische Gestalt zu geben wissen.
Unser wichtigstes Kriegsziel ist also die dauernde politische Verbindung
Deutschlands und Österreich-Ungarns, und das können wir erreichen, ohne über-
Haupt mit irgendwelchen feindlichen Staaten darüber zu verhandeln. Wir müssen
es nur selber wollen. Seine Erreichung bedeutet unseren Zusammenschluß mit
den Millionen Volksgenossen in Osterreich und Ungarn, und in naturgemäß etwas
größerem Abstände mit den anderen Nationen der Donaumonarchie, soweit sie
der gemeinsamen Sache nur irgend guten Willen und politischen Verstand ent¬
gegenbringen. Daß es an beiden noch öfters fehlt, wissen wir, aber es ist noch
nicht aller Tage Abend. Volkswirtschaftlich erringen wir dadurch eine Erweiterung
des inneren Marktes und einen gesicherten Weg für den Austausch mit den zu¬
kunftsreichen Ländern des Balkans und Vorderasiens. Außerdem vermögen uns
die gegenwärtigen Verhandlungen in Brest-Litowsk, wenn sie mit Geschick zum Erfolg
geführt werden, den Anschluß der befreitenrussischen Westvölker an Mitteleuropain Aus¬
sicht zu stellen, und Rußland selber nebst den angeschlossenen unendlichen und vielfach ent
wicklungsfähigen Gebieten Nord-und Mittelasiens für unsere Wirtschaft wieder zugäng¬
lich zu machen. Diese beiden Dinge: eine günstige, dauernde Ordnung der politischen
Beziehungen des heutigen Vierbundes und ein billiger Friede mit Rußland, der
beiderseits wenigstens für einige Menschenalter ehrlich und einigermaßen zufrieden
gehalten werden kann, sichern uns den wirtschaftlichen Zugang zu einem so großen
Teile der Erdoberfläche, daß unsere Volkswirtschaft, als Ganzes angesehen, über¬
seeische Verluste an die Angelsachsen verschmerzen kann und es verstehen wird,
wenn auch nach schwierigen Übergangszeiten, Ersatz für verlorene Absatz- und
Rohstoffgebiete in Europa selber und in Asien zu finden. Unsere Fertigindustrie
wird zwar schwer leiden, wenn sie einen guten Teil des englischen und ameri¬
kanischen Absatzes verliert, unsere Textilfabrikation nicht minder, wenn sie den
Bezug der Baumwolle und Wolle aus den Vereinigten Staaten und den britischen
Kolonien einbüßt, aber auf die Dauer ist unsere Gesamtvolkswirtschaft doch besser
daran, wenn wir uns vor schwierigen Übergangszeiten nicht fürchten und uns
Absatz- und Rohstoffgebiete schaffen, die unabhängig von den Angelsachsen sind,
damit es diesen nicht eines Tages einfällt, noch besser gerüstet wie diesmal, uns
aufs neue vom Weltmarkt auszuschließen. Der jetzige gewaltsame Abschluß und
der in Aussicht stehende Sonderfriede mit Rußland müssen dazu ausgenutzt werden,
die Befreiung Europas vom angelsächsischen Rohstoffmonopol anzubahnen, auch
wenn manche wirtschaftliche N«t dabei zu überwinden ist. Schlimmer als die
Kriegsnot kann sie ja nicht werden.
Wir können unsere wichtigsten Kriegsziele durchsetzen, ohne auf den vor-
läufig noch nicht vorhandenen Friedenswillen der angelsächsischen Mächte und
Frankreichs augewiesen zu sein. Nur um uns ein tropisches Rohstoffgebiet von
genügendem Umfange zu sichern, das wir zu Lande nicht erreichen können,
brauchen wir einen günstigen Frieden mit England und Amerika. Hier beginnt
also erst eigentlich die weltpolitische Bedeutung Belgiens für uns. Unsere Kolonien
haben wir an England verloren, ober Belgien ist wichtig genug für den Insel¬
staat, daß er bereit sein wird, unseren Rückzug von der flandrischen Küste, den er
mit der Waffe nicht erzwingen kann, durch koloniale Zugeständnisse zu erkaufen.
Damit werden wir vor die Frage gestellt, wie weit wir uns aus derartigen Aus¬
tausch einlassen wollen. Mit Recht warnt, wie erwähnt, HaShagen vor der Bereit¬
willigkeit, bis zu jedem Zugeständnis zu gehen. Andererseits werden wir mit
dem bloßen Verzicht auf die blanke Annexion Belgiens wahrscheinlich wenig er-
reichen. Denn die Engländer wissen recht gut, daß wir an eine Annexion aus
innerpolitischen und innerbelgischen Gründen ohnehin kaum denken können. Sie
werden den Verzicht auf unsere flandrische Flottenbasis verlangen. Das wäre
in der Tat ein so großes Zugeständnis, daß wir dafür auf jeden Fall die Ein¬
räumung eines großen afrikanischen Kolonialreiches fordern können. Nach Vor¬
schlägen, die in den „Grenzboten" gemacht worden sind (1917, Ur. 42; vgl. dazu
meinen Aussatz in Ur. 46), kann Belgien für uns ein erträglicher Nachbar werden,
wenn es auf einer Grundlage neutralisiert wird, die jede Machtentfaltung uns
gegenüber ausschließt. Ein Belgien, das in der Lage bliebe, als militärisch-
politischer Machtfaktor gegen uns aufzutreten, wäre eine so große Gefahr für
uns, daß kein kolonialer Erwerb derartige Zugeständnisse rechtfertigen könnte.
Nur ein Belgien, das auf Heer und Kolonien verzichtet, das dem deutschen Handel
offen steht und dem Flamentum seine Selbständigkeit verbürgt, können wir militärisch
räumen. Wir können warten, bis England unter diesen Bedingungen bereit ist.
uns ein neues Kolonialreich zu überlassen. Es ist nicht nötig, daß dieses genau
dem alten entspricht. Wünschenswert ist vielmehr, daß es fester in sich geschlossen
und besser verteidigungsfähig ist. als das alte. Wir brauchen nicht Haus-m¬
allen-Gassen zu sein. Wo die Engländer und Amerikaner, die Franzosen oder
die Japaner ihre natürlichen Expansionsgebiete haben, da brauchen wir uns nicht
gerade dazwischenzusetzen. Mit Recht fordert Paul Leutwein in seiner Broschüre
„Mitteleuropa—Mittelafrika" (Dresden und Leipzig, „Globus" 1917) die Be¬
schränkung unseres Kolonialreiches im wesentlichen auf den schwarzen Erdteil,
wo Ostafrika und Kamerun durch bisher belgisches oder portugiesisches Gebiet
verbunden und abgerundet den Grundstock bilden können. Hier können wir er¬
zeugen, was Mesopotamien und Anatolien, auch wenn sie einst völlig erschlossen
sein werden, nicht liefern können. Wenn man so die türkischen Zukunftsaussichten
mit mittelafrikanischen verbindet, dürfte auch Dr. Karstedt, der in Ur. 60 der
„Grenzboten" (1917) in einem interessanten Aufsatz jene skeptisch beurteilt, dem
„kontinentalen" Programm deutscher Weltpolitik, das dem „kolonialen" gar nicht
schroff zu widersprechen braucht, etwas vertrauensvoller gegenübertreten. Für mich
ist es allerdings zweifellos, daß die wichtigsten Kriegsziele in Europa liegen und
daß die Schaffung einer möglichst in sich geschlossenen und unangreifbaren „kon¬
tinentalen" Basis wichtiger ist, als der Erwerb überseeischer Rohstoffgebiete, deren
Bedeutung an sich keineswegs verkleinert werden soll. Die deutsche wirtschaft¬
liche Expansion darf nicht auf den atlantischen Seeweg angewiesen bleiben, den
England und Amerika sperren können. Und Deutschland darf nicht in aller Welt
wirtschaftliche Positionen suchen, die es in unnötige Reibungen mit anderen
Weltmächten oder ungeeigneten Eingeborenen bringen, weil wir mit der politischen
und wirtschaftlichen Ordnung Mitteleuropas und dem Austausch mit dem Orient
und Rußland genug zu tun haben werden. Eine große Tropenkolonie brauchen
wir. Aber sonst dürfen wir unsere Kräfte nicht an Aufgaben verschwenden, die
dem eigentlichen Bereich unserer Kulturarbeit zu fern liegen. Karstedt hat mit
Recht Bedenken gegen einen etwa erneuten Versuch, eine deutsche Herrschaft über
Marokko anzutreten (a. a. O. S. 287). Vor dem Kriege hatten wir zu wenig
Raum für unsere natürliche Expansion. Wir waren in Europa eingeengt. Darum
suchten wir in aller Welt durch friedlichen Wettbewerb wirtschaftlich voranzu-
kommen und fielen natürlich den Völkern auf die Nerven, die die politische
Herrschaft an Ort und Stelle hatten oder erstrebten. Ein gewiß berufener Zeuge,
wie Karl Peters, schildert in seinen „Lebenserinnerungen" (Hamburg 1918,
S. 71 f.) unsere verkehrte Art der wirtschaftlichen Ausbreitung vor dem Kriege
folgendermaßen: „Die deutschen Proletarier strömten von Jahr zu Jahr ins Aus¬
land und fielen teilweise gleich der ausländischen Armenpflege zur Last. Zum
Teil machten sie der fremden Arbeit das, was sie unlauteren Wettbewerb nannte.
Der deutsche Arbeiter unterbot sie und drängte sie aus Brot und Stelle. Oder
der deutsche Handlungsbeflissene erschien und machte ebenfalls, was die westlichen
Völker unlauteren Wettbewerb nannten. Er arbeitete oft ganz für umsonst, lauschte
den Fremden ihre Geschäftsgeheimnisse ad und setzte dann neben ihnen ein
Konkurrenzhaus auf. Darüber klagte man in Nordamerika, in Großbritannien
und in Frankreich. Sicherlich auch in arideren Ländern. Es kann keine Frage
sein, daß der deutsche Mitbewerber teilweise auch fleißiger und geschulter war als
der einheimische und daß dies deu Haß vermehrte. In England erhob sich schon
von Anfang dieses Jahrhunderts an diesem zudringlichen Wettbewerb gegenüber
der Ruf: .elle britisn okkioe lor tre britisn olerk' (das britische Bureau für
den britischen Kommis), und damit begann recht eigentlich die heutige Deutschen¬
hetze auf der Erde.
Ganz ähnlich war es mit dem deutschen Warenvertrieb. Auch hier war
sehr oft kein ehrlicher, sondern ein unlauterer Wettbewerb durch billiges Unter-
bieten der Preise und, wie sie klagten, durch verschmitzte Kunstgriffe. Also, nicht
weil wir uns eigene Kolonien anlegten und aufbauten, entstand ein allgemeiner
Haß aus der Erde, sondern weil wir dies nicht taten und fremde Ansiedlungen
für unsere kleinlichen Zwecke ausbeuten wollten. Nicht weil ich und meine Freunde
uns nach .unserem Plätzchen an der Sonne' umsahen, sondern weil Leute wie
Eugen Richter und Ludwig Bamberger predigten: .seid doch nicht so dumm, euch
selbst um Arbeitsfelder für eure Art zu bemühen, wo ihr euch bei andern ein¬
nisten könnt', sind wir schließlich allen Völkern und Rassen ekelhaft geworden, so
daß wir uns heute gegen die ganze Welt um Sein oder Nichtsein zu schlagen
haben. DaS stete Erntenwollen, wo man nicht gesät hat, ist am Ende zu ver¬
teufelt verschmitzt, als daß es noch klug genannt werden könnte. Jedenfalls
macht es weder den einzelnen, noch ganze Völker beliebt in der Fremde."
Wir wollen uns also in Zukunft eigene Arbeitsfelder suchen, wollen selber
säen, wo wir ernten möchten und Rohstoffe und Absatz, wenn auch unter zeit¬
weiligen Entbehrungen auf eigenem oder befreundeten Gebiete suchen. Unser
künftiger Welthandel wird, wenn die Angelsachsen oder auch die Ostasiaten mehr
unter sich sein wollen, von selber neue Wege suchen, und unsere nationale Wirt¬
schaft wird gesünder dabei werden. Wir können haltbare wirtschaftliche und kolo¬
niale Positionen nicht in aller Welt erwarten, sondern müssen unsere Kräfte auf
das konzentrieren, was wir auch wirklich behaupten können, wenn wieder Welt¬
stürme hereinbrechen. Die Bewirtschaftung der Welt wird sich nicht nach der
Manchesterlehre in Harmonie der Völker, die eines Tages vielleicht vom Himmel
fallen könnte, vollenden, sondern die weltpolitisch führenden Nationen sichern sich
feste Anteile, um darauf ihr und ihrer Verbündeten Dasein zu gründen. Unsere
Zukunft als Weltvolk wächst oder mindert sich mit dem Grade der Durchführung
des Programms Mitteleuropa, der wirtschaftlichen Expansion hauptsächlich nach
Osten und Südosten und dem Erwerb einer großen Kolonialherrschaft in Afrika.
Bis zu welchem Grade für die Durchsetzung dieser Kriegsziele Belgien als
Faustpfand verwertet werden darf, suchte dieser Aufsatz anzudeuten. Belgien ist
für uns nicht Selbstzweck, wir wollen es nicht behalten. Aber es darf auch nicht
bloß Mittel zu dem Zwecke sein, auf kolonialen Gebiete Ziele durchzusetzen. Es
gibt eine Grenze der Zugeständnisse, die wir für die Wiederherstellung der bel¬
gischen Unabhängigkeit machen dürfen. In früheren Aufsätzen habe ich die belgische
Frage für sich behandelt, diesmal galt es, ihre ungefähre Stellung in der Gesamt¬
heit unserer Kriegszielfragen darzulegen. Es geht um die politische und wirt¬
schaftliche Sicherung unseres Vaterlandes und die Erhaltung der Staatenordnung,
die der Krieg in Europa geschaffen hat und die der Friede bestätigen wird. Dazu
ist Belgien in unsere Hand gegeben, daß wir den Besitz für die Durchführung
unserer Gesamtkriegsziele zu benutzen wissen, aber doch auch nicht übersehen, daß
viele von diesen Zielen ohne Berücksichtigung Belgiens erreichbar sind, und daß
wir für das übrige auf keinen Fall jedes beliebige Zugeständnis an die Unab¬
hängigkeit Belgiens machen dürfen. Der Ausgang des Krieges wird endgültig
entscheiden, ob wir es überhaupt nötig haben, bis an diese Grenze zu gehen!
nfangS November vorigen Jahres verbreitete sich die Nachricht, daß
die Absicht bestehen soll: Polen mit Galizien unter dein
M^ZM-°^W Kaiser von Österreich als polnischen König zu vereinigen und dafür
xNk^M^ » Preußen mit Kurland und Litauen zu verbinden. Die Nachricht
MMSAW-iM wurde zwar sofort dementiert: die Verhandlungen seien noch nicht
abgeschlossen, und was die Blätter über die angebliche Lösung gebracht haben,
beruhe auf Vermutungen. Diese Erklärung machte um so geringeren Eindruck,
als Graf Czernin dem ruthenischen Klub am 1. November nur versichert hatte,
die polnische und ruthenische Frage werde vor dem Friedensschluß nicht entschieden
(„Ukrainische Korrespondenz" Ur. 42/43 S. 5) und auch Ministerpräsident von Seidler
im österreichischen Abgeordnetenhause am 9. November wieder nur ausführte, man
könne noch nicht davon sprechen, daß die polnische Frage gelöst sei; es hätten nur
Vorbesprechungen mit der deutschen Regierung stattgefunden. Falls in Zukunft
das Königreich Polen eine Annäherung an die Monarchie suchen sollte, so würde
die Angelegenheit der österreichischen Volksvertretung rechtzeitig vorgelegt werden.
Der polnische Staat soll sich nach freier Wahl in Zukunft seinen politischen Anhang
suchen. Auch da also keine eigentliche Widerrufung des gemeldeten Planes. Die
Betonung der Selbstbestimmung der Polen (ein Enigegenkommen gegen den russischen
Standpunkt und die Sozialdemokraten) steht durchaus nicht im Widerspruch zu
diesem Plan, denn wir wissen, daß die Wahl der Habsburger von den Polen
oft erörtert wurde und auch in der Gegenwart in politischen Programmen Auf¬
nahme fand.*) Übrigens haben die Polen am 9. November nicht nur nicht dagegen
Stellung genommen, sondern durch Dr. Glombinski erklärt, daß sie es wünschen,
daß der österreichische Kaiser die Sache der Polen in seine Hände nehme und einer
glücklichen Lösung zuführe. Auch der Staatssekretär Dr. von Kühlmann hat das
Selbständigkeitsrecht der Völker betont, was die preußischen Polen dankend an¬
erkannten; ein Widerspruch gegen den Plan, daß die polnische Krone an die
Habsburger übertragen werden solle, ist nicht erfolgt. Von ungarischer Seite ist
den Polen wieder so viel Sympathie bewiesen worden, daß der Polenklub dafür
dem Ministerpräsidenten I)r. Wekerle den wärmsten Dank aussprach: „In seinen
Bestrebungen zur Wiedererlangung deS unabhängigen Staates zählt das polnische
Volk auf die seit Jahrhunderten erprobte Sympathie des ungarischen Volkes"
(21. November). Man weiß, daß Andrassy und sein Kreis längst schon den Stand¬
punkt des Obersten polnischen Nationalkomitees gebilligt haben (vgl. mein „Polen"
2. Aufl, S. 104) und auch jetzt diese Pläne (Anschluß an die Monarchie) fördern.
Das Gesagte wird genügen, um zu zeigen, daß das „Novembergerücht"
nicht aus der Luft gegriffen war. Nachträglich hat Ministerpräsident von Seidler
am 23. November freilich erklärt, daß die österreichische Regierung an der Einheit
des österreichischen Staates und der Aufrechterhaltung der bestehenden Grenzen
eines jeden Kronlandes festhalte. Dies könnte so aufgefaßt werden, daß jetzt keine
Absicht bestände. Galizien an Polen abzugeben. („Deutsche Volksblatt für Galizien"
13. Dez.) Ob das auch immer die Absicht der österreichischen Regierung war und
sein wird, ist nicht klar gesagt.
Wenden wir uns nun der Auffassung des „Novembergerüchtes" in der
Öffentlichkeit zu.
Aus reichsdeutscher Seite wird zwar wieder betont, daß niemand „von un5
daran gedacht hat. in Polen zu bleiben" („Tägliche Rundschau" 8. Nov.). aber
man bekämpft diese Hingabe Polens vor Abschluß des Krieges und des Friedens,
weil die Stellung Deutschlands dadurch geschwächt würde. Daher wird gegen die
„freundnachbarliche Verschleuderung" Stellung genommen. Man darf nicht dieses
„Faustpfand" aus der Hand geben („Deutsche Zeitung" 8. Nov.). Die Erregung
kehrt sich also vor allem gegen den Zeitpunkt dieser Lösung. Außerdem werden
die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen betont, die festzustellen
sind. Die „Tägliche Rundschau" hält das Habsburgische, um Galizien verstärkte
Polen freilich auch für sehr „fatal": „Noch mehr und ausschließlicher als ein
wirklich selbständiges Polen ohne Osterreich muß und wird dieses Habsburgische
Triaspolen alle seine Wünsche und Begehren auf den preußischen Osten richten,
auf unsere Ostseeküste, auf Posen, Danzig und Königsberg. Es wird wie ein
Pfahl im Fleisch zwischen uns und Österreich-Ungarn sitzen." Eine bessere Lösung
wird nicht angedeutet. Der Hinweis, daß man in Polen den österreichischen Kaiser
nach irgendwelchen angeblichen Verfassungsentwürfen nicht werde wählen können,
verdient kaum der Beachtung. Das wird doch ganz vom Willen der Polen ab¬
hängen und ein Teil der Polen ist offenbar dafür.
In Österreich nahmen schon in der Neichsratssitzung vom 9. November die
verschiedenen Parteien Stellung zum neuen Plan. Die Ausführungen der ein¬
zelnen Redner sind fast durchaus nicht sehr bedeutend. Die Ruthenen haben
wieder einmal in schärfster Weise gegen die Angliederung Ostgaliziens an Polen
gesprochen; ja sogar in diesem Falle mit dem Abrücken von Osterreich gedroht.
Der offizielle Vertreter des Polenklubs Glombinski hat die Zustimmung der Polen
erklärt (s. oben) und auf ganz Galizien Anspruch erhoben. Dagegen hat freilich
Stapinski als Vertreter der polnischen Volkspartei auf die ruthenischen Gebiete
verzichtet, aber auf den preußischen Anteil Polens Anspruch erhoben. Die Ru¬
mänen wollen den polnischen Teil Galiziens an Polen, den ruthenischen Teil
Galiziens und der Bukowina an die Ukraina fallen lassen, dagegen den rumä¬
nischen Teil der Bukowina mit Rumänien unter dem Kaiser von Osterreich ver¬
einigen. Andere Redner sprachen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker; ihnen
antwortete der Ministerpräsident mit der schon oben erwähnten Anerkennung dieses
Rechtes. Der deutsche Sozialdemokrat Seitz warnte vor Gegensätzen zum Deutschen
Reich. Kuranda hat im Namen der deutsch-freisinnigen Abgeordneten gegen die
Abtretung Galiziens an Polen gesprochen. Dagegen hat der Abgeordnete
Dr. Waldner entsprechend dem allgemeinen deutsch-österreichischen Programm er¬
klärt, daß die Deutschen die Lösung der Polenfrage in einer austropolnischen, d. h.
in einem die Belange Österreichs, der österreichisch-ungarischen Monarchie und
des Deutschen Reiches währenden Sinne wünschen; dabei sollen die Belange der
Ruthenen gebührend berücksichtigt werden. Am gleichen Tage erklärte die „Ost¬
deutsche Rundschau" in demselben Sinne: „Rückhaltslos müssen wir als Deutsch¬
nationale diese Lösung der Frage begrüßen."*) In diesem Artikel der „Ostdeutschen
Rundschau" und in einigen anderen ähnlichen Aufsätzen werden die Gründe für
die anhero-polnische Lösung erörtert.**) Es möge hier gestattet sein, in Kürze das
Wichtigste zusammenzufassen, was dafür spricht:
Schon am Schlüsse unserer Ausführungen im vorangehenden Hefte ist alles
kurz gesagt worden, was gegen die Verbindung Polens mit Deutschland spricht.
Ebenso ist es klar, daß ein selbständiges, ungesättigtes Polen (Pufferstaat) uns
gefährlicher ist, weil es feindlichen Einflüssen mehr unterworfen wäre. Eine Zu¬
rückgabe an Rußland, wie man sie mitunter als Friedenspreis gedacht hat, ist
seit der russischen Revolution unmöglich. Ein Zerschlagen Polens ist schon wegen
des am 5. November 1916 gegebenen Versprechens untunlich, würde aber auch
sonst nur zu den schwersten Verwicklungen führen, da alle Staaten den Wieder¬
aufbau Polens in Aussicht gestellt haben.*)
Es bleibt also nur die anhero-polnische Lösung, die wenigstens ein großer
Teil der Polen wünscht, wobei also das Selbstbestimmungsrecht der Völker erfüllt
erscheint. Daß der Gedanke der Übertragung der polnischen Krone an Habsburg
nicht neu ist, wurde schon oben betont.
In deutsch-österreichischen Kreisen wird die Lösung der Frage in dem an¬
gedeuteten Sinne gut geheißen,**) weil sie die Erfüllung alter Forderungen bringen
würde: Ausscheiden der polnischen Abgeordneten aus dem Wiener Parlament.
Man verspricht sich davon eine Gesundung des Staates, was auch für das ver¬
bündete Deutschland ein Gewinn wäre. Dieses gestärkte Österreich würde aber
auch für eine deutsche Richtung der Politik der ganzen Monarchie mehr Ge¬
währ bieten.
An und für sich wird das mit Österreich-Ungarn verbündete Polen sich
dem von den Habsburgern und von der Donaumonarchie treu gewahrten und
erprobten Bündnisse mit Deutschland anschließen. Man muß von diesem Polen
erwarten, daß es keine extremen Forderungen an Deutschland und Preußen stellen
wird. Die gemäßigten Krakauer Konservativen (in deren Sinne die anhero-polnische
Lösung ist) haben auf preußisch-polnische Gebiete keine Forderungen erhoben und
man darf hoffen, daß sie sich auch in Zukunft mäßigen werden. Polen selbst
wird dadurch, daß die ruhigen Krakauer Konservativen dort zur Geltung kommen,
hoffentlich in ein ruhiges Fahrwasser gelangen. Scheidet aber Galizien aus
Österreich nicht aus, so ist Gefahr vorhanden, daß nicht nur Österreich weiter
durch die slawische Mehrheit geschwächt wird, sondern daß unter Führung der
Polen eine bundesfeindliche Richtung überHand nimmt, besonders wenn aus einem
selbständigen Polen gehetzt würde. Kommt Polen unter den Kaiser von Österreich,
ohne daß Galizien mit diesem verbunden wird, so wäre diese Lösung in vielen
Beziehungen besser als ein selbständiges Polen, sie stände aber in anderen Be¬
langen der Lösung, wie sie das Novembergerücht will. nach.
Auch die Stellung der deutschen Ansiedler in dem mit Österreich verbundenen
Polen wird sich anders gestalten als in dem ganz selbständigen. Die Sicher-
Stellung der Deutschen im polnisch-ruthenischen Gebiete muß aber eine unserer
Hauptsorgen sein l Wir müssen darauf sehen, daß jede von uns geförderte Nation
auch unsere Volksgenossen berücksichtigt.
Dazu kommt, daß Preußen-Deutschland durch Gebietserweiterung im Osten
gestärkt werden soll und dadurch eine Orientierung Polens nach Osten wohl un¬
möglich wird. Osterreich sollte aber Ostgalizien als selbständige ruthenische Provinz
behalten und so die Grenzmark gegen Osten vervollständigen. Die Einbeziehung
ruthenischer und titanischer Gebiete ins neue Polen würde diesen Staat von
allem Anfang an nicht zur Ruhe kommen lassen. Im neuen Polen werden sich
namentlich Deutschland und Osterreich gewisse politische, militärische und wirtschaft¬
liche Rechte wahren müssen, Osterreich ganz besonders in Galizien, das es doch
nur unter gewissen Bedingungen an Polen abtreten kann. Galizien ist wirt¬
schaftlich und als Vorfeld von den Karpathen zu wichtig und Österreich (besonders
die österreichischen Deutschen) haben für dieses Land bisher zu große Opfer ge¬
tragen, als daß es ohne weiteres abgetreten werden könnte. Gehen gewisse
Voraussetzungen nicht in Erfüllung — Z. B. die Wahrung der Rechte der deutschen
Einwohner — dann müßte ein Rückfall (wie bei den österreichischen Legionen als
Kader des polnischen Heeres) ausbedungen werden. Auch für Ungarn ist die
militärische Deckung durch Galizien zu wichtig, als daß es Galizien in unsicheren
Händen dulden könnte. Selbstverständlich ist, daß die berechtigten Forderungen
der Polen auf Erhaltung des Absatzgebietes für ihre Industrie, Zufuhr von über-
seeischen Rohstoffen u. tgi. in mitteleuropäischen Sinne geordnet werden müssen.
Zweifellos bietet auch die anhero-polnische Lösung der polnischen Frage
manche Schwierigkeiten. Gewiß nimmt Osterreich eine große Aufgabe auf sich!
aber ein gestärktes Österreich wird ihr wahrscheinlich mehr entsprechen als ein
durch die slawische Majorität zerrüttetes. Deu gesteigerten Fieberzustand, wie er
sich im letzten Jahre gezeigt hat, kann auch die urwüchsige Kraft Österreichs nicht
für die Dauer ertragen. Ein Niederringen Österreichs durch Ungarn und Polen
im Triasreiche würde auch eine Schwächung dieser beiden Staaten selbst bedeuten:
Ungarn bekommt es schon jetzt auf seinem Leibe zu spüren, wie lästig ihm die
Tschechen und Südslawen werden, weil Osterreich nicht stark genug ist, diese Be¬
wegung niederzuhalten. Die östliche Gefahr ist aber durchaus nicht für alle Zeiten
beschworen und die mitteleuropäischen Staaten müssen auf gemeinsame starke Ab¬
wehr gefaßt sein. Hoffentlich ringt sich dieser vernünftige Standpunkt immer mehr
durch und hilft Unstimmigkeiten zu überwinden. Unwahrscheinlich ist es, daß die
religiösen Verhältnisse Grund zu irgendeiner Verwicklung bieten könnten; man
ivird sich wohl hüten, die ohnehin drohenden Schwierigkeiten dadurch unheilvoll
zu häufen. Für große religiöse Bewegungen scheint auch kein Boden mehr vor¬
handen zu sein. Wenn in reichsdeutschen Kreisen das Bedenken vorliegt, jetzt
schon endgültig die Fragen zu lösen, so sei darauf verwiesen, daß in deutsch¬
österreichischen Kreisen die Anschauung verbreitet war,- daß die besetzten Gebiete
bis zur Beruhigung der Verhältnisse militärisch zu verwalten seien"); übrigens
ist von den maßgebenden Faktoren Österreichs und Ungarns erklärt worden, daß
die Polenfrage nicht vor Friedensschluß endgültig entschieden werde (Erklärung
Czernins s. oben; Welerle sagte dasselbe 20. November).
Von größter Wichtigkeit ist, daß wegen der schwebenden Verhandlungen
zwischen den völkischen Kreisen Deutschlands und Deutsch-Österreichs keine Spannung
eintrete. So oder so, die Einigkeit zwischen Deutschen hüben und drüben tut
für alle Zukunft not.
Über die weitere Entwicklung der Verhältnisse in Polen seit dem Bekannt¬
werden des Novemberplanes ist nicht viel zu sagen. Nachdem die Berliner Re¬
gierung trotz des Widerstandes der Polen den Grafen Tarnowski als Minister¬
präsidenten zurückgewiesen hatte, ist Jan Kucharzewski, bisher Chef der Sektion
für höheres Schulwesen des Negentschaftsrates, zum polnischen Ministerpräsidenten
ernannt worden. Der Regentschaftsrat findet Anerkennung (auch aus Galizien).
Die aktivistischen Parteien Polens schließen sich der Regierung an und versprechen sie
zu unterstützen. Einzelne polnische Blätter (so „Godzina Polski"), weisen mit Ent¬
schiedenheit die Passivistische Partei und ihre Blätterstiminen in Rußland und
Frankreich, die in Polen die Schaffung einer Regierung und eines Heeres nicht
zulassen, zurück. Ministerpräsident Kucharzewski hat im Dezember in einer Unter¬
redung mit den polnischen Redakteuren betont, daß die Aufgaben der Regierung
schwierig seien, da es an Männern fehlt, die die Tradition eines staatlichen Aufbaues
besitzen; man werde daher Leute aus anderen Gegenden Polens zuziehen müssen.
Die rasche Schaffung einer Armee sei äußerst wichtig, doch seien die Gerüchte
einer Kriegserklärung an Rußland (vgl. oben) irrig. Nach weiteren Nachrichten
sind auch Verhandlungen über die Gestaltung der Heeresverwaltung im Zuge;
damit hängt wohl auch die Nachricht zusammen, daß Kaiser Karl am 15. Dezember
eine polnische Abordnung in Angelegenheit der polnischen Legion empfangen hat.
Auch die Errichtung polnischer Gesandtschaften wird gewünscht; doch tritt z. B.
der Krakauer „Czas" in einem auch sonst sehr klugen Artikel diesen übereilten
Forderungen und dem Treiben der Nationaldemokraten überhaupt entgegen
(24. November). Andererseits hielt aber Prof, Römer, der Herausgeber des gro߬
polnischen Atlasses, in Lemberg einen Vortrag über die Notwendigkeit der Meeres¬
küste für Polen (24. November) und in Warschau veranstaltete die polnische Jugend
auf Veranlassung der Pilsudski ergebenen freien polnischen militärischen Organi¬
sation eine Kundgebung, die blutige Zusammenstöße herbeiführte (9. Dezember).
Auch fehlt es nicht an Spannung zwischen dem Ministerpräsidenten Kucharzewski
und den nicht aktivistischen Gruppen („Kurjer polski" vom 5. Dezember).*)
v^-^^le Gewitter, die sich gegen Herrn von Kühlmann in der Heimat
wegen des Verlaufes der Brester Verhandlungen zusammengezogen
halten, beginnen sich zu verziehen, seit er den Nachweis erbringen
konnte, daß die russische Berichterstattung darüber falsch war. Die
Russen selbst haben es bescheinigt. Im übrigen hat das Interesse anBrest-
Litowsk merklich abgeflaut nach demHervortreten von Lloyd George und
Wilson. Ihre Friedensbedingungen besagen, daß in Brest ein allgemeiner Frieden
nicht geschlossen wird. Damit aber verringert sich die Bedeutung der dort ge¬
pflogenen Verhandlungen auf das Matz einer Episode, keiner alltäglichen zwar,
aber doch einer vorübergehenden. Das Hauptinteresse wendet sich dem großen
Weltgeschehen im Westen zu, der Armee und ihren Unternehmungen, den kriege¬
rischen Maßnahmen der Feinde, der Niederwerfung Englands und — vielleicht
in noch höherem Maße den Beschlüssen, die der Kaiser in diesen Tagen als Ziel-
setzung des Separatfriedens mit Rußland gesucht hat. Wir wissen, daß außer
unseren Heeiführern Hindenburg und Ludendorff auch der Kronprinz nach Berlin
gekommen ist. während kurz vorher die polnische Regierung unter Führung des
Schloßhauptmanns von Posen. Grafen Hütten-Czapski. ihre Antrittsbesuche in
Berlin abgestattet hat. — So schön ein baldiger allgemeiner Frieden wäre, so
traurig es ist, daß immer noch geopfert werden muß, um dem Briten die Gleich¬
berechtigung auf der Erde zu Wasser und zu Lande abzuringen, so liegt doch in
der Hoffnung, nun unter günstigeren allgemeinen Bedingungen ganze Arbeit
machen zu können, ein gewisser Trost und die Aussicht dafür, daß auch die bis¬
herigen Opfer ihren vollen Lohn bringen sollen.
Brest ist von einem Markstein der Weltpolitik zu einem solchen der Kon¬
tinentalpolitik herabgesunken. In Brest handelt es sich nicht mehr um die ganz
großen Menschheitsfragen, über die sich die Menschen doch niemals verständigen
werden, sondern um die praktischen Lebensfragen der Völker dreier Staaten, denen
sich Bulgarien und die Türkei beigesellt haben.
Wir brauchen somit wegen des entwichenen Friedens die Köpfe nicht
hängen zu lassen. Wir stehen wieder auf dem festen Boden der Tatsachen. Noch
viel weniger haben wir Ursache, den Russen anders gegenüberzutreten. wie es bei
den Waffenstillstandsverhandlungen der Fall war. Wenn uns auch der Friede
mit einem Volke willkommen ist, gegen das wir nur mit starkem inneren Wider¬
streben ins Feld gezogen sind, so sind doch nicht wir diejenigen, die den Frieden
um jeden Preis haben müssen. Der zweite Akt der Brester Verhandlungen könnte
daher unter recht erfreulichen Aussichten, auch diplomatischer Art, beginnen,
wenn unsere Unterhändler und alle Teile der Berliner Regierung, namentlich aber
auch alle politischen Parteien sich der Stärke unserer Stellung im Osten bewußt
wären. Daß die nächsten Verhandlungen ganz ohne Überraschungen verlaufen
sollten, ist nicht anzunehmen. Schon am 9. dieses Monats mußte die Sitzung
zuerst bis 4 Uhr nachmittags, dann bis zum folgenden Tage unterbrochen werden.
Am 10. wurde bekannt, daß die ukrainische Abordnung nicht als eine Unter¬
kommission bei den Russen zu betrachten sei, sondern als Vertreterin des selb¬
ständigen Staates Ukraina; schließlich haben die Donkosaken, die durch Kaledins
Hauptquartier noch mit der Entente in freundschaftlichen Beziehungen stehen und
direkten telegraphischen Verkehr mit der englischen Heeresleitung in Mesopotamien
aufrechterhalten, die Ukrainer in Brest als ihr Verhandlungsorgan erklärt! Da-
neben hat die Zusammensetzung der Unterhändler eine Ergänzung erfahren, die
der glatten Abwicklung der Verhandlungen nicht günstig erscheint: die polnischen
Vertreter dürften in diesen Tagen in Brest-Litowsk als Berater eintreffen. Nach
der Rede des polnischen Abgeordneten in der Wahlrechtskommission des preu-
tzischen Abgeordnetenhauses dürfen wir annehmen, daß die Polen ihre Haupt-
aufgäbe darin sehen werden, auch von Brest aus vor allen Dingen internationale
Bezieh ngen anzuknüpfen und auszubauen, die sie gegen uns verwenden würden.
Nachdem die Westmächte darauf verzichtet haben, auf dem Boden eines all¬
gemeinen Friedens ohne Gebietsabtretungen und Entschädigungen mit uns zu
verhandeln, geht es in Brest darum, eine Grundlage zu finden, auf der zwischen
den Mächten Mitteleuropas nebst Bulgarien und der Türkei einerseits und den
im Entstehen begriffenen russischen Staaten ein auf Treu und Glauben aufgebautes
Verhältnis errichtet und bestehen bleiben könnte. Für die russischen Vertreter
sollte es dabei im Augenblick darauf ankommen, alle kulturellen Kräfte des Landes
frei zu machen, um sie in den Dienst des inneren Wiederaufbaues ihres Landes
zu stellen, während unsere Vertreter darauf bedacht sein müssen, Mitteleuropa
vor einem übergreifen der russischen Krankheit, möge sie als anarchischer Sozia-
Iismus oder als Panslawismus oder sonstwie auftreten, zu behüten und doch alle
Brücken zu bauen, die einmal zur Verständigung der beiden ungleichen Staaten¬
komplexe sichren möchten. Wir wissen aus den Worten, die General Hoffmann
am 9. d. M. gesprochen hat, sowie aus vielfachen Erfahrungen an der Front, daß
die Russen den Waffenstillstand insofern für sich auszunutzen versuchten, als sie
in die Reihen unserer Truppen revolutionäre Propaganda hineinzutragen strebten.
Jetzt hören wir, daß der Leiter dieser P>opaganoa, Genosse Radek, zugleich Direktor
der staatlichen Se. Petersburger Telegraphen-Agentur ist. die die falschen Berichte
über den Verlauf der Verhandlungen in die Welt gesandt hatte. Solche Erfah¬
rungen erschweren eS naturgemäß unseren Unterhändlern, den Russen mit vollem Ver¬
trauen zu begegnen und zwingen sie, Sicherung gegen Attentate auf unsere
Staatseinrichtungen auf praktisch erprobten Wegen zu suchen. Die allgemeine
Aufgabe unserer Unterhändler im zweiten Abschnitt des Friedens von Brest, wenn
ein solcher zustande kommen sollte, wird sein, die politische Befestigung der Siche¬
rungen, die bisher die Armee geschaffen hat, unter allen Umständen herbeizuführen.
Die Aufgabe sieht angesichts des bei den Russen tatsächlich vorhandenen
Friedensbedürfwsses sehr einfach aus. Sie ist es aber durchaus nicht, denn sie ist
bepackt mit unsern Fehlern in Polen, mit den Fehlern de? ersten Verhandlungs-
abschnitts und darüber hinaus mit den historischen Voraussetzungen des deutsch-
österreichisch-ungarischen Bündnisses, hinter denen die alten politischen Kampfrufe:
Hie Großdeutsch! Hie Kleindeulsch! wieder laut werden. Dazu gesellen sich er-
schwerend die Nerven zerreibenden Stimmungen in Berlin, die aus mnerpolitischen
Gesichtspunkten von gewissen Kreisen wachgehalten werden. Von den Ukrainern aber
hören wir panslawistische Motive anschlagen, wenn sie in ihren Friedensgrundsätzcn
„das volle nationale Selbstbestimmungsiecht" „auch dem kleinsten Volke in jedem
Staate sichern" wollen. Wir gehen sicher nicht fehl, wenn wir annehmen, daß
dies mit der gleichen Absicht geschehen ist. wie jene Propaganda der Maxi-
malisten.
Von den Fehlern in Polen wollen wir ein andermal ausführlich sprechen.
Die Fehler des Herrn von Kühlmann? Herr Lloyd George hat unsern Chef der
Diplomatie jedenfalls aus recht peinlicher Lage befreit, als er nach Verstreichen
der Frist noch sein Friedensprogramm oder richtiger seine neue Kriegserklärung
gegen uns schleuderte. Herr von Kühlmann scheint von dieser Entlastung keinen
Gebrauch zu machen. Welche Gründe innen- und außenpolitischer Natur
man heranziehen möchte, um sich seine Art, vorzugehen, zu erklären, sie
verdient entschiedenste Zurückweisung, weil sie dem Gegner, überdies in einer
Form, die weder der tatsächlichen Machtstellung der Mittemächte, noch der
Würde der Unterhändler entsprach, die Wege offenbarte, die unsererseits im
Osten eingeschlagen werden sollten. Nur wenn Herr von Kühlmann die Berech¬
tigung hatte, zu glauben, durch Verständigung mit den Engländern über die
Formel vom Selbswestinnnuii gerecht der Nationalitäten zu einem Vertrage kommen
zu können, vielleicht, indem man sich gewisse Besitzrechte gegenseitig garantierte,
duifte er es wagen, den betretenen Weg zu gehen. Denn für so töricht konnte
er doch die Engländer nicht halten, daß sie seine unausgesprochenen Vorbehalte
nicht erkennen würdenl Das Ergebnis des Kühlmannschen Schachzuges ist denn
auch nur sehr niedrig einzuschätzen. Die Figuren, die er geopfert hat, werden
durch den erzielten Gewinn nicht aufgewogen.
Der Gewinn besteht in der amtlichen klaren Darlegung der Kriegsziele und
Friedensbedingungen Englands, die noch ein besonderes Gewicht erhalten durch
die feierliche Form, mit der der Präsident Wilson diejenigen der Vereinigten
Staaten von Nordamerika dargelegt hat. In beiden Dokumenten steht
nichts, was wir nicht schon längst gewußt hätten; sie unterscheiden sich von früheren
Kundgebungen nur durch die äußere höflichere Form. Daß die Herbeischaffung der
Papiere so notwendig gewesen wäre, um die Stimmung beim deutschen Volk zu
heben, bestreite ich. Denn weder Berlin, noch die Neichstogsmehrheit vom
19. Juli 1917 stellen das deutsche Volk dar. Ich halte die Herausforderung
des Dokuments auf dem betretenen Wege für schädlich, unserer militärischen Lage
abträglich durch die Wirkung, die es er England und Frankreich haben konnte
und auch tatsächlich hat: Herrn von Kühlmanns durchaus irrige Auffassungen vom
Wesen des englischen Menschen, die uns schon irregeführt haben, als er noch
nächster Mitarbeiter des Fürsten Lichnowsky in London war. haben das
englische Volk zusammengeführt, den beginnenden Riß zwischen den englischen
Imperialisten und Arbeitern sich wieder schließen lassen. Darauf deuteten wir
hin. als wir vor vierzehn Tagen das erneute Friedensangebot als in „jedem
Falle schädlich" bezeichneten.
Ebenso unpraktisch scheint mir der Weg gewählt zu sein, den unsere Unter¬
händler in Brest für die Erledigung der Wirtschaftsfrage gehen. Aus dem Bericht
des Direktors im Auswärtigen Amt Geheimrat Johannes im Hauptausschuß des
Reichstages wissen wir, daß von unserer Seite darauf ausgegangen wird, mit
Rußland den Handelsvertrag von 1904 langfristig zu erneuern und die Meist¬
begünstigung durch Rußland für mindestens zwanzig Jahre festzulegen. Die
russischen Herren sträuben sich dagegen. Sie sträuben sich, nicht gestützt auf
praktische Kenntnis der Wirkung jenes Handelsvertrages, sondern lediglich gefühls¬
mäßig. Sie geben selbst zu, die wirtschaftlichen Fragen nicht genügend zu be¬
herrschen, um sich binden zu können. Tatsächlich sind bei dem Vertrage Deutsch¬
land und Rußland gut gefahren, — wir haben das vor dem Kriege im einzelnen
nachgewiesen;*) zu kurz gekommen sind nur unsere englischen und französischen
Wettbewerber, bzw. ihre russischen Agenten in Petersburg und Moskau. Sie
waren denn auch die Träger der deutschfeindlichen Wirtschaftspropaganda in Ru߬
land vor dem Kriege. Durch sie war schon fast das gesamte arbeitende Rußland
zu der Überzeugung gebracht, daß die Rückständigkeit des Landes, auch die poliiische,
in erster Linie auf die wirtschaftliche Ausbeutung durch Deutschland zurückzuführen
sei. Der Handelsvertrag soll nur unter dem Druck des russisch-japanischen Krieges
zustande gekommen sein. Das durch den Brief unseres Kaisers an Zar Nikolaus
längst widerlegte Märchen von der deutschen Gegnerschaft gegen liberale Reformen
geht immer noch um. Nicht nur das liberale, auch das konservative Nußland hatte
die Propaganda gegen den deutschen Zolltarif auf seine Fahnen geschrieben. Und
nun soll vor allen Dingen gerade die Bedingung der Annahme dieses Zolltarifs
an erster Stelle im Friedensverträge stehen. Eine solche Taktik hätte vielleicht
Sinn, wenn dadurch an anderer Stelle Vorteile für uns Heraussprüngen, — z. B.
als Kompensationsobjekt oder um der gegenwärtigen Regierung in Rußland
möglichst viele und große Steine in den Weg zu werfen. Wir glauben
nicht, daß diese Absicht besteht. Hier geschähe es überdies mit untauglichen Mitteln
und — auf den Schützen springt der Pfeil zurückl Wir würden uns selbst viel
mehr schaden, wie der maximalistischen Regierung, wenn wir sie unter die Be¬
dingung der Annahme des Handelsvertrages zwängen, denn wir spielten unseren
Feinden in und außerhalb Rußlands das vorzüglichste Propagandamittel gegen
uns in die Hände und erschwerten uns die Neuanknüpfung der Handelsbeziehungen
mit dem arbeitenden Rußland durch das Mißtrauen, das wir da hineinsäen.
Unsere künftigen Beziehungen zum russischen Volke sollten nicht belastet werden
durch einen Handelsvertrag, der ihm in schwerer Stunde aufgenötigt nur eine
ähnliche politische Stimmung erzeugen würde, wie der von 1904. Hier gilt es
entweder die Russen von ihrer Voreingenommenheit abzubringen, was um so sicherer
erfolgt, je weniger Wert wir auf die Erneuerung des Handelsvertrages legen,
oder uns selbst der Volksstimmung drüben anzupassen.
Über die bisher angewandte Art des Vorgehens ließe sich vielleicht eine
Verständigung erzielen, wenn es sich um dieselbe russische Regierung handelte,
die uns mit Krieg überzog und sich ein Interesse fände, dieser Regierung das
Leben so sauer wie möglich zu machen, wenn Rußland sich überhaupt in einem
Zustande befände, der demjenigen von vor dem Kriege nahe käme. Tatsächlich
besteht das alte Rußland, mit dem der Handelsvertrag von 1904 abgeschlossen
wurde, gar nicht mehr: das Hauptland ist geborsten in Moskau und Kijew (zwischen
beiden können sich sehr tiefe wirtschaftliche und politische Gegensätze entwickeln,
besonders wenn Kijew als llberschußlcmd seine überragende Bedeutung für
Moskau voll erkennt), — Finnland ist abgesprungen, die größere Hälfte der
baltischen Provinzen, Litauen, Teile von Weißrußland und Polen befinden
sich teils als Faustpfänder, teils unwiderruflich in unserer Hand; wie es um
den Kaukasus und Sibirien steht, entzieht sich unserer Kenntnis. Und ein¬
schneidender noch als dies ist die Tatsache, daß, soweit die Macht der Lenin und
Trotzki reicht, das Privateigentum aufgehoben und das Land zu sozialpolitischen
Experimenten aller Art hergerichtet ist. Von dem Bürgerkrieg gar nicht zu reden:
wäre er nicht schon da, so dürften wir seinen Ausbruch jede Stunde erwarten.
Die Zustände im heutigen Rußland sind unhaltbar, sind ein Provisorium ohne
Kredit und ohne Vertrauen, und unserer wirtschaftlichen Zukunft über das Provi-
sorium hinaus Fesseln anzulegen, hieße blühendes Leben an einen Leichnam ketten.
Die Bindung wäre einseitig. Wir, unsere Landwirtschaft, Industrie und Handel,
wären gebunden, nicht die Russen.
Einen solchen Frieden mit Rußland wünschen wir uns nicht! Ich schrieb
schon vor einigen Wochen: der Abschluß eines langfristigen Handelsvertrages mit
Rußland kann nicht die Aufgabe unserer Unterhändler sein. Was in dieser Stunde
wirtschaftlich zu erreichen ist. sind Abmachungen über den primitiven Warenaus¬
tausch, wie ihn der Krieg erfordert. Selbst beim besten Willen der jetzigen Macht¬
haber ließe mehr sich zurzeit praktisch schon deshalb nicht erreichen, weil die
anarchischen Zustände im russischen Inlands einen sichern Handelsverkehr gar nicht
zulassen. Im übrigen wollen wir die Vorbereitung guter Beziehungen mit dem
arbeitenden, friedliebenden Rußland, keinen Eintagserfolg, den jede neue Volks-,
erhebung umstößt! wir wollen den Regierungen des russischen Landes, gleichgültig
wie sie innerlich aufgebaut sein mögen, die dem russischen Volke einmal den innern
Frieden wiedergeben, als Freunde gegenüberstehen können, als Freunde, die
ihnen helfen den Weg auch kulturell nach Europa zurückzufinden. Die Russen
und Deutschen sind aufeinander angewiesen: wirtschaftlich und Politischi Bis
solche Regierungen sich gefunden haben, kann Brest-Litowsk nichts anderes bleiben,
als ein Vorfrieden, der dem Volk Zeit zur Selbstbesinnung gibt. Die Stellung
des geachteten Freundes erwerben wir uns aber nicht durch schwächliches Zurück¬
weichen von den großen Aufgaben, vor die uns die Geschichte gestellt hat.
Damit sind wir angelangt bei den praktischen Aufgaben, die in Brest
Je klarer uns geworden ist, daß wir um unsere Weltmachtstellung, um die
Freiheit auf dem Meere, das Recht Kolonien zu erwerben und in allen Orten
der Eide Handel zu treiben gezwungen sind, mit England einen Kampf auf Leben
und Tod zu führen/) um so bewußter müssen wir uns auch sein, daß wir diesen
Kampf auf die Dauer in Ehren nur bestehen können, wenn unsere rückwärtigen konti¬
nentalen Verbindungen unbedingt in Ordnung bleiben oder, wo sie in Unordnung
geraten, wieder in Ordnung kommen. Bei dieser Forderung handelt es sich nicht
allein um die Frage des wirtschaftlichen Durchhaltms und der Bewegungsfreiheit
auf allen Verkehrswegen; in noch höherem Matze geht es um die Festigkeit der
politischen Beziehungen der Mittemächte zueinander und um ihr Verhältnis zu
den geworfenen Gegnern von gestern. Denn schließlich wächst unser politischer
Einfluß auf der Welt in dem Maße, wie die Zahl und Größe der Völker
und Staaten auf dem Kontinent sich vermehrt, deren Wohlergehen mit dem
unsrigen steigt und fällt. Eine kräftige deutsche Weltpolitik hat zur Voraussetzung
eine kluge, Interessengegensätze ausgleichende — beileibe nicht schwächliche Konti¬
nentalpolitik. Daher liegt es für uns nahe, an Gedankenreihen aus Zeiten des
Aufstiegs anzuknüpfen und den Versuch zu machen, mit veränderten Mitteln
zu ähnlichen Ergebnissen zu gelangen wie ursere Großeltern. In Brest-Litowsk
könnten die Fundamente zu einer unsere Zukunft sichernden Kontinentalpolitik
gelegt werden.
Die Vorbedingung dafür wird immer sein, daß wir unsere durch ein halbes
Jahrhundert mit größter Mühe und Selbstverleugnung kunstvoll aufgebauten Be¬
ziehungen zur Habsburgischen Doppelmonarchie vertiefen und in jeder Richtung
ausgestalten. Dazu gehört, daß nicht Faktoren in die mitteleuropäische Politik
hineingetragen werden, die diese Beziehungen nur mit neuen Gewichten belasten
können und die angebahnte Entwicklung stören. Ein solcher Faktor wäre u. a.
eine Lösung der Polenfrage, die nicht alle kulturellen und politischen Interessen
der beiden Hauptmächte berücksichtigte. Es wäre verwerflich und würde das
deutsche Volk am schwersten belasten, wenn die Rcicvsregierung den Lockungen
derer folgte, die uns eine Lösung schmackhaft machen wollen, die ein selbständiges
Polen mit einer Persönlichkeit als König vorschlagen, von der erzählt werden
kann, sie stünde mit dem regierenden Habsburger nicht in den besten Beziehungen.
Eben weil jene Persönlichkeit feindliche Gesinnungen gegen Kaiser Karl hegen soll,
dürfte sie von uns aus als König von Polen nicht in Frage kommen Wir wollen
durchaus vertrauenswürdige Beziehungen mit Habsburg haben, keine 8oc:iötiis
leoninÄl*)
Demnächst müssen wir unserem Staat eine Einfriedigung geben, die die
Begehrlichkeit unserer Nachbarn in Schranken hält. Nun wir berufen sind durch
die Verhandlungen in Brest, unsere Ostgrenze sicherzustellen, haben wir uns
Klarheit darüber zu geben, was Sicherheit im Osten heißt. Politische Sicher-
heiten setzen sich aus mehreren Fakioren zusammen, und es heißt sie alle zu
einem Mosaik zusammenzufügen, wenn sie auch reckt gegensätzlich annuler und
ästhetisch verschiedenartig wirken, Asthetentum und Roma til gehören nicht an den
Tisch der Friedensunterhändler, das sind Hilfsmittel der Parteiagitation.
Angesichts des Gärungsznstandes in russischen und polrusctien Landen sowie
der augenscheinlichen panslawistischen Tendenzen in Osterreich und Rußland, bei
völliger U- Möglichkeit schon heute zu übersehen, welche Leidensri'kge die Völker
des Ostens noch zu durchlaufen haben werd>n. ehe sie zu einer gesicherten staailichen
Exinenz kommen, liegt die Aufgabe unserer Unterhändler in Brest i» der Her¬
stellung solcher Sicherungen, die sowohl den Russen wie uns die Möglichkeit geben,
jeder seine Angelege selten ungestört durch den andern erledig n in können.
Wir wollen los mitteleuropäisch konsolidieren und in der Weltpolitik Eng¬
land geginuber ein für allemal durchsetzen; die Russen wollen die Schäden lang¬
jähriger Mißwirtschaft auf dem Wege durch s'aatliche Experimente selten. Die
Folgen dieser Experiment könnten sich auch bei uns bemelkbar machen, wenn wir uns
nicht entsprechend schützen. Je fester und uncmtanbarer die Gre> zen zwischen uns
sein werden, um so größer wird auch die Sicherheit für beide Teile bleiben, sich
nach Gutdünken zu Haus einzurichten, und um so größer werden die Freiheiten
sein, die die Staaten ihren Angehörigen einräumen können. Gute militärische
Grenzen gegen Rußland sind die hauptsächlichste Voraussetzung für eine liberale
und demokratische Ausgestaltung unseres politischen Lebens im Innern,
Unser Schutz im Osten ist zwiefach zu begründen: militär-politisch und
Staats-politisch. Der militär politische Schutz besteht im wesentlichen in der
Schaffung solcher Grenzen, daß es keiner östlichen Konstellation von Mächten
in den Sinn käme, diese Grenzen anzugreifen und überrennen zu wollen. Diese
Grenzsicherung ist überhaupt das Mindestmaß dessen, was wir bedürfen; Ostpreußen,
Posen, Schlesien dürfen nicht in der Gefahr bleiben, von einem östlichen Gegner
überschwemmt zu werden.
Daraus ergibt sich auch unabhängig von einer Lösung der Polenfrage die
Notwendigkeit des Überganges eines breiten Schutzstreifens in Polen und Litauen
in deutschen (preußischen) Besitz unter möglichster Aussiedlung der nicht deutschen
Bevölkerung. Den Verlauf des Schutzstreifens zu bestimmen, ist allein Sache der
Obersten Heeresleitung, Diese Forderung den Russen gegenüber ohne jeden Vor¬
behalt durchzusetzen, ist die erste und wichtigste Aufgabe Herrn von Kühlmanns.
Wer den Ernst dieser Forderung in seinen tiefsten Tiefen begreifen will, der
greife nach dem II. Bande von Hermann Stegemanns „Geschichte des Krieges"
und schlage das Kapitel „Der Feldzug im Osten vom 12, September bis 5, November
1914" auf. Dort heißt es, daß Hindenburg sich aus Suwalki zurückziehen mußte,
also die ostpreußische Grenze feindlichem Einmarsch öffnen, um die Gefahr zu be¬
heben, „daß die österreichisch-ungarische Armee erdrückt oder in die Beskidenlücke
und die Mährische senke abgedrängt würde. Die Szenenführung auf dem öster¬
reichischen Kriegstheater .... war viel mehr vom Verhalten des Angreifers ab¬
hängig als im Westen . . ." (S. 155,6). „Als die österreichischen und ungarischen
Streitkräfte zehn Tage später (am 25. September) hinter dem Dunajez eintrafen
und sich dort neu ordneten, erschienen die Spitzen Hindenburgs bereits in Süd¬
polen. Von diesem Augenblick an war der Feldzug im Osten auf eine neue
Grundlage gestellt Trotzdem marschierten und fochten noch deutsche Truppen in
scheinbarem Verfolgungseifer westlich des Njemen und täuschten eine große Armee
vor. ... der Lärm dieser kriegerischen Bewegungen hallte in den russischen
Gouvernements... so laut wider, daß die russische Heeresleitung das Rollen
der Eisenbahnzüge überhörte, die Tag und Nacht über Thorn und Posen nach
Süden leuchten.....Es war hohe Zeit, Noch hielten sich einige österreichische
Brückenköpfe am San und die Außenstellungen von Przemysl gegen russische An¬
griffe, aber schon waren sie nur noch Inseln in der steigenden Russenflut . ..."
(S. 159,) „Die Vernichtungsschlacht bei Tannenberg ... war zu ertragen, so
lange die Deutschen nicht über Mlawa und Wlozlawek auf Warschau marschierten
und die Weichsellinie aufrollen konnten" (159/60).
Wir mußten unsere Verteidigung im Osten bis zum 3. November 1914 in
strategisch nachteiligen Stellungen führen (S. 256). Mit wieviel Opfern an
Menschen und Gut mußte dieser Nachteil ausgeglichen werdenl Hätten wir durch
entsprechende Aufmarschmöglichkeiten im Osten nicht mit denselben geringeren Opfern
schon damals einen Frieden mit Rußland erzwingen können, der uns zum
mindestens vor drei Kriegsjahren gegen Rußland bewahrt hätte! ? Nie und nimmer
dürfen wir unsere Verteidigung in die Lage versetzen, wie sie 1914 bestand, das
aber würde die Regierung tun, wenn sie anstatt die Verteidigung in unsere
eigene Hände zu legen, sie anderen Völkern, geschweige den Polen und Litauern
anvertrauen wollte.
Beide, Polen und Litauer, brauchen dennoch nicht vollständig aus dem Rechen¬
exempel auszuscheiden, das es zu lösen gilt. Darum ist auch die weitere Auf¬
gabe der Verhandlungen in Brest, zu einer vorbehaltslosen Verständigung über
die Zukunft der besetzten Gebiete östlich des Schutzstreifens zu gelangen. Das
Ziel muß sein: das Baltikum entweder als preußisches Kronland oder mit einem
eigenen deutschen Fürsten und Litauen unter einem deutschen Statthalter wird als
deutsche Interessensphäre anerkannt, wobei Litauen ruhig den Charakter des Faust¬
pfandes Rusland gegenüber behalten möge. Polen bleibe es frei, sich gleichfalls
vorbehaltslos mit Rußland zu verständigen, — nachdem seine Führer es abgelehnt
haben, sich an die Seite Preußens zu stellen, haben wir an der Gestaltung seiner
inneren Verhältnisse kein Interesse mehr und können es sich selbst überlassen.
Daß über den Territorialfragen die Verhandlungen scheitern könnten, möchte
ich bezweifeln: es sei denn, daß der propagandistische Wille der Sozialanarchisten
stärker sei als ihre politische Einsicht. Wird den Moskaner Kaufleuten der Handels¬
verkehr über Riga nach Möglichkeit erleichtert, so werden die modernen Russen
gar nicht zu dem Bewußtsein kommen, russisches Land verloren zu haben.
Höchstens bei Teilen von Litauen mag sich ein historisches Gefühl regen.
Die gegenwärtige russische Regierung würde durch den Wiedcrerwerb der West¬
provinzen wahrscheinlich noch mehr in ihrer Stellung gefährdet werden, wie
sie es schon jetzt ist, wenn sie auch durch die zahlreichen in Polen und Litauen
sitzenden Juden eine Stärkung erfahren würde. Im besten Falle würden wir also
das Land der Anarchie ausliefern.. Damit gewonnen wir uns weder Vertrauen
noch Achtung. Schwierigkeiten dürfte es allerdings bereiten, die Verträge so
abzuschließen, daß sie als endgültig keiner internationalen Konferenz mehr vorgelegt
zu werden brauchten. Jeder polnische Staat, auch ein mit Osterreich Ungarn ver¬
bundener, würde die Dinge zu einer internationalen Behandlung treiben, schon
um Bundesgenossen gegen die Denischen zu gewinnen. Mit der Ukraina könnten
unter gewissen Voraussetzungen trotz ihrer starken Verbindung mit dein Kapital
der Westmächte vorbehaltlose Verträge abgeschlossen werden, während Moskau sich
schwerer dazu entschließen würde. Jedenfalls ist nichts unmöglich in dieser Be¬
ziehung, namentlich, da es nach den Worten Trotzkis gegen Schluß der Sitzung
vom 12. d. Mes. den Russen sehr darauf ankommt, eine Sicherheit dafür zu er¬
halten, daß die Mittemächte sich nicht in die inneren Verhältnisse Rußlands ein¬
mischen. Die Frage mußte kommen! sie stellt den Höhepunkt des Zweiten Aktes
von Brest dar. Es handelt sich um einen Friedensfühler der Roten Inter¬
nationale, der vielleicht zu einem Waffenstillstand mit ihr führen könnte. Lüi bono?
Vergessen wir nur das eine nicht: die Ordnung der kontinentalen Verhält¬
nisse, die jetzt in Brest-Litowsk eingeleitet wird, ist nicht Selbstzweck! Sie ist
vielmehr bestimmt, unserer Stellung in der Welt gegen die noch ungebrochenen
Westmächte, besonders gegen die Briten, eine sichere Grundlage zu schaffen. Brest-
Litowsk bedeutet im besten Falle einen Vorfrieden. Darum darf er.uns auch
nicht das geringste von dem kosten, was mir als Faustpfänder militärisch für den
allgemeinen Frieden uns erwarben.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck siimtlichcr Aufsiitzc nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags «.«stattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Verum-Lichterselde West. — Manuslriptsendungeu und
Bricke werden erbeten unter der Adresse?
An die Schristlcituni, der Gr-und-ten in Berlin SV 11, Tempelli-her Ufer SS».
Fernsprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Verlags und der Schriftleitung: Amt LüSow Will.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer S5a,
Druck: „Der Reichsbote" W. in. b. H. in B-ritu LV11, Dessauer Straße SS/S7.
I as öffentliche Interesse, das in den letzten Wochen fast ausschließlich
von den östlichen Dingen, insbesondere den Verhandlungen von Brest-
Litowst in Anspruch genommen war, beginnt sich seit dem Zusammen¬
tritt der Wahlrechtskommission am 11. Januar wieder in steigendem
I Maße der Umbildung des preußischen Landtages zuzuwenden. In
der einmonatigen Pause zwischen der ersten Beratung der Verfassungsvorlagen im
Abgeordnetenhause (5. bis 11. Dezember) und dem Beginn der Kommissionsarbeiten
hat sich wenig oder nichts ereignet, was auf die Aussichten der Vorlagen ein neues
Licht zu werfen geeignet wäre. In der optimistischen Auffassung, die ich hier vor
vier Wochen vertreten habe, bin ich auch durch den bisherigen Verlauf der Kommssions-
beratungen nicht irre geworden. Nach der Zusammensetzung der Kommission war
von vornherein zu erwarten, daß in ihr zunächst die Bedenken gegen das gleiche
Wahlrecht in den Vordergrund treten würden. Ausschlaggebend Pflegen aber bei
Vorlagen von solcher Tragweite nicht die Kommissions- sondern erst die Voll¬
verhandlungen zu sein. Und im Schoße der Parteien werden mehr und mehr
Stimmen laut, die von günstiger Vorbedeutung für das endliche Schicksal der
Vorlagen sind. Unumwunden hat ein so hervorragendes Mitglied der Zentrums-
fraktion des Abgeordnetenhauses, wie der Oberlandesgerichtsrat Marx in einer am
80. Dezember in Münster stattgefundenen Versammlung der westfälischen Zentrums¬
partei anerkannt: das Zentrum habe seit vierzig Jahren das gleiche Wahl¬
recht zu einer seiner Hauptförderungen gemacht und könne heute diesen Grund-
satz nicht verleugnen. „Die Zentrumspartei ist verurteilt, wenn sie das
gleiche Wahlrecht ablehnt: das überlebt sie nicht, wenn sie das ablehnen würde,
was sie seit vierzig Jahren verkündet hat." Danach wird man annehmen dürfen,
daß das Zentrum schließlich mit verschwindenden Ausnahmen für das gleiche
Wahlrecht eintreten wird. Auch innerhalb der nationalliberalen Partei, deren
hervorragendste Vertreter, wie Stresemcmn und Schiffer Ende März im Reichstage
nachdrücklich den Grundsatz der vollen staatsbürgerlichen Gleichheit vertreten haben,
mehren sich die Stimmen, die unter den vorhandenen Umständen das gleiche Wahl-
recht anzunehmen bereit sind, vor allem auch in der Provinz; sie kommen
besonders wirkungsvoll in der „Kölnischen Zeitung" zu Wort. Daß selbst in den
rechtsstehenden Kreisen die Einsicht in die Unabwendbarkeit des gleichen Wahl
rechtes zu wachsen beginnt, darf man vielleicht aus einem Aufsatz des Berliner
Staatsrechtslehrers Erich Kaufmann, der sich durch sein Buch „Bismarcks Erbe
in der Reichsverfassung" ein starkes Ansehen in der konservativen Partei errungen
hat, in Ur. 1/2 der „Deutschen Juristenzeitung" schließen. Professor Kaufmann
gibt rückhaltlos zu, die Bewilligung des gleichen Wahlrechtes sei notwendig
gewesen, um den Daseinskampf, in dem wir uns befinden, siegreich durchführen
zu können. „Dies Wahlrecht ist heute für viele, auf deren weiteren Kriegswillen
und Opferbereitschaft wir angewiesen sind, eine Idee von ungeheuerer Suggestion,
ein Glaubensdogma und darum eine reale Macht, mit der in der augenblicklichen
Situation gerechnet werden muß. Alle innerpolitischen Werte sind gegenüber dem
Werte der staatlichen Selbstbehauptung relative Werte, die diesem unter Umständen,
wenn auch mit sorgenvollem Herzen geopfert werden müssen. Man wird die
theoretischen und ethischen Begründungen für das allgemeine gleiche Wahlrecht,
die die Regierung unternimmt, ablehnen und mit theoretischen und ethischen
Gegengründen abtun zu können glauben, und wird doch dies Wahlrecht augen¬
blicklich aus politischen Gründen rechtfertigen müssen; waren es doch auch nicht
theoretische und ethische, sondern lediglich politische Gründe, aus denen Bismarck
das Reichstagswahlrecht vorgeschlagen hat."
Mit diesen Worten schlägt Professor Kaufmann eine Saite an, die gerade in
der konservativen Partei einen starken Widerklang finden müßte. Man darf auch
hoffen, daß in den konservativen Herzen der starke Appell, den der stellvertretende
Ministerpräsident Dr. Friedberg in seiner Rede vom 6. Dezember an das konser¬
vative Gewissen gerichtet hat, mehr und mehr nachgewirkt hat: ebenso wichtig wie
der Schutz der Kronrechte, wie die Tatsache, daß man sich in Gefahr vor seinen
König stelle, ebenso wichtig sei es auch, daß man der Krone dazu verhelfe, ein
Wort, das sie gegeben hat, einzulösen.
In der Tat, das Übergewicht, das, so wie die Dinge in der entscheidenden Phase
des Weltkrieges, nach dem feierlich gegebenen Worte des Trägers der Krone liegen,
zugunsten des gleichen Wahlrechtes in die Wagschale fällt, ist ein so entschiedenes,
daß jede neue Betrachtung immer wieder zu der Überzeugung von seiner Unver¬
meidlichkeit führt. Wünschen muß man, daß die noch immer aufstehende Ent¬
scheidung der Wahlrechtskommission über die Grundfrage, der doch weite Kreise
des preußischen Volkes, darunter die gesamte Arbeiterschaft, mit großer Un¬
geduld und Erregung entgegensehen, nicht zu lange hinausgeschoben wird; je
eher sie fällt — in einem Sinne fällt, der der Sehnsucht des Volkes nach
eigener voller Verantwortung für die Sache des Staates genug tut —, desto
besser wird es für den Willen des Volkes zum siegreichen Durchhalten sein.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß nicht eine sorgfältige Prüfung der
Regierungsvorlagen in der Wahlrechtskommission stattfinden könne und solle; eine
solche ist bei Vorlagen von so grundlegender oder wie sich der nationalliberale
Sprecher Dr. Lohmann ausdrückte, grundstürzender Bedeutung selbstverständlich.
Aber man sollte sich in der Kommission, nachdem schon mit allgemeinen Erör¬
terungen viel Zeit verloren ist, doch nicht erst lange mit Dingen befassen, die
von der Regierung von vornherein als völlig unannehmbar bezeichnet sind,
also mit dem Pluralwahlrecht und dem berufsständischen Wahlrecht. Sie mit
aller Umständlichkeit und Sorgfalt unter Heranziehung der ganzen weitschichtigen
Wahlrechtsliteratur erörtern zu wollen, wie es in den Absichten der rechtsstehenden
Parteien zu liegen scheint, das schmeckt doch sehr stark nach einer Verschleppungs¬
absicht. Die Hauptaufgabe der Kommission sollte vielmehr jetzt darin liegen, eindrin-
gend zu prüfen, ob und wie die großen Gefahren, die nicht bloß unsere Rechtsparteien
von der Einführung des gleichen Wahlrechts namentlich auch hinsichtlich der Ver¬
hältnisse in den Gemeinden und den Ostmarken befürchten, im Rahmen der Vor¬
lagen zu beschwören sein möchten. Nach dieser Richtung war die fünftägige Debatte,
vom 6. bis 11. Dezember, die überhaupt mehr in die Breite wie in die Tiefe
ging, doch recht unergiebig gewesen. Zwar haben zahlreiche Redner die Rück¬
wirkung des gleichen Wahlrechts auf die Gemeinden und auf die polnischen Ver¬
hältnisse in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen, aber ohne den Dingen irgend
auf den Grund zu gehen. Man hat sich darüber gestritten, ob das gleiche Wahl¬
recht im Staate auch ein solches in den Gemeinden und Kreisen zur notwendigen
Folge haben müsse, und wenn ja, ob dieses dann die Kommunen der Sozial¬
demokratie und in den polnischen Provinzen den Polen überantworten werde.
Aber kaum einmal gestreift ist die sich sofort aufdrängende Frage, ob es nicht
auch außerhalb des eigentlichen Wahlrechts Mittel und Wege gebe, um eine solche
unerwünschte Entwicklung aufzuhalten oder unschädlich zu machen. Ebensowenig
ist in den Wahlrechtsdebatten vom 5. bis 11. Dezember gehörig untersucht worden,
welche Sicherungen und Kautelen des gleichen Wahlrechts den bereits von der
Regierung vorgesehenen hinzuzufügen bzw. an deren Stelle zu setzen wären, um
der Radikalisierung deS künftigen Abgeordnetenhauses zu begegnen. An Vor¬
schlägen der verschiedensten Art hat es ja nicht gefehlt. Vor allem ist von rechts¬
stehender Seite eine erhebliche Erweiterung der Rechte des Herrenhauses über das
Maß der Vorlage hinaus gewünscht worden. An diesem Punkt setzt auch Pro¬
fessor Kaufmann in seinem erwähnten Aufsatze ein. der die — nach unserer Auf¬
fassung sehr bedenkliche — volle Aufhebung des Budgetprivilegs des Abgeordneten¬
hauses verlangt. In den Debatten des Abgeordnetenhauses ist außerdem von
konservativer Seite die Einführung der Wahlpflicht, ständiger Wählerlisten, die
Verlängerung der Legislatur-, soll wohl heißen der Budgetperioden, und die Be¬
seitigung der Stichwahlen, von freikonservativer Seite — wo man die konservative
Partei an reaktionären Forderungen noch überbieten zu wollen scheint — eine
Hinaufsetzung des Wahlrechtsalters auf 30 Jahre, eine Ausdehnung der Wohn-
sitzklausel auf zwei Jahre und eine verfassungsmäßige Festlegung der hergebrachten
Wahlkreiseinteilung angeregt worden. Das Zentrum verlangt ausreichende Schutz¬
maßregeln für Kirche und Schule, die natürlich nicht in die Wahlrechtsvorlage,
sondern in die Verfassung selbst hineinzuarbeiten wären, etwa in der Weise, daß
s 33 des Volksschulunterhaltungsgesetzes von 1906 mit seiner Festlegung der kon¬
fessionellen Volksschule als Regel zu einem integrierender Teile der Verfassung
selbst erhoben würde. Vielfach erhoben wird auch der Gedanke — in den Wahl¬
rechtsdebatten hat man freilich damit noch hinter dem Berge gehalten — demo¬
kratischen Umsturzgelüsten des künftigen, nach dem gleichen Wahlrecht gewählten
Abgeordnetenhauses dadurch einen Riegel vorzuschieben, daß jede Verfassungs-
änderung, die heute durch die gewöhnliche, absolute Stimmenmehrheit bei zwei¬
maliger, durch einen Zeitraum von 21 Tagen getrennter Abstimmung durchzu¬
drücken ist (Art. 107 der Verfassung), an eine qualifizierte Stimmenmehrheit, etwa
eine Zweidrittel- oder gar Dreiviertelmajorität gebunden wird. Ein verwünscht ge¬
scheiter, aber schwerlich sehr sympathischer Gedanke: erst rasch noch eine Anzahl
von Verfassungsänderungen in punoto konfessionelle Volksschule. Wahlkreiseinteilung
usw. vorzunehmen und dann hermetisch die Türe gegen weitere Verfassungs¬
änderungen zu schließen.
Endlich ist auch von fast allen Rednern der Wahlrechtsdebatten im Dezember
als eine^ Modifikation des gleichen Wahlrechtes die Einführung der Verhältniswahl
erörtert worden. Gegen ihre generelle Durchführung hat sich auf konservativer,
freikonservativer und Zentrumsseite Widerspruch erhoben; für eine teilweise Ein¬
führung etwa in Grvßberlin, dem ^westfälischen und dem oberschlesischen Jndustrie-
bezirk und in den polnischen Gebietsteilen ist aber offenbar eine starke Majorität.
Leider hat sich kein einziger Redner die Mühe genommen, das Thema der Ver¬
hältniswahl etwas eingehender zu behandeln, obwohl gerade in ihr sich das einzige
Mittel bietet, die Rechte der Minoritäten zu wahren, die bei dem gleichen Wahl¬
recht sozusagen unter den Tisch fallen. Auch daß die Verhältniswahl ein Mittel
sein könne, um die Interessen und Rechte der deutschen Minderheiten in den
gemischtsprachigen und besonders den polnischen Bezirken zu schützen, ist von keinem
Redner näher dargelegt worden, so viel und hochtönend auch von den konservativen,
freikonservativen und nationalliberalen Rednern der Wille, für die Ostmarken ein¬
zutreten, betont worden ist. Man sieht hier wieder einmal so recht, daß es
eine leidige Gewohnheit der parlamentarischen Debatte ist, um die Dinge herum
zu reden, statt ihnen resolut auf den Leib zu rücken.
Unter diesen Umständen wird es für die Leser der „Grenzboten" eine will¬
kommene Ergänzung der Wahlrechtsdebatten sein, daß die beiden nachfolgenden
Aufsätze zwei der wichtigsten in dem Parlament nur ganz obenhin behandelte
Probleme, die Einführung der Verhältniswahl und die Rückwirkung des gleichen
Wahlrechts auf die Gemeinden mit besonderer Rücksicht auf die Ostmarken energisch
anfassen. In dem Aufsatze des Herrn Dr. Fraenkel sind die Vorzüge des Ver-
hältniswahlsystems so klar und einleuchtend begründet worden, wie ich es sonst
kaum gefunden habe. Es ist allerdings die Frage, ob dabei die Nachteile des
Systems hinreichend gewürdigt sind. In den Debatten des Abgeordnetenhauses
ist es speziell von den Abgeordneten Herold und Lüdicke als ein Fehler des Ver¬
hältniswahlsystems hingestellt worden, daß das persönliche Verhältnis zwischen
den Wählern und den Abgeordneten, die genaue Kenntnis der Verhältnisse und
Personen, welche, bei der Vertretung eines begrenzten Wahlkreises beständen, be¬
seitigt würden; nicht mehr Personen, sondern Parteien würden gewählt. Mir
selbst würde eine andere Folge des Verhältniswahlsystems, aus die Herr Dr. Fraenkel
nicht eingegangen ist, und die ebensowenig in den Verhandlungen des Abgeordneten¬
hauses berührt worden ist, viel bedenklicher erscheinen: daß der Einfluß der Partei¬
organisationen, die Macht der Parteipäpste, die ohnedies schon groß genug ist,
über die Maßen gestärkt wird. Durch die Einführung der Verhältniswahl würde
das Übergewicht ehrgeiziger Parteiführer, in dem ein Bismarck doch einen Krebs¬
schaden unserer öffentlichen Verhältnisse — mit vollem Rechte — erblickte, gewisser-
maßen zu einer gesetzlichen Einrichtung erhoben. Es würde nicht leicht sein, dieser
Entwicklung bei dem System der Verhältniswahl, in dem mir dennoch — ich
deutete es schon vor vier Wochen an — der Stein der Weisen verborgen zu sein
scheint — vorzubeugen.
Auf die Vorschläge des Herrn Dr. Fraenkel hinsichtlich des Pluralwahl-.
systems möchte ich hier nicht näher eingehen. Die Leser der „Grenzboten" wissen
ja, daß ich mich zu derselben Auffassung durchgerungen habe, die der stellver¬
tretende Präsident des Staatsministeriums Dr. Friedberg in seiner Rede vom
6. Dezember bekannt hat: daß die idealen Pluralstimmen, die in Betracht kommen,
Alter, Familienstand, höhere Bildung, entweder nach der demokratischen Seite hin
verschärft wirken, oder daß sie, so namentlich die Bildungsstimmen, nicht zu Buche
schlagen, und daß nur eine Häufung von Besitzstimmen, die nach den gewaltigen
und erschütternden Erlebnissen und Erfahrungen des Weltkrieges nicht mehr in
Frage kommen kann und darf, eine antidemokratische Wirkung haben kann. Die
Vorschläge des Herrn Dr. Fraenkel haben übrigens viel Ähnlichkeit mit denen,
die der freikonservative Abgeordnete von Dewitz vor einiger Zeit gemacht hat*),
nur daß dieser nicht, wie Herr Dr. Fraenkel, zwei Besitzstimmen und drei
Bildungsstimmen, sondern umgekehrt drei Besitzstimmen neben zwei Bildungs--
stimmen befürwortet.
Von besonderem Wert wird den Lesern der „Grenzboten" der ausgezeichnete
Aufsatz des Herrn Dr. Reiche sein. Es ist von großem Interesse, daß dieser
Kenner unserer Ostmarkenverhältnisse nicht etwa die Gefahr der Demokratisierung
und Polonisierung der östlichen Kommunalverwaltung zum Anlaß nimmt, um das
gleiche Wahlrecht a limine abzulehnen, wie es der Ostmarkenverein und in Harmonie
mit ihm die Redner der Östmarkenmehrheit im Abgeordnetenhause getan haben,
sondern daß er entschlossen die Mittel und Wege untersucht, die dennoch bleiben,
um das staatliche Interesse in den polnischen Gebietsteilen besonders in bezug
auf Polizei und Schule voll zu wahren. Die Gegner der Wahlreform, die so
gern das Ostmarkenproblem als Hebel benutzen möchten, um das gleiche Wahl-
recht aus den Angeln zu heben**), sollten sich lieber mit Herrn Dr. Reiche auf den
Standpunkt stellen, daß auch bei der Einführung desselben die stolze Devise
„Arbeiten und nicht Verzweifeln" Gefahren beschwören kann, die nicht ganz so
drohend sind, wie sie scheinen mögen. Bei alledem wird doch auch nach unserer
Auffassung mit allem Ernst zu versuchen sein, die deutschen Interessen in den
Ostmarken auch wahlrechtlich nach Möglichkeit zu sichern, ohne daß den Polen ein
begründeter Anlaß gegeben würde, über Vergewaltigung zu klagen. Es gibt
zwei Wege, die dahin führen, einmal die Einführung der Verhältniswahl in den
Ostmarken, sodann die Festlegung nationaler Wahlkreise nach österreichischem
Muster, wie sie namentlich in Böhmen, Mähren und der Bukowina durchgeführt
ist, und die Anlegung eines nationalen Katasters. Beide Wege haben ihre be-
sonderer Vorzüge, der erstere, indem er die Einführung der Verhältniswahl auch
in den übrigen preußischen Provinzen anbahnen würde, der letztere, insofern er
bei der mutmaßlichen Lösung der außerdeutschen polnischen Frage im austrophilen
Sinne unseren Polen keinen Grund zur Beschwerde über ein System ließe, das
auch jenseits der austropolnischen Grenzpfähle gälte. Man wird schon heute an¬
nehmen können, daß die Wahlrechtskommission in dem einen oder dem anderen
Sinne die Regierungsvorlage ergänzen wird.
Wir wünschen den weiteren Arbeiten der Wahlrechtskommission, nachdem
die bisherige Generalerörterung nur eins unfruchtbare Wiederholung der Debatten
vom 5. bis 11. Dezember gebracht hatten, einen gedeihlicheren und, was
besonders unterstrichen werden muß, einen rascheren Fortgang. Die Regierung
hat ihr möglichstes getan, um die Arbeiten der Kommission durch Zusammen¬
stellungen über die geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts zum Hause der
Abgeordneten, sowie über die Wahlrechte der Bundesstaaten, die ersten Kammern der
Bundesstaaten und über die Zusammensetzung der Kammern in den autzerdeut-
schen Staaten zu befördern; sie ist den Wünschen der Mehrheit nach einem
Mcmtelgesetz sachlich weit entgegengekommen, sie wird auch ferner alles, was in
ihren Kräften steht, tun, um einen glatten Verlauf der Kommissionsarbeiten zu sichern.
Aber die Kommission, richtiger gesagt, die Mitglieder derselben, die den Mehr-
heitsparteien des Abgeordnetenhauses angehören, müssen auch wollen. Sie sollten
ihr Hauptaugenmerk darauf richten, nicht durch ein Maximum von Kautelen und
Sicherungen das Schiff der Wahlrechtsvorlage bis zum Sinken zu bringen, sondern
im Gegenteil mit einem Minimum von Beschränkungen auszukommen. Auch hier
gilt das Wort, daß sich in der Beschränkung der Meister zeige. Immer sollte
sich die Kommission das prachtvolle Wort des Prinzen Max von Baden vor Augen
halten, der in seiner Kammerrede vom 14. Dezember sagte: „Es gibt nur eine
reale Garantie, das ist der Charakter des Volkes selbst." Was Prinz Max von
Baden von dem deutschen Volke im ganzen sagte, das gilt doch wahrlich auch
vom preußischen Volke. Der Charakter des preußischen Volkes war immer und
ist noch heute auf treue und harte Pflichterfüllung, auf Selbstbeherrschung, auf
bereitwillige Unterordnung unter die Staatsnotwendigkeiten gestellt. Es hat immer
Eisen im Blut gehabt. Ein solches Volk kann eher wie jedes andere die freiesten
Einrichtungen, das freieste Wahlrecht vertragen; denn es trägt in sich selbst die
sichere Gewähr des Maßhaltens. So möge man es in Gottes Namen mit der
Einräumung des gleichen Wahlrechtes für Preußen auch auf der Rechten wagen.
Es wird auch dann noch und dann erst recht und in Wahrheit heißen: Preußen
in Deutschland voran. Und das sollte heute mehr wie je die Devise eines jeden
echten und hochgemuten Preußen sein!
lie Wichtigkeit der Neugestaltung des preußischen Wahlrechts, unter
dem wir und unsere Nachkommen leben und ihr Recht erhalten und
gestalten sollen, macht es zur Pflicht eines jeden, der zur Klärung
dieser Frage etwas beibringen zu können glaubt, seine Vorschläge
! zur Erörterung zu stellen. Mag auch nur das Wenigste brauchbar
sein oder sogar alles verworfen werden, so wird doch zumindest, je umfassender
die Erörterung erfolgt, die Kenntnis und Prüfung der Fragen vertieft und die
Gefahr von oberflächlichen und voreiligen Entschließungen verringert.
Allgemein wird für das neue Wahlrecht zur zweiten Kammer von einem
auf geographischen Wahlkreisen beruhenden Wahlsystem ausgegangen. Hierbei folgt
man dem Beispiel des Neichstagswahlrcchts. dessen Vorzüge gegenüber dem bis-
herigen Dreiklassenwahlrecht auf der Hand liegen, ohne zu erwägen, daß sie sich
in einer anderen Richtung bewegen. Bestärkt wird diese Voraussetzung dadurch,
daß fast durchweg in den zivilisierten Staaten die Wahl in geographischen Wahl-
kreisen sich vollzieht, während es im wesentlichen Bestrebungen geblieben sind, die
an die Stelle der Kreiswahlen die Landeswahl setzen wollen. Hinzu kommt, daß
die Proportionalwahlsysteme, wie sie sich in einzelnen Staaten entwickelt haben
oder in der Theorie vorgeschlagen werden, zugleich sehr kompliziert sind und ihrem
Zweck nur wenig und unsicher gerecht werden. So ist es verständlich, daß für
die preußische Wahlreform nur der Reichstagsabgeordnete Dr. Südekum die Landes¬
wahl angeregt hat. Sein Vorschlag fand wenig Anklang, weil er gekünstelt und
nicht von den für das Wahlrecht notwendigen Grundsätzen der Gerechtigkeit und
des Zweckes der Volksvertretung bestimmt war. Der im folgenden dargelegte
Vorschlag vermeidet diese Bedenken.
Die Nachteile der Wahl in Kreisen sind bekannt. Niemals ist der Ab¬
geordnete der Vertreter des ganzen geographischen Volksteiles, für den er auftritt,
sondern schon nach dem Prinzip dieses Wahlsystems nur der dortigen Mehrheit.
Häufig ist er aber auch dies nicht, sondern nur der von der Mehrheit als
das kleinere Übel angesehene, wenn er. was einen so großen Teil der Wahl¬
ergebnisse ausmacht, manchmal schon in der Hauptwahl, meistens in der Stich¬
wahl auf Grund von Wahlbündnissen oder vereinbarten Stimmenthaltungen die
Mehrheit erringt. So werden die politischen Minderheiten des Kreises mundtot
gemacht und das Abbild der Volksstimmung verfälscht, der Macht des Zufalls
aber noch durch Kompromisse nachgeholfen. Diese Folge des Prinzips besteht auch
bei gerechtester Einteilung der Wahlkreise. Fehlt diese, was durch die Bewegung
der Bevölkerungszu- und -abnähme von Zeit zu Zeit immer wieder eintreten nutz,
so ist die Verzerrung natürlich noch stärker. Ohne schwierige Kämpfe wird aber
die Neueinteilung der Wahlkreise nie erreicht, da sie notwendig die eine oder die
andere Partei schädigt. Die Aufzählung weiterer erheblicher Nachteile, die dieses
System mit sich bringt, mag für später aufgespart werden, da schon das Angeführte
die Untersuchung rechtfertigt, ob sich nicht etwas Besseres an seine Stelle setzen läßt.
Die genannten Nachteile können bei der Landeswahl nicht auftreten. Die
Schwierigkeit liegt in der angemessenen Ausgestaltung dieses Systems. Es
scheiterte daran, dasz versucht wurde, auf eine fest bestimmte Zahl von Abgeord¬
neten ein passendes Wahlrecht zu finden. Mein Vorschlag sieht von dieser fest
bestimmten Zahl ab und läßt die Zahl der abgegebenen Stimmen über die Zahl
der Volksvertreter entscheiden. Selbstverständlich wird man sich über die un¬
gefähr gewünschte Anzahl der Volksvertreter zunächst klar werden, um weder ein
zu großes, noch zu kleines Parlament zu erhalten. Dies ist leicht erzielbar, da
die Zahl der im Lande vorhandenen Stimmen wenigstens ungefähr berechenbar
und der Prozentsatz der Wahlbeteiligung erfahrungsgemäß bekannt ist. Legt man
von seinen Schwankungen das Mittel zugrunde und teilt die so gewonnene
Stimmenzahl durch die im Mittel gewünschte Zahl der Abgeordneten, so erhält
man die Stimmensumme, auf die ein Abgeordneter entfallen soll.
Die gesetzliche Festlegung dieser Stimmensumme ist unbedenklich. Denn
sollte sich im Laufe der Zeit wegen der Volksvermehrung die Erhöhung der
Stimmensumme notwendig zeigen, um ein übermäßiges Anwachsen der Abgeord¬
netenzahl zu verhüten, so kann darüber ein politisch erregter Streit nicht ent¬
stehen, weil keine Partei hierdurch Vorteil oder Nachteil erfährt.
Das Vorstehende soll an einem willkürlich gegriffenen Zahlenbeispiel er¬
läutert werden, das zugleich die Zweckmäßigkeit der Zugrundelegung der er¬
fahrungsgemäß im Mittel abgegebenen, nicht der vorhandenen Stimmen dartun
mag: angenommen, die Zahl der Stimmen im Lande beträgt 15 Millionen, von
denen erfahrungsgemäß durchschnittlich etwa 10 Millionen sich an der Wahl be¬
teiligen. Eine Volksvertretung, die etwa 600 Abgeordnete zählt, wird nicht als
zu groß gefunden, andererseits auch als genügend gliederreich, um die viel¬
gestaltigen staatlichen und gesellschaftlichen Interessen des Landes zum Ausdruck
zu bringen. Es ergibt sich mithin, daß auf je 20000 abgegebene Stimmen ein
Abgeordneter zu wählen ist. Sollte die Beteiligung auch wesentlich geringer als
angenommen erfolgen, vielleicht nur K Millionen betragen, so wäre auch ein
Parlament von 400 Mitgliedern nicht zu klein. Würde die Stimmenabgabe über
die Erwartungen hinausgehen, vielleicht sogar auf 12 Millionen steigen, so würden
MO Abgeordnete noch nicht zu zahlreich sein.
Die Wahl geschieht derart, daß der stimmberechtigte entweder eine Liste
oder eine namentlich bezeichnete Person wählt. Die Listen werden von den
bereits bestehenden oder sich noch bildenden Parteien aufgestellt. Sie enthalten
die Namen derjenigen Personen, welche die Partei als Abgeordnete gewählt sehen
will und zwar in der Reihenfolge, in der sie bei ausreichender Stimmenzahl Ab¬
geordnete werden sollen. Fällt ein Verzeichneter dadurch weg, daß er die Wahl
ausschlägt, so tritt der nächste auf der Liste Stehende, der noch nicht Abgeordneter
ist, an seine Stelle. Stirbt im Laufe der Wahlperiode ein Fraktionsmitglied oder
legt es das Mandat nieder, so gilt das gleiche. Tritt es aus der Partei aus
oder führt es durch sein Verhalten den Ausschluß aus der Partei herbei, so wird
es in derselben Weise als Abgeordneter erledigt und der Nächstberechtigte der Liste
tritt an seine Stelle.
Notwendig ist hierbei natürlich, daß für die Gültigkeit der Listen Sicher¬
heiten geschaffen werden. Sie müßten vor der Wahl bei einem neu zu schaffenden
Reichswahlamt oder einer bereits bestehenden Behörde, etwa dem hierzu aus¬
gestalteten Reichstagsbureau, in förmlicher Weise angemeldet werden. Der Name
der Liste, zweckmäßig gleichlautend mit der Partei, müßte geschützt, sür den aus¬
reichenden Unterschied der Listennamen gesorgt werden. Vor der Wahl hätte ihre
gehörige Bekanntmachung zu erfolgen.
Nach meiner Ansicht wäre den Parteien das Recht zuzugestehen, auch nach
träglich von der Reihenfolge der Verzeichneten auf den Listen abzuweichen und
diese sonst zu ändern und zu ergänzen, da ja diejenigen, die auf die Liste ihre
Stimme abgegeben haben, für die Partei stimmen wollten, die über die Zu¬
sammensetzung der Liste entscheidet. Welches Parteiorgan über die Anmeldung,
Aufstellung und Änderung der Liste zu beschließen hat, wäre zweckmäßig gesetzlich
festzulegen. Die Absetzung oder Rangänderung bereits gewählter Abgeordneten
wären auszuschließen, sofern nicht aus einem der oben angeführten Gründe der
Abgeordnete wegfällt oder aus der Fraktion ausscheidet.
Die natürlichen Personen bedürfen, wenn sie rein persönlich als Bewerber
auftreten, keiner förmlichen Anmeldung der Bewerbung. Zweckmäßig ist aber
auch zu gestatten, daß die persönliche Bewerbung mit der Listenwahl verbunden
wird, indem der Bewerber erklären kann, daß er sich einer bestimmten Partei,
welche ihre Liste zu der Wahl anmeldet, anschließt. Erreicht er die zur Wahl
nötige Stimmensumme nicht, so fallen die für ihn abgegebenen Stimmen dieser
Liste zu. Überschreiten seine Stimmen die Stimmensumme, so geschieht dasselbe
mit dem Überschuß. Fällt er als Abgeordneter weg, so erwirbt gleichfalls die
bezeichnete Liste die Stimmensumme. Diese Verbindung der persönlichen mit der
Listenwahl macht es natürlich notwendig, die gleichen Vorschriften der förmlichen
Anmeldung vor der Wahl u. tgi. zu erlassen.
Auch hier soll ein willkürliches Zahlenbeispiel den Vorgang erläutern und
ergänzen: Es haben die Parteien K, Z. N. F und S ihre Listen angemeldet.
Müller und Schulze kandidieren mit der Erklärung, daß ihre Stimmen der Liste
S zuzurechnen sind; Lehmann läßt sich N zurechnen; Krause und Meyer bewerben
sich rein persönlich. Die Partei K erhält 1523 000, Z 2 417 000. N 1273 000.
F 1435 000. S 3 297 000. Müller 32 000. Schulze 12000. Lehmann 34 000.
Krause 31 000 und Meyer 23 000. Insgesamt sind 10097000 Stimmen abge¬
geben.. Stimmensumme ist nach dem obigen Beispiel 20000. Für die Berechnung
der Abgeordnetenzahl müssen die überschüssigen Stimmen von Krause und Meyer
abgesetzt werden, da sie rein persönlich kandidieren, ihre überschüssigen Stimmen
also wertlos sind. Nach Abzug dieser 14000 Stimmen verbleiben 10 083 000
Stimmen, so daß 504 Abgeordnete gewählt sind.
Es entfallen auf die Bewerber:
Durch Müller und Schulze wächst der Stimmenrest von S auf 41000;
S. erhält daher zwei weitere Abgeordnete und behält 1000 Stimmen Rest. Der
Stimmenrest von N wächst durch Lehmann auf 47000, so daß N noch zwei Ab¬
geordnete erhält und ihr Stimmenrest 7000 beträgt. Die Zählung aller jetzt noch
vorhandenen Stimmenreste ergibt 43000, auf welche die letzten zwei Abgeordneten
entfallen. Von ihnen stellen Z und F, welche die höchsten Stimmenreste haben,
je einen.
Wertlos werden können also, was unvermeidbar und gerecht ist, nur die
auf Listen abgegebenen Stimmenreste, die meist weit unter der Stimmensumme
zurückbleiben und auch insgesamt niemals eine Stimmensumme erreichen können,
und ein Teil derjenigen Stimmen, die aus Eigenbrödelei auf rein persönliche
Bewerbungen abgegeben werden, statt einem politischen Parteiprogramm zu folgen,
was sicher wünschenswert ist.:» »
Die Vorteile des vorgeschlagenen Wahlsystems gegenüber den Kreiswahlen
dürften nicht zu leugnen sein.
Zunächst ist der Fortfall aller Nachteile, die sich aus dem Prinzip des
Wahlkreissystems und der Ungleichheit der Wahlkreise ergeben, als Gewinn zu
hundelt. Der Abgeordnete vertritt nunmehr wirklich die angemessene Anzahl von
Stimmen, nicht nur ihren größeren Teil, und zwar Stimmen, die nach ihrer
vollen Überzeugung abgegeben worden sind, nicht zum Teil bloß das nach ihrer
Ansicht kleinere von zwei Übeln gewählt haben. Die Unterdrückung der politischen
Minderheiten ist ausgeschlossen. Es kann sich nicht mehr ereignen, daß eine
Partei entgegen der Größe ihres Anhanges im Lande durch die Gunst oder Un¬
gunst des blinden Zufalls, der die Verhältnisse in den einzelnen Wahlkreisen regiert,
zu einer übermäßigen oder ungenügenden Vertretung im Parlament gelangt.
Riesen- und Zwergwahlkreise, wie überhaupt jede geographische Ungleichheit des
Stimmengewichts hören auf.
Stichwahlen und Nachwahlen mit ihrem Aufwand an Zeit, Mühe und
Kosten fallen fort. Nicht nach den zufälligen Parteiverhältnissen in den einzelnen,
den Kandidaten bestimmten Wahlkreisen, sondern nach der auf die Leistungen und
Fähigkeiten der Mitglieder gegründeten Wertschätzung durch die Partei entscheidet
sich die Reihenfolge der Entsendung in die Volksvertretung. So bedarf es weder
der sorgfältigen Auswahl sicherer Wahlkreise für die Parteiführer noch des Ver¬
zichtes von gewählten Abgeordneten, um für einen unterlegenen Parteikandidaten
Platz zu schaffen, ganz abgesehen davon, daß diese umständlichen und teueren
Mittel nur für die Führer angewandt werden und deshalb im Regelfalle die Ent¬
scheidung des Zufalls unverbessert bleibt.
Die Störungen der Parteidisziplin durch die heute oft notwendige Bindung
der Bewerber gegenüber anderen Parteien, um sich ihre Unterstützung in zweifel¬
haften Wahlkreisen zu sichern, werden vermieden. Bekanntlich sind die Fälle
zahlreich, in denen entweder schon für die Hauptwahl oder wenigstens für die
Stichwahl die zum Durchkommen des Bewerbers nötige Unterstützung anderer
Parteien nur dadurch erreicht werden kann, daß der Bewerber sich in grundlegenden
Fragen zu einer bestimmten, mitunter sogar dem Parteiprogramm widersprechenden
Stellungnahme verpflichtet.
Die Abhängigkeit der Abgeordneten von ihrem Wahlkreise, insbesondere
einflußreichen Angehörigen des Kreises wird beseitigt. Zurzeit ist der Abgeordnete
durch seine Bindung an den Kreis, in dem er gewählt ist und wiedergewählt zu
werden wünscht, der Versuchung ausgesetzt, Einflüssen aus diesem Wahlkreis über-
mäßig zugänglich zu sein. Bei der Landeswahl ist er für sein Verhalten nur
der gesamten Partei verantwortlich, so daß er anders Rücksichten nicht zu nehmen
braucht und ohne Ansehung der Person sich von sachlichen Erwägungen leiten
lassen kann. Ganz abgesehen von solchen Einflüssen wird aber auch das Bewußt¬
sein des Abgeordneten gehoben, der Vertreter des gesamten Landes zu sein. Seine
Stellungnahme wird in stärkerer Weise von den Interessen des Landes bestimmt
und der Konflikt zwischen diesen Interessen und den Rücksichten auf den einzelnen
Wahlkreis ausgeschaltet.
Die Vorteile der Landeswahl, deren Aufzählung sich noch vertiefen ließe,
sind also sehr gewichtig. Es fragt sich daher, welche Nachteile dieses Wahlsystem
hat und ob sie die Vorteile aufwiegen. Deshalb mögen die Bedenken, die zu¬
gunsten der Kreiswahlen erhoben werden könnten, durchgegangen werden.
Wird das vorgeschlagene System nicht zur Auflösung der Volksvertretung
in Interessengruppen und -grüppchen Anlaß geben? Bei der über das ganze
Land reichenden Wahl kann jede Ansicht sich größere Hoffnung machen, genügend
Stimmen für die Wahl ihrer Vertreter zu erhalten, als wenn im einzelnen Wahl¬
kreis die Mehrheit errungen werden muß. Auch einzelne Personen könnten hoffen,
ohne Parteianschluß die zu ihrer Wahl erforderliche Anzahl von Stimmen im
ganzen Lande auf sich zu vereinigen. — Ich halte diese Befürchtung nicht für
durchgreifend. Zunächst haben wir im deutschen parlamentarischen Leben schon
eine so reichliche Zersplitterung in Parteien und Wilde, daß eine Steigerung kaum
möglich ist. Die politische Vertretung von Interessenkreisen durch Parteien ist
gleichfalls schon vorhanden. Konservative und Bund der Landwirte. National-
liberale und Hansabund. Sozialdemokraten und Gewerkschaften sind zusammen¬
gehörig. Diese Beispiele zeigen aber, daß trotz der auch heute schon vorhandenen
Möglichkeit für diese Interessengruppen, eigene Abgeordnete zu wählen, hiervon
nicht Gebrauch gemacht, sondern auf die Zusammenfassung in große politische
Parteien hingearbeitet wird. Der Höhepunkt der Eigenbrödelei und Zersplitterung
ist ersichtlich in Deutschland überschritten. daS ideale Gewicht der Einigung wie
ihre praktischen Vorteile dem politisch geschulteren Blick offenbar geworden. So¬
wohl in den Interessengruppen wie in dem eigentlich politischen Parteileben herrscht
das Bestreben vor. durch Unterdrückung und Zurückstellung der kleineren Unter¬
schiede die Vereinigungen zusammenzufassen und möglichst groß zu gestalten, weil
mit ihrer Größe ihre Macht progressiv wächst. Es mag daher auf sich beruhen,
ob die durch das vorgeschlagene Wahlsystem erhöhte Möglichkeit zur Wahl von
Vertretern wirtschaftlicher Interessengruppen, die von manchen Seiten sogar
empfohlen wird, wirklich so schädlich wäre, da doch nach der idealen Forderung
die Volksvertretung das verkleinerte Abbild der Jnteressengliederung des Volkes
sein soll. Die zweifellos unerwünschte Stimmabgabe für rein persönliche Bewerber
wird durch die von mir vorgeschlagene Ausgestaltung des Landeswahlrechts jeden¬
falls entmutigt und zurückgedrängt, da schon bei der Wahl sowohl die über die
Stimmensumme hinausgehenden als auch die sie nicht erreichenden Stimmen
wertlos werden, dann aber auch bei einem Wegfall des Gewählten im Laufe der
Wahlperiode bis zu deren Ende unvertreten bleiben.
Wird die Beseitigung des geographischen Zusammenhanges des Abgeordneten
mit seinem Kreise, wodurch er besonders befähigt scheint, die Interessen dieses
Kreises im Parlament zu vertreten, nicht schädlich wirken? — Welche mißlichen
Nebenfolgen die Verbindung des Abgeordneten mit einem Kreise durch die sich
hieraus ergebende Abhängigkeit haben kann, wie leicht auch ohnedies die Landes¬
interessen gegenüber den Rücksichten auf den Wahlkreis zu kurz kommen, ist oben
schon gesagt. Es ist daher geradezu wünschenswert, diese Verbindung zu Ve-
seitigen, wenn ihr Vorteil, die Kenntnis der Abgeordneten von den Verhältnissen
der einzelnen Landesteile, auch auf andere Weise erhalten bleiben kam:. Dies
wird auf einfache Art erreicht, indem die Parteien nach der Zahl der ihnen an-
gehörigen Abgeordneten das Land einteilen und jedem Abgeordneten einen Landes¬
teil zuweisen, um dessen Verhältnisse er sich zu kümmern, dessen Beschwerden er
entgegenzunehmen und für dessen Förderung im Rahmen der Lcmdesinteressen
er zu sorgen hat. Wenn die Abgeordneten dem in der hierdurch gewährleisteten
Unabhängigkeit obliegen, so wird ihre Aufgabe auf eine höhere Stufe gehoben
und in Wahrheit ihre Erfüllung erst ermöglicht. Zugleich fördert die Maßnahme
auch den Zusammenschluß in große Parteien, die mit mehr Nachdruck und infolge
der enger begrenzten Bezirke ihrer Abgeordneten mit größerer Kenntnis dieser
Aufgabe nachkommen können.
Ist der Fortfall der Wahlbündnisse und Kompromisse trotz ihrer schon ge¬
nannten Vedenklichkeiten nicht nachteilig? Von ihnen haben im Durchschnitt die
sogenannten bürgerlichen und nationalen Parteien den größten Nutzen, die durch
ihren Zusammenschluß den radikalen oder staatsfeindlichen Gegner zu Fall bringen.
Unter ihnen kommen sie wohl überwiegend den gemäßigten Parteien zugute, die
häufiger in die Lage gelangen, als das „kleinere Übel" die Stimmen der weiter
rechts oder links stehenden Parteien auf ihren Bewerber zu vereinigen.
Die Regierung hat bereits die Befürchtung geäußert, daß das platte Land
mit seiner dünneren Bevölkerung gegenüber den Städten nicht eine seiner Be¬
deutung für das Landeswohl entsprechende Vertretung bei einer gleichmäßigen
Einteilung der Wahlkreise finden würde, und zur Verhütung dieses Ergebnisses
auch für die Wahlreform die ungleiche Bemessung der Wahlkreise angekündigt.
Da kaum Wahlkreise vorhanden sind, in denen die städtische Bevölkerung die
ländliche nicht überwiegt, richtet sich diese Stellung in Wahrheit nicht gegen die
städtischen Stimmen schlechthin, sondern gegen die Gefahr, daß die Großstädte
durch eine ihrer Stimmenzahl entsprechende Anzahl von Abgeordneten einen Ein¬
fluß erhalten, der bei der zahlenmäßigen Vorherrschaft der Arbeiterschaft in ihnen
und deren bekannter Neigung zu radikalen Ansichten als verderblich empfunden
wird. Durch diese Niederhaltung der Großstädte wird mithin das gleiche Wahl¬
recht künstlich korrigiert. Diese Korrektur des gleichen Wahlrechts ist auch das,
was — vom Parteistandpunkt abgesehen — als Vorzug der Wahlbündnisse und
Kompromisse angesehen wird.
Diese Einwürfe sind in der Tat erheblich. Mein Vorschlag kennt keine
Wahlkreise und schließt Wahlbündnisse aus. Diese künstlichen Verbesserungen des
Wahlrechts sind also unmöglich, vielmehr entscheidet die nackte Stimmenzahl.
Denkt man sich das Reichstagswahlrecht auf die Landeswahl übertragen, so ist es
sicher, daß nicht eine der gesellschaftlichen Gliederung, d. h. der Bedeutung der
Glieder für das Ganze entsprechende Volksvertretung gewählt wird, sondern ein
Stand, die Arbeiterschaft, vermöge seiner Zahl eine übermächtige Stellung im
Parlament erhält.
Dieses Ergebnis ist unbefriedigend. Denn die durch die Macht der wirt¬
schaftlichen Interessen engzusammengeschlossenen Arbeiter sind nach der Stufe ihrer
Bildung und Erziehung zu sehr agitatorischen, sogar demagogischen Einflüssen
ausgesetzt, ihre politische Weitsicht und Schulung zu ungenügend, als daß ihnen
gewissermaßen allein die Leitung der Geschicke des deutschen Volkes anvertraut
werden könnte. Aber auch von diesem Nachteil abgesehen, zu dessen ausführlicher
Darstellung und Begründung hier der Raum fehlt, ist die rein zahlenmäßige Über-
macht eines so sehr der Standesdisziplin unterworfenen Standes abzulehnen.
Wenn damit auch feststeht, daß es auf diese Art nicht geht, so ist doch
deshalb über meinen Vorschlag der Stab noch nicht gebrochen. Nur soviel ist
dadurch bewiesen, daß das Neichstagswahlrecht ohne Korrekturen als Wahlsystem
nicht brauchbar ist. Es erhebt sich aber nunmehr die Frage, ob dieses Wahlrecht
mit künstlichen Korrekturen nötig oder auch nur wünschenswert ist, ob nicht viel¬
mehr ein anders ausgestattetes gleiches und zugleich gerechtes Wahlrecht gefunden
werden kann
Die theoretische Ungerechtigkeit des gleichen Wahlrechts in der Form des
ReichstagswahlrechtS, welches jedem fünfundzwanzigjährigen Deutschen eine Stimme
gibt, ohne auf seine Eigenschaften Rücksicht zu nehmen, wird durch die Nieder¬
haltung der Großstädte und die in Wahlkreisen möglichen Wahlbündnisse bekämpft.
Zufälligkeiten, die an sich in keinem Zusammenhange mit der Frage stehen, werden
künstlich einer ihnen fremden Aufgabe dienstbar gemacht. Die Ergebnisse können
natürlich gleichfalls nicht gerecht sein. Der einsichtsvollere und politisch geschultere
Bevölkerungsteil der Großstädte muß unter der Entwertung der Stimmkraft mit-
- leiden; der Ackerknecht im letzten Dorf hat die zehn- bis zwanzigfache Stimmkraft,
die jenem gewährt ist. Die Wahlbündnisse, zumal seit sie letzthin auch unter den
Parteien allgemein für das ganze Land abgeschlossen werden, schlagen mitunter
auch zum Vorteil der radikalen Parteien aus. Daneben schädigen sie im blinden
Zufall die eine oder andere Partei. Weder bei dem einen noch dem anderen
Hilfsmittel ist obendrein abzuschätzen, wie weit sie dem verfolgten Zweck gerecht
werden und ob ihre Schäden die Vorteile nicht aufwiegen und übersteigen. Die
Möglichkeit, von diesen Hilfsmitteln Abstand zu nehmen, muß daher ihre Be-
seitigung erfordern.
Nicht ein ungerechtes Prinzip durch künstliche Korrekturen seiner Schädlich¬
keit zu berauben, sondern ein gerechtes Prinzip zu finden, ist die Aufgabe. Ge
recht kann aber nur das Stimmrecht sein, das die Stimmen nicht nur zählt,
sondern auch wägt. Sieht man von dem politischen Leben ab, so wird man
nirgends auch nur Verfechter der Ansicht finden, daß die bloße Zahl ohne Rücksicht
auf ihre Urteilskraft und Kenntnisse entscheiden soll. Überall wird die Wägung
der Ansichten gefordert und jede Vereinigung, jedes Unternehmen würde sich dem
Vorwurf der Unzulänglichkeit ausgesetzt sehen, das anders verführe und dem
untersten Angehörigen dasselbe Gewicht bei der Prüfung und Entscheidung ein¬
räumen wollte als den an Erfahrung, Bildung und Urteilskraft Höherstehenden.
Erst die nach den Eigenschaften der Person bemessene Stimmkraft ist nicht bloß
gerecht, sondern auch in Wahrheit auf gleicher Grundlage bestimmt, da sie nicht
nur an der äußerlichen Voraussetzung des menschlichen Daseins haftet, sondern
den Menschen voll erfaßt und seine Bedeutung nach gleichen Maßstäben mißt.
Ob meine Auffassung, daß auch die Wägung der Stimmen als ein gleiches
Wahlrecht anzusprechen ist, zutrifft, mag indes als ein Streit um Worte auf sich
beruhen. Die linksstehenden Parteien werden meine Auffassung vermutlich be-
streiten; immerhin dürfte auch für sie mein nachstehender Vorschlag erwägens¬
wert sein.
Mein Vorschlag will in einem Ausbau des sogenannten Pluralwahlrechts
die gerechte Zumessung der Stimmkraft finden. Selbstverständlich bringt er nicht
endgültige Feststellungen-, seine Vertiefung durch die weitere Erörterung halte ich
nicht nur für möglich, sondern für wünschenswert und geboten. Denn die Auf¬
findung, wie vor allem die Abwägung der einzelnen Eigenschaften der Staats¬
bürger, welche für die Bedeutung der Stimmen im politischen Leben erheblich
sind, verlangen behutsame und umfassende Überlegungen.
Nun mein Vorschlag, bei dem, wie nochmals betont sei, nur der Grund¬
gedanke unverrückbar ist:
Jeder Preuße von 25 Jahren (geistig gesund, im Besitz der Ehrenrechte usw.)
hat das aktive Wahlrecht, mithin ohne weiteres eine Stimme.
Wenn überall der Ansicht erfahrener, gereifter Männer ein größeres Gewicht
beigelegt wird als dem Urteil jüngerer, mit ihrer Entwicklung vielleicht noch nicht
abgeschlossener Personen, so erscheint auch hier berechtigt, vielleicht an der Grenze
von 35 Jahren, in dem Gewicht der Stimmen zu unterscheiden.
Zweifellos ist derjenige, der — eheliche — Kinder hat, im allgemeinen zu
einer genaueren Prüfung der politischen Fragen nicht nur für die Gegenwart,
seine Lebensdauer, sondern auch für die Zukunft seiner Kinder gewillt. Nach
meiner Ansicht wäre auch dessen Stimmkraft zu erhöhen. Ob schon ein eheliches
Kind oder erst mehrere die Erhöhung begründen sollen, wäre zu erwägen; doch
würde nach meiner Ansicht die Forderung mehrerer Kinder nicht dem Gerechtigkeits-
p-inzip des Wahlrechts entspringen, sondern dem Nebenzweck dienen, die für das
Vaterland bedeutungsvolle Volksvermehrung zu fördern, so daß ich sie ablehne.
Auch eine gehobene Bildung begründet meines Erachtens die Erhöhung der
Stimmkraft. Hierbei denke ich an einen gewissen Abschluß der Vorbildung und
Disziplinierung des Geistes, wie er bei der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen
Dienst gefordert wird.
Die abgeschlossene akademische Bildung gewährt unbestreitbar regelmäßig
eine beträchtlich erhöhte Urteilskraft, was eine entsprechende Verstärkung der
Stimmkraft rechtfertigt.
Schließlich ist auch nicht zu vergessen, daß eine gewisse Höhe des Ein-
kommens seinem Besitzer ermöglicht, das Fehlen gehobenen Unterrichts durch die
Erziehung im Leben zu ersetzen. Er ist nicht genötigt, seine Zeit so ausgiebig
der Arbeit zu opfern, daß ihm Muße und Stimmung zur Vervollständigung seiner
Bildung fehlen: er kommt weiter in der Welt herum und wird hierdurch abge-
schliffen und unterrichtet. Etwa von 7 500 Mark Jahreseinkommen an scheint
mir die Erhöhung der Stimmkraft gleichfalls berechtigt.
Die Abwägung des Umfangs der Verstärkung ist natürlich noch schwieriger;
sie ist Sache des Ermessens und des Gerechtigkeitsgefühls. Nicht zu beanstanden
dürste wohl sein, daß man dem älteren Wahlfähigen eine zweite Stimme miegt
und der Vater eine dritte Stimme erhält. Denn das doppelte Gewicht der ge¬
reiften Männer entspricht ohne Frage der Billigkeit. Da sie die überwiegende
Mehrzahl der stimmfähigen bilden, wird im Ergebnis die Stimmkraft des Vaters
nur um die Hälfte verstärkt. Da ferner auch die Väter in der reichlichen Mehr-
heit sich befinden, so kann der Dreistimmenwähler als das Naturgemäße auf
Grund der menschlichen Entwicklung an sich erachtet werden. Deshalb erhebt sich
schon die Frage, ob für den gehobenen Unterricht und das Einkommen die Zu¬
legung von je einer Stimme genügt, da dies doch nur ein Drittel Stimmver-
stärkung gegenüber dem Regelfalle bedeutet und nicht wenigstens je zwei Stimmen
für diese Eigenschaften gewährt werden müssen. Sicherlich aber würde es ungerecht
sein, wenn für die abgeschlossene akademische Bildung nicht wenigstens vier Stimmen
gewährt werden, da eine so fortgeschrittene Disziplinierung des Geistes auch für
die politische Einsicht und Schulung von größter Bedeutung ist.
In der Art der Abgabe dieser Stimmen wäre der Wahlberechtigte nicht zu
beschränken. Die Vorschrift geschlossener Abgabe sämtlicher Stimmen auf eine
Liste oder Person würde Überwachungsvorschriften erfordern, welche die Freiheit
und Heimlichkeit der Stimmabgabe gefährdeten. Auch ist nicht zu befürchten, daß
zersplitterte Abgaben der Stimmen sich häufig ereignen, da die Stimmberechtigten
doch nach ihrer Überzeugung wählen und die Gelegenheit zu Scherzen nicht gerade
bei der Wahlhandlung suchen.
Ein Zahlenbeispiel mag die Wirkungen eines so gegliederten Wahlrechts
veranschaulichen. Die Ziffern konnten natürlich nur geschätzt werden. Immerhin
sind zum großen Teile statistische Ergebnisse zugrunde gelegt.
In der letzten allgemeinen Neichstagswahl 1912 erhielten unter Weg¬
lassung der kleinen Gruppen und der unbestimmten und zersplitterten Stimmen —
die größeren Parteien in Preußen folgende Stimmenmengen, zu Tausenden ab¬
gerundet, und hätten danach im Landeswahlsystem, eine Stimmensumme von
18 000 angenommen, folgende Abgeordnete gestellt:
Werden den Wählern von 35 Jahren an und den Vätern je eine, den
Wählern mit gehobenem Unterricht und denjenigen mit einem Einkommen von
7500 Mark aufwärts je zwei und den Wählern mit einer abgeschlossenen Hoch-
Schulbildung vier Stimmen zugelegt, so verändert sich die Stimmenzahl, wieder
in runden Tausenden ausgedrückt, etwa dahin:
Als Stimmensumme sei 50000 genommen. Nach den Anhängerkreisen der
Parteien unterscheidet sich ihr Anteil an den Zuschlagsstimmen. Es werden etwa
erhalten:
Dieses Beispiel erhebt natürlich keinen Anspruch aus Zuverlässigkeit, zumal
statistische Unterlagen für die angeregten Fragen nur höchst mangelhaft vorhanden
sind und meistens für die Schätzungen nur einen gewissen Anhalt bieten. Doch
habe ich mich bemüht, die Schätzungen möglichst vorsichtig vorzunehmen, obwohl
ich mir den Hreis des gehobenen Unterrichtes und der abgeschlossenen Hochschul¬
bildung recht weit gesteckt vorstelle. Auch in der Zahl und Art der Stimmen¬
zuschläge habe ich Zurückhaltung geübt, weil es mir nur darauf ankam darzutun,
wie erheblich auf diesem Wege die Herrschaft der bloßen Zahlen eingeschränkt
werden kann, statt ihr auf künstliche indirekte Weise entgegenarbeiten und der
einen Ungerechtigkeit die Zulassung anderer Ungerechtigkeiten entgegensetzen zu
müssen. Wenn die linksstehenden Parteien sich von der Macht deS Schlagwortcs
freimachen können, so ist der Vorschlag auch für sie durchaus annehmbar. Auch
soweit er auf die Stimmkraft ihrer Anhänger ungünstig einwirkt, handelt es sich
um beschränkte, statistisch berechenbare und in ihren Folgen übersehbare Wir¬
kungen. Sie werden durch die Vorteile dieses Wahlsystems aufgewogen, welches
die den Volkswillen fälschenden unberechenbaren und unwägbaren Widerstände
beseitigt. Auch dürfen diese Parteien kaum darauf rechnen, daß sie hinsichtlich
der Ungleichheit der Wahlkreise ihren Willen durchsetzen, wenn das gleiche Wahl-
recht in geographischen Wahlkreisen zur Annahme kommen sollte.
in 11. Januar haben die Beratungen der Wahlrechtskommission
begonnen. In das schon bei den Plenardebatten stürmisch erregte
Meer der Meinungen, dessen Wogen sich über Weihnachten beruhigt
hatten, kommt aus obigem Anlaß neue Bewegung. Noch weiß
niemand, wohin sie führen wird, nur das eine ist klar, wir stehen
an einem Wendepunkte der preußisch-deutschen Geschichte. Auch auf dem Gebiete
der inneren Politik beginnt eine neue Epoche.
Der am W. November 1917 dem Landtag zugegangene „Entwurf eines
Gesetzes, betreffend die Wahlen zum Hause der Abgeordneten" schlägt vor, in
Preußen das (wenigstens formell) allgemeine, aber abgestufte Dreiklassenwahlrecht,
durch ein (formell und materiell) allgemeines und überdies „gleiches" zu ersetzen,
das in den deutschen Südstaaten schon besteht. Wie einst beim Übergang vom
Absolutismus zum konstitutionellen Versassungsstaate nimmt auch diesmal die
Wellenbewegung der politischen „Lautverschiebung" ihren Lauf vom Gebirge
zum Meer.
Beide Erscheinungen sind Teilvorgänge jenes großen Prozesses der „Demo¬
kratisierung" des Erdteils, den man nach den Erfahrungen von anderthalb Jahr-
Hunderten als Dominante unseres politischen Lebens ansehen kann. Das Urteil
über ihn hängt ab von der Bedeutung, die dem Schlagwort „Demokratisierung"
gegeben wird. Denn dies ist wie alle seinesgleichen — man gedenke nur der Lehre
vom „monarchischen Prinzip" im neunzehnten Jahrhundert — vieldeutig und
tendenziöser Ausbeutung zugänglich. Versteht man darunter die Gewinnung der
Massen für den Staat und des Staates für die Massen, also Verbreitung und
dadurch erhöhte Sicherung des Staatsgedankens, so ist hier zweifellos von der
Menschheit, die im übrigen ja durchaus nicht „gegebene" Forderung einer stetigen
Vorwärtsentwicklung erfüllt — soweit die unseren Blicken zugängliche kurze Weg¬
strecke eine richtige Beobachtung gestattet.
Indem das Staatsbewußtsein nicht nur wie einst den Herrscher mit seinen
militärischen und zivilem „Beamten" erfüllt, sondern immer weitere Kreise aus
dumpfer Verpuppung bloßer Passivuntertanenschaft zu staatsbürgerlichen Leben
erwachen, vollzieht sich natürlich auch eine Neuverteilung politischer Funktionen
und Rechte. Der staatliche Organismus hat gleichsam neue Zellen angesetzt, die
in Leistung und Gegenleistung als vollwertige Elemente des Ganzen gelten wollen.
Man äußert Sorgen über die Folgen einer „Demokratisierung" unseres
Staatslebens. Sie haben mit rückschrittlicher Gesinnung und Mißtrauen gegen¬
über der Masse unserer Volksgenossen nichts zu tun, in ihnen offenbart sich viel¬
mehr eine ganz berechtigte Stimmung der unbekannten Zukunft gegenüber. Man
ist sich über die Tragweite und Auswirkung neuer Einrichtungen noch nicht im
klaren, hat aber andererseits aus der Geschichte die unwiderlegbaren Zeugnisse für
den Verfall von Staaten aus Gründen des gestörten Gleichgewichts der Gewalten.
Jene Besorgnis richtet sich also ehrlicherweise nie gegen den Prozeß der „Politi¬
sierung" immer zahlreicherer Individuen; wie dürfte sie das auch, wächst doch
mit der fortschreitenden Urbarmachung des politischen Volksbodens die Aussicht
auf gehäufte Fruchtbarkeit.
Man könnte auch darüber hinaus mit der Belohnung des gereiften politischen
Interesses und Verständnisses der Vielen durch politische Macht einverstanden sein,
wäre nicht die Gefahr eines Miszbrauches dieser Macht um so viel größer, weil,
um im Bilde zu bleiben, der böse Feind reichere Gelegenheit hat, sein Unkraut in
den Acker zu säen.
Das sind „jene Mikroben im heiligsten Quell der Demokratie", gegen die
man bei uns miaute „entschlossen sanitäre Maßregeln" ergriff (nach dem Worte
eines schwedischen Schriftstellers) und diese „vorbeugende" Behandlung ist auch
für die Zukunft noch unerläßlich.
Das Problem liegt also nicht in der Strömung als solcher, sondern in
ihrem Gefälle und der Art ihrer Bettung; nicht darin, ob oder daß „fortge¬
schritten" werden soll, sondern in Tempo und Form dieses Fortschrittes. Die
Verfechter einer matzvolleren Bewegung sind da von vornherein in einer ungünstigeren
Lage. Es ist leichter sich von den Wassern tragen zu lassen als ihnen entgegen¬
zuwirken, auch wenn es sich um Deichbauten zu Nutz und Frommen des Landes
handelt. Das gilt schon bei normalen Verhältnissen. Nun gar im heutigen
Weltkriege, wo die ungeheueren Opfer aller Volksgenossen überwältigende Zahlen
aus der Kreditseite eintragen, scheint nur ein Schelm es wagen zu können, eine
Gegenrechnung aufzustellen. Die Anhänger der Reform haben Gefühlsmomente
auf ihrer Seite, wie sie stärker gar nicht gedacht werden können, während ihre
Gegner nicht nur dieses wirksamen Mittels entbehren, sondern darüber hinaus
sich noch des fatalen Vorwurfs eines sehr unheiligen Egoismus erwehren müssen.
Und dennoch nutz die Bilanz gezogen werdenI
Wir leben so stark unter dem Drucke des Augenblicks und in Gedanken der
Zukunft, daß die Zeiten vor dem August 1914 in der Erinnerung stark verblassen.
Aber trotzdem sollten wir nie vergessen, datz die damals entbundenen Kräfte uns
über die Schwelle gehoben haben, die ins herrlich-stolze Reich der Bewährung und
der Erfolge führte. Zu jenen Kräften gehörte in erster Linie das alte Preußen,
so wie es war — von männlich-individueller Größe und herber Tüchtigkeit, nehmt
alles nur in allem! — erprobt in tausend Stürmen. Dieses Preußen kennen
wir; wie sich das neue gestalten wird, in dem das „?ar ouique" gelten soll,
wissen wir noch nicht. Bei solcher Betrachtung wechseln die Farben: silbern¬
leuchtend zeichnet unser Staatsschiff seine Spur in die Wogen der Geschichte, aber
der künftige Kurs liegt noch ungewiß vom Nebel bedeckt. Nicht daß wir an¬
gesichts dieser Tatsache den Schreckensruf ,.lini3 Korussiae" erheben wollen, aber alle
Aufmerksamkeit anzuwenden und alle Sicherungen anzubringen, die vor Schaden
bewahren, ist unser gutes Recht und unsere Pflicht.
Zeiten der Reformen legen ganz natürlich den Nachdruck auf das Werdende
und vernachlässigen oder mißachten das Gewordene. Die historische Notwendigkeit
und Verdienstlichkeit der absolutistischen Epoche in den europäischen Ländern
wurde erst von späteren Geschlechtern begriffen, die den zum richtigen Schauen
erforderlichen Abstand von der Erscheinung gewonnen hatten,- die unmittelbar
darauf Lebenden sahen nur die Schattenseiten des Bildes. Ähnlich erging es dem
„dunklen" Mittelalter in der Linse rationalistischer Aufklärer. In dem jetzt um
Preußen brennenden Kampf der 'Meinungen ist das neue Wahlrecht ja nur eine
Teilerscheinung von jenem großen Umbildungsprozeß, den man mit diesem Staate
vorhat und dessen letztes Ziel bekanntlich auf seine Eingliederung in den Reichsver¬
band nach dem Muster Elsaß-Lothringens hinausläuft, wie sie schon vorher die
Männer der Paulskirche plänkelt. Selbst die Erfahrungen des Krieges, die doch
eigentlich einen Beweis „ex eventu" liefern, wie er schlagender nicht gedacht werden
kann, haben nicht verhindert, daß sich das Gewicht der Stimmen auf die Seite
der Tadler neigt und man über dem Besseren der Zukunft das Gute der Gegen¬
wart und Vergangenheit ganz zu vergessen scheint. Man stößt sich an der Eigenart
dieses preußischen Wesens, wie es — ohne schwarz-weiszfarbene Befangenheit darf
mau das aussprechen — eben nur einmal in der Welt geboren worden ist. Von
dem im einsamen Wetterkampf der Jahrhunderte hart und fest gewordenen Eichbaum
verlangt man plötzlich Biegsamkeit — oder sein knorriger Trotz soll gebrochen
werden. An einer Karikatur des Preußentums, etwa dem sattsam bekannten
„Ostelbier", werden Fehler und Schwächen, die uns bei jedem Menschenschlage begeg-
nen, geflissentlich in den Vordergrund gerückt und durch den Teil das Ganze herab¬
gesetzt. Eine sich literarisch gederdende Kritik versucht Umfang und Größe seiner
geschichtlichen Erscheinung zu benagen durch die Bemerkung, daß die Stein,
Hardenberg und Scharnhorst ja garnicht gebürtige Preußen.gewesen Selenit Als
wenn diese Männer in der Enge ihrer heimatlichen Verhältnisse jemals zu dem
Wirken und der Bedeutung gelangt wären, die ihnen wie ungezählten anderen
.^Ausländern" allein die Lebensluft des preußischen Staates ermöglichen konntel
Eine eigentümliche Beobachtung drängt sich auf. Geht es nicht Preußen in
der öffentlichen Meinung Deutschlands ähnlich wie diesem vor dem Forum der
Welt? Wiederholt sich nicht hier, — sofern man Deutschland überhaupt von
Preußen unterscheidet —, allerdings in weit schärferen Formen, auf größerer
Bühne jener Unwille über das unbegreifliche „Anderssein" des Deutschen, den
weite Kreise des eigenen Volkes gegenüber allem „Preußischen" zur Schau tragen?
Diese gleiche Behandlung geschieht nicht von ungefähr, sind es doch zum
Teil dieselben Ursachen, die das Ergebnis hier und dort zelligem.
, Abfällige Urteile über die angeblich rückschrittliche Gestaltung der Preußischen
ebenso wie der deutschen Verfassungszustande und die in beiden Fällen mehr oder
weniger vorliegende Verkümmerung politischer Freiheit sind lange genug vor dem
Kriege über die Grenzen gewandert und von dem in solchen Dingen hellhörigen
Auslande zur Kenntnis genommen worden. Erst jüngst hat der schwedische Sozial¬
demokrat Steffen den deutschen Genossen diese traurigen Folgen ihrer maßlosen
Agitation und Polemik vorgehalten. Aber auch weite Kreise der „Bourgeoisie"
sind von einer Schuld in dieser Hinsicht nicht freizusprechen. Die Fanfaren eines
Gustave Heros zum Sturme auf die preußische Bastille der Reaktion sind nur die
Antwort auf die unzufriedenen und drohenden Stimmen im eigenen Lager.
Welchen unermeßlichen Schaden das von einem linksliberalen Politiker bei uns
geprägte schiefe Schlagwort vom preußisch- deutschen „Obrigkeitsstaat" in der Welt
angerichtet hat, das wird man vielleicht erst lange nach dem Kriege ermessen können.
Zugegeben, daß es sich bei alledem nur um „haßnährende", nicht „haß-
verursachende" Faktoren handelt, ihre schädliche Wirkung bleibt immer noch groß
genug. Wenn nun in diesen Wochen von neuem die Rückständigkeit und Un-
freiheit unseres Staatswesens jedem, der es hören will, entgegengeschrien und von
einer rosenfarbenen, demokratisierten Zukunft geschwärmt wird, zu der die Wahl¬
reform nur eine erste Etappe darstellt, so fühlen wir uns gedrungen, aus Gründen
der Gerechtigkeit und innerer Nötigung Zeugnis abzulegen für jenes „alte"
Preußen, das doch beiläufig vorderhand den einzig realen Posten in der Rechnung
darstellt, indem wir seine jäh emporgeschnellte Schale mit den vollen Gewichten
einer glänzend bewährten Vergangenheit belasten.
Gerade das Thema Preußen ist von jeher ein Tummelplatz jener unseligen
deutschen Neigung gewesen, heimatliche Zustände und Einrichtungen zu kritisieren
und herunterzureißen. Der trübende Anhauch erhitzter Parteikämpfe bedeckt den
blanken Ehrenschild dieses Staates, und eine beharrliche Agitation hat es fertig
gebracht, ihn mit dem Modergeruch der Reaktion zu umgeben, indem sie einseitig
die Fehler seiner Tugenden ins Auge faßt. In einer Zeit, die das gleiche Recht
für alle auf ihre Fahnen schreibt, muß auch die andere Auffassung zu Worte
kommen, die über dem Sorgen für die Zukunft die Gegenwartswerte und die Er¬
innerung an das Erreichte nicht vergißt, zumal sie in unserem Volke größere
Verbreitung hat, als jene lärmenden Kundgebungen des „Fortschritts" ahnen
lassen.*)
Die hier berührte Frage hat aber auch noch ihren ganz bestimmten ver¬
fassungsrechtlichen Hintergrund.
Eine unvermeidliche Begleiterscheinung des politischen Kampfes besteht darin,
daß die Waffen der aufewcmderplatzenden Begriffe und Meinungen gar bald
schartig und unansehnlich werden. Das berühmte „auäacter cslumnmre" bringt
es zuwege, daß auch hier die verschiedenen Weltanschauungen und Partei¬
strömungen mit den Makeln der gegnerischen Kritik behaftet in die Erscheinung
treten. Wollte man sie in dieser entstellten Form insgesamt werten, so ergäbe
sich eine Summe negierter und negativer Leistungen, statt der. wie die Wirk-
lichkeit zeigt, einheitlichen Diagonale der Kräfte, die zugleich als Motor der Ent¬
wicklung für den Staat im großen und ganzen doch nie versagt hat.
Was zu verneinen und zu vermeiden war und bisher bei uns auch immer
glücklich vermieden wurde, ist vielmehr, wie das Gleichnis beweist, die Einseitigkeit
und Einförmigkeit der politischen Zielsetzung, das den Romanen eigentümliche
Ausschalten ganzer Gedankenkomplexe zugunsten einer radikalen Idee. Wie in Viel¬
seitigkeit, Dezentralisation und Partikularismus im guten Sinne ein Kennzeichen
unseres öffentlichen Lebens überhaupt liegt, so huldigen wir auch in der kon¬
stitutionellen Frage dem Ideal der sogenannten gemischten Verfassung, als wahre
Erben und Statthalter hellenischen Geistes, von welchem Platze uns die Kriegs¬
psychose französischer Gelehrten vergebens zu verdrängen sucht.
Unser allerdings nicht einfacher staatlicher Aufbau mit seinen llberwölbungen
und kunstvoll angebrachten Sicherungen bleibt dem Ausländer, namentlich dem
„präfektisierten" Franzosen, unverständlich, er bringt deshalb das ihm „unklare"
feine Getriebe unserer Verfassung — zugleich aus charakteristischer nationaler
Nötigung — auf die glatte Formel von der erdrückenden Macht Preußens, die
das „übrige Deutschland" vergewaltigt und nach ihrem Willen „unifiziert" (etwa
wie Paris die Provinz); innerhalb Preußens wird dann der Vereinfachung^.
Prozeß noch einmal vorgenommen, indem man seine politische Erscheinung ent¬
weder als monarchische oder als oligarchische Gewaltherrschaft „definiert".
Wir selbst aber sollten diesen Anschauungsfehler der Fremden nicht nach-
machen, sondern uns die fortwährende gegenseitige Bindung und Bedingtheit
unserer konstitutionellen Einrichtungen in Reich und Einzelstaat vor Augen halten,
jenen politischen Organismus, wo jedes Glied seinen bestimmten Wirkungskreis
hat und kein einzelnes auf Kosten der andern „überernährt" werden darf ohne die
Gesundheit des Ganzen zu gefährden.
Die Reformbedürftigkeit staatlicher Zustände ist nicht eine in alle Zukunft
konstant bleibende Größe und sie darf auch nicht sa libitum ohne Rücksicht auf
die jeweils gegebenen Verhältnisse bejaht werden. Mit anderen Worten, die
Änderungen im modernen Verfassungsleben können nicht ohne Gefahr sprung¬
weise unter Beibehaltung desselben Ausmatzes in inkinitum weitergehen, der Be¬
wegungsspielraum wird sich vielmehr verengen, je mehr die Entwicklung fort¬
schreitet. Sonst droht mit der „allgemeinen energetischen Entspannung, der
Kräfteaustilgung durch Spannungsausgleich", politischer „Kältetod"*). Und zum
Zweiten: da Preußen nun einmal eine ganz bestimmte hervorragende Rolle in
dem so eigentümlich in sich ausbalanzierten deutschen Verfassungssystem spielt,
kann eine zu starke Gewichtsveränderung an dieser Stelle leicht empfindliche
Störungen verursachen, zumal die andere Seite durch die mächtige Stellung
der Sozialdemokratie im Reich genügend belastet ist. Unsere Sozialisten waren
nicht ohne Grund und Folgen die stärkste politische Partei der Welt, und gerechte
Geister unter ihnen wissen es zu schätzen, daß die Verhältnisse im „reaktionären"
Deutschland — sie selber gebrauchen das Wort in Anführungsstrichen — für sie
weit günstiger liegen als in den angeblichen Demokratien des Westens.
Wie sollen wir uns nach alledem zu der Regierungsvorlage verhalten? Wir
verkennen nicht den Ernst der Lage. Nachdem einmal die Dinge soweit gekommen
sind — auf das Warum gehen wir für diesmal nicht ein — nutz etwas Energisches
geschehen. Wenn und da das Übel sich zu sehr eingefressen hat, kann nur eine
Operation helfen. Wie sie der Staatskörper überstehen wird, ist eine andere
Frage, die von dem Vertrauen aus die Gesundheit und das normale Funktionieren
aller seiner Organe abhängt. Und „Vertrauensfragen" dieser Art „lassen sich
niemals exakt beantworten" (Meinecke). Oder, wie es bei Einführung des Reichs
tagswahlrechts (1867) Windthorst ausdrückte: „Wahlsysteme kann man in Ab8tractv
nicht begründen". Es wird stets auf die praktischen Erfahrungen ankommen,
geradeso wie bei den verschiedenen Methoden der Regierungsweise!
Wir sind ferne davon, die Macht und das Recht einer Stimmung zu
schmälern, die unter den heutigen Verhältnissen Negierung und Volk zusammen¬
führen kann.
Wir behalten manche erfreuliche Wandlung in den Reihen der Sozial¬
demokratie im Auge, die Würzburger Tagung sowohl wie literarische Nutze-
rungen verständiger Parteischriftsteller, und werten die Reden der Hirsch und
Ströbel mit jenem Vorbehalt, den Zeit. Ort und Zweck ihrer Ausführungen
gestatten.")
Aber Politik wird seltener mit dem Herzen als mit dem Kopfe gemacht,
und die unvergeßliche Erhebung der Gegenwart einmal auch wieder anderen
Zeiten weichen, wo die mit gewaltigem Ruck nach außen gekehrte nationale Kraft
ins Innere zurückströme, um hier wie früher in tausend Sonderbestrebungen und
Wünsche aufzugehen. Eine neue Prüfung flachster Alltagsmisere wird über das
Volk kommen, dem die Not des äußeren Existenzkampfes alles „ins Ungemeine"
erhob, und ob dann die Hochspannung in seiner Seele „durchhält", ist nach
den am Einzelmenschen bekannten Erfahrungen zum mindesten ungewiß. Man
kann es also angesichts der schon jetzt erkennbaren Haltung extremer Elemente
(nicht nur der U. S.), die beim eben geschluckten Bissen gierig nach dem nächsten
äugen, keinem konservativ (nicht nur im Parteisinne) Denkenden verargen, wenn
er nach festen Schranken und Gegengewichten Umschau hält.
Wie diese beschaffen sein müssen, wie sie insbesondere „im Rahmen der
Vorlage" verwirklicht werden sollen, das sind Dinge, die uns hier nicht beschäftigen,
wo es sich zunächst nur darum handelte, die mit Vorliebe isoliert betrachtete
Wahlrechtsfrage in einen allgemeineren Zusammenhang zu stellen, der die Ver¬
knüpfung mit dem Gegebenen nicht aus den Augen verliert. Im folgenden seien
nur noch ein paar Worte zum gegenwärtigen Stande der Kommissionsberatungen
hinzugefügt.
Sie hatten kaum begonnen, da erregte sich schon der „Vorwärts" über an¬
gebliche Verschleppungsabsichten der Mehrheit. Und bereits nach zwei Sitzungs-
tagen hielt es ein verbreitetes linksliberales Blatt für angezeigt, mit der Sen¬
sationsüberschrift.- „Die Wahlreform in Gefahr" das „Volk" scharf zu machen,
das sich den Versuch, ein ihm „feierlich gegebenes Versprechen zu vereiteln", nicht
„gefallen lassen" werde. Dieses Benehmen entspricht weder den tatsächlichen Ver¬
hältnissen, noch ist es gerecht und klug. Soweit wir die Dinge überblicken, herrscht
bei den Kommissionsberatungen auf allen Seiten der gute Wille, positive Arbeit
zu verrichten. Eben darum leisten diejenigen dem Lande und der Sache einen
schlechten Dienst, die durch zügellose Agitation auf einen Konflikt zusteuern. Das
Drohen der Linken mit demagogischen Mitteln kann leicht zu unerwünschter Ver¬
kalkung der Verhandlung führen, und die Unterstellung von Obstruktionsabsichten
erweckt gerade die Obstruktion. An die von dieser Seite empfohlenen Ge
waltmaßregel (Oktroyierung) denkt man in Regierungskreisen nicht. Man will
ein so wichtiges Gesetz, wie es die neue Vorlage ist, nicht auf dem Wege des
Versassungsbruches einführen, schon um den fatalen Gedanken zu beschwören, als
könne man es auf demselben Wege wieder aus der Welt schaffen.
Die Ungerechtigkeit aber liegt darin, daß jene Stimmen den Gegnern der
Vorlage nicht einmal soviel Zeit zur Erwägung gönnen wollen, wie sie bisher
bei den nebensächlichsten Dingen, von Steuerprojekten gar nicht zu reden, ganz
selbstverständlich für erforderlich galt. Daß die einschneidendste Veränderung seit
Beginn der konstitutionellen Epoche in Preußen nicht vorgenommen werden kann,
als wenn man einen Handschuh wechselt, sollte doch eigentlich keiner Erörterung
bedürfen. Was schon allein im Rahmen der preußischen Verhältnisse aus dem
Spiele steht, die völlige Umwälzung aus den Gebieten der Kulturpolitik und der
Polenfrage braucht hier nur eben angedeutet zu werden. Daß aber die hier ein¬
setzende Bewegung nach einem Grundgesetze unseres innerpolitischen Lebens noch
viel weitere Kreise zieht, indem sie nichts geringeres zur Folge haben kann als
eine völlige Veränderung der aus einer weisen Vereinigung unitarischer und
föderalistischer Gedanken beruhenden Reichsverfassung, ist eine Tatsache, die sich
alle auf Kapital und Lebenskraft deutsch ^ konstitutioneller Einrichtungen unbe¬
kümmert darauf loswirtschaftenden Elemente eindringlichst überlegen sollten. Es
ist kürzlich die Vermutung ausgesprochen worden. Herr von Bethmann Hollweg
habe vielleicht durch die Wahländerung den Einheitsstaat anbahnen wollen. Zer-
schlagung und Eingliederung Preußens erstrebende Kräfte sind ja, wie wir wissen,
auch sonst am Werke. Der jetzige Reichskanzler allerdings scheint dergleichen Folgen
(die also sowohl gewollte wie in der Sache liegende sind) weder zu befürchten,
noch zu vertreten, wie sein im Zusammenhang mit dem Festhalten an Art. 9 N.-V.
ausgesprochenes Bekenntnis zum Föderalismus zeigt. Auf dieses wird man sich
auch berufen können, um die wiederholten Versuche und Empfehlungen, Preußen
als Objekt der Reichsgesetzgebung zu behandeln, zurückzuweisen. Soviel über die
Berechtigung und die Aussichten der stürmischen Dränger des „Fortschritts.""
Was die geflissentliche Betonung des „feierlich gegebenen Versprechens
anlangt, so mag hier schließlich noch daran erinnert werden, daß einer solchen
Kundgebung des monarchischen Willens gefühlsmäßig natürlich größerer Wert
beizulegen ist, als einer gewöhnlichen Ministerverheißung. Dadurch wird aber
keineswegs die juristische Natur des Vorganges beeinflußt. Oe jure handelt es
sich bei der Ankündigung des gleichen Wahlrechts um eine in besonders feierliche
Form gekleidete Art Thronrede, die bestimmte legislatorische Maßnahmen in Aus¬
sicht stellt und um nichts anderes. Darum sind aber auch die weiteren Folge¬
rungen und Verbindlichkeiten keine anderen als sie eben sonst in die Erscheinung
treten oder treten können. Die in Aussicht gestellten Gesetze werden von der
königlichen Regierung dem Landtage vorgelegt, und nun setzt der sreie Wille dieses
zweiten Verfassungsorgans bei der Behandlung der Vorlage ganz wie gewöhnlich
ein, d. h. das Parlament beurteilt die Staatsnotwendigkeiten von seinem Stand¬
punkte aus, selbständig und unabhängig von der Krone. Dieses von konservativer
und anderer Seite geltend gemachte Recht des Parlaments steht außer jedem
Zweifel. Anderenfalls würde man ja geradezu die Grundsätze des Verfassungs
Staates aufgeben und dem Absolutismus das Wort reden. Die Linke hat es bei
der Ablehnung von so und so viel früheren Gesetzentwürfen nicht anders gehalten
und nutz sich diesmal dem Spruche unterwerfen: Was dem einen recht ist, ist
dem anderen billig.
Auch ihr eigener Grundsatz, Verfassungsgesetze nicht in besonderen Formen
zu behandeln, spricht dafür, die Vorlage 6e jure nicht anders zu werten, als wenn
W>' ^> err Trotzki ist mit der bündigen Erklärung nach Se. Petersburg ab¬
gereist, daß die russische Delegation an ihrem Antrage festhalte, nur
ein Referendum solle über die Zukunft der von uns besetzten Gebiete
! Rußlands entscheiden. Wer hieraus folgern würde, daß Trotzki für
l Rußland überhaupt ohne Rücksicht auf das Ergebnis des Re-
ferendums darauf verzichtete, Einfluß auf die Gestaltung der Dinge in Kurland,
Litauen, Polen. Weißrußland zu nehmen, der ginge fehl. Bei der Besprechung zu den
Grenzfestlegungen zwischen der Ukraina und Polen südlich Brest-Litowsk bestritt
Herr Trotzki den Vertretern der Ukraina durchaus das Recht, selbständig mit den
Mittemächten abzuschließen. „In jedem Einzelfalle", sagte Trotzki, „würde es
einer Einigung zwischen uns und der ukrainischen Delegation bedürfen. Dies bezieht
sich natürlich auch im vollen Umfange auf die Gebiete südlich von Brest-Litowsk."
Gegen den Versuch der Weißrussen sich national zu organisieren, ist die russische
Regierung in Minsk mit Maschinengewehren vorgegangen, weil, wie Herr Trotzki
zugab, dieser Versuch nicht die streng „demokratischen" Bahnen wandelte, die die
Bolschewik! der Weltentwicklung vorschreiben möchten. Von russischer Seite wird
also ziemlich unverhüllt der Grundsatz vertreten, daß von einem Selbstbestimmungs¬
recht der Völker nur solange die Rede sein könne, wie es den Russen gefällt.
Ihre Formel von der Selbstbestimmung stellt also dieselbe Scheinheiligkeit dar wie
die, mit der die Bureaukratie der Zaren seit mehr als einem Jahrhundert die so¬
genannten Fremdvölker in gute Russen umzuwandeln strebte. Früher mußten die
Randgebiete sich dem moskowitischen, jetzt sollen sie sich dem anarchischen Im¬
perialismus der Bolschewik! unterwerfen. Das ist der ganze Unterschied. Im
übrigen verfahren die Räuberbanden der Bolschewiki in den baltischen Provinzen
noch willkürlicher und grausamer, wie die Hängegendarmen Murawjews es seiner¬
zeit in Litauen getan hatten.
Diese Parallelen liegen so klar auf der Hand, daß es uns unverständlich
erscheint, warum aus ihnen nicht auch entsprechendes Kapital geschlagen wird.
Nur Herr General Hoffmann hat in wirksamer Weise darauf hingewiesen. Die
verständigen Worte des Herrn von Kühlmann in einer Antwort an Trotzki, daß
die Ausdehnung der Revolution auf die vom Kriege schon genug heimgesuchten
Gegenden verhindert werden müsse, sind ziemlich wirkungslos verhallt. Graf
Czernin schließlich hat sich in einem Gespräch für die Presse wieder vorbehaltlos
auf den Boden der so haltlosen Formel gestellt und zwar, um ja uicht in den
Verdacht zu geraten, zu den Kriegsverlängerern Zu gehören.
Was heißt denn Kriegsverlängerer? Wer ist ein KMgsverlängerer? Der
in machtvollen schlugen den Gegner in möglichst kurzer Zeit zu werfen sucht und
dazu seinem Volke gewisse übersehbare Blutopfer auferlegte, oder derjenige, der
durch Verschleppung und Hinzögern der Entscheidungen immer neue Kräfte unter
neuen Schlagworten in das Völkermorden einführt und der Nation unübersehbare
Opfer aufbürdet? Erinnern wir uns doch, wie aus dem serbisch-österreichischen
Konflikt der russisch-österreichische und der deutsch-englische Krieg wurde. Es ging
ödes damals zunächst um die Frage, ob Österreich-Ungarn seine weltgeschichtliche
Mission und damit seine Daseinsberechtigung überhaupt gegen die Ansprüche
Rußlands und Italiens aufrecht erhalten sollte. Ein siegreiches zarisches Rußland
konnte die von ihm abgewandte Revolution wohl auch in die Habsburgischen
Lande tragen. Nun schüttelt die Revolution den russischen Staatskörper zu Tode
und ihre Führer brauchen Siege über die Nachbarvölker, um sich selbst, wie
es die Bureaukratie des Zaren versuchte, durch Krieg, jetzt Revolution ge¬
nannt, an der Macht zu erhalten. Jetzt sollen nicht nur die von uns
besetzten und schlecht und recht in Ordnung gehaltenen Gebiete dieser revo¬
lutionären Kriegspest ausgeliefert werden, sondern auch die Völker Deutschlands
und Hcibsburgs, die durch Heldentum auf dem Schlachtfelde und Geduld daheim
den Krieg aus ihren eigenen Landen zu vertreiben und fernzuhalten vermochten.
Unter Anleitung der Bolschewiki soll der deutsche Arbeiter womöglich die Grund-
lagen seines Wohlstandes nach russischem Muster vernichten. Konnte der Zar den
Krieg nicht in unsere Grenzen tragen, so soll eS jetzt die „gleichmachende" Revo¬
lution. Also unter anderen Formen soll der Krieg ausgedehnt, mit anderen
Schlagworten neue Gegnerschaften hergestellt und gegeneinander getrieben
werden. Nicht wir, die wir solchem Wollen ein energisches Veto entgegensetzen,
sind Kriegsverlängerer, sondern jene, die die Regierungen zur Nachgiebigkeit gegen
die Russen auffordern, nur um schnell zum Frieden zu kommen. Wenn die Re-
gierung den Kriegszustand um zehn Jahre verlängern will, möge sie den falschen
Propheten folgen! Ich glaube, eine ernsthafte Aufklärung über die Ge-
fahren, die jedem Deutschen, arm oder reich, von der russischen Revolution
drohe, würde nicht nur unseren, sondern auch den österreichischen Arbeitern
die Augen darüber öffnen, daß sie, wie schon gesagt, nur angespannt werden sollen,
den Ehrgeiz einzelner zu stillen, die nach der Macht streben, einzelner Ehrgeiziger,
die nichts zu verlieren haben, mit Eigenschaften, die sie in den meisten Fällen
nicht befähigen uneigennützige Führer des Volkes zu sein. Es sind Kämpfe um
die Macht unbewährter Menschen und Systeme gegen das Bestehende mit untaug-
lichen Mitteln, verschärft durch den Eindruck, den der Zusammenbruch des Zaren¬
reiches in der Welt hervorgerufen hat. Aber daS zarische Rußland und nach
ihm daS bürgerliche ist nicht gestürzt, weil der demokratische Gedanke der Bolschewiki
von besonders hehrer Reine wäre, sondern, weil jene innerlich faul, morsch, totkrank
waren und den Druck des freventlich begonnenen Krieges nicht auszuhalten
vermochten.
Und noch haben die Bolschewiki nicht gesiegt I ES ist auch kaum anzunehmen,
daß sie siegreich bleiben: es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß schon die entgegen
ihren Wunsch zusammentretende Konstituante ihrer Herrschaft ein Ende bereitet.
Die Ukraina geht schon jetzt mehr und mehr eigene Wege.
Kürzlich führte der preußische Herr Finanzminister Dr. Hergt in einer auch
sonst glänzenden Rede aus:
„Ich habe in meiner gestrigen Rede gegenüber den mancherlei Zeichen von Mi߬
stimmung und Unzufriedenheit betonen wollen, daß nicht der geringste Grund vorliegt, bange
zu sein, sondern daß wir bei den Leistungen von Heer und Flotte stolz auf unser Deutschtum
und stolz auf das, was wir geleistet haben, sein können. Mit diesem Gefühle brauchen wir
nicht zurückzuhalten. Da muß einmal ein kräftiges Wort gesagt werden. (Lebhafte Zu¬
stimmung rechts.) Warum hält denn Lloyd George jede Woche seine Rede? Er rechnet
mit der Psychologischen Wirkung auf das eigene Volk, auf das neutrale Ausland und auf
unser Volk. Demgegenüber muß jeder Minister jede Gelegenheit benutzen, mit aller Deut¬
lichkeit zu sagen, wie die Sache wirklich ist."
Man stelle sich vor, welchen gewaltigen Eindruck eine Darlegung über die
angedeuteten Zusammenhänge erwecken müßte, vorgetragen von einem Minister
in einer Berliner Arbeiterversammlung von 5—6000 Menschen. Wie vielen schäd¬
lichen, schleichenden Einflüssen würde sie entgegenwirken!
Die Verhandlungen in Brest sind wenigstens in der politischen Kommission
bis zum 29. d. M. unterbrochen. Verhandelt wird vornehmlich über Wirtschafts¬
und Verkehrsfragen mit der Abordnung der Ukraina. wobei der auch in Deutsch¬
land rühmlichst bekannte Nationalökonom Tugan-Baranowski den gut geschulten,
scharfsinnigen Wortführer spielt. Herr Trotzki ist nach Se. Petersburg, Herr Graf
Czernin nach Wien gereist. Wenn Herr Trotzki als Unterhändler zurückkehren
sollte, wird sich mancherlei ereignet haben, was den Fortgang der Friedensver¬
handlungen tief beeinflussen dürfte. Die russische Gesetzgebende Versammlung hat
einen politischen Gegner Trotzkis, den Sozialrevolutionär und ehemaligen Minister
in der Regierung Kerenskis, Tschernow, zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Diese
Nachricht über die Lage in Rußland, neben der nur die Nichtigkeitserklärung der
russischen Staatsanleihen, amtlich aus Rußland gemeldet wird, beleuchtet einiger¬
maßen die englischen und französischen Meldungen, die über eine scharfe Zu¬
spitzung der Lage berichten.
Die vorübergehende Ruhe in Brest-Litowsk gestattet uns, einmal zuzusehen,
wie es bei unserem Bundesgenossen an der Donau aussieht: das eigentümliche
Vorgehen des vom Wiener Auswärtigen Amt häufig benutzten Wiener-Fremden¬
blattes gegen eine mögliche Kandidatur des Fürsten Bülow als Friedensunter¬
händler hat alle Welt hoch aufhorchen machen. Diese unfreundliche Einmischung
in unsere inneren Verhältnisse ist von der gesamten Presse mit Einschluß der
Norddeutschen Allgemeinen Zeitung so scharf und einmütig zurückgewiesen worden,
daß wir nichts mehr hinzuzufügen brauchen. Aber auch von anderer österreichischer
Seite wird versucht, Einfluß auf Dinge zu nehmen, die uns doch in allererster
Linie angehen. So heißt es in einem Wiener Telegramm der „Frankfurter
Zeitung":
„Es wird immer klarer, daß mit halbem Einverständnis der Regierung die Völker
Österreichs, auch die Deutschen den Krieg nicht länger führen wollen, als bis auch die
Entente zu einem Verständigungsfrieden bereit ist. ja, daß sie die Verständigung an sich und
die Befreiung aller Böller von ihren Imperialisten als eines der Kriegsziele selbst be¬
trachten. Die Entwicklung geht hier mehr und mehr von einem exklusiven Nationalismus
zum demokratischen Internationalismus. Man muß diese Entwicklung im Auge behalten,
um nicht Gefahr zu laufen, schließlich isoliert für einen Macht- und Siegfrieden, der zugleich
die Verewigung des Militarismus bedeuten würde, einzutreten. Keine Agitation und keine
Umschmeichelung der Entente hat auf das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland
so nachteilig eingewirkt, wie das Gebaren der deutschen Vaterlandspartei."
Was würde man in Wien und Budapest dazu sagen, wenn vom Reich aus
in dieser Weise Stellung genommen würde, z. B. in der Frage des österreichisch¬
ungarischen oder auch nur deUtsch-tschechischen Ausgleichs? Ihre Nebenerscheinungen
können uns als Bundesgenossen doch gewiß manchmal auf die Nerven fallen!
Die Vaterlandspartei ist eine durchaus reichsdeutsche Angelegenheit! Mögen ihre
Organe hier und da in ihren Mitteln daneben greifen, so hat die Partei doch das
hohe und im wesentlichen erfolgreich angestrebte Ziel, die Nation zu einem
Frieden zu führen, der ihr'die Sicherheit bringt, sich ungestört friedlich auszuleben,
d. h. unter anderm. der auch die Existenz des deutschen Arbeiters, der ja gerade
dafür seine Knochen zu Markte trägt, in aller Zukunft sichert. — Nun stellt die
angeführte Wiener Korrespondenz es so hin, als wenn die Vaterlandspartei in
Osterreich den Weg zum „demokratischen Internationalismus" ebne, weil sie den
Friedensschluß mit Rußland aufhalte. Ich glaube, die Dinge in Österreich würden
auch ohne die Vaterlandspartei zum Internationalismus treiben, nachdem dort
wieder alle die in den Pariser Kaffeehäusern großgewordenen Kulturpolitiker freie
Meinungsäußerung erhalten haben und es ihnen möglich ist, für die russische
Revolution Propaganda zu machen. Wir weisen nur in der Abwehr auf die
Quelle der neu - österreichischen Stimmungen hin; im übrigen ist es vorläufig
nicht unsere Sache, ob die Monarchie, nachdem sie Rußland und Italien gegen¬
über siegreich geblieben ist, ihre historische Mission an einen von der russischen Demo¬
kratie geleiteten Panslawismus abtreten will. Der christlich-soziale Abgeordnete
Niklas kennzeichnete die Lage treffend, als er ausführte, der Hauptgrund der
Schwierigkeiten der Brester Verhandlungen liege in dem Versuch der Bolschewik,
ihre Ideen nach Österreich zu tragen.
In letzter Stunde kommt die erfreuliche Kunde aus Brest-Litowsk. daß
zwischen den Vertretern der Mittemächte und der Ukraina Grundlagen für einen
Friedensschluß ausgearbeitet sind, die nunmehr den Parlamenten zur Begut¬
achtung und Annahme vorgelegt werden sollen. So geht denn über Brest-Litowsk
der Vorhang zum zweiten Male nieder und in gehobenerer Stimmung erwartet
das Publikum sein Hochgehen zum dritten, hoffentlichen letzten Akte!
Auf unsere Seele, die wund geworden ist von den Pfeilen der Verleumdung,
legt sich wie lindernder Balsam dies Wort eines Freundes, und unser Gewissen,
das sich bei noch so strenger Selbstprüfung der Sünden nicht zeihen kann, die
Feindeshetze uns nachsagt, wird durch sein Zeugnis entlastet. Nicht zum ersten
Male erhebt der schwedische Gelehrte seine Stimme zugunsten der deutschen Sache.
In den „Großmächten der Gegenwart" (kurz vor dem Kriege), den „Politischen
Problemen des Weltkrieges" (1916), dem „Staat als Lebensform" (vom vorigen
Jahre), nicht zuletzt in der kleinen begeisterten Schrift über die „Ideen von 1914"
(1913) — überall neben der neuartigen konkret-lebendigen Auffassung der Probleme,
die uns fesselt, jene verständnisvolle Sympathie für unsere Lage und unser Wesen,
die uns erwärmt. „Ich ergreife Partei für zwei: die Wahrheit und mein schwedisches
Vaterland. Beide ziehen mich in die Nähe der einen Partei in der Weltkrise.
Als Wahrheitssucher bin ich mir ganz klar darüber geworden, daß nicht Deutsch¬
land es war. das den Kampf suchte, daß Deutschland nicht mehr verlangte, als
Gleichberechtigung bei der Gestaltung der Zukunft der Welt, und daß sein Volk
moralisch in keiner Einsicht niedriger, aber in gewissen, ganz bestimmten Punkten
höher als seine Widersacher steht." Diese Worte geleiten die neue Sammlung
meist kleinerer Aufsätze, die uns ein Bild geben, wie Rudolf Kjellön in der Presse
seiner Heimat während des Krieges für uns gewirkt hat. Er gruppiert die Fülle
seiner von den Augusttagen des Anfangs bis ins letzte Frühjahr hinein bei ver¬
schiedenen Anlässen erwachsenen Äußerungen unter die Rubriken „Allgemeine",
„Deutsche" und'„Besondere" Probleme.
Unter den ersten beschäftigen sich zwei mit England! der eine hält dein
patentierten „Beschützer des Rechts" die Hohlheit seiner Moral entgegen, die ihren
eigenen Grundsätzen ins Gesicht schlägt, zugleich eine Warnung an die unentwegt
Gläubigen der Branting - Gemeinde, der andere (.Fair M^") behandelt das ver¬
wandte Thema von der Berechtigung unseres U° Bootkrieges, der England dazu
zwingt, „unter nahezu gleichen Bedingungen" zu kämpfen. Auch nach Osten schaut
der Verfasser. Hier vermag er derselben Branting - Freunde rosenfarbene Er¬
wartungen für Schwedens Außenpolitik infolge „Rußlands Verwandlung" nicht
zu teilen. Neu ist in diesem Abschnitt ein Aufsatz über „Das Problem der drei
Flüsse" (Rhein. Donau. Weichsel) und jenes politische System, das es in einem
einzigen großen Zusammenhang löst" — Mitteleuropa. Dies „eine Frucht von
dem neuen Baum im Garten der Wissenschaft", der „Gevpolitik", die Kjellün auf
Friedrich Ratzels Spuren in seinen oben genannten Büchern in eigentümlicher
Weise herausgearbeitet hat. Die „besonderen Probleme" beschäftigen sich mit
kleineren Figuren des Weltkriegstheatcrs (Polen, Bulgarien, Serbien, Portugal,
Rumänien), ausführlicher mit dem „Königreich Flandern" in einigen die Farbe
des Moments tragenden Skizzen aus dem Frühjahr 1916.
Was aber sagt Kjellen über die deutschen Fragen? Zunächst die außen-
politischen. Hier bestand nach seiner Ansicht „Deutschlands Irrtum" in erster
Linie darin, eine Versöhnung mit England für möglich zu halten, trotzdem oder
gerade weil es eine Seemacht darstellen wollte. Mit anderen Worten in dem Kalkül
des „Risikogedankens". Denn die Unteilbarkeit der Seemacht ist Englands
„Lebenslüge". Aus demselben Grunde dürfe man der deutschen Diplomatie aus
der Tatsache der „Einkreisung" keinen Vorwurf machen: „Das Problem war
unlösbar. Keine Staatskunst der Welt hatte diesen Ring sprengen können."
Wieweit hier der Verfasser nach dem Grundsatz „a potiori lit äenomirmtio" handelt,
lassen wir dahingestellt. Jedenfalls ist er päpstlicher als der Papst, denn selbst
ein so ruhiger und besonnener Beobachter wie Meinecke hat in diesem Punkte
kürzlich offene Kritik geübt. (Probleme des Weltkrieges S. 69. 79). Eben aber.
weil hier die Gegensätze unausgleichbar sind, scheint nach Kjellen Deutschlands
Zukunft nicht „auf dem Wasser", sondern in jenem kontinentalen Programm zu
liegen, das die engere „mitteleuropäische" Interessengemeinschaft im Sinne Winter-
stettens („Berlin—Bagdad"), wie sie der Krieg geschaffen, durch eine unmittelbare
Land Verbindung mit dem neuen Kolonialreich „Mittelafrika" zu einem im Sinne
der Weltpolitik autarkischen Gebilde zusammenfaßt.*) Das bedeutet allerdings ein
Herausbrechen jenes Schlußsteins im englischen Weltherrschaftsbau, Ägyptens
„mit der Gewalt im Indischen Meer und allen wirklichen Welteroberungsplänen
und anderem Übermut wäre es vorbei" — aber andererseits wäre eine „Teilung
des Ozeans" (das rote Tuch für die englische öffentliche Meinung) vermieden,
„England könnte seine Seegewalt zum Zusammenhalt mit seinen Kolonien jenseits
der Gebiete der alten Welt behalten." Einmal angenommen, daß sich England
auf diesen Pakt mit verteilten Rollen einläßt, eine Schwierigkeit ergibt sich bei
dem Kjellenschen Vorschlag: Was wird aus den deutschen Schiffahrts- und See¬
handelsinteressen? Unsere Schiffahrt und Seemacht soll allerdings „natürlich nicht
einfach .auflegen"', aber es ist nicht recht ersichtlich, wie das geschehen kann, da
wir „auf dem Meere entsagen" sollen. Eine natürliche Einschränkung und Um¬
stellung auf diesem Gebiete ergäbe sich ja schon angesichts der von Kjellen — im
Gegensatz zur „offiziellen deutschen Volksmeinung" — behaupteten Tatsache, daß die
Zeiten des Prinzips der „offenen Tür" aus dem Weltmarkt vorüber seien. Weitere
künstliche „Einschränkungen" aber würden zweifellos mit Rücksicht auf den un¬
gestörten Beherrscher des Ozeans erforderlich. Daß bei diesem eben skizzierten
Aufriß deutscher Außenpolitik der Akzent trotz der heiklen ägyptischen Zumutung
auf einem herzustellenden „moäus vivenäi" mit England ruht, zeigt auch der
folgende Aufsatz über den „Deutschen Frieden", der einer Mäßigung gegenüber
dem besiegten England im Geiste des Nikolsburger Friedens das Wort redet,
obwohl Kjellen sich bewußt ist, daß man dabei beinahe „Übermenschliches" von
unserem Volke verlangt. In diesem Zusammenhange fällt einmal das Wort,
Preußen (wodurch die einseitig östliche Orientierung symbolisiert wird) müsse „in
seiner eigenen Seele überwunden" werden, nicht um es „auszutilgen", sondern
um es „als Kern einem größeren Leben einzuverleiben".
Das ist auch der leitende Gedanke bei der Betrachtung der inneren
deutschen Politik durch Kjellen. Also nicht eine „Einverleibung", wie sie sich die
Männer der Paulskirche dereinst dachten und wie sie neustens von Anschütz wieder
gefordert wird, der „Preußen so zu regieren" fordert, „als wäre es Reichsland"
(wogegen mit Recht E. Kaufmann, „Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung"
S. 82 f. Einspruch erhebt), vielmehr eine Synthese des Preutzentums und des
weiteren Deutschlands, jene Verbindung Potsdams und Weimars, wie sie seit dem
Freiherrn von Stein immer wieder die besten und einsichtigsten Geister gefordert
haben und auch jetzt wieder fordern. Ohne gegenseitige Opfer geht es dabei nicht
ab. Auf der einen Seite ist es das gänzlich veraltete Dreiklassenwahlrecht, auf
der andern der parlamentarische Herrschastsanspruch, wie Kjellen im engen An¬
schluß an Meineckes wichtigen Aufsatz über „die Reform des preußischen Wahl¬
rechts" (jetzt im Sammelband: „Probleme des Weltkrieges") referierend bemerkt.
So würde dem öden Schlagwort vom „autokratischen Preußen", mit dem in
Schweden wiederum Herr Branting hausieren geht, seine letzte Stütze genommen.
Auch hier strebt die „Weltentwicklung nicht nach den Traumbildern von Fanatikern
aus einem äußersten Flügel, sondern nach Gleichgewicht".
Ein paar Kleinigkeiten nebenbei: Es gibt bei uns formell keine „Freisinnige
Volkspartei" mehr, noch dazu als Deutschlands „Radikale", Friedrich Thinae ist
nicht „Direktor des Herrenhauses" und „die Paradoxe", das orux" sowie zur
Heinrich Otto Meisner
Die vorstehenden 6 Aufsätze geben von berufenster Seite eine vortreffliche
Einführung in die moderne Büchereibewegung. Von der Bibliothek unterscheidet
sich die Bücherei durch die Erkenntnis der Macht, welche in dem Buche steckt und
die Absicht, diese der allgemeinen Volksbildung nutzbar zu machen; daher dort die
Ruhe, hier die Bewegung. Die Bibliothek läßt sich suchen, die Bücherei sucht
Kunden, die Bibliothek will ein Tempel der Wissenschaft sein, die Bücherei ein
Warenhaus für allgemeine Bildungsbedürfnisse. Die Bibliothek betrachtet das
Buch als Gut und freut sich ihres Besitzes, die Bücherei betrachtet es als Ware
und sucht ihr Lager so schnell als möglich umzuschlagen. Die Bibliothek hat eine
Gebrauchsaufgabe, die Bücherei eine Verbrauchsaufgabe. Zeitlich folgt die Bücherei
auf die Bibliothek, wie die Volksschule auf die höhere Schule und sie ist wie die
gesamte moderne Volksbildungsbewegung getragen von der Überzeugung, daß im
Volke ein tiefes, wenn auch oft latentes Bildungsbedürfnis steckt, das zum Glück
des Volkes geweckt und befriedigt werden muß. Nach der verschiedenen Nuan-
cierung des Begriffs „Volk" Unterscheiden sich in der allgemeinen Büchereibewegung
verschiedene Richtungen. Die eine, in dieser Sammlung besonders durch Ladewig
vertreten, will unbedingte Freiheit des Buches; die Bücherei soll sich ganz passiv
nach den Forderungen der Benutzer gestalten und im Vertrauen auf die Selbst¬
regulierung der Dinge den^ Samen des Wissens nach allen Seiten ausstreuen;
die andere (Ackerknecht, Fritz und Jessen) weist der Bücherei eine bald als politisch,
bald als pädagogisch, bald als seelsorgerlich bezeichnete Aufgabe bewußter geistiger
Führung zu. Sie strebt, wenngleich noch nicht programmäßig, nach einer Zusam¬
menfassung der ganzen Bewegung und ihrer Mittel und stellt dem Volksbiblio-
thekar als weltlichem Seelsorger oder literarischem Vertrauensmann eine verant¬
wortungsvolle und persönliche Aufgabe, zu deren Lösung ihm insbesondere in den
beiden Aufsätzen von Ackerknecht eine Fülle ebenso wertvoller wie einleuchtender
Winke geboten wird. Folgt die erste Richtung den Spuren der amerikanischen
öffentlichen Bücherei mit ihrem unbegrenzten Glauben an Menschheit und Bildung,
so bleibt die zweite mehr in der Bahn des bisherigen deutschen Volksbücherei-
Wesens und des ewig schulmeisterlichen im deutschen Geiste. Sie hat dement¬
sprechend wohl mehr Aussicht, bei uns durchzudringen. Praktisch freilich bedeutet
die Zusammenfassung Verstaatlichung und damit in einem Lande mit so wenig
innerer Toleranz wie Deutschland die Gefahr, daß die Bücherei in den Dienst
bestimmter Tendenzen gestellt und ihr der Grund, in dem sie allein wurzeln kann,
das bedingungslose Vertrauen des Volkes abgegraben wird. Das Schicksal so
mancher anderen Bewegung, die freigewachsen in dem Augenblick verkümmerte,
da der Staat sie in kunstgerechte Pflege nahm, gibt immerhin zu denken.
Von Einzelheiten ist besonders zu erwähnen der sehr interessante Nachweis
Ladewigs. daß sich politische Strömungen nach 3—5, rein geistige nach 10—15
Jahren in den Benutzungsziffern der Bibliotheken ausdrücken: auch im letzteren
Falle ist die Bücherei immer noch ein empfindlicheres Instrument als die Schule,
deren Lehrpläne der allgemeinen Kulturentwicklung durchschnittlich im Abstand
eines Menschenalters folgen. — Das Verhältnis von Bücherei und Volkswirtschaft
Am
6. Juni 1915 waren es 25 Jahre gewesen, daß in Berlin der „Verband mittlerer
Reichs-Post- und Telegraphen-Beamten" ins Leben trat. Jetzt versendet der
Verlag: Deutscher PostVerband, G. in. b. H„ Berlin ^0. 18, Große Frankfurter
Straße 53, eine „Geschichte" des Verbandes von Fritz Winters, Redakteur der
„Deutschen Postzeitung" im Umfange von nicht weniger als 703 Seiten! Die
Tatsachen, die in den beiden eben geschriebenen Sätzen enthalten sind, beweisen
allein schon, was in den 25 Jahren aus dem Verbände geworden ist. Deutlicher
noch sprechen folgende Zahlen, die den Stand am Ende des Verbandjahres 1913/14
wiedergeben: Mitglieder 39 961, Vermögen 3659959 M. 38 Pf.!
Winters' Geschichte führt uns vor Augen, wie und unter welchen Schwierig¬
keiten der Verband das'geworden ist, als was er heute vor uns steht; besonders
der Abschnitt „Sturm und Drang" (S. 68—169) gibt uns fesselnde Aufschlüsse.
Es ist ein Ausschnitt der Geschichte deutscher Gesellschaftsbildung, was hier vor
uns entrollt wird; ein Dokument zäher, rechtschaffener und vorbildlicher Arbeit
freier Männer für die Gesamtheit.
Wer ein Herz für den „neuen" Mittelstand hat und dessen Bedeutung für die
innerpolitische Entwicklung unseres zu starker Demokratisierung drängenden Vater¬
landes richtig bewertet, wird im Studium des vor uns liegenden Werkes reichen
Gewinn finden. Denn durchaus zutreffend darf der Biograph des Verbandes
seinen organischen Aufbau „vorbildlich für alle Beamtenvereinigungen" mit ähn¬
lichen Zielen nennen.
Wenn ich mir eine Bitte erlauben darf, die vielleicht erfüllt werden kann,
so wäre es die: könnte nicht noch ein Namensregister zu dem umfangreichen Werke
nachgeliefert werden, sowie ein Quellennachweis, in dem die stenographischen
Berichte der Parlamente, die auf die Standesverhältnisse der mittleren Postbe¬
amten Bezug haben, verzeichnet wären? Das schon jetzt wertvolle Buch würde
dann Publizisten und Politikern als ein Nachschlagewerk nutzbar gemacht werden,
das ohne Zeitverlust leicht im Interesse des Verbandes benutzt werden könnte.
1901 erschien der erste Band dieses Geschichtswerkes, 1909 die erste Hälfte
des zweiten: die zweite Hälfte des zweiten Bandes und der dritte Band sind in
Vorbereitung. Schon jetzt hat sich eine neue Auflage des ersten Bandes als not¬
wendig erwiesen, ein Beweis, daß das Werk sich durchgesetzt hat. Es hat sich
immer mehr herausgestellt, daß nicht so sehr das reine Hellenentum, als vielmehr
der Hellenismus, die Amalgamierung hellenischen und orientalischen Wesens, eine
der Grundlagen unserer Kultur ist. Zudem ist das Interesse für den Hellenismus
nicht wunderbar in einer Zeit, die mit dem Hellenismus so viele verwandte Züge
aufweist. Der erste Band, der mit dem Tode Alexanders des Großen endet, wie
einst Droysens Darstellung vom Jahre 1833, die kürzlich in einer neuen Ausgabe
erschien (Berlin, Decker, 1917), hat tiefgreifende Umgestaltungen erfahren. Nament¬
lich haben jetzt auch die orientalischen Zustände, die neben den: hellenischen Stadt¬
staat und dem makedonischer Volkskönigstum eine Wurzel der Monarchie Alexanders
bildeten, seit er — nach der Schlacht bei Jssos — über die Politik seines Vaters
Philipp hinausging, die verdiente Würdigung erfahren. — Es steht zu erwarten,
daß dieser Krieg auch die Reste des Klassizismus über den Haufen rennen wird;
da erscheint Kaerst's Darstellung als die beste Einführung in die noch vielfach
nicht genügend bekannte Welt des Hellenismus. Kaerst ist Geschichtsforscher und Ge¬
schichtsschreiber in einer Person. Reiche Belehrung und hohen Genuß werden die
L
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsähe nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichtersclde West. — Manuslriptsendungen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
An die «chriftleitung der Grenzboten in Baru» SV 11, Tempelyofer Ufer 3S-.
Fernsprecher de» Herausgebers: Amt Lichterfelde 49S, des Verlags und der Schriftleitung! Amt Lüyow Mio,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H, in Berlin LV II, Tempelhofer Ufer S5a,
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin SV 11, D-ssau-r Strasze 3«/S7.
aß das allgemeine, gleiche Wahlrecht für die preußischen Landtags¬
wahlen durchgeführt wird, steht so gut wie fest; 'damit muß sich
jeder abfinden. Die Konsequenz ist, daß es auch für die Kommunal¬
wahlen maßgebend wird, und zwar sowohl für die Städte als auch
für die Landgemeinden und die Kreisverwaltung. Die Gefahr einer
völligen Demokratisierung der Kommunalverwaltungen ist also mit dem Aufhören
des Dreiklassenwahlsystems mindestens für die größeren Städte vorhanden. Dort
werden die Stadtvervrdnetenwahlen naturgemäß in sozialdemokratischen Sinne
ausfallen, dementsprechend auch die Magistraiswahlen. Allerdings will man dem
entgegentreten durch Festhalten an der bisherigen Begünstigung des Hausbesitzes.
Nach H 16 der Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der preußischen
Monarchie muß die Hälfte der in jeder Abteilung zu wählenden Stadtverordneten
Hausbesitzer sein. Indessen Hausbesitzer zu werden ist heutzutage nicht schwer.
Die sozialdemokratische Partei. wird schon die nötige Anzahl von Hausbesitzern
als Kandidaten aufbringen und aufstellen, um sich die Mehrheit in der Stadt¬
verordnetenversammlung zu sichern. Freilich in den kleineren Städten wird dies
nicht der Fall sein. Doch ist ja nicht ausgeschlossen, daß auch dieses Vorrecht der
Hausbesitzer zugunsten des gleichen Wahlrechts fällt.
, Es fragt sich, ob der Schaden für die größeren Städte wirklich so groß sein
wird, wie man befürchtet. Nehmen wir an, die Stadtverordneten beständen in
einer solchen Stadt ganz oder überwiegend aus Sozialdemokraten, ebenso der
Magistrat, da die Regierung heutzutage diesen Magistratsmitgliedern die Be¬
stätigung kaum versagen würde. Werden solche Stadtverordnetenversammlungen,
solche Magistrate die kommunalen Aufgaben erfüllen können?
Die vornehmsten sind die Ortspolizei, das Schulwesen, Bauten, Armen¬
wesen, Steuererhebung. Die letzten drei Punkte unterliegen wohl keinem Be
denken. Die Steuererhebung ist ja nur eine rein technische Arbeit, die der Stadt
zur Last fällt, das Armenwesen wird ebenso unter demokratischer Verwaltung ge
beiden wie unter der bisherigen und die öffentlichen Bauten desgleichen, da hier¬
für ja doch hauptsächlich Fachmänner in Betracht kommen, die als besoldete Ge¬
meindebeamte bzw. Magistratsmitglieder angestellt oder gewählt werden müssen.
Ja es ist anzunehmen, daß hinsichtlich Kanalisation, Wasserversorgung, Haus- und
Wohnungshygiene noch sorgfältiger zu Werke gegangen wird als bisher, indem
man noch mehr auf die minderbemittelten Klassen sein Augenmerk richten wird,
die den Wirkungen mangelhafter Einrichtungen viel mehr preisgegeben sind als
die Wohlhabenderen, die sich dagegen leichter zu schützen wissen. Gerade der
Ärmeren werden sich aber ihre Vertreter in den Selbstverwaltungskörperschaften an¬
nehmen, da sie selbst diesen Klassen angehören. Andererseits wird der Einfluß
der Reicheren aufhören, ganz besonders der kommunalen Klüngel, der „Richer-
zechen", die sich durch ihr besseres Wahlrecht bisher vielfach in den Besitz der
Stadtregierung setzten und scheinbar selbstlos ihre Kräfte dem Gemeinwohl
widmeten, in der Tat aber leider oft ihren Vorteil dabei zu finden wußten und
in den eigenen Beutel wirtschafteten. Es sei nur an die Anlage von Straßen
erinnert, die geschickt die Grundstücke von Stadtverordneten und Stadträten be¬
rührten, sei es daß sie jenen schon früher gehörten, sei es, daß sie vor kurzem erst
in „weitblickender" Klugheit aufgekauft worden waren. Da ist hin und wieder
eine Straße angelegt worden, die zwei bis drei Häuser nur von der Parallel¬
straße entfernt führt. Sapienti sat! Diese Rücksichtnahme, diese Verbeugung der
Kommunalverwaltung vor dem Geldsack wird aufhören, wenigstens eine Zeitlang,
bis die neuen Herren auch alteingesessen geworden sind und ebenfalls der mensch¬
lichen Schwachheit ihren Tribut zollen. Es wird also zunächst höchstens eine
Besserung der Verhältnisse eintreten dort, wo sie sich in der eben bezeichneten
Weise gestaltet hatten, später vielleicht wird es ebenso sein wie jetzt, der Schaden
also mindestens nicht größer sein.
Anders steht es mit der Ortspolizei und dem Schulwesen. In vielen
größeren Städten ist erstere königlich, von einem Polizeipräsidenten oder Polizei¬
direktor wahrgenommen. Die Folge der Demokratisierung der Kommunen wird
und muß sein, daß dies in noch viel höherem Maße geschieht, und zwar nicht
bloß in größeren Gemeinwesen. Auch kleinere Städte werden einen staatlichen
Polizeidirigenten erhalten müssen, dort wenigstens, wo man der herrschend ge¬
wordenen Sozialdemokratie die Polizeiverwaltung, also die diskretionäre Aus¬
übung der Staatshoheit nicht anvertrauen kann. Natürlich ist diese besondere
Ausübung der Polizeigewalt mit großen Kosten verknüpft, die aber der Staat im
Interesse seines Hoheitsrechtes übernehmen muß. In den eigentlichen Klein¬
städter könnte neben dem Bürgermeister ein ehrenamtlich bestellter Polizeianwalt
fungieren, entsprechend den ehrenamtlichen Amtsvorstehern des platten Landes;
die Arbeit würde auch nicht umfangreicher sein; dort hat der Amtsvorsteher eine
ganze Anzahl von Landgemeinden unter sich, hier handelt es sich nur um eine
kleine Stadtgemeinde.
In zweiter Linie käme dann das Schulwesen in Betracht. Hier ist zwischen
höherem und Volksschulwesen streng zu unterscheiden. Gewiß ist das Volksschul¬
wesen der Aufsicht des Staates unterstellt, und die Aufsicht wird in größeren
Städten durch Stadtschulräte und Stadtschulinspektoren ausgeübt, denen der Staat
erst das Recht der technischen Kontrolle durch besonderen Auftrag gibt, indem er
sie zu Kreisschulinspektoren bzw. OrtSschulinspektoren ernennt und selbst über sie
durch die Regierung die Aufsicht führt. Aber der Magistrat hat das Recht der
Lehrerwahl, die Stadtschuldeputation hat dieselbe vorzubereiten, ganz abgesehen
von dem großen Einfluß, den die Unterhaltungspflicht der Stadtverwaltung ein-
räumt. Die Gefahr, daß so die Volksschule der Sozialdemokratie ausgeliefert
würde, ist also vorhanden. Indessen sitzen in der Stadtschuldeputation auch Schul¬
männer und Geistliche, und der Staat könnte die Zahl der fachmännischer Elemente
erhöhen, so daß die Mitglieder aus dem Magistrate und der Stadtverordneten¬
versammlung nicht überwogen. Dann wäre die Einwirkung der Sozialdemokratie
auf die Volksschule stark eingedämmt, falls man nicht überhaupt daran geht,
die Volksschule ganz zu verstaatlichen. Größere Kosten würden nur scheinbar ent¬
stehen; falls der Staat eine Ortsschulsteuer erhöbe, würde es sich mehr um eine
Umschattung als Vermehrung der Steuern handeln: was bisher der Bürger an
Schulsteuer für die Gemeinde zu zahlen hatte, zahlt er jetzt an den Staat.
Diesen Schritt hat der Staat im höheren Schulwesen schon zum Teil getan.
Ein großer Teil der höheren Lehranstalten ist staatlich, die Verstaatlichung schreitet
immer weiter vorwärts, und die städtischen Anstalten sind ganz und gar der Auf¬
sicht der Kommunen entzogen, ihre Lehrer sind mittelbare, wenn nicht unmittelbare
Staatsbeamte. Letzteres ist eine Streitfrage, da sie ihre Anstellung und Besoldung
von den Städten erhalten. Aber man darf demgegenüber nicht vergessen, und
dies ist bei der Behandlung der Streitfrage bisher nicht genügend beachtet
worden: der Staat gibt den städtischen Oberlehrern wie den Direktoren einen be¬
stimmten Rang gleich den anderen Staatsbeamten, den ersteren den der Amts¬
richter, den letzteren, falls sie Direktoren von Vollanstalten sind, denjenigen der
Landgerichtsdirektoren und Ersten Staatsanwälte; er betrachtet sie also als un¬
mittelbare Staatsbeamte.
Allerdings hat die Stadt durch ihr Wahlrecht Einfluß auf die Besetzung der
Stellen. Doch der Anstellung sozialdemokratischer Oberlehrer oder gar Direktoren
kann der Staat stets durch Versagung der Bestätigung vorbeugen. Selbst wenn
er dies künftig nicht mehr wagen sollte: die Zahl der Sozialdemokraten unter dem
höheren Lehrerstande würde selbstverständlich verschwindend klein sein; und sollte
ein solcher wirklich angestellt werden, so wäre der Schaden nicht größer, als wenn
etwa ein streng ultramontaner Oberlehrer an einem paritätischen Gymnasium den
deutschen oder Geschichtsunterricht erteilt. Die Aufsichtsbehörde, Direktor oder
Provinzialschulkollegium können in solchen Fällen den Einfluß des Betreffenden
durch Übertragung anderen, etwa lateinischen oder erdkundlichen Unterrichts, un¬
schädlich machen.
Soweit die größeren Städte. In den Kleinstädter und. um das gleich
hinzuzunehmen, auf dem platten Lande gestaltet sich die Sache noch viel einfacher.
Da ist an sich heute schon der Einfluß auf die Schule sehr gering; er wird so
bleiben, wenn bei der Wahl der Lehrer und Rektoren sowie bei der Zusammen¬
setzung der Schuldeputation bzw. der Schulvorstände der Staat sein Schwergewicht
geltend macht.
Anhangsweise sei hier der Kirche Erwähnung getan. Sie ist der Ein¬
wirkung des städtischen oder sonstigen Patronats durch ihre Verfassung entzogen.
Zur Gemeindevertretung und zum Gemeindekirchenrat haben sich bis jetzt die
Sozialdemokraten nicht hinzugehalten; sie werden es auch künftig bei ihrer kirchen¬
feindlichen Haltung kaum tun; sie müßten ja kirchliches Interesse bekunden oder
wenigstens heucheln, was sie nicht wollen werden. ,
Wir wenden uns jetzt zu den Landgemeinden. Auch hier überwog das
Recht der Angefesselten; nicht blos; die Hälfte, wie in den Städten, sondern sogar
zwei Drittel der Mitglieder der Gemeindevertretung muszten nach 52 der Land¬
gemeindeordnung für idie 7 östlichen Provinzen der Monarchie angesessen sein.
Auch wenn dieses Vorrecht zugunsten des allgemeinen, gleichen Wahlrechts fallen
sollte, so wird doch die Bedeutung des Grundbesitzes hier gegenüber den Einlegern,
Tagelöhnern und Fabrikarbeitern kaum zurückgedrängt werden. Aber selbst im
Besitze der Herrschaft als Gemeinde-Vorsteher, Schöffen, Gemeinde-Veroronete
würden diese Elemente nicht allzuviel zu sagen haben, da dem Gemeinde-Vorstand
die eigentliche Polizeigewalt fehlt. Der Vorsteher ist nur das Organ des Amis-
vorstehers für die Polizeiverwaltung: er darf polizeiliche Maßregeln nur dann
ergreifen, wenn sofortiges Einschreiten notwendig ist. Er ist also ganz und gar
vom Amtsvorsteher abhängig. Dieser aber wird vom Oberpräsidenten aus einer
vom Kreistage aufzustellenden Liste auf sechs Jahre ernannt und so dem Einfluß
der Gemeinde hinsichtlich seiner Bestellung und Wirksamkeit gänzlich entzogen.
IM Kreistage hingegen und damit im Kreisausschusse, der aus dem Kreis¬
tage gewählt ist, könnte die Sozialdemokratie unter Umständen das Übergewicht
erlangen. Der Kreistag setzt sich aus den Vertretern der Städte bis zur Hälfte
oder einem Drittel je nach dem Vevöllerungsanteil des ganzen Kreises zusammen,
der Rest verteilt sich gleichmäßig auf die größeren Grundbesitzer (mit mindestens
150—400 Mark staatlicher Grund- und Gebändesteuer) und den Wahlverband der
Landgemeinden. Wenn in den zum Kreise gehörigen Städten und in den Land¬
gemeinden die Sozialdemokraten den Ausschlag geben sollten, so würde der Kreistag
zu mindestens zwei Dritteln ihnen gehören; sie würden dort die Mehrheit bilden
und auch die Demokratisierung des Kreisausschusses herbeiführen. Dies der
schlimmste Fall. Dann würde doch nur im Kreise ähnlich verwaltet werden wie
in den größeren Städten, aber mit dem gewaltigen Unterschiede, daß an der Spitze
der Kreisverwaltung ein königlicher Beamter steht, der Landrnt, der zugleich die
volle Polizeigewalt ausübt. Wird auch der Landrat vom Kreise vorgeschlagen, so
ernennt ihn doch der König. Schon mit Rücksicht auf sein Polizeiamt wird nie¬
mals ein dem Staate nicht genehmer Mann Landrat werden. Sollte der Kreis
einen solchen aber vorschlagen und bei seinen: Beschlusse beharren, so würde einfach
seitens des Staates ein kommissarischer Beamter bestellt werden. Konflikte würden
also schlimmstenfalls nicht ausbleiben, aber in solchen hat bisher immer der
Staat gesiegt; es sei nur an solche Vorkommnisse bei der Besetzung von Bürger¬
meisterstellen in größeren Städten erinnert, wo auch längere kommissarische Ver¬
waltung eintrat und die Entschlossenheit und Zähigkeit, mit welcher der Staat
seine Macht geltend machte, schließlich zum Siege führte.
Schule und Polizei wird der Staat niemals der Sozialdemokratie ausliefern,
selbst wenn die Regierung noch so demokratisch angehaucht wäre. 3unt nordi
äenique !me3.
Ein ganz anderes Gesicht zeigt die behandelte Frage in den sprachlich und
national gemischten Provinzen des Staates, in Nordschleswig, Ost-, Westpreußen,
Posen, Brandenburg (Wenden), Schlesien und der Rheinprovinz. Dort tritt der
nationale Gegensatz in den Vordergrund. Die nichtdeutschen Elemente, meist den
niedrigen Schichten der Bevölkerung angehörig, würden durch das neue Wahlrecht
infolge ihrer Überzahl die Deutschen völlig an die Wand drücken. In Ostpreußen
sind zwar die Masuren und Litauer staatstreu, ebenso die Wenden in der Lausitz
und die mittelsch lesischen Polen in der sogenannten Wasserpolackei. Anders aber'
die Polen in Westpreußen, Posen und Oberschlesien, die Dänen in Nordschleswig
und die Wallonen in der Rheinprovinz. Da ich die Verhältnisse nur in Posen
und Oberschlesien kenne, will ich auch nur auf diese Provinzen Bezug nehmen.
In Oberschlesien ist Wohl zu unterscheiden zwischen dem Hüttenbezirk und
dem übrigen Lande. Im ersteren tritt neben die polnische Propaganda die Sozial¬
demokratie, in letzterem handelt es sich mehr um das Polentum allein. Hier wie
dort ist aber ein gewaltiger Zuwachs beider Mächte zu erwarten. Doch spielt noch
ein Faktor bei den oberschlesischen Polen eine Rolle, die katholische Kirche, die
nur widerstrebend die polnische Agitation einiger Geistlicher gestattet, vielmehr um
die Herrschaft des Zentrums besorgt ist und diese gegenüber dem Polentum zu
behaupten sticht. Die Kautelen, die der Staat anzuwenden hat. um sich gegen
das überhandnehmen des Polentums hier zu schützen, werden dieselben sein, wie
oben gesagt,, und sich hauptsächlich auf Schule und Polizei zu erstrecken haben.
Die polnische Frage ist schließlich in Oberschlesien keine so brennend gefährliche,
wie in Posen. Dort ist der Besitz größtenteils in deutschen Händen, hier
aber tritt neben den deutschen Grundbesitz der viel umfangreichere polnische
und dazu noch die Macht der Kirche, die ganz und gar im Dienste der nationalen
Sache steht.
In den Städten der Provinz Posen war schon jetzt unter dem Dreiklassen-
Wahlsystem der Kampf zwischen Deutschen und Polen ein sehr harter. Die erste
und zweite Abteilung wählte zwar im großen und ganzen noch deutsche Stadt-
verordnete, die dritte zeigte gewöhnlich eine polnische Mehrheit. Die Deutschen behaup¬
teten sich aber in der ersten und zweiten Abteilung meist nur mit Hilfe der Juden.
stützte sich jedoch beim Kampfe um die Sitze im Stadtparlament der Deutsche
auf den Juden, so gilt umgekehrt dasselbe. Der Pole ist nämlich durch und
durch Antisemit; er haßt den Juden als geschäftlichen Konkurrenten, und der
polnische Mittelstand strebt geradezu darnach, den Juden geschäftlich zu boykottieren.
Der frühere Wucher ist durch die Entstehung der polnischen.Kreditinstitute größten¬
teils beseitigt, im reellen Geschäft ist die Konkurrenz der Polen zu groß; also
zieht der reich gewordene Jude vielfach aus den kleineren Städten fort; er hat es
nicht mehr nötig, mit dem Polen um das liebe Brot zu kämpfen, und begibt sich
nach der Großstadt, wo ihm bei dem vorhandenen Anlagekapital bequemerer und
größerer Verdienst winkt. Der weniger wohlhabende Jude bleibt und wehrt sich
wie er kann, besonders unter Anlehnung an den Deutschen. Da er aber weiß,
daß dieser ihn ebenfalls braucht, um sich in der Stadtverordnetenversammlung
zu behaupten, läßt er sich seine Hilfe ordentlich bezahlen. Die Hälfte der nicht¬
polnischen Mandate ist der gewöhnliche Preis des Bundes. So ergibt sich vielfach
ungefähr eine Drittelung der Sitze nach Deutschen, Juden und Polen. Erklärend
sei hier bemerkt, daß in Posen die Juden im allgemeinen noch als ein besonderer
Teil der Bevölkerung angesehen werden müssen.
Nach Einführung des gleichen Wahlrechts würde dies mit einem Schlage
anders sein. Die Stadtverordneten wären dann in den meisten Städten durch¬
aus oder überwiegend Polen. Flete selbst das Hausbesitzer-Vorrecht nicht, so
würde das hier nichts ausmachen. Die Polen sind schon seit langer Zeit bestrebt,
möglichst viel städtischen Grundbesitz an sich zu bringen; an Hausbesitzern herrscht
ihrerseits kein Mangel. Das wäre aber kein größerer Kbelstand als in den Städten
der anderen Provinzen, falls der Magistrat deutsch bleibt. Aber da sitzt der Haken.
Die polnischen Stadtverordneten werden nur Polen zu Magistratsmitgliedern
wählen, und der Staat wird bei dem neuen Kurse der Ostmarkenpolitik diesen die
Bestätigung nicht mehr wie früher versagen, so dasz selbst der Bürgermeister ein
Pole sein könnte. Ebenso würden bald alle städtischen Beamten polnisch sein.
Wird nun der Staat in seiner Nachgiebigkeit gegen das Polentum soweit gehen,
daß er diesen: auch die Ortspolizei und die Volksschule überläßt?
Das erstere kann er nicht wagen. Will er auch heute die Polen aus alle
mögliche Weise gewinnen, die Herrschaft kann er nicht ganz aus der Hand geben.
Es bleibt also auch hier nur der Weg übrig, Polizei und Selbstverwaltung zu
trennen. Auf dem platten Lande hat man ja schon königliche, festangestellte und
besoldete Polizeibeamte, die Distriktskonunissare. In Anbetracht der besonderen
nationalen Verhältnisse war dies geboten. Der Staat braucht nur einen Schritt
weiter zu gehen und die Städte ebenfalls solchen Beamten hinsichtlich der Polizei
zu unterstellen. Ganz kleine Städte — sie sind in Posen sehr zahlreich — könnten
den benachbarten Distriktskommissaren zufallen, in den größeren müßte ein be¬
sonderer Beamter als Polizeidirigent amtieren. Die Mehrkosten würden für den
Staat recht erheblich sein; aber will er nicht ganz vor dem Polentum kapitulieren,
muß er die genannte Maßregel ergreifen. Gerade zu diesen Stellen würden sich
gewesene Offiziere sehr gut eignen. Schon jetzt rekrutieren sich die Distrikts-
kommissare vielfach aus solchen. Nach dem Kriege würden sie in noch umfang¬
reicheren Maße zur Verfügung stehen.
Auch die Kreistage und Kreisausschüsse würden ihre Physiognomie ver¬
ändern. Der Kreistag hatte bei der großen Zahl der polnischen Gutsbesitzer schon
jetzt ein überwiegend slawisches Gepräge. Von nun ab würden auch die Ver¬
treter der kreisangehörigen Städte Polen sein. Von den Mitgliedern, welche der
Wahlverband der Landgemeinden in den Kreistag schickt, verstände sich dies von
selbst. Dementsprechend würde auch der Kreisausschuß nur aus Polen bestehen.
Aber an seiner Spitze stände nach wie vor der Landrat. Einen Polen hierzu zu
machen, dazu würde sich der Staat nie verstehen, er müßte denn der Losreißung
Posens vom Körper der Monarchie selbst Vorschub leisten wollen. In der Person
des Landrath, in dem Amt der Distriktskonunissare bliebe dem Staate dann noch
Stütze und Stärke gegenüber den deutsch- und vaterlandsfeindlichen Bestrebungen
der Polen. Ob genügend, wird sich zeigen.
Wie steht es nun mit dem Schulwesen? Das höhere ist mit geringfügigen
Ausnahmen staatlich; die wenigen städtischen höheren Schulen stehen, geradeso
wie sonst in Preußen, in strengster Abhängigkeit vom Staate. Bisher haben sich
die Polen dem höheren Schuldienst, wie überhaupt dem höheren Beamtentum
ferngehalten. Gewiß wuchs die polnische „Intelligenz" immer mehr; die Zahl der
polnischen Schüler auf den höheren Schulen nahm immer mehr zu, aber die-
jenigen, welche sie verließen, wurden Geistliche, Ärzte, Rechtsanwälte, Redakteure,
Kaufleute, Versicherungsbeamte usw. Höchst selten ergreift ein polnischer Abiturient
die Staatslaufbahn. Er käme sonst in Widerstreit mit seiner politischen und
nationalen Überzeugung. Wurde aber einer Beamter, so hatte er in der Provinz
Posen nicht auf Anstellung zu rechnen, selbst wenn er sich von jeder nationalen
Vetätigung fern hielt. Man mißtraute ihm, und nicht mit Unrecht. Es ist auch
nicht anzunehmen, daß es beim neuen Polenkurse wesentlich anders werden wird.
Der Treueid für König und Verfassung ist ein zu großes Hemmnis, wenigstens
für jemand, der auf Ehre hält. Der höheren Schule droht also auch in Zukunft
keine große Gefahr. Sollte aber selbst das Polnische wieder als Unterrichtssprache
eingeführt werden, wie es einst an den Gymnasien zu Ostrowo, Tremessen und
am Marien-Gymnasium zu Posen der Fall war, sollte auch die Erteilung wenigstens
des katholischen Religionsunterrichts in polnischer Sprache, wie vor dem Kultur¬
kämpfe, gestattet werden, so hätte dies alles mit der Einführung des gleichen
Wahlrechts nichts zu tun, sondern ist reine Staats-, nicht Selbstverwaltungs-An-
gelegenheit^
Auch der Volksschule droht die Gefahr von ganz anderer Seite als von den
Kommunen bzw. dem gleichen Wahlrecht. In der Provinz Posen liegt die Unter¬
haltung der Volksschulen nicht den Gemeinden, sondern der Sozietät der Haus¬
väter des Schulbezirkes ob. Die Anstellung der Volksschullehrer liegt aber beim
Staate. Ist somit jeglicher Einfluß des Polentums auf die Volksschule ausge-
schaltet? Erstens nur dann, wenn der Staat auch weiterhin zu Orts- und Kreis¬
schulinspektoren keine polnischen Geistlichen bestellt. Es ist zu hoffen, daß es hierin
beim alten bleibt. Aber zweitens: Wer sind die Volksschullehrer? Viele derselben
sind äußerlich Deutsche, in der Tat aber Polen. Die zahlreichen Präparanden-
anstalten und Seminare ziehen mit ihren Benefizien und Stipendien eine große
Anzahl junger Leute an, die rein polnischer Abkunft sind und nur mühsam das
Deutsche erlernt haben, um als junge Lehrer gleich wieder mitten in polnische
Umgebung zu kommen. Sie heiraten größtenteils Polinnen und sprechen eigentlich
dann nur in der Schule Deutsch, zu Hause in der Familie fast nur Polnisch, das
natürlich auch die Muttersprache ihrer Kinder ist, so daß Lehrersöhne bei der Auf¬
nahmeprüfung für das Gymnasium wegen schlechter Beherrschung des Deutschen
durchfielen. Ich habe Lehrersfrauen kennen gelernt, die keinen ordentlichen deutschen
Satz fertig bekamen, obwohl sie sich die größte Mühe gaben; handelte es sich doch
um das Heil ihrer Söhne. Trotzdem wiegt der Vorwurf für die Landlehrer
nicht allzuschwer, da diese nun einmal mitten unter Polen sich befinden und mit
Deutschen oft längere Zeit gar nicht in Berührung kommen. Falsch wäre es aber,
etwa nur Deutsche als Lehrer in die polnischen Dörfer zu schicken; sie würden
dort völlig dem nationalen Boykott verfallen. Ebenso falsch ist es aber, daß man
jene polnischen Lehrer für Stützen des Deutschtums ansieht, da sie naturgemäß
ein offenes Eintreten für das Polentum vermeiden, und ihnen sogar die Ost¬
markenzulage zuteil werden läßt. Auch in den Städten liegt die Sache oft
nicht anders.
Zwar die evangelischen Lehrer sind durchweg deutsch, aber die Mehrzahl
der Bevölkerung ist katholisch, demgemäß auch die der Volksschullehrer. Und
Katholisch und Polnisch deckt sich gewöhnlich. So hat man auch viele polnische
Lehrer in den Städten angestellt, die nur formell zu den deutschen Beamten ge¬
hören, in Wirklichkeit aber die Zahl der polnischen Familien vergrößern. Hier
könnte der Staat seinen vollen Einfluß geltend machen, indem er die Anstellung
von nur durchaus deutschen Lehrern bewirkt. Eine genaue Kenntnis der Nationalität
und Gesinnung des Betreffenden wäre doch leicht durch Kreisschulinspektor und
Polizei zu ermitteln. An deutschen Bewerbern für die Städte würde es nicht
fehlen, auch nicht aus anderen Provinzen.
Also auch die Volksschule kann der Staat deutsch erhalten und vor der
etwaigen Polonisierung seitens der Selbstverwaltung bewahren — wenn er will.
Die slawische Flut, die mit dein neuen Kurse in der Ostmark hoch geht und durch
Einführung des gleichen Wahlrechts noch höher steigen wird, findet dann ihre
Dämme. Fest müssen und werden diese sein; denn es steht zu viel auf dein
Spiel. Handelt es sich doch darum, ob der schwarze oder weiße Adler über
Posen und vielleicht auch über Westpreußen und Schlesien herrschen soll. Ich
hoffe aber trotz des neuen Königreichs Polen, und diesen Gedanken teilt sicher
jeder echte deutsche Mann, daß in unserer Ostmark der schwarze Adler den weißen
für immer vertrieben hat.
n früheren Aufsätzen der „Grenzboten" ist die ältere'Entwicklung der
Ruthenen bis zur Gegenwart verfolgt und die ruthenische Frage bis
1916 gekennzeichnet worden.*) Ihr Kernpunkt liegt in zwei Wünschen
der Ruthenen: vor allem das alte Streben nach der Befreiung der
russischen Ukraina, dann die seit 1848 immer wieder von ihnen ver¬
suchte Befreiung Ostgaliziens vom polnischen Druck durch die Um¬
wandlung dieses Gebietes in eine abgesonderte ruthenische Provinz.
An die Befreiung der Ukraina — wir verstehen darunter stets nur das vo»
Ruthenen bewohnte Gebiet Rußlands**) - mit Hilfe Deutschlands war schon 1791
gedacht worden. Der Plan war damals von ukrainischen Adeligen ausgegangen;
aber Preußen vertröstete den Abgeordneten auch einen geeigneten Zeitpunkt. Zur
Zeit des Krimkrieges 18L3 dachte man andererseits in Preußen an die Schwächung
Rußlands durch die Herstellung der Ukraina. 1888 war man zur Zeit der wachsenden
Spannung zwischen Wien und Petersburg wieder darauf zurückgekommen. Hart-
mann trat damals (angeblich von Bismarck veranlaßt) in der „Gegenwart" für
die Herstellung „des Königsreiches Kijew" ein. Es war wohl nur eine Demon¬
stration, an deren Ausführung nicht gedacht wurde- hat doch Bismarck noch bis
1890 einen geheimen Neutralitätsvertrag mit Nußland gehabt und selbst 1895
noch einer Huldigungsabordnung der Odessaer Deutschen gesagt- „Rußland ist
jedenfalls ein besserer Nachbar als mancher andere. Deshalb bleiben Sie gut
deutsch, aber schädigen Sie die russische Freundschaft nicht." Mit der wachsenden
Spannung zu Rußland wuchs in Deutschland das Interesse an den Rnthenen,
was die Polen oft bitter vermerkten. Der Weltkrieg hat dann die deutsche Teil¬
nahme überaus rege gestaltet. Dem „Bund zur Befreiung der Ukraina" wurde
ein ganz außerordentliches Entgegenkommen in allen Kreisen gezeigt. Seine Arbeit
wurde überall unterstützt. Durch Vorträge, durch unzählige Zeitungsartikel und
selbständige Schriften,*) durch die „Osteuropäischen Empfangsabende" in Berlin
und durch die Gründung des „Verbandes deutscher Förderer der ukrainischen Be¬
freiungsbestrebungen" in München wurde für das Verständnis der ruthenischen
Frage,,gewirkt. In deutsch-österreichischen .Kreisen nahm man bei den Beratungen
über Österreichs Neugestaltung immer wieder ans die Ruthenen Rücksicht. Man
kann sagen, daß noch niemals die deutsche Allgemeinheit so sehr für irgendeine
Frage der östlichen Politik eingenommen wurde und man würde wünschen, daß
sie nur einigermaßen ähnlichen Eifer den Belangen der Ostdeutschen entgegen¬
bringen würde. In allen diesen Äußerungen Deutschlands und Österreichs ist
einstimmig die Nützlichkeit der Befreiung der Ukraina betont worden. Die große
Fülle dieser Äußerungen verzeichnen die „Ukrainischen Nachrichten" (Mitteilungen
des „Bundes zur Befreiung der Ukraina". Wien) und das „Ukrainische Korre¬
spondenzblatt" (herausgegeben vom Allgemeinen Ukrainischen Nationalrat, Wien).
Erwähnt sei nur, daß auch Fürst Bülow in seinem bekannten Werke „Deutsche
Politik" (1906) mit der Erstarkung des russischen Reiches rechnet, „wenn nicht
Rußland entweder politischer oder sozialer Zersetzung verfällt oder die Ukraina,
seine Kornkammer und Basis seiner Industrie verliert. Ob die Lösung von
Kongreßpolen eine Schwächung Rußlands bedeuten würde, steht dahin" (S. 86).
Diese Stimmung in Deutschland und Osterreich wurde in den Blättern des
„Bundes" und verwandten ruthenischen Veröffentlichungen stets sehr anerkennend
besprochen. Anderseits ist in den ruthenischen Blättern und zahllosen von Ruthenen
verfaßten Schriften^) immer wieder die Versicherung zu lesen, daß die Befreiung
der Ukraina nur mit unserer Hilfe zu erhoffen sei. In Rußland wurden diese,
Beziehungen der Ruthenen zu Berlin und Wien und die damit verfolgten Absichten
mit Erbitterung festgelegt. Im Frühjahr 1916 schloß ein Kampfartikel der „No-
woje Wremja" mit den Worten- „die Verhältnisse der zwischen den Deutschen und
Russen wohnenden Völker müssen geordnet werden, aber nicht nach der deutschen
Schablone". Die Besprechung dieses Artikels begleiten die „Ukrainischen Nach¬
richten" mit der Bemerkung: „Die Russen hatten vor dem Kriege Zeit genug, das
schwere, auf den nichtstaatlichen Nationen lastende Joch zu erleichtern, sie haben
das aber nicht getan; jetzt müssen andere ihre Unterlassungssünden gut zu machen
trachten." Immer wieder wird in diesen ruthenischen Schriften betont, daß die
Ukraina der einzige und beste Schutz für Österreich-Ungarn und Deutschland gegen
die anwachsende Macht Rußlands sein werde. Man erinnerte auch daran, daß
die Ukrainer schon lange den österreichischen Kaiser als ihren Herrscher gewünscht
hätten. Ja, noch im August 1917 hat nach der „Nowoje Wremja" der Metropolit
Graf Szyptycki an Kaiser Karl eine Kundgebung gerichtet, daß beim Betreten der
russischen Ukraina durch die siegreichen österreichischen Armeen die militärischen,
rechtlichen und kirchlichen Fragen geordnet werden müssen: die Ukraina sollte ein
vollkommen unabhängiger Staat werden; den hervorragendsten populärsten öster¬
reichischen Feldherrn könnte Kaiser Karl zum Helenen der Ukraina ernennen.
Immer wieder las man, daß ^ sterreich sür die Nuthenen eine Zufluchtsstätte vor
der russischen Verfolgung gewesen sei. „Die nationalen Fortschritte der öster¬
reichischen Ukrainer - - führte die Ukrainische Korrespondenz im Juni 1916 aus —
fanden in Rußland lauten Widerhall und feuerten die Stammesgenossen immer
wieder zum Kampf aus. Jede nationale Errungenschaft in Osterreich festigte eines
die Position der Ukrainer und ließ sie mit nationalen Ansprüchen an die russische
Regierung herantreten. Letztere suchte die ukrainische Nativnalidee an ihrem
Hauptherde in Galizien durch eine großzügige Agitation, durch Kauf und
Anleitung zu Verrat und Empörung zu treffen. Die immer unverblümteren
Übergriffe,.auf galizischen Boden verschärften die ohnedies gespannten Beziehungen
zwischen Österreich und Rußland, die schließlich im gegenwärtigen Kriege ihre
gewaltsame Auslösung fanden." Ebenso haben die Ukrainer Wolhyniens, sobald
die russischen Heere von uns verdrängt worden waren, an die Ruthenen in
Galizien und der Bukowina eine Adresse gerichtet, in der sie deren Tätigkeit auch
als Rettungswerk für sie begrüßten. Andererseits wurden stets wieder harte
Anklagen gegen Rußland laut. In allen ruthenischen Schriften und Zeitungen
wurden stets die härtesten Vorwürfe gegen Rußland erhoben, die Greueltaten der
Russen im ruthenischen KriegSgebiet und dessen Russifizierung erzählt, die Be¬
drückung der griechisch-katholischen Ruthenen und ihre zwangsweise Bekehrung zur
Orthodoxie geschildert. Ein im „Ukrainischen Korrespondenzblatt" vom 21. Juli
1916 abgedruckter Artikel über das Verhalten der Ruthenen zu Nußland ist „Un-
ausgleichbare Gegensätze" überschrieben und schließt mit den Bemerkungen: „Die
ukrainische Frage ist längst eine Frage der internationalen Politik geworden. Alle
Versuche, Rußlands Macht für immer einzudämmen, laufen konzentrisch in der
Notwendigkeit zusammen, die Ukraina, das Kräftereservoir Rußlands, von Mosko-
witien abzulösen. Die Größe ihres Gebietes, die natürliche Abgeschlossenheit ihres
politischen und wirtschaftlichen Territoriums, der Reichtum und die Fruchtbarkeit
des Bodens, der in seinen Stromsystemen zugleich die billigsten Verkehrswege
liefert, endlich die sprachliche, kulturelle und stellenweise religiöse Sonderheit des
ukrainischen Volkes verbürgen die Lebensfähigkeit eines selbständigen ukrainischen
Staates. Die uuausgleichbare Gegensätzlichkeit zu Rußland, die sowohl wirt¬
schaftlicher wie politischer und kultureller Natur ist, gibt ihm für immer die
Orientierung nach der Seite der Zentralmächte." Nach all dem hat man anzu¬
nehmen geglaubt, daß die Befreiung der Ukraina nur durch völlige Lossagung
von Nußland und im engsten Anschlusse an die Mittemächte erfolgen könnte.
Inzwischen glimmte in der Ukraina die revolutionäre Bewegung. Man
hatte in manchen Kreisen auf sie große Hoffnung gesetzt und war über das lange
Ausbleiben einer inneren Bewegung in Rußland enttäuscht. Polnische Politiker
suchten die Ukrainer überhaupt politisch und kulturell tot zu sagen, so vor allen
A. Bruckner in seiner Schrift „Die Slawen und der Weltkrieg" (1916). Aber
schon im Sommer 1916 brachten die Zeitungen die Nachricht, daß die russische
Polizei einer ukrainischen Verschwörung auf die Spur gekommen sei. In Petersburg
und inKijew wurden ukrainische politische Vereinigungen entdeckt, die unter dem
Verdacht standen, einen bewaffneten Aufstand der gesamten Ukraina angestrebt zu
haben. Ein Komitee gab seit Monaten Agitationsschriften für die Selbständigkeit
der Ukrainer heraus. Sie enthielten die dringende Forderung, das kleinrnssische
Gebiet als Randstaat von Rußland loszulösen. In einem Manifest soll darauf verwie¬
sen worden sein, daß der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch wohl den Polen Autonomie
zugesagt, den Ruthenen in Galizien aber völlige Russifizierung in Aussicht gestellt
hätte. Man wird nicht irren, wenn man dieses stärkere Hervortreten der Bewegung
in der Ukraina mit den Siegen der Zentralmächte in Verbindung bringt. Wohl
sind wir nicht bis in die eigentliche Ukraina gedrungen, aber der Sieg unserer
Waffen hat nicht nur den Polen, sondern auch den Ukrainern die Freiheit gebracht.
Ohne das Niederringen der russischen Heere wäre es nicht zur Revolution, nicht
zum Sturz des Zarentums, und damit auch nicht zum Gelingen der ukrainischen
Bewegung gekommen. Diese ist also von uns nicht nur moralisch unterstützt,
sondern auch auf dem Schlachtfelde gefördert worden. Die Zertrümmerung des
Zarismus war durchaus nicht so ganz ein Werk der inneren Revolution, wie jetzt
gern behauptet wird. Ein anderer Grund des Gelingens der Bewegung in der
Ukraina ist, daß sie wie die allgemein russische überwiegend sozial ist.
In welchem engeren Verhältnisse die revolutionären Kreise in der Ukraine
zu dem „Bunde zur Befreiung der Ukraina" und dessen Förderern standen, läßt
sich vorläufig uicht feststellen. Jedenfalls finden wir in diesen Kreisen Männer,
die aus der Ukraina stammen und daraus kein Hehl machen. So rühren zahlreiche
Artikel, die stets scharf gegen Rußland und für den Anschluß an die Mittemächte
eintreten, von einem ehemaligen Hochschullehrer in Kijew her. In der Ukraina
selbst hat- freilich stets eine Partei bestanden, die nicht alle Brücken, die nach
Petersburg führten, abbrach. Auch die russische Öffentlichkeit sollte für die Be¬
rechtigung der ukrainischen Forderungen gewonnen werden. Diesem Zwecke diente
z. B. ein Aufsatz über die nationale Wiedergeburt der ukrainischen Nation im
Petersburger „Rjetsch" (Juni 1916), den die „Ukrainische Korrespondenz" im
September in Übersetzung brachte. Dieser Artikel tritt sehr kräftig gegen die Be-
drückung der Ukrainer und für ihre Rechte ein: daß aber die Erfüllung dieser
Forderung nur durch Losreißung von Nußland erfolgen könnte, wird nicht mit
einem Worte angedeutet. Wie maßgebend diese Richtung in der Ukraina war,
lehrten die Ereignisse nach dem Ausbruch der Revolution: die Ukrainer entschieden
sich für den Verbleib bei Rußland. Die andere Richtung (selbständige Ukraina im
Anschluß an die Mitternächte) hätte nur den Sieg davongetragen, wenn wir die
Ukraina (wie Polen) mit Waffengewalt befreit hätten. Unrichtig ist die Behauptung/')
daß auf diesen Ausgang die Haltung der Mittemächte den Polen und öster¬
reichischen Ruthenen gegenüber einen entscheidenden Einfluß geübt hätte.
Die sofort in der Ukraina mit großer Stärke hervortretende Bewegung war
auf die nationale Autonomie und soziale Reformen (Bauernkongresse, Aufteilung
von Grund und Boden!), nicht aber auf die Losreißung von Rußland gerichtet.
Gleich in den ersten Tagen der Revolution bildete sich in Kijew aus Abgeordneten
aller ukrainischen Parteien der „Ukrainische Zentralrat", dessen Obmann der be¬
kannte Lemberger Professor Michael Hrnschewskyj wurde. Der Zentralrat leitete
die Bewegung und berief den ukrainischen Nationalkongreß ein, der vom 19. bis
21. April in Kijew tagte. Dieser sprach sich, wie die Petersburger Telegraphen¬
agentur schon am 21. April meldete, für die russische demokratische Bundesrepublik
aus, in der der Ukraina eine allerdings weitgehende Autonomie eingeräumt werden
sollte. Der einzuberufende russische konstituierende Reichstag sollte diese Beschlüsse
nur bestätigen dürfen. Der „Ukrainische Zentralrat" wurde entsprechend erweitert;
Aufnahme fanden Vertreter der ukrainischen Gouvernements, der Großstädte, der
verschiedenen Parteien, der Geistlichkeit, Studentenschaft und Arbeiter. Die
laufenden Geschäfte übernahm ein Exekutivkomitee (Hruschewskyj, Jefremiv und
Wynnytschenko). Der Zentralrat hatte für den weiteren Ausbau der Verwaltung
zu sorgen. Die provisorische russische Regierung war klug genug, auf diese
Forderung einzugehen und so wurde die ukrainische Sprache sofort gesetzlich an¬
erkannt. Der Ausbau der ukrainischen Republik nahm unter der Führung des
Zentralratcs raschen Fortgang. Überall traten nun Ukrainer an die Spitze der
Verwaltung, die ukrainische Sprache fand überall Eingang, ukrainische Vereine
und Organisationen bildeten sich in rascher Folge, ukrainische Zeitungen (darunter
das Hauptblatt „Nowa Nada") erschienen, eine ukrainische Miliz entstand und
die Bildung der ukrainischen Armee wurde in Angriff genommen, der griechisch¬
katholische Ritus wurde gesetzlich anerkannt und die ukrainische Kirche sollte wieder
selbständig werden. Nicht nur in Kijew und der Ukraina, sondern auch in Peters'
bürg und Moskau traten ukrainische Organisationen ins Leben. Anfangs Juli
kam dann die Nachricht, daß der ukrainische Zentralrat in einer Proklamation an
das ukrainische Volk angekündigt habe, daß die ukrainische Republik konstituiert
sei. Es wurde eine ukrainische Negierung eingesetzt, und zwar ein Reichsver¬
weser, ein Kriegs-, ein Marine-, ein Justiz- und ein Finanzminister, ferner ein
Minister des Äußeren. Alle Steuern werden nur für die ukrainische Regierung
erhoben.
Trotz vieler Schwierigkeiten von Seiten der russischen provisorischen Regierung
und innerer Wirren ging der staatliche Ausbau der Ukraiua weiter vor sich. Im
Juli hören wir von der ersten Besetzung der Ministerien. Hruschewskyj blieb
Obmann des Zentralrates, Wynnytschenko wurde Minister des Inneren und
Ministerpräsident, Jefremiv Minister des Äußeren; ebenso wurden die Posten der
anderen Minister besetzt. Zugleich wurden auch Anstalten zur Umbildung des
Zentralrates in einen ukrainischen Verfassungsgebenden Landtag getroffen. Im
Oktober verkündete das mit dem Akt der vorläufigen russischen Regierung vom
4. August bestätigte „Generalsekretarint" als oberstes Landesorgan der Ukraina,
daß seine Gestaltung nahezu vollendet sei und es die Regierung im Lande über¬
nimmt. Im November wurde mit der Begründung, daß die allrussische Zentral¬
regierung das Staatsleben nicht zu leiten vermag, eine Vermehrung der Sekretariate
(Ministerien) vorgenommen. Um diese Zeit hören wir auch wieder von der Ab¬
sicht, eine souveräne ukrainische Republik zu proklamieren, doch kam es nicht zur
Loslösung von Rußland; denn das am 21. November vom Ukrainischen Zenträlrat
erlassene 'Manifest hat folgenden Wortlaut: „Von nun an ist die Ukraine eine
Volksrepublik. Ohne sich von der russischen Republik loszulösen, und die Einheit
mit Rußland bewahrend, werden wir auf unserem Boden allein verfügen und
werden mit unseren Kräften dazu beitragen, daß das gesamte russische Land sich
zu einem Bundesstaat von gleichen und freien Völkern vereinige. Bis zur Ein¬
berufung der ukrainischen' verfassunggebenden Versammlung fällt uns, dem
Ukrainischen Zentralrate und der ukrainischen Negierung, d. h. dem General-
sekretariat der Ukraina, die Aufgabe zu, die gesamte Macht in unseren Händen zu
vereinigen, die Ordnung in unserem Lande aufrechtzuerhalten und Gesetze zu
erlassen. In vollem Bewußtsein der Macht und Stärke des ukrainischen Volkes
stehen wir als Beschützer des Rechtes und der Revolution nicht nur bei uns,
sondern in ganz Nußland. Das Gebiet der ukrainischen Volksrepublik umfaßt
folgende Gouvernements: Kijew, Podolien, Wolhhnien, Tschernyhiw, Poltawa,
Katerynoslaw, Cherssvn, Charkow und Taurien ohne die Krim. Die endgültige
Festsetzung der Grenzen der ukrainischen Republik sowie die Frage der Vereinigung
jener Gebiete, in denen die ukrainische Bevölkerung die Mehrheit bildet, d. h. der
Gouvernements Kursk, Chota, Woronisch und der übrigen gemischten Gouverne¬
ments, wird im Einvernehmen mit den in Betracht kommenden Völkern erfolgen."*)
Auch sei noch daran erinnert, daß die Schwarze Meerflotte als ukrainische Flotte
erklärt wurde. Und als letzter Erfolg ist die Teilnahme der ukrainischen Regie-
rung an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zu nennen, und zwar an¬
erkannt von Rußland und den Mitternächten.
Alle diese Erfolge der Ukraina wurden im steten Kampf gegen die provi-
sorische russische Regierung und unter manchen Reibungen unter den Ukrainern
selbst**) errungen. Ausführlich kann hier darauf nicht eingegangen werden. Man
nimmt ja kaum ein Zeitungsblatt in die Hand, in dem nicht von Spannungen
und Entspannungen, diplomatischen Streitigkeiten, drohenden Kriegserklärungen und
blutigen Kämpfen zwischen den beiden Regierungen die Rede ist. Es geht so weit,
daß zu gleicher Zeit, da die Vertreter Rußlands und der Ukraina in Brest-Litowsk
sich zu Friedensverhandlungen zusammenfinden, Kämpfe zwischen beiderseitigen
Truppen an der Tagesordnung sind (Anfangs Januar 191,8)1 Halten wir dazu
noch die Nachricht, daß aus Kijew auch Gegenverschwörungen zur Wiederherstellung
des Zarentums berichtet wurden und daß die weitgehenden sozialen, die Masse
der Bauern mitreißenden Reformen auf große Schwierigkeiten stoßen werden,*)
so ersieht man daraus, daß die gegenwärtigen Zustände in Rußland noch sehr
wandelbarer Natur sind. Im einzelnen sind diese wirren Vorgänge für uns
ziemlich belanglos und es wäre überflüssige Mühe, aus den widersprechenden
Zeitungsnachrichten den Kern herauszuschälen.
Bemerkenswert sind aber gewisse Begleiterscheinungen, die die Haltung der
Ukraina zu den politischen Mächtegruppen kennzeichnen.
In ihren Kämpfen mit der Petersburger Regierung drohten die Ukrainer,
wenn es ihnen nützlich erschien, mit ihren Beziehungen zu den Zentralmächteu.
Deshalb verwiesen im Juli 1917 die russischen Blätter auf die in Kijew im Dienste
Österreichs stehenden Spione und Agenten. ..Russkoje Slowo" erzählt Mitte Juli
von Verbrüderungsfesten in Kijew zwischen Ukrainern, deutschen und österreichischen
Soldaten. Dann hören wir gelegentlich des vorübergehenden Rücktritts Wynne-
tschenkos, daß einige Mitglieder der russischen Negierung ihm Deutschfreundlichkeit
vorwarfen. Die Ukrainer verwiesen Ende August auf die Möglichkeit, sich auf
Österreich-Ungarn und Deutschland, „die viele Freunde im Rate der Ukraina
haben", zu stützen, wenn die russische Regierung sich ihren Forderungen widersetze.
Ein anderes Mittel, die russische Regierung gefügig zu machen, bestand darin,
daß auf die Möglichkeit der vollständigen Lostrennung der Ukraina von Nußland
(also auf ihren engeren Anschluß an die Mittemächte), hingewiesen wurde. Auf
dem Kongreß im April war dafür — wie eine ruthenische politische Schrift aus¬
führt — nur eine Minderheit vorhanden. Aber für ihre Bedeutung sprechen
unzweideutig (?) folgende Worte des Professors Michael HruschewskyjS, welcher
in einem Leitartikel des Kijewer ukrainischen Hauptorgans „Nowa Rada", nachdem
er die Forderung der Autonomie der Ukraina in einer föderativem Republik auf¬
gestellt hat, erklärt: „Aber das Banner der selbständigen Ukraina bleibt weiter
bestehen und es wird in dem Momente gehißt werden, wenn die altrussischen
Zentralisten uns das Banner einer weiten Autonomie der Ukraina in der russi¬
schen söderativeu und demokratischen Republik aus den Händen reißen wollten.
Das ist klar und sollte auch den Lenkern des russischen Reiches klar sein." Man
hielt also immer das zweite Eisen im Feuer und das half, da auch das Waffen¬
glück der Mittemächte den Ukrainern zugute kam. Unter Hinweis auf diese Lage
trat Kerenski im Juli für die sofortige Verständigung mit der Ukraina ein; der
Widerstand der Kadettenpartei wurde gebrochen und die Kadettenminister demissio¬
nierten, worauf die grundlegenden Zugeständnisse an die Ukraina gewährt wurden.
Mit der Freundschaft der Zentralmächte rechneten auch die Ukrainer, wenn sie
im August an die Bevölkerung Wolhyniens und Podoliens einen Aufruf richtete,
das Land im Falle einer Okkupation nicht zu verlasse«. Anderseits aber hat der
ukrainische Kriegsminister Petljura gleichzeitig an die ukrainischen Soldaten den
Befehl gerichtet, daß der deutsch-österreichische und ungarische Vormarsch die
Ukrainer ihrer Freiheit beraube und die Revolution mit Vernichtung bedrohe. Er
rief sie daher auf, an der russischen Front für die Freiheit der Ukrainer zu
kämpfen. Ein Artikel der „Ukrainischen Korrespondenz" bemüht sich, diesem Befehl
jede Spitze gegen die Zentralmächte zu nehmen. Das sei eine Verbeugung vor der
russischen provisorischen Negierung, die soeben die ukrainischen Forderungen an¬
erkannt hatte: „Jeder Feind der russischen Regierung ist der Ukraina als Bundes¬
genosse willkommen. Nur müsse sich die russische Ükraina, angesichts ihrer bis¬
herigen Errungenschaften, der (russischen) Regierung gegenüber vorderhand (!) wohl¬
wollend neutral Verhalten." Der Artikel sagte dann weiter, daß es im Interesse der
Mittemächte liege, die Selbständigkeitsbewegung in Rußland womöglich zu fördern,
nicht aber zu behindern: „Allerdings würde sich für die Mittemächte, in dem
Falle, wenn Rußland an eine gewaltsame Unterdrückung der ukrainischen Selb¬
ständigkeitsbewegung schreiten sollte, Gelegenheit bieten, zugunsten der Ukrainer
einzugreifen. Dann würde auch ein Öffnen der Front, womit die russischen
Ukrainer gedroht haben sollen, wohl zur Tat werden." Nach dem bisher Gesagten
kann es uns gar nicht überraschen, daß schon am W. August 1917 das Regierungs¬
blatt des Ukrainischen Zentralrates jede Beziehung zum „Bund zur Befreiung der
Ukraina" ableugnete. Das hat auch etwas später Professor Michael Hruschewskh.
der Vorsitzende des Zentralrates, bestätigt: „Der Ukrainische Zentralrat hat mit
dein „Bunde zur Befreiung der Ukraina" (Berlin-Wien) keine Beziehungen unter¬
halten. Die genannte Organisation hat sich zwar an den Zentralrat in verschie¬
denen Angelegenheiten gewendet, der Zentralrat hat aber noch im Mai l. Is.
beschlossen, mit dem Bunde bis zum Kriegsende keine wie immer gearteten Be¬
ziehungen zu unterhalten, welcher Beschluß auch strenge eingehalten wird. Offenbar
auf Veranlassung der ukrainischen Regierung hatte hierauf im November auch
das Präsidium des Ruthenenklubs im österreichischen Reichsrate an die Presse
eine Erklärung versendet, in der sich der Klub dagegen verwahrt, irgendetwas
mit Machenschaften zu tun zu haben, die angeblich von Schweden aus betrieben
werden und auf die volle Selbständigkeit der Ukraina im Gegensatz zum Pro¬
gramm einer autonomen Ukraina im Rahmen der russischen föderativem Republik
gerichtet sind. Sehr bezeichnend urteilt unter Berufung auf eine Unterredung
init dem ukrainischen Regierungschef Wynnytschenko ein Berichterstatter der
„Nowoje Wremja": „Wie aus den Äußerungen Wynnytschenkos erhellt, bestehen
unter den Ukrainern zwei Strömungen: die eine Gruppe von Parteien, allerdings
die maßgebende in der Ukraina, strebt mit Rußland Beziehungen auf Grund
der Gleichheit an, was offenbar darauf hinausläuft, daß die Ükraina, mit der
künftigen russischen Bundesrepublik somit auf föderativer Grundlage vereinigt, bis
zum Eintritt der erwünschten staatsrechtlichen Beziehungen mit der vorläufigen
Negierung in Eintracht leben wolle. Die Unabhängigkeitspartei ist die schwächere
Strömung in der Ukraina, verfügt aber trotzdem über einen ansehnlichen Anhang.
Diese Partei wünscht eine selbständige ukrainische Politik und strebt offenkundig
nach einer Loslösung der Ukraina, nach Verkündung eines selbständigen ukraini¬
schen Staates .... Die Anhänger der ersten Strömung betrachten die Einigung
mit Rußland als ein Mittel zur Stärkung der neuen politischen Organisation in
der Ukraina. Jetzt sei nach ihrer Ansicht der Bund mit Nußland, das das Selbst-
bc stimmungsrecht der Nationen verkündet hat, bequemer, als ein Bund mit
Österreich und Deutschland. Sollten aber jenseits der Reichsgrenze Ereignisse
eintreten, die den Ukrainern mehr Rechte und Zugeständnisse verheißen, dann
würden sie kein Bedenken tragen, einen Bund mit den Zentralmächten zu schließen."
Inzwischen haben bekanntlich die Ukrainer auch den Anschluß an Frankreich
und England gesucht. Nach einer Meldung von Ende August wirft Wynnytschenko
den Alliierten vollständige Gleichgültigkeit gegenüber den Ukrainern vor und fordert,
daß Frankreich und England den Ukrainern die politische Autonomie garantieren
sollen. Er weist weiter den Vorwurf zurück, daß die ukrainische Bewegung mit
deutschem Geld aufrechterhalten werde. Die Ukrainer benötigen nicht deutsches
Geld: sie haben selbst eine Million Rubel für diese Bewegung geopfert. Je mehr
die russische Regierung sich der Forderung der Ukrainer widersetze, desto mehr
wenden sich ihre Blicke nach Österreich-Ungarn und nach Deutschland, die viele
Freunde im Rate der Ukrainer besitzen. Die Beziehungen zur Entente wurden
auch in der Flüge weiter gepflegt. So erfahren wir im November, daß in Kijew
der Leiter der' französischen Kriegsmission dem Regierungschef und den Mit¬
gliedern des Generalsekretariates Besuche abstattete und sie zur Teilnahme an der
Eröffnung der französischen Feldlazarette einlud. Bald darauf erfahren wir, daß
am 7. Dezember die Diplomaten der Entente dem Ukrainischen Zentralrat erklärten,
ihre Regierungen seien bereit, die ukrainische Republik, bestehend aus allen natio¬
nalen Territorien, anzuerkennen, wenn die Ukraina sich verpflichte, den Krieg auf
Seite der Alliierten fortzusetzen. Diesem Anerbieten gegenüber antwortete das
ukrainische Parlament: „Die Ukraina wünsche strenge Neutralität zu beobachten,
um sich die Freundschaft der beiden kriegführenden Parteien zu erhalten. Denn
einerseits müsse sie für die gedeihliche Entwicklung im Innern des Landes Sorge
tragen, andererseits sich die Hände freihalten, um dem moskowitischen Zentrali-
sationsgeiste mit Erfolg entgegentreten zu können." Zwei Wochen später hören
wir, daß die Vertreter der westlichen Ententemächte über die internationale
Stellung der Ukraina interpellierten und den ukrainischen Repräsentanten moralische,
finanzielle und ökonomische Unterstützung versprachen, falls die Ukraina sowohl
gegen Nußland wie Österreich-Ungarn den Krieg fortsetzen werde. Der Präsident
der „Nada" Hruschewskyj und Kriegsminister Petljura wiesen dieses Ansinnen mit
der Erklärung zurück, daß die Ukraina neutral bleiben werde, und nur ihre
Interessen zu verteidigen entschlossen sei. Gleich darauf wurde Englands und
Frankreichs Absicht bekannt. Gesandte nach der Ukraina zu entsenden, um ihre
Interessen vertreten zu lassen. Ans Amsterdam kam sodann die Mitteilung, daß
von englischer und französischer Seite beim ukrainischen Zentralrat Schritte unter¬
nommen wurden, um zu verhindern, daß sich die Ukrainer am Abschluß eines
Sonderfriedens beteiligen. Die Entente würde dafür die Ukrainer als den haupt¬
sächlichen russischen Staat und als Zentrum für die neue Organisation des russischen
Reiches anerkennen. Ebenso lauten italienische Nachrichten dahin, daß man auf
die Feindseligkeit der Ukrainer gegen die Maximalisten und den Vierbund gerechnet
habe und ihre Verständigung fürchte. Schließlich sei nur noch an die Mitteilung
aus Petersburg (29 Dezember) erinnert, wonach ein abgefangenes chiffriertes
Telegramm die Verständigung Frankreichs mit dem Zentralrate wegen der Friedens-
verhandlungen und des gemeinsamen Kampfes an der rumänischen Front dargetan
haben soll. Dieses Telegramm beweist, „daß die Alliierten in nachdrücklichster
Weise alle gegen den Frieden und die Arbeiterregierung gerichteten Bestrebungen
unterstützen und daß die ,Rada' unter dein Vorwande der Verteidigung der
nationalen Freiheit, die niemand irgendwie bedroht hat, Hand in Hand mit den
Engländern und Franzosen geht, um die Interessen der reichen Bauern und
bürgerlichen Intellektuellen gegen Angriffe der armen Bauern und Arbeiter zu
schützen." Einige Tage später erklärte der russische Gesandte Worowski, die Auf¬
wiegelung der Ukraina wäre ein erfolgloser Verzweiflungsakt der Entente.
Faßt man die Eindrücke der Ereignisse der letzten Monate zusammen, so
kommt man zum Ergebnis, daß unter den Ukrainern zwei Richtungen miteinander
kämpften: eine, die im Bund mit den Zentralmächten die völlige Selbständigkeit
der Ukraina erringen wollte, und die andere, die aus Rußland nicht ausscheiden
will und sich mit einer autonomen Stellung der Ukraina innerhalb Rußlands
zufriedenstellt. Die erste Richtung ist nach den: Ausbruch der Revolution ganz
zurückgetreten und hat höchstens Aussicht zur Geltung zu kommen, wenn in
Rußland ein starker Umschwung zuungunsten der Ukrainer stattfinden würde.
Sonst binden aber alte Gewohnheit und wichtige Lebensinteressen Rußland und
die Ukraina so stark aneinander, daß allzu weitgehende Hoffnungen auf ihre
bleibende Gegnerschaft nur als Utopie zu bezeichnen sind. Das Versailler zu den
Westmächten trachtet die Ukraina ebenfalls ganz nach ihrem Interesse einzurichten.
Sobald Rußland zu diesen Mächten durch seinen Friedenswillen in Gegensatz
trat, fand sofort ein Zusammenschluß zwischen ihnen und der Ukraina statt.
Wenden wir uns nun der ruthemschen Frage in Österreich zu, die selbst¬
verständlich zur ukrainischen in engen Beziehungen steht.
Seit 1848 trachten die Ruthenen Galiziens das zumeist von ihnen bewohnte
Ostgalizien zu einer autonomen Provinz Österreichs umzugestalten, um es dem
polnischen Einflüsse zu entziehen.") Die Polen haben stets dieses Bestreben auf
das schärfste bekämpft und unterstützten gegen diese „jungruthemschen" Pläne lieber
die „Altruthenen", die den Anschluß an Rußland wünschten, weil dieses Streben
ihnen ungefährlicher schien. Nach Ausbruch des Krieges haben die Ruthenen
wieder ihre Forderungen auf die Abtrennung Ostgaliziens erhoben, und seither
oft betont. Besonders scharf wurde dieser Kampf, als durch das Patent vom
5. November 1910 eine erhöhte Sonderstellung Galiziens (zugunsten der Polen)
in Aussicht gestellt wurde""). Das hatte zur Folge, daß die Ruthenen sofort
„Verwahrung gegen eventuelle Einverleibung der von Nußland befreiten ukrai¬
nischen Länder (Cholmlaud, Podlachien->Podlesien. Wolhynien) in das neuge¬
schaffene Königreich Polen" einlegten, gegen „die Sonderstellung Galiziens unter
polnischer Herrschaft" protestierten und wieder „die Bildung eines besonderen
ukramischen Kronlandes im Nahmen Österreichs" forderten. Neue Erregung be¬
mächtigte sich der Rutheneu, als am 6. April 1917 der Polnische Staatsrat auf
die „ethnographisch zwischen Polen und Rußland liegenden Länder, die in alter
Schicksalsbeziehung zu Polen stehen", Anspruch erhob. Dagegen hat am 21. April
die ruthenische parlamentarische Vertretung eine Verwahrung eingelegt. (Vgl.
Ukrainische Korrespondenz Ur. 15,1t>, Seite 15.) Als Ende Mai der österreichische
Reichsrat zusammentrat, hat dieselbe Vertretung sofort in der Eröffnungssitzung
(M Mai) kräftige Kundgebungen veranlaßt, in der sie ihre Wünsche betreffs Ostgalizien
erneuerten und sich gegen die Vereinigung selbst der kleinsten Teile ukrainischer
Gebiete von Cholmland,' Podlesien und Wohlynien mit dem Königreich Polen
aussprachen. Am 12. Mai forderte der Obmann der Ruthemschen parlamentarischen
Vereinigung „zum mindesten die Vereinigung Ostgaliziens, nach Abtrennung des
polnischen Westgaliziens, mit der ukrainischen nordöstlichen Bukowina zu einer
besonderen, mit eigener Selbstverwaltung ausgestatteten Provinz, und bei etwaiger
Neugestaltung in der ganzen Monarchie die Angliederung des ukramischen nord¬
östlichen Teiles von Ungarn an diese Provinz, damit die Ukrainer Österreich-
Ungarns in diesem neuen, aber zugleich auf alten historischen Grundlagen auf¬
gebauten Galizien sich ihren Volksgenossen in der russischen Ukraina nicht nach¬
gesetzt fühlen dürfen." In rascher Folge folgten dann die Forderungen nach
Errichtung der ruthemschen Universität in Lemverg, „nationalterritoriale Selbst¬
verwaltung," Anstellung ruthenischer Beamter in Ostgalizien, ja es ist jetzt
(Januar 1918) schon die Rede von der Durchführung einer Agrarreform durch
Aufteilung des meist polnischen Großgrundbesitzes an die Bauern. Gleichzeitig
traten die ruthemschen Abgeordneten zur Negierung in Opposition, verweigerten
das Budget und traten mit Tschechen, Südslawen, Italienern und Rumänen in
Verbindung."**)
Es ist kaum nötig zu betonen, daß diese erhöhten Forderungen der Ruthenen
unter dem Einflüsse der russischen Revolution stehen. Die sehr gemäßigten Buko-
winer Ruthenen begleiteten ihre Forderung nach der Schaffung einer ruthemschen
Provinz aus allen ruthemschen Gebieten der Monarchie mit der Bemerkung:
„daß die Führer der ukrainischen Bewegung in Rußland nur dann aus ihren
Zukunftsplänen die österreichischen Ukrainer ausschalten werden, wenn sie dieselben
von polnischer Bedrückung frei als wirkliche gleichberechtigte Bürger dieses Staates
(Osterreich. Ungarns) in Sicherheit wissen." Und als im November die austro-
polnische Frage zur Sprache kam (nach der bekanntlich Galizien an Polen fallen
würde), haben die Ruthenen wieder eine Reihe der schärfsten Proteste im Reichs¬
rate gegen diese Lösung vorgebracht, mit dem Abrücken von Osterreich gedroht und
die Hoffnung auf die Entente bei den Friedenskonferenzen angedeutet.
Ob die österreichischen Ruthenen durch dieses Vorgehen ihre Position qe-
bessert haben, ist sehr zweifelhaft. Schon die Annahme des Namens Ukrainer
scheint mir für sie nachteilig zu sein. So manchen von uns wird die kräftige
Unterstützung ihrer Wünsche dadurch erschwert. Selbst die Bukowiner Ruthenen.
die die Polennot nicht bedrückt, können ihnen in den zu wett gehenden Forderungen
nicht folgen; sie haben nicht nur ihren österreichischen Standpunkt sehr stark
betont, sondern den galizischen Ruthenen die Gefolgschaft bei radikalen Schritten
in Verbindung mit den Tschechen und Südslawen versagt.*) Dazu kommt aber,
daß die Führer dieser Ruthenen nur zu gut wissen"), daß die Entwicklung Ru߬
lands und der Revolution noch unsicher ist, daß die Ruthenen darüber die Orien¬
tierung nach dem Westen nicht vergessen dürfen, daß Galizien nicht nur für die
österreichisch-ungarischen Ruthenen, sondern auch für die ukrainischen ein Hort ist,
in dem diese „auf ihrem gewiß noch dornenvollen Wege ins zur Durchsetzung des
selbständigen ukrainischen Staates" einen Rückhalt finden werden. Auch die
Ruthenen Rußlands haben ähnliche Gedanken geäußert. Nach der „Nowoie Wremja"
(Oktober) hat ein Sozialdemokrat des Ukrainischen Zentralrates auf die Frage,
welchen Plan hegt ihr bezüglich der ukrainischen Gebiete in Österreich-Ungarn?
„ausweichend" geantwortet: „In dieser Frage sind die Meinungen geteilt. Vor
der Revolution wünschte kein Ukrainer, daß Galizien und Runland veren,ge werde,
da gerade nur in Galizien die selbständige ukrainische Kultur eme Entwicklungs-
Möglichkeit gefunden hat." Warum die Antwort nicht bestimmter ausfiel, ist klar:
weil der schließliche Ausgang der Dinge in Rußland nicht sicher scheint. Ob
daher die ukrainische Regie,ung. wie der „WiedensliKurier Polskl" vom 24.Dezember
gemeldet hat, der österreichisch-ungarischen Regierung den Vorschlag machen werde,
die von Ruthenen bewohnten Gebiete der Monarchie mit der Ukrama zu ver¬
einigen, ist zweifelhaft — und ihr Erfolg noch mehr als zweifelhaft. Selbstver¬
ständlich ist es, daß der Zentralrat auch für die Ruthenen ^n Galizien das Selbst
bestimmungsrecht in Anspruch nimmt"") und gegen die Einverleibung ruthenischer
Gebiete ins Polenreich Einspruch erhebt. ^
Für die Ruthenen ist und bleibt die auckvou uns Deutschen für sie ge¬
forderte Autonomie Ostgaliziens im Rahmen Österreich-Ungarns das beste.f)
Dieses Ziel darf mit der Staatenbildung in der Ukraine nicht verquickt werden;
Mäßigung ist dringend nötig. Die Forderung der Vereinigung aller Ruthenen
in einem'Staate muß fallen gelassen werden; auch alle Deutschen wohnen nicht
in einem Staate. Auch an dieser Stelle will ich betonen, daß die Politik der
Ruthenen gegen die unter ihnen wohnenden Deutschen ihren Anforderungen an
das deutsche Volk bei der Erstrebung ihrer politischen Ziele entsprechen soll. Diese
Ansichten habe ich auf eine Rundfrage des „Ukrainischen Korrespondenzblattes" im
Oktober 1917 geäußert (vgl. Ur. 40/1, 1917) und kann sie auch jetzt nur
wiederholen.
Es bleibt noch zu bemerken übrig, daß auch der Vorschlag gemacht wurde
(„Ostdeutsche Rundschau" 1917, 17. November), im Aalle der Vereinigung von
ganz Galizien mit Polen dem Ruthenengebiet etwa jene Stellung zu Polen zu
geben, die Kroatien in Ungarn besitzt. Diese Lösung würde den Kampf zwischen
Polen und Ruthenen nicht beenden und überdies noch andere Nachteile nach
sich ziehen.
n Berlin und Wien haben am gleichen Tage die leitenden Staats¬
männer zu den Friedensbestrebungen bei Freund und Feind in
großen Parlamentsreden Stellung genommen. Die Berliner Rede
wurde durch einen Bericht des Staatssekretärs von Kühlmann über
die Verhandlungen in Litauisch-Brest ergänzt. Die Ausführungen
der drei Minister sind voneinander nicht zu trennen: sie ergänzen sich; sie bilden
gemeinsam ein Ganzes; ihre Zusammengehörigkeit tritt besonders da zutage, wo
die Herren den eigenartigen Verhältnissen und Stimmungen ihrer Länder Rechnung
tragen. Dadurch formt sich uns das Bild der Gesamtlage, die aus der einzelnen
Rede nicht ohne weiteres erkennbar wird.
Die Reden wurden mit besonderer Spannung erwartet, nicht nur weil sie
uns Auskunft geben sollten vom Stande der Friedensverhandlungen mit Rußland,
sondern auch deshalb, weil sie in einer Stunde ungewöhnlich großer innerer Er¬
regung gehalten werden mußten; die Friedensverhandlungen selbst waren allem
Anschein nach in eine Sackgasse geraten; der Fortgang der innerrussischen
Auseinandersetzungen läßt die Erfolge der Sonderverhandlungen mit der
Ukraina immer problematischer erscheinen, während die Aussichten, wirtschaftliche
Anknüpfungen in Nordrußland zu gewinnen, zunächst ziemlich verflüchtigt sind.
Daneben sind in Österreich-Ungarn Erscheinungen zutage getreten, die, abgesehen
von den Theoretikern und Praktikern des sozialistischen Internationalismus, sowohl
daheim wie auch in allen Teilen der verbündeten Armeen als ein Überfall aus
dem Hinterhalt empfunden worden sind. Herr Graf Hertling hat dieser gespannten
Lage an der inneren Front durch größte Vorsicht Rechnung tragen zu müssen geglaubt,
während Herr Graf Czernin den Stimmungen durch schärfste Betonung seines persön¬
lichen Standpunktes gerecht zu werden suchte. Die augenblickliche Wirkung ist des¬
halb, soweit sich solches aus der deutschen Presse erkennen läßt, mehr durch Czernin als
durch Hertling bedingt. Des deutschenReichskanzlersRede ist, bezüglich der eigentlichen
Friedensverhandlungen in Litauisch-Brest, durch die Ereignisse in Rußland, ins¬
besondere durch das militärische Vorgehen der Maximalisten gegen die Ukrmnci,
überholt, während dasjenige, was er in Beantwortung der Ausführungen von Lloyd
George und Wilson sagte, ebensogut schon vor drei Wochen hätte gesagt werden
können. Herrn von Kühlmanns Rede atmet Entsagung. So stimmt denn das
rednerische Terzett ziemlich schwermütig.
Was ist das Wesentliche der Darbietung? Sind's die Antworten auf
Herrn Wilsons Friedensprogramm? Oder ist's die Tatsache, daß über Herrn
Lloyd George mit Stillschweigen zur Tagesordnung übergegangen wurde? Ohne
Zweifel ist Graf Czernins Stellungnahme zu den deutsch-russischen Meinungs¬
verschiedenheiten über die Räumung, der besetzten Gebiete höchst bedeutungsvoll,
ebenso sein Bekenntnis zu einem unabhängigen Polen', von hohem Interesse ist
Graf Hertlings Wink an die Franzosen, daß sie — selbstverständlich unter
Verzicht auf Elsaß-Lothringen — mit Deutschland zum Frieden auf der Basis
ohne Annexionen und ohne Kontributionen kommen könnten, — aber wirklich
greifbar ist doch nur Czernins Angebot an Wilson, die Friedens¬
vermittlung zu übernehmen. Diese Tatsache macht das Redeterzett der ver¬
gangenen Woche zu einem Markstein im Weltkriege sowohl, wie vielleicht auch
für die ganze Entwicklung des europäischen Kontinents überhaupt. Es kommt
nur darauf an, wie Herr Wilson es aufnimmt und ob auch er den Standpunkt
Czernins teilt, wonach zwischen beider Ansichten „die Differenzen, welche übrig
bleiben", nicht so groß sind, „daß eine Aussprache über diese Punkte nicht zur
Klärung und Annäherung führen könnte". Graf Czernin meint, „daß Österreich-
Ungarn einerseits und die Vereinigten Staaten von Amerika andererseits jene
Großmächte unter den beiden feindlichen Staatengruppen sind, deren Interessen
einander am wenigsten widerstreiten". Deshalb läge die Erwägung nahe, „ob
nicht gerade ein Gedankenaustausch zwischen diesen beiden Mächten den Ausgangs¬
punkt für eine versöhnliche Aussprache zwischen allen jenen Staaten bilden könnte,
die noch nicht in Besprechungen über den Frieden eingetreten sind". Es wird
natürlich nicht an Stimmen fehlen, die diese neuerliche praktische Bekundung der
Friedensbereitschaft als kriegsveclüngernd zurückweisen. Nicht mit Unrecht wird
man auf die Hartnäckigkeit der englischen und französischen Urheber des Krieges
deuten, die in der Bereitwilligkeit zu einer Verständigung in letzter Stunde doch
nur wieder ein neues Argument finden könnten, um ihren Völkern die Nähe
unseres Zusammenbruchs zu beweisen. Auch wir möchten glauben, daß diese
Wirkung nicht ausbleibt. Dem Grafen Czernin scheint es aber weniger auf die beiden
kontinentalen Gegner Deutschlands, als auf die Vereinigten Staaten anzukommen,
bei deuen in letzter Zeit immer stärkere Anzeichen von Kriegsmüdigkeit be-.
merkbar geworden sind. Er scheint zu glauben, daß sein Angebot, auf einer
fest umschriebenen Basis zu verhandeln, Herrn Wilson derart gestellt hat,
daß er, ohne die schwerste Einbuße für seine Stellung im eigenen Lande zu
erfahren, kaum einen Weg ausfindig machen dürfte, sich der ihm gewordenen
Aufgabe zu entziehen. Der Minister erklärte er habe seine Rede nicht nur
gehalten, damit der Ausschuß sie höre, sondern auch Wilson. Wilson hatte hiervon
bereits zur selben Stunde Kenntnis, als der Minister im Ausschuß sprach. Damit
bestätigte er die scholl lange umlaufenden Gerüchte, wonach zwischen Wien und
Washington eine Gedankenübermittlung stattfindet und nicht ausgeschlossen ist,
daß diese Unterhaltungen den , Herrn Reichskanzler verhindert haben, früher auf
die Botschaft Wilsons einzugehen, wie es geschehen. Jedenfalls dürfen diese Zu¬
sammenhänge nicht autzer Betracht bleiben für eine Beantwortung der Frage:
wie stellt sich Herr Wilson?
Wir wollen uns heute den Kopf darüber nicht zerbrechen. ES wird Zeit
sein, dazu Stellung zu nehmen, wenn Herrn Wilsons Antwort vorliegt. Bis
dahin heißt es stille halten und mit zäher Gewissenhaftigkeit unsre militärische
Lage auf die höchste Höhe zu bringen. Damit werden wir jeder neuen politischen
Lage zweifellos am sichersten gewachsen sein. 3i vis pacem para belluml
Daß das neue Friedensangebot ohne das Einverständnis der deutschen Re¬
gierung ergangen sein könnte, möchte ich bezweifeln, trotz der Skepsis des Grafen
Hertling, die uns wegen der Friedensbereitschaft unserer Feinde aus seinen Worten
entgegentritt. Bei den durch den Weltkrieg verengerten Beziehungen zwischen dein
Deutschen Reich und Habsburg ist ein einseitiges Vorgehen nicht denkbar. Deutsch¬
land und Österreich-Ungarn sind aufeinander angewiesen über den Krieg hinaus.
Werden die politischen Lebensgrundlagen des einen verletzt, so nutz der andere
darunter mit leiden, gleichgültig, ob die Verletzung von unseren gegenwärtigen
Feinden ausginge oder bewirkt würde durch die drückende Überlegenheit eines
der Verbündeten über den anderen, sei es auch nur in einer Teilfrage, sei es in
folge innerpolitischer Zerrüttung. Auch die Fehler des einen rächen sich an beiden.
Versuchen wir uns ein klares Bild von der Tragweite des Redeterzetts zu
machen, so müssen wir auch die innerpolitischen Umstände mit in den Rahmen
der Betrachtung ziehen, unter denen es zustande kam.
In der ganzen Welt arbeitet eine kleine, aber vor nichts zurückschreckende
Gruppe daran, einen solchen Frieden herbeizuführen, der den Zusammenbruch
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wenigstens in Deutschland nach sich ziehen
würde. Der erste Friedenstag soll zugleich den Eintritt der brotlos gewordenen
Massen in die soziale Revolution bedeuten. Sie fordern daher von unseren
Unterhändlern in Litauisch-Brest größte Nachgiebigkeit gegen die anmaßenden
Forderungen Trotzkis. Käme Trotzki mit einem Siegfrieden nach Petersburg,
einem Vertrage, der den Bolschewik die von uns in Ordnung gehaltenen Gebiete
Rußlands auslieferte, so gewänne die Revolution die ganze Autorität, deren
sie bedürfte, während unsere Gegner im Westen, ermutigt durch das Eingeständ-
nis der Schwäche, sich mit um so größerem Nachdruck dem Abschluß eines Frie¬
dens widersetzten.
In Österreich ^Ungarn wird die revolutionäre Friedensbewegung gestärkt
durch die Unlust der Slawen, einen Krieg weiter zu führen, der nach ihrer Auf¬
fassung doch in erster Linie dem wirtschaftlich höher entwickelten Deutschtum zu
weiterem Aufstieg dienen soll. Der letzte Streik ist aus dem Nationalitätenstreit
hervorgegangen, während vorübergehende Stockungen in der Nahrungsmittelzufuhr,
wie sie bei dem starken Schneefall kaum abwendbar gewesen sein mögen, nur den
willkommenen Anlaß boten für die an anderer Stelle näher gekennzeichneten
Drahtzieher hinter den Kulissen.
In Deutschland werden von den Revolutionären das Auftreten der Vater¬
landspartei und die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses zum Aus-
gangspunkt der Wühlereien genommen. Angeblich soll die Vaterlandspartei eine
Gesellschaft von Reaktionären sein, die die innere Politik in einem volksfeind¬
lichen Sinne beeinflussen will, während die bürgerlichen Parteien im preußischen
Abgeordntenhause darauf ausgingen, die Verabschiedung der Wahlrechtsvorlage zu
verschleppen. Leider geben sich auch gebildete, in hohem Ansehen stehende Männer
in Berlin dazu her, solche Auffassungen zu verbreiten, wodurch sie überhaupt erst
Bedeutung erhalten. Die Vaterlandspartei ist zusammengetreten zur Durchsetzung
eines Friedens, der uns das bringt, was wir brauchen, um unsere Bevölkerung
nicht nur schlecht und recht zu ernähren, sondern auch ihr die Möglichkeit zu
sichern, zu Wohlstand zu kommen. Rund fünfzehn Millionen Deutsche fanden
schon vor dem Kriege keine Betätigungsmöglichkeit in der HeimatI Wer die
Arbeiten der Wahlrechtskommission des Abgeordnetenhauses mit einiger Objektivi-
tät verfolgt, muß zugeben, daß dort ein heißes Bestreben vorherrscht, mit einem
fertigen, den Wünschen der Nation entsprechenden Gesetz sobald als möglich an
die Öffentlichkeit treten zu können. Es gibt aber Elemente und dazu gehören
auch diejenigen Polen, die in gegenwärtiger Stunde die Forderung nach inter
nationaler Beaufsichtigung preußischer Provinzen stellen können, denen nur daran
liegt, die ruhige Entwicklung zu stören.
Ohne Zweifel sind unsere Gegner über diese revolutionären Strömungen
in einer Weise unterrichtet, die sie veranlassen muß, an den baldigen Zusammen¬
bruch der Mittemächte zu glauben. In einen Augenblick, wo unsere innere Lage
für sie besonders kritisch erscheint, fällt nun des Grafen Czernin Erklärung an
Wilson, daß er zu Verhandlungen auf der Grundlage seiner letzten Botschaft
bereit sei. Kann unter den angedeuteten Verhältnissen auf eine ernste Aufnahme
des Angebots gerechnet werden? Wir wären geneigt daran zu zweifeln, wenn
nicht ein anderes Moment hinzuträte, das Beachtung heischt: die unleugbare Tat¬
sache, daß zwischen Österreich-Ungarn und den Vereinigten Staaten von Amerika
eigentlich kaum politische Gegensätze bestehen. Gras Czernin konnte einige der
vierzehn Punkte Wilsons als Ausgangspunkt für Verhandlungen bezeichnen,
während gleichzeitig Graf Hertling in Übereinstimmung mit den Führern der
bürgerlichen Parteien sie als Grundlage für Friedensgespräche ablehnte. Treten
nicht neue Tatsachen hinzu, so können wir kaum hoffen, dem Frieden auf dem
Kontinent sichtbar näher gekommen zu sein. Denn selbst, wenn es dem Grafen
Czernin gelingen sollte, mit Amerika zu einem Sonderfrieden zu kommen, würden
Frankreich und England darin nur eine Zerfallserscheinung in unseren! Bündnis
erkennen. Die Aussichten, daß eine blutige Abrechnung mit England vermieden
werden könnte, sind somit nicht sehr groß. >
Die drei Friedensreden haben jedem, der Ohren hat zu hören, klipp und
klar offenbart, daß Deutschland und Österreich-Ungarn entschlossen sind, die Grenz¬
sicherungen im Osten nicht auf die eigene Kraft zu stellen, sondern zu gewähr¬
leisten durch die Schaffung eines Gürtels von Raubstaaten, deren Bevölkerung bei
einem neuerlichen Zusammenstoß zwischen Mittel- und Osteuropa den ersten Stoß
'des östlichen Gegners aufzufangen haben würde. Nach der Rede des Herrn
von Kühlmann besteht bei den Regierungen allem Anschein nach die Auffassung,
daß die neuen Staaten sich an die ihnen von Deutschland bzw. Deutschland und
Österreich-Ungarn befederten Verwaltungen gewöhnen würden und daß die im.
Kriege gegebene staatliche Organisation als Grundlage für allen weiteren staat¬
lichen Ausbau dienen werde. Schon im Laufe der nächsten Jahre würden die
in die Randländer hineingepflanzten Regierungen deutschen Geistes es vermögen,
die jungen Staaten so fest an Deutschland bzw. die Mittemächte oder Österreich-
Ungarn zu ketten, daß sie für eine Ausnutzung gegen Mitteleuropa durch die
russischen Staaten und westeuropäischen Intrigen nicht mehr in Frage kämen.
In wenigen Jahren schon würden sie politisch, wirtschaftlich und militärisch so
innig mit den mitteleuropäischen Landen verschmolzen sein, daß sie als sicherer
und zuverlässiger Bestandteil des östlichen Verteidigungssystems zu bewerten sein
würden. So liest man's zwischen den Zeilen.
Es handelt sich von Norden nach Süden gehend um die Sicherung der
Grenzen gegen Nordrußland durch den baltischen Staat und Litauen, sowie gegen
die Ukraina durch einen polnischen Staat. Der Krieg hat uns gelehrt, auf die
polnischen Gebiete Rußlands als auf die Kernstellung des östlichen Verteidigungs¬
systems zu blicken. Mehr noch als in militärischer Hinsicht ist Russisch-Polen zum Kern
der politischen Verteidigungsstellung geworden, freilich in einem unseren Interessen ent¬
gegengesetzten Sinne. Nur von der politischen Verteidigung soll hier gesprochen werden.
Die Bedeutung, die Rußland für den Aufstieg Preußens zum führenden
deutschen Staate und für das Deutsche Reich zum Weltstaat gehabt hat, scheint
Herr von Vethmann Hollweg nicht so hoch eingeschätzt zu haben, wie es unseren
Interessen entsprochen hätte. Er begnügte sich nicht damit, Rußland niederzuwerfen, er
ging auch sofort darauf los, sich die Wege zu einem durch den Krieg geläuterten
Rußland zu verlegen, indem er die den Russen abgerungenen Faustpfänder schon
sehr bald wieder verschenkte. Der Grundstein für ein mehr oder minder selbstän¬
diges Polen wurde schon in den lange vor der Einnahme von Warschau (5. August
1915) liegenden Tagen gelegt, als Fürst Lubomirski seinen Freunden gegenüber
die Verpflichtung übernahm, das Amt des Bürgermeisters von Warschau als erster
zu übernehmen, sobald die Stadt durch die Deutschen besetzt sein würde. Alles
andere entwickelte sich daraus logisch von selbst bis zu der verhängnisvollen Akte
vom S. November 1916. Das einzige, was von feiten der Gegner des endgültigen
Bruches mit Rußland getan werden konnte, war. daß sie das Tempo der Ver¬
selbständigung Polens nach Möglichkeit zu verlangsamen suchten. Doch dies nur
nebenbei. Die Ereignisse sind über sie fortgegangen.
Wir stehen einer durchaus neuen Lage im Osten gegenüber. Nußland ist
nicht nur militärisch und damit als Weltstaat zusammengebrochen, sondern auch
innerpolitisch. In Rußland werden soeben die kümmerlichen Ansätze einer west¬
lichen, christlichen Kultur mit Feuer und Schwert ausgerottet. An Stelle des
Staates ein Völkersumpf, aus dem nur noch die Ukraina als fester Boden heraus¬
ragt, aber auch schon von allen Seiten durch Bürgerkrieg und Anarchie bedroht.
Unter welchen Umständen und wann der Genesungsprozeß in Rußland einsetzen
könnte, ist noch gar nicht zu übersehen und ebensowenig ist zu ermessen, wie dann
das übrig gebliebene Rußland aussehen wird. Seine dunkelsten Tage hat es noch
nicht hinter sich, aber sie scheinen nach der gewaltsamen Auflösung der Konstituante
mit politischen Morden eben zu beginnen.
Unsere Eroberungen in Rußland haben dadurch keine andere Bedeutung
für die große Politik bekommen, als wie sie sie vor dem Zusammenbruch Rußlands
hatten. Die militärisch gestützten Staaiengebilde Kurland, Litauen, Polen sind
wie die schnell entstandene Sandhaufen, die der vorgehende Schütze in der
Schlacht aufwirft, um sich gegen feindliches Jnfanteriefeuer im Augenblick zu decken.
Manche Kugel schlägt zwar durch, aber nur vereinzelte sind tödlich. Unsere Raub¬
staaten gewähren im Augenblick eine gewisse Sicherheit gegen das Übergreifen der
Anarchie. Ganz sicher sind sie nicht, wie der jüngste Streik der Straßenbahner
in Warschau zeigte, aber im großen und ganzen ist die Gefahr der Ver¬
wundung gering.
Es bestand und besteht auch fernerhin die Möglichkeit — die Anerkennung
des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten beseitigt sie durchaus nicht — die
besetzten Gebiete für diejenige russische Regierung in Verwahrung zu treuen Händen
zu behalten, die einmal geordnete Zustände in Nußland schaffen würde und deren
Stellungnahme zu den Weltproblemen der Politik sie an unsere Seite führte.
Eingedenk der Bedeutung, die Rußland für uns selbst seit hundert Jahren gehabt
hat, scheint mir die Offenhaltung einer solchen Möglichkeit auch für die Zukunft
geboten. Aus Herrn von Kühlmanns Aeußerungen geht nicht hervor, daß man
sie erwogen habe. Man hat Rußland scheinbar aus den Augen verloren. Unsere
Staatsmänner starren wie hypnotisiert auf Polen. Als wenn die Polen selbst
nach Befriedigung ihrer weitestgehenden territorialen Wünsche Rußland politisch
ersetzen könnten! Von Nußland wird in politischen Zusammenhängen kaum noch
gesprochen, sondern nur noch in wirtschaftlichen.
Herr von Kühlmann hat seine Haltung diesen Fragen gegenüber entschuldigt
- nicht erklärt — mit dem Hinweis darauf, daß es sich um ein Erbe Bethmann
Hollwegs handle, das anzutreten er gezwungen war. Sollte es sich wirklich nur
um eine Entschuldigung handeln, dann hätte sie auch unterbleiben können, weil
der Herr Staatssekretär durch die Fortführung der Politik im alten Geleise auch
die volle Verantwortung dafür übernommen hat, von der ihn kein Hinweis auf
mögliche Fehler seiner Vorgänger entlastet. Rhe er an der Politik seiner Vor.
gänger Kritik, so muß er auch die Konsequenzen daraus ziehen und sie besser
machen. Der Staatsmann ist darin nun einmal schlechter gestellt wie Abgeordnete
und Journalisten. Die Möglichkeit, es zu tun, besteht trotz allem, was geschehen,
immer noch, sobald man sich entschließt, die Dinge zu sehen, wie sie tatsächlich
sind und demgemäß sich hütet, etwas Fertiges und Unabänderliches zu schaffen.
Man begnüge sich vielmehr auch beim Abschluß mit den Russen mit einem Pro¬
visorium, das eine ruhige Entwicklung in den eroberten Gebieten gewährleistet
und uns freie Hand läßt, mit einer späteren Regierung in Rußland auf freund-
schaftlichen Fuß zu kommen. Von diesem Standpunkt treten wir auch an die
Behandlung der Polenfrage und die Beurteilung der für sie vorgeschlagenen
Lösungen heran.
Staatenbildungen, die nicht aus sich selbst heraus geworden sind, als der
höchste Ausdruck des menschlichen Kulturtriebes, sind künstliche Gebilde. Sie
werden dennoch lebensfähig sein, wenn ihnen eine Aufgabe inmitten ihrer Nach¬
barn oder pathetischer ausgedrückt, gegenüber der Menschheit zuteil wird, hinter
die sich das Volksganze bewußt oder instinktiv stellen und das junge Staatswesen
mit einer Idee ausfüllen kann. Von unseren Raubstaaten sind zwei ohne eine
solche Idee, — Baillant und Litauen wären bis auf weiteres weiter nichts wie
Sandhaufen. Der dritte Randstaat Polen hat aber schon eine Idee, ein Ziel für
die gesamte staatliche Betätigung. eine außenpolitische Aufgabe, auf die sich die
Kräfte der Gesamtnation vereinigen, für die sie sich bilden und entwickeln lassen
können. Jeder polnische Staat, und würde er auch nur als Republik Krakau be¬
gründet, hätte Eigenleben und käme darum niemals als eine passive Schutzwehr
in Frage, vielleicht aber als Selbsttätige aktive, das heißt eine solche, die sich das
zu schützende Objekt selbständig wählt.
Jedes polnischen Staates Ziel wird sein: die Bereinigung aller ethnographisch
zum Polentum gehörigen Landesteile, und da diese wegen ihrer Meeresferne nicht
ausreichen würden, um den Staat auch selbständig lebensfähig zu erhalten
fordern die Polen mehr. Die logische Folge dieser polnischen Staatsidee ist, daß
kein Entgegenkommen, das die Polen nicht unmittelbar an die Ostsee führte,
ausreichen würde, sie mit ihren staatlichen Nachbarn auszusöhnen. Sie sind also
aus der Stärke ihrer Staatsidee heraus die erbitterten Feinde auch derer, die
ihnen einen Staat errichten helfen, ohne zugleich den Widerstand gegen das natür¬
liche Wollen dieses Staates aufzugeben. Die Polen sind ehrlich genug, dies offen
einzugestehen. Die in Aussicht genommenen Lösungen der Polenfrage sind daher
in erster Linie von diesem polnischen Gesichtspunkt aus zu beurteilen. Keine
wird die Polen je befriedigen können, jede bietet eine mehr oder minder starke
Basis zur Bedrohung der den Polen benachbarten Völker.
Die Politik soll nun die Kunst des Erreichbaren sein. Es wird uns von
verschiedenen Seiten gelehrt, daß ein mit Österreich durch Galizien verbundenes
Polen geeignet sein werde, einen Schutzwall gegen den Osten zu bilden, — die
sogenannte anhero-polnische Lösung der Frage! Vorauszuschicken ist, daß
auf eine ganze Reihe von Jahren eine militärische Gefahr von Rußland her
kaum drohen wird, sondern nur eine politische, bedingt durch das Bedürfnis der
Sozialisten, die monarchischen Staaten zu stürzen. Die Vertreter jener Lösung
wollen die neun Gouvernements von Kongreßpolen, also das Gebiet zwischen
Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Schlesien einerseits und Weißrußland und
der Ukraina andererseits mit Galizien vereinigen und durch einen Wirtschaftsvertrag
mit oder ohne Personalunion der monarchischen Spitze an die Habsburgische
Monarchie anschließen. Sie meinen, die alten Beziehungen zwischen der Donau¬
monarchie und dem Deutschen Reich, vertnnerlicht durch den gemeinsam bestandenen
Weltkrieg und gefestigt durch ein mitteleuropäisches Wirtschaftsbündnis, würden
ausreichen, um Preußen vor den Folgen des polnischen Strebens zu bewahren.
Daß bei der heutigen Leitung der Doppelmonarchie der ernste Wille vorhanden
ist, Preußen in seinem heutigen Bestände zu erhalten, daran braucht nicht gezweifelt
werden. Wohl aber bestehen ernste und durch die innere Entwicklung Österreichs
gestützte Zweifel, ob nach Friedensschluß die Wiener Regierung in der Lage sein
wird, ihre Versprechungen einzulösen. Man weist auf alle die österreichischen
Staatsmänner polnischer Abkunft hin, die die Dreibundspolitik Österreich-Ungarns
gefördert haben, vergißt aber, sich daran zu erinnern, daß die Demokratisierung
des politischen Lebens in Galizien kaum geeignet ist, die Hoffnung zu rechtfertigen,
in absehbarer Zeit könnten Männer vom Schlage eines Grafen Goluchowsti in
leitende Stellungen kommen. Es ist bekannt, daß der Polenklub zu Wien sich
vollständig der Führung der demokratischen Träger des großpolnischen Gedankens
unterwerfen mußte und daß von diesem Polenklub aus schon 1915 die Parole
ausgegeben war, daß nach der Vereinigung Galiziens mit Kongreßpolen die
Vereinigung der „übrigen polnischen Landesteile" Ziel der polnischen Politik sein
werde. Trotz des besten Willens der heutigen Regierung in Osterreich besteht
nicht nur die Gefahr, daß sie sich durch Budgetverweigerungen und andern
innerpolitischen Druck ins Schlepptau der Polen nehmen läßt, es kann mit einiger
Bestimmtheit darauf gerechnet werden, daß Habsburg gezwungen sein wird, sich
zum Träger der polnischen Wünsche zu machen und dies um so sicherer, als im
Deutschen Reich die Polen, ein Teil der Sozialdemokraten und ein Teil des
Zentrums die polnische Politik unterstützen werden. Die anhero-polnische Lösung,
die die Monarchie in Preußen mitsamt der deutschen Nationalität in Ostelbien
bedroht, kann unmöglich von einem uns befreundeten Staatsmanne der Doppel¬
monarchie gutgeheißen werden.
Herr von Kühlmann hat die Bezeichnung anhero-polnische Lösung in einer
Entgegnung gegen die Ausführungen des Abgeordneten Naumann abgelehnt und
uns auf „Mitteleuropa" verwiesen. Man darf wohl daraus folgern, daß er einem
selbständigen Staate Polen zustrebt, der sich wirtschaftlich an die Mittemächte
anzuschließen haben würde. Auch militärisch?
Die Schaffung eines völlig selbständigen Polens auf dem Gebiet
Kongreßpolens wäre immerhin noch der vorgenannten Lösung vorzuziehen. Aber
nicht etwa, weil die Polen alsdann aufhörten, ihre Staatsidee weiter zu ver¬
folgen, sondern weil ihr Druck sich dann in gleicher Weise gegen Ästerreich
richtete wie gegen das Deutsche Reich und die beiden Reiche in der Abwehr der
polnischen Ansprüche verbündet wären. Eine erstrebenswerte Lösung wäre aber
auch diese nicht. Die Kämpfe, die in Österreich und Preußen geführt werden
müßten, um das neue Polen in Schach und die österreichischen und preußischen
Polen bei ihren Staaten zu halten, würden einer ewig eiternden Wunde gleich
unser beider politisches und staatliches Leben vergiften, ohne jede Aussicht, das
polnische Problem durch Eindeutschung wenigstens der preußischen Polen von
innen aus aufzulösen.
Sollte eine der beiden Arten der Lösung geeignet sein, der Polenfrage vor¬
läufig und für eine verhältnismäßig kurze Zeit den aktuellen Charakter für die
große Politik zu nehmen, so wäre, was ich hier schon vertreten habe, die Schaffung
eines breiten deutschen Siedlungsstreifens an unserer Ostgrenze die unvermeidbare
Konsequenz. Die wirtschaftliche Verbindung Polens mit Mitteleuropa würde den
nationalen Kampf um unsere Ostmark nicht nur nicht unnötig machen, sie würde
uns zwingen, ihn in den Mitteln nachdrücklicher und schärfer auszugestalten, und
dies um so mehr, als die Herrschaft in Warschau von den radikal-demokratischen
Parteien ausgeübt werden dürfte.
Was bleibt zu tun? Das von Herrn von Bethmann Hollweg ausgeklügelte
oder von anderer Seite übernommene System krankt daran, daß man den an sich
vernünftigen Gedanken, einen Notbehelf für die Übergangszeit zu schaffen, nicht
nur dort weiter entwickelte, wo es die Verhältnisse erlaubten, wie im Baltikum
und Litauen, sondern auch dort, wo die Verhältnisse dagegen sprechen. Aus dem
politischen Bewegungskrieg geht man zum Stellungskampfe über, indem die leichten
staatlichen Sandhaufen zu starken Schützengrabensystemen ausgebaut werden. In
Litauen und Baillant sehr am Platze, in Polen ein schwerer Fehler, der sich an
der ganzen Front rächen muß.
Das mag Herr von Kühlmann bei seinen Sorgen um die Sicherung unserer
Ostgrenzen mehr einsehen und auf Schritt und Tritt unangenehmer empfinden,
als jeder andere. Wir sitzen in unseren eigenen Sicherheitsvorrichtungen gefangen,
weil wir zuviel sichern wollten I Um so verdienstlicher wäre es, wenn Herr
von Kühlmann dennoch einen Weg nachweisen könnte, der uns aus der üblen
Lage heraufzuführen geeignet wäre. Aus seiner Rede läßt sich nicht entnehmen,
daß der Weg schon gefunden ist. Die Frage ist noch nicht zu irgendeinem „mit¬
teilungsreifen" Zustande gediehen.
Soweit sich die Verhältnisse übersehen lassen, beschließen wir also den Krieg
im Osten in einer militärisch zwar glänzenden, aber politisch erheblich ungünstigeren
Stellung als wir in ihn eintraten. Wir haben Rußland wenigstens für lange
Jahre verloren und keinen entsprechend starken Freund dafür unter den „befreiten"
Völkern gewonnen. Wohl aber sind wir im Begriff, an unserer Grenze ein
zweites Serbien zu schaffen, bei dem scheinbar unsere Provinzen Westpreutzen und
Posen die Rolle Mazedoniens spielen sollen, als es noch zur Türkei gehörte und
Bestrebungen im Gange waren, seine christliche Bevölkerung unter internationalen
Schutz zu stellen. Die Parallele wird dem Abgeordneten Herrn von Trompczynsti
vorgeschwebt haben, als er im preußischen Abgeordnetenhause bei Gelegenheit der
Wahlrechtsbesprechung wagte, die Stellung preußischer Provinzen unter inter¬
nationale Aufsicht zu fordern. Diese Forderung wird, wir sind davon überzeugt,
wiederkehren!
'MW>le jüngsten Ereignisse in Osterreich konnten dem, der die öster¬
reichische Entwicklung verfolgt hatte, nicht viel Überraschung bieten.
Schon seit dem vorigen Sommer beobachteten besonnene Sozial¬
demokraten in Osterreich, wie der verstorbene Pernerstorfer, der bis
!zu seinem Ende seinen deutschen Jugendidealen treu geblieben ist,
mit wachsender Besorgnis den zunehmenden Einfluß syndikalistischer Elemente in¬
nerhalb der österreichischen Sozialdemokratie, die zum größeren Teile weder aus
der Arbeiterschaft, noch aus dem eigentlichen Osterreich hervorgingen. Jetzt kann
man sogar in linksliberalen Zeitungen lesen, daß junge Handlungsgehilfen, Ad¬
vokaten und sonstige nicht sehr wurzelfeste Existenzen oft sehr östlicher Herkunft
mit ihrem Radikalismus die Massen mehr und mehr der Parteileitung abspenstig
machen. Die Streiks, die schon im vorigen Sommer, damals vorwiegend in der
nichtdeutschen Arbeiterschaft, hie und da aufflammten und damals noch von der
Militärgewalt unterdrückt wurden, waren ersie Anzeichen für das, was sich folge¬
recht vorbereitete. Nicht minder freilich auch die immer heftiger werdende Sprache
gerade der offiziellen Parteiorgane selbst, voran der „Arbeiterzeitung", die dann
selbst einigermaßen erstaunt tat über die Flamme, die sie mit angefacht hat.
Natürlich hätten die radikalen Elemente nicht so erstarken können, wenn nicht die
Massen so überaus ungeschickt behandelt worden wären. Die aufreizende Ohn¬
macht der Regierung gegenüber der Disziplinlosigkeit der Bevölkerung in den Er¬
nährungsfragen, namentlich gegenüber dem passiven Widerstand der Tschechen,
das vollkommene Versagen der Ernährungsorganisation hat den letzten Rest von
Vertrauen auf die Behörden zerstört. Das Fehlen einer positiv wirkenden
„großen" Presse und die Enttäuschung, die der Reichsrat auch denen bereiten
mußte, die ihn aufs dringlichste gefordert hatten, erzeugten bis zum einfachsten
Mann hinunter das Gefühl, in einem gänzlich steuerlosen Schiff zu sitzen. Hatte
man es von Anfang an daran fehlen lassen, der Bevölkerung irgendwelche Kriegs¬
ziele zu zeigen, die den Opfermut aufrecht erhalten konnten, so wußte man sich
jetzt vollends nur dadurch zu helfen, daß man mit allen Mitteln verfrühte und
übertriebene Friedenshoffnungen nährte. An sich ist gerade die niederösterreichische
Bevölkerung wie die deutsch-österreichische überhaupt weit opferwilliger und aus¬
dauernder, als sich der weiter abseits stehende Beobachter nach den letzten Er¬
eignissen vorstellen mag. Nur wer die ganze lähmende Unsicherheit des öster¬
reichischen staatlichen Lebens erlebt hat. kann die moralische Kraft der Schichten
ermessen, die trotz des Mangels jeder politischen Führung sich noch Vertrauen
auf eine Neugestaltung des Staates und Verständnis für einen Sinn dieses
Krieges über die bloße Rettung der Existenz hinaus bewahrt haben. (Wieviel
Schuld an dieser Zerrüttung der Stimmung in Osterreich die reichsdeutsche Öffent¬
lichkeit trägt, soll noch besprochen werden.) Es hat keinen Zweck, diese ernsten
Hemmungen, unter denen unsere gesamte Kriegführung nicht minder wie Öster¬
reichs selbst leidet, zu vertuschen. Um so weniger, als der moralische Zustand der
Monarchie keineswegs ein Spiegelbild oder Ausdruck ihrer wirklichen Kräfte ist. In
dieser Beziehung hat sich durch den Krieg nicht das mindeste geändert: der öster¬
reichische Pessimismus, die österreichische Verneinung des eigenen Wertes hat unsere
Gegner nicht zum geringsten Teile zum Kriege ermutigt und dabei doch nur eine
Summe von militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräften verhüllt, die dann,
las sie auf die Probe gestellt wurden, die siegesgewisser Feinde aufs Schmerzlichste
enttäuschten. Auch jetzt wieder sind die großen Hoffnungen, welche die feindliche
Presse aus die inneren Schwächen der Monarchie setzt, verfrüht, wenn sie etwa
mit einem Zerfall der Monarchie rechnen. Nicht freilich, wenn sie bloß auf eine
Schwächung der gemeinsamen Kriegführung der Mittemächte zielen. Das ist ja
das Eigentümliche einer solchen pessimistischen selbstverneinenden moralischen Ver¬
fassung: sie kann wohl schwächen und im Kampf schwer schädigen, muß aber
schließlich doch weichen und den wirklichen, in der Tiefe vorhandenen Kräften
Kräften Raum geben, wenn es ums Letzte und Ganze geht. Nur so sind auch
diese letzten Vorgänge wieder zu verstehen, die man nicht ernst genug nehmen
kann, wenn man an die Kriegführung denkt, die man aber auch nicht zu ernst
nehmen darf, — wenn man ihre Folgen nicht noch schlimmer gestalten will. Es
hat keinen Zweck, solche Erscheinungen etwa vor dem feindlichen Ausland ver¬
heimlichen zu wollen: damit werden sie für dieses noch bedeutsamer und tröstlicher.
Vielmehr muß man über sie in aller Klarheit, aber mit genauesten Verständnis
für jene eigentümliche österreichische moralische Verfassung sprechen und dabei sich
auch nicht scheuen, die wirklich drohenden Gefahren beim Namen zu nennen.
Man sieht schon, worauf ich hinaus will. Es ist schwer zu entscheiden, was
bei den letzten Vorgängen in Österreich schlimmer war: die Ereignisse selbst oder
ihre Behandlung sowohl in Österreich als vor allem in Deutschland. Worum
handelte es sich eigentlich? Eine sorgfältig genährte und seit dem Ausbruch der
russischen Revolution von einer sehr besorgten Regierung durch ihre Unsicherheit
ermutigte allgemeine Unzufriedenheit wird von entschlossenen Agitatoren, die mit
maximalistischen Methoden die Welt zu erlösen hoffen, sowie von einigen Partei¬
häuptlingen, die für ihre Macht fürchten, ausgenützt. Die lange erwartete Ge¬
legenheit ist besonders günstig. Die mit überspannten Erwartungen beobachteten
Friedensverhandlungen werden durch die Abwehr eines „preußischen Generals"
gegen russische Ungehörigkeiten (von denen natürlich die österreichische Öffentlichkeit
nicht unterrichtet worden ist) scheinbar aufgehalten und gleichzeitig wird der Mehl¬
anteil herabgesetzt. Anlaß genug, um die Ungeduld der Massen aufs äußerste zu
steigern. Bequeme Schlagworte (Nieder mit dem preußischen Militarismus, mit
den Kriegsverlängerern, den Annexionisten), die längst mit allen Mitteln von einer
nicht sehr verantwortungsbewußten, ihrem Publikum oder anderen mächtigen
Faktoren willigen Presse „volkstümlich" gemacht worden sind, erhalten neue Nah¬
rung. Daß man mit diesem Streik gerade den Forderungen, die man mit ihm
angeblich vertrat: Besserung der Ernährungsverhältnisse und Beschleunigung des
Friedensschlusses, uicht im mindesten dient, sondern gerade entgegenwirkt, konnte
natürlich auch den Anstiftern, den bewußten, wie den mehr oder minder unfrei-
freiwilligen, nicht verborgen bleiben. Aber auch die Regierung Seidler nimmt
darauf nicht Bezug, so daß sogar ein pazifistisches Blatt, wie das „Prager Tag¬
blatt", das man unter keinen Umständen wird „altdeutsch" nennen können, den
Eindruck hat. daß der Streik „gewissen Kreisen, die sonst durch Welten von einem
Streiklager getrennt sind", als Druckmittel gegen „bundesgenössische militärische"
Kreise nicht unwillkommen gewesen sei. Jedenfalls zähmt man den entfesselten
Leuen mit Liebenswürdigkeiten, die man in geradezu vertraulicher Weise (der
Minister des Innern Toggenburg versichert, daß Czernin und Trotzki sich auf ein
Haar glichen) austauscht. Die Radikalen sind natürlich unbefriedigt, aber
die Parteileitung erklärt stolz: der Kriegswille sei gebrohen. Die Radi¬
kalen lassen tiefer blicken: man habe den Streik nicht durchhalten können,
weil die Genossen im Reich die österreichischen „im Stiche gelassen"
hätten, ebenso wie die Tschechen, die sich von dieser Gelegenheit noch
nichts für ihr tschechisch - slowakisches Reich erhofften. Für die Arbeiter
ist so gut wie nichts erreicht, für die „Kuriere TrotM" (so nennt eine
Korrspondenz den aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrten österreichischen
Hauptmann Otto Bauer, einen Führer der Radikalen) immerhin einiges: die
Staatsautorität ist weiter geschwächt, die maximalistischen Ideen sind gestärkt und
ein wenig weiter nach Westen gewandert. Daß 'sie sich Österreich als Einfallspforte
nach Mitteleuropa suchen, kann man vielleicht ebenso sehr Österreich wie denen
zuschreiben, die es zu ihrem eigenen Schaden schon vor dem Kriege so wenig
kannten. Macht „Mitteleuropa" nicht einen Wall gegen den Osten aus Österreich,
so macht der Osten eine Einfallspforte nach „Mitteleuropa" aus ihm. Das war
schon vor dem Kriege einigermaßen deutlich.
Diese Grundwahrheit, die aufs innigste mit jener oben erörterten Eigenart
dieses in seinen wirklichen Kräften so konstanten, in seinem moralischen Zustand
so beeinflußbaren Staates zusammenhängt, äußert sich wie im großen Zuge der
politischen Entwicklung, so auch in jedem kleinen Zwischenfalle. Auch bei den
letzten Ereignissen kam viel darauf an, was man aus ihnen machte. Die reichs¬
deutsche Öffentlichkeit (unter Beihilfe der gerade in österreichischen Dingen besonders
schlecht unterrichteten und hilflosen Ämter) hat in diesem Falle verdorben, was
irgend zu verderben war. Zunächst wurde man natürlich vollkommen überrascht
und benahm sich sehr kopflos. Sodann kam aber auch das ganze Elend unseres
politischen Lebens, das sich in innerer und Parteipolitik vollkommen erschöpft und
dem auch die ernstesten außenpolitischen Vorgänge nur Mittel zu parteipolitischer
Agitation sind, zum Vorschein. Die linksliberalen Blätter, voran das „Berliner
Tageblatt", aber auch die ..Vossische Zeitung", nützten ihre Berichte in so vor¬
aussetzungsloser Weise für ihren Kampf gegen die „Annexionisten" aus. daß selbst
die „Arbeiterzeitung", in deren Dienst sie sich doch restlos gestellt hatten, ihnen
Irrtümer und Entstellungen vorwarf. Aber auch in der übrigen Presse war man
zunächst hilflos: da zwei Tage lang nur ein Mitteilungsblatt der „Arbeiterzeitung"
erschien, herrschte überall die sozialdemokratische Auffassung der Ereignisse. Das
schon am 19. Januar der christlichsoziale Parteivorstand eine scharfe Kundgebung
gegen den Streik beschloß und daß es außer sozialdemokratischen Arbeitern auch
noch andere, dem Streik widerstrebende Menschen in Wien und in Osterreich
überhaupt gab, war etwa für einen feindlichen Leser aus der reichsdeutschen Presse
nirgend zu entnehmen. In jener Entschließung hieß es: „Die gesamte nicht-
sozialdemokratische Wiener Presse wurde mundtot gemacht, die Informierung der
öffentlichen Meinung für eine politische Partei monopolisiert. Dieser Entwicklung
der Ereignisse hat die Regierung mit verschränkten Armen zugesehen, sie sogar
aktiv unterstützt. Die christlichsoziale Partei legt gegen diese terroristische Ver¬
gewaltigung der Mehrheit der Wiener Bevölkerung die schärfste und nachdrück¬
lichste Verwahrung ein". Besser als das Ausbleiben aller Nachrichten hätte gewiß
die Wiedergabe solcher österreichischen Stimmen gewirkt. Aber es gibt ein un¬
bekanntes Osterreich, das in der sehr überschätzten Wiener „großen" Presse nicht
zu Worte kommt und deshalb höchstens gelegentlich für die gleichgesinnten Partei¬
blätter im Reiche, nicht aber für die weitere Öffentlichkeit und auch nicht für
unser amtliches Wolff-Bureau vorhanden ist. Gerade die österreichische Bericht¬
erstattung der amtlichen Nachrichtenquelle bedarf einer dringenden Reform. Denn
gerade dieses unbekannte Osterreich, das sich vor allem in den deutschen Provinz¬
blättern spiegelt, ist das bündnistreue. Es heißt, unverantwortlich die eigenen
Interessen vernachlässigen, wenn man gerade in der reichsdeutschen Presse, vor
allem gegenüber dem Auslande, dieses Österreich nicht so zur Geltung bringt, wie es
seinen wirtschaftlichen und kulturellen Kräften nach verdient. Man könnte es sich
ersparen, die deutsch-feindlichen Angriffe der tschechischen, polnischen und südslawischen
Abgeordneten mit Rücksicht auf das ohnehin sehr gut unterrichtete Ausland zu
unterdrücken, wenn man die kräftigen Kundgebungen der deutschen Abgeordneten
für das Bündnis genügend beachtete. Das gilt auch für die konservative Presse,
die wiederum die österreichischen Dinge fast nur behandelt, wenn sie triftigen
Anlaß zu reichsdeutscher Kritik bieten. Man brauchte die sehr beliebten österreichischen
Empfindlichkeiten, zu der die allzeit beflissene große Wiener Presse sehr bereit ist, nicht
zu befürchten, wenn man immer ganz sachlich und genau über Österreich unter¬
richtete. Man darf sich aber über diese gekränkten Erwiderungen nicht wundem, wenn
man z. B, der „Zeit" die Möglichkeit gibt zu behaupten: rechtsstehende Blätter
meinten die Leitung der reichsdeutschen amtlichen Politik, wenn sie Osterreich an¬
griffen (benützten also Österreich gewissermaßen nur als Prügelknaben). Damit
macht man freilich die Replik sehr leicht. Man könnte mit viel weniger zaghafter
Offenheit über die österreichischen und über die gemeinsamen außenpolitischen
Fragen, also auch über die innerösterreichischen, soweit sie die gemeinsame Außen¬
politik berühren, sprechen, wenn man sich von Reichsdeutschland aus streng davor
hütete, alle diese Fragen mit innerpolitisch-reichsdentschen in Verbindung zu bringen.
Daß die österreichische Presse ihrerseits in innerpolitische reichsdeutsche Dinge hin¬
einredet, dürfte an diesem taktischen Grundsatz nicht irre machen. Voraussetzung
dazu ist freilich, daß Man die österreichischen Dinge besser kennt als bisher. Der
Wiener Posten scheint immer noch von den Zeitungen (wie von den Ämtern) als
besonders unwichtig betrachtet zu werden; fingerfertige Zeilenkünstler müssen ge¬
nügen. Dabei ist gerade die Wiener Korrespondenz eines reichsdeutschen Blattes
zurzeit die verantwortungsvollste unter den auswärtigen und bedarf gründlicher
Vorbildung. Man darf sich nicht wundern, wenn die Verstimmung gegen Neichs-
deutschland in Österreich nicht nur in den von Hause aus bündnisfeindlichen
Schichten und Völkern ständig wächst, sondern auch bei den bündnisfreundlichen
sich einzunisten beginnt. Der Deutsch-Österreicher ist überaus bereit, reichsdeutsche
Führung anzuerkennen, wird aber durch die vollkommene Richtungslosigkeit der
reichsdeutschen Öffentlichkeit wie der amtlichen Politik in österreichischen Fragen
immer wieder aufs schwerste enttäuscht. Die bisher gegen Deutschland gehässig
hetzende „Zeit" hat diesmal Recht, wenn sie erklärt: vieles wäre besser, wenn man
in Deutschland nicht so teilnahmslos und ununterrichtet Österreich gegenüber wäre.
Die „unerfreulichen Pressevorgänge", die an den Streik anknüpfend von Österreich
ausgingen und von denen Kühlmann sprach, daS teils hilflose, teils parteipolitisch
blinde Verhalten der reichsdeutschen Presse, ihre Liebedienerei gegenüber der nicht
sehr bündnisfreundlichen Wiener „großen" Presse auf der einen Seite, ihre zum
Teil schlecht zielende, schlecht unterrichtete, wenig vorbereitete Abwehr auf der an¬
deren Seite, dieses ganze haltlose Hin und Wider zwischen Wien und Berlin hat
wahrscheinlich den Feinden mehr Freude bereitet als die Wiener Aufstände selber.
Diedrich Bischoff: „Vom vaterländischen Beruf der deutschen Frei¬
maurer, ein Wort zum Kampf um Deutschlands Einigkeit." Berlin
1917. Alfred Unger. Geh. 4,80 M.. geb. 6.— M.
Deutsche Freimaurer schreiben nicht oft Bücher fteimcmrerischen Inhaltes
für größere Leseckreise, weil das zwecklos ist. Sie machen überhaupt keine Pro¬
paganda, sondern überlassen es den Menschen, aus eigenem Antriebe zu kommen.
Die so Kommenden erhalten bereitwillig Aufklärung, und zwar so vollständig,
als es die Natur der Sache ermöglicht. Wem es darum zu tun ist, Freimaurerei
kennen zu lernen, der muß Freimaurer werden; denn Freimaurerei ist kein Wissen,
das sich popularisieren, in Lehrsätze fassen und einem Laienpublikum in kurzen
Formeln zugängig machen läßt. Nicht durch Wort und Schrift, sondern nur
durch ihr Leben und Wirken können Freimaurer für Freimaurerei werben. Jeder
Fernstehende wird aber den Kern des Freimaurertumes und die Grundlagen
seiner „Geheimnisse" aus der Lebensarbeit und dem Verhalten des Freimaurers
seinen Mitmenschen gegenüber erkennen können. Dieses Verhalten der deutschen
Freimaurer der Öffentlichkeit gegenüber hat sich bewährt. Es hat aber auch
manche unerfreuliche Folgen gehabt. Heftige Angriffe mit vielen falschen Be¬
schuldigungen von feiten der natürlichen Gegner sind von jeher an der Tages-
ordnung gewesen. Die Versuche, sie zu widerlegen, hätten aber wenig Aussicht
aus Erfolg gehabt; denn der grundsätzliche Gegner läßt sich nicht versöhnen und
sein gedankenloser Nachbeter ist nimmer zu überzeugen. Solche Angriffe haben
in jüngster Zeit in verschärfter Form wieder eingesetzt, und täglich kann man sie
in zahllosen Zeitungen lesen. Trotz „Burgfriedens" beschuldigt man auch die
deutscheu Freimaurer, daß sie im Grunde genommen nicht besser seien, als die
romanischen und angelsächsischen; daß sie, wenn auch in anderen Formen und in
anderen Maßen, Politik treiben; daß sie den Staat, die Kirchen, die Religion
untergraben; daß sie tatsächlich auch auf der Grundlage der Idee einer Welt¬
herrschaft der Freimaurerei stehn oder ihr zustreben; daß sie den Staat von der
Kirche trennen, das Schulwesen beherrschen und in ihm religionslose Moral zur
Herrschaft bringen wollen; daß sie also staatsgefährlich und kirchenseindlich seien
und deshalb aufs heftigste bekämpft werden müßten. Da fragte man sich in
freimaurerischen Kreisen, ob denn die Erörterung freimaurerischer Fragen in der
Öffentlichkeit nicht geradezu zur Pflicht werde, um die, welche sich über die Frei¬
maurerei überhaupt uoch aufklären lassen wollen, eines Besseren zu belehren.
Diese Frage wird aber auch heute noch verschieden beantwortet. Die einen reden
der „Außenarbeit"' lebhaft das Wort; sie halten es für vaterländische Pflicht
der deutschen Freimaurer, auch über die Grenzen der Loge hinaus unter den
Menschen aufklärende Arbeit zu leisten. Die anderen legen nach wie vor das
Schwergewicht auf die „Innenarbeit", die Erziehung des einzelnen Menschen zum
Freimaurer, und glauben damit auch dem Vaterlande den erfolgreichsten und
wichtigsten Dienst zu tun.
Der Verfasser des vorliegenden Buches, Diedrich Bischoff, gehört zu den
ersteren. Seit Jahren hat er durch Wort und Schrift, getreu seinem Programm,
auch „Außenarbeit" geleistet, indem er sich bemüht, für die Öffentlichkeit zu
wirken, dem Nichtfreimaurer den Inhalt der deutschen Freimaurerei so, wie er ihn
auffaßt, verständlich zu machen und nahe zu bringen. Bischoff ist zurzeit auf
diesem Gebiete einer der fruchtbarsten deutschen Freimaurerschriftsteller. In zahl¬
reichen Schriften hat er versucht, die verschiedensten Fragen des persönlichen und
öffentlichen Lebens von seiner Weltanschauung aus zu beleuchten und von seiner
Auffassung auch Nichtfreimaurer zu überzeugen. In der vorliegenden Schrift fesselt
ihn der Gedanke, daß die deutsche Freimaurerei befähigt sei, entscheidend da mit«
zuhelfen, wo es gilt, die sich befehdenden Menschen zu einigen, und damit auch
dem Vaterlande die wertvollsten Dienste zu leisten. Den Inhalt des Buches bilden
vier Abhandlungen: Der freimaurerische Gedanke, — Um Deutschlands Einig¬
keit, — Die freimaurerische Missionsarbeit, — Die Missionsschule — und ein Aus¬
blick in die Zukunft —, welche untereinander in aufbauenden Zusammenhange
stehen. Wohltuend wirkt das warme vaterländische Gefühl, das der Leser auf
jeder Seite verspürt und das ihm dieselbe herzliche Sorge um das Wohl unseres
Volkes einflößt, die den Verfasser beseelt. Soweit es überhaupt durch solche
schriftliche Darlegungen möglich ist, gestattet die Lektüre dem Nichtfreimaurer einen
wertvollen Einblick in die Gedankenreihen jener idealen Weltanschauung, die sich
der Verfasser in langjähriger Arbeit auf dem Boden der deutschen Freimaurerei
erarbeitet hat. Mit Absicht und Geschick weist er bei jeder passenden Gelegenheit
auf die weite Kluft hin, durch die deutsche Freimaurerei von ausländischer, ins¬
besondere von romanischer, getrennt ist, und der nicht voreingenommene Leser
erkennt, daß ein durch deutsche Freimaurerei Beeinflußter wohl erzogen ist zu
sozialethischer Arbeit unter seinen Mitmenschen, daß aber deutsche Freimaurerei
mit Politik nichts zu tun hat. Das Buch wendet sich an die Gebildeten unter
den Vaterlandsfreunden, denen es, wie dem Verfasser, Herzenssache ist, an den
Aufgaben mitzuarbeiten, die unser Volk in den kommenden Zeiten des vater¬
ländischen Lebenskampfes zu lösen hat. Es soll helfen, den gegenwärtig nur noch
mühsam aufrecht zu haltenden „Burgfrieden" zum dauernden Volksfrieden werden
zu lassen. Eben dieses Problem der deutschen Zukunft, das alle Kreise unseres
Volkes zu ernstem Nachdenken und hilfreicher Teilnahme aufruft, steht im Mittel¬
punkte der gedankenreichen und formvollendeten Betrachtungen. Möge das treff¬
liche Buch recht viele Leser finden, die seinen Inhalt frei von Vorurteilen prüfen.
Sie werden nach seiner Lektüre, soweit sie „guten Willens sind", die Hände nicht
in den Schoß legen, die Sorge für die Zukunft dem lieben Nächsten überlassend,
sondern bereit sein mitzuhelfen, soweit ihnen Einsicht und Arbeitskraft Arbeits¬
gelegenheit bieten; denn sie werden erkennen, daß der Verfasser recht hat, wenn
er die freimaurerische Missionsarbeit um Deutschlands Einigkeit und Glück sehr
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterfelde West. — Manuslrtptsenduugen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
A» die Schriftleituno. der Grenzbotrn i» Berlin 8 V 11, Tempelhofer User »Sa.
Fernsprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 4W, de« Verlag« und der Schriftleitung: Amt Lützow W,in,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b, H. in Berlin SV II, Tempelhossr Ufer Wa
Druck: „Der Reichsbote" Ä, in, b. H. in Berlin SV 11, Dessauer Straf,- LK/37,
>n Brest - Litowsk verhandeln der deutsche und der österreichisch¬
ungarische Minister in einer Einmütigkeit über die Sicherung un¬
serer Ostgrenze, d. h. über ein in erster Linie reichsdeutsches Kriegs-
ziel, daß man annehmen sollte, es bestehe zwischen beiden auch volle
I Übereinstimmung über die Gesamtheit der Kriegsziele der Ver¬
bündeten überhaupt. Daneben' wissen wir bestimmt, daß in einer Frage, die
eben hierdurch zu einer Hauptfrage des Friedensabschlusses werden konnte, von
einer völligen Übereinstimmung nicht die Rede sein kann: in der Polsnfrage.
Dieser Instand ist nicht geeignet, uns in Ruhe über die Gestaltung der Friedens-
gmndlagen im allgemeinen und der östlichen Grenzsicherungen im besonderen zu
wiegen, weil die geschichtliche Entwicklung Deutschlands, die eine Fortsetzung der¬
jenigen Preußens ist, die Bedeutung der Polensrage für uns ganz anders ge¬
staltet hat, wie für unsere Verbündeten von der Donau. Außerdem sind in den
letzten Wochen Verhältnisse zutage getreten, die es schwer machen zu übersehen, wohin
eigentlich die Gesamtpolitik unseres größten Verbündeten steuert und in welcher
Richtung sowie in welchem Umfange wir aus praktischen Erwägungen heraus
gezwungen sein könnten, den Interessen unserer Bundesgenossen den Vortritt vor
den unseren lassen zu müssen. Wenn Gustav Stolper die polnische Frage jüngst
als die Lebensfrage der Monarchie schlechthin ') bezeichnen zu müssen glaubte und
ausführen kann, der Krieg habe für die Monarchie als südslawischer begonnen,
habe sich aber zum nordslawischen gewendet**), so sind das Auffassungen, die jenen
Gedankengängen entsprochen und uns aufhorchen machen. Nicht eben beruhigend
muß auch die immer deutlicher ein die politische Oberfläche tretende Tatsache
wirken, daß im Habsburgischen Lager eine Spaltung zwischen Österreich und
Ungarn von einer solchen Tiefe sich aufgetan hat, daß die sonst in ähnlichen
Fragen sehr zurückhaltende Presse Wiens offen darauf hinweist und Freiherr
von Chlumecky in der „Osterreichischen Rundschau" ^*) persönlich sowie durch mehrere
Mitarbeiter") Alarm schlägt. Dazu hören wir den ungarischen Abgeordneten
Heinrich Freiherr von Guttmann über „Mitteleuropa", ein von zahlreichen Öster¬
reichern und Reichsdeutschen doch mit großer Wärme vertretenes Kriegsziel, sagen:
Dies „sonderbare Projekt" sei ungeachtet der aufrichtigsten Waffenbrüderschaft mit
Deutschland in Ungarn ... „nie auch nur einen Augenblick populär" gewesen,
„und zwar aus dem Grunde nicht, weil Ungarn infolge des ... von seiten des
Verbündeten kommenden stärkeren äußeren Druckes sein gutes Verhältnis zu
Ästerreich gefährdet sähe.""")
Ein solcher Zustand zwingt uns förmlich, uns davon Rechenschaft zu geben,
wo die anscheinend doch recht weit auseinanderstrebenden Ziele unserer Bundes¬
genossen liegen und ob und wie eine Verständigung über sie zu finden ist. Es handelt
sich bei den angedeuteten Abweichungen nicht nur um Parteimeinungen, wie sie etwa
bei uns bestehen zwischen der Vaterlandspartei >ut der Sozialdemokratie, sondern
um die Ansprüche von Staaten, die durch staatliche Organe vertreten und durch¬
gesetzt werden können. Leicht ist die Arbeit, ein Bild vom angestrebten und
erreichbaren zu geben, nicht, da eine eigentliche Kriegszielliteratur, wie sie bei uns
im Reich seit Freigabe der Kriegsziele durch die Zensur ins Kraut schoß, in
der Donaumonarchie kaum vorhanden ist; man muß sich die Kriegsziele Öster¬
reichs und Ungarns aus der Literatur zusammenstellen, die über Einzelprobleme
der inneren und äußeren Politik schon aus der Zeit vor dem Kriege vorhanden
oder, wie die ganze Literatur über „Mitteleuropa""?), den österreichisch-ungarischen
Ausgleichs), das Südslawische Problem ff), die Adriafragefff), das Donauproblem
und andere Dinge neu entstanden ist. Heinrich Friedjung, Paul Samcrssa, Richard
Charmatz, Karl Renner, Gustav Stolper, Robert Sieger und andere, sowie die
erwähnte „Österreichische Rundschau" (Wien), und H. Ullmanns „Deutsche Arbeit"
(Prag) sind dabei zuverlässige Führer.
1) Dr. Ivan Zolger. „Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Osterreich und Ungarn"
Leipzig 1S11. Verlag von Duncker u. Humblot. XIII und 3S4 S. Preis 9 M.
Dr Rudolf Sieghart „Zolltrennung und Zolleinheit, die Geschichte der österreichisch-
ungarischen Zwischenzolllinie"; nach den Akten dargestellt. Wien 19Is. Manzsche, K. u. K.
Hof-Verlags- und Universitäts - Buchhandlung. Vit und 413 S. Preis 12 Kronen ö. W.
11) Leopold Mandl. „Die Habsburger und die serbische Frage". Geschichte des staat¬
lichen Gegensatzes Serbiens zu Österreich-Ungarn. Wien 1918. Verlag von Moritz Perles
K. und K. Hofbuchhandlung, 197 S.
Slavicus. „Österreich-Ungarn und die südslavische Frage". Verlag von Ferd. Wyß,
Bern 1917.
Theodor von Sosnowsky, „Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866." 2 Bde.
Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1913/14.
Als im Sommer 1914 Österreich-Ungarn in den Krieg gegen Serbien ge¬
rissen wurde*), aus dem sich der noch immer tobende Weltkrieg entwickelte, schien es
kein anderes Kriegsziel zu haben, als die Züchtigung der Serben und die Schaffung
von Sicherheiten an seiner Südgrenze. Als dann im September desselben Jahres
die Russen vor Krakau standen und ihre Friedensfühler nach Wien ausstreckten,
mag es manchen guten Patrioten an der Donau gegeben haben, der sich die Frage
vorlegte, ob denn das bescheidene Kriegsziel die Fortsetzung des Krieges an der
Seite des inzwischen von Frankreich und England angefallenen Deutschland und
die damit verbundenen Opfer an Gut und Menschenleben rechtfertigt«. Italien
war noch nicht offen auf die Seite der Feinde übergegangen. Die Kriegspartei
gewann die Oberhand zum Heile Österreich-Ungarns! Nicht die Treue zum
Bundesgenossen, — das klingt sehr hübsch in Zeitungsartikeln und Parlaments»
reden, ist aber nur für den Spießer berechnet — sondern die hohe Auffassung
von Habsburgs Mission bei den leitenden Männern in Wien hat die Entscheidung
finden helfen. Deutschlands Weltgeltung ist die Voraussetzung für die Entscheidung
über die Frage ob Österreich-Ungarn selbst durch die Adria und das Mittelmeer
zur Teilnahme an der Weltpolitik berufen sein soll oder nicht, was wieder die
Vorbedingung dafür ist, daß der Staat eine seiner historischen Mission im Süd¬
osten entsprechende Daseinsform findet. Deutschland mußte nur bereit sein, die
Durchführung dieser Mission möglich zu machen; um den Preis der Bereitschaft
konnte es denn auch Habsburg übernehmen, trotz warnender Stimmen für Deutsch- -
leads Weltgeltung einzutreten und Opfer zu bringen. Eine andere Entscheidung
hätte vielleicht dem Kriege ein schnelleres Ende bereitet, aber Österreich-Ungarn
wäre, seiner Aufgaben beraubt, aus dem Mangel einer Daseinsberechtigung zerfallen.
Dies ist der Rahmen für jedes Bild über die österreich-ungarischen Kriegsziele.
Nun klingt es hart, wenn nicht gar anmaßend, von eines Reiches Daseins¬
berechtigung zu sprechen, das in so schweren Stunden beweisen konnte, wozu es
da ist. Aber es sind ja die Österreicher selber, die uns immer wieder durch ihre
Gelehrten und Schriftsteller zu dieser Frage führen. Aus dem Unbehagen, das
die Unfertigkeit des Staatsbaues verbreitete, entsteht sie.
„Ich lebe, darum bin lebt" Dies stolze Römerwort, das ein polnischer Denker
anwandte, als er den Grund für die Daseinsberechtigung seiner Nation angeben
wollte, möchte ich unseren Bundesgenossen zurufen, wenn ich die Bemühungen
sehe, mit denen Österreicher die Daseinsberechtigung der Habsburgischen Doppel¬
monarchie glauben nachweisen zu müssen. Es kommen dabei recht wunderlich
anmutende Dinge zum Vorschein, die wohl nur dem ohne weiteres verständlich
sind, der den ganzen niederdrückenden Pessimismus gesehen hat, der auf Deutsch-
Österreich vor dem Kriege lastete und der in Rechnung zu stellen weiß, was
Wien als Kultur- und Ausgleichszentrum für die Monarchie und seine Völker
bedeutet. So macht der Wiener Geograph Hanslick den Versuch**), die Erdober-
flache mit geographisch bestimmten Kulturgebieten zu überziehen, aus denen dann
im Laufe der Jahrtausende sich der Österreichisch-Ungarische Staat, wie er als
Groß-Habsburg nach dem Kriege aussehen würde, als modernster Typus des
Völkerstaates sich entwickelte, Herr Hanslick führt seine weit hergeholten Gründe
für die Notwendigkeit des Bestehens Österreich-Ungarns im neutralen Auslande
mit großem Ernst spazieren und wird ^- mißverstanden. Osterreich - Ungarn
lebt, darum ist es l Aber der Staat ist weder innerlich noch äußerlich abgeschlossen
— es ist ein werdender Staat, in dem die Kräfte nach Gestaltung ringen. Die
Frage, die der Politiker und Staatsmann zu stellen hat, ist darum eine andere:
wird es sich, so wie es ist, halten können, inmitten des Drucks, der entstanden
ist durch den Weltkrieg und die russische Revolution? Welche staatsrechtliche Formen
nutz es annehmen, um den neuen Verhältnissen gewachsen zu sein? Und schließlich:
wie muß sich sein Verhältnis zu den Nachbarn gestalten? Staaten leben und
haben Daseinsberechtigung, so lange sie eine weltgeschichtliche Aufgabe erfüllen,
trivialer ausgedrückt: solange sie völkische Rohstoffe kulturell zu verarbeiten ver¬
mögen. Polen ist untergegangen, weil es mit der kulturellen Erneuerung des Mittel-
alters, die ihm über Deutschland gebracht wurde, nichts anderes anzufangen wußte,
als die dünne Schicht der Schlacht» in ihrem Egoismus zu zivilisieren. Österreich -
Ungarn müßte untergehen, wenn es darauf verzichten wollte, die moderne Methode der
Arbeit an der Gesellschaftsbildung den sozial unentwickelten Völkern im Südosten
Europas zu vermitteln. Es wird vor dem Untergange bewahrt bleiben, nicht weil
etwa die geographische Lage der in Frage kommenden Gebiete eine günstige ist,
sondern weil Millionen Gebildete in ihm die große weltgeschichtliche Aufgabe
richtig erkannt haben und bereit sind, die Gunst der geographischen Verhältnisse
nach Kräften zu nützen. Es wird sich die Durchführung seiner Aufgabe erschweren,
wenn es Gebiete in seinen Einflußbereich zu ziehen bestrebt sein wird, die bereits
eine Eigenentwicklung ausgesprochener Richtung haben oder unter dem Kultureinfluß
politisch stärkerer Mächte stehen. Daß wirtschaftlicher und nationaler Egoismus ebenso
wie Herrschsucht und Verblendung, alte Neigungen und junger Haß sich dem
Wollen entgegenstellen und daß die historisch »gewordenen staatsrechtlichen Ver¬
hältnisse in der Monarchie gerade die reaktionären Strömungen stärker wirken
lassen, als die bewußten Kulturpioniere es wünschen, ist auch kein Grund zum
Verzagen. Ihre Widerstände sind historische Notwendigkeiten, die es zu über¬
winden giP. An ihnen verfeinert sich in einem gesunden Staatswesen die politische
Technik, aus ihnen bildet sich als Resultante aller Kräfte der zielsichere Staats¬
wille, der seinen sichtbaren Ausdruck findet in den Bahnen, die seine auswärtige
Politik geht.
Die Bahnen der auswärtigen Politik Habsburgs waren seit seinem Aus¬
scheiden aus dem deutschen Bunde und seiner Verständigung mit dem jungen
Deutschen Reich als katholische Vormacht im Südosten des Erdteils bestimmt
durch die Notwendigkeit, das Mittelmeer an der Adria zu gewinnen, sowie zur
Sicherstellung des Zugangs dazu entsprechende Gebiete auf dem Nordwestteil der
Balkanhalbinsel unter seinen Einfluß zu bringen. Der Schwächezustand der Türkei
und die ungehinderten staatlichen Verhältnisse auf dem Balkan reizten darüber
hinaus auch gegen Saloniki vorzustoßen und das Ägäische Meer zu erreichen.
Solche Zielsetzungen mußten den Gegensatz zu Nußland auch dann neu herauf¬
führen, wenn er nicht schon Erbteil aus früheren Epochen gewesen wäre/') Der
Gegensatz zu Nußland wiederum bedingte Österreich-Ungarns stärkere Anlehnung
an das Deutsche Reich, trotz Königgrätz und gegen die Wünsche bestimmter kleri-
kaler und feudaler Kreise am Wiener Hofe, die auch in der Gegenwart noch wirken.*")
Ihr Widerstand war dann die Veranlassung, daß das von Rußland in erster
Linie bedrohte Ungarn in der Zweibundpolitik die Führung auf Habsburgs Seite
übernehmen konnte.
So wenig auch der klerikalfeudale Einfluß der breiten Öffentlichkeit zum
Bewußtsein kam, hat er doch große und unheilvolle Wirkungen ausgeübt. Denn
ihm ist es wohl im letzten Grunde zuzuschreiben, wenn Österreich nicht gleich
Ungarn entschlossen den Weg zum straff zentmlisiersen Nationalstaat unter der Vor¬
herrschaft des Deutschtums betrat, sondern sich ziemlich eilig zum Nationalitätenstaat
mit seinen Schwächen umwandelte. Die den Deutschliberalen zum Vorwurf ge¬
machte Absage an die Balkanpolitik im Jahre 1876 ist für die Krone wohl mehr
äußerer als innerer Anlaß gewesen, einer sich auf das Deutschtum stützenden
Politik endgültig den Rücken zu kehren. Die abgelaufenen vierzig Jahre können
gekennzeichnet werden als die Epoche des Versuchs, ein österreichisches Staatsvolk
zu schaffen, das an Stelle der Deutschen Träger der Habsburgischen Ideen
werden würde. Der Krieg hat Habsburg auf dem Höhepunkt des aus dem Ver¬
such hervorgegangenen Nationalitätenkampfes überrascht und wenn es trotzdem
nicht zu einer Katastrophe gekommen ist, so sollte die Monarchie dafür in erster
Linie dem Deutschtum Dank wissen.
Aus der Entwicklungsgeschichte des Habsburgerstaates heraus waren und
find in Osterreich die Deutschen die nächsten zum Thron. Sie begannen von
dem Augenblick an ins Hintertreffen zu geraten, als nach 1866 die großdeutsche
Bewegung das Entstehen einer deutschen Jrredenta auf österreichischem Boden
möglich werden ließ und Kaiser Franz Josef glaubte, sich im Rahmen der Ver¬
fassung nach anderen Stützen für seinen Staat umsehen zu müssen. Damalk
boten sich in erster Linie die Polen in der konservativen Stanczyken-Partei;
ihnen wird das Deutschtum in Galizien in dessen Beamtenschaft geopfert. Vierzig
Jahre später nach Errichtung einer böhmischen Landesverwaltung und der Hoch-
schulen in Serajewo müssen die Deutschen, auch dort vorwiegend Beamte, zurück¬
treten. Mit dem Verschwinden der deutschen Beamten gingen auch gute deutsche
Kräfte, die als Kolonisten und Handwerker ins Land gekommen, verloren, wenn
nicht noch in letzter Stunde deutsche Schutzvereine eingreifen konnten.
*") Carl von CSerny, „Deutsch-ungarische Beziehungen" mit einem Vorwort von Graf
Stefan Tisza. Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1S1K.
Austriacus. „Der Thronfolger, Osterreich und der Krieg". Internationaler Verlag
von Franz Keiner, Zürich.
Die Deutsch-Österreicher, durch die Leistungen des jungen Deutschen Reiches
auf allen Gebieten in ihrem Nationalbewußtsein gestärkt, und zum Teil befangen
in alldeutschen Gedankengängen, mochten viele Jahre hindurch ihre Aufgabe in
der Monarchie nicht darin erschöpft sehen, daß sie als Kulturdünger auf der
slawischen Erde dienten. Nur ein Teil in der liberalen Partei fügte sich seinem
Schicksal. Die stärksten Elemente lehnten sich gegen die Bestimmung auf und
taten dasselbe, was sie Tschechen, Südslawen. Italienern und Rumänen zum
Vorwurf machten: sie suchten Anschluß an die Deutschen außerhalb der
Monarchie, freilich ohne die rücksichtslose Konsequenz der Slawen, da in ihnen
die deutsche Mannentreue zum Fürsten immer wieder siegte über den Mißmut
gegen die Bureaukratie. Die altdeutsche Bewegung stellte aber auch sonst keine
ernstliche Gefahr für den Staat dar, da sie im Reich keine Gegenliebe oder
doch nur die Gegenliebe jener privaten Kreise fand, die die Vollendung des
Reichsbaues großdeutsch auf andere Art erstrebten, als die deutsche Reichs-
regierung. Im Gegenteil erwuchs aus ihr nur Vorteil für den Staat, in dem
Maße, wie die Aufrüttelung der Deutschen eine lebhafte Entwicklung der Schulen
und in deren Gefolge des Genossenschaftswesens, der Gewerbe und Industrie sowie
der Heimathliebe im Gefolge hatte. Politisch kamen sie immer mehr ins Hintertreffen.
Als Alemannen, Bajuwaren, Franken, Sachsen und Schlesier über die
geographisch voneinander sehr abweichenden Gebiete Österreichs verteilt, zudem
konfessionell gespalten, haben ihre einzelnen Teile sich sozial verschieden entwickelt
und demgemäß auch ein buntes Getriebe voneinander sich bekämpfenden Parteien
erzeugt. Sie alle unter ein politisches Schlagwort zu sammeln, das nicht den
Gesamtstaat ins Auge faßte, und zu einer machtvollen Stellungnahme für oder gegen
die Regierung zusammenzuschmieden, war schlechterdings unmöglich. Eine solche
zersplitterte Nationalität hatte wohl durch die starken Seiten ihrer Rasseneigen-
tümlichkeiten, wie Treue und stetige Arbeitskraft als Reservoir für die Ergänzung
einer Schicht von ausgesprochenen Staatsdienern Bedeutung, nicht aber durch die
Wucht der Massen für die Ausgestaltung der Kräftespannungen innerhalb der
Monarchie. Dies gilt auch von der wirtschaftlichen Bedeutung der Deutschen.
Sie ist nicht groß genug, um eine Politik zu rechtfertigen, die auf Germani¬
sierung der Slawen hinauslaufen würde, hatte außerdem in der tschechischen
Industrie ernste Wettbewerber gefunden. Erst die Entwicklung der sozialdemo-
irakischen Partei in Österreich nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts hat
die Verhältnisse wieder ein wenig zugunsten der Deutschen verschoben, freilich nicht
in einem national-separatistischen, sondern in einem sozial verschmelzenden Sinne,
der sich je länger um so mehr mit den Aufgaben der Habsburger deckt: im
Deutschtum vor allem wurzelte das Osterreichertum als Staatsidee*).
Nun läßt sich nicht leugnen, daß die ausgleichende Kabinettspolitik auch
für ganz unbefangene Beobachter aussah wie ein ständiges Zurückweichen vor dem
radikalen Drängen der Slawen. Der Eindruck wurde verstärkt durch das Triumph¬
geschrei der jeweiligen Sieger und durch die unaufhörlichen Klagen der Deutschen.
Ihre Konsequenzen lagen indessen viel mehr im Gebiet der äußeren als der inneren
Politik. Sie wurden der Anreiz für die Feinde Habsburgs, sich in die inneren
Verhältnisse der Monarchie zu mischen, durch Anknüpfung an die zentrifugalen
Strömungen bei Italienern, Südslawen, Tschechen, Rumänen und Galiziern.
Besonders der russische Panslawismus war stark angeregt auf Kosten der Habs¬
burger, eine Lösung der slawischen und russisch-imperialistischen Probleme in
seinem Sinne herbeizuführen. Spionage- und Hochverratsprozesse bezeichneten den
Weg, der in Serajewo enden sollte, nachdem die wissenschaftliche Forschung vor¬
gearbeitet hatte. Nutzlands Beginnen barg größere Gefahren für Habsburg, als
sie vielleicht in dem Verlust einiger Grenzgebiete lagen. Indem Rußland ver¬
suchte, Habsburg vom Balkan abzudrängen, Ostgalizien zu erobern und die Herrschaft
über die Adria mit Hilfe Italiens, Montenegros und Serbiens selbst auszuüben,
griff es an den Lebensnerv der Monarchie, denn es legte Hand an die historische
Mission der Habsburger.
Aus dem vorangegangenen Überblick ist zunächst eins klar: in der praktischen
Politik hat Habsburg in Erfüllung seiner Mission damit fortzufahren oder zu
beginnen, alle jene Elemente, die schon an den Gedanken gewöhnt waren durch
den Weltkrieg von der österreichischen Führung loszukommen, durch eine ent¬
sprechende Hebung ihrer sozialen Verhältnisse und staatsrechtlichen Stellung für
den in Habsburg verkörperten österreichisch-ungarischen Staatsgedanken zu gewinnen.
Damit kann nicht gesagt sein, daß sie deshalb über die andern Volksteile, die ohnehin
Verständnis für den Staatsgedanken durch ihre Haltung vor und während des
Krieges bewiesen haben, zur Tagesordnung übergeht und sie preisgibt. Bei der
immer schneller vorschreitender Demokratisierung des politischen Lebens in der
Donau-Monarchie und den sehr weit auseinanderstrebenden Wünschen der einzelnen
Nationalitüten erscheint die Aufgabe fast wie die Quadratur des Zirkels. Sie
ist's in der Tat nicht, wäre vielleicht gerade jetzt leichter zu lösen, wenn ein
Monarch an der Spitze des Reiches stünde, der bereits als ausgesprochener Führer
einer übernationalen Neformpcrrtei anzusprechen wäre, wie es etwa der Märtyrer
von Serajewo gewesen. Zu ihm blickte ein im Entstehen begriffenes Staatsvolk
mit Vertrauen empor. Als sein politisches Glaubensbekenntnis galt der Satz:
„Freiheit und nationales Selbstbestimmungsrecht der Völker einerseits, dauernde
Festlegung der das Ganze einschließenden Klammern andererseits""). Die Persön¬
lichkeit des jungen Kaisers bietet jedoch manche gute Gewähr dafür, daß sie, wenn
sie sich von politischen Ratgebern fern zu halten weiß, die außerhalb Österreichs
liegende Interessen verfolgen und bei einiger Sündhaftigkeit der Regierung inner-
und außenpolitischen Forderungen gegenüber gewisse Hemmungen überwindet.
Die Dinge in Habsburg lägen gar nicht so verwickelt und hätten kein so
verzweifeltes Aussehen, wenn von Wien aus für das Gesamtreich oder wenigstens
für Osterreich ähnlich mitreißende Parolen ausgegeben werden könnten, wie es
von Budapest aus für Ungarn geschieht. Aber während in Ungarn sich die
Magyaren als ein hervorragend starker Typus staatsbildender Elemente zusammen¬
schließen konnten, ehe der Krieg ausbrach, wurde Österreich im Zustande der Gährung
angetroffen als ein brodelnder Völkerbrei, dessen Einzelteile noch zu sehr mit sich
selbst beschäftigt waren, als daß sie schon bereit sein konnten, den Staat „durch
eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels" zu knüpfen und „ihm eine
Beziehung zum Weltall" zu geben. (Novalis.) Im ungarischen Parlament konnte
jüngst der Ministerpräsident Wekerle inner starkem Beifall aussprechen: „Ein engeres
Verhältnis mit Deutschland ist aus höheren volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten
wichtig. Wenn wir Teilhaber des großen wirtschaftlichen Verkehrs sein wollen,
der sich von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer und auch darüber hinaus
bis nach Kleinasien hinein erstreckt, dann müssen wir uns dementsprechend wirt¬
schaftlich einrichten". Von österreichischer Seite haben wir solch ein zielweisendes
Wort von verantwortlicher Stelle noch nicht gehört. Und doch bedarf es auch
dort nicht mehr als eines freien Bekenntnisses zur Fortführung der seit fünfzig
Jahren betriebenen Politik nur mit zeitgemäßen Mitteln.
Was aber war denn der Sinn dieser Politik? Der Schwede Kjellen erfaßt
ihn mit folgenden Sätzen: „Um Europas willen, als Schutzwehr seiner Kultur
gegen gefährliche Feinde im Osten wurde... der österreichische Staat gegründet,
und diesen Charakter hat er durch alle Zeiten behalten. Selten ist eine Staaten-
biloimg in der Geschichte mit einer so ausgeprägten politischen Mission hervor¬
getreten .....Aber dieses Programm selber hat jetzt seine Front geändert. Die
türkische Expansionskraft ist längst gebrochen, von der Balkanhalbinsel wird nun¬
mehr die Kultur Europas nicht mehr bedroht, aber statt dessen hat sich eine größere
Gefahr direkt im Osten von der Großmacht der Slawen hervorgehoben. Gegen diese
Gefahr deckt Österreich-Ungarn nun Zentraleuropa. Die Frontstellung gegen
Rußland, völkerrechtlich sanktioniert durch das Bündnis mit dem neuen Deutsch¬
land ... ist jetzt der wichtigste äußere Zug seines Gesichts. Europas Wachtposten
im Osten und sein Puffer gegen niedrige Kulturen: das ist die geschichtliche Sig¬
natur und das politische Pathos der ältesten Großmacht"'").
Die Entwicklung des Krieges, seine Ausdehnung auf Italien und Rumänien,
die Niederwerfung Serbiens und Montenegros, Bulgariens Beitritt und die Ver
drängung der Italiener aus österreichischem Gebiete mit deutscher Hilfe, wo nicht
unter deutscher Anleitung, haben der Habsburgischen Misston dann die näheren
praktisch-politischen Ziele gewiesen, freilich auch den bündigen Beweis dafür erbracht,
daß diese Ziele mir in engster über den Krieg hinausgehender Verbindung mit dem
Deutschen Reiche erreichbar bleiben. Der Krieg hat aber auch unzweideutig be¬
wiesen, daß die Frontstellung Österreich-Ungarns gegen Rußland eine erhöhte
Sicherung seiner Stellung auf dem Balkan und in Rumänien bedingt, während der
direkteKampf gegen Rußland Deutschland obliegt. Nicht nur die technischeOrganisation
der Kriegsmittel mit Einschluß der Eisenbahnen weist daraufhin; die könnten nach
den Erfahrungen des Krieges Österreicher und Ungarn vielleicht auch ohne unsere Mit¬
wirkung den neuen Verhältnissen entsprechend ausgestalten. Schwerer scheint mir der
Zustand zu wiegen, in dem die Völker Habsburgs in ihren Beziehungen zueinander
sich befinden: die zentrifugalen Strömungen bei Ungarn und Südslawen, die
Selbständigkeitsbestrebungen bei den Tschechen, das Mißtrauen der Deutschen sind
gegen sie. Alle die hierin zum Ausdruck kommenden Gegensätze sind so wenig im
Handumdrehen zu beseitigen so wenig plötzlich sie entstanden sind. Es bedarf
schon starker Parolen, um die Völker aus ihren Einzelsorgen aufhorchen zu
machen; es bedarf Schonung vieler wunder Stellen, um die gereizten, ja
überreizten Nerven nicht schmerzhaft zu berühren und springen zu lassen. Nach
solchen Erwägungen wird es verständlich, wenn gerade Graf Czernin, der Tscheche,
dessen Volksgenossen doch recht rigoros mit fremden Nationalitüten umspringen,
sowohl in seinen Parlamentsreden, wie bei den Friedensverhandlungen mit
Rußland die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker stärker hervorhebt,
wie uns Reichsdeutschen nützlich erscheint. Graf Czernin spricht dennoch weiten
Kreisen besonders in Osterreich aus der Seele. Dort macht sich nicht nur bei den
Slawen, sondern auch bei den Deutschen eine starke Strömung gegen die alten
Nationalitätenkämpfe bemerkbar, sicher ein Ergebnis der Erkenntnis von
Habsburgs Mission!
Der Zusammenhang zwischen auswärtiger und innerer Politik mußte in
dem Vorausgegangenen etwas stärker betont werden, als es vielleicht die Auf¬
gabenstellung auf den ersten Blick notwendig erscheinen ließ, weil erst daraus klar
hervorgeht, welche realen Kräfte Österreich-Ungarn für seine Außenpolitik nach dem
Kriege zur Verfügung stehen werden, wodurch sich dann auch die Kraft ermessen
läßt, mit der es das eine oder andere Ziel verfolgen kann. Alle Probleme der
auswärtigen Politik Österreich-Ungarns sind durch die Eigenart der Konstruktion
des Reichs zugleich in viel höherem Maße Fragen der inneren Politik wie etwa
in Deutschland. Die Frage der Gestaltung seiner künftigen Beziehungen zu Serbien
und Montenegro ist für Habsburg auf das engste verknüpft mit dem innerpolitischen
südslawischen Problem; die Grenzsicherungen gegen Rußland berühren nicht allein
militärische Seiten der inneren Politik, sondern auch und in viel höherem Matze
den Territorialbestand des Reiches durch die Polen- und Ruthenenfrage, während
die Frage eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses mit Deutschland geeignet ist,
die gesamte sozial-kulturelle Entwicklung der Völker Habsburgs für immer auf das
tiefste zu beeinflussen. Dies Ineinandergreifen inner- und außenpolitischen Probleme
bedingt es, daß die Neuordnung des staatsrechtlichen Aufbaues der Monarchie und
der Beziehungen der einzelnen Nationalitäten zueinander nach jeder Richtung hin
ein Punkt erster Ordnung im Kriegszielprogramm Habsburgs sein muß.
Welchen Weg die Regierungen Österreich-Ungarns gehen wollen, um eine
praktisch brauchbare Daseinsform zu finden ist angezeigt in der festen Betonung
des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den Grafen Czernin in der Dele¬
gation. Daß aber die Magyaren in Ungarn sich ebenso leicht diesen
angeblichen Anforderungen der Zeit anpassen würden, wie die Deutschen es
unter grundverschiedenen Verhältnissen in Österreich zu tun für richtig finden,
ist geradezu unwahrscheinlich. Denn gerade der ungarische Staat, in dem die
Magyaren zahlenmäßig eine Minderheit gegenüber Slowenen, Rumänen, Tschechen
und Deutschen bilden, müßte die größten, an den Grundlagen ihres zentralistischen
Staates rührenden Konzessionen machen, wollte er die Formel Czernins, die die¬
jenige der Russen, Wilsons und der Sozialdemokraten Österreich-Ungarns ist, glatt
annehmen. Aber wo schließlich ein Ausgleich gefunden werden muß, wie hier, wo
die beiden Staaten aufeinander augewiesen sind, da wird auch ein Weg erkundet
werden, wenn wir ihn heute auch noch nicht sehen. Die Gedanken, die in Weckerles
schon erwähnten Worten, daß ein engeres Verhältnis mit Deutschland aus höheren
volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten wichtig sei, gipfeln, schließen aus diesem Zu¬
sammenhange heraus nicht nur weltwirtschaftliche Probleme ein, sondern und in
erster Linie meinen sie das innerpolitische Problem der Schaffung eines ungarischen
Staatsvolkes durch Jndustriealisierung des Landes und in dessen Folge soziale
Hebung der zurückgebliebenen Völkerschaften. Es ist bekannt, daß die Magyaren
sich bisher als staatbildendes Volk außerordentlich bewährt haben; zu unter-
suchen, ob ihre Kräfte auch in Zukunft ausreichen würden ihren Staatsgedanken
den anderen Völkern aufzuzwingen, ist hier nicht der Ort. Augenscheinlich
wollen sie ihre Kräfte noch mehr wie bisher zusammenfassen, wenn sie gerade jetzt
danach streben ihr Verhältnis zu Österreich auf einer andern Grundlage aufzubauen,
als es der Ausgleich vou1867war. DieimvorigenJahre eingeleitete Wahlrechtsreform,
die ein allgemeines Stimmrecht vorsieht, soll nach Ansicht so tüchtiger Kenner der
ungarischen Verhältnisse, wie Emil neugeboren*) die überragende Stellung der
Unabhängigkeitspartei nach sich ziehen, die neben der eigenen Armee, das Sonder¬
zollgebiet und eine eigene Notenbank anstrebt*"). Angesichts der großen inner-
politischen Aufgaben, die dergestalt der Ungarn harren, ist es wohl verständlich,
daß sie danach trachten zwischen sich und Rußland einen befreundeten Staat zu
schieben, wie es ein mit Osterreich verbundener Polenstaat sein könnte. Hieraus
wird auch der Ungarn Interesse am Zustandekommen der austropolnischen Lösung
begreiflich.
Herrscht nun schon in einer so wichtigen Frage, wie der österreichisch-unga¬
rische Ausgleich es ist, unter den regierenden Faktoren keine Übereinstimmung, so
darf man auch kaum erwarten, daß man sich in Wien ganz klar darüber ist, was
in der auswärtigen Politik erreicht werden kann. Kurz vor Ausbruch des Welt¬
krieges erlebte eine in politischer Hinsicht recht naive Schrift von Octavus „Groß-
Habsburg das Resultat des russisch-österreischen Krieges 1918" fünf Auflagen'
die das österreichisch-ungarische Kriegsziel also umschrieb: „Der Niederbruch der
russischen Großmacht verursachte eine wesentliche Neugestaltung der europäischen
Machtverhältnisse. Es gab nunmehr Großmächte mit sichtbar aufsteigender Macht-
und Kulturentwicklung und solche, welche den Höhepunkt staatlicher Führergeltung
bereits überschritten hatten. Zu den Großstaaten mit aufwärts gerichteter Evolu¬
tionskurve zählten 1918: Groß-Habsburg mit 99 Millionen Einwohnern, das
deutsche Reich mit 71 Millionen . .. starken Bevölkerung . . ."Eine der Schrift
beigelegte Karte zeigt die Ukraina in ihrer vollen ethnographischen Ausdehnung
als Bestandteil der Habsburgischen Monarchie. Diesem vor vier Jahren aufge-
stellten Ziel steht heute ein Wunsch des Sozialdemokraten Karl Nenner gegenüber,
der aus dem Reich „das Bild einer kleinen Internationale, deren Formen sich
dereinst in der Organisation der gesamten Weltwirtschaft wiederholen sollen"*),
machen möchte. Beide Ziele deuten ebenso wie Hansliks Nachweis des Habs¬
burgischen Kultureinflusses auf eine recht kräftige Entwicklung imperialistischer
Neigungen seien sie bisher auch nur erst im Unterbewußtsein vorhanden. Jene deutschen
politischen Kreise, die gleich den Polen von der dualistischen Form zum Trialismus
übergehen möchten, denken vielleicht nicht ganz so großhabsburgisch, sondern eben¬
falls wie die Polen zuerst an die Sicherung ihres nationalen Einflusses in Westösterreich,
wenngleich eins das andere nicht auszuschließen braucht. Ganz großhabsburgisch
denken dagegen jene Gruppen, die die Form des Vierbundes vertreten, wobei den
zu einem nationalen Staatswesen zusammengefaßten Serben, Kroaten, Slowenen
und Dalmatinern die Aufgabe zufiele, die Adria gegen die Italiener zu erobern
und für Habsburg im wirtschaftlichen Kampfe zu halten. Schließlich besteht die
Forderung, Österreich-Ungarn in einen Bundesstaat der Nationalitäten umzu¬
wandeln. Hiernach würden also auch die Tschechen ein eigenes Staatswesen be¬
gründen können und es wäre ein weiter Rahmen geschaffen, noch andere National¬
staaten, etwa Bulgarien und Rumänien, in den Bund einzubeziehen.
Neben diesen sehr weit auseinanderstrebenden Meinungen scheint sich als
einzige von allen Kreisen gleich klar erkannte Aufgabe die Forderung nach sozialer
Hebung der Völker Habsburgs durch Industrialisierung eingestellt zu haben. Aber
den sichersten Weg dazu — die wirtschaftliche Annäherung an Deutschland —
fürchten sich noch weite Kreise zu betreten.
Die österreichisch-ungarische Regierung hat zur Gesamtheit dieser Fragen
bisher nur in sehr vager, meist negativer Form Stellung genommen. Aus ihren
Kundgebungen läßt sich zwar entnehmen, daß sie den Staat den durch die Er¬
gebnisse des Weltkrieges gezeitigten Anforderungen anzupassen gedenkt; aber wie,
auf welchen Wegen, mit welchen Mitteln es geschehen soll, erkennen wir noch
nicht. Nur soviel ist klar erkennbar, daß in Osterreich keine Nationalität ein
Vorrecht vor der andern haben soll, während in Ungarn das Magyarentum aus¬
drücklich als vorherrschende Nationalität anerkannt bleiben will. In allen übrigen
Fragen scheint die Methode beibehalten werden zu sollen, die schon seit Jahren an¬
gewendet wird: nicht die Regierung weist zu großen Zielen den Weg, sondern sie läßt
sich von den wechselnden Verhältnissen treiben. Eine solche Politik hindert nicht
Einzelfragen auf der Linie des geringsten Widerstandes mit einer gewissen rück¬
sichtslosen Energie im Sinne der Monarchie zur Entscheidung zu bringen, wie wir
es bei Behandlung der Polenfrage bemerken. Aber sie ist auch der Ausgangspunkt
für Pessimismus und innere Zersetzung, und sie bildet, wie wir gesehen haben,
auf die böswilligen Nachbarn den stärksten Anreiz die innerpolitischen Verhältnisse
zu beeinflussen. Die Hoffnung Trotzkis auf einen Sieg der Revolution in Öster¬
reich-Ungarn ist die beste Illustration dazu. Solche Politik hindert durchaus nicht,
Einzelerfolge auf internationalem Gebiet hereinzubringen. Auf solche Einzelerfolge
aber scheint besonder» Graf Czernin auszugehen. Sein Kriegsziel scheint zu sein,
nicht eine organische Ausgestaltung der abgeschlossenen Epoche von Habsburgs
Balkanpolitik, was eine Lösung der südslavischen Frage zur Voraussetzung hätte,
sondern die Gewinnung von Rechtstiteln von Freund und Feind auf allen Grenzen,
mit denen sich unter friedlicheren Verhältnissen Handel treiben ließe.
in Weltkriege vergißt man schnell, da stets neue gewaltige Ereignisse
und politische Sensationen schon die jüngste Vergangenheit verdecken
und so auch das, was eben noch als ein allersch mählichstes Unrecht
erschien, als etwas Unabänderliches, fast schon Gleichgültiges hin¬
nehmen lassen. Um so wichtiger ist es, von Zeit zu Zeit den Blick
rückwärts zurichtenund einzelne Geschehnisse, diem dem gewaltigen Völ-
kernngcn als Höhepunkt und Abschluß einer Entwicklung aufragen, schärfer ins Auge zu
fassen, als das im Strudel der sich überstürzenden alltäglichen Dinge möglich ist.
So steht in dem Kampfe, den der Vielverband heute gegen die noch neutralen
Staaten führt, um sie an seiner Seite in den Krieg hineinzuzwingen, als warnendes
Beispiel aufgerichtet das tragische Schicksal des kleinen Griechenlands, das seine
durch fast drei Jahre ängstlich behütete Neutralität schließlich mit vollem Zu-
sammLttbruche und Auslieferung auf Gnade und Ungnade an die Willkür der
Entente bezahlen mußte. Seinen vorläufigen Abschluß hat dieses Volksdrama,
dessen frühere Phasen ich in meinen „Griechen von heute" (M.°Gladbach 1917)
kurz geschildert habe, in der Entthronung König Konstantins gefunden, die im
Juni des vorigen Jahres nicht nur bei den Mittemächten, sondern auch bei den
Neutralen einen Schrei des Entsetzens aufgelöst hat.
Was damals die Zeitungen zu berichten wußten, stammte durchweg aus
den gefärbten Mitteilungen feindlicher Telegraphenagmturen, die den flagranten
Bruch des Völkerrechtes natürlich auf alle Weise zu beschönigen suchten: unsere
unmittelbare Verbindung mit Griechenland war ja bereits seit einem, Jahre, seit
der Ausbreitung der Sarrail-Armee auf Florina und Kastoria, abgerissen. Nach¬
dem aber König Konstantin mit seinem Gefolge den gastlichen Boden der — noch
freien — Schweiz betreten hat, war auch die Möglichkeit authentischer Aufklärung
gegeben, die nun in der Tat nicht lange auf sich hat warten lassen. Diese Auf¬
klärung bietet eine kleine Schrift „l^e 66part an rc>i Lonstantin. Vorn^s inöckitss.
OoLumsrits" (Publication cle I'„Union nellöniczuö als Zuisse". (lLnc^ve 1^17.
48 S.), die ich der Güte von Dr. Streit, Minister des königlichen Hauses von
Griechenland, verdanke. In dem vom 18. Juli 1917 datierten Vorworte der
Broschüre, die die inhaltsschweren Tage vom 10. bis 14. Juni 1917 schildern will,
versichert der ungenannte Verfasser, daß er seine Informationen den authentischsten
Quellen entnehme („aux sourLes les plus autorisöes, qrmnt K ce cui conoerne
notAinment Is Lote ckiplonmticme") und im übrigen nnr das erzähle, was er mit
eigenen Augen gesehen oder durch detaillierte Berichte griechischer Zeitungen er¬
fahren habe. Kurze Noten, die von der herausgebenden Gesellschaft beigefügt
worden sind, verweisen auf wichtige Vorkommnisse der späteren Entwicklung, wo¬
durch die Hinterhältigkeit und Wortbrüchigkeit der „Schutzmächte" in ein Helles
Licht tritt. ^
Als der Oberkommissar der Alliierten, Jonnart, am Sonntag, dem 10. Juni,
von Saloniki her im Piräus ankam, war weder seine Eigenschaft, noch seine
Absicht der griechischen Regierung bekannt, da selbst der französische Gesandte in
Athen, Guillemin, der gerade damals aus „Gesundheitsgründen" in Urlaub gehen
mußte, sich darüber nicht genauer unterrichtet zeigte. Guillemin hatte noch tags
zuvor dem Ministerpräsidenten Za'imis gegenüber betont, was diesem schon am
4. Juni von dem Begleiter Jonnarts, dem Abgeordneten David, versichert worden
war, datz die „Schutzmächte" nur die Einheit des — von der veniselistischen Be¬
wegung zerrissenen — Griechenlands anstrebten, „ohne jemals seine Verfassung
oder Dynastie antasten zu wollen".
Bekannt geworden war der griechischen Regierung nur, daß bei den letzten
Verhandlungen zwischen Lloyd George und Ribot von einer Thronsntsetzung König
Konstantins oder wenigstens seiner zeitweiligen Entfernung gesprochen war, daß diese
Absicht aber von einflußreichen englischen Kreisen mißbilligt, von Italien kategorisch
verworfen worden war. Überdies waren ihr die Flotten- und Truppenbewegungen
der Alliierten nicht verborgen geblieben, vor allem, daß schon am Sonnabend,
dem 9. Juni, ein französisches Geschwader im Golf von .Korinth erschienen war,
das am Sonntagmorgen zahlreiche Truppen in der Nähe von Idea (dem Hafen
von Delphi) ausgeschifft hatte. Einige Tage zuvor aber hatte Ministerpräsident
Zaimis, um eine Okkupation Thessaliens durch die Alliierten zu hindern, dem
französischen Gesandten „freiwillig" einen Teil der thessalischen Ernte zur Ver¬
fügung gestellt, deren „Sicherung" für die notleidende Salonikiarmee ohne Rück¬
sicht auf den eigenen Bedarf des Landes von den Alliierten ins Auge gefaßt
worden war.
Auch Jonnart wiederholte in seiner ersten Unterredung mit Zauns am
Spätnachmittag des 10. Juni an Bord des Panzers „Justice" die Beteuerungen
Guillemins, sprach auch von König Konstantin mit vieler Sympathie, fügte aber
bei, daß die Schutzmächte über die Person des Königs in Verhandlungen begriffen
seien, wogegen Za'imis natürlich sogleich Protest erhob. Notgedrungen aber mußte
er der im Widerspruch mit Guillemins Zusicherungen schriftlich gestellten For¬
derung sich fügen, er solle die Schutzmächte zu einer Verstärkung ihrer Truppen
auf dem Isthmus von Korinth und zu einer Besetzung gewisser thessalischer Städte
ermächtigen: durch diese der griechischen Regierung abgezwungene Erlaubnis sollte
der griechischen Verfassung Genüge geschehen und den militärischen Maßnahmen
zur Entthronung des Königs ein Anschein von Loyalität gegeben werden. Da¬
gegen ließ Jonnart daS der Verfassung widersprechende Ansinnen, eine Reihe
mißliebiger politischer Persönlichkeiten wie Gunaris, Dusmcmis, Metaxas u. a.
aus Griechenland zu entfernen, vorläufig fallen: doch sei es zur Beruhigung des
Landes notwendig, die wegen Hochverrats verfolgten Veniselisten zu begnadigen
und die Frage einer allgemeinen Amnestie für alle an den aufrührerischen Be¬
wegungen Beteiligten in Erwägung zu ziehen. Tatsächlich hatten am 2. Dezember
1916, als schon die französischen Truppen, die nach Ablehnung des Ultimatums
vom 24. November gegen Athen marschierten, zum Rückzüge auf die Schiffe ge¬
zwungen worden waren, die Veniselisten in Athen einen Pulses versucht, der in
blutigen Straßenkämpfen unterdrückt worden war: näheres darüber in der offi¬
ziellen Darstellung „I^e guet-spens ein l er «Zöoembro 1916 a ^treues. Ooeuments"
(Publication nie I'„Amor nellenique cke Suisse". Qeneve 1917). Doch war
bereits gemäß dem Ultimatum vom 31. Dezember 1916 die EntHaftung der an¬
geklagten Aufrührer erfolgt, während zahlreiche Bischöfe, Geistliche, Abgeordnete,
Richter, Verwaltungsbeamte. Offiziere, Mannschaften, die vom veniselistischen
Triumvirat in Saloniki wegen ihrer politischen Haltung eingekerkert waren, im
strikten Widerspruch mit den formellen Versprechungen der Gesandten der „Schutz¬
mächte" noch in Haft sich befanden. Endlich erklärte Jonnart, daß die Mächte
den Willen des griechischen Volkes, neutral zu bleiben, achteten und daß sie um
keinen Preis es in den e ropäischen„Krieg hineinziehen, noch sich in seine innere
Politik einmischen wollten: so in Übereinstimmung mit den ausdrücklichen Ver-
Sicherungen des Ultimatums vom 21. Juni 1916 (das die volle Demobilisierung
des griechischen Heeres verlangt hatte) und desjenigen vom 8, Januar 1917, daS
in dieser Hinsicht lautete: „v'Andre pari, les ?uisssnees ^Alces akkirment K la
Qreee leur volonte as respecter entierement sa volonte cke rester äesinitivement
Kors ac la Zuerre europeenne . . . en äonnant ä la Oröee etes sssurances
precises pour sa neutralite."
Am Morgen des 11. Juni erließ hiernach die griechische Regierung eine
zur Ruhe mahnende Proklamation: Der Ministerpräsident habe in seiner gestrigen
Unterredung mit dem Vertreter der drei Mächte (Frankreich, England, Rußland)
keine Gefahr irgendwelcher Art gefunden, weder für die Unabhängigkeit des Landes,
noch für seine Dynastie oder seine Regierungsform; im Gegenteil habe Jonnart
den Willen der Mächte bezeugt, Griechenland groß, stark und vollkommen unab¬
hängig zu sehen.
Dies war mehr als optimistisch gewesen. Denn eben, als die Proklamation
erschien, hatte Za'imis auf der „Justice" eine zweite Unterredung mit Jonnart,
der jetzt ohne viele Umschweife ein Ultimatum der „Schutzmächte" übergab mit
deu Erklärungen: da König Konstantin die von den Mächten garantierte Ver¬
fassung offenkundig verletzt habe (was geschehen sein sollte bei der zweiten Ent¬
lassung von Veniselos und der Auslösung der zweiten Veniselistenkammer Oktober-
November 1915), habe der König das Vertrauen der Schutzmächte verloren, die
sich dadurch ihm gegenüber ihrer aus den Schutzrechten sich ergebenden Verpflich¬
tung enthoben betrachteten; um nun die konstitutionelle Wahrheit wiederherzustellen,
werde die Abdankung König Konstantins verlangt, der selbst im Einvernehmen
mit den Schutzmächten unter seinen Nachkommen seinen Nachfolger bezeichnen
möge-, Antwort binnen 24 Stunden. Ein angefügtes /nac-memoire schloß noch
den Kronprinzen vom Vertrauen der Mächte aus, stellte König Konstantin, wenn
er abgedankt und Griechenland verlassen habe, eine persönliche und lebenslängliche
Jahresrente im Werte von einer halben Million Franken in Aussicht und verlangte,
unter förmlicher Ablehnung aller Repressalien gegen die Angehörigen irgendwelcher
Partei und unter dem Versprechen einer alsbaldigen allgemeinen Amnestie, daß
alle Unruhen in allen Städten des Königreichs unterdrückt würden, widrigenfalls
die militärischen Kräfte der Alliierten energisch intervenieren würden: das bedeutete,
wie der Oberkommissar mündlich zu verstehen gab, im Falle der Ablehnung
Bombardement Athens und Okkupation des ganzen Landes. Natürlich verfehlte
der Oberkommissar auch nicht, von neuem zu wiederholen, daß die Mächte durch¬
aus beabsichtigten, „die griechische Verfassung zu respektieren".
In der anschließenden Unterredung Jonnarts mit dem Ministerpräsidenten
war der wesentlichste Punkt die Erklärung des Oberkommissars, daß die Schutz-
mächie gegen die Rückkehr König Konstantins aus den Thron Griechenlands
keinen Einspruch erheben würden, falls später das griechische Volk diesen Wunsch
ausdrücken würde; im Falle des Widerstandes gegen daS Verlangen der Mächte
aber werde die ganze Dynastie für abgesetzt erklärt und in Griechenland mit Ge¬
walt die Republik ausgerufen werden. Die Mächte, fügte er bei, verlangen
keineswegs. Veniselos nach Athen zurückzurufen, vielmehr werde die provisorische
Regierung in Saloniki als aufgelöst betrachtet werden, sobald die Einheit Griechen-
lands gesichert sei; erst später werde Veniselos auf gesetzlichem Wege und nach
neuen Wahlen zur Macht zurückkehren können, dagegen werde bei Verweigerung
des Ultimatums Veniselos sogleich zurückgeführt werden. Eine Ausweisung poli¬
tischer Persönlichkeiten werde nicht verlangt, nur Gunaris solle sich vielleicht für
ein paar Tage nach Patras begeben. Endlich vorsichcrte Jonnart noch einmal
kategorisch, daß Griechenland nicht gezwungen werden würde, ' in den Krieg
einzutreten.
Gleich nach dieser Unterredung hatte Zäimis eine nur viertelstündige Audienz
beim Könige, worauf in Eile ein Kronrat berufen wurde, bestehend aus allen
früheren Ministerpräsidenten und den Parteiführern der Kammer. Der Kronrat
dauerte über zwei Stunden. Fast alle Teilnehmer traten entschieden dasür ein.
der König möge der äußersten Forderung der Entente widerstehen, einzelne rieten
sogar, der König möge sich lieber der Entente gefangen geben, als vor ihr zurück¬
weichen: denn schon durch die Ausschiffung alliierter Truppen in Saloniki (Anfang
Oktober 1915) und durch die Besetzung der griechischen Inseln sei die Neutralität
Griechenlands, der Verfassung zum Trotz, verletzt worden; nachdem man dann die
allgemeine Demobilisierung erzwungen, habe man die Kontrolle aller Zweige der
Verwaltung an sich gerissen, der griechischen Flotte sich bemächtigt, durch die
Blockade seit sechs Monaten bereits das Land dem Hunger preisgegeben, die ge¬
samte Armee mit allem Kriegsmaterial „aus Sorge um die Sicherheit der Armee
des Generals Sarrail" in den Peloponnes eingesperrt', setzt wolle man die Ver-
fassung völlig vernichten. Wie aber könne man nach den fortgesetzten Wortbrüchen
der Schutzmächte annehmen, daß mit der Abdankung des Königs dem Lande
größere Leiden erspart würden? Welche Garantien gebe denn Jonnart, daß man
nicht Veniselos mit Waffengewalt zur Macht zurückführen und Griechenland zur
Teilnahme am Kriege gegen die Zentralmächte zwingen wolle? Bisher habe das
Land alle Demütigungen über sich ergehen lassen, einzig deshalb, um außerhalb
des Konfliktes zu' bleiben und seine Kraft für die Zukunft zu sparen, im Ver¬
trauen auf die feierlichen Versprechungen der Verbündeten. Jetzt sei es besser,
zugrunde zu gehen, als sich völlig zu entehren.
Dies waren die Gesichtspunkte, die von Gunaris, Dragumis, Lambros,
Dimitmkopulos, Kalogeropulos und Skuludis für Widerstand gegen die Förde-
rungen der „Schutzmächte" ins Feld geführt wurden; nur Zauns und Stratos
sprachen sich zugunsten einer weniger intransigenten Haltung aus. Auch Prinz
Alexander, der dem Kronrate beiwohnte, erklärte immer wieder, daß seine Kräfte
nicht ausreichten, die schwere Bürde deS Königtums auf sich zu nehmen. Aber
bald erkannte man, daß der König fest entschlossen war, das Ultimatum anzu¬
nehmen und mit dem Kronprinzen das Land zu verlassen. Er blieb auch un¬
erschütterlich gegenüber allen Gegengründen, denen er kurz die leitende Idee seiner
seit Kriegsbeginn befolgten Politik entgegenstellte: unter keinen Umständen die
Neutralität aufzugeben und darum auch nicht in einen Konflikt mit den Schutz-
inächten sich zu stürzen; darum betrachte er es als seine Pflicht dem Vaterlande
gegenüber, das Opfer zu bringen, um das Land vor größerem Unheil zu be¬
wahren. So wurde die Annahme des Ultimatums beschlossen — am gleichen
Tage, an welchem einst der letzte Paläologe auf den Mauern von Konstanti¬
nopel fiel."
Während dessen hatten die Alliierten durch die Agentur „Radio die Mit¬
teilung verbreiten lassen: nach friedlicher Lösung der gegenwärtigen Krise würden
die Alliierten sich baldigst der Lebensmittelversorgung des Landes annehmen;
die Blockade werde aufgehoben werden; keinerlei Repressalie werde geduldet werden;
keinesfalls werde man Griechenland zwingen, die Neutralität aufzugeben; nur die
Einigung des Landes und die Festigung' des verfassungsmäßigen Regimentes sei
das Ziel der Alliierten, die ein einiges, starkes und unabhängiges Griechenland
schaffen wollten; jeder Widerstand aber werde rin allen Mitteln unterdrückt werden,
Griechenland habe dann die„FoIgen sich selber zuzuschreiben.
Die Beruhigung der Öffentlichkeit war indessen nur von kurzer Dauer.
Bald schon begannen die Forderungen Jonnarts ruchbar zu werden, und eine
ungeheure Aufregung bemächtigte sich des Volkes. Zwar hatte Prinz Alexander
im Auftrage des Königs sich zum Kommandanten des ersten Armeekorps begeben,
um die in Athen anwesenden Offiziere zu ernähren, sie sollten absolute Ruhe
bewahren und jeder Entscheidung sich unterwerfen. Zwar hatte der Polizei¬
präsident einflußreiche Persönlichkeiten aus allen Stadtvierteln zu sich beschieden,
um sie in gleichem Sinne zu bearbeiten. Aber die Aufregung stieg, als man von
der Besetzung des Isthmus durch französische Truppen, in der vergangenen Nacht
von der Verstärkung der bei Keratsini (nahe Salamis) versammelten Seestreitkräfte
der Alliierten erfuhr. Man kolportierte, eine Äußerung. Jonnarts, er könne
Griechenland das Schicksal seiner unbarmherzig bombardierten Vaterstadt Arras
bereiten. Die Gesandten der drei «schutzmächte waren aus Athen verschwunden,
man wußte nicht wohin.
In einem Ministerrate am Nachmittage, in welchem der König noch einmal
seinen unwiderruflichen Entschluß kundgab, wurde die Antwort auf das Ultimatum
der „Schutzmächte" festgestellt, vom Ministerpräsidenten Za'imis redigiert und nach
Billigung durch den König dem Oberkommissar der Mächte vorgelegt, der sich
damit einverstanden erklärte. Sie lautete kurz und würdig: „Seine Majestät der
König, wie immer allein auf das Interesse Griechenlands bedacht, hat sich ent¬
schlossen, mit dem Erbprinzen das Land zu verlassen und hat als Nachfolger
seinen Sohn Alexander bezeichnet." Übergeben wurde die Antwort, in welcher
gemäß der mündlichen Erklärung Jounarts von einer Thronentsagung des Königs
nicht die Rede war, erst am 12. Juni, morgens 8 Uhr.
Als das Volk von dieser Entscheidung erfuhr, bemächtigte sich seiner tiefste
Niedergeschlagenheit. Alle Glocken der Stadt läuteten zum Zeichen der Trauer.
Die Wohnstätte des Königspaares, das sogenannte Kronprinzenpalais, war von
einer nach Tausenden zählenden Menge umringt, wie zwei Kahre zuvor in den
Tagen der schweren Erkrankung des Königs. Zahlreichs Deputationen begaben
sich zum König, um ihn zu bitten, er möge seine Entscheidung zurücknehmen;
andere Deputationen bestürmten die Minister. Man läßt den König wissen, daß
man seine Abreise mit Gewalt verhindern werde: die Entgegnung des Königs
ist unentwegt nur eine Mahnung zur Ruhe und zur Disziplin. Nicht anders
antwortet er einer Abordnung der in Athen garnisonierenden Offiziere, nicht anders
einer Abordnung, die sich aus den Vorsitzenden der städtischen Korporationen zu¬
sammensetzte: „Wenn ich, geboren und erzogen in Athen und Grieche bis auf
das Mark der Knochen, mich zur Abreise entschließe, so tue ich es nur, Sie ver¬
stehen mich wohl, um »nein Volk und mein Land zu retten."
°
V-3 Uhr morgens. Durch eine kleine Seitentüre sucht die kömgliche Familie
das Freie zu gewinnen und ihr Automobil zu besteigen. Aber die Palastwände
wirft sich vor die Räder zum Zeichen, daß der Wagen über ihre Körper hinweg¬
gehen müsse-, die Volksmenge bildet einen undurchdringlichen Wall. Zwei andere
Versuche, den Palast zu verlassen, bleiben gleichermaßen vergeblich.
Gegen 10 Uhr erscheint in einer Sonderaufgabe des Staatsanzeigers die
Proklamation des Königs mit der vom Oberkommissar gebilligten Entscheidung.
Sie endigt: „Und damit das Opfer für das Vaterland nicht vergeblich sei. be¬
schwöre ich euch alle, wenn ihr Gott liebt, wenn ihr euer Vaterland liebt, wenn
ihr endlich mich selbst liebt, in keiner Weise die Ordnung zu stören und im Ge¬
horsam zu verharren. Die geringste Verfehlung, selbst wenn sie einem gehobenen
Gefühl entstammt, kann heute das schlimmste Unheil herbeiführen. In diesem
Augenblicke besteht der größte Trost für die Königin und für mich in der Liebe
und der Ergebenheit, die ihr uns immer bezeugt habt, in den Tagen des Glückes
wie denen des Unglücks. Gott schütze Griechenland!"
Andererseits wird eine offizielle Mitteilung des Oberkommissars kundgegeben,
er habe den Ministerpräsidenten um die Ermächtigung gebeten, einige Truppen
im Piräus auszuschiffen, weil man sie und die Tiere aus hygienischen Gründen (I)
unmöglich länger an Bord lassen könne; im Piräus aber gebe es Trinkwasser
und Lebensmittel: „Der Piräus ist der einzig günstige Ort für eine Landung.
Ich hoffe, daß unsere Truppen die besten Bedingungen finden werden, um dort
die Nacht zu verbringen und Kräfte zu sammeln, um morgen nach Mazedonien
abzureisen und den Kampf gegen die Erbfeinde Griechenlands, die Türken und
die Bulgaren, wieder aufzunehmen. Unsere Soldaten werden glücklich sein, sich
mit der griechischen Bevölkerung zu verbrüdern. Und wenn sie in ihre Schützen¬
gräben zurückkehren, überzeugt, daß sie friedlich an der Einheit Griechenlands
mitgearbeitet haben, so werden sie, ich bin dessen sicher, ihren kurzen Aufenthalt
auf dem glorreichen Boden Attikas in der dankbarsten Erinnerung behalten."
Man weiß nicht, ob man über diese phrasenhafte Unehrlichkeit mehr erstaunen
oder sich entrüsten soll.
Unterdessen hatte König Alexander ohne irgendwelche Zeremonie, nur vor
dem Metropoliten von Athen und einigen Ministern, den Eid auf die Verfassung
geleistet. Seine würdig gehaltene Königsproklamation knüpft an das letzte Wort
seines Vaters an: er bitte Gott, er möge Griechenland schützen und gestatten, es
wieder geeinigt und stark zu sehen: „In dem Schmerze, unter solchen peinvollen
Umständen von meinem geliebten Vater getrennt zu sein, habe ich als einzigen
Trost, daß ich sein geheiligtes Mandat erfülle." Zugleich erscheint in der Zeitung
„Embrös" (Vorwärts) eine offizielle Bekanntmachung, deren Text zwischen der
Regierung und Jonnart vereinbart war: „Heute Mittag nach der Eidesleistung
des Königs Alexander hat Herr Jonnart durch einen Sondergesandten der griechischen
Regierung angekündigt, daß sie sogleich Amtspersonen nach Saloniki entsenden
kann, da die provisorische Regierung von nun an aufgelöst ist. Es ist gleicher¬
maßen notorisch, daß Herr Veniselos keinesfalls nach Athen kommen darf und
daß die Mächte keinen Hintergedanken haben, ihn zur Macht zu bringen; Griechen¬
land braucht keineswegs der Politik des Triumvirates (in Saloniki) zu folgen,
indem es sich als kriegführende Macht betrachtet, sondern es ist frei, seine Politik
der Neutralität fortzusetzen . .. Schon heute abend wird hoffentlich ein könig¬
liches Dekret die allgemeine Amnestie für alle Ausschreitungen, die von beiden
Seiten begangen sind, verkünden. Keine Nepressalie wird geduldet werden."
Der Eindruck, den die Proklamation König Konstantins auf das Volk
machte, war ungeheuer: man hatte alle Haltung verloren. Jonnart, der sich mit
dein Ministerpräsidenten geeinigt hatte, daß den Majestäten ein englischer Kreuzer
für die Überfahrt nach Italien zur Verfügung gestellt werde, erhob darum un¬
erwartet die Forderung, die Majestäten müßten unverzüglich die Stadt verlassen,
da ihre weitere Anwesenheit Gefahren mit sich bringen könne, anderenfalls werde
er Truppen — dieselben, die nur aus sanitären Gründen (!) im Piräus ausge¬
schifft waren und die sich jetzt bereits im Anmärsche auf Athen befanden — mit
der Ausführung ihrer Entfernung beauftragen.
Jetzt bediente man sich im Palaste einer Finte. Indem man der harrenden
Menge vortäuschte, die Majestäten würden den Palast gegen die Diocharesstraße
hin verlassen, gelang es gegen 5 Uhr nachmittags der königlichen Familie, über
die Herodesstraße nach dem gegenüberliegenden königlichen Garten durchzukommen.
Obwohl auch jetzt die Menge noch einmal den Weg zu versperren versuchte, öffneten
doch die väterlichen Bitten des Königs ihm den Weg, und endlich konnte er im
Automobil nach seinem Landsitz TatÄ (an den Hängen des Parnes, 26 Kilometer
nordöstlich von Athen) sich begeben. Die Menge zerstreute sich. Alle Theater und
Schaustellungen blieben an diesem Abend geschlossen.'
Den Mittwoch über (13. Juni) blieb der König in Tatv,, wohin nun von
Athen aus eine wahre Pilgerfahrt von Angehörigen und Abordnungen aller Stände
erfolgte, die dem Könige und der Königin noch einmal die Gefühle der Ergeben¬
heit ausdrücken wollten. Die Majestäten fanden für jeden ein Wort des Trostes.
„Ich habe niemals", erklärte der König, „dynastischen Interessen gedient, sondern
immer nur den Interessen der Nation"; und zu einem der Minister, der immer
noch Einwendungen erhob, sagte er: „Der Weg, den ich verfolgt Habs, war der.
den mein Gewissen mir vorschrieb. Indem.,ich mit zerrissenem Herzen mein liebes
Vaterland verlasse, erfülle ich nach meiner Überzeugung meine höchste Pflicht. Ich
habe keinen Groll gegen irgend jemanden. Ich wünsche nur, daß das Volk sich
über die kritische Lage Rechenschaft gibt und über die Gefahren, die meine Abreise
von Griechenland hat beschwören können." Ein Brief des Königs an den Minister¬
präsidenten Zcmuis dankte diesem für die treu geleisteten Dienste und sprach
ihm den Wunsch aus, er möge auch dem jungen König Alexander weiterhin zur
Seite stehen."
In der Nacht zum Donnerstag wurde die kleine Jacht „Sphaktiria, die
nach der Beschlagncchmung der griechischen Flotte durch die „Schutzmächte" von
dem leichten Geschwader allein noch zur Verfügung der griechischen Regierung
geblieben war, in Eile nach Oropos (am Kanal von Euböa) geschickt, um an
diesem weit von Athen und noch ein gutes Stück von Tatu entfernten Punkte
die königliche Familie an Bord zu nehmen. Ja der Oberkommissar hatte sich
sogar zu der Forderung verstiegen, daß unmittelbar nach der Ankunft der „Sphak¬
tiria". d. h. um 2 Uhr morgens, die Einschiffung vor sich gehen solle, was man
aber schon aus Rücksicht auf die kleine, kaum 4 Jahre alte Prinzessin Katharina
für unmöglich erklärte. So verließen die Majestäten TatÄ erst um 9 Uhr morgens
in ihrem Automobil und kamen um V2II Uhr an der kleinen Reede von Oropos
an, wo seit der Morgendämmerung bereits eine große Menge von Offizieren,
Politikern usw. aus Athen, Landleuten und Waisenkindern aus der Umgegend sich
versammelt hatte. Alle drängten sich an das .Königspaar, um noch einmal seine
Hände zu berühren.
König Konstantin ist in Admiralsuniform. In dem Augenblick, in welchem
die Majestäten der Bartaffe der „Sphaktiria" sich nähern und den Ministsrpräsidenten
begrüßen, knieen alle nieder und strecken die Hände gegen die Majestäten aus.
Die Bartaffe durchschneidet die blauen Fluten und legt an der „Sphaktiria" an.
Auch der Ministerpräsident begibt sich an Bord, um noch ein letztesmal dem König
seine Ehrerbietung zu bezeugen und kehrt bald wieder tiefbewegt an Land zurück.
Einige Augenblicke später verlassen auch König Alexander und die Brüder König
Konstantins, die Prinzen Nikolaus, Andreas und Christoph mit den Prinzessinnen
Nikolaus und Andreas, die Jacht und besteigen ihre Automobile, um nach Athen
zurückzufahren.""
Die Menge hört nicht auf „Hoch und „Auf Wiedersehen zu rufen, bis um
Mittag die „Sphaktiria" und das kleine Postboot „Spetzai", das die Regierung
für das Gefolge des Königs gechartert hat, die Anker lichten und von zwei fran¬
zösischen Torpedobooten begleitet in See stechen. König Konstantin und Königin
Sophie, auf der Kommandobrücke stehend, grüßen noch aus der Ferne mit der
Hand: Gott schütze Griechenland! —
So war der Abschied des Königspaares. Und wie hat die Entente ihre
wiederholten feierlichen Versprechungen gehalten, mit denen sie den König und die
Regierung sich gefügig machte?
Obwohl bei der Entfernung König Konstantins die öffentliche Ordnung nicht
gestört wurde, besetzten doch den Abmachungen zuwider französische Truppen
Thessalien und drangen hier bis Lamm vor; 40000 Mann unter General Regnault
aber besetzten Athen, wo sie auf allen beherrschenden Höhen Kanonen, auf den
öffentlichen Plätzen und den Hauptstraßen Maschinengewehre aufstellten, um Re¬
gierung und Bevölkerung völlig zu knebeln. Obwohl ferner Repressalien in
jeder Hinsicht ausgeschlossen worden waren, forderte Jonnart schon am 18. Juni
die Verbannung von 30 hervorragenden Politikern und Militärs, so des früheren
Ministerpräsidenten Gunaris, des Generalstabschefs Generals Dusmanis und
seines Unterchefs Obersten Metaxas usw.; alle diese wurden mit Gewalt nach
Ajaccio auf Corsica übergeführt. Auch alle Brüder des Königs mit ihren Familien
wurden aus Griechenland entfernt. Die früheren Ministerpräsidenten Dragumis,
Skuludis, Lambros und andere „Verdächtige", insgesamt 108, wurden unter
Aufsicht gestellt. Später wurden in der rekonstituierten Veniselistenkammer
Erhebungen über das Kabinett Skuludis beschlossen, das „die Gewalt ohne das
Vertrauen des Volkes übernommen, durch die Auflösung der Kammer (am 10. No¬
vember 1915) die Verfassung beseitigt und die persönliche Politik des Königs zur
Ausführung gebracht habe usw.": in dem Berichte des Untersuchungsausschusses
vom 17. Oktober wurde die Erhebung der Anklage vor dem obersten Gerichtshofe
empfohlen, nachdem Skuludis und Lambros, die zum Verhör zu erscheinen sich
geweigert hatten, bereits verhaftet waren.
Obwohl ferner die sofortige Rückkehr des Erzrevolutionärs Veniselos aus¬
drücklich ausgeschlossen worden war, kam dieser bereits am 21. Juni im Piräus
an und übernahm, nachdem das Ministerium Zaünis zur Demission gezwungen
worden war, trotz des Widerstrebens König Alexanders schon am 26. Juni die
Regierung, indem er die Ämter des Ministerpräsidenten und des Kriegsministers
in seiner Person vereinigte, um erst nach einem Vierteljahr (5. Oktober) das
Kriegsministerium an einen seiner Getreuen, den General Danglis,
wieder abzugeben. Eine seiner ersten Regierungsmatznahmen war ein
radikaler Bruch der Verfassung, die er selbst als Ministerpräsident im Jahre 1911
durchgesetzt hatte, indem er die Unabsetzbarkeit der Beamten und Richter aufhob
und danach ohne weiteres einen großen Teil der Beamtenschaft, insgesamt mehrere
Tausend, entließ: das von 1895 an glücklich überwundene Rotationssystem, das
ehedem die Beamtenschaft zum Spielball der Parteiwillkür gemacht hatte, ist
damit als Mittel des politischen Kampfes wiederaufgelebt. Auch der Rektor und
mehrere Würdenträger und Professoren der Universität wurden abgesetzt, ferner
fast alle Generale und Admiräle und 127 höhere Offiziere zur Disposition gestellt,
andere 150 Offiziere verhaftet. Die heilige Synode mußte ihre Arbeiten ein¬
stellen; alle Bischöfe des Landes mit Ausnahme von fünf wurden unter Anklage
gestellt, der Metropolit von Athen aber wurde durch einen gefügigen geistlichen
Gerichtshof seines Amtes entsetzt und zu zwei Jahren Einschließung in ein Kloster
verurteilt, weil er sich in die Politik eingemischt und an der öffentlichen Verfluchung
von Veniselos (kurz vor Weihnachten 1916) teilgenommen habe. Die Freiheit der
Presse wurde unterdrückt, jüngst auch die Präoentwzensur eingeführt. Die versprochene
„allgemeine" Amnestie wurde freilich erlassen, aber für die Veniselisten allein.
So sehr fühlte sich Venizelos als unumschränkter Diktator des Landes, daß
er über den Kopf des jungen Königs hinweg selbst in der Siellenbesetzung des
königlichen Hofstaates eingriff. König Alexander ist zum willenlosen Werkzeug
jenes Werkzeugs der Entente geworden, dein Jonnart schon in einer Note vom
24. Juni 1917 den Weg gebahnt hatte: darin war unter Hinweis auf die
..Verfassungswidrigkeit" der derzeitigen Kammer das .Kabinett Zcümis zur Ein¬
berufung der aufgelösten veniselistischen Kammer aufgefordert worden, obwohl
die Mächte seinerzeit die Auflösung dieser Kammer ohne Widerspruch hingenommen
hatten, ja durch ihre amtlichen Sprachrohre hatten erklären lassen, daß die Auf¬
lösung für sie keinen Grund zum Einschreiten biete. Demgemäß wurde Mitte
Juli das königstreue Parlament heimgeschickt und am 25. Juli ohne die verfassungs-
mätzigen Neuwahlen die alte, am 18. Juni 1915 gewühlte Veniselistenkammer
wieder einberufen, mit deren Hilfe der Diktator seine neutralitätsfeindlichen Pläne
leicht weiterverfolgen konnte.
Schon am 29. Juni waren nach Erklärung des Kriegszustandes im ganzen
Lande die diplomatischen Beziehungen zu den Zentralmächten abgebrochen worden,
obwohl die Schutzmächte dem Lande die Wetterführung der Neutralität garantiert
hatten. Die am 80. Juni der deutschen Regierung übermittelte Erklärung lautete:
„Infolge der soeben glücklich zustande gekommenen Vereinigung (!) der beiden
bisher getrennten Parteien Griechenlands und angesichts der Tatsache, daß mehrere
griechische Regimenter an der Balkcmsront an den Feindseligkeiten teilnahmen, ist
es der griechischen Regierung nicht mehr möglich, weitere amtliche Beziehungen
zur deutschen Regierung zu unterhalten." (Der griechische Gesandte in Berlin
hatte, um nicht diese Note überreichen zu müssen, vorher telegraphisch seine Ent¬
lassung genommen.) Das war an sich noch keine Kriegserklärung des offiziellen
Griechenlands: da aber eine Kriegserklärung der provisorischen Regierung in
Saloniki an Bulgarien und Deutschland im Namen Griechenlands am 26. No¬
vember 1916 erfolgt war, so kann auch das offizielle, nun von Veniselos geführte
Griechenland als im Kriege mit den Mittemächten befindlich betrachtet werden.
Die nächste Sorge von Veniselos war darum, die desorganisierte und kriegs-
uulustige griechische Armee zu einem schlagkräftigen Kriegsinstrumente gegen die
Mittemächte zu machen. Hatte er doch den Alliierten das Versprechen gegeben,
daß die griechische Armee in drei Monaten bereit sein werde, an die mazedonische
Front abzugehen: hatte er doch schon, um seinen guten Willen zu zeigen, der
Armee sogleich an Stelle der von König Konstantin eingeführten „deutschen Kopf¬
bedeckung" das französische Käppi verliehen. Zu jenem Zwecke wurde darum jetzt
in deu militärischen Kreisen mit Hochdruck eine Kriegspropaganda betrieben, wurde
im Oktober sogar Sarrail zum Oberbefehlshaber auch der griechischen Armee
ernannt, der freilich Mitte Dezember von seinem Oberkommando abberufen und
durch General Guillaumet ersetzt wurde. Gegen Ende Dezember erfolgte dann
eine Zwangsmobilisierung, da nach dem Zusammenbruch der italienischen Jsonzo-
front (Ende Oktober) und dem Ausscheiden Rußlands aus dem Kriegsverbande
der Entente griechische Truppen nicht nur zur Verstärkung der mazedonischen Front,
sondern auch zum Ersatze englischer von den ägäischen Inseln zurückgezogener
Besatzungstruppen dringend benötigt wurden. Doch scheint nach den bisher
vorliegenden Berichten auch die Zwangsmobilisierung ein Fehlschlag gewesen sein,
wie bei der von Veniselos selbst herbeigeführten völligen Zerrüttung der Armee
kaum anders zu erwarten war. Jedenfalls hat Griechenland als militärischer
Faktor im Weltkriege kaum noch eine wirkliche Bedeutung, mag Veniselos auch
bei seiner Rundreise zu den Kabinetten der Entente, die er Ende Dezember unter-
nahm, mit tönenden Worten das Gegenteil versichert haben,' um die weitgehenden
„Ansprüche" Griechenlands zu begründen."
Wo aber ist in Griechenland das „Selbstbestimmungsrecht der kleinen Nationen
geblieben, das von den führenden Staatsmännern der Entente so oft feierlich
verkündet worden ist?
sxW^?^^
WM>er 8. Februar weckt für viele dieses Jahr im besonderen Sinne
Gedanken der Trauer. Carl Jentsch, dessen fünfundachtzigsten Geburts¬
tag ein großer Kreis von Verehrern und Freund'en mit Wort und
Tat der Liebe, Wertschätzung und Anerkennung zu verschönern ge¬
willt gewesen — Carl Jentsch ist seit dem 2». Juli vorigen Jahres
! tot. Die Leser der „Grenzboten" erinnern sich des Namens und des
Mannes, der so außergewöhnlich vielseitiges Wissen besaß und darum so umfassende
Kenntnisse zu vermitteln imstande war. Fast dreißig Jahre lang (genau 27 Jahre
5 Monate) ist er Mitarbeiter der „Grenzboten" gewesen. Im Februar 1882 lief
bei der Redaktion der „Grünen", die damals in Leipzig unter Assistenz des be¬
kannten Sprachdummheitenbekämpfers Dr. Wustmann vom Verleger Johannes
Grunow selbst geführt wurde, ein Manuskript ein über die Lehre vom Staate.
Der Verfasser war ein gewisser Jentsch, aus Reiße O.-S.. von dem man nichts
Näheres wußte. Die Arbeit ging als unverwendbar zurück. Der Einsender aber
war hartnäckiger fragte nach dem Grunde der Ablehnung, den zu wissen
für ihn von besonderer Bedeutung wäre, da er vor der Möglichkeit stünde, sein
Brot durch literarische Tätigkeit erwerben zu müssen. Es handelte sich darum, ob
der Aufsatz gerade nur für die „Grenzboten" nicht paßte, oder ob er nach Form
und Inhalt den Anforderungen einer angesehenen Zeitschrift so wenig genügte,
daß dem Verfasser die Eignung zum Publizisten abgesprochen werden müßte.
Welche Antwort Jentsch ans diesen Brief erhielt, wird leider nie festgestellt werden
können; er hat aus verkehrter Rücksicht auf den Ordner seines literarischen Nach¬
lasses alle Korrespondenz verbrannt bis auf wenige amtliche Schreiben der tires-
lichen Behörden und — übrigens hochinteressante Mitteilungen aus der Kultur-
kampfzeit von dokumentarischem Wert. Vielleicht hatte man ihm in der, Über¬
bürdung des Tagesgeschäftes zu antworten vergessen oder dieses nicht für nötig
befunden, denn erst sieben Jahre später, am 26. Februar 1889 wiederholte Jentsch
seinen Versuch und sandte eine kleine pädagogische Glosse an die „Grenzboten".
Er hatte 1882 das altkatholische Pfarramt definitiv aufgegeben und die Redaktion
der „Reißer Presse" gegen 1000 Mark Jahresgehalt übernommen. Seine in kein
Parteischema passende Eigenart führte mit Notwendigkeit zu Differenzen, und so
sah sich Jentsch 1888 gezwungen, sein Heil als freier Schriftsteller zu versuchen.
Er hatte Glück. Das Schweidnitzer „Schlesische Tageblatt" verpflichtete ihn gegen
ein Fixum von 800 Mark jährlich als Leitartikler. Der Existenzgrundstock war
gelegt. Zudem eröffneten sich auf die verschiedensten Anfragen hin weitere Artitel-
absatzgebiete, darunter als wichtigstes: die „Grenzboten". Jentschs lakonische An¬
frage mit der Unterschrift: „Carl Jentsch. Schriftsteller (Frei resignierter Pfarrer,
was ich nicht der Adresse wegen, sondern nur zur Information anmerke)", erweckte
Interesse; seine pädagogische Glosse wurde genommen, ein zweiter Beitrag des¬
gleichen. Ihm folgte die Aufforderung, mehr zu senden, denn er wäre anscheinend
der geborene Grenzbotenmitarbeiter. ' „Diese erste Karte", schrieb Jentsch 1906 in
seinen Erinnerungen an Johannes Grunow, „habe ich oft und lange angeschaut,
nicht bloß, weil sie mir eine hoffnungsschwere, frohe Botschaft brachte, sondern
auch, weil mich die Schriftzüge erfreuten; langgezogene, feine Haarstriche, kräftige
kurze, steile Grundstriche, ein edler Schwung sagten mir: das ist ein klarer, fester,
zuverlässiger Mann, und dabei ein Mann/der das Schöne liebt." Jentschs Ver¬
trauen zu diesem sympathischen Menschen ging von vornherein sehr weit; er scheute
sich nicht, in einem Briefe vom 16. September 1889 unter freimütigster Darlegung
seiner bisher vergeblichen Versuche bei dem ihm noch fremden Verleger anzufragen,
wo und wie er sein umfangreiches Manuskript „Des letzten Nömerzuges welt¬
historische Bedeutung" anbringen könnte. (Der ihm erteilte Rat, sich an Habe!
in Berlin zu wenden, ist erfolglos geblieben, desgleichen noch weitere Bemühung.
Die Handschrift fand ich im Manuskriptnachlaß unveröffentlicht vor.) Grunow
vergalt Gleiches mit Gleichem. Es ist außerordentlich reizvoll, in dem leider nur
einseitig vorhandenen Briefwechsel zu verfolgen, wie trotz der Verschiedenheit der
Charaktere und vieler Ansichten, die beiden geistreichen, für das Schöne, Gute und
Wahre gleicherweise kämpfenden Männer den Weg zur Freundschaft fanden.
Grunow erschloß sich zuerst, nach einer Bemerkung von Jentsch, in dessen schon
erivühnten Erinnerungsartikel; Jentsch antwortete mit einem humoristischen Selbst-
portrüt und malte ebenso lustig aus. wie er sich Grunow und dessen treuen Mit¬
arbeiter, Dr. Wustmann, in der Phantasie vorgestellt hätte, um schließlich am
22. November 1890 freudig in die ihm von Johannes Grunow dargebotene
Freundeshand einzuschlagen. — Diese persönliche Freundschaft zu dem Verleger¬
redakteur wurde für Jentschs Mitarbeit an den „Grenzboten" maßbestimmend.
Die soziale Frage nimmt in seinen Arbeiten den größten Raum ein.
sozialpolitische Aufsätze aus seiner Feder haben, wie Jentsch selbst in einem Briefe
vom 10. August 1891 andeutet, die „Grenzboten" in den Verdacht gebracht, sozial¬
demokratische Ziele zu verfolgen. So urteilen konnte freilich nur Oberflächlichkeit
bzw. böser Wille. Johannes Grunow charakterisierte das Streben seiner Zeitschrift (im
Jubiläumsheft, Jahrg. 1891, Ur. 4V) als ein Bemühen, „dem Menschen die äußeren
Bedingungen eines echt menschlichen Daseins zu sichern und dessen Grundlagen, wo sie
zerstört oder abhanden gekommen sind, wiederherzustellen." Christliche Gesinnung der
Bruderliebe war das Motiv bei Grunow, der gleichwohl dem Unternehmerstandpunkte
nicht untreu wurde; christliche Gesinnung war auch Jentschs Beweggrund, der aus
ärmlichen Verhältnissen stammend und als ehemaliger katholischer Geistlicher die Not
des Lebens kannte und mit den Bedrückten mitzufühlen vermochte, wie kaum einer.
Die Sozialdemokratie galt ihm aber keineswegs als die berufene Retterin aus dem
Elend. Wohl sollte, nach ihm, das Heil vom Volke selber kommen, wie der noch
kraftvolle kranke Körper nur aus sich selbst zu gesunden vermag, nachdem ihm
der Arzt Mittel und Weg gewiesen, d. h. die Bemühungen des Volkes zum Besseren,
die Eigenhilfe durch den Zusammenschluß in Verbunden sind gut und nützlich.
Doch das „utopische" Kommunismusziel der Sozialdemokratie galt ihm für ver¬
fehlt. Wie das im einzelnen gedacht war. führte eine Artikelreihe aus unter dem
Titel „Weder Kommunismus noch Kapitalismus" (Jahrg. 1892, IV). Die Aufsätze
erregten großes Aussehen und wurden darum noch vor dem Abschluß der Serie in
der Wochenschrift als Buch edlere (bei Fr. Will). Grunow, Leipzig 1893, erschienen).
Eine Ergänzung erfuhren sie durch „Neue Ziele, neue Wege" (Jahrg. 1894 I, als
Broschüre im gleichen Jahre veröffentlicht). Jentsch vertrat darin die Ansicht, der
kapitalistische Großbetrieb bleibe für alle Zeiten uuausschaltbar, nur müsse er sich
beschränken und dürfe vor allen Dingen der Landwirtschaft nicht die Wurzeln ihrer
Kraft rauben. Des Volkes Wohlsein ruhe auf einem blühenden Bauernstande.
Dieser solle geschützt und gefördert werden, insbesondere durch innere Kolonisation,
für die Gebiete im Westen des Nussenreiches dereinst als notwendiger neuer Boden
erworben werden müßten. Da die Russen die Kornkammer Europas verkommen
ließen, sei es unsere Pflicht, weltrettend einzugreifen, mit friedlicher Durchdringung
oder — Waffengewalt. Feindschaft werde darum möglicherweise entstehen zwischen
dem Zarenreich und Deutschland, Freundschaft sei deshalb zu suchen bei dem
europäischen Westen, Frankreich und England. Diese seine „Lieblingsschrulle" (so
nannte er sie selbst) hat Jentsch wieder und wieder in den „Grenzboten" und ander¬
wärts verbreitet, noch zuletzt im Jahrg. 1915, I: „Der Feind im Osten",.1910,
III: „Wo liegt unser Kolonialland?" und endlich, eingestellt auf das nicht
mehr zaristische Rußland der Gegenwart, 1917, II: „Friede und Bündnis im Osten".
— Neben der vernünftigen binneneuropäischen Kolonisation galt Jentsch als ein
weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Lösung der sozialen Frage die allgemeine ein¬
deutige Verständigung über die vielsinnigen nationalökonomischen Begriffe. Er
suchte sich und anderen Klarheit zu verschaffen, indem er alle ihm nur erreichbare
volkswirtschaftliche Literatur durchstudierte und die Grundgedanken seiner Lektüre
in sehr lehrreichen Referaten für die „Grenzboten" zusammenfaßte. So erörterte er
z. B. im Jahrg. 1893 die Währungsfrage, im Jahrg. 1894 das Eigentum, im
Jahrg. 1895 das Kapital. Das Endergebnis dieser Studien war die im besten
Sinne des Wortes populäre „Volkswirtschaftslehre". Der Verlag Neubauer, Köln,
hatte bei Jentsch angefragt, ob er ihm nicht ein nationalökonomisches Handbüchlein
schreiben wollte; Grunow wurde durch den Freund natürlich sofort von der An¬
frage benachrichtigt und griff seinerseits die Idee eifrig auf. Gemäß einer Post¬
karte vom 30- August 1894 sollte das Werkchen Ostern 1895 erscheinen, es dauerte
aber bis Jahresschluß. Seitdem sind 32000 Exemplare vertrieben worden, und
eine neue (vierte) Auflage, die Jentsch noch selbst vorbereitet und um einen die
Kriegsverhältnisse berücksichtigenden Abschnitt vermehrt hat, wird in Kürze zur
Ausgabe gelangen. — Jentschs Standpunkt gegenüber Bestrebungen, die die soziale
Frage anders als er lösen wollten, näherte sich damals dem des evangelisch-sozialen
Kongresses der neunziger Jahre. Ihm war die Sozialdemokratie nicht „ein Ge¬
misch von Verrücktheit und Niedertracht, sondern ein notwendiges Erzeugnis wirt¬
schaftlicher Zustände und weltbeherrschender geistiger Strömungen", wie er bei
Gelegenheit selbst schrieb. Und die „Grenzboten" teilten diese seine Ansicht. Als eine
Antwort an die Adresse der „Schlesischen Zeitung" führten sie im Leitartikel des
48. Heftes vom Jahre 1895 aus: „Das also ist unsere Stellung zur Sozialdemo¬
kratie. Anstatt in das Geschrei einzustimmen: schlagt sie toll, sagen wir: nein,
laßt euch von ihr informieren und lernt, was ihr zu tun habt, um sie durch gründ¬
liche Änderung der Lage unseres Volkes verschwinden zu machen." Und darum
fanden die „Grenzboten" sich stets bereit, „den Finger auf Wunden im öffentlichen
Leben zu legen, auf Mißstände aufmerksam zu machen, heilsame Anregung zu
geben", unter dem Gesichtspunkte, daß es an der Zeit wäre, für die Vernünftigen
aller Parteien, jegliches Sonderinteresse beiseite zu stellen, und sich ohne Feind¬
schaft, Haß oder Voreingenommenheit zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden."
(Joh. Grunow im Jubiläumsheft.) Das traf Jentschs Art und Wollen. Er charakte-
risiert sich in dieser Hinsicht treffend in den „Wandlungen" (II. Band S. 181):
„Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen
Lebenserfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeits¬
gefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht." So
erhob er denn seine Stimme zur Schulreform (Jahrg. 1890,1), trat in einem
längeren Aufsatze für „Die Wünsche des höheren Lehrerstandes in Preußen" ein
(1890, IV), äußerte sich in „Gegen den Polizeistaat" über das Vereinsrecht
(.1890, IV), übte in „Was wir von den Zulukasfern lernen können" herbe
Kritik an unserem Volkswirtschaftsbetriebe (1890, IV), brandmarkte den Mi߬
brauch der hypnotischen Suggestion (18W, 1) oder fand endlich kräftige Worte
des Tadels für die vernunftwidrige Weise, mit der manche Gerichtshöfe am Buch¬
staben des Gesetzes festkleben, in den „Betrachtungen eines Laien über unsere
Rechtspflege" (1894, II; als Broschüre im gleichen Jahre erschienen). — Die „Grenz¬
boten" waren konservativ und fortschrittlich zugleich. Sie räumten mit unvernünf¬
tigem Alten radikal auf, sie ließen aber vernünftige Tradition nicht antasten. Auch
das entsprach Jentschs Auffassung, der bekanntlich mit seinen Ansichten zwischen
zwei Stühlen zu sitzen pflegte,") freilich stets mehr links tendierend, worin der
konservative Verlegerfreund das zweckmäßige Gegengewicht bildete. Manchmal
wurde jener allerdings von dem temperamentvollen Freiheitsmanne mit fortgerissen
und druckte Beiträge ab, von denen Jentsch in seiner Grnnow-Erinnerung schrieb:
„Ich habe in den ,Grünen' so manches aussprechen dürfen, was kein anderes
bürgerliches Organ aufgenommen hätte" („Grenzboten" 1906, Heft 18). Dafür
dankte er dem Freunde in seinen Briefen häufig um so inniger, als er wußte, daß
dieser um seinetwillen manchen alten Freund verlor (etwa nach Brief vom 31. Ja¬
nuar 1892: Prof. B), weil man nicht verstand oder nicht wahr haben wollte, daß
ihm Vaterlandsliebe die Feder führte. Und doch war es so. Im Leitartikel des
45. Heftes des Jahrgangs 1895, den er zur Abwehr von Angriffen gegen die „Grenz¬
boten" mit Grunow gemeinsam verfaßte, schrieb er: „Deshalb, weil wir die Liebe zum
Vaterlande so tief fasten, daß wir für unseres ganzen Volkes Wohl erglühen, ihm in
allen seinen Schichten die freie Entwicklung seiner herrlichen Gaben wahren wollen,
möchten uns die mit den Vaterlandslosen zusammenwerfen, die nur ... die Clique
lieben, der sie angehören. Weil wir die Deutschen weder mammonistisch entarten,
noch proletarisch verkommen lassen wollen, erregt unsere Sprache die Furcht und
den Haß derer, die den Patriotismus nur für die Gebildeten und die Reichen in
Anspruch nehmen möchten". Die „Grenzboten" waren eben, was sie heute noch
sind, national ohne parteiliche Bindung. Daran änderte nichts, daß Jentsch
bereits vom Oktober 1891 ab halb und halb Nessortredakteur spielte (Grunow
schickte ihm Manuskripte zur Durchsicht und Bearbeitung) und vom 18. August
1894 ab regelmäßig jede Woche sein „Sprüche!", so nannte er es, für die Rubrik
„Maßgebliches und Unmaßgebliches" beitrug. Herausgeber und Mitarbeiter
einigten sich stets auf das, was ihnen gemeinsam'richtig schien. Das war nur
in einem einzigen Falle schwierig. Grunow begeisterte sich für Bismarck, Jentsch
stand diesem achtungsvoll-kritisch gegenüber. Die „Grenzboten" traten seit 1880
mit Überzeugung für die Politik Bismarcks ein, gerade in jener Zeit, als er den
heftigsten Befehdungen ausgesetzt war; sie hatten schwer zu kämpfen und mußten
Haß und Hohn ertragen. Sie vertraten natürlich auch Bismarcks Polenpolitik.
Da konnte Jentsch nicht mitgehen. Er sah durch Bismarck die Germanisierung
scheitern, die unter Ledochowsky, der den Posener Pfarrern das Politisieren auf-
trieb, nach Jentsch, im besten Zuge gewesen war. Ihm galt der Sprachenerlaß nur
als unerfreuliche Ursache fremdvölkischen Hasses. Doch erkannte Jentsch das Große
und Bedeutungsvolle am Altreichskanzler voll und ganz an, ja er hatte si h sogar
eine Zeitlang von ihm mit fortreißen lassen, wie er selbst berichtet in den bereits
genannten „Wandlungen" (seiner ebenso interessanten wie unterhaltsamer Auto-
biographie. die unter dem Titel „Wandlungen des Ich im Zeitenstrome" 1894,
III bis 1896, I annonym erschien und ab 1897, I weiter geführt wurde in mehreren
Teilen: „Jenseits der Mainlinie", „München und Konstanz", „Religionsunterricht",
„Endlich den Beruf gefunden". Die Buchausgabe, — bei Fr. Wilh. Grunow,
Leipzig 1896 und 1905, — in 2 Bänden, enthält noch zur Ergänzung Aufsätze
über Nietzsche aus dem Grenzbotenjahrgang 1898, Ibsen aus dem Jahrg. 1900,
sowie über Hilty aus dem gleichen Jahrgang). Jentschs kühlkritische Stellung¬
nahme kam der Objektivität der „Grenzboten" ober doch zugute. Wie hätten
sie sonst schreiben können (Jahrg. 1895. IV): „Es ist uns leid als alten Bismarckianern
und den treuesten Bismarckianern, es nuszusprechen, aber wir sagen es: daß wir
uns für bismarckisch halten mehr als jeden, der jetzt auf seinen Namen pocht,
wenn wir uns seitab stellen von — seinen Leuten. Eins steht uns eben höher
als alles andere, als alte Liebe und altes Vasallentum, das sind Kaiser
und Reich". —
Die im vorstehenden geschilderte rege politische und volkswirtschaftliche
Mitarbeit erschöpft bei weitem nicht den geistigen Anteil Carl Jentschs an den
„Grenzboten". Schon die Themen zeigen — wie bereits angedeutet wurde — den
ganzen vielseitigenJentsch. Geschichte, Philosophie, Psychologie, Kirche und Konfession,
Kunst und Literatur wurden nicht weniger als die Politik gepflegt. Die große Aufsatz¬
reihe „Geschichtsphilosophische Gedanken" zog die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die
„Grenzboten", freilich hauptsächlich erst durch die Buchausgabe, die Johannes
Grunow zu des Verfassers Rberraschung zu unternehmen vorschlug. Jentsch —
in seiner Bescheidenheit — begriff ihn nicht, wie er sich selbst darum bemühen
könnte, „reingelegt" zu werden. Er war sehr skeptisch wegen des Erfolgs und
»lachte aus, falls der Absatz nicht die honorarfreie Zahl überschritte, er doch
wenigstens eine (!) Mark erhalten sollte, soviel gedächte er nämlich auf einen
guten Schluck zu Ehren seines ersten „Kindes" anzuwenden. (Brief vom 26. Mai
1892.) Das Buch hat 1903 die zweite Auflage erlebt, — Plato. Giordano
Bruno, Pascal, Leibniz, .Kant, Hegel, .Herbart, Spencer, Nietzsche, Eduard von
Hartmann, Wundt erfahren mehrfach eine Interpretation durch Jentsch, sowie die
naturphilosophischen Systeme etwa Haeckels und anderer. Dabei spielten eine
bedeutsame Rolle biologische Fragen, aus die Jentsch durch E. von Hartmanns
„Irrtum und Wahrheit im Darwinismus" geführt worden war. Jahrelang hat
er philosophische und psychologische Neuerscheinungen in den „Grenzboten"
besprochen. Ja, sogar ein philosophisches Märchen hat Jentsch geschrieben: „Homun-
culus und Herr Nemo" (Jahrg. 1891, III). Es ist dies eine treffliche Satire auf
den Materialismus, die Jentschs eigene Meinung von seiner Unfähigkeit, novel¬
listisch schassen zu können, in etwas Lügen.straft. Die kleine Geschichte ist ebenso
amüsant, wie fesselnd zu lesen. — Von dein Riesenstoffgebiet der Historie besaß
vornehmlich sein Interesse: das römische Reich, das Mittelalter, die florentinische
Geschichte und die Zeit der Reformation*). Die Vorliebe für die Reformations¬
zeit gründet sich natürlich auf den Bildungsgang des ehemaligen Pfarrers, der der
alten Kirche untreu geworden, Wege zum Besseren suchte. Vom ersten Bande
der Mitarbeit an bis 1912 hat er in den „Grenzboten" religiöse, konfessionelle
Fragen; vielfach erörtert*). Seine Stellung zu dem Buche der Bücher, dessen
wundersamer Entstehung er mehrere Aufsätze deZ 1893er Jahrganges (I) widmet,
kennzeichnen folgende, auch für den Menschen Jentsch charakteristische Worte
(Seite 398):
„Aber wenn man, wie ich, allen Autoritäten den Rücken gekehrt, mit den
Dogmen gebrochen, alle angelernten Meinungen und alles Anempfundene ausge-
gefegt und beschlossen hat, ein Narr auf eigne Faust zu sein und niemandem zu
folgen als der Stimme der eigenen Natur und Vernunft, und wenn man dann
beim Bibellesen das Buch weder langweilig noch dumm findet, sondern erst
seinen wahren Wert und seine ganze Größe entdeckt, dann hat man den Beweis
in den Händen, daß sie nicht ein Buch ist wie andere Bücher". — „Konfession
und Wirtschaftsleben" (1907, III) deutet auf das national-ökonomische Interesse
von Carl Jentsch zurück. Die Jesuitenfrage, in der er — Gegner aller Aus-
nahmegesetze — Aufhebung des Ausschlusses der Jesuiten aus Deutschland forderte, er¬
fuhr durch ihn eine vielseitige Erörterung, sowohl in historischer als auch in politischer
Beziehung"). Auch für ausgesprochene Latliolic-a fand sich Raum, z. B. „Katho¬
lische Belletristik" (1899, I) oder „Die katholische Moral" (1903, I), wie ja die
..Grenzboten" dem Katholizismus von jeher objektiv gerecht und keineswegs ab-
lehnend gegenüber gestanden haben. Sie fanden sich in dieser Objektivität mit
Jentsch zusammen, der die drei christlichen Konfessionen für völlig gleichberechtigte
Ausgestaltungen des einen Christentums hielt. Daß sie sich gegenseitig als solche
anerkennen möchten, war sein sehnlichster Wünscht) Der evangelische Bund wie
die Katholikentage wurden, als diesem Gleichberechtigungsstreben abhold, von
Jentsch bekämpft, wodurch den „Grenzboten" Gegnerschaft von zwei Seiten erwuchs.
Sie haben sie im Bewußtsein des rechten Weges geruhig ertragen.
Die christliche Religion ist im tiefsten Wesen Ethik. Grunow wie Jentsch
waren echt christliche Naturen. Die ethischen Fragen besaßen darum ihr
volles Interesse; ich nenne einen Beitrag für mehrere: „Gibt es
einen sittlichen Fortschritt und worin besteht er?" (1890, III).
Moralische Ansichten und Maxime bedingten auch Jentschs Stellungnahme zur
Kunst. So bestritt er in „Das Theater als Kirche" (1908, IV) wohl keineswegs
die häufige didaktische Wirkung guter dramatischer Dichtung, doch wäre diese nie¬
mals vergleichbar mit der des Gottesdienstes, und nie würde das Theater die
Kirche ersetzen können. Von berühmten Dichtern fesselte ihn am meisten Ibsen,
dessen Lebenswerk er zahlreiche Aufsätze gewidmet hat (vgl. Jahrg. 1900, II—IV;
1906, 1908,1910), freilich mehr von dem philosophischen als von dem künstlerischen
Gehalt angezogen und zur Kritik gereizt. Grunow forderte den Fnund gelegentlich
auf, auch die Rezension rein belletristischer Sachen zu übernehmen. Beim ersten
Male holte er sich eine Absage. Jentsch meinte, seine Stellungnahme würde der
der lesenden Köchin gleichen, die sich die Hände reibt, wenn ein Bubenstreich
glückt, die jubelt, wenn sie sich kriegen, die weint, wenn der Held allzu Schweres
erdulden muß und die die Faust ballt gegen jeden Quälgeist ihres Romanlieblings.
Na, und das würde wohl kaum die richtige Einstellung für einen Grenzboten-
literaturrichter sein. (Brief vom 22. Februar 1892.) Später hat Jentsch freilich
dem Freunde den Willen getan, aber nur selten, wenigstens insofern man die
Gesamtzahl der von ihm in den „Grenzboten" besprochenen Bücher, die die 2000
übersteigt, in Betracht zieht. Endlich gehörten zu seiner Grenzbotenbeitragsdomüne
die Referate über biographische Werke*).
Wenn auch im vorstehenden nur andeutungsweise mitgeteilt werden konnte,
inwieweit Carl Jentsch an dem reichen geistigen Gehalt der „Grenzboten" Anteil
hatte — etwa 500 größere und 000 kleinere Abhandlungen stammen aus seiner
Feder — so wird man doch nach allem Bisherigen ohne weiteres verstehen, daß
Verleger und Mitarbeiter sich wechselseitig zu größtem Dank verpflichtet fühlte».
Jentsch sprach das mehrfach öffentlich aus und hob stets hervor, wie hoch er es
bewertete, für die „Grenzboten" tätig sein zu dürfen, nicht etwa nur um des mate¬
riellen Vorteiles willen (sie boten ihm jahrzehntelang die Hälfte seines Ein¬
kommens); er kannte und schätzte sie seit fast 40 Jahren, ehe er selbst für sie
schrieb und hatte viel aus ihnen gelernt. Auch erkannte er willig an, durch
Dr. Wustmanns Mühewaltung seinen Stil verbessert zu haben. Er war nach
eigener Angabe bei Beginn seiner Publizistik recht unbeholfen gewesen im Finden
der Worte, die seinen Gedanken treffend entsprachen. Manchmal lag eine Arbeit
acht Tage im Schubfach und wurde täglich mehrmals hervorgezogen, um die
letzte und immer wieder die „letzte" Fassung zu erhalten. (Brief vom 13. Dezember
1891.) In seiner Grunow-Erinnerung schrieb er: „So hat mir erst Grunow zu
einer anständigen und verhältnismäßig gesicherten Existenz verholfen, hat mich
durch den Verlag meiner Bücher im Publikum bekannt gemacht, und ohne die
reiche Fülle von Rezensionsexemplaren, die mir von den „Grenzboten" in regel¬
mäßigen Abständen zugehen, wäre meine Schriftstellerei in einer aller literarischen
Hilfsmittel entbehrenden Kleinstadt gar nicht möglich." — Ähnlich äußerte er sich
in den „Wandlungen" (II, S. 171).
Als Johannes Grunow am 1. April 1900 starb, war das natürlich ein
schwerer Schlag für Jentsch; er verlor nicht nur den Freund, sondern mußte auch
darum bangen, eine liebgewordene Stätte für dieVerbreitung seinerJdeen zu verlieren.
Jedoch trat keine Änderung ein. wenn auch naturgemäß der persönlichoZusammenhang
lockerer wurde. Als 1910 die „Grünen" nach Berlin übersiedelten, hatte Jentsch bereits
einen Wirkungskreis gefunden, der seine Arbeitskraft im hohen Maße in An¬
spruch nahm: im September 1909 erhielt er die Aufforderung des Kommerzien-
rath Meyer, Leipzig, für dessen Versicherungsblätter „Nach Feierabend" und „Der
Volkshort" fortlaufend Beiträge zu liefern. Der Vertrag kam bald zustande und
alle Sorge war damit behoben. Diese neue Mitarbeit beanspruchte viel Kraft
und Zeit, dazu traten immer häufiger Anforderungen der verschiedensten Wochen-
und Moimtsscyriften, insbesondere nachdem Jentschs achtzigster Geburtstag und
die Ehrenpromotion durch die Breslauer Universität seinen Namen in aller Mund
gebracht hatte. So konnte der Alte von Reiße den lieben „Grünen", denen er
bis zu seinen: Tode in unverbrüchlicher Treue anhing, nur noch seltener etwas
senden. Er glaubte sich auch überdies (nach einem Briefe vom 21. Oktober) längst
zu deren Leserkreis restlos ausgesprochen zu haben. Doch er ward trotzdem bei
den „Grünen" nicht vergessen. Sie schrieben zu seinem achtzigsten Geburtstage:
„Wir ehren uns, wenn uns der 8. Februar ein Fest bedeutet, da achtzig
Jahre starker Lebensarbeit eines Tapferen sich vollenden." (Jahrg. 1913,1.) Zum
jetzigen Herausgeber der Grenzboten, den Jentsch schon seit längeren Jahren
persönlich kannte und für dessen Auffassungen über Rußland und Polen er sich ganz
besonders interessierte, ist er bis zum Tode in freundschaftlichen Beziehungen geblieben.
Carl Jentsch ist auch heute nicht vergessen, da wir rückschauend Totengedenken
begehen, und er wird auch in Zukunft den „Grenzboten" unvergessen bleiben.
cis gleiche Wahlrecht ist eine politische Notwendigkeit geworden. Die
allzulange aufgestauten Wasser politischer Wünsche haben den Druck
außerordentlich verstärkt und der Sturmwind des Krieges tut das
Seinige. Nun sieht man kein Halten mehr. Gegen die suggestive
Kraft des Wortes „Gleichheit" sind unter diesen Umständen logische,
und ebenso im tieferen Sinne ethische Erwägungen machtlos, nun gar.
wenn die maßgebenden Stellen selber das zündende Schibboleth in dieOffentlichteit ge¬
rufen haben. Erschwerend wirkt auch der Umstand, daß die trotz Literaturbergen doch
recht spröde Mechanik der Wahlsysteme einen in jeder Beziehung brauchbaren
Ersatz für das Massenrecht nicht darbietet, was man bei den an sich erörterungs¬
fähigen Vorschlägen des Freiherr» von Zedlitz und des nationalliberalen Ab¬
geordneten Schifftrer beobachten kann. Da also politische Opportunist die Stunde
regiert, müssen Sorgen über die Zukunft hinter den drückenderen der Gegenwart
zurücktreten, obwohl eine solche „Augenblickspolitik" wieder eigene schwere Be¬
denken hervorruft. Auch Vergangenes, wie den Ursprung der Botschaft vom
11. Juli, läßt man jetzt am besten ruhen, der Ausgang wird über Schöpfungen
und Schöpfer das Urteil sprechen.
Hier nur das eine: Friedrich Thinae hat vor kurzem in einem viel¬
beachteten Aufsatz (in den „Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung") die
Verkündung des gleichen Wahlrechts in Zusammenhang gestellt mit der für die
damalige Regierung sich erhebenden Notwendigkeit, „das Durchhalten der breiten
Volksmassen zu befördern, insbesondere die Sozialdemokratie bei der Politik des
4. August festzuhalten." Selbst diese Lesart — man kennt und hört bekanntlich
auch andere — läßt das politische Zweckmotiv ganz augenfällig werden und steht
im Widerspruch zur „alleinig ethischen Begründung" der Vorlage von feiten der
Regierung.
Denn das muß man doch zugeben: ihr „uuumschränktes Vertrauen in das
Volk", wenn es wirklich berechtigt war — und wir zweifeln nicht daran — brauchte
eben kein äußerliches Zeichen während des Krieges oder aber, wenn man schon
nicht warten wollte, konnte es andere Formen finden, als jenen krassen Bruch
mit der Vergangenheit. Es bedeutet geradezu eine Beleidigung jedes einzelnen
Volksgenossen, wenn man annehmen wollte, daß er seine fernere Opferbereitschaft
an die Bedingung verfassungsrechtlicher Garantien knüpft. — In den Schützen¬
gräben hat man zu solch spekulierendem Kriegsgewinnlertum keine Zeit. Die
Regierung selber weist dementsprechend den Gedanken einer „Belohnung" weit
von sich, wie das schon Bismarck hinsichtlich der Freiheitskämpfer von 1818 getan
hat. Auch von den Linksparteien darf man wohl erwarten, daß sie ihre patriotische
Haltung nicht von innerpolitischen Zugeständnissen abhängig machen. DaS Spiel
mit dem Feuer der drohenden Volksstimmung — das man nach nllcrneuesten Er¬
eignissen nicht bloß als taktisches Manöver werten kann — will allerdings recht
wenig zu jenem Geiste passen, den das viel zitierte Kaiserwort vom 1. August aus
der Gegenseite voraussetzte. Was aber zweitens die Form des Vertrauens betrifft,
so brauchte die damalige Regierung unseres Erachtens kein so hohes Spiel zu
spielen, wenn sie nicht gleich mit radikalen Zugeständnissen begonnen hätte. Noch
kurz vor dem 11. Juli war eine Mehrheit für ein Pluralsystem im Abgeordneten-
Hause vorhanden. Erhitzte man allerdings die öffentliche Meinung mit dem Ver¬
sprechen des gleichen Wahlrechts — zumal noch in der feierlichen Form eines
Thronversprechens —, so haftete sie nach Art eines Maximalthermometers auf der
Höchsttemperatur."
Es bleibt also bei der politischen Begründung; man hat ein „Reizmittel
anwenden wollen, wie es der Freiherr vom Stein schon vor hundert Jahren in
ähnlicher Lage empfahl. Und nehmen wir die aus politischen Rücksichten geborene
Tat als politische Notwendigkeit an. so liegt das Problem nicht mehr darin, daß,
sondern wie unter solchen Bedingungen das gleiche Wahlrecht in Preußen ein¬
geführt wird.
Die hierbei zu beobachtenden „Sicherheitsvorrichtungen, Kautelen und Kom¬
pensationen" sind dann, was vor vierzehn Tagen an dieser Stelle bereits an¬
gedeutet wurde, der „Kernpunkt der preußischen Wahlrechtsfrage". Der bekannte
linksliberale Publizist Hugo Preusz allerdings gebrauchte kürzlich die Wendungen
in verneinenden Sinne*). Gerade „Verständigungen und Kompromisse" bergen
nach seiner Meinung die „größte Gefahr"; entweder die Reform wird die Ein¬
führung des Reichstagswahlrechts schlechthin sein oder sie wird nicht sein.
Dagegen müssen wir mit aller Entschiedenheit betonen, daß für uns jene
„Sicherungen" Mindestforderungen bedeuten, die unter allen Umständen in den
Rahmen der Vorlage einzubauen sind, wenn er nicht gesprengt werden soll.
Man sieht, der Appetit kommt auch den Wahlrechtsfreunden beim Essen;
das außerordentliche prinzipielle Zugeständnis wird sofort zur Plattform, von der
aus man allen unliebsamen Einschränkungen abzuwinken versucht. Schon versieht
die Reformpresse Begriffe wie „Sicherungen" u. a. mit Anführungsstrichen, um
sie anrüchig zu machen, die gröbere Tonart wagt sogar von „Verschandelungen"
zu sprechen und bestreitet damit dem anderen Teile das Recht, seinen Standpunkt
zu wahren. Ein seltsam unbilliges und undankbares Verfahren, wenn man gerade
beschäftigt ist, die eigenen Scheuern zu füllen.
Bei der Gelegenheit wird mit Begriffen wahrhaft jongliert. Die „Frank¬
furter Zeitung" beschuldigt die „Reaktion" einer „immer dotieren Demagogie", ohne
bei diesen Worten zu stocken und, wenn die Kommissionsberatungen nicht im D-Zug-
Tempo verlaufen, müssen sich die vor dem Wagen mit Fug und Recht erst wägenden
Mehrheitsparteien des Abgeordnetenhauses den Vorwurf „parlamentischer Sabo¬
tage"^) machen lassen. Kommt den Drängern nie der Gedanke, daß gerade ihre
übertriebenen Forderungen eine befriedigende Lösung erschweren und so viel eher
Sabotage am gleichen Wahlrecht genannt werden können? Sie sind es in Wirk¬
lichkeit, die der auf Ausgleich der verschiedenen Interessen ehrlich bedachten Regie¬
rung am störendsten entgegenarbeiten. Daß diese den Trumpf der Möglichkeit
eines gewaltsamen Eingriffs in der Hand habe, sollte man ihr nicht immer wieder
einflüstern. Gerade ein lebhafter Anhänger der Reform, Professor Anschütz, ver¬
neint die staatsrechtliche Zulnssigkeit einer „Oktroyierung". Was übrigens die an¬
geblichen. Verschleppungsabsichten betrifft, wie reimt es sich damit, daß die Mehr-
heit das einfachste Mittel, eine Verlängerung der Legislaturperiode abzulehnen,
bisher noch nicht angewendet hat? Gerade diese ungeduldige Rücksichtslosigkeit,
wo man doch in der Hauptsache den Willen getan bekommen soll, rechtfertigt das
Bedürfnis, sich nach Sicherungen umzusehen, die eine „den Staatswagen zerbrechende
Geschwindigkeit" lBismarck) verhüten.
Es kann sich hier nicht darum handeln, sie der Reihe nach zu betrachten,
in Heft 4 der „Grenzboten" hat sie Friedrich Thinae ziemlich vollständig zu¬
zusammengestellt. Wir möchten heute nur eine Frage herausgreifen, deren Beach¬
tung und Vertiefung uns besonders wichtig erscheint, nämlich die jetzt gerade auch
die .Kommission beschäftigende Reform des Herrenhauses.
Die Ansichten über diesen zweiten Faktor der Gesetzgebung gehen ja weit
auseinander. Gegner des Zweikammersystems, z. B. die Sozialdemokraten, halten
seine Existenz für überflüssig, indem sie darauf hinweisen, daß man doch auch im
Reiche mit einem einzigen Parlament auskomme. Doch hier liegen die Dinge
anders, insofern der Bundesrat, wenn er sich auch sonst nicht mit einem Ober¬
haus vergleichen läßt, bis zu einem gewissen Grade die Stelle eines solchen vertritt,
und ein drittes Organ den Betrieb allzusehr komplizieren würde. Andere wollen die
erste Kammer zwar beibehalten, weil es, wie Fürst Lichnowsky im „Berliner Tage¬
blatt" sich ausdrückt, immerhin „nützlich" sei, „eine Körperschaft zu erhalten, die für
die Zufälligkeiten der Wahlen eine Ergänzung bietet", zumal, wenn sie nicht viel
kostet, sind aber der Ansicht, daß sie „einen ausschlaggebenden Einfluß auf die
Geschicke des Staates niemals haben könne" und verweisen sie auf den ehren¬
reichen, aber machtarmen Platz einer „Gerusia", eines „Alte-Herren-Hauses". Eine
dritte Auffassung endlich geht dahin, diese Institution so auszubauen, daß sie nicht
bloß ein prächtiges, aber im täglichen Leben bedeutungsloses Dekorationsstück,
sondern ein wesentliches Glied im konstitutionellen Organismus darstellt.
Diese Wandlung erscheint angesichts der zu erwartenden Umbildung des
Abgeordnetenhauses als eine Notwendigkeit, der ja auch von feiten der Regierung
Rechnung getragen wird — ob genügend, werden wir noch sehen.
Gedeihliche Entwicklung beruht nun einmal auf der Zusammenfassung von
Thesis und Antithesis. Neben die gezählten Stimmen müssen die gewogenen
»reden und, wenn beide nicht in einer Versammlung vereinigt werden können, gilt
es das zweite Element an einer besonderen Stelle heimisch zu machen, von wo
es wirken kann, als wäre es mit dem ersten amalgamiert. Wie bitter not einer
„demokratischen" Kammer ihr „aristokratisches" (das Wort natürlich im Ursprungs¬
sinne genommen) Widerspiel tut, dafür kann uns eine Stimme aus dem Lande
der „äelnoLratie pure" Zeugnis ablegen.
Das Mitglied der Pariser Akademie Emile Faguet — nicht einer jener
Renegaten, die man im Auslande zu zitieren pflegt, weil sie ihre heimischen Zu¬
stände durch die Hechel ziehen, sondern ein Patriot, dem es um wirkliche Abstellung
der libet zu tun ist —. schrieb drei Jahre vor dem Kriege im Hinblick auf die
französischen Verhältnisse: „Es handelt sich darum, eine lebensfähige Republik zu
schaffen, d. h. eine Republik, die wie alle Republiken der Vergangenheit eine demo¬
kratische Grundlage hat und ein aristokratisches Element enthält".*) In diesem
Sinne verlangt er gegenüber der „konfusen Masse", die einzig und allein Frank¬
reich regiere, die Stärkung alles dessen, was nicht „rein individuell", d. nackte
Zahl ist, also vor allem der verschiedenen Berufsverbände, der Advokaten, Richter,
Arzte, Handelskammern und Arbeitersyndikate, daneben namentlich der von der
französischen Verfassung von 1875 so stiefmütterlich behandelten Städte. Also
ganz ähnliche Gedanken wie sie bei uns zurzeit nach Ausdruck ringen. Auf
diese Weise hofft Faguet insbesondere dem vor seinen eigenen konstitutionellen
Kompetenzen hangenden Senat den „Horror vor der Verantwortlichkeit" auszu¬
treiben.
Wir sehen also, daß im Widerspruch zu dem von der Staatsrechtslehre ge-
Prägten Satz: es sei das unentrinnbare Schicksal aller Oberhäuser, sich mit einem
suspensiven Veto begnügen zu müssen, gerade da, wo die demokratisierende Ent¬
wicklung sich Bahn gebrochen hat, der Ruf nach Gegenkräften ertönt.
Um sie zu entbinden, dafür ist allerdings eine bestimmte Form der ersten
Kammern, gewissermaßen eine innere Empfänglichkeit, erforderlich. Für Pairs-,
Lords- oder „Herren"sanscr, die Requisiten vergangener Verfassungsperioden, ist
heutzutage kein Platz mehr, wenigstens nicht in den Brennpunkten des konstitu¬
tionellen Lebens — insofern ist die obige Prophezeiung, wenn man den Ton auf
das Wort „Oberhaus" legt, richtig. Zeitgemäß umgewandelt jedoch, werden sie
immer noch ihren Mann stehen. Wenn wir in der Praxis noch keine Beispiele
hatten, müßte angesichts der Neuerungen bei der zweiten Kammer mit der ersten
etwas Neues erfunden werden. Aber so liegen die Dinge ja gar nicht. Das nach
unserer Ansicht zu erstrebende Gleichgewicht der beiden Parlamente ist bereits in
einer Verfassung lox lata, wie der Jurist sagt, nämlich in der schwedischen. Die
dortige „Reichstagsordnung" vom Jahre 1866 verkündet gleich in ihrem ersten
Paragraphen für beide Kammern „dieselbe Zuständigkeit und Macht", und dieses
statische Verhältnis, das man ja für gewöhnlich auch in der politischen Dynamik
nur als einen Spezialfall ansieht, hat sich doch nach neuestem einheimischen Urteil
in natürlichen Schwankungen bis zur Gegenwart gehalten.**)
Daß eine solche Parität wohl denkbar ist, beweisen gerade auch die besorgten
Stimmen der Gegner einer lebenskräftigen ersten Kammer. Erwartet man doch
in diesen Kreisen eine „Aushöhlung und Entwertung" des gleichen Wahlrechts
durch „llberwucherung der Kautelen und Kompensationen", wozu „insonderheit"
die Herrenhausreform gerechnet wird (Preuß), und wirft der anderen Seite vor,
durch die hier angebrachten „Sicherungen", eine „demokratisch umgestaltete Volks-
kammer möglichst unschädlich und einflußlos" machen und den..Haupteinfluß" in
die erste Kammer legen zu wollen („Frankfurter Zeitung" vom 19. Januar, zweites
Morgenblatt).
Ohne Übertreibung und Verdächtigung geht es dabei natürlich nicht ab.
Das letztere besorgt Herr Preuß. Man werde, so schreibt er, bei den Gegnern
der Wahlrechtsgleichheil alsbald einen wahren Feuereifer für eine höchst volkstüm¬
liche Umgestaltung, sozusagen für eine Radikalisierung des Herrenhauses entbrennen
sehen, aber hoffentlich ließe sich niemand über den eigentlichen Zweck der Übung
täuschen. Diese Methode der Beweisführung ist bedenklich, denn man kann den
Spieß auch umkehren. Wenn jetzt plötzlich der beredte Anwalt des „Volksstaates"
eine „volkstümliche Umgestaltung" gerade an dieser Stelle des Verfassungsbaues
en baZatello behandelt, so dürfte der „Zweck dieser Übung" gleichfalls klar sein.
Wie unklug noch dazu eine solche zur Schau getragene Geringschätzung der Herren¬
hausfrage ist, läßt sich daran ermessen, daß alle bei der Wahlkammer erreichten Fort¬
schritte „durch eine Verfestigung des Herrenhauses mehr als ausgeglichen, ja zu-
rückgednmmt" werden können, wie Theodor Heuß, ein Parteikollege von Preuß,
ganz richtig erkennt. Die „Frankfurter Zeitung" aber krönt ihre natürlich wohl¬
berechneten Übertreibungen durch die Bemerkung, in Wirklichkeit würde Krone und
Negierung einem so gestärkten, unauflösbaren Herrenhause gegenüber einen weit
geringeren Einfluß haben, und nur die Stätte der Parlamentarisierung verlegt.
Man versteht die Stimmung des betrübten Lohgerbers, dem die Felle weg¬
schwimmen, denn allerdings „schließt" das von uns zur Nachahmung empfohlene
schwedische System des interparlamentarischen Gleichgewichts einen „speziellen
Unterhausparlamentarismus aus" (Kjellen a. a. O.).
Was in Wirklichkeit erstrebt werden muß und, was wir hier vertreten, ist
natürlich keine Lahmlegung der zweiten zugunsten einer übermächtigen ersten
Kammer — das liegt ja schon in dem Begriff der „Sicherung", sondern ein
Ausgleich der Kräfte von rechts und links, von Masfenatom und Persönlichkeit
auf dem gerade der sichere Gang der Staatsmaschine beruht. Die „aristokratische"
soll der demokratischen Vertretung nicht den Wind aus den Segeln nehmen, sie
soll aber auch nicht selber in der Flanke liegen bleiben oder als ein bloßer Ballast
des Staatsschiffes ihr Dasein in Dunkel und Vergessenheit führen. Daher sind
wir in der Tat für eine „höchst volkstümliche Umgestaltung" dieser Versammlung,
was natürlich ganz etwas anderes als ihre „Radikalisierung" bedeutet — weil
wir im Gegensatze zu Preuß glauben, daß gerade sie als ein „Rat der Führer
die wahrere und bessere Volksvertretung sein möchte und müßte gegenüber dein
Massenurteil der Urnen und ihrer Zettelmyriaden", wie Kurt Breysig neulich im
„Tag" es ausdrückte. Denn wir setzen voraus, daß auch noch in unserer demo¬
kratisierten Zeit die Elite höchster Leistung in Können und Wissen samt Gebiets-
und Besitzaristokratie neben dem nivellierten Durchschnitt ihren Platz behauptet,
ja auf den unberechenbaren Faktor der „Volks"Stimmung zu Zeiten der Über¬
sättigung des Gleichheitsdogmas eine überraschend'e Anziehungskraft ausüben kann.
Daß unser heutiges Herrenhaus jene Auslese nur sehr einseitig darstellt und in¬
folgedessen auch dieser Anziehungskraft ermangelt, können wir nicht leugnen.
Wie aber soll das Ziel erreicht werden, auch dieses Parlament fest „im
Volksleben zu verankern" (Reichskanzler Graf Hertling)? Die Schwierigkeit wird
deutlich, wenn man bedenkt, daß es hier den Ausgleich sehr verschiedener Kräfte
und Rücksichten gilt. Schon jene „Elite" ist ja doch alles andere als ein ein¬
heitlicher Begriff. Dies Scheinelement heterogenster Bestandteile soll nun mit
zwei weiteren, Krone und „Volk", die Verbindung eingehen. Wahrlich das
Problem des Steins der Weisen I
In der Frage der staatsrechtlichen Entstehung der ersten Kammer — ob
Wahl (wie beim Vorbild des schwedischen Senats), Berufung durch die Krone
oder eine Art Kooptation — hat sich die Kommission für die zweite Möglichkeit
entschieden, gleich ein Beispiel für den Zwang zum Kompromiß in unserem durch¬
aus auf historische Realitäten gestellten Staatswesen. An ihm scheitert auch, ob-
wohl die Methode der Berufung des einen Staatsorgans durch das andere sicher
ihre Schattenseiten hat. der an sich ins Schwarze treffende Vorschlag von
Breysig, aus einer Urzelle von dreißig Notabeln im Wege des Nobelpreisträger-
Verfahrens die erste Versammlung zu bilden und diese dann durch Bestallung
wahlverwandter Nachfolger aus dem eigenen Schoße heraus sich fortpflanzen
zu lassen.
Ferner ihre Zusammensetzung: trotz Spott und Kleinmut gegenüber der
Schwierigkeit der Aufgabe wird hier der seit Beginn konstitutionellen Lebens er¬
örterte und empfohlene Gedanke einer bernfsständischen Vertretung sich Bahn
brechen. In ihm liegt nun einmal die notwendige organische Ergänzung zu dem
zahlenmäßig-mechanisch aufgebauten Massenparlament verborgen. Der stichhaltige
Einwand lautet hier nicht: „Wie senden wir die in Betracht kommenden Persön¬
lichkeiten an diese Stätte?", sondern „Wie senden wir in den Betreffenden wirkliche
Persönlichkeiten dorthin?" Um eine Senkung des politischen Niveaus der Ver-
sammlung zu verhüten, genügte es, ihr die „Reize einer politischen Arena, einer
von allen politischen Strömungen durchfluteten Körperschaft" (Meinecke) zu geben.
Was uns wieder zu der grundsätzlichen Forderung zurückführt, beide Kammern
mit gleichen Rechten auszustatten, denn damit wird auch die Anziehungskraft für
staatsmännische Talente an beiden Orten gleich stark. Im übrigen — denn das
„Politische" ist ja nur ein Bruchteil des Persönlichen — muß man hoffen, daß
Monarch und Präsmtationskörper die nicht leichte Aufgabe erfüllen, die „durch
Anlage und Leistung Berufenen, die in Wahrheit Stärksten und Zeugerischsten"
(Breysig) ans der verwirrenden Fülle der Bewerber auszusondern.
Der Idealist wird leider unerfüllte Wünsche sehen, Auch hier hängen eben
die Schwergewichte der Tradition und hart im Raume sich stoßender Sachen an
seinen Schwingen und nötigen ihn zu niedrigerem Fluge. Aber selbst die Vor¬
frage einer berufsständischen Vertretung überhaupt ist ja im Regierungsentwurf
erst in ihren Anfängen gelöst. Noch gibt es Lücken und Unebenheiten in Menge.
Eines sei hervorgehoben, weil es weitere Kreise zieht und im engen Zusammen¬
hang mit dem Grundgedanken dieser Zeilen steht. Die verschwindend geringe
Vertretung der rein geistigen Aristokratie neben Adel, Landwirtschaft und Erwerbs¬
ständen ist nicht nur ein, sich bedauerlich und bedenklich, sondern auch wegen der
Rückwirkung auf die Öffentlichkeit. Weichen doch gerade von jenem Pol alle
Verdächtigungen heimlicher Klasseninteressen zurück, während die in der Masse
wurzelnden Gefühle der Achtung und Ehrfurcht vor reinem Können und Wissen
als solchem aufs stärkste angezogen werden, wodurch der für ein gesundes
Staatsleben erforderliche Machtausgleich der politischen Organe befördert wird.
Sollen die Mitglieder der zukünftigen ersten Kammer auf Lebenszeit oder
mit befristeter Amtsdauer berufen werden? In ihrem Interesse muß man das
zweite fordern, wie es in der Kommission Nationalliberale, Zentrum und Fort¬
schritt getan haben. Nur durch ständige Blutauffrischung, die ja ein Wieder¬
erscheinen bewährter Mitglieder nicht auszuschließen braucht, kann das Odium
der „Vergreisung", der „Berufsfeyler aller ersten Kammern der Welt", vermieden,
die Institution vor der ihr freundlichst zugedachten Rolle eines „Alte-Herrenhauses"
(siehe oben) bewahrt werden.
Wenn wir endlich noch die materiell-gesetzliche Stellung der neuen Schöpfung
von unserem Standpunkt ins Auge fassen, so erscheint zweierlei bedeutsam: einmal
die Möglichkeit gemeinsamer Abstimmung beider Kammern. Ihr Zweck leuchtet
nach dem Vorhergehenden ohne weiteres ein. Schweden kennt diesen Modus schon
seit 1809, die deutschen Südstaaten haben ihn vor hundert Jahren eingeführt,
mit Recht wird er jetzt verschiedentlich in der Literatur zum Vorschlag gebracht.
Voraussetzung dafür ist strenggenommen eine möglichst gleichmäßige Mitgliederzahl
in beiden Häusern, was die jetzt gültigen schwedischen Bestimmungen (1. Kammer
150, 2. Kammer 230 Stimmen) z. B. nicht beobachten. Die bei uns beabsichtigten
Stärkeziffern 510:445) würden eher in umgekehrter Richtung wirken.
Die Maßregel könnte an sich für verschiedenste Gelegenheiten, sobald es sich
um entscheidende Entschlüsse handelt (z. B. Verfassungsänderungen) zur Anwendung
kommen. In den oben herangezogenen Ländern gilt sie insbesondere bei der
Verabschiedung des Staatshaushalts. Für Preußen lehnte der Finanzminister
diese Übung als eine Beeinträchtigung des Budgetrechts des Abgeordnetenhauses,
wie sie „durch die Entwicklung der Verhältnisse nach Meinung der StaatsregiNung
zweifellos nicht geboten" sei, ab. Auch das sogenannte Amendierungsrecht zum
Etat wird dem Herrenhause nach wie vor entzogen, zum Teil mit der gleichen
Begründung wie 1819 von feiten der württembergischen Regierung. Nur in ganz
bestimmten Fällen (Veränderung an Ordinarien der früheren Staatshaushalte)
soll ihm „eine gewisse Mitwirkung eingeräumt" werden. Es fragt sich doch sehr,
ob das genügt, und ob nicht gerade „durch die Entwicklung der Verhältnisse"
wirksamere Maßregeln „geboten" sind. (Vgl. auch A. Hillebrcmdt im „Tag" vom
18. Dezember 1917.) Wir möchten jedenfalls auch hier an dem Grundsatz gleicher
Rechte hüben und drüben festhalten auf die Gefahr hin, einen Sturm der Ent¬
rüstung zu erregen, da es sich um das seit alters geheiligte Steuervorrecht der
„Unterhäuser" handelt. Andernfalls könnte aus dem „Privilegium vcliosum".
von dem der Minister sprach, leicht ein „Privilegium pernieiosum" werden!
Die Welt des Verfassungsrechts heischt zu allen Zeiten starke „Opfer des
Intellekts", sie hat aber auch von jeher wie zur Entschädigung unbegrenzte Mög¬
lichkeiten. Man denke nur an die englischen Konventionalregeln und an das, was
ein französischer Historiker die „ce>n3titution reale" neben der „LonLtitution legale"
genannt halt Reformen sind überdies eben leine Revolutionen. Freilich die
Grundlagen können rationaler Stützen nicht entbehren. Hier bestehen sie, um es
nochmal auszusprechen, in der politischen „Verbindungsbahn" beider Kammern,
wie unsere skandinavischen Stammesbrüder sagen. Die aber D vorhanden bei
auf Gleichachtung beruhender Synthese des organischen und mechanischen, Volks¬
willens, in der jenem die Rolle haltender Klammern am gleichförmigen Ziegelbau
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterselde West, — Manuskriptsendungen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
An die Schriftlcituug der Grcnzlwtcn in Berlin SW 11, Tempellioser Ufer »Sa.
Fernsprecher des Herausgebers: Amt Lichterfeld- 498, d°S Verlags und der Schriftleitimg: Amt Lüyow WIU,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in, b> H. in Berlin LV II, Tempelhofer Ufer Ms,
Druck: „Der R-ichsbote" B, in. S. H. in B-ritu LVV 11, Dessauer Strase W/37,
! er nun im vierten Jahre tobende Weltkrieg hat eine Tatsache ins
grellste Licht gestellt: das Deutsche Reich kann sich in der Welt nicht
s behaupten ohne eine starke Landwirtschaft. Dem denkenden Fach¬
manne ist diese Wahrheit nicht neu. Aber wir müssen uns klar
sein darüber: trotz der Erkenntnis von der ungeheuren Leistung der
Landwirtschaft, die heute selbst der böseste Wille nicht ableugnen kann, ist doch in
den weitesten Volksschichten — gebildeten wie ungebildeten — nicht die Spur von
Verständnis für das Wesen und die Lebensbedingungen einer leistungsfähigen und
leistungsfrohen Landwirtschaft vorhanden. Die bisherigen Erfahrungen berechtigen
wahrhaftig nicht zu Hoffnungen, sondern zu den schlimmsten Befürchtungen. Ich
will von all den Verordnungen schweigen, die jeden Auftrieb der Erzeugungskraft
verhindern, denn diese widersinnigsten Verwirrungen unter Kricgsverhältnissen
wieder zu lösen, ist wohl keinem menschlichen Verstände gegeben. Hervorheben
möchte ich aber die unselige Art, wie die politischen Tagesgrößen in der Friedens¬
frage unser Volk mit ethischen Phrasen über allgemeine Menschheitsziele und Selbst¬
bestimmungsrecht der - nicht von England beherrschten — Völker füttern, ohne
much nur mit einem Worte unseres eigenen Selbfibestimmungsrechtes zu gedenken,
das solange völlig wertlos bleibt, als unsere Landwirtschaft nicht in die Lage
versetzt wird, unsere Ernährung unter allen Umständen zu sichern. Diesen Ge¬
danken in weitere Kreise zu tragen und, sie zur Mitarbeit zu veranlassen, soll der
Zweck dieses Aufsatzes sein.
Seit drei Jahrzehnten ist die Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung der
Landwirtschaft für den Bestand unseres Staatswesens die ideale Triebkraft der
unablässigen Arbeit unserer Berufsvertretungen gewesen. Sie hat uns hinaus¬
gehoben über die Gehässigkeit böswilliger und den Widerstand unwissender Menschen,
über die Gleichgültigkeit der großen urteilslosen Masse. Aber diese Gegenwirkungen
haben den Erfolg unserer Arbeit doch gewaltig geschmälert. Hätte unsere Berufs¬
arbeit in Regierungskreisen und weitesten Volksschichten volles Verständnis ge¬
funden, so hätte dieser Krieg unser Staatswesen nicht überraschen können bei
völligem Mangel eines wirtschaftlichen Mobilmachungsplanes und einer bewußten
Vorratsaufspeicherung. Ich erinnere nur an das Durcheinander der Ernte 1914
und den vor vielen Jahren mit Hohnlachen abgewiesenen „Antrag Kanitz". Bei
einem Erntewetter wie im Jahre 1912 wäre durch diese beiden Unterlassungssünden
der Krieg glatt zu unseren Ungunsten entschieden worden. Was wir in dieser
langen Zeitspanne wirklich an Verbesserungen der Leistungsfähigkeit der Landwirt¬
schaft erreichten, geschah durchweg in erbitterten Kämpfen. Bei jeder Forderung
mühten wir uns große Abstriche gefallen lassen unter der Kennzeichnung „agra¬
risches Geldbeutelinteresse" und obendrein den systematisch erzeugten und geschulten
Haß weitester Kreise in Kauf nehmen, denen bis auf den heutigen Tag gänzlich
falsche Vorstellungen von dem Gewinn der Landwirtschaft gemacht werden. Tat¬
sächlich hat sich in der ganzen Zeit dieses mühsamen Aufstieges der Bargewinn
nach Überwindung der verlustreichen Caprivizeit im Vergleich zu anderen Berufen
in recht mäßigen Grenzen gehalten. Aber wenn er so groß gewesen wäre, wie
man die Volksmassen glauben machte, so hätte man doch ehrlich anerkennen sollen,
daß in jedem Berufe Leistungssteigerung ohne Gewinnsteigerung undenkbar ist.
Wenn man der Bedeutung der Landwirtschaft gerecht werden will, so muß man
weiter auch die durch den Krieg bewiesene Tatsache hervorheben, daß die nur durch
großen Fleiß, Sorgfalt und durchaus nicht etwa geringe Verstand es kraft zu er¬
reichende Wertsteigerung der bewirtschafteten Gegenstände in keinem anderen Berufe
so im Interesse der Volksgesamtheit liegt und ihr wieder zugute kommt wie in der
Landwirtschaft. Es ist also diese Wahrheit festzuhalten: der Ausbruch des Krieges
fand unseren Staat zwar im Besitze der leistungsfähigsten Landwirtschaft der Welt;
durch allgemeinen Verständnismangel für ihre staatliche Bedeutung hatte man
aber versäumt, diese Leistungsfähigkeit auch für den Kriegsfall sicherzustellen.
Was geschah nun bei Ausbruch des Krieges, um diese Versäumnis wieder
gut zu machen? Die Antwort ist verblüffend, aber richtig: es geschah von der
Negierung nichts — wirklich nichts! Eine zu harte oder auch nur genügend harte
Kennzeichnung dieses Verhaltens gibt es nicht. Jeder ernsthafte Fachmann ver¬
zehrte sich in quälender Sorge, unsere Berufsvertretungen machten Vorschläge über
Verbrauchsfestlegung. Düngerbeschaffung usw., das Volk verschwendete in wahn¬
witziger Weise, die Regierung — schwieg! Für lange, kostbare Zeit blieben die
allmählich erscheinenden Mahnungen „Wer Brodgetreide verfüttert, versündigt sich
am Vaterlande" die einzige Tat. Zu ihr gesellten sich dann die so wunderbar zu
Herzen gehenden Auslassungen des Herrn Reichskanzlers über den herrlichen Geist
und die Selbstbesinnung des deutschen Volkes, die ihn von Zwangsmaßregeln in
Ernährungsfragen Abstand nehmen ließe, usw. Ja, traf denn diese Rederei den
Kern der Sache? Hätte man unseren Beruf nicht genau so mit allen Mitteln
fördern müssen wie die Rüstungsindustrie? Und was geschah — resp, geschah
nicht? Ich will nur ganz kurz die Tatsachen streifen. Die Landwirtschaft
hatte in bewußtem Opferwillen weitgehende Höchstpreisfestsetzung, Beschlagnahme
des Getreides, Rationierung und vieles andere mehr vorgeschlagen. Nachdem man
drei bis sieben Monate völlig untätig und ratlos zugeschaut hatte, verkehrte man
durch planlose Einzelbeschränkungen Vernunft in Unsinn. Man zerriß jeglichen
vernünftigen und^ natürlichen Zusammenhang, hielt in dem großen Wirtschafts¬
getriebe einzelne Räder an und ließ die anderen weiterschnurren. Die ganze
Düngerbeschaffungsfrage wurde als Nebensache behandelt; wenn ich nicht irre,
wurde bis zum Herbst 1916 jede Geldbewilligung aus Staatsmitteln zu diesem
Zwecke für unnötig gehalten. So steuert man seit drei Jahren ins Uferlose hinaus,
weil an leitender Stelle in kritischer Zeit das rechte Verständnis gefehlt hat. Auch
diese Zeit schrecklicher Prüfung kann gutes bringen, wenn sie die Allgemeinheit
und unsere Regierung zu richtiger Erkenntnis erzogen hat. Ob das der Fall ist,
wird sich in der Art des Friedens ausdrücken, den wir erreichen.
Gewisse Kreise suchen nun in weiten Volksschichten immer wieder den Glauben
zu erwecken, wenn wir nur erst Frieden hätten, so würde das ganze Wirtschafts¬
leben von selbst bald wieder in die altgewohnten Bahnen von 1914 zurückgleiten.
Die Art des Friedens sei nicht allzu wichtig. Arbeitskraft und -willen des deut-
schen Volkes würden uns bei Erreichung des sogenannten statug eme> hüte schon
baldigst wieder einen erträglichen und sicheren Stand in der Welt verbürgen.
Dieser Glaube ist ungeheuer leichtsinnig. Schon bei ziemlich oberflächlicher Über¬
legung wird jedermann zugeben müssen, daß die Rettung unserer alten Grenzen
nach diesen gewaltigen Opfern an Gut und Blut nicht schlechthin unseren früheren
Stand in der Umwelt bedeutet. Es ist ein großer Unterschied, ob ein kapital¬
kräftiger Mann in vollster Arbeitskraft auf nahezu schuldenfreien Hofe sitzt, oder
ob er unter den Nachwirkungen schwerer Krankheit leidend vier Jahre später
zwar denselben Hof, aber heruntergewirtschaftet, mit einer in vielen Generationen
untilgbaren Schuld belastet, wieder übernehmen soll. Wenn er selbst auch mit
übermenschlicher Tatkraft und Entbehrungswillen die Sache angeht, seine Arbeits-
leute werden über die kargen Zeiten murren und knurren und seine Lage unhaltbar
machen, bis er es als eins Befreiung ansieht, sich mit Haus und Hof in die Ab¬
hängigkeit von seinem früheren, kräftiger gebliebenen Feinde zu begeben und ihm
zu fröhnen. Genau so ist beim solus quo sudo unsere Weltlage, und unser Ge¬
schick wird durchaus nicht erträglicher dadurch, daß unsere Feind-Nachbarhöfe
Frankreich, Italien, Portugal usw. dem großen Bauernleger England schon etwas
früher verfallen sind. Denn eine Tatsache gilt es stets vor Augen zu behalten:
England ist Sieger, wenn wir es nicht sind. Was dann unser Schicksal ist, können
nach den bisherigen Erlebnissen nur überharmlose verkennen. Die Wahrheit, daß
auch England ungeheure Verluste an Gut und Blut — wie noch nie zuvor —
hat erdulden müssen und deshalb recht friedeusbedürftig und zum Teil auch -sehn¬
süchtig ist, ändert daran gar nichts. Sie beweist nur, daß es sich in der Ein¬
schätzung unserer wirtschaftlichen und innerpolitischen Verhältnisse diesmal ver¬
rechnet hatte. Gerade deswegen können wir überzeugt sein, daß bei der nächsten
Gelegenheit solche Rechenfehler nicht wieder unterlaufen werden. Den bisherigen
Verlusten Englands steht aber der ungeheure Vorteil völliger russischer und fran¬
zösischer Ohnmacht gegenüber, — von den anderen Völkern gar nicht zu reden.
Diese Ohnmacht seiner heutigen Bundesgenossen ist ein hundertjähriges Ziel Eng-
lands, das nur seiner Krönung harrt durch unsere Vernichtung. Je schneller diese
erreicht wird, desto besser, denn ein recht augenfälliger Erfolg ist immer erwünscht.
Ungünstigeren Falles genügt es aber auch, wenn wir in der engen Nordseebucht
nach englischem Belieben eingeschlossen werden können. Unser trotz der verhäng¬
nisvollen Verspätung doch noch erfolgreiche U-Bootkrieg wäre ohne die Stützpunkte
der flandrischen Küste nicht denkbar. Nur um eigene Ziele zu fördern, opferte
England in den Flandernschlachten Hunderttausende, nicht etwa um den freund-
lichen Dank des „belgischen Reiches". Was durch Waffengewalt nicht zu erzwingen
ist, soll eine geschickte Feder erreichen. Wer will dann England hindern, jederzeit
unseren Seeverkehr wieder einzusperren? Wilsons „Friedens"rede, gibt da ganz
hübsche Ausblicke. Um Gründe zu solchen Zwangsmaßnahmen wird man nie
verlegen sein.
Wer heute noch an eine gerechte internationale Entscheidung irgendeiner
unserer Lebensfragen glaubt, der mag ja ein sehr guter Mensch sein, aber ein
Volksschicksal soll man doch auf seine Urteilskraft lieber nicht gründen. Die rest¬
lose Teilung der ganzen Welt in eine englische und eine amerikanische Interessen¬
sphäre ist keine Utopie. Die Möglichkeit, daß diese beiden sich in hundert oder
mehr Jahren mal wirtschaftlich oder mit den Waffen erbittert bekämpfen werden,
die Sicherheit, daß der dann Obsiegende auch dereinst den Verfall erleben wird,
ändert an unserer Not und an unseren Aufgaben gar nichts. Wer darf daran
zweifeln, daß zur Aufrichtung der angelsächsischen Weltherrschaft wie jetzt, so auch
in Zukunft, jedes Mittel recht sein wird? Dieser Krieg ist keine Affekthandlung,
sondern ein zehn Jahre lang kaltblütig vorbereiteter Mord. Zorn kann verrauchen,
aber dieser Haß und. Mordsinn bleibt, bestehen und wird uns anspringen, sobald
er uns schwach glaubt. Diese Schwäche ist da und wird ins Ungeheure wachsen,
sobald wir irgendeinen Punkt unserer Zukunft einstellen auf den guten Willen
unserer heutigen Feinde.
Auch günstigsten Falles wird uns der so heiß ersehnte Frieden vor gewaltige
Rätsel stellen. Es muß immer wieder betont werden: in unserer ärgsten Not —
in der Ernährungsfrage — bringt uns der Frieden an sich keine durchschlagende
Hilfe. Dazu ist die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft viel zu weit horabge-
drückt, und mit einer den Ausfall nur annähernd ausgleichenden Einfuhr kann
nicht gerechnet werden. Das verbietet erstens die allgemein entstandene Knappheit,
zweitens der allgemeine Frachtraummangel, drittens unser Valntastand. Von dem
außerdem noch vorhandenen Willen unserer Feinde, daS Deutsche Reich über den
Krieg hinaus in jeder Hinsicht — also auch in der Ernährung — knapp zu halten,
wollen wir gar nicht reden. Auf dem bisherigen Wege der stets härteren Erfassung
und Verteilung der landwirtschaftlichen Erzeugung ohne ihre planvolle Unterstützung
steuern wir bei dem wachsenden Unmut der darbenden Bevölkerung in furchtbare
Zustände. Bestimmend sür alle Maßnahmen auf diesem Gebiet ist bis auf den
heutigen Tag die Furcht vor der bedenken- und grenzenlosen Aufreizungsarbeit
der Sozialdemokratie und die Gewißheit, daß der bei weitem größte Teil der
landwirtschaftlichen Bevölkerung unweigerlich leistet, was in seinen Kräften steht.
Aber alles hat seine Begrenzung durch den natürlichen Zusammenhang der Dinge;
der läßt sich auf die Dauer nicht ungestraft durchbrechen. Das ist z. B. in ver¬
hängnisvollster Weise geschehen durch die Höchstpreisfestsetzungen. Bei kurzer
Kriegsdauer und sorgfältigster Durchdenkung hätten sie segensreich wirken können.
Durch diese lange Dauer und besonders durch die planlose, willkürliche Art, mit
der man in dieser ungeheuer schwierigen Sache die ersten Schritte tat, sind sie der
vollendete Totschlag jeder Erzeugung, bei der anfänglich völligen Beschränkung
aus die Landwirtschaft natürlich in erster Linie der Totschlag dieser geworden.
Über die Bitterkeit dieser Tatsache helfen auch die schönsten Schlagwörter von
„agrarischer Begehrlichkeit", „Geldbeutelpatriotismus" usw. nicht hinweg. Hier
folgt eben wie überall mit Naturnotwendigkeit der Ursache die Wirkung. Dazu
eine Parallele: man denke sich die Wirkung einer Festlegung der Löhne bei un¬
behinderter Erhöhung der Arbeitsleistung und Lebensbedingungen auf irgendeine
Arbeiterschaft, sie sei die pflichteifrigste und entbehrungswilligste der ganzen Welt!
Die Erzeugnispreise sind aber nichts anderes als die Entlohnung des Unternehmers.
Den Einwand, ohne Festlegung der Erzeugnispreise wären diese ins Unerschwing¬
liche gestiegen, halte ich für unrichtig. Gegen eine in der ersten Zeit solcher
Ereignisse denkbare, sich aus irgendeinem Gebiete aufloderte Kriegspanik wäre
ja das Mittel vorübergehender Preisfestlegung recht wohl anwendbar gewesen.
Ein Rückblick auf jene Zeit zeigt aber deutlich, daß bei der schwächlichen Rat¬
losigkeit unserer verantwortlichen Stellen gegenüber der damaligen verschwenderischen
Sorglosigkeit des Volkes eine recht beträchtliche Erhöhung der Getreide- und
Viehpreise usw. außerordentlich heilsam hätte wirken können. Angebot und Nach¬
frage — die einzig natürlichen Preisbildungsfaktoren — bewegten sich den Um¬
ständen entsprechend in durchaus angemessenen Grenzen. Wucher und Schleich¬
handel hätten sicherlich auch kein reicheres Betätigungsfeld gefunden, das allgemeine
Rechtlichkeitsgefühl hätte aber nicht solchen Zusammenbruch erlebt. Nötig war
allein die Sicherstellung der Vorräte, Verbrauchsfestlegung und Förderung der
Erzeugung. Diese letztere war dann einerseits gesichert durch das selbstverständliche
Ansteigen der Preise, das wiederum in genügender Weise gebremst worden wäre
durch die beiden ersteren. Hauptbedingung für die Erzeugung war natürlich die
gröblich und unbegreiflicherweise vernachlässigte Stickstoffherstellung, und ferner
hätte ein großer Anreiz geschaffen werden können durch eine Abgabefestlegung
aller Erzeugnisse aus die Ackereinheit, ähnlich, wie man es jetzt mit Erfolg
beim Olfruchtbau versucht überschießende Mengen konnten ja nach Not¬
wendigkeit entweder der Wirtschaft belassen oder unter Zuschlag eines Prämien¬
satzes herangezogen werden. Auch stärkere Berücksichtigung von Reklamationen
auf dieser Grundlage hätte erstrebt werden müssen. Freilich wäre Wohl eine
Unterstützung deS kleinen und mittleren Beamten- und freien Mittelstandes hier
und da nötig geworden. Daß es dafür Wege gegeben hätte, zeigen die billigen
^ und unnützen — Fleischzulagen des vergangenen Sommers. Zu all diesem
wäre sicherlich viel Arbeit, Mühe und Geschick nötig gewesen, aber die haben wir
ja auch für die unglaublichsten Irrwege nicht gescheut.
Die Entwirrung des durch unsere willkürliche Erstarrung entstandenen
Hexenknäuels wird uns schwere Erschütterungen bringen. Ich nenne da nur die
Ausgleichung unseres gesamten Wirtschaftslebens mit dem Weltmarkte, wobei man
sich zu vergegenwärtigen hat, daß unser Brotgetreidepreis zur Zeit nur etwa
33 Prozent über Friedmsstand liegt, trotz unserer völligen Abgeschlossenheit, während
der Weltmarktpreis um. etwa 200 Prozent gestiegen ist. Der Unterschied wird
durch unsern Valutastand noch weiter ins ganz Unfaßbare gesteigert. Dieser
Valutastand ist übrigens ein sehr empfindlicher und beachtenswerter Gradmesser
für die Beurteilung unserer Haltung durch das neutrale Ausland. Seit dem
Eintritt Rumäniens in den Krieg haben alle starken Ereignisse — Eröffnung des
wirklichen Ubootkrieges, Siegfriedstellung, Riga usw. — einhaltend auf den Fall
unserer Valuta gewirkt, während alle die überreichlicher Gefühls- und Schwäche-
anwandlungen — sämtliche Auflagen des unwiderruflich einmaligen Friedens-
angebotes, die Friedensresolution, die Haase-, Scheidemann-, Erzberger-, Papst-,
Czernin-, Kühlmann-Expektorationen — unsere Valuta rasend sinken lassen. Das
enthüllt prächtige Aussichten für unsere Wirtschaftslage im Falle eines Schwäche-
friedens. Ich nenne ferner als große Friedensschwierigkeit die Jndustrielohnver-
Hältnisse und die damit zusammenhängende, dringend notwendige Regelung der
Arbeiter- und Lohnfrage zwischen Industrie und Landwirtschaft. Bei falscher
Lösung ist selbst die heutige, sehr verringerte Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft
nicht durchzuhalten. Wohlverstanden: diese Schwierigkeiten und verschiedenes
andere mehr werden auch beim denkbar günstigsten Frieden vor uns stehen. Ihre
Lösung wird bei einem Verzichtfrieden ganz unmöglich. Deshalb ist auch die dem
Ohre allerdings nicht angenehm klingende Bezeichnung „Hungerfrieden" leider —
leider durchaus kein hetzerisches Schlagwort, sondern bitterste Wahrheit. Ein nach
der Formel „keine Entschädigung, kein Landerwerb" zustandekommender Frieden
mit allen unseren Feinden würde uns in die Lohn- und Nahrungsverhältnisse
des reinen Agrarstaates zurückzwingen. Was das bedeutet bei unseren Menschen¬
massen und unserer bisherigen Entwicklung, kann sich jeder denkende Mensch selbst
ausmalen. Die Übergangszeit würde an Entbehrungen und inneren Kämpfen
die schlimmsten Befürchtungen übertreffen. Ob seine Verwirklichung mit Nußland
ein reines Glück bedeutet, ist zum mindesten sehr zweifelhaft. Vorläufig scheint
es jedenfalls, als ob wir irgendwelche praktischen Erfolge überhaupt nicht durch¬
setzen und uns mit moralischen Eroberungen begnügen wollten. Das klingt bitter,
für ganz zart besaitete Seelen vielleicht auch frivol, aber selbst mit den aller-
edelsten Empfindungen kommt man nicht an der bitterbösen Tatsache vorbei, daß
wir wirklich Hunger leiden und durch den Totschlag der landwirtschaftlichen Er-
zeugung für die nächsten Jahre noch kein Mittel wissen, ihn mit Befriedigung
zu stillen. Der Frieden mit Rußland kann bei geschickter Verhandlung in dieser
Hinsicht eine große Hilfe sein, bei gleichzeitigem sofortigen Friedensschluß mit
den anderen Gegnern wäre das hinfällig, weil Rußland dann wirtschaftlich mit
großer Wahrscheinlichkeit im Schlepptau der Westmächte bleiben würde. Im letz¬
teren Falle wäre auch eine sofortige Räumung Rumäniens unvermeidlich gewesen,
wofür wir sicherlich papierene Anwartschaft auf einen Teil der rumänischen Ernte,
bestimmt aber recht wenig Weizen in natura bekommen hätten. In diesem Zu¬
sammenhange einige kurze Worte über den großen Zukunftswechsel „Mitteleuropa",
der uns angeblich aus aller Not erlösen und auf ein bedingungslos freies Meer
— durch Flanderns Küste — verzichten lassen kann. Da fällt mir immer das
Wort des guten Onkels Bräsig ein: „es ginge wohl, aber es geht nicht".
Grundlage dieses Gedankens ist doch wohl ein aufrichtig und unverbrüchlich
in allen seinen Völkerteilen zu uns stehendes starkes Österreich und eine befriedi¬
gende Lösung der Balkanfragen. Ich glaube, die mancherlei unerfreulichen Ge¬
schehnisse der Kriegszeit und die in den letzten Tagen ganz besonders vernehm¬
lichen Schwingungen der bundesbrüderlichen Völker- und Diplomatenseelen lassen
unsere Nibelungentreue doch etwas zu einseitig erscheinen und rufen gar zu sehr
das Wort vom „Dank des Hauses Osterreich" ins Gedächtnis. Mir scheint, die
Begeisterung für deutsche Art ist im wallonischsten Wallonien auch nicht viel ge¬
ringer als bei Tschechen, Nuthenen, Polen usw. Auch die Balkanfragen scheinen durch
ihre Mannigfaltigkeit, ihre geographischen Beziehungen und durch den Zusammenhang
mit dem vielgliedrigen und auseinanderstrebenden Osterreich nicht gerade leichter lösbar
als die Flandernsrage. Um falschen Auslegungen dieser Worte vorzubeugen: sie
sollen durchaus nicht etwa den Unwert unseres Bündnisses dartun. Jeder ver-
nünftige Deutsche weiß, daß wir aufeinander angewiesen sind und was wir
Österreich zu danken haben. Aber die Gegenseitigkeit unseres Verhältnisses scheint
mir doch mal einer etwas deutlichen Betonung zu bedürfen. Wir glauben jeden¬
falls mit unseren Gegenleistungen nicht gerade im Rückstände zu sein. Die Vor¬
gänge in Osterreich zeigen eine große allgemeine Verständnislosigkeit nicht nur für
die deutschen, sondern auch für die gemeinsamen Lebensnotwendigkeiten. Ehe das
nicht von Grund aus anders wird, kann der überaus wertvolle Gedanke „Mittel¬
europa" leider nicht zu ersprießlicher Entfaltung kommen. Aber auch bei seiner —
noch in weiter Ferne liegenden — idealsten Verwirklichung kann er uns nicht auf
die praktische Freiheit der Meere — d. h. auch im Kriegsfalle — verzichten lassen.
Nun aber eine Betrachtung über die Grundlage unserer Ernährung vom
rein landwirtschaftlichen Fachstandpunkte aus.
Die Berufsvertretungen der Landwirtschaft haben stets behauptet, die Land¬
wirtschaft könne das deutsche Volk mit eigenen Erzeugnissen auskömmlich ernähren-
Das war durchaus richtig, zumal unsere Erzeugung noch steigerungsfähig war.
Es galt jedoch nur für die tatsächlich nötigen Nahrungsstoffe und -Mengen, Luxus¬
verbrauch und Jndustriebedürfnisse waren davon ausgeschlossen. Voraussetzung
war außerdem ein offener Weltmarkt zum Einkauf unseres Düngerbedarfs und
hochprotemhaltiger Futtermittel, die im Deutschen Reiche nicht erzeugt werden
können. Richtig war diese Entwickelung auf der Grundlage einer reichlichen Ein¬
fuhr durchaus nicht; sie hätte im Hinblick auf einen Kriegsfall sicherer gestaltet
werden müssen. Die Möglichkeit lag vor und die Landwirtschaft hat auch stets
den Grundsatz eines organischen Aufbaues unserer Ernährung auf eigener Kraft
energisch verfochten. Dazu wäre allerdings eine weit einfachere Lebenshaltung
in allen Volksschichten Bedingung gewesen. Gerade dieser Gedankengang hat uns
immer wieder den Vorwurf unverbesserlicher Rückständigkeit eingetragen. Der
Krieg war in dieser Frage ein unerbittlicher Schiedsrichter. Er hat die Berech¬
tigung unserer Sorgen und der „ewigen agrarischen Nörgeleien" über ungenügende
Förderung und Anteilnahme leider durch eine lange Reihe bitterer Tatsachen be¬
wiesen. Beachtenswert ist hierbei das Verhalten unserer wirtschaftspolitischen
Widersacher. Sie waren in den Friedensjahren redlich bemüht, die ins Ungemessene
und Unsinnige steigenden Nahrungs- und Luxusansprüche der Bevölkerung ja nicht
einzudämmen. Wir wurden dadurch unerbittlich auf den Weg übertriebener
tierischer Erzeugung ohne genügende Grundlage im eigenen Lande gedrängt. Man
hätte meinen sollen, mit Kriegsausbruch hätten jene Leute eine der vornehmsten
Aufgaben darin erblicken müssen, die nach ihrer Meinung so ungenügende Leistungs¬
kraft der Landwirtschaft mit allen Mitteln zu fördern. Das Gegenteil war und
ist der Fall. Alleiniges Ziel: restlose Erfassung und Verteilung aller Erzeugung.
Der drückende, aber bei gutem Willen und Verständnis recht wohl teilweise zu
mildernde Mangel an Kunstdünger, Futter, Gespann- und Leutekraft, der Tot¬
schlag der Schaffensfreude und Ehrlichkeit ist ohne Bedeutung. Und nun wollen
uns diese kurzsichtigen Gesellen, die seit dreißig Jahren alles daran gesetzt haben,
der Landwirtschaft den Hals zu brechen, durch einen Schwächefrieden vor die
Unmöglichkeit stellen, das Reich aus eigener Kraft zu ernähreul Dazu einige
Zahlen. Die Ackerfläche des Deutschen Reiches beträgt rund 26 Millionen Hektar.
Davon wurden 45 Prozent mit Früchten bebaut, die geradewegs der menschlichen
Ernährung dienten. 55 Prozent dienten zur Erhaltung des Viehbestandes — also
mittelbar zur menschlichen Ernährung. Zu diesen 55 Prozent kamen noch 8,5 Mil¬
lionen Hektar Naturwiesen und -Weiden. Die gesamte landwirtschaftlich nutzbare
Fläche beträgt also etwa 35 Millionen Hektar. Ausdehnung der Anbaufläche in
den bisherigen Grenzen ist nur noch möglich durch die zwar lohnende, aber zu¬
nächst Zeit, Geld und großen Arbeitsaufwand erfordernde Urbarmachung von
ungefähr 1 Million Hektar Moorland. Die noch übrige Fläche unserer Moore
liegt hauptsächlich klimatisch unbrauchbar. Unser Bestand an Forsten darf aus
klimatischen Rücksichten nicht verkleinert werden, höchstens kämen kleine, unbe¬
deutende Verschiebungen von Forst- und Ackerkultur in Frage. Für diese Arbeiten
hatte man zu Friedenszeiten im Volke keinen Sinn und im Staatshaushalt kein
Geld. Es war doch „rationeller", fehlende Erzeugnisse „billiger" im Auslande
zu kaufen. Wir hatten dafür die Genugtuung, auch im Fleisch- und Bierverbrauch
an erster Stelle unter allen Völkern der Erde zu stehen. So lagen die Verhält¬
nisse 1913. Vergleichen wir damit die nächste Zukunft unter Zugrundelegung
unserer alten Grenzen. Unsere Gegner hatten sich in der Leistungsfähigkeit der
deutschen Landwirtschaft wohl mit am meisten getäuscht. Jetzt ist diese um 25 bis
30 Prozent herabgesetzt, und diesen Zustand dauernd zu machen, ist bei einem
schwächlichen Friedensschluß für sie nicht allzu schwer trotz schönster und feierlichster
Verträge.
Unser Verbrauch muß ja freilich nicht sofort wieder die alte Höhe erreichen,
denn wir haben auf allen Gebieten sparen gelernt, ober sobald die Sorglosigkeit
einiger Friedensjahre erst wieder da ist, wird man diese Sparsamkeit je eher je
lieber verabschieden. Ist das nicht möglich, so ist die Unzufriedenheit der Massen
da. Diese rege zu halten und zu steigern, wird genau wie früher wieder das
Ziel einer gewissen Presse sein.
Hat unser Getreidebau vor dem Kriege gerade noch für das Allernotwendigste
ausgereicht, so ist das bei der heutigen Schwächung ganz ausgeschlossen, und die
stetige Steigerung, mit der wir damals sicher rechnen konnten, ist für lange Jahre
unmöglich.
Bezüglich Stickstoff sind wir zwar unabhängig geworden, unsere Rohphos¬
phate müssen wir aber nach wie vor aus Nordafrika oder sonst über See beziehen.
Diese Zufuhr wird man mit allen Mitteln zu erschweren trachten: ihr Mangel
schädigt uns je länger je mehr ganz außerordentlich. Die unbedingt nötige Aus¬
dehnung und Ertragssteigerung des Hackfruchtbaues ist unmöglich, wenn wir nicht
Mittel und Wege finden, die Arbeiterfrage zu lösen. Durch den Wegfall der
polnischen Arbeiterschaft geht namentlich der Zuckerrübenbau sehr ungewissen Zeiten' '
entgegen. Am tollsten steht es mit der tierischen Erzeugung. Die Futtermittel,
die wir früher so „billig" aus dem Auslande bezogen, sind heute erstens nicht
mehr billig, zweitens braucht man sie zur Hebung der Erzeugung für eine Reihe
von Jahren im Auslande selbst, drittens wird man sie — wie alle landwirtschaft¬
lichen Bedürfnisse in Zukunft — so viel wie irgend möglich uns vorenthalten.
Wollen wir sie aber selber erzeugen, so fehlen uns dazu mindestens glatte zwei
Millionen Hektar Land. Außerdem haben wir fast unseren ganzen Wollebedarf
aus dem Auslande bezogen, zu dessen Erzeugung wir etwa 60 Millionen Schafe
halten müßten gegen die jetzige Zahl von 5 Millionen. Woher sollen wir auch
die noch füttern? Dazu kommt noch unser Bedarf von Ölfrüchten und Gespinsten,
der ungefähr 3 Millionen Hektar Land in Anspruch nehmen würde. Man über¬
denke diese Tatsachen nun mal recht gewissenhaft und dann ziehe man ehrfürchtig
den Hut vor der abgrundtiefen Weisheit gewisser Politiker, die auf der einen
Seite die Vergrößerung unserer Anbaufläche um etwa 6 Millionen Hektar, die
Vermehrung unserer Schafbestände auf das Zwölffache, eine fünffach stärkere Her¬
stellung von Phosphorsäuredüngemitteln als unbedingt nötig zugeben müssen, auf
der anderen Seite aber jede Möglichkeit dazu ausschalten. Wenn diese Leute
wirklich glauben sollten, für die Zukunft jeden blutigen Waffenkrieg verhindern zu
können, glauben sie auch den unblutigen Wirtschaftskrieg unmöglich machen zu
können? Ist nicht jeder Streik ein Wirtschaftskrieg im Kleinen? Und ist das
nicht gerade ihre beliebteste und gebilligte Waffe? Welchen anderen Schutz hätten
wir als unsere eigene Stärke? Das Schicksal unseres Volkes hängt davon ab,
ob uns der Weltkrieg nicht nur die Erkenntnis von der grundlegenden Bedeutung
der Landwirtschaft für unser Staatswesen vermittelt hat, sondern auch den Ent¬
schluß und die Möglichkeit, diese Landwirtschaft mit allen erdenklichen Mitteln zu
fördern.
Dazu ist nötig die denkbar umsichtigste Förderung unserer Berufstechnik und
-Wissenschaft, weitgehender Schutz unserer Landwirtschaft gegenüber billigeren Er¬
zeugungsbedingungen des Auslandes und als Grundlage — eine größere Land¬
stände. Wir brauchen Siedlungsland einfach, weil in den alten Grenzen für die
Zukunft dem wachsenden Volke nicht genügend Nahrung geschafft werden kann.
Das kann nur der Osten geben. Wie weit diese Möglichkeit schon versäumt ist,
wird ja die nächste Zukunft zeigen. Wir brauchen im Westen Land mit Erz¬
lagern, weil unsere Erzlager in etwa fünfzig Jahren abgebaut sein werden. Das
Erz aber brauchen wir — auch zu unserer Ernährung, denn seine Verhüllung
liefert der Landwirtschaft einen großen Teil des Phosphorsüurebedarfes und die
Ackerbaumaschinen. Wir brauchen die militärische Beherrschung von Flanderns
Küste, denn nur sie sichert uns den ruhigen Besitz unseres Industriegebietes und
die Offenhaltung freien Seeweges. Wir brauchen diesen freien Seeweg, denn
ohne ihn sind unsere Kolonien, die wir zur Erzeugung unserer Überseebedürfnisse
nicht entbehren können, in jedem späteren Kriege genau so wertlos wie in diesem.
Kann unsere Landwirtschaft die Aufgabe der Ernährung des Volkes nicht erfüllen,
so wird uns die bittere Not in nicht ferner Zeit zur Verzweiflungstat eines neuen
Krieges zwingen, wenn wir es nicht vorziehen, ohrie Kampf von Englands Gnade
,zu leben. Und solcher Krieg muß dann enden mit der Deutschen Vernichtung.
"Deshalb darf uns kein Opfer — weder Hunger noch Tod — an der Erreichung
unseres Zieles hindern. Dieser Krieg, dessen Beendigung wir ersehnen mit allen
Fasern unseres Herzens, bringt die Entscheidung, ob die Welt deutscher Ge¬
rechtigkeit und Ordnung folgen darf oder englischer Geldmacht sich unterwerfen muß.
Wir sind und wollen bleiben ein wachsendes Volk. Friedensbedingungen,
die nur Augenblicksforderungen knapp gerecht werden, sind ein Verbrechen an der
Volksgemeinschaft, auch wenn diese die Tragweite der Geschehnisse nicht überblicken
kann und deshalb diesen lässig und zum Teil widerstrebend der eigenen Sicherheit
gegenübersteht. Eine Ablehnung der obengenannten Forderungen aus sittlichen
Beweggründen ist ungerechtfertigt, denn wir waren zufrieden mit den alten
Grenzen und mit, der Möglichkeit das, was wir nicht selbst besaßen, ehrlich kaufen
zu können. Man nenne doch ein anderes Volk der Erde, welches bei gleichem
Wachstum und Kulturaufstieg ebenso bedingungslos trotz der längst viel zu engen
Grenzen nicht nur vor fremdem Eigentum, .sondern auch vor fremden Ansprüchen,
die oft keinerlei sittliche Berechtigung aufwiesen, zurückgetreten ist. Denken wir doch
zurück an die Augusttage von 1914, da in uns allen die Gewißheit loderte, einen
heiligen Krieg zu führen! Was hat uns seelisch so zermürbt, daß es uns un-
yeilig scheint, in Erkenntnis unseres Lebensrechtes zu unserer Lebenssicherheit das
behalten zu wollen, was wir mit dem Blute unserer Besten in grimmigster Not¬
wehr tausendfach überzahlt haben? Ist es das Mitleid mit denen, die im
Trommelfeuer stehen? — Die standen und sielen und stehen noch heute und siegen
morgen, — ohne unser Mitleid zu begehren. Aber unsere Treue fordern sie und
einen verschwindend kleinen Bruchteil ihrer eigenen Festigkeit. Nur das kann
ihnen den Beweis liefern, daß ihr Opfermut nicht Narrheit war. Oder ist's das
Mitleid mit all' denen, die darben müssen? Die einen darben, die anderen
bluten und wieder andere sterben. Das ist Volkes Not! Und über all' dem
Grausen muß stehen ein heiliger Opferwille und unverbrüchliches Pflichtbewußt¬
sein. Das ist Christentum und höchste Sittlichkeit der Tat. Keinem der tod¬
bereiten Männer, die in siegreicher Abwehr Feindesland betraten und die dortigen
Zustände schauten, hat das Gefühl gefehlt, daß deutsche Art berufen ist. der Welt
Aufstieg zu bringen. Weisen wir diese Berufung von uns, dann sind wir der
hohen Ausgabe auch nicht wert; dann sitzt der Wurm in uns trotz unserer Kraft.
Haben neunzehnhundert Jahre im Wechsel von deutscher Herrlichkeit und Not noch
nicht vermocht den Fluch seit Arnims Tagen, den todwürdigen Segestesgeist, zu
bannen, dann sind die Helden gefallen für eine Nation von Memmen und Schuften.
in 12. Bericht des Schweizerischen Elektrizitäts-Vereins wird in
einem französisch geschriebenen Artikel unter dem Titel: „Keponse
aux artioles parus äans Is presse Suisse an sujet ete 1'iniIuenLe
allöMÄncte ctans 1'inäustris elöLtroteLluuque Luisss" vom Ver¬
waltungsrat der Schweizer Bank für Eisenbahnen, Herrn Dr. MI.
E. Tissot in Basel, eine Zusammenstellung der in der Schweiz vor¬
handenen Kraftübertragungsanlagen sowie der Maschinen- und chemischen Fabriken
gegeben, in denen angeblich deutsches Kapital dominieren soll. Diese Behauptungen
waren von einem italienischen Blatte, „ViwItslianÄ", aufgestellt und von der „Inbune
nie Qenöve" kritiklos übernommen worden. So war behauptet worden, daß die
Allgemeine ElektrizitätS-Gesellschaft (Rathenau - Konzern) und die mit dieser ver¬
bundenen Banken in der Schweiz für sich 276000 ?S. Tag und Nacht hindurch
arbeiten lassen.
Die Schweizer wünschen nun durchaus neutral zu sein, auch in der An¬
wendung der in der Schweiz gewonnenen Kräfte, und deshalb bemüht sich Herr
Tissot in einer Aufstellung der vorhandenen Elektrizitätswerke, die für diese An¬
gelegenheit in Betracht kommen, und unter Erzählung ihrer Entstehung zu beweisen,
daß die Schweiz ihre Wohltaten gleichmäßig an die kriegführenden Mächte ver¬
teilt, und daß auch die Leitung durchaus in schweizer Händen liege.
Der von Tissot verfaßte Artikel ist augenscheinlich für eine Verbreitung in
den Ententeländern geschrieben. Er wird aber auch bei uns vielen willkommen
sein, einmal, weil man aus ihm sehen kann, wie groß die Bemühung der
Schweizer ist, ja so neutral als möglich zu sein, und das andere Mal, weil er
eine Kenntnis der Anteilnahme deutschen und französischen Kapitals an schweizer
Werken gibt, die uns jetzt sehr interessant ist. Daß uns die Mühe der Schweizer
um die Aufrechterhaltung der Neutralität, auch hierin, etwas weitgehend erscheint,
geht nur uns an. Denn wenn deutsches Kapital es vor dem Kriege für vorteil-
hafter gehalten hat, sich in schweizerischen Kraftanlagen festzulegen, während das
französische Kapital nach Nußland ging zur Vorbereitung der Niederwerfung
Deutschlands, so war das eben Spekulation von beiden Teilen, und deshalb ist es
nach meiner Ansicht eigentlich nicht so gar nötig gewesen, daß man von schweizer Seite
jetzt etwas weitgehende Forderungen bezüglich der Neutralität der Kraftverteilungen
ausstellt und beweisen will, daß solche erfüllt werden.
Von französisch-italienischer Seite war auch behauptet worden, schweizerische
Banken ständen unter starkem deutschen Einflüsse, aber auch dies trifft für die
Handelsbanken nicht im geringsten zu. vielmehr ist nicht einmal ein deutscher
Vertreter in den verschiedenen Verwaltungsräten dieser Banken vorhanden. Auch
die Aktien dieser Banken sind unter dem Einflüsse des für die Schweizermünze
günstigen Kurses nach der Schweiz aus Deutschland zurückgewandert — was auch
in gleich bedeutendem Maße für andere Aktien, also auch für die der elektrischen
Unternehmungen gilt.
Die elektrischen Zentralen, bei denen deutsches Geld beteiligt ist oder
war, sind:
Das Werk Otter-Aarburg mit 15 Millionen Franken Aktien und ebensoviel
Obligationenkapital ist bis auf eine unbedeutende Summe in Schweizerhänden:
Ende März 1917 bestand der Aufsichtsrat aus elf Schweizern und zwei Deutschen.
Von letzteren ist einer Direktor der Gesellschaft „Motor".
Das Werk besteht aus der Zentrale Ruppoldingen mit 2700 ?S. und der
Zentrale Goesgen mit etwa 40000 ?S., die bald auf 60000 erhöht werden sollen.
Von diesen Kräften werden nach Frankreich etwa 15000, später 20000 ?3. von
der festen und der veränderlichen Kraft abgegeben, während nach Waldshut (Deutsch¬
land) im Höchstfalle 22000 ?S. abgegeben werden.
Das zweite Werk: Beznau-Löntsch gehört den Nordostschweizerischen Kraft¬
werken A. G. In ihm sind 18 Millionen Franken Aktien- und 25 Millionen
Obligationenkapital festgelegt, die von den benachbarten Kantonen aufgebracht
wurden. Selbstverständlich enthält der Aufsichtsrat nur Schweizer. Das Werk
übernimmt 16000 ?3. von Laufenburg beziehentlich Otter-Goesgen, da es die
vertraglich bestimmten 9663 ?S., die es nach Deutschland, und die 6000 ?S.,
die es nach Frankreich abgeben soll, aus Mangel an Kraft nicht liefern kann.
Die 6000 ?S. können nach Frankreich jetzt wegen des Krieges nicht geliefert
werden, da die Leitungen unterbrochen sind.
Das dritte Werk Rheinfelden im Großherzogtum Baden hat deutsche Ver¬
waltung mit Sitz in Deutschland und wird von deutschem Kapital kontrolliert.
Etwa ein Viertel 3 Millionen Mark des Aktienkapitals ist in den Händen der
Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich, von dem ganzen Kapital ist etwa
die Hälfte in schweizerischen und das letzte Viertel in deutschen Bank- und Privat¬
bauten. Die Obligationen sind in der Mehrzahl in schweizer Händen. Von den
dreizehn Verwaltungsräten waren 1918 elf Deutsche und zwei Schweizer.
Das Werk hat in Rheinfelden selbst eine Zentrale mit etwa 20000 ?S. und
eine bei Wyhlen in Baden mit 15000 ?S. Die Kraft der ersten Zentrale soll
laut Konzessionsurkunde zur Hälfte der Dauerkraft nach dem Großherzogtum
Baden, die andere nach der Schweiz gesandt werden. Die veränderliche Kraft
soll nach Baden gehen.
Die Kraft von Wyhlen kann mit der von Angst, die ebenfalls 15000 ?S.
beträgt, gekuppelt werden und auch diese Kraft geht zur einen Hälfte nach Baden,
zur anderen nach der Schweiz. Das Augster Werk gehört der Stadt Basel.
Das vierte Werk Laufenburg erforderte 15,5 Millionen Franken Aktienkapital,
wahrend das Guthaben der Banken und Gläubiger 27952611 Franken beträgt,
wovon etwa 60 Prozent deutscher Anteil ist. Sowohl in Laufenburg (Schweiz)
wie in Kleinlaufenburg (Deutschland) sind Sitze der Gesellschaft. 1916 waren
neun Schweizer und elf Deutsche im Verwaltungsrat, wobei der Vorsitzende stets
Schweizer ist.
Nach der Konzessionsurkunde hat Deutschland wie die Schweiz Anrecht auf
je die Hälfte der durch das Werk dauernd gelieferten 45000 ?S. Von der ver¬
änderlichen Kraft erhält die Schweiz einmal vorweg 5000 ?S., der Rest geht
gleichmäßig an beide Länder. Hier, wie schon beim Werk in Rheinfelden, kann der
eine für den andern Abnehmer eintreten, wenn einer die Kraft nicht ausnutzt.
Aus dem Vorhergehenden geht klar hervor, daß die rein schweizerischen
Werke zu gleichen Teilen Kraft nach Deutschland und Frankreich liefern und dem
Einflüsse des A. E. G.- oder des Siemers-Schuckert-Konzerns nicht im geringsten
unterliegen, und daß ferner die am Rhein liegenden Grenzzentralen zu gleichen
Teilen nach Deutschland und der Schweiz liefern.
Von allen über die Schweizer Grenze gehenden Kräften erhielten Ende 1917
Italien und Frankreich 71306, Deutschland 53617 ?3.
Von diesen kommen drei in Frage:
Die erste Gesellschaft für Aluminium-Industrie in Neuhauser hat 26250000
Franken Aktien- und 8130000 Franken Obligationskapital, das schon vor dem
Kriege zu seinem größeren Teil in schweizer Händen war. Seit Beginn des
Krieges ist noch ein guter Teil der Aktien in die Schweiz gegangen. Wie das
Werk sich seit 1914 vergrößert hat, kann daraus ersehen werden, daß bei Beginn
des Krieges das Aktienkapital nur 15 Millionen betrug. Die Dividende betrug
in den Kriegsjahren 20 Prozent. Der deutsche Anteil an Aktien betrug 1915
höchstens ein Drittel, während die Obligationen ganz in schweizerischen Händen
waren. Im Jahre 1908 waren neun Deutsche und drei Schweizer, dagegen 1916
neun Schweizer und fünf Deutsche im Verwaltungsrat.
Der deutsche Anteil wird in der Hauptsache gehalten von der Deutschen
Bank, der Berliner Handelsgesellschaft u. a. Die A. E. G. hat bei der Gründung
und Entwicklung der Gesellschaft eine Hauptrolle gespielt.
Das Werk verfügte Juni 1914 über 95840 ?3., die aber n»es nicht ganz
installiert waren. Davon kamen
Von diesen entfallen auf die Mittemächte höchstens 60000 ?S.
Interessant ist das Anwachsen der Aluminiumausfuhr, da fast alles Metall
in den Werken der obigen Firma (abgesehen von einer kleinen Produktionsmenge
der Gesellschaft Giulini in Martigny) erzeugt wird:
Von diesen Werken gingen nach
2. Die Elektrizitätswerke von Lonza. Basel und Gampel (Wende) erforderten
18 Millionen Aktien- und 15 Millionen Obligationskapital, wobei der schweizer
Anteil stets überwog. 1906 bestand der Verwaltungsrat aus 2 Deutschen und
6 Schweizern, 1917 aus 3 Deutschen und 0 Schweizern, 1910 bis 1916 war ein
Franzose im Rate. Der kaufmännische Direktor ist ein Deutscher, während der
technische ein Italiener ist, ohne daß die Politik dabei mitspielte. Deutsches Kapital
ist stark beteiligt.
Die Lonza hat alle ihre Werke auf schweizer Boden, nämlich in Gampel
und Möge im Waadtlande, in Thusis (Graubünden) und in Chövres (Genf) mit
einer Gesamtkraft von etwa 60000 ?S., die aber in kurzer Zeit sich stark ver¬
mehren werden. In Deutschland ist die Lonza durch eine Filiale in Waldshut
mit Werken in Waldshut und Spremberg beteiligt mit einem Kapital der Filiale
von 1 Million Mark, das in den Händen der Muttergesellschaft ist. Da die Ge°
sellschaft nichts veröffentlicht, so sind die Werte der Anteile unbestimmbar. Viel¬
leicht befinden sich 5 Millionen in deutschen Händen, aber jedenfalls ist die Lonza
weit stärker in Frankreich als in Deutschland interessiert. Von ihren Produkten
gehen seit Ausbruch des Krieges 60 bis 65 Prozent an die Mittemächte, der Rest
nach Frankreich. Die elektro-metallurgischen Werke exportierten
Davon gingen nach
Die Lonza ist völlig unabhängig von der Hochfinanz und der deutschen
Industrie. Bayerische und österreichische Anteile erklären sich aus der Gründung.
3. Die Gotthardwerke A. G. für elektrochemische Industrie in Bodio, Tessin
mit einem Aktienkapital von 2 Millionen Franken.
"
Hieran ist die Gesellschaft „Motor interessiert, indem sie die eine Hälfte,
und eine deutsche Gruppe die andere Hälfte des Kapitals hergab. Hieraus erklärt
sich, daß ein großer Teil der Produktion (Ferrosilizium und Karbid) nach Deutsch¬
land geht. Die Werke sind unabhängig von der A. E. G. und S. S. W. Ihre
Kraft ist gleich 16500 ?3."
4. In Bodio gibt es noch das Werk „Carbures de Day, das 7500 ?3.
verbraucht. Sowohl diese wie die Kräfte der Gotthardwerke toerden von den
Tessiner Elektrizitätswerken geliefert. Die Carbures de Day arbeitet nur für die
Entente. Ebenso verhält es sich mit mehreren elektro-metallurgischen Werken der
romanischen Schweiz. Die Gesamtkraft dieser Werke kann auf 43500 ?3. im
Mittel geschätzt werden.
Für die Mittemächte arbeiten also etwa 164000 und für die Entente etwa
114500 ?3, wozu noch nächstens 3750 ?3. und etwas später 20000 ?3. hinzu-
kommen, so daß für die Entente schließlich 138250 ?3. arbeiten werden.
In Frage kommen: Brown, Boveri u. Cie. A. G. in Baden und Escher,
Wyß u. Cie. in Zürich.
1. Die A. G. Brown, Boveri u. Cie in Baden (Schweiz) hat ein Aktien-
kapital von 36 Millionen Franken und ein Obligationskapital von 23540000
Franken.
Ihr Verwaltungsrat war zusammengesetzt
Gegründet wurde die Firma mit schweizerischem Gelde, dann vergrößert
auch mit französischem Anteil. Die Konzession der Frankfurter Zentrale war für
die Firma von großer Bedeutung. Sie wurde von den Kantonen Baden, Zürich,
Winterthur und von Frankfurter Seite (der Noedigergruppe) unterstützt. 1900
wurde aus der G. in, b. H. ein A. G. gemacht, deren Verwaltungsrat aus fünf
Schweizern und zwei Deutschen bestand.
Die A. E. G. versuchte durch Erwerb von Aktien der B. B. C, im Umtausch
gegen A. E. G.-Aktien Einfluß zu gewinnen, da sie die Konkurrenz fühlte, aber
eS gelang ihr nicht im gewünschten Maße, und nur Dr. Rathenau blieb als Auf¬
sichtsrat. Dieser vertrat bis 1914 die Bank für elektrische Unternehmungen in
Zürich, eine Schaffung der A. E. G. Weshalb er das Amt niederlegte, wurde
nicht bekannt, wahrscheinlich, weil er nach dem Tode seines Vaters Direktor der
A. E. G. wurde.
Am 1. April 1917 betrug die Summe der Anteile der B. B. C.
26103 889 Franken, die zum größten Teil wohl im Auslande untergebracht sind ',
etwa 15 Millionen in Deutschland. Von diesen Aktien sind aber seit 1915 viele
in die Schweiz gewandert auf Grund des günstigen Wechselkurses. Man kann
kaum mit Recht von einer deutschen Herrschaft in dieser Firma sprechen, obwohl
die A. E. G. in dieser Richtung große Anstrengungen gemacht hat.
Bekanntlich haben die Badener Werke niemals für die Kriegsindustrie —
ausgenommen die schweizerische — gearbeitet und sich nur auf die Erzeugung
ihrer laufenden Artikel beschränkt. So haben sie sich vollständige Unabhängigkeit
auch für die Zeit nach dem Kriege bewahrt. Natürlich haben die Tochterwerke,
die sich in den verschiedenen kriegführenden Ländern befinden, für diese gearbeitet.
2. Escher. Wyß u. Cie., Zürich haben ein Aktienkapital von 6 500000 und
ein Obligationskapital von 6 000000 Franken. Diese Firma stand seit langem
unter dem Einflüsse der Lahmeyer - A. E. G. ° Gruppe, die über die Mehrzahl
der Aktien und der Verwaltungsräte verfügte. Aber diese Sachlage hat sich im
Laufe des letzten Jahres total geändert, wie aus Folgendem zu ersehen ist:
191t>/17 kaufte eine Gruppe von schweizerischen Banken und Privaten fast
alle E. W. - Titel auf, die sich in Händen der A. E. G. ° Lahmeyer-Gruppe befanden.
Seitdem ist die Gesellschaft vollständig unabhängig von jener Gruppe.
Aus dem Aufsatze geht hervor, daß Deutschland zwar der stärkste Abnehmer
von elektro-metallurgischen Produkten ist, während die Abnahme an elektrischer
Kraft auf feindlicher Seite etwas größer ist, und daß es unter dem Karsdrucke
stark an finanziellem Einflüsse eingebüßt hat. Die Schweizer sind weit mehr
Herren im eigenen Hause geworden, als es früher der Fall war. Die Behaup.
tungen der feindlichen Seite sind — leider — müssen wir sagen — grundlos.
»lange ich lebe, werde ich mich mit besonderer Schaafe midBestimmthei
Augusttage des Jahres 1914 erinnern. Von Anfang des
LMcAI^WI Krieges an wurden wir in vollständiger Unkenntnis der Ereignisse ge-
A halten. In den ersten Tagen kamen natürlich unvermeidliche aufsehen-
die ersten, selbverständlich für unsere Waffen
siegreichen Gefechte, die ebenso herrliche wie eingebildete Heldentat von
Vrindejonc desMoulins, das siegreicheGefecht imElsasz, die deutschenJnfanteristen vor
der „lmria francesse" unserer unwiderstehlichen Bajonettangriffe davonlaufend und
fliehend. „Rosalie" war in Ehren, und mit ihr ihr großer Bruder, der unver-
gleichliche „75er". Ich war damals im Depot einer ruhigen Provinzstadt. Die
amtlichen Bekanntmachungen wurden täglich im Quartier angeschlagen. Wir
erläuterten sie und berechneten unsere wahrscheinlichen Erfolge. Eines schönen
Tages, um den 15. August, verschwanden sie. Diejenigen, welche die Zeitungen
weiter veröffentlichten, waren zugleich optimistisch und besorgniserregend. Der
Minister Messimy gab sich sichtlich Mühe, uns zu überreden, daß die militärische
Lage äußerst zufriedenstellend sei, und daß unser Rückzug einem von unserem
Großen Generalstab reiflich studierten Plan entspreche. Es gab wohl einige unter
uns, die diese Taktik für verdächtig hielten und denen der unversiegbare amtliche
Wortschwall durchaus nicht gefiel. Durch das Lesen einiger franzosenfreundlicher
schweizerischer Zeitungen, die uns in die Hände fielen, wurden unsere Zweifel
und Befürchtungen bestärkt. Aber die große Masse lebte im glückseligsten Vertrauen,
weit davon entfernt, die erschreckende Wahrheit zu ahnen. Ich erinnere mich der
fast allgemeinen Bestürzung, als wir an einem gewissen Morgen lasen, daß man
in der Gegend von Lille Ulanen gesehen habe. Diese Nachricht schlug wie eine
Bombe ein. Wir vermuteten die deutschen Truppen weit hinter unserer Grenze.
Man hatte uns dermaßen über die Stärke und Dauer des belgischen Widerstandes
getauscht, daß uns die Kaiserlichen überfielen, als wir sie noch immobilisiert vor
Namur wähnten. Die folgenden Tage brachten uns die Enthüllung des außer¬
ordentlich schnellen feindlichen Marsches durch den Norden Frankreichs. Wir wußten
nicht mehr, was wir davon halten sollten, und es verbreiteten sich die wildesten
Gerüchte über Verrat, welche die Menge ohne weitere Prüfung aufnahm. Unser
Erstaunen wuchs noch bei dein Schauspiel, welches uns während einiger Tage
der Marneschlacht die Hauptstraße von X. bot. Soldaten aller Armeen und aller
Regimenter, Offiziere und Mannschaften drängten sich dort. Das bunte Gemisch
der Uniformen hinterließ einen peinlichen Eindruck. Ich hatte die Empfindung
eines Zusammenbruchs. Am Abend irrte ich in der Umgebung des Bahnhofs
umher und traf eine Gruppe Zuaven und Turkos, welche, da sie die Hoffnung,
ihre Korps wieder zu finden, aufgaben, zu ihrem Depot Sathoney zurückkehrten.
Sie erzählten mir von Charleroi, der darauffolgenden Niederlage und Flucht.
Ihre Entmutigung war groß und steckte mich an. An jenem Abend dachte ich an
Sedan und verzweifelte an der Zukunft. Aber ich dachte nicht im entferntesten,
daß das schreckliche Blutbad noch Jahre dauern würde, und daß unser unglück¬
liches Land erst am Anfang seiner Leiden sei. Ich war nicht der einzige Ver¬
zweifelnde. Plötzlich aufgeklärt und sehend geworden, gab man sich allen Be¬
fürchtungen hin, sah den schlimmsten Katastrophen entgegen. Erst als der deutschen
Offensive durch die Wiederherstellung der französischen Ostarmee Einhalt geboten
wurde und nach der Marneschlacht schöpften wir wieder Hoffnung und Mut. Und
noch glaubten wir zuerst nicht recht daran. Wir befürchteten irgendeinen neuen
..Bluff" einer Presse, die seit dieser Zeit das ihr noch in Frankreich gebliebene
Vertrauen verloren hatte. Hier sieht man so recht, wie gefährlich diese Lügen¬
regierung ist, von der wir uns nach einer mehr als zweijährigen Kriegsdauer
noch nicht frei machen konnten: sie tötet das Vertrauen, entmutigt und macht
vor der unerwarteten, grausamen Enthüllung der Wirklichkeit kraftlos und schwach.
Sowohl für die Völker als auch für die einzelnen ist nichts wertvoller, als bei
allem, was auch kommen mag, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Nach Ansicht der katholischen Schriftsteller soll der Krieg eine wahre religiöse
Wiedergeburt in Frankreich hervorgebracht haben. Die „Älteste Tochter der Kirche"
soll zu sich gekommen sein, und die Aufnahme des verlorenen und reumütigen Kindes
durch Rom bevorstehen. Ist es nötig, die Hoffnungen, welche die streitenden Katho¬
liken auf diese angebliche Auferstehung gründen, genau zu bezeichnen: Wieder¬
herstellung des Konkordats und Wiedereinsetzung der Autorität, oder besser — der
politischen und moralischen Oberherrschaft der französischen Geistlichkeit. Ich sehe
von den Besessenen, die vom „Weißen Schrecken" träumen, ab und es fragt sich
nur noch, was diese Hoffnungen wert sind, und ob das, was man etwas kühn
religiöse Wiedergeburt nennt, nicht vielmehr eine der oberflächlichen Kundgebungen
ist, die durch die Umstünde geschaffen sind und mit ihnen erlöschen. Über diese
Frage ist schon sehr gestritten worden. Im Jahre 1915 hat die „Grande Revue",
eine unserer besten, vorkämpfenden Veröffentlichungen, eine ernste, überaus inter¬
essante Untersuchung dieser Angelegenheit angestellt, die ich gelesen habe. Es ist
klar, daß die Aussagen verschieden sein mußten und sich widersprachen. Sie waren
es nach Wunsch. Aber auch viele fanden den Grund dieser Uneinigkeit heraus,
der in der beständigen Verwirrung — unbewußt oder vorbedacht — des Gefühls
und der Betätigung liegt. Wer wollte bestreiten, daß wir im August 1914 eine
Art religiöser Überspanntheit erlebten? Ich wohnte in einer Stadt, wo das
religiöse Gefühl — wie alle anderen Gefühle — sich nur besonnenen und ruhigen
Kundgebungen hingibt, einer Stadt gleichgültiger Frömmigkeit, die sich aber, wie
es den Anschein hat, trotz ihrer Aristokratie berufen glaubt, mit gutem Beispiel
voranzugehen. Die große Erschütterung deS Krieges wandelte sie um. Monate¬
lang füllten sich die zu klein gewordenen Kirchen mit einer ängstlichen und
flehenden Menge. Werke, Gaben, alle äußeren Kundgebungen einer glühenden
Frömmigkeit vermehrten sich. Kurz, alle Anzeichen einer tiefen und überraschenden
Seelenerneuerung. Dies war übrigens ganz natürlich. Als die Katastrophe
hereinbrach, fühlten sich alle, die sich bisher, ohne dem Gottesdienst feindlich
gesinnt zu sein, hinter einer stumpfen Gleichgültigkeit verschanzt hatten, plötzlich
wie verlassen. Instinktiv suchten sie einen Stützpunkt, auf den ste ihre
letzte Hoffnung gründen könnten, und der sie bei dem allgemeinen Einsturz auf¬
recht erhielte. Die Kindheitserinnerungen lenkten ihre Schritte — fast unfrei¬
willig — zu den Heiligtümern, wo ihre Väter gebetet hatten. Sie beteten dort
ihrerseits, nicht, weil ihre Überzeugung plötzlich sehr fest geworden war. sondern,
man muß gestehen, unter dem Impuls abergläubischer Furcht. Besonders die
Frauen, sogar jene, die seit langem nicht mehr nach ihrer RelMon gelebt hatten,
zeigten wieder die strengste Frömmigkeit. Es schien jedem, auch den vor kurzem
noch Gleichgültigen und skeptischen, daß allein das Aufleben Gottes für die teuren,
plötzlich ihrer Liebe entrissenen und den schrecklichsten Gefahren ausgesetzten Wesen
tur sie der sicherste Schutz sei. Aber genügt all dieses denn, eine religiöse Wieder¬
geburt zu charakterisieren? Abgesehen von einigen aufrichtigen Bekehrungen,
> rblicke ich hierin einen neuen Beweis für die unheilbare Schwäche unserer mensch¬
lichen Natur, ihres instinktiven Schreckens vor dem Tode, ihres unabweislichen
Schutzbedürfnisses. Wenn plötzlich jede menschliche Hilfe versagt, ist es dann nicht
unvermeidlich, daß man sich an denjenigen wendet, von dem man — wenn er
existiert — den höchsten Schutz erwartet? Rechnung kleinmütiger Herzen, welche die
Nähe der Gefahr närrisch macht. Ich sehe hierin nichts von jener inneren. be¬
geisterten und freien Wiedergeburt, welche die Seele in ihren Grundfesten er¬
schüttert. Ebensowenig wie im Innern des Landes könnte man von einer religiösen
Wiedergeburt beim Heere sprechen. Sicherlich, ich hatte Gelegenheit, an den Vor¬
abenden großer Offensiven Gottesdiensten beizuwohnen, die nur einen starken und
dauernden Eindruck hinterlassen haben. Ich sehe noch den Geistlichen, höre ihn
mit rücksichtsloser Offenheit von den Lücken sprechen, die der Tod in unsere Reihen
reißen würde, und seine Aufforderung, uns auf den furchtbaren Entscheidungstag
vorzubereiten. Während ich ihm zuhörte, empfand ich eine der tiefsten Gemüts-
bewegungen meines Lebens. Dennoch änderte sich mein innerstes Gefühl durchaus
nicht dadurch. Viele meiner Kameraden ließen sich von Bedenken und Besorg-
nissen, die eher von Aberglauben als von wirklicher Frömmigkeit herrührten,
überwältigen. Sie gehorchten auch irgendeiner ererbten, dunklen Eingebung, die
ihnen in der Todesgefahr die Hände schloß und sie auf die Kme zwang. Nach
bestandener Gefahr wurden sie mühelos wieder, was sie trotz des Anscheines ge¬
blieben: neutral oder sogar feindselig. Die meisten übrigens wohnten weiter
regelmäßig den Gottesdiensten bei. Zuerst aus Langeweile, und auch weil die
Empfehlung des Geistlichen an der Front sehr nützlich sein kann, und schließlich,
weil es nicht gleichgültig ist. in der Gunst eines Offiziers zu stehen, der entweder
aufrichtig fromm ist, oder sich den Anschein gibt, um selbst einem frommen
Obersten zu gefallen. Alles eigennützige Beweggründe, welche schon eine kurze
Beobachtung schnell herausfindet, und die nach dem Urteile rechtschaffener Leute
die religiöse Betätigung, welche nur ein aufrichtiger Glaube beseelen kann, ganz
in Mißkredit bringen und gleichzeitig eine wirkliche Erneuerung des religiösen
Gefühls verhindern. Nach dem Kriege wird man sich bald überzeugen, daß die
antiklerikale Gesinnung und der Skeptizismus in Frankreich nichts von ihrer
Stärke verloren haben. Das heißt, daß es im Verlauf dieses langen Krieges zu
keiner Zeit eine dieser Benennung würdige, religiöse Wiedergeburt gegeben hat.
Ich glaube nicht einmal, daß die neuerwachte Frömmigkeit, deren Abnahme man
schon jetzt beobachten kann, recht lange die Ereignisse, welche sie bedingt haben,
überlebt. Durch den Krieg geschaffen, werden diese Hirngespinste auch mit ihm
vergehen.
Es ist nicht schwer, die Stimmung in Frankreich zu schildern. Es herrscht
eine große, hoffnungslose Müdigkeit. Wir haben Enttäuschung über Enttäuschung
erfahren. Die erste bemächtigte sich unser nach der verfehlten Offensive im Ober¬
elsaß. Ich erinnere mich der Rufe: „Nach Berlin! Nach BerlinI" in denen so
verhängnisvoll das Gedenken an 1870 klang, und der falschen, aufregenden Nach¬
richten, mit denen die Presse diese künstliche Begeisterung nährte, auf welche der
erbärmliche Streich von Mülhausen wie eine eiskalte Dusche wirkte. Danach
kamen immer mehr Enttäuschungen. Der schnelle Einfall in Belgien, Charleroi
und die niederschmetternde Nachricht vom Marsch des Feindes auf Paris. Die
kurze Rückkehr des Glücks an der Marne weckte kaum neue, fast sogleich wieder
vernichtete Hoffnungen. Lange noch gaben wir uns Rußland gegenüber Illusionen
hin und blickten erwartungsvoll auf die berühmte „Walze", die in einigen Wochen
Deutschland zermalmen sollte. Der slawische Einfall in Ostpreußen bewirkte, daß
unsere allzu willfährige Einbildungskraft sich schon die Kosaken Rennenkampff
„Unter den Linden" tanzend vorstellte. Jedoch die Schlacht an den Seen und
das Unglück von Tannenberg öffnete uns die Augen und wir sahen Hindenburg.
Das russische Vorrücken in Galizien und das überschreiten der Karpathen belebten
dann wieder für einen Augenblick unseren sinkenden Optimismus. Es ist bekannt,
daß der Hörnerstoß von Tarnow die Russen zu einem ungeordneten Rückzug
zwang und sie den Verlust Polens und den Fall großer Festungen kostete. Was
soll man nun über das tolle Abenteuer an den Dardanellen sagen, und über die
so eifrig durch den „Bluff" des „Matin" und der ganzen offiziösen Presse unter¬
stützten Illusionen? Der türkische Zusammenbruch, Eroberung Konstantinopels,
Befreiung Rußlands von der Blockade, so viele vermessene Hoffnungen, die im
demütigender Rückzug und im Blute versanken. Währenddessen entzog sich uns die
militärische Hilfe Japans, der serbische Widerstand endete in Niederlage und
Ausscheidung. Die erwarteten und schon so oft angekündigten Vermittlungen
kamen nicht zustande oder richteten sich gegen uns. Wir erlebten die bulgarische
Überraschung, die griechische Enttäuschung, die tragische und so schnelle Vernichtung
der rumänischen Armeen. In den ersten Tagen des Krieges versicherten uns be¬
deutende Nationalökonomen, daß der wirtschaftliche und finanzielle Widerstand
Deutschlands nicht länger als sechs Wochen dauern könne. Einige Monate später
zeigte uns ein Edmond Therh ganz genau, daß Österreich-Ungarn am 1. April
1915 keine Hilfsmittel mehr haben und zu einem Separatfrieden gezwungen sein
würde. Ich weiß sehr wohl, daß unsere Nationalökonomen unerschütterliche Leute
sind, und daß sie, wenn die Tatsachen ihre Voraussagen Lügen strafen, beinahe
glauben, daß die Tatsachen Unrecht haben. Konnte das Zusammentreffen so
vieler getäuschter Hoffnungen verhindern, daß die Stimmung allmählich zu einem
Skeptizismus neigte, den sie nicht mehr zu überwinden vermochte. Die bedeutungs¬
losen Resultate, die durch das Dazwischentreten Italiens erzielt wurden. bestärkten
diese spöttische Ungläubigkeit. Beim Heere wurde das von irgendeinem Journa¬
listen erfundene, und vom General Petain in dem Ausruf an die Truppen von
Verdun wiederholte Wort schnell und höhnisch parodiert „Man wird sie kriegen",
sagen die „poilus" und lachend fügen sie hinzu:.... „erfrorene Füße". Die
allerwenigsten glaubten noch an jenen „Endsieg", in dessen Hoffnung man uns
so lange wie mit einem immerwährenden, täglich durch das Lied der Ereignisse
Lügen gestraften Kehrreim wiegte. Man hat uns zu früh das Bärenfell verkauft,
und das berühmte: „Morgen wird man umsonst rasieren" täuscht niemand mehr.
Wir glauben nicht mehr an die Möglichkeit einer günstigen Entscheidung durch
die Waffen. Infolge einer dreifachen Probe, die für uns eine dreifache Ent¬
täuschung war, glauben wir heute an die These von der Unverletzlichkeit der
Fronten, Am 17. Dezember 1914 verdarb eine vom Generalissimus befohlene
allgemeine Offensive sofort alles und wurde verleugnet. Am 25, September 1915
widerstanden die deutschen Linien in der Champagne und bei Artois, trotz bedeu¬
tender Truppen-Konzentration und heftigem Artilleriefeuer, den wütendsten
Angriffen. Wir schrieben diese Schlappe unserer minderwertigen schweren Artillerie
zu. und Charles Humbert verlangte: „Kanonen und Munition". Wir machten
uns ans Werk und häuften acht Monate lang ein furchtbares Material und eine
unerschöpfliche Zahl von Geschossen an. Am 20. Juli 1916 fing unsere dritte
Offensive an. Wir hatten alle Mittel in der Hand: die Überlegenheit der Zahl
und eine artilleristische Vorbereitung. Aber schon am vierten Tage wurde dem
Gefecht, von dem wir ein entscheidendes Ergebnis erhofften, Einhalt getan. Der
blutige Mißerfolg unserer Offensive an der Somme'steht heute für jeden außer
Zweifel, Wofern nicht der deutsche Generalstab einen strategischen Rückzug be¬
schließt, der reich an Überraschungen werden könnte, haben wir höchstens mit kleinen,
beschränkten und alles in allem erschöpfenden und nutzlosen örtlichen Erfolgen zu
rechnen. An Durchbruch ist nicht mehr zu denken, und wir wissen bestimmt, daß
wir den Feind nicht an die Grenzen zurückschlagen werden. Mit noch größerem
Rechte haben wir auf das Hirngespinst eines Einfalls in Deutschland verzichtet.
Wir wissen sehr wohl, daß wir uns nur mit übermenschlicher Anstrengung und
unsere letzten Reserven opfernd, vor Verdun halten konnten, und daß die wenigen
Elitetruppen, die wir noch hatten, nacheinander in dem schrecklichen Feuer ver¬
nichtet wurden. Wir verhehlen uns nicht, daß die militärische Stellung der
Mittelmächte heute stärker als je ist, daß der diplomatische Bruch mit den Ver¬
einigten Staaten dadurch, daß er.Deutschland volle Freiheit gab, den für die
britische Proviantierung so unheilvollen Ubootkrieg zu verschärfen, unsere Gegner
durchaus nicht geschwächt hat. Von all diesem sind unsere Führer vollkommen
überzeugt. Ein Briand, ein Poincare sind viel zu klug, um nicht klar zu
empfinden, daß wir uns in einer ganz fürchterlichen Sackgasse verrannt haben.
Sie wissen, daß, was auch in Zukunft geschehen mag, Frankreich, welches nach
diesem grausamen Kriege vollständig verblutet sein wird, und dessen abnehmende
Geburtenzahl ihm keine Aussicht auf ein Wiederaufblühen gewährt, zu Spaniens
Stellung herabsinken und verurteilt sein wird, in der politischen und Wirtschaft-
lichen Bahn seiner ausgezeichneten Freunde jenseits des Kanals, die seine Herren
geworden sind, herum zu kreisen. Aber sie wissen auch, daß ihr eigenes Ansehen,
ihr politisches Glück und das Schicksal der Regierung selbst von dem Ausgang
dieses verbrecherischen Krieges abhängen, den ihre Unvorsichtigkeit, ihr Leichtsinn
»der ihr wahnsinniger Ehrgeiz in so furchtbarer Weise entfesselt haben. Und trotz
allem hoffen sie auf irgendein unmögliches Wunder. Man versteht allerdings, daß
ne das kategorische und so geschickte Angebot Deutschlands, dem Blutvergießen ein
Ende zu machen, zurückgewiesen haben. Der auf ihnen lastenden Verantwortung
sich bewußt, durch einen unbesonnenen Vertrag und vermessene Versprechungen,
deren Erfüllung nichts weniger als die Vernichtung der deutschen Macht voraus-
letzt, gebunden, ist es ihr einziger Wunsch, die gefürchtete Entscheidung, den un¬
vermeidlichen Bankrott ihrer Versprechungen und Hoffnungen möglichst hinauszu¬
schieben, sollte auch unser Frankreich darüber zugrunde gehen.
um geistigen Rüstzeug unserer Feinde im Westen gehört die Lehre
von den beiden Deutschland, dem friedlichen, kosmopolitischen vor
Bismarck und dem verpreußten, nur aus brutale Gewalt gestellten,
annexionistischen seit 1864 bis 1871. So glaubte man, den Wider¬
spruch zwischen den „Hunnen" von 1914 und dem einstigen Volk
der Dichter und Denker, dessen Leistungen doch nicht geleugnet werden konnten,
zu lösen. Das in Frankreich entstandene Schlagwort wurde von einem Franzosen
dementiert. Der Philosoph Emile Boutroux („cle I'^eaclemie") behauptet, daß
gewisse Keime „monstruöser Arroganz" schon vor hundert Jahren bei den Deutschen
vorhanden gewesen seien, was u. a. an — Goethes „Faust" sehr einleuchtend be>
wiesen wird.
Die innere Einheit unseres Wesens, die dieser Ausländer mit Recht, wenn
auch in böswillig-verzerrtem Bilde gesehen, fühlt, sie droht im vierten Kriegsjahre
verloren zu gehenI Es scheint in der Tat zwei verschiedene Deutschland zu geben,
nur nicht in zeitlicher Aufeinanderfolge, wie die Gegner wähnten, sondern neben¬
einander im Rahmen desselben Staatsverbandes. Die „Deutsche Zeitung" glaubte
sie folgendermaßen scheiden zu müssen: „Das eine völkische wurzelt in der großen
alten Vergangenheit. . ., es steht auf Macht, es will Sicherung, es erkennt die
deutschen Notwendigkeiten: Auf uns ruht die Last Europas. — Das andere hängt
an seinem Volkstum nicht. Es denkt und fühlt übervölkisch. Die harte große
Vergangenheit ist ihm .Bedrückung', die große reiche Kultur .Rückständigkeit'. . .
Macht? Nein: Versöhnung. Sicherung? Nein: Verbrüderung. Pflicht, Hin¬
gabe an die Allgemeinheit? Nein: Freiheit, .Demokratie'".
Dazu bemerkt der „Vorwärts": „Die Altdeutschen betrachten sich also
bereits als ein besonderes Volk innerhalb Deutschlands. Ihr Ideal ist die Macht
und nackte brutale Gewalt ist das Allheilmittel". Setzt man statt „Deutschland"
das Wort „Europa" ein, so könnte dieser Satz ebensogut aus einer französischen
oder englischen Zeitschrift stammen.
Allerdings haben wir es hier mit übertrieben zugespitzten Äußerungen von
den Flügeln beider Parteirichtungen zu tun. Aber die Tatsache, daß sich zwei
Parteien mit fundamentalen Meinungsverschiedenheiten in äußerer und innerer
Politik gegenüberstehen, und daß ihre Phalcmxen ganz Deutschland spalten, bleibt
doch bestehen! Hie „Sicherung" und Macht —, hie Kompromiß und „Ver¬
ständigung", so tönt das Feldgeschrei an den Grenzen ebenso wie im Lande, nur
daß auf dem parlamentarischen Schlachtfelde die Rollen annähernd vertauscht sind.
Das Zahlenverhältnis beider Gruppen ist allerdings nicht so überwältigend günstig
für die Anhänger des Verständigungsfriedens, wie man es gewöhnlich — so auch
von ihrem „geistigen Vater", dem Professor Hans Delbrück in seiner Streitschrift
gegen die Vaterlandspartei — zu hören bekommt. Durch die Abwesenheit großer
Volksteile an der Front ergibt sich ein schiefes Bild der „öffentlichen Meinung",
und besonders die Berliner Luft zeigt in dieser Beziehung nicht die ihr nach¬
gerühmten „stärkenden" Eigenschaften.
Gewiß ist Fortschritt und Entwicklung ohne Gegensätze nicht denkbar. Aber
müssen sie so tiefbedauerliche Formen annehmen wie in der deutschen Gegenwart?
Zwischen verschiedenen Völkern kennen wir „notwendige" Mißverständnisse, weil
hier auch die ethischen Wertmaßstäbe zweierlei Zungen reden. Man hat mit Recht
bemerkt, daß z. B. der Franzose deutsche „Offenheit, Ehrlichkeit, Biederkeit" als
„Roheit, Formlosigkeit. Barbarentum" empfindet, umgekehrt der Deutsche für „äffische
Eitelkeit" hält, was jenseits des Rheines als Ehre und Zloire gilt. Die wütenden
Auseinandersetzungen zwischen „Verzichtpolitikern" und „Vaterlandspartei", zwischen
„Hungerfriedensmehrheit" und „Annexionisten" überbieten jene internationale Ver-
ständnislosigkeit beinahe noch.
Ein scharf beobachtender Ausländer fand: in Frankreich sei der deutsche
Ausdruck „Parteiwesen" unbekannt; es gebe da wohl einen „Parteigeist", aber
nicht einen solchen der „Parteien" (un esprit ete psrti, mais pas ac partis). Hier
kenne man nur Etiketten und die einzelnen Gruppierungen hätten keine enge,
bestimmte Form. Alles an ihnen sei unbeständig und unbestimmt; ihr Name, ihr
Programm und ihre Mitglieder — sehr im Gegensatz zu dem fest organisierten
und disziplinierten deutschen System. Tugenden haben ihre Fehler und umgekehrt.
Man möchte den Deutschen manchmal etwas von jener gallischen Formengewandtheit
(die im obigen sich wiederum offenbart) wünschen, aufdaß er aus der schweren
Rüstung seiner wohlfundierten Dogmen herausfinde und über dem Wellenspiel
der politischen Oberfläche den festen Boden nationaler Gemeinsamkeit nicht aus
den Augen verliere. Also, statt mit der uns eigenen Gründlichkeit politische
Opportunitätsfragen zu Proben der Lebensanschauung und des Charakters zu ver¬
tiefen, mehr Verständnis und Beachtung der „Etikette" in doppelter Bedeutung,
wodurch dann auch vermieden würde, daß der Gegner — wie jetzt nur zu häufig
— als moralisch defekter Mensch verfemt erscheint.
Von den unvermeidlichen trüben Beimischungen der politischen Wässer sehen
wir ab, solange und da sie die Farbe des Ganzen nicht bestimmen. Wo sich wie
heute die Kräfte der Nation gleichsam in zwei gewaltigen Brennpunkten sammeln,
müssen auch Sonderinteressen hier oder dort Anschluß suchen. Wenn man jetzt
in vielsagenden Andeutungen oder offen gegen „Geldmächte" mobil macht, die
hinter der Vaterlandspartei stehen sollen und sich über ihren „Jnseratenfeldzug"
un Dienste der Schwerindustrie entrüstet, so fragen wir ruhig, ob auf der Gegen-
seite nicht auch mit Wasser gekocht wird. Angesichts dieser Vorgänge von einer
„Korruption der Presse und des öffentlichen Lebens" zu reden, wie Geheimrat
Goetz im „Leipziger Tageblatt" für nötig hält, und die doch recht bedeutende
Vaterlandspartei als eine Bewegung abzutun, deren Drahtzieher preußische Kon¬
servative, deren Geldgeber rheinische Schwerindustrielle seien, solch Verfahren
scheint uns unberechtigterweise den Teil für das Ganze zu nehmen*). peeoatur
extra et intra muros! Nicht ohne Grund betont der Freiherr von Zedlitz, daß
man von gewisser Seite mit Vorliebe Schwerindustrie und Junkertum als „betes
noires" behandele, dagegen mit „Schiebern, Kettenhändlern und Kriegsgewinnlern
im engsten Sinne" gar sänftiglich verfahre.
Die Vaterlandspartei ist zurzeit „unpopulär" bis in die Kreise geistiger
und gebürtiger Elite hinein (ebenso wie eine Polemik gegen das gleiche Wahlrecht)
und das mag seine Gründe haben —, eines sollte man nie vergessen: wer für
sich Kons linkes verlangt, soll sie auch dem Gegner nicht vorenthalten, und schließlich
sind doch „Gewaltpolitiker" oder „Miesmacher" gewissermaßen nur Vornamen in
der gemeinsamen deutschen Familie, deren Angehörige (von mißratenen Söhnen
immer abgesehen) kein höheres Ziel kennen, als das Wohl ihres Hauses zu wahren,
mögen auch die von ihnen eingeschlagenen Wege verschieden sein. Den Ausgang
kennt keiner. Aber nicht wir sprechen das Urteil über die Geschehnisse unserer
Tage... An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
Eines ist sicher: die maßlose Leidenschaft, mit der zurzeit der Kampf der
Meinungen im Lande geführt wird, kann nicht ohne Folgen bleiben. Sie schwächt
uns und stärkt unsere Feinde. Aus einer, weiß Gott, bedeutungsschweren Geschichte
sollten wir gelernt haben, wohin der unselige Zwist und Zank im deutschen Hause
führt. Kann unser Burgfriede wirklich nur auf Frist gehalten werden wie im
Mittelalter die „trouM Doi"? Wo bleibt das deutsche „Wir", das sich in den
heiligen Augusttagen von 1914 so herrlich offenbarte? „Trotzdem wir unsere inner¬
politische Gliederung längst wiedergefunden haben, hört doch noch heute alles
Deutschgeborene bei jedem neuen Kriegsdonner, bei jeder neuen Friedensahnung
einen alles durchzitternden Unterton: Wir Deutschen". So schrieb jüngst ein
Feldgeistlicher. An der Front mag solche Erkenntnis geboren werden. Aber
können wir im Lande ohne Erröten die Worte lesen? Wird nicht jener mahnende
Orgelpunkt gar oft übertönt von den Dissonanzen unseres öffentlichen Lebens, die
anstelle der Melodie treten?
Auch vom Gegner können wir lernen. Selbst wenn man dort „Die falschen
Kriegsziele beiseite stoßen" will (wie Gardiner in seinen „Daily News"), hütet man
sich wohl, mit dem Revisionismus den Anfang zu machen. Durch Streiks, meint
jener Schriftsteller, würden die englischen Arbeiter nur Hindenburg in die Hände
spielen. Das weiß die Arbeiterschaft der Ententeländer auch ganz genau und sie
handelt danach. Während sie mit einem vollen Tropfen imperialistischen Oich
gesalbt ist, spukt bei unseren Sozialdemokraten trotz aller Enttäuschungen und
Warnungen (aus den eigenen Reihen) immer noch der Geist der Internationale.
Es ist, als wenn die deutsche Erbkrankheit aus die jüngsten Söhne des Hauses
übergegangen wäre, nachdem sie die älteren Geschwister überwunden haben. Nach
der Würzburger Tagung glaubte man auch bei jenen eine Heilung prophezeien zu
können, doch der Bolschewismus hat einen neuen Anfall hervorgerufen.
Die sozialrevolutionären Scharfmacher schritten unter diesen Auspizien zur
Propaganda der Tat. Es besteht ja nunmehr kein Zweifel, daß der Streik bei
uns von den Unabhängigen Sozialisten in Szene gesetzt wurde. Deutlich genug sind Ge¬
werkschaften und alte Partei von den Unentwegten abgerückt, man vergleiche nur
die Erklärung der Generalkommission (Auer) und die neueste Haltung des
„Vorwärts" (Ur. 38), der gegenüber den „blöden Schimpfereien und Verdächti¬
gungen" des extremen Flügels energisch Front macht. Aber auch die verständigen
Arbeiter und Arbeiterinnen wollten von dem „Rummel" nichts wissen. Es ist
erfreulich, daß gerade von links verdächtigte Blätter wie der „Tag" den guten
Willen und die loyale Haltung der überwältigenden Arbeitermehrheit anerkennen
und sich von der Entrüstung über das „objektiv landesverräterische Treiben" der
Demonstranten nicht zu falschen Verallgemeinerungen und Schroffheiten hinreißen
lassen. Rechnet man noch die zahlreichen Mitläufer und Auch-Streitenden ab,
aus deren Mitte nachträglich gegen die mit Lüge und Vergewaltigung arbeitenden
Drahtzieher protestiert wird, so bleibt als willige „Attivisten"truppe der Janhagel
beiderlei Geschlechts. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, daß in den Weltstädten
Berlin und Hamburg, wo diese Elemente sich zusammendrängen, die Unruhen
einen besonderen Umfang annahmen, während der Westen trotz seines starken
Jndustrieproletariats verhältnismäßig besonnen und ruhig blieb.
Die „Frankfurter Zeitung" sieht „letzten Endes die Ursache der Streitbe¬
wegung" in Zweifeln, die anläßlich des innerpolitischen und außerpolitischen
Kurses (Wahlreform und Friedenspolitik) „in ganz großen Volksschichten" gehegt
wurden. Die Reichstagsmehrheit von Erzberger bis Scheidemann und ihr Anhang
können darunter nicht verstanden sein; sie lehnen ja den Streik ab, es würde
also die logische und tatsächliche Verbindung zwischen Ursache und Folge fehlen.
Bleiben die Extremen links vom obigen Block. Aber auch hier spielte politische
und wirtschaftliche Unzufriedenheit nur die Nebenrolle eines bestimmten „Milieu",
und erwuchs die Bewegung nicht, wiebei Lohn- und Hungerrevolten, spontan aus der
Massenstimmung, was die „Frankfurter Zeitung" behauptet"), sondern der deutsche
Bolschewismus wollte, ermuntert durch die geglückte Wiener Generalprobe — aller¬
dings unter Benutzung der augenblicklichen politischen Situation — das suggestiv
wirkende russische Vorbild nachahmen. „Die Trotzki-Internationale, von der man
im Westen durchaus nichts wissen will, sollte auch eine Parade in Berlin, und
eine Parade in Ehren abhalten. Nur aus diesen Gedankengängen erklärt sich
das rasche Aufflackern des Brandes". Darin hat R. Nordhausen im „Tag"
völlig recht^).
Eine Vernachlässigung dieses „östlichen" Zusammenhanges und zugleich eine
ungeheuerliche Aufbauschung und parteiinteressicrte Zurechtstutzung gewisser inner-
Politischer Vorgänge bedeutet es, wenn sich der Heidelberger Professor Max Weber
zu dem Satze versteigt: „....der Streik war ganz selbstverständlich angesichts
dessen, was man Mitte Januar in Berlin erlebte und was tatsächlich jeden, der
einen rein sachlichen Betrieb der Politik verlangt, zum Rasen bringen konnte:
wildeste Demagogie ohne Demokratie, vielmehr wegen fehlender Demokratie.
Man muß dort gewesen sein, um das zu verstehen, man glaubte im Irrenhaus
zu sein..." Hier haben wir ein Musterbeispiel für den Terror der „Mehrheit"
^ oder wenigstens bestimmter Richtungen in ihr — gegen jede Meinungsäuße¬
rung der Opposition. Jedes Bedenken gegen die Friedenserklärung und die Re¬
gierungsvorlagen ist von vornherein verdächtig. Am liebsten möchte man den
unbequemen Mahnern überhaupt den Mund verbieten. Erzwingen sie sich trotz
aller Widerstände Gehör, wofür ihnen bei dem herrschenden Druck jedes Mittel
recht sein muß, so wird auf der andern Seite über „Boulevarddemagogie mit
spezifischen Mitteln der Geldmacht" gezetert. Die Zeiten der Demagogenverfolgung
scheinen nach hundert Jahren mit vertauschten Rollen wiederzukehren! Herrn Professor
Weber aber, dem es „vollständig unmöglich" ist, sich über den Streik „zu ent¬
rüsten", obwohl er den unangenehmen Zwischenfall für die Interessen des Kriogis
wie des Friedens" zugibt, möchten wir fragen, ob ihm seine demokratische Ge-
sinnungstüchtigkeit hier nicht die Wertmaßstäbe etwas in Unordnung bringt. Was
ist heute die dringendere und die höhere Aufgabe: seine Parteiinteressen zu
wahren oder das Vaterland vor Schaden zu behüten? Daß Herr Professor Weber
durch seine moralische Lässigkeit gegenüber den deutschen Bolschewisten, deren
Vorstoß nicht nur in Rußland, sondern — nach „Nieuws van den Dag" - auch
bei den Versailler Beschlüssen seine Früchte erntet, der zweiten Aufgabe dient,
wird er selber nicht behaupten können.
Was die Haltung der Regierung während der Unruhen angeht, so findet
sie die gleiche Presse, die den Aufständischen goldene Rückzugsbrücken baut, „un¬
verständlich" und „bedauerlich". Man kann den Spieß umkehren; unverständlich
und bedauerlich finden wir es vielmehr, die klaren Scheidelinien zwischen ver¬
nünftigen Freiheitsforderungen und dem sinnlosen Gebaren „wilder Begierde"
zu verwischen und diesem das Asylrecht jener zu verleihen.
Wenn wir also das energische, zielbewußte Auftreten der verantwortlichen
Stellen gerade im Interesse der Gesamtheit — vestizia Kussorum terrene! — be¬
grüßen und billigen, so ist damit über ihr ferneres Verhalten in keiner Weise
nichts gesagt. Ebenso bedauerlich wie während der Bewegung eine falsche
Schwäche, wäre nach ihrem Abebben eine falsche Schärfe. Eine Machtprobe ha
stattgefunden, und die staatliche Autorität hat zur Enttäuschung aller hämischen
Spekulanten gezeigt, daß sie ihre Position als wahre Führerin der Gesamtheit zu
halten versteht. Nichts wäre verkehrter, als Repressalien aus Verärgerung über
die törichten bzw. verbrecherischen Handlungen der letzten Wochen. Zeigt die
Sozialdemokratie jetzt guten Willen — und wir setzen trotz unliebsamer Neben¬
erscheinungen auf sie das Vertrauen — so kann gerade die über den beginnenden
Terror siegreiche Negierung die Hand zu ehrlicher Wiederaufnahme der gemein¬
samen Arbeit am nationalen Staate bieten. Eine Politik der Vergeltung wäre
das sicherste Mittel, die hinter der alten Partei stehenden Massen in die Arme
der Unabhängigen zu treiben, eine radikale Einigung nach links herbeizuführen.
Von diesem Standpunkte muß man auch die Bestrebungen und Möglichkeiten
einer neuen Parteigruppierung betrachten, die selbst innerhalb der Mehrheit (z. B.
von der „Freisinnigen Zeitung" und dem Zentrumsabgeordneter Kuckhoff
im „Tag") erörtert werden, von der aber die Negierung mit Recht nichts wissen
will. (Siehe „norddeutsche Allgemeine Zeitung".) Denn es handelt sich hier
nicht bloß um eine Machtverschiebung unter den Parteien, sondern infolge der
gänzlich unentwickelten und unbrauchbaren Gestalt unseres Parlamentarismus um
ein völliges Herausspringen einer bestimmten Kräftegruppe aus dein Rahmen des
Ganzen. Die Sozialdemokratie würde dann nicht in eine Opposition treten nach
Art der unterliegenden Partei in England, sie würde nicht nur zeitweilig aus der
Regierungsmaschinerie ausgeschaltet, sondern dauernd aus dem Staate. „Ein
Ausscheiden der Sozialdemokratie, so sagt mit Recht die „Berliner Börsen-Zeitung",
bedeutet „ein Zurückfallen in den Klassenkampf, wie wir ihn vor dem Kriege ge°
habt haben, und zwar in verstärktem Umfange". Der unselige Zustand, den ein
kluger Franzose 1913 in die Worte faßte: „l^e parti socisliZte represente pour
!e KoiLnstaZ un poicis mort" und dem der 4. August ein Ende machte, wäre
wiederhergestellt.
Die hier von uns vertretene Politik der Besonnenheit wird allerdings nicht
gefördert, wenn man sich ans taktischen oder sonstigen Gründen in maßlosen
Übertreibungen gefällt. Schon vor einer Woche wurde an dieser Stelle darauf
hingewiesen, wie schlecht der Demokratie als dem glücklichen Gewinner die betrübte
Leichenbittermiene steht, bloß weil andere ihre berechtigten Forderungen nun auch
anmelden. „Der Gedanke des gleichen Wahlrechts marschiert" („norddeutsche All¬
gemeine Zeitung"), aber auf der Linken herrscht trübe Resignation und düstere
Zukunftssorge. *
Wenn man im Herrenhause noch nicht sogleich die erwünschte moderne Ge¬
staltung findet, schreibt der „Vorwärts": „So werden jetzt die herrschenden Klassen
doppelt bevorzugt, und die heute entrechteten Schichten bleiben so gut wie rechtlos,
der Osterbotschast und dem Julierlaß ist scheinbar Rechnung getragen, in Wirklichkeit
bleibt alles ziemlich beim alten". Und der politische Redakteur des „Berliner
Tageblatts" stimmt in die Klage ein: „Das künftige Abgeordnetenhaus wird im
letzten Grunde nur eine beratende, eine schwatzende Körperschaft sein, und wo es
wirklich zu beschließen hat, bestenfalls ein Anhängsel des Herrenhauses." Geradezu
tragisch aber lautet die Prophezeiung der „Frankfurter Zeitung". Sie sieht das
Ende unserer konstitutionellen Welt heraufdämmern, eine „langsame Aushöhlung
unserer politischen und verfassungsmäßigen Zustände". Unmittelbar zuvor ist die
Rede von „Kräften, die mit immer stärkerer Demagogie in die Öffentlichkeit
drängen." Sie bleiben namenlos; auch wir möchten ihre konkretere Erfassung
dem Leser überlassen!
Zum Schluß noch ein paar Worte über ein praktisches Problem der Wahl¬
reform. In England haben sich Ober- und Unterhaus soeben über ein Kom¬
promiß hinsichtlich der Verhältniswahl geeinigt, wonach das Verfahren zunächst
in hundert Bezirken versuchsweise zur Anwendung kommen soll. Zu der viel¬
erörterten Frage hat Dr. Fraenkel in Heft 4 der „Grenzboten" einen neuen Vor¬
schlag gemacht, der die Dinge wesentlich vereinfacht und hoffentlich die verdiente
Beachtung findet. Ein Nachteil haftet seinem System noch an, auf den schon
Friedrich Thinae hingewiesen hat: es ist jener übermäßige Einfluß der Partei¬
leitungen, der wie Meinecke sich mal ausdrückt, zu „einer Art Vertrustung des
Parlamentarischen Nachwuchses führen" kann. Thinae bemerkt, „es würde nicht
leicht sein, dieser Entwicklung bei dem System der Verhältniswahl", in dem er
den Stein der Weisen verborgen sieht, „vorzubeugen".
In einer Broschüre, die der Direktor des Statistischen Amts in Kassel
Dr. Hugo Riekes im Vorjahre erscheinen ließ („Ein Wahlverfahren mit wirklicher
Wahlrechtsgleichheit"), wird da nun ein unseres Erachtens sehr einleuchtender
und brauchbarer Ausweg gefunden. Nach Fraenkel soll die Wahl derart vor¬
genommen werden, daß „der stimmberechtigte entweder eine Liste oder eine
namentlich bezeichnete Person wählt." Riekes vereinigt beide Arten auf ein und
demselben Stimmzettel: Auf ihm bestimmt der Wähler zunächst eine Person, die
er zum Abgeordneten haben will und erst an zweiter Stelle eine Partei für den
Fall, daß der persönlich namhaft gemachte Kandidat kein Mandat erreicht. Dieses
vom Verfasser als „Alternativwahl" bezeichnete Verfahren gibt dem Wähler völlige
Freiheit in der Wahl seines Vertreters; nur dann, wenn die Stimme sowieso ihren
ursprünglichen Zweck nicht erfüllen kann, tritt an die Stelle des Jndividualwillens
der Parteiwille, d. h. die Ansicht der Parteileitung. Im übrigen decken sich beide
Vorschläge. Auch Nietes berücksichtigt den Fall, daß ein Wähler nur Person wählen
will, er hat dann den zuzweit vorgedruckten Parteinamen zu durchstreichen und
muß es sich gefallen lassen, daß ein bei seinem Kandidaten etwa erzielter Überschuß
über die „Stimmensumme" (Wahlzahl, Veihällniszahl) unter den Tisch fällt bzw.
die auf diesen entfalleneu Stimmen überhaupt, sofern sie den Durchschnitt nicht
erreichen. (Genau so wie bei Fraenkel S. 89, 90.) Bei dem von Riekes ent¬
wickelten Verfahren gelingt es in der'Tat, „aus der Alleinherrschaft der Partei¬
schablone herauszukommen. Es würden mehr Persönlichkeiten und weniger Partei¬
schablonenmänner in die Volksvertretung gewählt werden."
Da das Prinzip der Mehrheitswahl (abgesehen von den sonstigen von
Fraenkel erwähnten Schattenseiten) die Gefahr in sich schließt, daß eine große
Partei mit zunehmender Kopfstärke — wie bei uns die Sozialdemokratie — mit
der Zeit in den Stand gesetzt wird, die anderen zu majorisieren, wie Riekes am
Schluß seiner Broschüre in Zahlen überzeugend darlegt, so ist seine Abschaffung
eine dringende Forderung, will man nicht die schon sowieso durch die Regierungs¬
vorlage eingeleitete Radikalisierung unseres Parlamentes ins Uferlose weiterschreiten
lassen. Über künstliche Hemmungen und Fälschungen des „Volks"willens könnte
man sich von seiten der extremen Linken nicht beklagen, denn gerade das Alter¬
nativ-Verfahren „würde jeder Partei das ihrige geben", insonderheit der Sozial¬
demokratie „das Höchstmaß dessen, was sie verlangen kann", so daß sie immer
noch im Mgeordnetenhause zur mächtigsten Partei wird. Ausgeschlossen aber
wäre wenigstens, daß „an Stelle der politischen Gleichberechtigung eines Tages
er Vorhang fiel langsam über dem Schauspiel von Litauisch-Brest,
so langsam, daß es noch während seines Herabgehens eine große
Überraschung geben konnte: Trotzki, der erste Held des Stückes,
entlarvte sich selbst als bösartiger Narr und heimtückischer Erpresser.
Es ist kein Heldentum in ihm, von welchem Parteistandpunkt man
ihn auch bewerten wollte. Es mangelt ihm Verantwortungsfreudigkeit, das ist
die Voraussetzung jeden Heldentums. Kein Freund der Menschheit, auch keine
tragische Größe! wohl aber ein engherziger, eigensüchtiger Parteimensch, — brutal
in kleinen, ein schwankendes Rohr in den großen Dingen, um die es doch für
Rußland und die Russen ging, auch nachdem es feststand, daß ein allgemeiner
Frieden nicht zustande kommen würde. Wir hatten einen dramatischeren Abgang
erwartet I
Während die maximalistische Regierung ihre Banden in Finnland und Kijew
einfallen ließ, die kaum verkündete Freiheit niederzutreten, während Herr Trotzki
in Brest stündlich die Mitteilung vom Sieg einer angeblich in Wien und Berlin
ausgebrochenen Revolution, sowie vom Zuscunmenbruch der deutschen Macht in
Warschau erwartete, unterzeichneten die Vertreter der Ukraina am Sonnabend,
den 9. Februar 1918, früh 2 Uhr das Friedensprotokoll mit den Mittemächten.
Herr Trotzki hatte sich in eine Sackgasse hineingearbeitet, aus der es kein
Entrinnen zu geben schien. Sein Verhängnis ist es gewesen, daß er nach der
Ausplünderung Estlands es unternahm, auch die friedliche Entwicklung der Ukraina
anzutasten, die sich unter der Leitung der vielköpfigen, aber zielsicheren Rada zu
Kijew anzubahnen begann. Das Vorgehen der roten Banden in Estland öffnete
den Ukrainern rechtzeitig die Augen darüber, was ihren eigenen Reichtümern
drohte. Der Versuch Trotzkis, von Charkow aus — wir müssen wohl fortab
ukrainisch Chürkiw und Kyjiw sagen — die Macht der nordrussischen Arbeiter¬
und Soldatenräte über die der ukrainischen Vvlksrada zu setzen, zwang den
Ukrainern den Entschluß auf, sich vom anarchistischen Nordrußland politisch zu
trennen. Daß die verantwortlichen Personen sich zu diesem Schritt nur schwer
entschlossen haben konnten, wissen wir aus der jüngst in den „Grenzboten" ver-
öffentlichten Zusammenstellung von Herrn Professor Kaindl. In einer fast zwei¬
hundertjährigen gemeinsamen Geschichte spinnen sich zwischen zwei verwandten
Völkern doch so viele Fäden hinüber und herüber, daß ihre staatsmännischen
Führer darüber nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen können. Sie
heischen Berücksichtigung.
Natürlich war der Schritt schließlich nur möglich, wenn die deutschen Unter¬
händler davon abließen, sich von Herrn Trotzki imponieren zu lassen. Und von
diesem Gesichtspunkt aus ist seit dem 12. Januar, das ist seit dem Tage, an dem
Herr Trotzki eine Sicherheit dafür forderte, daß die Mittemächte sich nicht in die
inneren Verhältnisse Rußlands einmischten (..Grenzboten" Heft 3 Seite 80), tat-
kräftig und geschickt verhandelt worden. Herr von Kühlmann hat, unterstützt von
einem Teil der deutschen Presse in den letzten Wochen den Ton gefunden, der
dem Feinde Achtung gebietet und Vertrauen bei den Bedrängten weckt. Wäre
die deutsche sogenannte annexionistische Presse nicht so freimütig in ihrer Kritik
an den anfänglich beliebten Verhandlungsmethoden gewesen, die Kijewer Herren
hätten den Weg zu uns kaum gefunden. Diejenigen Organe der deutschen Presse,
die allen Anfeindungen zum Trotz ihren ablehnenden Standpunkt gegen Trotzki
und Genossen mutig vertreten haben und Herrn von Kühlmann den Rücken
stärkten, dürfen sich somit auch einen Teil des Verdienstes am Zustandekommen des
Friedens mit der Ukraina gut schreiben. Nachdem die Machtfrage durch Herrn
Trotzki aufgeworfen war, mußten wir selbst bereit sein, uns als die mächtigeren
zu bekennen. Kraft gebiert Vertrauen!
Das Ergebnis der Verhandlungen von Litauisch - Brest bleibt sehr erheblich
hinter dem zurück, was viele erhofft hatten, daß es erreicht werden könnte, —
daneben aber wurden neue Tatsachen geschaffen, auf die wir nicht vorbereitet sein
konnten. Vergessen wir nicht: wir suchten einen Frieden mit ganz Rußland so-
wie die Sicherung unserer Ostgrenze. Statt dessen haben wir nur einen Frieden
mit einem Teil des ehemaligen Rußland, eben mit der Ukraina, und keine
Grenzsicherung.
Eine große Überraschung ist uns die Grenzfestsetzung gegen Polen.
Es handelt sich um eine internationale Verewigung jenes von Stolypin 1911
geschaffenen Gesetzes, das den südöstlichen Teil Kongreßpolens, das sogenannte
Cholmer Land, aus den alten Gouvernements Ludim und Sjedletz heraus¬
schnitt. Die Polen haben jene Verwaltnngsmaßnahme, die eine intensivere Russi-
fizierung des neu zusammengefaßten Gebietes einleitete, als vierte Teilung
Polens gekennzeichnet. Nach dem berühmten Erlaß vom 5. November 1916
haben sie bestimmt damit gerechnet, und besonders die österreichisch-ungarischen
Maßnahmen gaben ihnen auch eine gewisse Berechtigung dazu, daß zum mindesten
der Bug die östliche Grenze ihres neuen Staates bilden werde; viele von ihnen
hofften sogar auf eine noch weiter östlich verlaufende Grenze am Seur. Auch der
Verlauf der Grenze nördlich von Brest entspricht durchaus uicht dem, was die
Polen glaubten erwarten zu dürfen. Das polnische Problem bekommt durch die
Grenze ein ganz neues Gesicht', ob es ein freundlicheres ist, können wir aber erst
entscheiden, wenn wir die Konsequenzen kennen, die sich daraus für unsere eigene
Ostgrenze ergeben. Die österreichischen Polen haben zunächst dem Ministerium
Seidler die Gefolgschaft aufgekündigt.
Das wichtigste positive Ergebnis des Friedens scheinen mir, abgesehen von
seiner allgemeinen Wirkung, die wirtschaftlichen Abmachungen zu sein, die
den kapitalistischen Unternehmer im zwischenstaatlichen Verkehr zugunsten staatlicher
Organe recht erheblich zurücktreten lassen. Wir hoffen, baß dies eine Maßnahme
der Übergangswirtschaft bleibt! Von einem Brotfrieden schon heute zu sprechen,
scheint mir indessen verfrüht, auch wenn es Herr Graf Czernin tut. Wir hoffen
und wünschen, daß es im Laufe der Zeit ein Brotfrieden werde, müssen uns
aber doch klar sein, daß der ukrainische Brotkorb noch ziemlich lange recht hoch
hängen wird. Selbst wenn die Vorräte der Ukraina im vierten Kriegs- und
zweiten Revolutionsjahr noch so große Überschüsse aufspeichern sollten, wie versucht
wird uns glauben zu machen, so genügt es auf den Zustand der Transportmittel
hinzuweisen, um sich darüber klar zu werden, daß es April werden kann, ehe die
Eisenbahnen für die Bewältigung des erforderlichen Warentransportes durchlässig
werden. Auf den Donauweg, der berufen ist im deutsch-russischen Massentransport
eirie große Rolle nach dem Kriege zu spielen, können wir, solange der Friede mit
Rumänien nicht zustande gekommen ist, nicht rechnen. Zudem scheinen die Ukrainer
sich ein Eriflenzminimum von nicht unbeträchtlicher Höhe sicherstellen zu wollen,
ehe sie Lebensmittel ans Ausland abgeben. Die Ukrainer wollen in erster Linie
„satte" Bauern und Arbeiter und erst in zweiter Linie „reiche" Exporteure haben:
ein durch Krieg und Revolution verängstigtes Bürgertum läßt sich schon im
Zaume halten, nicht aber eine hungrige proletarische Masse! Die Valuta braucht
der Nada angesichts der großen Reichtümer des Landes vor der Hand weniger
am Herzen zu liegen, als die Zufriedenheit der Bevölkerung, Auch dies Moment
wird das Tempo der Lebensmittelausfuhr zunächst verlangsamen! Darum wollen
Wir auch ruhig bei unserm bisherigen Sparsystem verbleiben und uns durch noch
so schöne Berichte über die Schweineherden und Zuckerschätze der Ukraina nicht
verleiten lassen, üppig zu werden. Wir könnten sonst noch zuguderletzt in eine
mißliche Lage geraten. Es wäre sehr dankenswert, wenn die Regierung die
öffentliche Meinung in diesem Sinne beeinflussen wollte. Solch ein Bremsen
gehört auch unter die Maßnahmen einer planvoll durchgeführten „Übergangs-
wirtschaft!"
Diese nüchterne Überlegung braucht uns aber die Freude an dem, was in
Brest tatsächlich erreicht worden ist, nicht zu verkümmern. Die politische Bedeutung
dieses ersten Friedensschlusses, nachdem wir durch dreieinhalb Jahre nur Kriegs-
erklarungen gehört haben, wäre auch dann nicht zu unterschätzen, wenn er uns im
Augenblick gar keine wirtschaftlichen Vorteile brächte. Die Bedeutung des
Friedens mit der Ukraina liegt in der Tatsache, daß sich überhaupt ein An¬
fang gefunden hat. daß eine Pforte aufgestoßen werden konnte, die aus der
Barbarei des Krieges hinausführt. Solch ein gutes Beispiel wirkt ansteckend.
Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in dem Rücktritt des Ministeriums
Bratjanu die erste größere Fernwirkung des Brester Friedens erblicken. Bratjanu
war der böse Geist, der Politik des Königs Ferdinand, der gegenwärtig auf
ukrainischem Boden in Askania nowa. der wegen ihrer kunstvollen Berieselungs-
anlagen weit über Rußlands Grenzen hinaus bekannten Besitzung der Familie
Falz-Fein, Hof hält.
Eine weitere Fernwirkung erwarten wir auf Belgien. Tritt zwischen der
Ukraina und uns eine wirtschaftliche Annäherung ein, so wird Belgien davon in
ganz hervorragendem Maße betroffen. Nicht nur, daß der ukrainische Markt
näher an den schlesischen. sächsischen und böhmischen Produktionsstätten liegt wie
an den belgischen. — das sind Tatsachen, die weltwirtschaftlich erst nach Eintritt
des allgemeinen Friedens fühlbar werden. Belgien ist an dem jetzigen Friedens¬
schluß so besonders interessiert, weil seine Sparer in etwa siebzig Aktiengesellschaften
auf ukrainischem Boden rund eine halbe Milliarde Franken angelegt haben. Bei
der Kleinheit der belgischen Aktien sind deshalb sehr breite Schichten der belgischen
Bevölkerung an der ukrainischen Industrie beteiligt und vielfach sind die Fäden,
die seitens unserer Diplomatie zu einem Friedensgarn im Westen versponnen
werden können.
Die Segnungen des Friedens von Brest-Litowsk sind indessen nicht sofort reali¬
sierbar. ES hat den Anschein, als müßten sie noch einmal erkämpft werden. Wir
stützen unsere Ansicht mit dem Hinweis auf Herrn Trotz«. In Litauisch-Brest
hat die ruhige und fast zu vornehme Sachlichkeit unserer Unterhändler über die
unverhüllte Demagogie der Herren Trotzki und Radek schließlich doch den Sieg
davongetragen, weil die Ukraina sich in ihrem staatlichen und kulturellen Dasein
durch die Maximalisten Nordrußlands stärker bedroht fühlen mußte als durch
einen selbst nicht so günstigen Frieden, wie er mit den Mittemächten geschlossen
worden ist. Die Bedrohung durch Nordrußland ist aber bestehen geblieben. Wenn
wir Herrn Trotzki recht verstehen, rechnet er folgendermaßen: Nordrußland
steht vor der Hungersnot, falls aus der Ukraina nicht Lebensmittel in großen
Mengen hereinkommen; die Transportverhältnisse lassen es fraglich erscheinen.
ob es technisch möglich sein wird, die Lebensmittel aus dem Süden heranzuschaffen.
Das verhältnismäßig reiche Livland und Estland ist ausgeplündert; die ukrainische
Rada dürfte überdies, sobald in der Ukraina normale Lebensbedingungen mit
starkem Verkehr nach Westen Platz greifen, nur unter der Bedingung genauer
Grenzfestlegungen und der Zurückziehung aller Arbeiter- und Soldatenräte bereit
sein, Lebensmittel zu liefern. Da durch solchen Handel das politische Prinzip der
Maximcilisten durchbrochen würde, muß die Rada beseitigt werden; also heiliger
Krieg wider die feindliche Ukraina, die die Nordrussen durch Hunger besiegen
Willi Abgesehen von diesem Gedankengange dürften sich Trotzki und Lenin klar
darüber sein, daß die Tage ihrer Negierung gezählt find, sobald sie versuchen
wollten das vagabundierende Volk zu friedlicher Beschäftigung zurückzuführen,
solange noch ein „Bourgois" auch nur ein Hemde auf dem Leibe hat. Die Füße
derer, die die Negierung Lenin-Trotzki abzulösen gedenken, stehen in Gestalt der
anarchistischen Organisationen Petersburgs bereits vor dem Smolny-Institut.
Um die Gefahr für sich wenigstens vorübergehend abzubürden, bleibt Trotzki
kaum etwas anderes zu tun übrig, als wenigstens den Versuch zu machen, die
aufgelöste Armee ebenso wie alle Hungernden Nordrußlands gegen die reiche
ukrainische Schwester zu treiben. . .
Eine wichtige Voraussetzung der Realisierung des Friedensvertrages ist somit,
die Ukraina instant zu setzen, sich ihres feindlichen Bruders, der in der Ukraina
nicht ohne Anhänger ist, rechtzeitig zu erwehren.
Die Grenze, die gegen einen Einfall der Maximalisten zu sichern wäre, ist
annähernd 1600 Kilometer lang. Sie zieht sich im Norden, ausgehend von
unseren Stellungen südlich Baranowitschi am Wygcmowski-See östlich über Houel,
dann in südöstlicher Richtung bis an und über den Don und von Jelcmsk südlich
bis etwa Rooo Nossijsk am Schwarzen Meer. Dabei käme es besonders darauf
an, das Industriegebiet des Donezbeckens und die Stadt Charkow zu sichern, wo
ein starkes revolutionäres Proletariat vorhanden ist.
Trifft die hier vorgetragene Auffassung zu, so dürfte sich auch für uns eine
militärische Aufgabe ergeben, die in der Besetzung der ukrainischen Grenze nördlich
des Pripet und in der Säuberung Livlands und Estlands von maximalistischen
Banden gipfelte; denn Herrn Trvtzkis Einstellung des Krieges bedeutet nicht Her¬
stellung friedlicher Zustände und deren Sicherung durch ein Zusammenwirken der
beiderseitigen Staatsorgane. Herrn Trotzkis Verfahren ist durchaus passiv; an uns
ist es, festzustellen, wie weit wir die aus solchen Auffassungen erstehende Anarchie
kommen und wirken lassen wollen.
Wir müssen also als nächstes Ergebnis des Friedens von Brest ein Wieder¬
aufleben des Krieges im Osten mit in den Kauf nehmen. Er dürfte kaum noch
sehr blutig werden, aber manche Strapaze erfordern. Aber die sich eröffnenden
Ausblicke sind auch der geforderten Anstrengungen wert. Hier gilt es, ein reiches
Land und ein begabtes Volk kulturellen Eigenleben zuzuführen und ihm eine
friedliche staatliche Entwicklung zu sichern. Ein Blick auf die physikalische Karte
der Ukraina zeigt uns schon die größte der Aufgaben, die zu leisten die Ukrainer
durch den Frieden von Brest moralisch verpflichtet werden: die Erschließung des
Stromgebiets des Dujepr. Es scheint der Sinn der Grenzführung im Norden
und Westen zu sein, nicht nur ethnographischen Gesichtspunkten gerecht zu werden,
sondern mehr noch dem Volk auch die volle Verantwortung für ein Wasserstraßen-
system zu übertragen. Dujepr und Pripet könnten, einmal schiffbar gemacht, für
Osteuropa eine ähnliche Bedeutuug gewinnen, wie sie die Donau für Mitteleuropa
hat. Die Trockenlegung der Pripetsümpfe und die Beseitigung der Stromschnellen
am Unterlauf des Dujepr sind nächst den vorhandenen Reichtümern die Voraus¬
setzungen für die wirtschaftliche Selbständigkeit des Landes.
Ich muß mi/leider versagen, die in diesen Zeilen angeschlagenen Probleme
tiefer anzufassen. Die staatbildenden Faktoren" der Ukraina habe ich vor drei
Jahren an dieser Stelle dargestellt. In Zukunft werden wir uns öfter mit dem
jungen Staate zu beschäftigen haben, an dessen gefahrenumbrandeter Wiege wir
stehen. Möge der Friede von Brest der Ausgangspunkt eines Zusammenwirkens
zwischen Deutschen und Ukrainern werden, das uns befähigte, unsern Friedens-
willen der Welt gegenüber glücklicher zu vertreten, wie in den Jahren vor dem
Weltkriege. Möge aus dem Friedensschluß ein Bündnis der Arbeit erwachsen.
Annektieren. Es ist in unseren Tagen so viel von Annexionen die Rede,
daß es an der Zeit scheint, einmal dem Ursprung des Wortes nachzugehen, das
i>n Deutschen nicht zufällig Fremdwort ist. Aus lateinisch snneotere ist das Zeit¬
wort schon im sechzehnten Jahrhundert ins Deutsche gelangt: in der Form an-
nection ducht es sogleich das erste Fremdwörterbuch unserer Sprache, das Simon
Roth in Augsburg 1571 hat drucken lassen. Die Bedeutung ist hier, dem Latein
entsprechend, „aneinanderknüpfen", und so. bleibt es bis ins 19. Jahrhundert, z. B.
kennt noch Campes Fremdwörterbuch von 1811 allein diese Bedeutung. Inzwischen
hatte bei unseren gegenwärtigen Feinden im Westen eine über das Substantiv
(lat. nexus) geleitete Entwicklung zu französisch annexer. englisch de> Annex geführt.
Als im Jahre 1845 die Vereinigten Staaten dein benachbarten Mexiko den Staat
Texas abnahmen, da fanden die Yankees für ihren Raub den milden Ausdruck
annex, der alsbald europäisches Zeitungswort wurde und in der Form annexieren
nach Deutschland gelangte. Amtlich das Wort zu gebrauchen hatte in Europa
seit etwa 1860 vor allem die Diplomatie, des Lmpirs-Ja-paix Anlaß, namentlich
bei ihrer Politik gegen Sardinien und Savoyen. Das amerikanische Vorbild bleibt
dabei lebendig, so urteilt im Jahre 1865 Heinrich von Treitschke. „Historische Auf¬
sätze" S. 536: „Napoleon der Dritte hat sein berufenes Wort Annexion dem ameri-
kmiischen annexstion nachgebildet". In gleichzeitigen deutschen Blättern spielt das
Wort seine Rolle und wird früh verspottet. So spricht der „Kladderadatsch" vom
19. Februar 1860 parodierend von einer „Annexion beider Lippen an Preußen".
Im gleichen Jahre verspottet der „Kladderadatsch" König Viktor Emanuel als
„Annexander den Großen". Über diesem plötzlich gehäuften Gebrauch besannen
sich die Deutschen auf ihr älteres Lehnwort annektieren. Lothar Bucher macht
sich in seinen „Bildern aus der Fremde" 1 (1862) 374 darüber lustig: „(Seit 1855)
haben die Deutschen mit gewohnter Gründlichkeit bewiesen, daß man von Louis
Napoleon nicht sagen müsse: er annexirt, sondern: er annectirt — was ihm ziemlich
gleichgültig sein wird, wenn die Deutschen ihn nur nicht hindern zu nehmen, was
er haben will". Entsprechend berichten die „Grenzboten" 26 III 144 im Rückblick
von 1867: „Savoyen bot das erste Paradigma für das moderne Zeitwort annek¬
tieren". Den alten Wortsinn ins Verfängliche zu verschieben und uns erneut
damit zu beglücken, blieb nach alledem unsere» gegenwärtigen Feinden vorbehalten.
Das Spiel scheint sich in unseren Tagen bei Desaunexion wiederholen zu sollen.
/----Wir bitten die Freunde der ::
Grenzboten
das Abonnement zum II. Quartal 1918
erneuern zu wollen. — Bestellungen Verlag der
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nimmt jede Buchhandlung und jedes. in. b. Ä.
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verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleiuow in Berlin-Lichterselde West. - Manuslriptsendungen und
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Verlag: Verlag der Greuzbotsn G, in. b. H. in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer Wz-
Druck: „Der Reichsbote" G, »>, b, H, in Berlin SV 11. Dessauer Strasze 3«/it7.
as Versprechen der englischen Regierung, dem jüdischen Volk eine
nationale Heimstätte in Palästina zu verschaffen, hat den Zionismus
mit einem Schlage zu einem Faktor der Weltpvlitik gemacht. Die ge¬
samte englische Presse hat die Erklärung Balfours gebilligt, und
zweifellos hofft man hierbei auf englischer Seite jüdische Sympathien
^ im Ausland zu gewinnen. So schreibt- „Manchester Guardian" vom
^ovember 1917: „Die Regierung hat sicherlich eine Politik von großer und
weittragender Bedeutung proklamiert, aber die letztere kann nur ihre vollen
fruchte tragen, wenn die Juden der ganzen Welt ihre Bemühungen vereinen".
der Tat erklärt z. B. Dr. S. Finkelstein in einem Interview der großen
mNvedischen Zeitung „Dagens Nyheter" vom 21- November 1917: „Die Juden
ver ganzen Welt sagen England für sein Versprechen Dank und hoffen, dasz alle
anderen zivilisierten Staaten sich England anschließen werden". Demnach dürfte
vie Stellungnahme der deutschen Juden von besonderem Interesse sein.
5 Ich habe mich verschiedene Male in liberalen Blättern scharf gegen eine he-
mmende Richtung im Zionismus gewendet; es handelt sich hierbei um jene extreme
national-jüdische Propaganda, die in der deutschen Judenheit künstlich eine
hebräische Sprachkultur zu züchten sucht, und zu diesem Zwecke die Errichtung
von jüdischen Volksschulen betreibt. Unabhängig von diesen gefährlichen natio¬
nalistischen Spielereien ist der große Gedanke des Zionismus, wie ihn Theodor
Kerzl verkündigt hat. dem verfolgten und verachteten jüdischen Volke eine Heim-
tatte in Palästina zu geben. Dieser Grundgedanke ist es allein, dem die zionisti-
ichen Parteien ihre große Zahl von Anhängern verdanken, und ihm können wir.
me wir jede jüdisch-nationale Propaganda in Deutschland verwerfen, unsere
Sympathie nicht versagen. Es kommt hierbei insbesondere in Betracht, daß es
Nußland, Polen, Rumänien, Tausende und Abertausende von Juden gibt
denen kein Unbefangener eigenes, nationales Leben absprechen kann, und' denen
^ "Wenn ich deiner vergesse, Jerusalem, dann verdorre meine Zunge", keine
Phrase, sondern Erleben und Ausgabe bedeutet.
, Für überaus bedenklich aber halten wir es, die Zukunft der jüdischen Nation
die Hände Englands zu legen. Dies widerspricht schon dem rein jüdischen
Interesse. Wird Palästina ein Judenstaat unter englischem Protektorat, so wird
Zweifellos bei der großen Geschicklichkeit der Engländer im Kolonisieren (man
vente nnr an die Vurenstaaten) englischer Geist bald das ganze Land beherrschen,
'-s wird dann jene Kluft zwischen den Generationen entstehen, die wir schon jetzt
in Amerika beobachten können, wo der aus Rußland eingewanderte zionistische
Vater bis auf die letzte Förmlichkeit dem jüdischen Stamme treu bleibt, wahrend
der Sohn sich inner- und äußerlich dem amerikanischen Geiste anzupassen versteht.
Dieser englisch-amerikanische Geist, den man als den Geist des Pragmatismus
kennzeichnen kann — so z. B. zutreffend Scholz in seiner empfehlenswerten kleinen
Arbeit über „das Wesen des deutschen Geistes"*) — d. h. als die Wertauffassung die
das praktische Leben nicht an den Ideen, sondern die Ideen an den Bedürfnissen
des praktischen Lebens mißt, steht in schroffsten Gegensatz zu dem religiösen Ethos
des Judentums. Wird aljo das Interna unter den Einfluß und in den Dienst
des englischen Imperialismus gestellt, so siegt das nationale Judentum, aber auf
Kosten des Judentums, d. h. auf Kosten alles dessen, was am Judentum wertvoll
und wesentlich ist.
ES ist demnach kein Zufall, daß selbst der Vorkämpfer des extremen
jüdischen Nationalismus, Martin Bub er, in seinem „Geist des Judentums""*) auf
die Verwandtschaft von Deutschtum und Judentum hinweist und im Hinblick auf
diese gerade bei Deutschland Schutz und Unterstützung erhofft. Noch weit gründ¬
licher aber und tiefer schürfend hat Hermann Cohen in seiner trefflichen Arbeit
die innigen Beziehungen von „Deutschtum und Judentum"***) dargestellt. Cohen
folgert aus der Einheit, die die ganze bisherige Geschichte zwischen Deutschtum
und Judentum angebahnt habe, sogar „daß auch dem Juden in Frankreich, in
England und in Nutzland Pflichten der Pietät gegen Deutschland obliegen; denn
es ist das Mutterland seiner Seele, wenn anders seine Religion seine Seele ist".
Demnach kann eine jüdische Autonomie in Palästina schon vom rein jüdischen
Gesichtspunkte nur im Anschluß an die Mittelmächte in Betracht kommen. Zumal
die von England erstrebte Unterdrückung der muselmännischen Bevölkerung bedeutet
eine Ungerechtigkeit, die dem ethischen Charakter des Judentums aufs schroffste
widerstreitet und von seinen Bekennern und im wohlverstandenen eigenen Inter¬
esse nicht mitgemacht werden kann. ^
Selbstverständlich ist aber, — denn das Moralische versteht sich immer von
selbst — daß wir deutschen Juden, die wir uns national als Deutsche, nur als
Deutsche fühlen, als entscheidend lediglich den deutschen Gesichtspunkt anerkennen
können. Von diesem müßten wir eine, wie immer verhüllte, englische Vorherr¬
schaft in Palästina als ein Unglück ansehen; Wohl zu billigen ist aber auch vom
deutschen Standpunkt die Schaffung der von den Zionisten erstrebten jüdisch-
autonomen Heimstätte in Palästina, durch welche die Souveränität der Türkei in
teurer Weise angetastet werden soll und bei der demnach auch die Interessen der
christlichen und der muselmännischen Bevölkerung durchaus zu wahren sind. Bereits
mehrfach ist hervorgehoben worden, daß die deutschen Sprach kenntnisse der in
Palästina eingewanderten Juden sich für die Handelsbeziehungen zu Deutschland
als äußerst vorteilhaft erweisen dürften.
So ergibt eine unbefangene Betrachtung, daß die Interessen des Zionismus
mit denen der Mittelmächte Hand in Hand gehen. Die „Jüdische Rundschau"
(Januar 1917), das offizielle Organ der deutschen Zionisten, bezeichnet denn auch
die Erklärung, die der stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen namens der deutschen Reichsregierung
zu der Judenfrage, insbesondere über die Bestrebungen der Zionisten in Palästina
abgegeben hat. als eine ebenso wichtige wie erfreuliche Zustimmung zu den Haupt¬
förderungen,, welche die Judenheit der ganzen Welt gegenwärtig erhebt, wobei
sie auf die Entschließung der deutschen zionistischen Zentrale vom 23. Dezember 1917
verwetst, welche der Reichsregierung, ihren Dank für das wohlwollende Interesse
ausspricht, das sie während der gesamten Kriegsdauer der jüdischen Siedlung in
Palästina zugewandt habe. — In der Erklärung des Auswärtigen Amtes vom
5. Januar ist die Absicht der kaiserlich osmanischen Regierung begrüßt worden, die
aufblühende jüdische Siedlung in Palästina durch Gewährung von freier Ein¬
wanderung und Niederlassung, von örtlicher Selbstverwaltung und freier Entwicklung
ihrer kulturellen Eigenart zu fördern. Die „Jüdische Rundschau" bezeichnet diesen
Schritt als öffentliche Zustimmung der deutschen Regierung zu den zionistischen
Bestrebungen und ist überzeugt, das; diese Kundgebung in den weitesten jüdischen
Kreisen freudigen Widerhall erwecken wird. Im Zusammenhang alt den Aeuße¬
rungen des Grafen Czernin. daß die österreichische Regierung den zionistischen
Bestrebungen mit Wohlwollen gegenüberstehe und sie zu fördern beredt sei und
der amtlichen Auslassung des Großwesirs Talaat Pascha kann nunmehr von einer
einheitlichen Stellungnahme der Zentralmächte zugunsten der zionistischen Frage
gesprochen werden*). ^ ^ „ ...^ ^. ^
Ist somit die Grundlage eines Zusammengehens aller jüdischen Richtungen
in den wesentlichsten Fragen gegeben, so erscheint umso gefährlicher eine seit längerer
Zeit von extrem-national-jüdischer Seite betriebene Agitation, welche in ihren
Forderungen weit über die Grenzen des Nützlichen und Möglichen hinausgeht;
ich denke hierbei insbesondere an die maßlosen und ungerechten Angriffe, welche
gegen die deutsche Regierung erhoben werden, weil diese sich nicht mit den lüdisch-
naüvnalen Bestrebungen in den besetzten Gebieten Rußlands und Polens identi-
Wert. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht z. B. der programmatische Artikel, den
Theodor Behr über „Deutschlands Judenpolitik" veröffentlicht; diese Arbeit verdient
unsere besondere Beachtung, weil sie in Martin Bubers „Juden" (Dezember 1917)
an leitender Stelle erschienen ist — einer Zeitschrift, die unbestritten das erste
Organ des deutschen Nationaljudentums ist, und die durch den hohen geistigen
Gehalt vieler ihrer Beiträge mit Recht eine geachtete Stellung in der indischen
Presse überhaupt einnimmt, ja von Außenstehenden sogar vielfach als „das" in-usche
Organ angesehen wird. Die Arbeit Behrs kann man beinahe als em Ultimatum
an die deutsche Regierung bezeichnen. Vehr führt aus;
„Der grundsätzliche Fehler der deutschen Judenpolitik liegt klar zutage; es
ist die Verkennung der Stärke der jüdischen Nation. Die Deutschen waren zu
sehr daran gewöhnt, jüdische Dinge ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer
konfessionellen Angelegenheit zu betrachten. . - - Es Ware em unverzeihlicher Fehler
der deutscheu Politik, wenn sie es endgültig unterließe, das Wenige zu erfüllen,
was die Juden von Deutschland erwarten. Das ist, um es noch einmal kurz
zusammenzufassen: die Anerkennung der jüdischen Nation als eines eigenen Volkes
mit nationalen Rechten in den Ländern des Ostens, wo die ^uden in Massen
gesiedelt sind, sowie die Anerkennung der jüdischen Forderung auf Schaffung eines
jüdisch-nationalen Zentrums in Palästina." („Der Jude". «Seite 58b.)
Daß dieser letzteren auf Palästina bezüglichen und vom wohlverstandenen
Interesse des Zionismus allein wesentlichen Forderung die deutsche Regierung zu
allseitiger Zufriedenheit Rechnung getragen hat. ist oben dargelegt worden. Als
gänzlich abwegig müssen wir es aber auch von unserem gutnidischen und ziomsten-
freundlichen Standpunkt bezeichnen, wenn Behr es so darstellt, als hätte Deuisch-
land im Weltkriege nicht dringendere Aufgabe und Beruf, denn sich als Schildträger
des nationalen Judentums in die Angelegenheiten der anderen Staaten und
Nationen zu mischen und sich so den Kampf um die eigene nationale Existenz zur
Genugtuung aller Feinde noch selbst zu erschweren.
"
„Es kann keinem Zweifel unterliegen — bemerkt Behr. — „daß die
jüdische Welt heute immer mehr dazu getrieben wird, an eine ganz andere Ent¬
wicklung zu glauben, die sie zwingen würde, ihren Dank nicht bei Deutschland
abzustatten. Neben der unbefriedigender Stellungnahme Deutschlands in der
palästinischen Frage trägt hierzu das absolute Stillschweigen der deutschen Re¬
gierung in der Frage der rumänischen Juden und in noch stärkerem Maße die
Haltung bei, die Deutschland zu den nationalen Bestrebungen der Juden in dem
von den Deutschen besetzten Gebiete in Polen und Litauen einnimmt. Es ist in
der Tat schwer zu verstehen, warum die deutsche Regierung so ängstlich zögert,
auch nur mit einer Silbe anzudeuten, daß die rechtliche und nationale Gleich¬
stellung der rumänischen Juden ihr als eines ihrer Friedensziele erscheint. An¬
gesichts des Eifers, mit dem sie sich für die Abstellung der Beschwerden der irischen,
indischen und Gott weiß welcher exoiischen Völker einsetzt, ist ihr Stillschweigen
gegenüber der wahrhaftig nicht weniger belegten Unterdrückung der rumänischen
Juden höchst sonderbar". (Seite 583.)
Also als Preis für die Sympathie der Nationaljuden wird hier von der
deutschen Regierung verlangt, daß sie die rechtliche und nationale Gleichstellung der
rumänischen Juden als Friedensziel feststellt. Das ist Amateurpolitik schlimmster Art.
Und es ist eine Irreführung, wenn Behr eS so darzustellen sucht, als hätte Deutsch¬
land auch die Gleichstellung „der irischen, indischen und Gott weiß welcher eroti¬
schen Völker" jemals als sein Friedensziel ausgegeben. In Wahrheit hat unsere
Regierung ledrglich das heuchlerische Gerede der Ententediplomaten voll dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker, in dessen Namen man den Anspruch auf
Elsaß-Lothringen zu erheben wagt, sowie die Zerstückelung Österreich-Ungarns
verlangt, dadurch entlarvt, daß sie — nach dein Grundsatz Lliarit^ KeZins se
uvae — die Frage aufwarf, wie es denn mit der Selbstbestimmung der unter
englischer Zwangsyerrschaft schmachtenden Völür stehe"). Im übrigen entbehrt
es nicht einer gewissen Pikcmterie, zu sehen, daß, während Büder noch in seinem
„Geist d^s Judentums" diesen als den Geist Asiens deklariert und erhalten zu
wissen wünscht, ja gerade für ihn den Schutz der deutschen Regierung in Anspruch
nimmt, man jetzt in dem Organ Bubers Nationen wie die Inder und Iren als
„exotisch" herabzuwürdigen sucht, um so den verantwortlichen deutschen Staats¬
männern etwas anhängen zu können. Auch hierin wird die ganze Kurzsichtigkeit
und Überheblichkett dieser jüdisch-nationalistischen Politik offenbar.
Das Verlangen Behrs, Deutschland solle als Friedensziel die Anerkennung der
jüdischen Nation in den östlichen Ländern verkünden, ist nicht erörterimgsfnhig; denn
1. kann sich Deutschland für den steilen Weg zum Frieden nicht mit übermäßigem
Gepäck belasten und muß daher seine Foroerungen auf deutsche und nicht auf
nationaljüdische Interessen einstellen; 2. müßte sich die Forderung der Aner¬
kennung der jüdischen Nation doch sinngemäß auf die in den gleichen sozialen
Verhältnissen lebenden Jud'en Galiziens und der Bukowina erstrecken; nun ist
diese aber von den maßgebenden österreichischen Behörden stets mit größter Ent¬
schiedenheit abgelehnt worden; insbesondere enthält „das Erkenntnis'des Reichs¬
gerichts vom 26, Oktober 1909 eine stritte Dekretierung, die Juden in Osterreich
bilden keinen Volksstamm (Nationalität), die ganze historische Entwicklung der
Juden gehe dahin, die Juden lediglich als Neligionsgesellschaft zu betrachten und
zu behandeln." So Dr. M. Rosenfeld-Przemysl in den „Neuen Jüdischen Monats¬
heften" vom 10. bis 25. September 1917/'") Demnach muß die hier zurückgewiesene
nationaljüdische Agitation auch in Osterreich Mißtrauen erwecken und das Ver¬
hältnis zu unserm Bundesgenossen schädigen; 3. wäre aber auch die Klausel eines
Friedensvertrages ein ganz ungeeignetes Mittel, um das von nationaljüdischer
Seite erstrebte Ziel zu erreichen. Grade das Beispiel Rumäniens sollte doch zeigen,
wie wenig damit getan ist. wenn ein Staat wider seinen Willen die Anerkennung
der jüdischen Gleichberechtigung auf einem internationalen Kongresse versprechen
muß. Er mag sie ruhig versprechen; wer gibt die Sicherheit dafür, das; er das
Versprechen auch hält? ^. ^. . ^
Aber für manche jüdischen Rationalisten ist die Geschichte nur dazu da, um
nichts daraus zu lernen. Ein völlig weltfremdes Jdeologentum erhebt hier allen
Ernstes Anspruch darauf, auf die Geschicke des Deutschen Reiches Einfluß zu ge¬
winnen. Nun besteht ja glücklicherweise nicht die Gefahr, daß die sehr achtbaren
Literaten um Büder gerade ins deutsche Auswärtige Amt berufen werden; aber
wir Juden haben alles Interesse, daran zu denken, daß nicht unsere Gemeinschaft
durch solche Amateurpolitiker geschädigt werde. Zurückzuweisen sind daher tue
Angriffe, die von nationaljüdischer Seite immer wieder gegen die deutsche Ver-
waltung in Polen und insbesondere auch gegen den jüdischen Reichstagsabgeord-
neten Ludwig Haas erhoben werden, der dort in verantwortlicher Stellung tätig
ist. Es ist gänzlich abwegig, wenn Behr es als ein Kapitalverbrechen der deutschen
Judenpolitik bezeichnet, daß man sich in Litauen dem indischen Nationalgedanken
sympathischer gegenüberstellt als in Polen. . > .
,.Es braucht nicht mehr in eine Untersuchung darüber eingetreten zu werden,
ob die polnischen Juden eine Nation darstellen oder nicht. Diese Frage ist er¬
ledigt, und wenn die deutsche Verwaltung in Ober-Ost mit euiem gewissen Nach¬
druck veröffentlichen läßt, daß sie an dem Begriff der Mischen Nationalität in
Litauen nicht zweifle und ihre Gleichstellung mit den anderen Nationen durch,
geführt habe, so beweist das am besten, daß diese Frage von der deutschen Ver¬
waltung nicht als eine prinzipielle, sondern als eine der politischen TakM^wird. In Ober-Ost paßt es in das politische System, die indische Nation an¬
zuerkennen, in Polen nicht und daher die sich entgegenstehende Auffassung der
beiden Verwaltungen. Man begreift, daß es den. jüdischen Volke wie eure Schmach
erscheinen muß, seine Existenzrechte lediglich unter dem Gesichtspunkte des politischen
Spiels gewertet zU sehen." (S. 584.) „ ^ >-
Demgegenüber sind wir allerdings der Auffassung, daß man auswärtige
Politik nicht nach prinzipiellen, will sagen: doktrinären, sondern nach politischen
Rücksichten betreiben nutz. Ich halte - um es noch einmal zu wiederholen -
die ..nationale Heimstätte in Palästina" für ein Ziel, des Schweißes der Edeln
wert. Ich habe auch, so entschieden ich das Bestehen einer Mischen Nation in
Deutschland bestreite, stets den nationalen Charakter des Ostiudentums aner-
konnt, und ich meine, daß alle Bestrebungen der Oshuden. diese ihre nationale
Sonderexistenz zu schützen, unsere größte Sympathie verdienen. Nur in dem
kaun ich mich mit Herrn Behr nicht einverstanden erklaren, daß es die Aufgabe
des deutscheu Volkes wäre, für die jüdische Autonomie in Polen seine Haut zu
Markte zu tragen. Eine deutsche Regierung, die um der nationalen Rechte der
Juden willen sich die Polen unnötig verfeinden wollte, wurde keine acht Tage
im Amte bleiben. Und was wäre denn damit erreicht, wenn die deutsche Ver¬
waltung, gestillt auf ihre militärische Macht, von den Polen die nationale An¬
erkennung der Juden erzwingen sollte. Die nationale Empfindlichkeit der Polen
würde aufs äußerste gereizt' werden, und es würde sich diese Erbitterung nach
Friedensschluß in furchtbarer Weise gegen die kleine jüdische Minderheit Luft machen.
..Angesichts dieser Situation konnte die deutsche Regierung, wenn sie sich
nicht dem Vorwurf der Perfidio aussetzen wollte, unmöglich Maßnahmen im
jüdisch-nationalistischen oder zionistischen Sinne treffen. Sie mußte vielmehr sich
darauf beschränken, für die Juden diejenige Behandlung zu erreichen, welche in
Westeuropa üblich ist und müßte es einer späteren, okkupationsfreien Zeit über-
lassen, ob sich Juden und Polen im national-gelinden Sinn auseinandersetzen.
Die deutsche Verwaltung hielt es außerdem für unverantwortlich, diese wirtschaftlich
deklassierte, moralisch noch nicht ertüchtigte jüdische Masse dem Haß der wirt¬
schaftlichen Vertilgung durch ihre Schuld auszusetzen."
So der Bericht des nach Polen zur Wahrung der religiösen Interessen der
polnischen Juden durch die Frankfurter „Freie Vereinigung" entsandten Rabbiners
or.Kohn aus Ansbach. („Jüd. Rundschau" 1918 S,3.) Demnach ist es tiefbedauer¬
lich, wenn man von rationalistischer Seite das Wohlwollen der deutschen Regierung,
die sich den größten Dank der Judenwelt verdient hat, mit ganz ungerechtfertigten
Angriffen vergilt. Hierdurch wirst mau der deutschen Verwaltung in ihren Be¬
strebungen für das Judentum geradezu Knüttel zwischen die Beine; die Folge
kann nur eine empfindliche Schädigung der polnischen Juden sein (vgl. hierzu
insbesondere den Bericht über die Erklärung des Reichstagsabgeordneten or. Haas,
„N. Jüd. Monatshefte" 1917 Bd. 2 S 28). Zugleich aber bringt man Deutsch¬
land in unverantwortlicher Weise vor dem Auslande in Verruf. In dem Behrschen
Artikel sind diese Angriffe doppelt empörend, weil gerade Behr wiederholt auf die
Wichtigkeit der Sympathien der ausländischen Juden hinweist. 99 Prozent der
deutschen Juden lehnen für solche Politik jede Verantwortung ab.
Aber auch andere Ausführungen Behrs fordern entschiedenen Widerspruch
heraus. So, wenn er von der Türkei die Erfüllung der palästinensischen Forde¬
rungen mit der Begründung verlangt:
„Der einheitliche Wille des altweltlichen Judentums, wie er sich in diesem
Kriege in seinen gemeinsamen Forderungen verdichtet hat, wird sich nach dein
Kriege auch in seiner Macht zeigen. Und daß diese Macht auf dem Gebiete der
Finanzen, der öffentlichen Meinung, der Beeinflussung der Poliiik nicht gering ist,
steht heute fest. Man kann nur wünschen, im Interesse der harmonischen Ent¬
wicklung des jüdischen Volkes ebenso wie der gedeihlichen Zukunft des Türkischen
Reiches, daß die türkischen Staatsmänner noch rechtzeitig sich dieser Möglichkeiten
bewußt, werden". (S. 580.)
Ähnlich heißt es bei Besprechung der deutschen Judenpolitik: „Es ist offen-
bar so, daß bei der Abwägung der verschiedenen Interessen die Bedeutung der
jüdischen Interessen für die deutsche Außenpolitik in Deutschland unterschätzt wird.
Man ist in Deutschland noch zu wenig vertraut mit dem Begriff der jüdischen
Nation, des jüdischen Einheitswillens, der jüdischen Volkspolitik". (S. 582.) Dem¬
gegenüber muß betont werden, daß es auf politischem Gebiet „einen einheitlichen
Willen des altweltlichen Judentums" nicht gibt (oder doch nur in der Phantasie
der Antisemiten) und daß wir deutschen Juden die Einreihung in ein politisches
Allerweltsjudentum als Beleidigung und Verdächtigung zurückweisen.
Es ist nicht ungefährlich, gegen die Agitation der nationaljüdischen Hei߬
sporne aufzutreten, aber es ist nicht möglich, länger zu schweigen. Planmäßig
sucht man auf jener Seite die Grundlagen unserer Gemeinschaft zu unterwühlen.
Dahin zielt es, wenn der bekannte jüdische Nationalist Professor Dr. Loewe in
den „Neuen Jüd. Monatsheften" vom 10. Oktober 1916 die jüdischen Gemeinden
auffordert, jüdisch-nationale Schulen. Volksschulen, Realschulen, Gymnasien zu
errichten, dahin, wenn der gleichfalls national-jüdische Rechtsanwalt Dr. Kvl-
lenscher, der Gemeindereserent der „Neuen jüdischen Monatshefte" es in diesen
(Ur. vom 10. November 1916) als Losung ausgibt, die jüdischen Gemeinden
sollten die Fragen des Kultus und Ritus aus ihrer Zuständigkeit ausschalten und
diese vielmehr freien, innerhalb der offiziellen Synagogengemeinden zu bildenden
religiösen Gemeinden überlassen — was doch auf nichts anderes hinauslaufen kann,
als die jüdischen Gemeinden zu nationalen Organen zu machen. Wohin die
Reise geht, zeigt am deutlichsten ein Artikel, den Gust. Landauer, wohl der geist¬
vollste Vertreter des Buberschen Gedankenkreises im „Juden" (Oktober 1916) über
„Ostjuden und Deutsches Reich" veröffentlicht:
„Denn das sei zum Schluß noch gesagt: bilden wir uns ja nicht ein, daß,
wenn wir im rechten Geiste unsere Einheit mit dem gesamten Judentum zur Tat
werden lassen, wir Westlichen es seien, die da hülfen und jene Östlichen, denen
geholfen würde. In aller hoffnungsvollen Demut vielmehr wollen wir erkennen,
daß Rettung, Aufschwung und Erneuerung der gesamten Judenschaft not tut und
daß wir dem Schicksal innig zu Dank verpflichtet sind, wenn es uns die Gnade
gewährt, daß die Not der Ostjuden in all ihrer Gräßlichkeit unsere eigene wird.
Nichts Besseres könnte uns zuteil werden, als daß wir uns in dieser europäischen
Menschheit, wie sie jetzt ist. als ganz Fremde. Verlassene und Verstoßene fühlen."
Es fällt mir nicht ein, das reine Wollen dieser jüdischen Nationalisten zu
bezweifeln, aber es ist nicht länger zu dulden, daß sie als die berufenen Vertreter
der deutschen Juden angesehen werden. Wir wollen nicht, daß das Elend der
russischen Juden das unsere werde, nicht, daß unsere Kinder sich als entrechtete
Para in Deutschland sühlen, sondern wir wollen, daß sie als freie Bürger eines
freien Staates ihren Kopf aufrecht tragen — einen Erdenkopf, der der Erde
Sinn schafft/)
Weit von uns weisen aber müssen wir alle Bestrebungen, die darauf hinaus¬
laufen, uns in Gegensatz zu unserem Vaterlande zu bringen. Dahin gehört es,
wenn in derselben Nummer des „Juden", die mit dem Behrschen Artikel eröffnet
wird, in einem weiteren Aufsatz Egon Rosenberg einen „Kongreß der deutschen
Juden" und im Anschluß hieran einen Kongreß der Juden aller Länder fordert.
„Der Friedenskonferenz werden die Kongresse, wird der Kongreß der Juden
aller Länder vorangehen. Er wird die Forderungen für das jüdische Volk, denen
die Sympathien der Völker gesichert sind, in dessen eigenen Namen aufstellen und
wird die Organisation und die Mittel schassen, diese Forderungen durchzuführen. —
Es soll der Kongreß der Juden aller Länder werden. Auch der deutschen Juden.
Es ist sicher, daß sich gegen den Gedanken des Kongresses diejenigen Kreise der
deutschen Juden wenden werden, denen an einer Erhaltung und Fortentwicklung
des Judentums nichts gelegen ist. Aber es muß endlich die scharfe Trennungs¬
linie gezogni werden. Die aus dem Judentum heraus wollen, dürfen nicht länger
ihre, das Judentum zerstörenden Absichten hinter dem Schein jüdischer Interessen
verstecken. Die deutscheu Juden aber, die ihr Eigendasein verteidigen und das
Leben ihrer Gemeinschaft sichern wollen, werden sich dem großen Geschehen dieser
Zeit nicht entziehen können." (S. 590/91.)
Wir deutschen Juden verwahren uns ganz entschieden gegen die Zumutung,
mit Angehörigen feindlicher Staaten zu pale'leren. Ein solcher alljüdischer Kongreß
könnte sich auch nicht durch den Hinweis auf die internationalen Sozialisten¬
konferenzen rechtfertigen; denn diese sollten im Interesse aller Länder den Frieden
anbahnen, jener aber soll national eigensüchtige Zwecke verfolgen. Wir deutschen
Juden können auf dem Friedenskongresse keine andere Vertretung als die unsere
anerkennen, denn die unseres Vaterlandes. Und wir weisen es zurück, daß man
unsere selbstverständliche, staatsbürgerliche und nationale Stellungnahme zum
Anlaß nimmt, unsere Treue zum Judentum in Zweifel zu ziehen, ja daß eine
kleine Minderheit den Versuch macht, alle, die ihre Irrungen nicht billigen,
geradezu aus dem Judentum herauszudrängen.
Man hat den Patriotismus der deutschen Juden früher oft dadurch zu ver¬
dächtigen gesucht, daß man auf ihre Zugehörigkeit zu den Parteien der Linken
hinwies; allerdings, die deutschen Juden stehen im allgemeinen zum Liberalismus,
dem sie ihre Gleichberechtigung verdanken; aber dann gilt von ihnen auch, was
Ziegler einst von den deutschen Demokraten sagte: die Herzen der deutschen Juden
und da, wo Deutschlands Fahnen wehen.
ohänu Gottlieb Fichte, nach französischer Anschauung einer der Stamm-
Väter des bösenGeschlechtes-der Nietzsche, Treitschke. Bernhard! und wie
W die „Pangermanisten" auf dem Index des Auslandes sonst noch heißen
WUHHW K mögen, bemerkt im „Maechiavelli": „Jede?!aiion will das ihr eigen-
MN^MM tunlich Gute soweit verbreiten, als sie irgend kann und soviel an
liegt, das ganze Menschengeschlecht sich einverleiben, zufolge
eines von Gott dem Menschen eingesetzten Triebes, auf welchem die Gemeinschaft
der Völker, ihre gegenseitige Reibung aneinander und ihre Fortbildung beruht."
Dieser Zeugungstrieb der Völkerindividuen (wenn man es so ausdrücken darf) ist
wie beim Einzelmenschen das Zeichen ihrer Lebenskraft. Sie wird hier stärker, dort
schwächer auftreten, mitunter wohl auch ganz versiege»! die Geschichte kennt von jeher
Beispiele unfruchtbar gewordener ethnischer Organismen.. Am deutlichsten offenbaren
jene Lebenskraft die Nationen großen Stiles, die in der „planetarischen Situation"
eine Rolle spielen. Zwar gibt es kein einzelnes auserwähltes Volk der Erde —
zu diesem Grundsatz Herderscher Humanität bekennt sich auch Fichte, der verlästerte
Apostel der „Deutschheit" —, wohl aber eine Elite der Völker, aus deren Riva¬
litätskampf eine Höherzüchtung der Gattung: Mensch als köstliche Frucht hervor-
gehen soll. Diese deutsche Anschauung ist vielleicht eine herbe Wahrheit für die
ZentL3 reprvbatae der Weltgeschichte, aber sie ist ehrlicher als die französisch¬
englische von der formalen Gleichwertigkeit aller auch der kleinsten Nationen,
jenem Dogma, mit dem sich so trefflich die Ketzerprobe machen läßt, das aber seine
Lippenbekenner selber immer wieder Lügen strafen.
Wir also halten den (geistigen und materiellen) Ausdehnungsdrang eines
mächtigen Volkskörpers für eine natürliche und bekannte Erscheinung. Wenn in
England Lord Rosebery gegen Ende des verflossenen Jahrhunderts äußerte: „Wir
müssen uns bewußt bleiben, daß es ein Teil unserer Pflicht und unseres Erbteils
ist, dafür zu sorgen, daß die Welt den Stempel unseres Volkes trage und nicht
den eines anderen," so nahm er nur das geflügelte Wort des Oxforder Professors
Cramb, jenes „to give all men an IZnMsIi mira" voraus. Und wenn in Frank¬
reich den gelehrten Hanotaux zur Zeit, als er noch die äußere Politik der Re¬
publik leitete, die frohe Hoffnung erfüllt, daß die in allen Teilen der Erde aus¬
gesäten Herrschaftskeime seine Nation uuter dein Schutze des Himmels gedeihen
werden, so liegt ihr das gleiche stolz-verantwortliche Gefühl einer „Mission" zu¬
grunde, wie den Aussprüchen seiner Ententegenossen, mögen diese sie nun im
Sinne des prädestinierten Herrenvolkes, die Franzosen mehr als „Führer" und
„Erzieher" der Menschheit verstehen.
Analoge Äußerung«» jeweils in individueller Färbung, z. B. auch von Ru߬
land, ließen sich mit Leichtigkeit anführen. Eben darum ist es aber so töricht
und gleichzeitig so unvorsichtig, wenn die gekennzeichnete Gesinnung von feind¬
licher Seite den Deutschen allein zugeschrieben wird, als seien sie die Wölfe in¬
mitten einer Lämmerherde. Derselbe Hanotanx, der einst Frankreichs .Herrschaft
den Erdball beschatten sah, ereifert sich im Kriege über die deutsche „Alte-nation",
die in der Welt dominieren wolle und einzig das Gesetz der brutalen Macht an¬
erkenne. In der gleichen Tonart begleitet ihn sein philosophischer Kollege von
der Akademie, Herr Boutroux, dessen Worte die Unehrlichkeit und doppelte Moral
dieser ganzen Denkweise besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Die Fran¬
zosen, so versichert Boutroux mit hohem Pathos, kämpfen beileibe nicht für „Inter¬
essen" oder um „die Macht", sondern „für die Würde und Freiheit der Völker",
immerhin, wie er hinzusetzt, „zu gleicher Zeit" auch noch „für ihre eigene Unab¬
hängigkeit". Das ist in kriegerischen Zeiten die selbstverständliche Schlußfolgerung
aus der „Erzieher"-funktion dieser Nation. Wie I^a Trance, „das freieste Land
der Welt"") — so steht's in den Schulbüchern eines Lapisse —, im Frieden den
kostbaren Schatz der wahren Freiheit verwaltet und den anderen Völkern von je
aus der Fülle seines Besitzes gespendet hat, so ist ihre Bewahrung auch im Kampfe
das große Ziel. Als aber Boutroux an anderer Stelle die gleichen Ansprüche und
Aufgaben von den Deutschen aussagt, schwindet plötzlich der Engelsglanz von
ihnen und eine Spottgeburt von Dreck und Feuer, die ruchlose Figur eines Welt¬
tyrannen bleibt übrig. Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht nur nicht mehr
dasselbe, sondern — nach dieser Dialektik — ein kontradiktorischer Gegensatz!
"
Wir aber gewinnen als erste „nationale Besinnung die Frucht gerechter
„Zusammenschau" in Fichteschen Sinne, die von ausschließlicher Selbstbespiegelung
sich frei weis;. „Jede Nation will das ihr eigentümlich Gute soweit verbreiten
als sie irgend kann," und sie wird das versuchen mit dem Einsatz ihrer ganzen
Kraft, auch gelegentlich mit übertreibender Geste. Das Übermaß theoretischer An¬
sprüche findet an der harten Wirklichkeit der Dinge, an der Konkurrenz eben¬
bürtiger Bewerber, von selbst seine Schranken. Den Grund dieses nach außen
wirkenden nationalen Souverämtätsgefühls berührten wir schon: er liegt in der
Überzeugung von inneren Werte der heimischen Einrichtungen. Hierbei wird auch
den kleinen Volksgemeinschaften ihr Recht, indem sie — nach jenem Königsworte —
durch moralische Kräfte ersetzen können, was ihnen an äußerlicher Macht gebricht.
Eine gewisse Idealisierung und Ausschließlichkeit wird dieser Betrachtungsweise,
wie begreiflich, stets anhaften. „Der Genius der deutschen Menschen-Naturgeschichte
lebt in und mit jedem Volke, als ob es das Einzige aus Erden wäre" (Herder).
Wo dieser naive Egoismus, dieses in jugendlicher Überschwenglichkeit an seinen
Stern Glauben fehlt, wo die an sich überall und ihrerseits auch wieder mit Recht
vorhandene Kritik und Zweifelsucht am eigenen Herd überhand nimmt, da hat sich die
Nation selber ihr Urteil gesprochen, da dämmert ihr Ende herauf. Die negative
Seite dieses Nationalstolzes aber ist ganz allgemein eine Unterschätzung und Er¬
niedrigung „der anderen", die im Kriege bei unseren Feinden tiefbedauerliche
Formen angenommen haben. Hauptinhalt und Maßstab der schiefen Urteile
bietet der Freiheitsbegriff, jener Proteus nnter den Abstraktionen, der gerade wegen
seiner Wandelbarkeit und Gefälligkeit — „Freiheit ruft die Vernunft. Freiheit die
wilde Begierde" — ein so bequemes Kampfmittel darstellt.
Es entbehrt nachgerade trotz der tragischen Blindheit, die über den Völkern
gebreitet liegt, nicht des komischen Eindrucks, wenn man beobachtet, wie sie sich
untereinander als schlechte Haushälter und ehrgeizige Tyrannen verdächtigen.
Zöge man die Summe dieser Wertungen, sie bliebe noch weit zurück hinter dem
pessimistischen Wort des Schwedenkanzlers Oxenstjerna von der geringen Weisheit,
mit der die Welt regiert wird. Sollte nicht auch hier nationale Besinnung
„Jedem das Seine" gönnen und sichern können? Freilich müßte dann die Methode
Lapisse aus dem Unterricht der Jugend verbannt bleiben, obwohl ihre gespreizte
Eitelkeit und Selbstvergötterung noch nicht das Schlimmste ist. Denn weit ver¬
derblicher als sie wirkt die Methode Boutroux. die zur Verherrlichung der eigenen
Art nicht vor einem Plagiat an fremdem Geistesgut zurückschreckt. Denn was ist
es anderes, wenn der französische Philosoph zu unterstellen wagt, der Ausjpruch
Alexanders von Humboldt, es gebe keine Rasse, von der man sagen könne, daß sie
edler als die anderen sei. stelle für die jetzt herrschende deutsche Gemütsverfassung
nichts weiter dar als eine „falsche, nnter französischem Einfluß ersonnene Lehre".
Die Probe auf die „Echtheit" dieser Lehre in ihrem angeblichen Ursprungslande
liefert oben Herr Lapisse!'"
Wie schwer nun aber dieses „ecraser Iinläme — hier paßt das Wort!
bei der psychologischen Anlage unserer westlichen Nachbarn sein wird, mag man
am Beispiel eines ihrer willigsten ermessen. Der Dichter Romain Rolland, der
um seiner „größeren" Objektivität willen — mehr ist es nicht — die wütendsten
Anwürfe der Pariser Hetzpresse über sich ergehen lassen mutzte, schreibt Ende 1914
zunächst ganz im Geiste der hier vertretenen nationalen Besinnung: „Wer wird
die Idole zerbrechen? Wer ihren fanatischen Anhängern die Augen öffnen? Wer
wird sie verstehen heißen, daß keine Gottheit ihres Geistes das Recht hat, sich
anderen Menschen mit Gewalt aufzudrängen, selbst wenn sie die beste scheint, noch
sie zu verachten." „Zugegeben, so wendet er sich an die Deutschen, daß Eure
.Kultur' unter Eurem deutschen Dünger die Menschenpflanze fetter und
üppiger treiben läßt, wer gibt Euch das Recht, ihr Gärtner zu sein? Kultiviert
Ihr Euren Garten, wir kultivieren den unsrigen." Dann aber heißt es weiter:
„Es gibt eine heilige Blume, für die ich alle Erzeugnisse Eurer Hausflora
hingeben würde. Das wilde Veilchen der Freiheit. Ihr kümmert Euch nicht
darum, Ihr tretet es unter die Füße. Aber es wird nicht sterben, es wird länger
dauern als Eure großartigen Kasernen und Treibhäuser____" Wie sehr straft
dieser Prediger seine eigenen Worte Lügen, wie bringt er sich und den Leser um
den reinen Genuß seines gleich darauf folgenden Ausrufs an die „Intellektuellen
Deutschlands und Frankreichs", die Acker ihres Geistes zu bestellen, aber die der
anderen zu achten, einander ins Auge zu blicken und das Bruderherz im gleichen
Leiden und Hoffen, im gleichen „Egoismus" und „Heroismus" schlagen zu hören!?
War es dem, der solche Worte fand, nicht möglich, den germanischen „Streitern
der Kultur" das gleiche ideale Streben zuzubilligen, wie den romanischen der
Zivilisation und nur die Formen in beiden Fällen zu unterscheiden? Nun wohl,
ergreifen wir das Banner, das seine Hand nicht bis zum Ende hochgehalten hat.
Es ist ein schweres Beginnen, in diejem Kampfe um Tod und Leben an etwas
Höheres zu denken, als die eigenen Interessen, aber wenn unser Anpassungs¬
vermögen an fremde Völker zu einem Nationalfehler geworden ist, so haben wir
auch von jeher die Tugend jenes Fehlers besessen, nämlich das „Verständnis für
die Mentalität anderer Völker", daS nach ausländischem Urteil in der Vergangenheit
ein Vorrecht des deutschen Geistes und einer seiner Ansprüche auf Anerkennung
der Welt gewesen ist.
Man darf nicht verkennen, daß auch wir uns im Eifer des Gefechts Blößen
gegeben haben. Die Literatur des gutgemeinten „patriotischen" Schwarzwei߬
malens scheidet hierbei natürlich von vornherein aus, aber auch bei anspruchs-
volleren Schriftstellern, ja bis in die Kreise unserer geistigen Elite hinein, be¬
gegnen Entgleisungen und Einseitigkeiten, die wegen des Ansehens ihrer Urheber
nicht nur dem Gegner braueme Handhaben bieten, sondern das eigene Volk
nur verwirren können. Ein paar Beispiele: Kurz vor der oben zitierten Stelle
erwähnt Rolland Äußerungen Wilhelm Ostwalds, die dieser gegenüber einem
Redakteur der schwedischen Zeitung „Dagen" getan haben soll. Danach sagte
der berühmte deutsche Gelehrte u. a.: „Ich will Ihnen jetzt das große Geheimnis
Deutschlands erklären. Wir, oder vielmehr die deutsche Rasse haben den Faktor
der Organisation entdeckt. Die anderen Völker leben unter der Herrschaft des
Individualismus, wir unter derjenigen der Organisation. Die Stufe der Organi¬
sation ist eine höhere Stufe der Zivilisation. Deutschland will Europa organisieren,
denn bis jetzt ist Europa noch nicht organisiert. Bei uns strebt alles danach, aus
jedem Individuum ein Maximum von Hingebung in dem für die Gesellschaft
günstigsten Sinne zu erzielen. Darin be.steht für uns ihre höhere Form. Der
Krieg wird sie (die anderen Völker) in der Form dieser Organisation unserer
höheren Zivilisation teilhaftig machen." Kann man es einem Ausländer verargen,
wenn er aus solchen Reden die schiefsten Schlüsse zieht? Was nützt es, daß sie
sicherlich nicht so gemeint sind, daß ihnen eine wahre Erkenntnis zugrunde liegt*)
— Rolland bemerkt von ihnen und ähnlichen: „l'^IIemaZne ne pouvait oikrir
et'frac plus torrible contre eile", und er hat leider Recht.
Eine andere hierher gehörige Methode verdeutlicht sich an den bekannten
„Patriotischen Besinnungen" Werner Sombarts: „Händler und Helden" über den
englisch-deutschen Gegensatz.*) Wir sind die letzten, die dem mutig.freien Be-
kenntnis zur eigenen Art einen Kappzaum angelegt, Wesensunterschiede zu solchen
des Grades verwischt sehen möchten, aber eben, weil wir von einer qualitativen
Anschauung der Dinge richtige Erkenntnis gewannen und erwarten, möchten wir
unnötige Schärfen vermieden missen. Ausdrücke wie „Schamlosigkeit", „Pöbelart
des englischen Gedankens," „hundsgemeines Ideal" Benthams, die bei Sombart
leider nicht ganz selten sind, Sätze wie „Was weiß der Engländer von Freiheit",
oder „Kein geistiger Kulturwert kann aus Händlertum englische Weltanschauung)
erwachsen" verderben durch ihren schroffen Radikalismus die Wirkung der an sich
durchaus berechtigten Scheidung zwischen englischem und deutschem Ethos. Diese
Kampfesweise, am Gegner überhaupt kein gutes Haar zu lassen, ist ebenso an-
fechtbar wie das Verfahren deS Franzosen Hanotaux. der unter Verschweigung des
bekannten hohen Lobes tadelnde Bemerkungen des Tacitus über die Germanen
anführt, um sie als unmoralische Barbaren vor der Weltgeschichte zu brandmarken.
Gewiß, auch Treitschke hat die Insularen ein „Krämervolk" gescholten — der
Vergleich ist alt — aber derselbe Mann bekennt doch an einer schönen Stelle
seines Aufsatzes über die „Freiheit": „Es ist möglich festzustehen und um sich zu
schlagen in dem schweren Kampfe der Männer und dennoch das Geschehende wie
ein Geschehenes zu betrachten, jede Erscheinung der Zeit in ihrer Notwendigkeit
zu begreifen und mit liebevollem Blicke auch unter der wunderlichsten Hülle der
Torheit das liebe traute Menschenangesicht aufzusuchen." Und wem diese Tonart
zu sehr nach dem Moll des Friedens klingt, der wird doch auch im kriegerisch
veränderten Dur ihre Melodie beibehalten können.
In der Tat, man darf die Engländer nicht „als Utilitarier in dem Sinne
hinstellen, als ob sie. keiner idealen Gedankengänge fähig, nicht bereit seien, dem
Individuum Opfer zugunsten des Ganzen zuzumuten". Man darf ihnen das
Verständnis für die Begriffe Freiheit, Staat und Vaterland nicht absprechen.
Hinsichtlich der beiden letzteren ist das gegenüber einseitigen Regierungen, von denen
sich z. B. auch das Euglandbuch Eduard Meyers nicht frei hält, von berufener Seite
betont werden.'"') Freilich, jene Begriffe sehen drüben anders aus. als der Deutsche
sie von der Heimat gewöhnt ist. Und das führt uns zu einer weiteren Frage
nationaler Besinnung."
Der Wahlspruch des „suum cuiczue. d. h. also in unserem Zusammen¬
hange „Jedem seinen eigentümlichen Freiheitsbegriff", verlangt Klarheit über die
Natur des individuellen Anteils. Nicht nur darum handelt es sich, daß jedem
sein Teil werde, sondern was als solcher zu gelten habe.
Der Streit über den nationalen Freiheitsgedanken diesseits und jenseits
der Schützengräben kann nie zu befriedigenden Abschluß kommen, so lange das
fremde Ethos jeweils ins Prokrustesbett einer bestimmten nationalen Schablone
gezwungen wird. Es ist ein Verdienst Max Schelers, gegenüber der antithetisch
zugespitzten Betrachtungsweise, bei der Licht und Schatten polar gehäuft werden,
auf die gemeinsamen, sagen wir schlicht, menschlichen Grundlagen, die auch
bei noch so unterschiedlichen Volkspsychen vorhanden sind, hingewiesen zu
haben. „Ich möchte vermuten, so sagt er in „Krieg und Aufbau", daß alle
Völker ungefähr dasselbe Maß von Freiheitssinn überhaupt und dasselbe Maß
von Gebundenheit überhaupt besitzen und der Unterschied mehr darin gelegen ist,
was sie in sich frei haben wollen und worin und wovon sie frei zu sein wünschen
und welche Kräfte es jeweilig sind, welche die für alles gesellige Dasein not-
wendigen Gebundenheiten erzeugen." Die in diesen Worten liegende wertvolle
Erkenntnis hat nichts mit verwaschener Jnternationalität und Humanitätsdusel im
landläufigen Sinne zu tun, führt vielmehr gerade zu vertiefter Einsicht in das
Individuelle der verschiedenen Kulturen. Versuchen wir, soweit das in Kürze
möglich ist, dem Schelerschen Leitsatz und zugleich unserer dritten nationalen Be¬
sinnung Farbe zu geben!
Beliebt in der Kriegsliteratur ist die Formel: Freiheit vom Staate bei Eng¬
ländern und Franzosen, Freiheit im Staate bei uns. Sie gibt aber nur die eine
Hälfte des Problems, denn, da neben dem Staat auch die Gesellschaft ein „Zu¬
stand ist, in welchem Freiheit verwirklicht wird", muß man fragen, ob „gesell
schaftlich" frei ist, wer seiner „staatlichen" Ketten spottet. Und da zeigt sich be-
kanntlich in den westlichen Ländern eins so weitgehende Abhängigkeit des einzelnen
von Sitte und .Konvention, von dem Faktor der öffentlichen Meinung, daß ein
etwaiges Mindermaß behördlich ausgewirkten Zwanges völlig ausgeglichen wird.
Bezeichnend dafür jene Äußerung gelegentlich der Verfässungsberatungen von Massa^
chusetts (1853): „Ein Bürger kann wohl Untertan einer'Partei sein oder einer
tatsächlichen Gewalt (I). aber niemals Untertan des Staates."
Auf die historischen Gründe dieser verschiedenen Wertschätzung des Staates
hüben und drüben einzugehen, ist hier nicht der Ort/") Bei Frankreich mag die
feinem Absolutismus ebenso wie der Restauration und dem Bonapartismus eigene
Übersteigerung des bureaukratisch-obrigkeitlichen Zwangsgedankens die Staatsidee
in Mißkredit gebracht haben, obwohl ihr von Haus aus jenes Land ebensoviel
und mehr Dank schuldet als z. B. unser solange der Prüfung auf seine „staats¬
freie Haltbarkeitsgrenze" sScheler) unterworfenes Nationalbewußtsein. Möglich,
daß gerade diese schmerzliche Entbehrung den Deutschen den Blick für die Würde
des Staates geschürft Hai, wie Treitschke sagt. Der psychologische Grund liegt
dock) wohl in der verschiedenen Auffassung, die Deutsche und Westeuropäer von
dem Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit überhaupt vertreten. In einem
früheren Hefte dieser Zeitschrift wurde auf deuGegensatz kollektivistisch universalistischer
und individualistisch-nominalistischer Weltanschauung in seiner Anwendung auf das
Problem des Staates hingewiesen."") Es darf im Anschluß an die dortigen
Äußerungen daran erinnert werden, daß der Franzose ebenso wie der Angelsachse
im Durchschnitt überzeugter Nominalist ist, d. h. also zwischen den einzelnen und
ihrer Summe, der Menschheit, keine Gemeinschaften selbständiger, vom Willen
ihrer Teile verschiedener Wesenheit bejaht. „Die Teutschen verehren den Staat,
wo wir den Mann verehren", schreibt Sidney Brooks, dasselbe, was der typisch¬
englische Philosoph Spencer ausschließlich im Hinblick auf seine Heimat in die
Formel: „Der Mann gegen den Staat" kleidet. In Frankreich anderseits ist z. B.
gegen die auch in die dortige allgemeine Staatslehre eingedrungene deutsche A uffassung
vom Staate als einer juristischen Person alsbald von heimischen Fachgrößen leb¬
haft protestiert worden. Besonders deutlich offenbart die französische Unfähigkeit
zum kollektivistischen Denken „konkreter Allgemeinheit" der oben genannte Boutroux,
obwohl ihm aus bestimmten Gründen jene Anschauungsweise sehr gelegen kommen
muß. Im Interesse seines Dogmas vom angeblichen Kampfe Frankreichs für die
Kleinstaaten verleiht er nämlich dem Begriff „Nation" die Würde einer Persön¬
lichkeit. Wer aber vermuten wollte, daß hier der Nominalist den Glauben an
die selbständige Wirklichkeit überindividueller Bildungen gewonnen habe, sähe sich
im weiteren Verlauf arg enttäuscht. Denn als Zeichen dieser „Persönlichkeit" der
Nation gilt die „freie Zustimmung der Bürger-, das nationale Bewußtsein ist
eine „Realität", insofern es den „bewußten und gewollten Zusammenklang der
individuellen Bewußtseine" darstellt. Wir plätschern also munter am sicheren und
„klaren" Strande des Individualismus und haben die Klippen und „dunklen" Tiefen
kollektivistischer Denkungsart glücklich umschifft. Auch Boutroux würde wie der Staats¬
rechtler Duguit in einer selbständigen Kollektivpersönlichkeit nur „Hypothese" oder
»Fiktion" sehen und in der staatlichenZwangsgewalt nur den Willen der gerade an der
Regierung befindlichen Individuen. Aus solch abweichender Weltanschauung heraus
wird unseres Trachtens eine verschiedene Stellung zu dem Problem des Staaies
mit Notwendigkeit geboren, so entsteht auf der einen Seite die Neigung zur
Staatsverachtung „vom Anarchisten bis zum Universitätsprofessor" infolge der
überklaren und rationellen Betrachtung der Dinge im Lichte des Allzumenschlichen,
auf der anderen die innere Empfänglichkeit der Geister zur Verehrung der höheren
Gemeinschaft — in der von uns bekämpften Sprache nationaler Borniertheit: Staats¬
knechtschaft oder Staatsmystik genannt. Auf dem so gestimmten Instrumente der
nationalen Psyche spielt dann die jeweilige Geschichte ihre besondere Melodie.
Doch betrachten wir diese „Stimmung" noch ein wenig.
> Ein Satz wie der Treitschkes, politische Freiheit sei politisch beschränk«?
Freiheit, entspringt unverkennbar kollektivistischen Denken. Die Freiheit der sitt¬
lichen Autonomie mit ihrer Hingabe aller Einzelkräfte in den Dienst der Gesamt¬
heit, das Gefühl des freien Gehorsams, die im Staate und nicht außerhalb ge¬
fundene Freiheit oder wie man sonst das eigentümlich Deutsche der Problemstellung
zum Ausdruck bringen will, wird im Glauven an überindividuelle Bindungen, an
konkrete Allgemeinheit einen günstigeren Nährboden finden als da, wo diese zu
blutleeren Schemen, Hypothesen und Fiktionen herabsinken und bestenfalls durch
die banale Figur der jeweils am Staatsruder befindlichen Machthaber verkörpert
werden. Wir sagen mit Absicht nur „einen besseren Nährboden finden", denn
fehlen darf diese geistige Einstellung auch bei individualistisch gerichteten Völkern
nicht. Wo wären wohl unsere Gegner heute, wenn ihnen Opfersinn, Dienst an
der Gesamtheit, Begeisterung für überindividuelle Ideen nicht mehr als leere
Abstraktion, Kultus metaphysischer Idole bedeutete? I Ganz sicher ist diese Denkungs¬
art, namentlich wenn es sich um die technische Form obrigkeitlicher Anforderungen
handelt, den: Engländer im Laufe des Krieges nur sauer eingegangen und auch
dem Franzosen schwerer verständlich als dem Deutschen, gefehlt hat sie bei beiden
auch vor dem August 1914 nicht, wohl aber andere Wege zu ihrer Verwirk¬
lichung eingeschlagen. Wir dürfen bei dieser Überlegung nicht vergessen, dasz auch
bei uns zu Lande vor dem August 1914 manches anders war als es die durch
den Krieg wiedergefundene nationale Selbstbestimmung Wort haben möchte. Wie
schrieb doch Meinecke kurz vor dem Kriege? „Es hat^sich ein weichliches ..stheten-
tuin entwickelt, das sich in den Kultus der eigenen Subjektivität versenkt und es
für selbstverständliche Vornehmheit hält, den Staat zu ignorieren."*) Solche
Rückerinnerung tut gerade in Epochejahren not, um das richtige Augenmaß zu
bewahren. Jetzt, wo wir im Blute unserer Besten dem hundertjährigen Gedächtnis
der Freiheitskriege ein nachträgliches Malzeichen errichtet haben, wie es bei der
eigentlichen Wiederkehr des Tages keiner ahnen konnte, ahnen wollte, brauchen wir
nicht mehr die schemenhafte Feier von 1913 mit Gerhart Hauptmanns „Fest,
spiel" — aber gerade darum sollten wir nie vergessen, wie nahe daran wir waren,
das von den Vätern errungene Gut natipnalstaatlicher Einheit zu verlieren, indem
wir aufhörten, es innerlich zu erwerben.
Aber im wesentlichen wäre also der Franzose und Angelsachse „Indivi¬
dualist", der Deutsche „Kollektivist"?! Eine voreilige Festlegung in den Schranken
Narrer Begriffe, die die Sprache mit unzulänglichen Mitteln formt! Denn mit
demselben Rechte könnte man die Prädikate in obigem Gegensatze vertauschen. Ja
würde dann nicht viel eher die Vergangenheit für sie zeugen? Lehrt nicht alles,
was wir von unserem an eigenwilligen Formen so reichen MMelalter, von den Zeiten
Deutscher Libertät", von jenem unseligen „Partikularismus" der „Dynastien und
Stämme" und dem ganzen Elend der Kleinstaaterei wissen, das Gegenteil williger
Unterordnung unter das Ganze? Und galten nicht unsere westlichen Nachbarn zu
den Verschiedensten Zelten — unter dem Lilienbanner, der Jakobinermütze und den
Adlern Bonapartes — als Mustervolk im Dienste zentralistisch-obrigkeitlicher Be¬
strebungen, wo bezeichnenderweise die Kommissare des Konvents und Napoleons
Präfekten unmittelbare Rechtsnachfolger der Intendanten des mlLien regime werden
konnten!? Wenn man sich diese Dinge vergegenwärtigt, nimmt es einen nicht
Wunder, daß Gervinus den Individualismus germanisch, die Idee des omni¬
potenten Staates romanisch nannte und, dasz selbst der wägende Blick eines Ranke
all dieser Gegenüberstellung festhielt. Völker' verändern im Laufe eines Jahr¬
hunderts nicht so völlig ihren Charakter. Wie also löst sich der Widerspruch?
Meinecke, der über das Problem des „germanischen und romanischen Geistes im
Wandel der deutschen Geschichtsauffassung" vor zwei Jahren einen überaus reiz-
vollen Ätademievortrag hielt, deckt denselben Riß zwischen Gegenwart und Ver-
gangenheit aus und sucht ihn durch folgenden Gedanken zu überwölben. „Man
gehe diesen Wandlungen nur ernsthaft nach und man wird entdecken, daß alle
Keime dessen, was heute als französischer Individualismus und als deutsche
Staatsgesinnung gilt, schon damals (vor hundert Jahren) vorhanden und aus¬
gestreut waren, und daß wiederum alles das, was uns damals auf die Höhen
individueller Freiheit führte, noch heute in uns lebendig ist." Jener Riß klafft
also nur scheinbar, veranlaßt durch den Doppelsinn des Wortes „Individualismus".
Scheler — und damit kehren wir zum Ausgangspunkt dieses Anschnittes zurück —
scheidet wiederholt die Freiheit der Individualität, „das hohe Gut der geistigen
Freiheit des eigenartigen Individuums", von der politischen Freiheit der einzelnen
Person, die sich im „traditionellen Mißtrauen gegen Eingriffe der Staatsgewalt"
äußert. In dieser sieht er die unabhängige Provinz des englischen (und wie wir
hinzufügen können französischen), in jener die des deutschen Denkens. Im ersteren
Falle ist die „Persönlichkeit" des Individuums das aller Bindungen grundsätzlich
bare politisch-soziale Atom, im zweiten ein Mikrokosmus im Sinne Goethes und
des deutschen Idealismus. Wir „wollen also ganz andere Dinge in uns frei
haben" als jene, das zu erkennen und danach die Wertung des Freiheitsbegriffes
zu gestalten, fordert eine gerechte nationale Besinnung, über diesen allgemeinen
Oriennerungspunkt erst einmal im klaren, erkennt der Blick bald die übrigen Höhen
und Tiefen, die zur richtigen Aufnahme des Bildes erforderlich sind. Es sind die
Tugenden der Fehler und die Fehler der Tugenden. Bei jenen glänzend isolierten
jlome is castle-Individuen der angelsächsischen Welt die imponierende Gabe der
„privaten Initiative", der Fähigkeit, „durch freie spontane Vereinbarung Gesamt-
zwecke zu fördern" (Scheler), aber auch „Borniertheit" und Abhängigkeit von Sitte
und Konvention. Bei dem das höchste Glück der Menschenkinder im Heiligtum der
Persönlichkeit findenden Volk der Dichter und Denker, ein hoffnungslos apolitischer
Zug (Luther, Goethe!), der sowohl in anarchischen liberum veto-Gelüsten wie in
allzu leichter Unterordnung vor „gottgegebenen Abhängigkeiten" sich äußert."
Beginnt nicht schon bei diesen wenigen Noten die Musik des „ewigen Wechsels
zu klingen, von der Meinecke in seiner kongenialen Sprache sagt, daß man sich ihr
einmal ganz hingeben müsse, und daß sie zwar alle künstlich geschaffenen Einheiten,
aber nicht die „wahre Individualität der historischen Erscheinungen" auflöse?
Wir können im deutschen Schrifttum neuerdings an verschiedenen Stellen
beobachten, wie die einseitig schroffe Formulierung nationaler Werte und fremder
Unwerte einer gerechteren Beurteilung Platz macht. Hier sei auf die gedanken¬
reiche Studie Wolzendorffs: „Vom deutschen Staat und seinem Recht" aufmerksam
gemacht, die sich gerade ein schärferes Herausarbeiten der „eigenen deutschen Werte
in der Entwicklungsgeschichte der Grundprinzipien des modernen Staates" — eine
bislang gerade von der Fachwissenschaft noch wenig geförderte Aufgabe! — zum
Ziel setzt und trotzdem am Ende betont, daß der „Gegensatz zwischen dein
lateinischen und angelsächsischen Staatsgedanken einerseits und dem deutschen
andererseits" nicht soivohl als ein „solcher des politisch-dynamischen Ideengehalts,
als der politisch-theoretischen Jdeenform" erkannt werden müsse. Der grundsätzliche
Wertgehalt des Staatsgedankens sei trotz verschiedener formaler Ausprägungen
..überall (bei den genannten Völkern) der gleiche", also das Schelersche Axiom
von dem konstanten Maß an Freiheit, bzw. Gebundenheitin der modernen Welt!'
Aus derselben nationalen Besinnung heraus, die diese Zeilen vertreten, hat
neuerdings der Leipziger Philosoph Eduard Spranger gegen die These Christian
Friedrich Weihers Einspruch erhoben, die den Grafen Shaftesbury zum Träger
einer spezifisch germanisch-deutschen Weltanschauung stempeln will und den Ab¬
solutismus als romanisches Produkt, statt als allgemeine verfassungsrechtliche
Durchgangsstufe der europäischen Völker betrachtet*), den Liberalismus dagegen
als germanisch, aber in seiner staatsbewußten Vollendung nicht als englisch,
sondern als spezifisch deutsch.
Wir dürfen den Gegnern auf geistigem Gebiete in stolzer Ehrlichkeit Waffen¬
ruhe ansagen, ohne darum „der wahren Individualität unserer historischen Er¬
scheinung" das geringste zu vergeben. Allerdings fordern wir von ihnen die
gleiche Bereitwilligkeit, sich auf dem Boden einer gerechten Beurteilung der auch
beim jeweilig „anderen" vorhandenen positiven Werte mit uns zusammenzufinden.
Geschieht das nicht, wird auch in Zukunft die Stimme der Vernunft von hysterisch¬
kreischender Leidenschaft überschrien, dann könnte allerdings jenes traurige Er¬
eignis eintreten, das der Schwede Kjellen^) so gern beschwören möchte: daß sich
nämlich Deutschlands bis zur Grenze des Menschlichen geprüftes Herz gegenüber
seinen Feinden verhärtet und jene Versöhnung, die an sich schon nicht nur „einen
Sieg über den preußischen Machtinstinkt, sondern auch über das Beste im eigenen
Wesen, über den die Bestrafung des Verbrechens verlangenden Nschtsinstinkt"
bedeutet, auf lange Zeit unmöglich macht. Dann wäre nationaler Besinnung die
Möglichkeit der Auswirkung aufs stärkste erschwert.
!ir zählen nicht mehr die Schiffbrüche dieses Krieges: Schiffbruch der
Ideen, Schiffbruch der Menschen, Schiffbruch der Parteien. Ich spreche
hier von den extremen Parteien. Auf Grund ihres unbestimmten
Programms und ihrer mannigfaltigen Grundsätze gehen die ver¬
mittelnden Parteien weniger blotzgestellt aus der Probe hervor,
j Aber kann man bei den Katholiken und Sozialisten von Schiff¬
bruch reden? Ist das nicht Bankrott, und zwar betrügerisch«! Bankrott? Ich war
vor dem Kriege weder Sozialist noch Antiklerikaler, und ich kann ganz frei vom
Katholizismus sprechen. Nun, ich bin überzeugt, daß er sich als soziale Kraft
nach diesem Kriege in Frankreich schwerlich wieder erheben wird. Er wird er¬
scheinen müssen — er erscheint schon — vor dem doppelten Gericht der öffentlichen
Meinung und der aufgeklärten Geister. Mit seinem einfältigen, gesunden Menschen¬
verstand, der aber besonders in entscheidenden Zeiten die Ungerechtigkeiten gewisser
Vorteile lebhaft empfindet, hat das Volk niemals verstanden und wird niemals
verstehen, daß die Priester sich der Militärpflicht, die so schwer auf jedem lastet,
entzogen haben. Nachdem sie im August und September gekämpft hatten, hörten
sie später auf. Umsonst wird angeführt, daß sie nur den Vorteil neuer gesetzlicher
Bestimmungen genießen. Haben sie diese nicht selbst erbeten und herausgefordert?
Und durch welches gesetzgebende Taschenspielerkunststück hat man es fertig gebracht,
allein einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, für die das Trennungsgesetz gerade das
allgemeine Recht gültig zu machen beabsichtigte, weiter eine Vergünstigung zu
gewähren? Was spielt bei all diesem das Gesetz von 1889 für eine Rolle, das
1905 aufgehoben und durch die Weigerung der Kirche, kulturelle Vereine zu gründen,
doppelt aufgehoben wurde? In den Augen des Gesetzes ist der Priester kein
Priester mehr:- er ist ein Bürger und den Pflichten eines jeden Bürgers unter¬
worfen. Man hüte sich, die hohe Kompetenz eines Millerand anzurufen, dessen
strafbare Willfährigkeit ihn bei dieser Gelegenheit mit Recht in Mißkredit gebracht
hat. Man wende ferner nicht ein, daß das Zirkular Millerand aufgehoben wurde,
und daß die kämpfenden Priester, die sich für den Sanitätsdienst entschieden
hatten, ihren Platz an der Front wieder einnehmen mußten oder werden müssen.
Der Schlag hat getroffen. So erklärt sich die tiefe und sich sogar noch verschär¬
fende Unzufriedenheit mit der französischen Geistlichkeit. Alle Bemühungen der
Zensur haben das Bekanntwerden der Tatsache nicht verhindern können, daß —
hauptsächlich im Zentrum und im Südwesten — die Feindseligkeiten eine für die
Kirche besondere agrcssive und beunruhigende Form angenommen hat. Die mäch¬
tige „DevöLko cle Toulouse" hat sich natürlich zur Seele dieser Bewegung gemacht.
Es vergeht fast kein Tag, an dem die katholischen Blätter nicht entrüstet und
zornig das „infame Gerücht" denunzieren. Katholische Abgeordnete machten dies
sogar verschiedentlich zum Gegenstand von Interpellationen und forderten die
Regierung auf, gegen eine Geistesverfassung und eine Propaganda, aus denen,
wie sie versicherten, eine neue Jacquerie hervorgehen könnte, energische Maßregeln
zu ergreisen. Vergebliche Proteste und unausführbare Maßnahmen. Das hieße
Öl aufs Feuer gießen. Man kämpft nicht gegen eine Überzeugung, die bis in
die kleinsten Hütten entlegener Dörfer gedrungen ist. Eine große Zahl der
Bauern bleibt überzeugt, daß die der Militärpflicht entschlüpfte Geistlichkeit die
wesentliche Ursache des Krieges ist — daß sie in diesem nationalen Unglück nur
ein von der göttlichen Vorsehung gewolltes Mittel erblickt hat, sich die moralische
und materielle Stellung, die ihr durch eine mehr als dreißigjährige antiklerikale
Politik verloren gegangen war, zurückzuerobern. Aber ist es immerhin nicht seltsam,
daß dieses Volksempsinden beinahe mit dem authentischen Wort übereinstimmt,
welches Jaurös entschlüpfte, als er am Vorabend seiner meuchlerischen Ermordung
aus dem Ministerium kam, wo er einen langen und äußersten Versuch zur Er¬
haltung des Friedens unternommen hatte. Als er seine Freunde erblickte, die
'ängstlich sein Herauskommen erwarteten, rief er mit entmutigter Gebärde aus:
„Meine armen Freunde, es ist nichts zu machen; Jesuiten sind drinnen". Ich
sehe übrigens nicht, daß die katholische Geistlichkeit von den aufgeklärten Geistern
besser beurteilt wird. Ich verwechsle gewiß nicht Katholizismus und
Christentum. Ich weiß, was die Zeit und die Menschen ans der erhabenen,
unabänderlichen Lehre desjenigen gemacht haben, der befohlen hat: Du
sollst nicht töten. Ich erwarte daher von den katholischen Priestern
nicht, daß sie sich weigern würden, die Waffen zu tragen — selbst wenn ihr
Eigensinn sie zum Martyrium führen solltet Aber ich bekenne, daß ich die Katho¬
liken nicht verstehe, welche mit Vorbedacht die geistige Führung des Oberhauptes
der katholischen Christenheit übergingen. Denn wir haben das seltsame Schauspiel
und das Ärgernis erlebt, daß Katholiken beleidigenderweise die hohe Unpartei¬
lichkeit des Papstes bezweifelten und ihn sogar der Deutschfreundlichkeit beschuloigten.
Wenn treue vom Chauvinismus verblendete Patrioten diese losen Reden führen.
so ist es noch verzeihlich I Aber wie viele Bischöfe haben sich nicht gescheut, diese
Haltung zu bestärken und den religiösen Nationalismus anzufeuern, was gerade
sehr geeignet ist, ein redliches Gewissen in Aufruhr zu bringen. Ich erinnere
mich der Gottesdienste in den ersten Monaten des Jahres 1914, sehe den mit
Fahnen geschmückten Chor, höre das Schellen bei Erhebung der Hostie, die ha߬
erfüllten Predigten, die kriegerischen und chauvinistischen Gesänge. Erst viel
später und gewissermaßen mit Unlust, entschließt man sich, diese ganze verdächtige
Andacht durch das bewunderungswürdige päpstliche Gebet um den Frieden zu
ersetzen. Die französischen Bischöfe glaubten, durch Niederlegung ihrer gleichzeitig
katholischen und christlichen Stellung, trotz des deutlich zum Ausdruck gebrachten
Päpstlichen Willens, eine Tat des geschickten Opportunismus zu vollbringen. In
Wirklichkeit haben sie sich dadurch nur noch mehr bloßgestellt und vielleicht sogar
bewirkt, daß für lange Zeit der Teil von Zutrauen, Einfluß und moralischer
Autorität vernichtet wurde, den ihnen die Trennung nicht hatte rauben können.
In ähnlicher Weise und aus denselben Gründen hat die Haltung der fran¬
zösischen Sozialisten die Ideen, auf welche die Partei sich beruft, sehr in Mißkredit
gebracht. Offen gesagt, gibt es in Frankreich keine sozialistische Partei mehr.
Mit dem tragischen Jaures wurde sie enthauptet. Zweifellos hätte es der mächtige
Volksredner verstanden, den Fallen auszuweichen, in die seine Jünger blindlings
gegangen sind. Er hätte sich nicht zynisch widersprechen und verleugnen lassen.
Wo ist die Zeit, wo sich mit unzweideutiger Klarheit und Großsprecherei der
sozialistische Standpunkt in der Kriegsfrage bildete? Wie kann man wissen, rief
damals Heros aus — zu einer Zeit, wo wir seinen sicheren Verstand und seinen
grimmigen und geistreichen Humor bewunderten — wie kann man wissen, ob der
Euch bereitete Krieg ein Angriffskrieg ist oder nicht? Im Anfang des Konfliktes
schon die Verantwortlichkeit feststellen zu wollen, ist trügerisch und töricht. Wir
sind unbedingte Gegner eines jeden Krieges, wie er auch sei. Lieber allgemeiner
Streik und Aufstand als Krieg I Und dieselben Männer, welche diese Reden führten
oder billigten, lassen sich heute von den mächtigen bürgerlichen Parteien ins
Schlepptau nehmen, weiteifern mit ihnen in militärischer Begeisterung, werden
zum Echo ihrer Verleumdungen, und aus politischem Ehrgeiz, der eitlen Befrie¬
digung, eine Rolle zu spielen, wegen sind sie bereit, sich in der Regierungsgaleere
einzuschiffen. Ich weiß, daß einige sozialistische Parlamentarier mutig gegen den
Selbstmord einer großen Partei protestiert und gekämpft haben. Gestern An¬
hänger Zimmerwalds, Kienthaliens heute. Sie werden verhöhnt, beschimpft,
bedroht. Die Verwirrung der Geister ist so groß, daß ein Brizon, ein Raffin-
Dugens und einige andere „Dissidenten", deren einziges Verbrechen ist, inmitten
der Abtrünnigen, Sozialisten geblieben zu sein, sich in den Staub gezogen und
des Hochverrats beschuldigt sehen. Was sie übrigens auch tun mögen, und wie
auch der Ausgang des Krieges sei, sie werden es nicht verhindern können, daß die
sozialistische Partei, ganz wie die katholische Partei, politisch entehrt sei. So wenig
aufgeklärt die öffentliche Meinung auch sein mag, wird sie sich doch immer bewußt,
daß Katholiken und Sozialisten in denselben Sack zu stecken sind. Die einen wie
die andern haben auf ihre Grundsätze verzichtet, und das Ideal, welches ihre
Kraft und den Grund ihres Bestehens bildete, verraten. Es ist zu befürchten, daß
dieser doppelte Bankrott nach dem Kriege der äußersten Rechten und Linken das
Feld freigeben wird. Und vielleicht werden wir dann der revolutionären und
anarchistischen Gefahr entgehen, aber die eiserne Faust der Diktatur aus uns
lasten fühlen.
Wenn nach Sturm die Stille träumt,
Reines Licht die Höhen säumt,
nage über Sturm und Stille,
Tief gewurzelt, gipfelklar,
Unverrückt, unwandelbar,
Wie ein Fels der deutsche Wille I
em Friedensschluß von Litauisch. Brest ist im vorigen Heft bereits
die Bedeutung zugewiesen worden, die ihm gebührt: nicht das, was
angestrebt wurde, ist erreicht, sondern etwas anderes. Ab?r nicht
darauf kommt es an, sondern darauf, was wir aus dem tatsächlich
Zustandegekommenen machen. Und — der große Augenblick findet
ein großes Geschlecht I findet uns geeint in den militärischen und politischen Führern
sowohl wie in den Parteien; wir haben eine feste innere Front, die bereit ist, die
dem deutschen Volke im Osten gegebene Freiheit des Handelns im deutschen
Sinne zu nutzen. Nur einige wenige stehen abseits. Es sind, abgesehen von den
Unabhängigen Sozialisten, im wesentlichen dieselben, die stets zusammenzucken, wenn
einer unserer Hiebe den Gegner besonders hart trifft und die stets unsere militärischen
Führer verantwortlich machen, wenn die Gegner einen diplomatischen Erfolg er¬
ringen, ohne zu berücksichtigen, daß die Einkreisung, in der wir uns nun einmal be¬
finden, diplomatische Erfolge auf unserer Seite doch nur auf sehr eng begrenzten
Gebieten zuläßt. Man soll auch in der großen Politik nicht versuchen, Epochen
und Anschlusse zu überspringen, um eine fernere Zukunft zu sichern. Der Verlauf
der Verhandlungen in Brest-Litowsk hat uns bewiesen, daß die dort behandelten
Fragen für eine Verwertung in der großen Politik noch nicht reif sind. Darum
ist uns durch den Ausgang jener Verhandlungen nicht die große politische Auf¬
gabe nachgelassen, unsere künftigen Beziehungen zu einem in seiner staatlichen
Form noch ganz unbekannten Rußland vorzuentscheiden, sondern die sehr viel
näher liegende, einfach militärische und verwaltungstechnische, gewisse uns aus den
verschiedensten Gründen wertvolle Gebiete des zarischen Rußland vor dem Wüten
der Maximalisten zu schützen. Vor dieser Aufgabe des Tages tritt auch die Frage
zurück, ob Mitteleuropa mit oder ohne Polen zusammengesetzt wird. Mitteleuropa
kommt nicht wegen oder durch Polen, sondern ganz unabhängig davon aus dem
inneren Bedürfnis der beiden zunächst beteiligten Staaten. Die Gebiete, die eS
zunächst zu fassen gilt, sind, abgesehen von der Ukraina, der schon im vorigen Heft
gedacht worden war, bis zu gewissen Grenzen Weißrußland, aber vor allen Dingen
Livland und Estland. Ob in den eben genannten Ländern 10 Prozent Deutsche
sitzen oder gar nur drei, ist durchaus gegenstandslos geworden, seit jenes Rußland,
das uns in unseren weltpolitischen Kämpfen Bundesgenosse gegen England sein
konnte, von der Erde verschwunden ist und wir somit auch sein Wohlwollen nicht
durch Konzessionen erkaufen können. Wir können jetzt den nord- und west
europäischen Gebieten gegenüber alle Gesichtspunkte der großen Politik zurücktreten
lassen und uns darauf beschränken, im Osten zunächst eine durch nicht» beengte
deutsche Kulturpolitik zu treiben. Livland und Estland sind ihrer Kultur nach
deutsches Land. Der Glauben ihrer Bevölkerung ist lutherisch! Würden wir sie
den Horden der Lenin-Trotzki ausliefern, so würde niemand in der Welt einen
Nutzen davon haben, auch Rußland, England, Schweden nicht. Die deutsche Kultur
würde nutzlos aus dem Scheiterhaufen der russischen Revolution verbrennen. Wir
aber würden in der Welt und bei uns im Innern an Achtung und Ansehen
einbüßen und dadurch den Krieg um Jahre verlängern. Man würde uns für zu
schwach halten, unsere eigenen Belange wahrzunehmen, die deutsche Kultur als
eine dem Niedergang geweihte ansprechen und dadurch auf gegnerischer Seite um
so mehr angespornt werden, uns niederzuwerfen. Die Sicherung der baltischen
Provinzen, ihr Wiederaufbau, die Schaffung von Rechtsgrundlagen in ihnen für per-
sönliche Freiheit und reiche Arbeitsgelegenheit kann unsere politische Lage nur heben.
Bei der Größe Rußlands können wir ruhig damit rechnen, daß der revolutionäre
Brand in ihm so lange schwelen wird, als sich Brennstoff vorfindet. Das kann
noch Jahre währenl Jahrelang würden die Grenznachbarn von der russischen
Anarchie bedroht sein. Schaffen wir einen sicheren Wall dagegen, so werden den
Nutzen daraus nicht nur wir und die baltischen Deutschen ziehen, sondern auch die
Letten, Ehlen, Russen, die angezogen werden, sich unter unsern Schutz zu stellen,
und schließlich auch die von- der Ostsee bespülten Staatengebiete: Schweden.
Dänemark. Finnland.
Nuwtis mutanclis treffen dieselben Erwägungen für Weißrußland, Litauen
und die Ukraina zu. In den Gebieten von Nordwestrußland, wo sich ein Volks-
tümlicher Zusammenschluß noch nicht in dem Maße vollzogen hat, wie in den
Ostseeprovinzen und der Ukraina, sind wir die natürlichen Bundesgenossen der
katholischen Kirche, die dort seit rund hundertfünfundsiebzig Jahren um die Seelen
der Menschen gegen die russische Staatskirche ringt. Wenn heute die deutsche
Zentrumspartei geschlossen für unseren weiteren Vormarsch in Rußland eintritt
und sich nicht mehr scheut, für eine mehr oder minder gewaltsame Abtrennung
der fraglichen Gebiete von Moskowien zu stimmen, so dürften die katholischen
Belange sehr viel stärker wirken als die wirtschaftlichen. Es ist eine Art Kreuzzug,
den wir im Osten führen, möglich geworden durch den Zusammenfluß der Interessen
beider Bekenntnisse, des protestantischen und des römischen. Möge dies ein glück-
liches Vorzeichen auch für eine volle, klare Verständigung auf den Gebieten der
inneren Politik sein, wo wir nach dem Kriege demselben Geist der Zersetzung
werden entgegenzutreten haben, den wir im Osten von unseren Grenzen zurück¬
zuweisen entschlossen sind.
Ich möchte glauben, daß die Übereinstimmung der mitteleuropäisch-staatlichen
und katholisch-kirchlichen Interessen, die aus kontinental- und weltpolitischen
Gründen dem Zarenreich gegenüber nicht zu erzielen war, den Friedensschluß mit
der Ukraina insofern beschleunigt hat, als sie auch nicht ohne tiefen Einfluß aus
die Beurteilung des polnischen Problems und der Mittel zu seiner Lösung bleiben
konnte. Vor allen Dingen ist festzustellen, daß die Auffassung der katholischen Rechts¬
lehrer vom Nationalitätenprinzip eine der Auffassung der sogenannten Reichstags¬
mehrheit durchaus entgegengesetzte ist. So schreibt der katholische Universitäts¬
professor Joseph Viederlack S. ^. in der hochklerikalen „Wiener Reichspost" über
die christliche Staatslehre und daS völkische Selbstbestimmungsrecht:
„Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die christliche Staats- und Rechtslehre für die
bisher rechtmäßig bestehenden Staaten ein Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen
gänzlich verneint; sie lehrt vielmehr die rechtliche Gebundenheit aller Teile des Staates an
das Staatsganze. —
Daher schließt die christliche Staatslehre auch ein Selbstbestimmungs-
recht der Nationen gänzlich aus. Wenn Angehörige einer und derselben Nation
mehreren verschiedenen Staaten rechtmäßig angehören, so gibt ihnen die Aussicht, im Falle
ihrer Vereinigung zu einem Staate ihre nationalen Interessen wirksamer schützen und fördern
zu können, noch keinerlei Recht, diese Vereinigung zu einem Staate zu beanspruchen. —
Sonach darf niemand, dem es mit einer christlichen Staats- und
Menschheitsordnung Ernst ist, für daS Selbstbestimmungsrecht der Völker
und Nationen, so wie es von sozialdemokratischer Seite verbreitet wird, theoretisch
oder praktisch eintreten, und die Friedensunterhändler in Brest-Litowsk
haben ganz im Geiste der christlichen Staats- und Gesellschaftsordnung ge¬
handelt, als sie für sich und ihre Lander dieses Selbstbestimmungsrecht ein-
fachhin ablehnen. —"
Für unsern innerpolitischen Zusammenhang ist diese Feststellung von be¬
sonderem Wert, da sie von dem dem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Dandi
nahestehenden „Regensburger Anzeiger" ohne Einschränkung übernommen wird.
Die Polen waren von jeher ein Sorgenkind des Heiligen Vaters I Das
Kapitel der Weltgeschichte Polen und Rom ist sicher eines der interessantesten der
Geschichte der katholischen Kirche. Der polnische Individualismus bedürfte stets
die weitestgehende Duldung und Schonung, wollte die römische Kirche in Polen
mächtig bleiben. Keine Warnung vermochte König Kasimir davon abhalten, die
Juden ins Land zu rufen, die aus Westdeutschland vertrieben waren, und später
mußte die Kirche es sich gefallen lassen, daß Edelleute die Kircheneinkünste an ihre
Hofjuden verpachteten. Die Einwirkungen der deutschen Reformation waren so
gewaltig in Polen, daß Rom sich entschließen mußte, mit Scheiterhaufen und
Schaffst vorzugehen, um das polnische Volk nicht zu verlieren. Jetzt ist es der
eigenartige russische Sozialismus gegen den die katholische Kirche zu kämpfen hat,
nachdem sie schon durch Jahrzehnte den demokratischen Nationalismus der niederen
polnischen Geistlichkeit fürchten gelernt hatte. Es sei hier daran erinnert, wie die
Zentrumspartei und mit ihr der kirchenfreundliche Adam Napieralski in Ober¬
schlesien sich gegen die Nationaldemokraten zu wehren hatten, als sie dem Polentum
mit kirchlichen Mitteln, allerdings auch unter der Devise „gebt dem Kaiser, was
des Kaisers ist" zu Hilfe kommen wollten. Aus der jüngsten Geschichte der
preußischen Polenpolitik ist bekannt, wie auch in der Provinz Posen die höhere Geist¬
lichkeit in Widerspruch zur niederen trat, wenn sie der Aussöhnung mit dem preußi¬
schen Siaatsgedanken das Wort redete. Alle die Kämpfe, die innerhalb der
preußischen Grenzen ausgefochten wurden, fanden sich bis zum äußersten gesteigert
in Russisch. Polen wieder. In den Kämpfen um die Erhaltung der polnischen
nationalen Kultur bildete sich, den Ereignissen vorauseilend, so etwas wie eine
äußerlich allerdings nicht ohne weiteres erkennbare polnische Staatskirche, die
eifersüchtig an ihren Sonderheiten festhielt und in der eine fanatische niedere
Geistlichkeit von hoher Intelligenz den Ton angab. Es ist kein Zufall, wenn es
in Russisch-Polen seit etwa zehn Jahren eigentlich keine oder doch nur eine völlig
ohnmächtige klerikale Partei gab. Der letzte einflußreiche Vertreter dieser Richtung
war Ludwig Gorski, der um die Jahrhundertwende hochbetagt starb. Demgemäß
war auch die Bedeutung der klerikalen Presse nur sehr gering. Die national-
Polnische Geistlichkeit ist in ihren extremen Vertretern sozialistisch bis zum Kom¬
munismus einschließlich und ist dadurch mit zu einer Vorfrucht des russischen
Sozialismus geworden, den Juden und russische Beamte seit den l 870er Jahren
im Weichselgebiet unter Bauern und Arbeitern verbreiteten.
Die hohe Geistlichkeit trug solcher Stimmung durchaus Rechnung, wenn sie
noch nach der Besitznahme von ganz Polen durch die verbündeten Heere den
deutschen Behörden gegenüber eine bis zur Feindseligkeit entartete Zurückhaltung
bewahrte. Solange in Rußland der Zar regierte, wurde das' Verhalten der
Geistlichkeit von andern Polen durch den Hinweis auf die zahlreichen in Rußland
lebenden Polen und die an ihnen hängenden kirchlichen Interessen zu erklären
versucht. Seit der Zar gestürzt ist und die bürgerliche Demokratie durch die
Proletarische Anarchie abgelöst wurde, tritt aber die hilflose Abhängigkeit der
Polnischen Geistlichkeit von den radikaldemokratischen Bestrebungen immer stärker
zutage. Ein solcher Zustand, der vielen deutschen Katholiken in führenden Stellungen
erst in allerletzter Zeit voll zum Bewußtsein gekommen sein mag, bedeutet natur
gemäß für die katholische .Kirche in Polen eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Es ist heute klar, daß ein polnischer Staat, der demnächst ins Leben treten würde,
eine von Rom um so unabhängigere Entwicklung suchen würde, je stärker in
seinem Aufbau demokratische Grundsätze Anwendung fänden. Auf den Adel und
die Gebildeten unter den Polen könnte die Kirche in Zukunft ebensowenig rechnen.
Wie sie es in der Vergangenheit tun konnte. Die Gelehrten sind liberal oder
sozialistisch, der Adel, wie in früheren Zeiten abhängig von den ihn umgebenden
Stimmungen, ohne inneren Halt. Überdies ist das Leben derart auf Gelderwerb
eingerichtet, daß der Einfluß derer, die den ungebildeten Massen in Stadt und
Land goldne Berge vorspiegeln, ins ungeheuerliche gewachsen ist. Und das sind
Juden und Sozialisten. Der Sozialis mus aber, der hierdurch nach dem Zu¬
sammenbruch der russischen Staatskirche zum Hauptfeind des Katholizismus im
Osten geworden ist, ist in seiner radikalen Form auch der Feind der bürgerlichen
Staaten Mitteleuropas, während umgekehrt die deutsche Staatsgewalt mit ihrer
großen moralischen Kraft als die beste Stütze für die Kulturarbeit der katholischen
Kirche erscheint. So sind auch die deutschen politischen Interessen in Polen mit
denen der katholischen Kirche zusammengeflossen.
Mit dem Friedensschluß vom 9. Februar ist eine Politik zusammengebrochen,
die wir von Anfang an als fehlerhaft bekämpft haben. Es war eine Politik der
theoretischen Spekulation, die weitab von den Wegen der natürlichen, in den Tat¬
sachen begründeten Entwicklung wandelte. Sie war eine der stärksten Quellen,
aus denen der Hader bei uns gespeist wurde und der an der Einheit der inneren
??rout nagte. Ihre Beseitigung wiegt schon die Verschiebung des Friedens im
Osten um einige Monate auf; ein Friede mit den Maximalsten Lenin-Trotzki
hätte ein unnatürliches Verhältnis geschaffen, das unsere künftige Entwicklung
nach jeder Richtung hin schwer belasten mußte. — In welcher Form die oberste
Heeresleitung die ihr gewordenen neuen Aufgaben durchführen könnte, entzieht
sich der Erörterung, — wir wären auch auf Rätselraten angewiesen. Soviel aber
ist jedermann klar: in wenigen Wochen werden die baltischen Provinzen die Seg¬
nungen einer geordneten, auf Recht begründeten Verwaltung genießen.
Walther Rathenau „Von kommenden Dingen". S. Fischer Verlag,
Berlin 1917.
Als Fichte an einem Punkte der Wende in den aufrüttelnden Reden, die
er „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" nannte, seinerzeit den Weg in eine
unahnbar neue Zukunft wies, deutete er diesen Umschwung aller Dinge als einen
Aktwechsel eines großen geschichtsphilosophischen Dramas. Mit vernichtenden
Worten brandmarkte er das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, zu dessen
anschaulicher Ausmalung ihm die überstandene Epoche des schalgewordenen Auf-
klärichts die Farben lieh, und die Tathundlung seiner Gedankensetzung empfand
er mit wahrhaft prophetischem Selbstbewußtsein als den Schlüssel eines neuen
Weltalters: deS Weltalters der anhebenden Rechtfertigung. Von dieser makro-
kosmischen Betrachtungsweise, die das Zeitlichste unmittelbar in den Entfaltungs¬
prozeß des Ewigsten einstellt, ist etwas in dem aufrührenden Buch „Von kom>
mentem Dingen", das uns ein führender Geist unserer Tage, ein Großorgani¬
sator dieses technischen Zeitalters. Walther Rathenau, geschenkt hat.
Es ist nicht absolut neu in seinen Grundgedanken. Die Verzweiflung an
der Zeit als einem Weltalter zersetzender, atomisierender Mechanisierung, dieser
gemeinsame Gefühlshintergrund der Doktrinen des George-Kreises, Sombarts,
Schelers und vieler jüngeren Geistigen, ist uns vor allem auch an den eindrucks¬
voller früheren Schriften Rathenaus zum Erlebnis geworden. Neuer aber und
in der gegebenen Fassung durchaus ursprünglich anmutend ist die starkmütige
Hoffnung, diesen immer mehr ins Leere laufenden Prozeß einer wuchernden
Zivilisation herumzureißen, das Relative doch wieder am Absoluten zu orientieren
und so das in dieseni Krieg sich auseiternde Zeitalter verworfener Abgötterei von
innen her zu durchgeistigen und zu beseelen: „das blinde Spiel der Kräfte zum
vollbewußten, freien und menschenwürdigen Kosmos zu gestalten." Diese Schrift
bricht mit bloßer „Kritik der Zeit", sie schreitet zum entschlossenen Bau an der Zu¬
kunft; sie analysiert nicht mehr bloß die „Mechanik des Geiste«", sondern will eine
Technik der Durchseelung unserer Zivilisation bieten. Vom Ausgangspunkt wendet
sie sich zum Ziel und weist in den Sondersphären der Wirtschaft, der Sitte und
des Willens die Wege, die zu diesem Ziele führen.
Weniger als je kann die Besprechung eines solchen prophetischen Zeitbuches
den Leser von seiner Lektüre entbinden wollen. Dieses Buch packt die zentralen
Noth der Gegenwart derart an der Wurzel, daß jeder, der sich für die Zukunft
unseres Volkes, Europas, der Welt in dieser Schicksalsstunde irgendwie mitverant¬
wortlich fühlt, an einer innerlichen und persönlichen Auseinandersetzung mit diesen
Gedanken in der Tat nicht vorbeigehen darf. Dabei ist diese Erörterung so reich
an Ideen verschiedenster Dimension, daß ebensowohl der Philosoph wie der Em¬
piriker, der Synthetiker wie der Techniker und Spezialist, der Jdeologe wie der
Pragmatiker das Seine findet. Sie alle sollen an die Quelle unmittelbar ge¬
wiesen sein. Hier sei nur eine Beleuchtung einiger herausgegriffener Grund¬
fragen versucht.
Der Siegeslauf der Lebensmechanisierung, dessen wir alle Zeuge sind, ist
durch die Gegenvewegung der Romantik, die sich seit hundert Jahren ihm ent-
gegenstemmt, kaum aufgehalten, geschweige denn überwunden worden. Einzig in
der Form des Nationalismus hat sich die Romantik wirklich durchzusetzen ver-
standen, hat aber da — durch die allzu enge Verschwisterung von Nationalismus
und Staatlichkeit — in der europäischen Geschichte der letzten hundert Jahre der
artige Verheerungen angerichtet, daß es heute eine unserer schwersten Aufgaben
ist, gerade an diesem Punkte die fortschwärende Romantik in unserem politischen
Leben zu überwinden. Im Nationalismus hat die Romantik, ohne es selber zu
wissen und zu wollen, den machtpolitischen und großwirtschaftlichen Strebungen
der neuen Zeit Vorspanndienste geleistet. Die echt romantischen Versuche dagegen,
durch Zurückgreifen auf mittelalterlich-sein^ale Überlieferungen der Zukunft ihr
Gepräge zu geben, haben auf die Dauer versagt. Der Konservativismus unserer
Zeit hat sich in der Tat einerseits verstohlen modernisiert und damit vor allem
kapitalisiert, er hat andererseits wesentliche Versuche zu einer Reaktion des früh-
neuzeitlichen Absolutismus unternommen. Weiter als bis zur Reformation reichen
seine Traditionen kaum zurück, vielfach find sie sogar noch viel jüngeren Ursprungs.
Nach diesem Versagen der Romantik ist es ein begreiflicher Versuch, wenn
Rathenau hier ein Zurückgreifen auf vormechanistische Epochen streng verwirft und
alle ihre noch vorhandenen Rudimente von Grund aus beseitigt, eh« er auf
dem homogenen Grunde einer zu Ende geführten Mechanisierung die Überwindung
der Mechanisierung ans ihrem eigenen Schoß heraus vollziehen will. Der stärkste
in unser Leben hineinragende Felsblock aus patriarchalischen Urgestein ist die Erb¬
lichkeit. An ihr hängt der letzte Rest von stabiler Schichtung von Gsburtsständen,
der sich noch erhalten hat. An diesem Punkt setzt denn auch Rathenau entschlossen
die Axt an: stabile Schichtung scheint ihm mit dem Wesen des von ihm gefor
derem Volksstaates der Zukunft unvereinbar. An einem derart kritischen Punkte
erkennt man nun aber auch, worum es geht: um den radikalen Bruch mit jenen
irrationalen Faktoren unseres europäischen Lebens, an denen die Gemütswerte
nicht nur von Jahrhunderten, sondern fast von Jahrtausenden haften. Rathenau
kennt die Abwehrwaffen, die sich gegen ihn richten müssen. Und so sucht er sie
von vornherein abzustumpfen, indem er Konservativismus als rein negatives
Retardierungsmoment bestimmt und einschätzt. Es ist nicht schwer zu beweisen,
daß dies negative Vorzeichen sich in ein positives verkehrt, wenn man in der
Willkür einer reißenden Revolutionierung für das politische und geschichtliche Leben
die Gefahr schlechthin erkannt hat. Und so bleibt trotz allen bestechenden Argu¬
menten, die uns übrigens aus dem Jdeenschatz des Frühliberalismus wohl ver¬
traut sind, der Verzicht auf Schichtung und die völlige Zersetzung der Familie
und der Geburtsstände ein kommunistisches Experiment, dem wir den überkommenen
Bestand unseres nationalen Lebens nicht aussetzen wollen. Die Lockerung der
sozialen Schichtung ist bereits im Gange, nicht seit gestern und vorgestern, sondern
seit dem Aufkommen der bürgerlichen Stadtkultur im vierzehnten Jahrhundert.
Der organische Fortschritt wird uns auch hier einen wesentlichen Schritt weiter¬
führen, die Spannung zwischen Berufs- und Geburtsstand wie zwischen Beharrungs¬
sinn und Neutönertum möchten wir darum nicht zugunsten des einen Pols völlig
ans unserem sozialen Leben verschwinden sehen.
Was hier für einen Punkt, die Einschätzung der Erblichkeit, «ewas breiter
ausgeführt wurde, ließ» sich in ähnlicher Weise auch an einem anderen Punkte,
der Entthronung des Individuums aus seiner wirtschaftlichen Autonomie und
seiner völligen Versklavung an übergreifende Gesamtorganisaiionen entwickeln. Hier
wie auch sonst scheint uns Rathenau nicht sowohl neue Ziele zu verkündigen, als
vielmehr längst vorhandene Tendenzen des mechanistischen Zeitalters einseitig zu
betonen und gewissermaßen methodisch glücklich auszuprägen. Überall bleibt er
tiefer als er selber weiß in dem Geist befangen, den er revolutionieren will. Ins-
besondere ist es der überspannte Mivismus und Leistungsabsolutismus unserer
Zeit, von dem er nicht loskommt.
Daß unser moderner Technizismus gerade in seinen führenden Vertretern
zur Selbstbesinnung erwacht, ist lebhaft zu begrüßen. In diesem Sinne können
wir uns auch des durchschlagenden buchhändlerischen Erfolges dieses Buches
durchaus freuen. Das Aufkommen eines neuen Hungers in unserem überfallen
Großbürgerum, der Bruch mit der Selbstzufriedenheit der modernen Zivilisation
ist in der Tat die wesentlichste Voraussetzung für das Erwachsen einer deutschen
Zukunft, in der das Seelische wieder zu seinem ewigen Recht kommen soll, nach¬
dem die Reizung der Sinne so lange den Hauptinhalt großstädtischen Kultur-
machertums gebildet hat. Es steht außer Frage, daß die Entwicklung der
kommenden Dinge aus weite Strecken die Wege gehen wird, die Rathenau vor-
zeichnet. Daß die Gefahren seines Radikalismus überwunden werden, dafür wird
schon der natürliche TraditionalismuS des geschichtlichen Lebens Sorge tragen.
Daß wir von der hemmungslosen Durchführung der Mechanisierung nicht ohne
weiteres wie durch ein Wunder ihre Überwindung erhoffen, darf er uns am
wenigsten verargen. Es ist im Grunde genommen dieselbe Reflexion, die bei ihm
in Zutrauen, bei uns in abwartenden Zweifel ausmündet. p,ut diese auf irrationalen
Vorbehalten fußende Skepsis ist nicht die gegebene Grundlage, um im selben Maße,
wie Rathenau das tut, mit allen Überlieferungen zu brechen, um uns einer frag¬
würdigen Zukunft vertrauensselig in die Arme zu werfen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erkäntnis des Verlags gestattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterfelbe West. — MannslrlPtsendungen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
An die «chriftlcitung der Grenzvotcn in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer Sö».
, Hexusprecher de» Herausgeber»: Amt Ltchierf-lde 4S8, des Verlags und der Schriftl-itung: Amt Lätze»» Will,
»erlag: Verlag der «r-nzbot-n W.«. b. H. in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer »6»,
5>in«: „»er R«des»»«te" «, «. », H. in »e«Un SV 11, Dessau« «traije «S/»7,
las Wesen der modernen polnischen Politik hat kürzlich W. Kosia-
kiewicz gekennzeichnet, als er von der Erklärung der polnischen Re¬
gierung wegen der Friedensverhandlungen in Litauisch-Brest sagte i
„Diese polnische Stimme an die Völker scheint uns mannhaft und
rein zu sein. Die öffentliche, amtliche, anerkannte polnische
Regierung schlägt hier keinen andern Ton an, als denjenigen in welchem
unsere großen Dichter, die Leiter der Emigration, unsere Regierungen und
> geheimen Behörden während der Aufstände zu den Völkern im Namen Polens
sprachen. Wir hören in ihr die Stimme unserer ehrwürdigsten Vergangenheit. .."»)
,/die Erklärung der polnischen Negierung ist.. . ein Dokument von geschichtlicher
Tragweite .. ."**) Freilich auch von einem Gesichtspunkte aus, der „die Hakatisten
und Altdeutschen" nicht nur nicht „rasen", wie das Graudenzer Polenblatt^)
schreibt, sondern sie sehr vergnügt schmunzeln machen wird, da es ihnen ein geradezu
Mnzendes Material zur Begründung einer scharfen antipolnischen Politik in die
Hände spielt. Sie können nämlich mit der polnischen Regierungserklärung, „die
von den Völkern Europas und von der öffentlichen Meinung der zivilisierten
Welt vernommen werden" solls), in der Hand nachweisen, daß die polnischen Real¬
politiker von heute genau dieselben für ihre Nachbarn gefährlichen Romantiker ge
blieben sind, die sie 1861 waren, als Gras Zamoyski unter dem Druck der Demo¬
kratie die klugePolitik des Marquis Wjelopolski zum Scheitern brachte. Unter dem
Druck „der großen Dichter, der Leiter der Emigration, der geheimen Behörden"
wußte Wjelopolski — zu unserem Glück — sein kühn und groß angelegtes Werk, das
die Polen zur Vormacht unter den Slawen und zur Hauptstütze der zarischen
Politik machen sollte, aufgeben. Herr Kucharzewski scheint die Rolle jenes
Zamoyski nur mit der Front gegen Deutschland übernommen zu haben.
Die polnische Politik, getragen von einem romantischen Optimismus ohne
Grenzen und von dem unerschütterlichen Glauben an den Sieg der Ententewaffen
über die deutschen Heere, gipfelte bis in die letzten Tage — ziehen wir nur ihre
praktischen Erfolge in Betracht — in dem Bestreben, den polnischen Staat, noch ehe
er eigentlich mehr war als ein Stück Papier in den Händen der Mittemächte,
schon so unabhängig von e.ben diesen Mittemächten hinzustellen, daß"er durch
seine Regierung befähigt sein sollte, die Polenfrage in allen ihren Ausstrahlungen
vor das internationale Forum eines Weltfriedenskongresses zu bringen und in
dessen Folge unter den Schutz internationaler Aufsicht zu stellen. Um die Mittel
zur Erreichung dieses Zieles war man nicht verlegen: die Gestellung von hundert-
taufenden Freiwilligen, die gegen Nußland kämpfen würden, wurde versprochen;
freilich sollte diese polnische Armee von Herrn Pilsudski ausgebildet werden, der
in den Jahren 1905 bis 1907 als sozialer Revolutionär die deutschen Unter¬
nehmer im Weichselgebiet gebrandschatzt hatte; gekämpft haben polnische Legionäre
in geringer Zahl nur gegen die Ukrainal Als Wilson vor etwa einem Jahr seine
nach Inhalt und Form gleich unerhörten Forderungen an die Mittemächte richtete,
scheute sich die Warschauer polnische Regierung nicht, ihm ihre Zustimmung direkt
zum Ausdruck zu bringen. Am 30. Januar d. I. wendete sich die Warschauer
Regierung durchaus nach maximalistischem Vorbilde mit einer Erklärung an die
ganze Welt, in der es unter anderem heißt: „die polnische Negierung ist von dem
Bestreben durchdrungen, daß der polnische Staat, seinen geschichtlichen Traditionen
folgend und sie dem neuzeitlichen Geiste gemäß entwickelnd, sich in seiner politischen
und sozialen Verfassung und in seinen internationalen Beziehungen auf
demokratische Grundlagen stütze..." Damit neben dem Erhabenen auch
das Lächerliche nicht fehle, lehnte der Regentschaftsrat am letzten Geburtstag des
Deutschen Kaisers die Einladung des Generalgouverneurs, der Galavorstellung in
dessen Loge beizuwohnen, zunächst mit der Begründung ab, daß ihm als Ober¬
haupt des souveränen Staates Polen eigentlich das Recht auf die vornehmste
Loge zusteheI Der anmaßlichen Reden von Herrn Korfanty und Trampczynski
wurde schon früher in den „Grenzboten" gedacht; ihnen ist eine nicht weniger
kecke Rede des Herrn Septa im Deutschen Reichstage und eine noch wildere des
Herrn Daszynski im Wiener Reichsrat gefolgt. Alle diese Bekundungen und zahl¬
reichen Zeitungsartikel und Propagandaschriften zielen auf das Recht, sich die¬
jenigen Bundesgenossen in der Welt zu wählen, die den Polen helfen würden,
ihr Einigungswerk auf Kosten der Mittemächte fortzusetzen und zu einem glück¬
lichen Ende zu führen. Für die politische Praxis heißt das: Freundschaft und
Bündnis mit den Mächten der Entente gegen das Deutsche Reich!
Es hat von jeher zahlreiche Deutsche gegeben, die behaupteten, den Polen
ginge jede Fähigkeit ab, sich selbst zu regieren. Für sie war damit die Notwendigkeit
der Teilungen des achtzehnten Jahrhunderts gegeben; aus der Unfähigkeit der Polen
leiteten sie auch das Recht her, daß es bei der Aufteilung des einst mächtigen Staates
bleiben müsse. Aber noch mehr: für viele ergab sich aus der Untauglichkeit der Polen
zu eigenem Staatsleben auch die moralische Verpflichtung der Deutschen und
Moskowiter, die polnische Nationalität von der Erdoberfläche verschwinden zu
machen, wo sie sich in Widerspruch zur Entwicklung der beteiligten Nationalstaaten
setzte. Doch schon lange vor dem Ausbruch des Weltkrieges begann die Erkenntnis
Zit dämmern, daß in dieser Logik irgendetwas nicht stimmte: die zu eigener
Staatlichkeit unfähigen Polen erwiesen sich nicht nur als unausrottbar, sondern
auch als durchaus befähigt, sich innerhalb der Teilungsgebiete mehr oder minder
unabhängig zu organisieren und zusammenzuschließen, so zusammenzuschließen,
daß der Berliner Nationalökonom Ludwig Bernhard mit Recht von einem
Polnischen Gemeinwesen im preußischen Staate sprechen konnte, während ich selbst
unter Hinweis aus ihre Entwicklung in Rußland nachwies, daß sich ein Volk von
zwanzig Millionen Seelen nicht vom Erdboden fortwischen ließe und Wohl be¬
rechtigt sei, eine national-staatliche Organisation anzustreben. Damit war
natürlich nicht gesagt, daß die Polen nun auch befähigt wären, einen eigenen
nationalen Staat selbständig zu führen, das mußten sie erst beweisen. Dazu
gehört mehr als der gute Wille und wirtschaftliches Können, um so mehr
als die Welt seit der letzten Teilung nicht stille stand und die äußeren Bedin¬
gungen für die Lebensfähigkeit eines polnischen Staatswesens eher schwieriger
als leichter geworden sind. Ein langjähriges Studium aller einschlägigen Ver¬
hältnisse hat mich zu der Auffassung geführt, daß die Polen zwar zu einer vollen
Selbständigkeit nicht befähigt seien, daß sie aber an der Seite Deutschlands und
in engster Anlehnung an Preußen unter gewissen territorialen Voraussetzungen
einen eigenen, nicht unwohnlichen Staatsbäu würden einrichten können, der ihrer
Eigenart entspräche und die Belange des Deutschen Reiches nicht stören würde.
Und ich bin noch einen Schritt weitergegangen: ich hielt die Schaffung eines
Polnischen Staates auf ehemals russischem Boden mit weit nach Osten ausladenden
Grenzen für eine Aufgabe der deutschen Politik, sofern sich die Polen auch als
ehrliche Parteigänger und Bundesgenossen der Deutschen erweisen sollten.
Andere Kreise gingen in ihrem Entgegenkommen an die Polen noch weiter.
Ans dem wirtschaftlichen Aufschwung, den die Polen sowohl in Rußland wie in
Preußen vor dem Kriege genommen hatten, folgerten sie, daß die Polen zu
völliger Selbständigkeit reif seien, wenn man sie nur gewähren lassen wollte.
Dabei blieb aber unbeachtet, daß hüben und drüben die Polen doch vor allen
Dingen passiv an der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung der Wirtschaftsgebiete,
denen sie eingegliedert waren, teilnahmen, daß in Russisch-Polen der polnische
Aufstieg in erster Linie getragen wurde von Deutschen und Juden, deren Be¬
lange eng mit einem liberalen deutschfeindlichen Rußland verknüpft waren,
während in Preußen das Ihrige die Millionen der Ansiedlungskommission be¬
wirkt hatten. Genug, es wurde unter der Verantwortung des Herrn von Beth-
mann Hollweg jene Ära eingeleitet, die den Polen es ermöglichen sollte, sich einen
selbständigen Staat zu zimmern. Dabei wurde trotz ernster Warnungen von
der Voraussetzung ausgegangen, daß der Polen kluger politischer Sinn sie zu
unentwegter Verbündeten und Mitgliedern der mitteleuropäischen Staatengesellschaft
machen würde. Die Verteidiger dieser Politik erlebten, wie vorauszusehen, eine
herbe Enttäuschung. Nun richtet sich ihr ganzer Grimm gegen die Polen, die
sie Undankbare und Verräter nennen. Solche Vorwürfe sind ungerechtfertigt:
Dankbarkeit erwartet kein Staatsmann von den Objekten seiner Politik, und
Verräter können wir die Polen schon aus dem einfachen Grunde nicht nennen,
weil sie mit einer an Naivität grenzenden Offenheit ihre uns abträgliche Politik
verfolgten i daß die verantwortlichen Stellen in Deutschland nicht erkennen wollten,
wohin angesichts der Eigenart des polnischen Materials ihre eigene Politik mit
eiserner Notwendigkeit führen mutzte, können wir doch gerechterweise nur diesen
und nicht den Polen zur Last legen. Umgekehrt sind die Polen nicht berechtigt,
von Verrat und Hinterlist auf unserer Seite zu sprechen, wie es der Agent der
austropolnischen Propaganda in Berlin, Herr Wilhelm Feldmcmn, in einem offenen
Briefe an Friedrich Naumann tut, wenn die erste reale Anforderung unserer
Daseinsinteressen, wie sie beim Friedensschluß mit der Ukraina zutage trat, schon
genügend starke Spannungen erzeugen konnte, um den fundamentlosen Lattenbau
der deutsch-polnischen Versöhnungspolitik in Warf hau auseinanderzureißen.
Nicht Mißverständnisse sind es in erster Linie, wie ein geistreicher deutscher
Diplomat gelegentlich in Warschau die Presse glauben machen wollte, sondern
die Interessen und ihre Gegensätze, die die Beziehungen der Völker be¬
stimmen! Mit vollem Recht sagte Herr von Kühlmann kürzlich im Reichs¬
tage, daß die Diplomaten der Mittemächte doch das Zustandekommen des
Friedens mit der Ukraina mit einem Volk von dreißig Millionen nicht wegen der
polnischen Ansprüche auf das Choliner Land scheitern lassen dursten. Daß solche
reale Ansprüche an uns in dem Augenblick herantreten mußten, wo die Frage
des Friedens mit Rußland auftauchen würde, stand bereits bei Ausbruch des
Krieges fest. Infolgedessen war auch jede Politik, die daraus ausging, die Polenfrage
nach irgendeiner Richtung festlegen zu wollen bevor wir mit einem neuen Ru߬
land zur Verständigung kamen, zum Scheitern verurteilt, solange sich die Polen
nicht freiwillig und als Volksganzes in unsere Reihen eingliederten und den
Russen den Krieg erklärten. Daran, daß die Erfüllung dieser Voraussetzung nicht
abgewartet worden ist, ist auch die Politik vom 5. November 19 l6 gescheitert.
Erst im Dezember 1V17. das ist. als sich die begründete Aussicht bot mit
Teilen von Rußland zu einem Sonderfrieden zu kommen, trat die Aufgabe an
die Diplomatie der Mittemächte heran, das ihnen von den Regierungen über-
wiesene Programm zur Lösung oder Auslösung oder auch nur zur Fortentwicklung
des polnischen Problems auszuführen. Es ist kein Ruhmestitel der Reichsregierung,
daß ihre Diplomaten es nicht vermocht haben Österreich-Ungarn von« polnischen
Druck zu befreien und sich infolgedessen den polnischen Ansprüchen so vollständig
zu unterwerfen, wie es geschehen ist. Doch muß anerkannt bleiben, daß diese
Fehloperation auf einem andern Konto der deutsch-österreichisch-ungarischen Be¬
ziehungen ausgeglichen sein würde. Im Augenblick aber, wo die polnische Frage
wirklich aktuell geworden ist, mußten die verbündeten Regierungen auch ganz
genau wissen, wie dieses schwierigste aller östlichen Grenzprobleme angefaßt werden
sollte. Wir übertreiben nicht, wenn wir behaupten, daß die Regierungen schließlich
vom Auftauchen der polnischen Frage vollständig überrumpelt wurden und darum
zunächst den Kopf in den Sand steckten und die „Lösung" vertagten, indem die
polnischen Interessen völlig beiseite geschoben wurden. Bedeutete dies den Beginn
einer bestimmten Arbeit am Probleme selbst, so wäre nichts dagegen zu sagen.
Tatsächlich hat man nur versucht dem Probleme aus dem Wege zu gehen, andern-
falls wäre es nicht zu dem Zusatzvertrag zwischen Österreich-Ungarn mit der
Ukraina gekommen, der darauf zielt die eben erst festgesetzte westliche Grenze der
jungen Republik zugunsten der Polen zu vermindern. Dies Vorgehen zeigt, daß
unsere Regierung anscheinend noch keinen Entschluß darüber gefaßt hat, was mit
den Polen geschehen soll. Will sie die Polen zu einem Staatsvolk heranwachsen
lassen, wie es die verschiedensten Akte und Maßnahmen von der Gründung der
Warschauer Universität an in Aussicht stellten, oder will sie die Polenfrage von
innen heraus zur Auflösung bringen? Im ersten Falle mußten die Mittemächte
entschlossen einen durch die Größe seines Gebiets Achtung gebietenden polnischen
Staate erbauen helfen, unbekümmert um die möglichen politischen Folgen; im
zweiten Falle scheint es unabwendbar den großpolnischen Gedanken mit allen zu
Gebote stehenden als wirksam erkannten Mitteln auszurotten, was natürlich zur
Voraussetzung hat, daß eine jetzt zu fallende Entscheidung in der Polenfrage nicht
solche Verhältnisse schafft, die jeden Versuch an Einflußnahme in der gedachten
Richtung von vornherein zum Scheitern verurteilen würde. Hier sich wieder mit
einem Kompromiß begnügen zu wollen, der versuchte allen Forderungen, woher
sie auch kommen mögen, kurzfristig gerecht zu werden, würde die schwerwiegendsten
Folgen gerade für Deutschland und seine gesamte Kontinentalpolitik haben.
Wenn ich wieder zu einer solchen Fragestellung gegenüber dem polnischen
Problem gekommen bin, so fühle ich mich durchaus frei von irgendeiner Vorein¬
genommenheit gegen die Polen, wie sie mir Herr Wilhelm Feldmann und andere
auch deutsche Agenten des austropolnischen Gedankens andichten. Nur nehme ich
für mich das Recht in Anspruch die Polenfrage vom deutschen Standpunkte aus
zu beurteilen und zu beeinflussen. Im übrigen legen mir die Tatsachen
die Pflicht auf, öffentlich festzustellen, daß die Gesundung des politischen Denkens
der Polen, deren Beginn ich selbst als einer der ersten meinen Landsleuten vor
Sehn Jahren und früher nachgewiesen habe, die Feuerprobe des Weltkrieges nicht
überstanden hat. Die Polen sind, nachdem ihnen durch die Mittemächte eine er¬
hebliche Freiheit zu politischer Betätigung eingeräumt worden war, zurückgefallen
in ihre alten Fehler, die schon vor den Teilungen zur Auflösung ihres Reiches
geführt haben.
Heben wir die Polenfrage als Einzelproblem aus der Masse politischer
Fragen, die durch den Ausbruch des Weltkrieges wieder in Fluß getreten oder
neu entstanden sind, so haben wir Deutsche keinen Anlaß, über die neue Wendung,
die der Entwicklung des polnischen Problems durch den Frieden mit der Ukraina
gegeben ist, zu frohlocken und dies um so weniger, als wir uns noch auf manche
Überraschung von österreichischer Seite gefaßt machen müssen. Das Problem als
Ganzes ist, wie schon gesagt, weder gelöst, noch bisher zu lösen versucht worden;
es ist lediglich in eine neue Phase getreten, bei der neue, unerprobte Faktoren
eine große Rolle spielen werden. Die ganze Tragweite deS Friedensschlusses
vermögen wir noch nicht zu übersehn, da wir weder die Grenzlinie kennen,
die das ethnographische Polen gegen Litauen trennen soll noch auch wissen,
w welcher Form die Sicherungen gedacht sind, deren es unbedingt für Schlesien,
Posen, West- und Ostpreußen bedarf. Die Polen haben die Abtrennung
des Cholmer Landes ohne Ausnahme als eine Kampfansage aufgenommen.
Vn Wien und Warschau haben die polnischen Minister ihre Entlassung aus
den Andern nachgesucht. In allen drei Gebieten sind die polnischen Parteien
geschlossen zur Opposition übergegangen. Im Weichselgebiet ebenso wie in
Galizien führen die radikalsten Elemente das Wort. Aber der Haß der Polen
richtet sich nicht gegen die drei Teilungsmächte, sondern ist vereinigt auf die
Deutschen und das Deutsche Reich. Er wird mit seiner vollen Wucht auf unsrer
Ostmark lasten, dank den Fehlern unserer Diplomaten.
Wir müssen damit rechnen, daß wenn auf dem ehemals russischem Reichs¬
gebiet nicht genügende Sicherheiten geschaffen werden, in Posen, Westpreußen,
Oberschlesien und Ostpreußen (Masuren) nach dem Kriege ein Kampf des polnischen
Elements gegen das Deutschtum in Stadt und Land einsetzen wird, der in seiner
Erbitterung und Rücksichtslosigkeit kaum zurückstehen dürfte hinter dem, was die
Tschechen sich in Osterreich geleistet haben.
Angesichts dieser Lage und Aussichten erhebt sich für uns auch die Frage
nach den inneren Sicherungen, die wir dem polnischen Streben, über unsre Ost¬
mark zu herrschen, entgegensetzen könnten.
Soviel scheint festzustehen: die bis zum Kriege befolgte Ostmarkenpolitik
wird sich nach dem Kriege ohne gewisse Ergänzungen und Anpassung an die
neuen Verhältnisse nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Die preußische Staats¬
regierung hat dem auch schon Rechnung getragen, indem sie einige unbrauchbar
gewordene Maßnahmen teils aufhob, teils milderte: das Enteignungsgesetz, das
bekanntlich nur bei zwei Grundstücken zur Anwendung gekommen ist, soll wieder
in Fortfall kommen, gewisse Beschränkungen, die den Polen beim Landerwerb
und bei der Bebauung auferlegt waren, sind gleichfalls gefallen; beim Religions¬
unterricht in den Schulen soll der polnischen Sprache größere Verwendungsfreiheit
zugesichert sein. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Ostmark den Polen
ausgeliefert werden wird. Was angestrebt wird, ist vielmehr die Entkleidung
der Ostmarkenpolitik von alle dem, was ihr einen Angriffscharakter gibt. Aus
dem mir zugänglichen, sehr verstreuten Material läßt sich von der teils schon
eingeleiteten, teils in Aussicht genommenen Ostmarkenpolitik folgendes Bild
entwerfen:
Der Kampf um den Boden wird auf das Maß zurückgeführt, das not¬
wendig ist, um einer Polonisierung deutscher Kreise vorzubeugen; er wird also
nicht mehr auf die in Frage kommenden Provinzen als Ganzes ausgedehnt, son¬
dern soll beschränkt bleiben auf einige Ortschaften. Die Ansiedlungskommission
bleibt bestehen. Aber die ergänzenden gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften sollen
berechtigt sein, neben deutschen Bauern und Landarbeitern auch solche polnischer
Nationalität anzusetzen und mit staatlichen Mitteln zu fördern.
Die Ansiedlung deutscher Bauern und Landarbeiter wird in der
bisherigen Weise, also in der Form des Rentenguts mit nationalem Wiederkaufs-
recht durch die Ansiedlungskommission und durch staatlich unterstützte gemeinnützige
Siedlungsgesellschaften mit deutschnationaler Tendenz fortgesetzt. Ebenso wird
fortgefahren in der Vesitzbefestigung des deutschen ländlichen Grund¬
besitzes durch die Regierungsbauten in Posen und Westpreußen, sowie durch die
gemeinnützigen Siedlungsgesellschasten in Ostpreußen, Pommern und Schlesien:
diese Besitzbefestigung erfolgt mit Hilfe von Hypothekenregulierung und Sicherung
für die deutsche Hand in Form des nationalen Wiederkaufsrechtes. — Neu hinzu
tritt die Zulassung der Polen zur Ansiedlung unter staatlicher Beihilfe auch
außerhalb geschlossener Ortschaften. Das bedeutet eine außerordentlich weitgehende
Milderung des H 13b des Gesetzes von 1904, der die Genehmigung zur Ansied¬
lung von Polen außerhalb geschlossener Ortschaften abhängig machte von der
Bedingung, daß sie den seitens der Ansiedlungskommission verfolgten Zielen nicht
widersprach. Zunächst war die Erleichterung in erster Linie für Kriegsbeschädigte
gedacht, aber es ergab sich eigentlich von selbst, sie auch auf alle Kriegsteilnehmer
auszudehnen, was in der Praxis soviel bedeutet, daß alle Polen überhaupt zur
Ansiedlung zugelassen werden; wenigstens würde ein Entgegenkommen in dieser
Richtung die Zahl der polnischen Ansiedler kaum erhöhen.
Um der nahe liegenden Gefahr vorzubeugen, daß die Polen das Entgegen¬
kommen ausnutzen, nunmehr das deutsche Ansiedlungswerk planmäßig zu
durchkreuzen oder zum Angriff auf deutschen Besitz übergehen, wird bestimmt, daß
Polen nur angesiedelt werden können, wo schon Polen in geschlossener Masse bei¬
sammen sitzen und wo deutsche Besiedlung noch nicht in Angriff genommen ist.
Nur bei Ansiedlung polnischer Kriegsbeschädigter scheint man noch etwas
weiter gehen zu wollen. Jedenfalls hat die Regierung dem Reichstag (I) zu¬
gesagt, daß polnischen Kriegsbeschädigten nur insoweit die Ansiedlung an be¬
stimmten Orten versagt bleiben soll, wo durch eine Mehrheit polnischer Ansied-
lungen der Zweck des deutschen Ansiedlungswerks durchkreuzt werden könnte.
Die Folge solchen Vorgehens wird praktisch im wesentlichen darin zum
Ausdruck kommen, daß künftig in der Ostmark eine regionale Teilung nach Ge¬
bieten mit einseitig deutschnationaler Siedlung des Staates und seiner Hilfsinstitute
und nach solcher mit paritätischer Siedlung durch gemeinnützige Siedlungsgesell,
schaften Platz greifen wird. Gebiete mit ausschließlich polnischer Siedlung wird
es im deutschen Nationalstaate aber auch dann nicht geben, weil der Deutsche
überall zur Ansiedlung zugelassen ist.
Für die Städte der Ostmark ist eine Änderung des bisherigen Zustandes
nicht vorgesehen. Nach wie vor bleiben die nationalen Institute für Realkredit,
nämlich die Pfandbriefanstalt in Posen für Posen und Westpreußen und die
Kreditanstalt für städtische Hausbesitzer in diesen beiden Provinzen ausschließlich
den Deutschen zugänglich. Im übrigen hilft der bestehende Deutschtumsfonds, der
alljährlich über 2 250000 Mark verfügen kann, deutschen Handwerkern. Ärzten,
Tierärzten, Apothekern, sowie den deutschen Kulturvereinen.
Aber es will mir scheinen, als könnten die großen Milderungen in derOstmarken-
Politik doch nur, ohne Schaden für das Deutschtum zu stiften, hingenommen werden,
wenn die Deutschen in Stadt und Land sich ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit
W Kultur- und Unterstützungsvereinen zusammenschließen wollten, wie sie es z. B.
in Osterreich in den nationalgemischten Landesteilen mit so großem Erfolg getan
haben. Wie dieser Zusammenschluß zu erfolgen hätte, mag heute unerörtert
bleiben, ebenso wer ihn betreiben soll. Nur dies scheint mir schon erwähnenswert:
es könnte sich nicht um einen Verein handeln, der seinen Sitz außerhalb
der Ostmark hätte und sich begnügte, Ortsgruppen in Posen, Westpreußen und
Oberschlesien einzurichten. Was mir vorschwebt, sind lokale Vereine, die, aus dem
Bedürfnis des betreffenden Ortes hervorgegangen, Anschluß an ähnliche Organi¬
sationen in den Nachbarorten suchen und sich schließlich zu Kreis- und Provinzial-
verbänden zusammenfügen, die ihrerseits eine Art gemeinsamen deutschen Volks¬
rats für die Ostmark zu bilden hätten. Die Ortsgruppen des Ostmarkenvereins,
aber auch jede deutsche Genossenschaft, Sparkasse und sonstige Organisation, sie
wöge gewerblicher oder kultureller Natur sein, könnte den Ausgangspunkt schaffen
zum Zusammenschluß der Deutschen. Aber alle diese Vereine, wie sie hier
genannt sind, hätten nur Aussicht auf Erfolge, wenn sie sich grundsätzlich der
negativen Parole „Kampf gegen das Polentum" entschlügen und dafür die
Losung wählten: „Förderung deS Deutschtums", Förderung wirtschaftlich, kulturell,
aber im übrigen unpolitisch! Derart, daß auch jeder Beamte und Offizier,
Pfarrer, Lehrer und Gewerbetreibende in die Organisation eintreten könnte.
Eine solche Neubegründung der preußisch-deutschen Ostmarkenpolitik auf den
Schultern des gesamten Deutschtums in den bedrohten Provinzen unter gleich¬
zeitiger Aufhebung der Ausnahmebestimmungen sollte um so größere Aussicht auf
Erfolg haben, je mehr die Demokratisierung des Wahlrechts das deutsche Element
zum Zusammenschluß zwingt. Das politische Vereinswesen wird sich in der Ost¬
mark besonders bei den Polen beleben. Die Mittel der Propaganda gegen das
Deutschtum werden daher zahlreicher und wirksamer werden. Es muß daher als
ein glücklicher Gedanke bezeichnet werden, daß die preußische Regierung durch Zu¬
lassung der Kriegsteilnehmer polnischer Nationalität zur Ansiedlung in ihrer
Heimat gerade diese der Propaganda entzogen hat. Was wir in der Ostmark
vor allen Dingen brauchen, nach allen den Jahren des äußern und innern
Kampfes ist friedliche innere Entwicklung. Der innere Friede wird aller Voraus¬
sicht nach häufig genug angegriffen werden durch die Agitation der Polen aus
dem Weichselgebiet. Deshalb ist besonders unsre Ostmark daran interessiert, daß
die Verhältnisse dort eine Gestaltung erfahren, die den Druck auf unsre Grenze
nicht gar zu fühlbar werden lassen. Die letzten Ersahrungen lehren uns, welche
Macht schon heute die Polen in Wien haben. Die polnischen Offenherzigkeiten
zeigen uns, wie und in welcher Richtung sie die Macht zu gebrauchen gedenken.
Eine Vereinigung russischen Gebiets mit Galizien würde eine weitere Stärkung
der politischen Macht der Polen in Wien und damit eine große Gefährdung unseres
Bündnisses bedeuten. Der in Brest-Litowsk betretene Weg zum Frieden darf daher
nicht über die sogenannte austropolnische Lösung weiterführen.
eit dem Beginn des Weltkrieges fühlen sich die deutschen.Katholiken
innerhalb ihrer Kirche stark vereinsamt. Die westeuropäischen, ins¬
besondere die französischen Glaubensgenossen haben den Kampf der
Waffen sofort auf das geistige Gebiet übertragen und die Deutschen
^ als schlechte und mißratene Söhne der Kirche verdächtigt. Man stellt sie
als halbe Protestanten hin, oder gar als Heiden, denen der alte Wotan
teuerer sei als Christus, was doch höchstens für einzelne, besonders österreichische,
Altdeutsche zutrifft, die nach ihrem Taufschein ja allerdings Katholiken sein mögen.^"^H^W'
^U>KZM
Das vom Rektor der Pariser katholischen Universität Baudrillart herausgegebene
Sammelwerk „l^a Zuerre allenmncie et le LÄtnolicisme" (1915) bemüht sich
krampfhaft, den Krieg als einen Kreuzzug der echten Katholiken gegen die ketzerisch
verseuchten Deutschen hinzustellen: angesichts der Tatsache, daß in allen romanischen
Ländern das antikatholische Freimaurertum im Regiments sitzt und notorisch den
Krieg im Namen der „Völkerfreiheit und Demokratie" entfesselt hat, ein mehr als
kühnes Unternehmen! Das wissenschaftliche katholische Deutschland fand sich
seinerseits in dem Sammelband „Deutsche Kultur, Katholizismus und Weltkrieg"
(191(>) zu einer würdigen Abwehr zusammen. Aber drüben verstummten die An¬
griffe nicht. Leider ist Georges Goyau, der französische Geschichtsschreiber des
»religiösen Deutschland", dem man eine wirklich gute Kenntnis der geistigen Zu¬
stände unseres Vaterlandes nicht wohl abstreiten kann, einer der lautesten Rufer
im Streit und einer der geschäftigsten Verleumder des deutschen Katholizismus
geworden. Der Franzose benutzt das verkehrte Schlagwort vom „evangelischen
Kaisertum", um die deutschen Katholiken als abtrünnig von der angeblich allein
echt katholischen politischen Stellungnahme in der Kulturkampfzeit und als Schritt¬
macher jeuer protestantisch-deutschen Gewaltpolitik hinzustellen, die das Kaisertum
nach französischer Einbildung betreibt. Der Abwehr dieser Verdächtigungen dient
das jüngste Buch des im Kampfe gegen derartige französische Angriffe schon be¬
währten Bonner katholischen Theologen Heinrich Schrörs*). Der Verfasser führt
die Verteidigung sehr gründlich und wirksam durch einen vergleichenden geschicht¬
lichen überblick über die Entwicklung des deutschen und französischen Katholi¬
zismus, auf Grund dessen ihm die Rechtfertigung der kirchlichen Treue der Deutschen
und der Nachweis ihrer bewährten glaubensbrüderlichen Gesinnung gegen andere
Glieder der Gesamtkirche nicht schwer fällt. Für den nichtkatholischen Teil der
deutschen Öffentlichkeit ist dieser Nachweis im einzelnen natürlich nicht so wichtig,
wie für den Verfasser. Auf ihn kommt es mir darum auch nicht weiter an.
Dagegen hat Anspruch auf das volle Interesse jedes politisch denkenden Deutschen
ohne Unterschied der Konfession ein Hinweis daraus, was unsere Politik vom
Katholizismus zu erwarten hat, ob freundliche oder feindliche Strömungen, ge¬
fährliche oder günstige Stimmungen sich in ihm regen. Die katholische Kirche ist
uach wie vor eine politisch.kulturelle Großmacht in Europa, mit der jeder Staat
unseres Erbteiles rechnen muß, einer aber, der sich anschickt, eine ganz neue Ära
europäischer Politik anzufangen, wie jetzt eben unser deutscher, natürlich ganz be¬
sonders. Jene protestantische politische Betrachtungsweise, die sich um katholische
Dinge nicht kümmerte, unter dem bequemen, schnell fertigen Vorwande, konfessionelle
Mächte seien keine berechtigten Faktoren moderner nationaler Politik, muß über¬
wunden werden. Freilich haben wir eine spezifisch kleindeutsche Zeit hinter uns,
eine Zeit, die die Ziele deutscher Politik weit jenseits der Meere suchte, weil
sie sich an die Lösung der europäischen Fragen um des geheiligten Status puo
willen nicht heranwagte. Um das Schicksal der deutschen Millionen in Österreich-
Ungarn glaubten wir uns nicht kümmern zu dürfen, die Wege der östlichen
Kolonisation, die unsere Vorfahren gebahnt, ließen wir mit Gestrüpp verwachsen,
und von den politischen Bahnen unseres alten heiligen Reiches nach dem blauen
Mittelmeer im Süden, dem Herzen der alten Welt, sagten unsere Historiker:
VestiZm terrene! Aber der Krieg zwingt uns, die Augen wieder aufzumachen,
er gestattet uns nicht mehr, Deutschlands Zukunft lediglich jenseits des Ozeans
Su suchen, wir müssen wieder mit den politischen Problemen ringen, mit denen
die Jahrhunderte unserer Geschichte gerungen haben. Wir müssen eine Lösung
der Frage finden, wie die Existenz und Selbstbestimmung der Völker des Ostens
mit der Erhaltung deutscher Macht und Kultur in Einklang zu bringen sei. Wir
begreifen auch wieder, daß es nicht gleichgültig ist, ob ein feindseliges Italien
uns den Ausweg durch die Adria abschnürt. Und wer sollte gar heute noch
unter national fühlenden deutschen Herzen es wagen, irgendeine Politik zu befür¬
worten, in der nicht die Erhaltung des Bundesverhältnisses zu Österreich-Ungarn
der Eckstein wäre! Eine Politik, der es irgendwie denkbar erschiene, den Bund
zwischen uns und der Donaumonarchie zu einer Episode zu machen, die ebenso¬
gut durch irgendwelche andere Kombinationen abgelöst werden könnte, setzt uns
der Gefahr aus, daß zwölf Millionen Volksgenossen für ruiner einem politischen
Sonderbewußtsein verfallen, wie die Schweizer oder die Niederländer. Das wäre
der größte Verlust, den unser Volkstum erleiden könnte. Keine noch so glänzenden
weltwirtschaftlichen Erfolge, keine noch so große Erwerbung in Afrika könnte ihn
ausgleichen. Wir haben schon nicht mehr die Wahl, ob wir uns um die Schaffung
einer mitteleuropäischen Einheit bemühen wollen. Wir müssen es tun, wenn uns
an der Einheit und Gesundheit unseres Volkstums etwas liegt, und wenn wir
die alten Fragen europäischer Politik im bisher russischen Westgebiet, am Balkan
und der Adria einer Lösung entgegenführen wollen, die uns endlich einmal Ruhe
vor ihnen verheißt. Was wir an Kraft übrig behalten, das mögen wir wieder
in Kolonialpolitik stecken, aber unsere Hauptaufgaben liegen in Europa. Ist das
nun der Fall, so ist die Kenntnis einer so alteingewurzelten, so spezifisch gesamt¬
europäischen Macht wie der katholischen Kirche für die deutsche Politik ganz be¬
sonders wichtig.
Es bedürfte eines solchen kleinen grundsätzlichen Ausblicks auf die Aufgaben
unserer Politik, um dem Leser zu zeigen, unter welchem Gesichtswinkel wir die
Angelegenheiten der katholischen Kirche ansehen müssen. Ein Volk, das eben
helfen will, aus eigenen nationalen Notwendigkeiten heraus helfen muß, Mittel¬
europa zu ordnen, ein Volk also, das vor einer Aufgabe europäischer Politik
allergrößten Stiles steht, kann nicht gleichgültig vorübergehen an den Lebens¬
erscheinungen einer so hervorragend in Europa wurzelnden Kulturmacht, wie der
katholischen Kirche. Unser Erfolg bei unseren mitteleuropäischen und europäischen
Aufgaben wird lehr maßgeblich beeinflußt sein von dem Wohl- oder Übelwollen
der katholischen Kirche. Es dürfte keinem Urteilsfähigen schwer fallen, sich klar
zu machen, daß die Feindschaft des internationalen Katholizismus ein böses Spreng¬
pulver für unsere mitteleuropäische Einheit wäre. Schon das Deutsche Reich hat
es im eigenen Innern erfahren, daß es gegen die katholische Kirche nicht regiert
werden kann, und es ist ein Zeichen der Zeit, daß heute ein ausgesprochen katho¬
lischer Politiker das Reich lenkt. Es wäre kein geringer Triumph unserer Staats¬
kunst, wenn es gelänge, den Katholizismus für den mitteleuropäischen Gedanken
zu interessieren. Die Aussicht darauf ist nicht schlecht, doch darf man sie noch
nicht für allzu sicher hallen. Abgesehen davon, daß in Deutschlands nicht-
katholischen Kreisen Stimmungen auftauchen könnten, die nicht scharf genug denken,
um der einfachen politischen Notwendigkeit Rechnung zu tragen, so wäre es ja
auch möglich, daß in der katholischen Kirche ausgesprochen deutschfeindliche Strö¬
mungen zur Macht kämen. Die über alles Maß feindselige Haltung, die ein
großer Teil des romanischen, namentlich der französische Katholizismus im Kriege
gegen Deutschland eingenommen hat, läßt Befürchtungen dieser Art durchaus nicht
als absurd erscheinen Ein doch zweifellos guter Kenner der Verhältnisse, wie
Professor Schrörs in seinem zitierten Buche, macht sich auch nach Friedensschluß
auf eine fortdauernde Vereinzelung der deutschen Katholiken innerhalb der Kirche
infolge der französischen Verleumdungen gefaßt. Wir müssen damit rechnen, daß
ein recht bedeutender Teil des gesamten .Katholizismus gegen uns verhetzt ist,
vielleicht sogar hier und da auf mitteleuropäischen Boden. Der französische
Katholizismus hat es im Kriege geradezu darauf angelegt, die gesamte Kirche in
Gegensatz zu Deutschland zu bringen, dem .Katholizismus ein spezifisch lateinisches,
antideutsches Wesen nachzusagen und unser Vaterland einschließlich unserer eigenen
Katholiken als kirchenfeindlich zu verleumden. Diese feindlichen Versuche und die
Gegenwehr unserer Katholiken sind keine lediglich katholischen Angelegenheiten,
sondern verdienen die Aufmerksamkeit unserer ganzen politischen Öffentlichkeit.
Der französische Katholizismus hat sich seit 1871 stets äußerst rationalistisch
aufgeführt. Er fühlte sich geradezu zum Pfleger der Revanchestimmung berufen.
Von den innersten Gründen dieser Haltung wird weiter unten noch in kurzen
Worten die Rede sein. Sie sind an sich ehrenwert und hauptsächlich inner-
Politischer Natur. Die Katholiken waren nach dem Kriege von 1870 in Frankreich
nur kurze Zeit an der Macht, sonst in schärfster und nicht eben erfolgreicher Op¬
position gegen die ganze republikanisch-radikale Entwicklung des inneren Staats¬
lebens, deren Grundsätze ihnen verderblich für ihr Volk erscheinen mußten. Der
Glaube an einen spezifisch katholischen Beruf Frankreichs, der „ältesten Tochter
der Kirche", ist alt. Es ist nicht wunderbar, wenn er sich in den durch das un¬
aufhaltsame Vordringen des Radikalismus auf allen Gebieten des öffentlichen
Lebens der Nation bekümmerten Herzen der französischen Katholiken umkehrte in
den Glauben an einen spezifisch französischen Beruf des Katholizismus, „vieu et
Trance!" — in dieser alten Formel vermag sich die ganze Stimmung des
Revanchekatholizismus auszudrücken. Die Katholiken glaubten, daß Frankreich
geistiger und sittlicher .Kräfte bedürfte, um seinen alten Rang gegenüber dem auf¬
steigenden Germanentum zu behaupten. Diese Kräfte sollte und konnte ihrer
Meinung nach nur der Katholizismus liefern. Was wunder, wenn in ent¬
schlossenen Gallierköpfen und leidenschaftlichen Franzosenherzen der Katholizismus
geradezu einen deutschfeindlichen Beruf bekam! Der französische Monarchist Charles
Maurus, der nicht einmal ein echter Gläubiger war, aber als geistiges Haupt
des rationalistisch-klerikalen Bundes der „Motion kran?use" einen tiefgehenden
Einfluß auf die französischen Katholiken ausübte, konnte ungestraft so weit gehen,
den „katholischen", d. y. allgemeinen Charakter der Kirche anzutasten, und sie als
ausgesprochen „lateinische" Institution gegen das germanische Prinzip auszuspielen.
Nicht erst während des Weltkriegs, sondern schon lange vorher sucht man in
diesem Lager, die katholische Kirche zu einer antigermanischen Macht zu stempeln
und die deutschen Katholiken als Parteigänger eines barbarischen und protestantisch-
kirchenfeindlichen Teutonismus um jeden katholischen Kredit zu bringen. Daß
eine derartige Propaganda in der Welt leicht einen gewissen Eindruck machen
kann, wird man ohne weiteres zugeben, wenn man daran denkt, das; doch auch
bei uns und zwar von entgegengesetzter protestantischer Seite mit der Unterstellung,
die katholische Kirche sei undeutsch, sei lateinisch, nicht ohne Erfolg gearbeitet
worden ist. Man'hat im Kulturkampf das Schlagwort vom „evangelischen" rom¬
feindlichen Kaisertum geprägt, das jetzt die Franzosen prompt gegen uns aus-
nutzen. Man hat die katholischen Politiker als national unzuverlässige „Röm-
linge" hingestellt und die Auseinandersetzung der liberalen Gedankenwelt mit der
katholischen als eine Phase des nationalen Kampfes der Germanen gegen die
Römer erscheinen lassen. Angesichts der Tatsache, daß das deutsche Volk alles in
allem zur Hälfte katholisch ist, war das eine ungeheuerliche Gedankenlosigkeit, die
leider nicht ungestraft bleibt. Nach meiner Kenntnis gab es bis zum Ausbruch
des Krieges noch genug, glücklicherweise allerdings meist nicht allzu ma߬
gebliche evangelische Kreise, die nur den Glauben der Reformation als echt deutsch
gelten lassen wollten. Manche Nationalisten bei uns waren also nicht frei von
der gleichen Kurzsichtigkeit, die die katholischen in Frankreich jetzt in der deutsch¬
feindlichen Propaganda betätigen. Bei der ungeheuren Wichtigkeit, die die zu¬
künftige Stimmung der Katholiken in ganz Europa besonders für unsere auf
Schaffung eines dauernden mitteleuropäischen Bundes hinzielende Politik hat, be¬
steht absolut kein wahres Interesse daran, wider den tatsächlichen Befund die
katholische Kirche als deutschfeindlich und lateinisch erscheinen zu lassen. Jeder,
der heute noch an einem solchen, sich antiultramontan gebärdenden deutschen
Nationalismus festhalten wollte, würde in Wahrheit seinem Vaterlande wider
seinen Willen einen schlechten Dienst erweisen. Die Abwehr, in der die deutschen
Katholiken sich heute gegen die Franzosen um Anerkennung ihres echt katholischen
Geistes befinden, ist zugleich ein Kampf im Dienste der vaterländischen Politik,
und ein Buch, wie das von Schrörs, muß auch vom nationalen Standpunkte
ausdrücklich Zustimmung finden. ES hat uns politisch viel Schaden gemacht, daß
das griechische Christentum von den Russen mit einem Scheine des Rechts als
slawische Rassenreligion hingestellt werden konnte. Der Schaden für die kom¬
menden europäischen Aufgaben der Deutschen als des führenden Kulturvolkes von
Mitteleuropa wäre noch unendlich viel größer, wenn es gelänge, den Katholizismus
als deutschfeindliche romanische Rassenreligion erscheinen zu lassen. Gewisse An¬
spielungen wegen unerwünschter Einflüsse der romanischen Leitung der katholischen
Kirche auf die deutsche Politik auf feiten jener Kriegszielpartei, der unsere Ant¬
wort auf den Friedensvorschlag des Papstes ein Dorn im Ange war,
waren, wenn man an die Notwendigkeiten der mitteleuropäischen Zu¬
kunft denkt, unverständig und bleiben bedauerlich. Der Papst wäre
nicht so neutral in dem jetzigen Weltkriege, wenn die deutschen Katho¬
liken weniger loyal gegen ihr kirchliches Oberhaupt wären. Die Kurie muß auch
im eigenen Interesse stets daran denken, daß die von ihr geleitete Kirche „katholisch"
und nicht „lateinisch" sein will, aber es ist gut, wenn die deutschen Katholiken
die nationalistischen Tendenzen der französischen Klerikalen als unkatholisch kenn¬
zeichnen und sich selbst als frei von solchen Bestrebungen erweisen können; und
es ist klug, wenn die gesamte öffentliche Meinung bei uns begreift, was diese
innerkatholische Auseinandersetzung für unsere europäische Politik bedeutet.
Eine gut beratene deutsche Politik wird leicht erkennen, daß wir in sehr
vielen Gegenden Europas mit der katholischen Kirche sehr gut ein Stück Weges
gemeinsam gehen können. In allen romanischen Ländern war es in erster Linie
das antikatholische politische Freimaurertum, das zum Kriege gegen uns gehetzt
hat. In Italien ist der Bruch mit uns mehr oder weniger gegen den Willen
der dem .Katholizismus näher stehenden konservativen Elemente beschlossen worden.
Aber sogar in Frankreich fällt die eigentliche Schuld am Kriege gar nicht auf die
Katholiken trotz ihres zur Schau getragenen Revanchenationalismus, sondern auf
die herrschenden Radikalen, die es vorher liebten, mit pazifistischen und sozialistischen
Redensarten um sich zu werfen. Poincarö und Clömenceau, Viviani und Briand,
und alle die Männer, auf die in Frankreich die Verantwortung von 1914 fällt,
sind ja doch keine Katholiken, sondern rote Radikale und Freimaurer. Soweit
wir die Ursachen der Entfesselung des Krieges nicht überhaupt in grob-materiellen
Beweggründen der herrschenden Männer suchen wollen, kann jedenfalls für sie der
katholische Nationalismus nicht in Frage kommen, sondern nur der Jakobinerhaß
gegen das unjakvbinische Deutschland, und das Vermächtnis von 1792, die Er-
rungenschaften der Revolution auch über den Rhein nach Deutschland zu tragen.
Die nationalistische Haltung der französischen Katholiken verdient in diesem Zu¬
sammenhange noch eine besondere Erklärung. Diese Erklärung wird uns dann
ein Urteil darüber ermöglichen, ob Frankreich in bezug auf die Behauptung, daß
die deutsche Politik fast allgemein in Europa ein Stück Weges mit dem Katholi¬
zismus zusammengehen könne, eine Ausnahme bildet oder nicht. Wenn wir die
ganze merkwürdige Kriegswut der Franzosen überhaupt verstehen wollen, dürfen
wir nicht vergessen, daß sich die ganze Weltlage vor dem Kriege in französischen
Köpfen anders malte als in unseren. Die Frauzosen haben seit alter Zeit nicht
Land uns Leute, nicht Reichtum und .Kultur an sich als wertvollsten nationalen
Besitz betrachtet, sondern jenes besondere Ansehen der „^ranäe nation" unter den
Völkern, das sie als ihr Prestige bezeichnen. Dieses Prestige war in den Augen
der Franzosen seit ihrer Niederlage von 1870 geschmälert. Weniger der Verlust
von Elsaß-Lothringen an sich, als vielmehr die Minderung des Prestiges war die
ewige Quelle des Nevanchebedürfnisses. DaS Prestige ist, wie Max Scheler sehr
richtig sagt*), eine Differenzkategorie. Jedes Aufsteigen einer anderen Macht
vermindert an sich schon den Vorsprung, den die Franzosen vor allen anderen
Völkern in Europa behaupten wollen, auch wenn dieses Aufsteigen gar nicht auf
Kosten Frankreichs sich vollzieht. Unser Emporkommen nach dem Sieg von 1870
war nach französischer Auffassung ein fortgesetzter Raub an dem Prestigebesitz, den
der Franzose seinem Volke von Rechts wegen zuschreibt. Daher fühlte sich Frank¬
reich fortwährend von uns angegriffen, mochten wir uns auch noch so viel Mühe
geben, jeden Schein eines tatsächlichen Angriffs zu vermeiden. Sieht man die
Dinge so an, so wird auch klar, wie es möglich ist, daß jedermann in Frankreich
einen Verteidigungskrieg gegen die barbarischen Angriffe Deutschlands zu führen
glaubt. Wir sehen ja, daß die Gebildetsten und Gelehrtesten, Leute, die recht
wohl den wahren Sachverhalt wissen könnten, und von denen wir nicht annehmen
dürfen, daß sie bewußt die Unwahrheit reden, nicht weniger als die breite Masse
und die führenden Politiker sich einbilden, von uns herausgefordert und ange¬
griffen zu sein. Die ganze französische Volksseele war von quälender Ungewißheit
erfüllt, ob sich der als am wertvollsten angesehene Prestlgebesttz nach dem Verlust
von Elsaß-Lothringen gegenüber dem immer weiteren Aufsteigen Deutschlands
behaupten lassen werde. Bei solcher Seelenverfassung erschien Deutschland als
immer erneut anstürmender Angreifer, und jede eigne Offensive erschien als reine
Verteidigung. Unter diesen Umständen entgeht die hitzige Revanchestumuung der
französischen Katholiken in höherem Maße, als man auf den ersten Blick denken
sollte, dem begründeten Vorwurf, am tatsächlichen Ausbruch des Krieges unmittel¬
bar mit schuld zu sein. Die Revancheidee sollte zunächst der Erziehung des eigenen
Volkes dienen, daran zu arbeiten, daß der Prestigevorsprung Frankreichs gegen-
über Deutschland nicht immer negativer würde. Das aber fürchteten die Katho¬
liken von der fortdauernden Radikalisierung der Republik. Diese Entwicklung
war in ihren Augen die Zerstörung alles dessen, was Frankreich früher unter
monarchischer Führung groß gemacht hatte. Der Angriff der Revanchepatrioten
richtete sich gegen die Plutokratische Korruption und sozialistisch-radikale Auflosung
im eigenen Lande, weil sie fühlten, daß diese Entwicklung Frankreich unfähig
mache, mit Deutschland Schritt zu halten, und damit unfähig zur Revanche.
Einen Augriff auf Deutschland beabsichtigte man in diesen konservativen Kreisen
fürs erste einfach deshalb nicht, weil man, wenigstens soweit man folgerichtig
dachte, an keinen Erfolg glauben konnte, solange Frankreich nicht innerlich wieder
konservativ und katholisch geworden sei. Es konnten nur die Radikalen selber
sein, die der Republik zutrauten, über Deutschland siegen zu können. Nur die
Männer der herrschenden Plutokratie waren imstande zu glauben daß sie mit
ihrem Goldregen Nußland befähigen könnten, den Franzosen die ersehnte Revanche
zu verschaffen. Und nur sie konnten sich der angenehmen Einbildung hingeben,
daß es möglich sei. durch Unterstützung der englischen Weltpolitlk den deutschen
Prestigeräuber auf dem trockenen Wege wirtschaftlicher Erdrosselung zur Strecke
SU bringen. Natürlich hat es auch unter den herrschenden Radikalen Leute ge¬
geben, die von der Kriegspolitik wenig Gutes erwarteten. Den Sozialisten Jaures
hatte man bald beseitigt! Caillaux unschädlich zu machen ist bis auf den heutigen
Tag noch nicht ganz gelungen. Ein innerpolitischer Umschwung zugunsten dieser
Richtung kann eines Tages die Kriegspolitik Frankreichs einmal sehr rasch von
der blinden Gefolgschaftstreue gegenüber England und Amerika bekehren. Aber
eine dauerndere Beruhigung würde jenseits der Vogesen vermutlich doch ein-,
treten wenn die radikale Republik, nachdem sie diesen Krieg verloren
hat. überhaupt ausspielte, und der Katholizismus wieder politischen
Einfluß gewönne. Ich sage das, obwohl die Revanchewut der französischen
Katholiken sich laut genug geäußert hat. Sie werden auch nach einem inner¬
politischen Umschwunge wieder in die nationalistische Trompete stoßen, aber sie
würden mit der inneren Umbildung der französischen Volksseele und der politischen
Reaktion gegen die freimaurerische Vergangenheit zunächst Arbeit genug haben
und auf lange Zeit hinaus keine Kraft finden, aufs neue mit Deutschland Händel
SU suchen. Frankreich würde unter klerikaler Herrschaft auch dem Einfluß der
wtcrnationalen Demokratie, die sich als ein notorisch deutschfeindlicher Bundes¬
genosse der angelsächsischen Weltmächte entpuppt hat, wenigstens soweit entzogen
sein, wie heute Spanien, wo es der antikatholischen Demokratie bis heute noch
nicht gelungen ist, die Neutralität aufzuheben. Indessen mag infolge der zu
erwartenden militärischen Niederlage der Republik der Katholizismus in Frankreich
zur politischen Macht gelangen oder nicht: die Haltung des gallischen Nachbars
bleibt ein heute unberechenbarer Faktor, über den sich nichts prophezeien läßt.
Nur soll man nicht denken, daß ein katholisch beherrschtes Frankreich für uns
besonders ungünstig sei. Feindseliger als die radikale Republik kann es nicht werden,
und ohne eine gewisse innerpolitische Annäherung an das konservativere
Deutschland ist eine katholische Restauration in Frankreich nicht denkbar. Das
wäre schon etwas!
Der heute von Frankreich genährte Gegensatz zwischen Deutschland und den
romanischen Nationen wird hoffentlich nicht ewig dauern. Wenn der Friede auf
der Basis einer einigermaßen billigen, beiderseits annehmbaren Verständigung
zustande kommt, wird man wieder nebeneinander leben können. Der Katholi¬
zismus als eine Größe, die in beiden Lagern mächtig ist, wird vor allem berufen
sein, dahin zu wirken, daß das Lateinertum und Germanentum sich der Gemeinschaft
der europäischen Kultur, aus der man sich die Angelsachsen und erst recht die
Russen weit leichter wegdenken kann, als gerade eine dieser beiden Völkergruppen,
wieder bewußt werden. Die Stellung des Katholizismus im Deutschen Reiche
muß derart sein, daß kein romanisches Volk Vorwünde geliefert bekommt, die
katholische Kirche für eine lateinische auszugeben. Sie soll verbinden helfen, aber
nicht trennen. Was die Haltung der deutschen Katholiken innerhalb der Gesamt¬
kirche anlangt, so rät Schrörs, jede Herausforderung der Franzosen zu vermeiden
und sich zunächst niemandem unter den außerdeutschen Glaubensgenossen aufzu¬
drängen (S. 209 f.). Allmählich, hofft er. würden sich Vermittler zwischen
deutschem und französischem Katholizismus finden und eine neue Annäherung
herbeiführen. Die Schweiz, das Elsaß und Rom hält er für besonders geeignet
für derartige Aufgaben. Daß Schrörs engen Anschluß an Rom und unver¬
brüchlichen Gehorsam gegen den Papst empfiehlt, ist folgerichtig, weil es gilt,
den Lateinern jeden Vorwand zur Verdächtigung der kirchlichen Treue der
Deutschen zu nehmen. Mit solcher Treue hofft er, die internationalen Beziehungen
des Katholizismus fester zu knüpfen, damit sie nicht etwa durch die im Kriege
allerdings als sehr wirksam erwiesenen internationalen Beziehungen der angel¬
sächsischen Demokratie oder die des Sozialismus an Festigkeit übertroffen werden.
Dieser internationale Ehrgeiz wird immer ein wirksamer Ansporn sein, daß die
Kirche „katholisch" bleibt und nicht „lateinisch" wird. In der inneren Politik
des Deutschen Reiches kündigt Schrörs an, wird die Kirche wie bisher den all-
. deutschen Nationalismus bekämpfen, dem Ausbau der mitteleuropäischen Beziehungen
zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn aber wird sie ihre Hilfe leihen. Das
klingt sehr verheißungsvoll. Denn gelänge es, ein besonderes Zusammengehörig¬
keitsgefühl zwischen den Katholiken Deutschlands, Österreichs und Ungarns gro߬
zuziehen, so wäre für den mitteleuropäischen Bund ein sehr zuverlässiges Band
geknüpft. Innerhalb des Reiches erwartet Schrörs mit dem Falle des preußischen
Wahlrechts ein Zurücktreten des bisher führenden altpreußischen Nordostens und
ein Aufsteigen des katholischen Westens und Südens zur politischen Macht. Mit
der Regierung Hertling—Payer—Kühlmann hat ja diese Umwälzung anscheinend
schon eingesetzt. „Wir haben dem Vaterlande etwas zu bieten", ruft Schrörs
zuversichtlich. „Wir besitzen eine sichere, auf das Wort Gottes gestützte und nach
ihrem Werte durch die Jahrhunderte erprobte Sittenlehre, die einen festen Halt
geben kann gegenüber der Verwirrung der sittlichen Begriffe, die eine gleißende
Philosophie erzeugt hat, gegenüber der nackten Politik des Erwerbens, gegenüber
der schrankenlosen Jagd nach dem Genusse, gegenüber der Herrenmoral, die jenseits
von Gut und Böse stehen zu dürfen glaubt. Nicht allein dem einzelnen ist die
christliche Moral die leitende Hand, die ihn zu einem wertvollen Gliede des
Staates erzieht, sie ist auch Sozialethik im großen*)." Die Mitarbeit der positiv
Evangelischen für die Verchristlichung des ganzen Staats- und Wirtschaftslebens
wird ausdrücklich in Anspruch genommen, so daß die andere Konfession den Raum
behaupten kann, der ihr grundsätzlich zugesprochen werden muß.
Das Buch von Schrörs bekundet wiederum, was ich früher schon zu erweisen
suchte"), daß der deutsche Katholizismus sich den großen Aufgaben vaterländischer
Politik nach innen und außen nicht nur nicht entziehen will, sondern sie grund¬
sätzlich für sick in Anspruch nimmt. Er will von der Macht im deutschen Staate
ein so gutes Stück erobern, daß ein Hand-in Handgeben der deutschen Politik mit
der Kirche in Europa gewährleistet erscheint. Die politischen Kräfte des Katholi¬
zismus sollen überall zu Verbündeten der Reichspolitik werden, und andererseits
durch das Gewicht ihrer im Reiche und in ganz Mitteleuropa erhofften Stellung
innerhalb der Kirche derartig an Bedeutung gewinnen, daß die lateinischen
Nationen in Zukunft noch weniger als heute daran denken können, sich als die
Bannerträger des echten Katholizismus hinzustellen. Die Kurie hat den Bestre¬
bungen der deutschen Katholiken in der schweren Krise dieses Krieges insofern
vorgearbeitet, als Papst Benedikt der Fünfzehnte jede ausgesprochene Parteinahme
für die romanischen Völker vermieden hat. Die Aussicht, den Papst für die An-
erkennung einer Führerstellung der Deutschen unter den mitteleuropäischen katho¬
lischen Nationen zu gewinnen, die der Führerstellung der Franzosen unter den
romanischen Katholiken gleich käme, ist also vielleicht gegeben.
er gegenwärtige Weltkrieg wird Deutschland für alle Zukunft die
grundlegende Lehre hinterlassen: Voraussicht ist nahezu alles. —
Eine Lehre aus bitterster Erfahrung. Zu gleicher Zeit ein unversieg¬
barer Quell seiner künftigen Kraft, wenn diese Einsicht sich durchringt.
Denn es hat sich herausgestellt, wie dank Deutschlands schöpferischer
—--W^M^ir^^ Macht und seiner Organisationsbeqabung überall dort, wo rechtzeitig
ein zäher Wille und seine Gewissenhaftigkeit Vorbereitungen getroffen hatten, ihm
die herrlichsten, sieghaftesten Erfolge erblühten; wo es hingegen durch die Er¬
eignisse überrascht ward, ihm trotz heroischer Aufopferung schwere Leiden er¬
wuchsen. Das erstere war der Fall bezüglich seiner militärischen Rüstungen.
Die ganze Welt konnte ihm nichts anhaben. Ebenso fest gewappnet war es
bezüglich des Eisenbahnwesens und der Finanzmobilisierung. Da war alles vor¬
gesehen; da gab es auch kein Straucheln, kein technisches Versagen und ungewisses
Tappen, — mit festen Schritten trat Deutschland in den Kriegszustand über, übles
widerfuhr ihm dagegen auf wirtschaftlichem Gebiet. Da mußte alles improvisiert
werden; denn nichts war vorbereitet! Die schlimmsten Mißgriffe in bezug auf
Menschen und Maßnahmen mußten bei der Hast mit unterlaufen. Noch im Mai
1914 hatte der Staatssekretär Delbrück von oben herab eine Anregung, zu der
Reh jahrelange Mahnungen zur Schaffung eines „wirtschaftlichen Generalstabes"
verdichtet hatten, abgewiesen: es würde Vorkommendenfalls sich alles finden. Es
hat sich ... nichts gefunden; vielmehr mußte alles erst mühsam gesucht werden,
unendliche Kräftevergeudung, schwere Reibungsverluste waren die Folge. Denn
auf wirtschaftlichem Gebiet mußte alles neu geschaffen werden, — nichts war vor¬
bereitet, nichts auch nur vorbedacht.
Erst zu spät ward man gewahr, bis zu welchem Grade heute ein Völker¬
krieg ein Kampf der Volkswirtschaften ist. Und dieses Gebiet gerade war, was
Zusammensetzung und zentrale Leitung der verfügbaren Kräfte betrifft, völlig ver¬
nachlässigt worden I Heute, da das Ringen um den Sieg auf den Kartoffeläckern,
in den chemischen Laboratorien, den Werkstätten, Werften, Warenlagern und deren
plangemäßer Verteilung, ja bis hinab in die Hanswirtschaften vor sich geht, da
wußte niemand über die Zusammenhänge der Allgemeinwirtschaft Bescheid. Während
jeder Knopf, jede Schnalle beim Militär eine vorgesehene Bestimmung hatte, war
man selbst über die Grundzüge der wirtschaftlichen Rüstung im unklaren. Man
griff wohl eiligst nach tüchtigen Fachleuten für einzelne Zweige der Gewerbe;
vielfach ist großes dabei geleistet worden. Aber man konnte nicht zurückgreifen
auf einen Stamm von Leuten, die, wirtschaftlich geschult, das Ineinandergreifen
der Wirtschaftsgruppen übersahen und die Gesamtausgabe zu meistern verstanden.
Wohl lieferten Handel und Gewerbe an Umsicht hervorragende Organisationen,
der Junstenstand steuerte eine Reihe tatkräftiger und umsichtiger VerwaltungS-
männer bei; doch jedem einzelnen, der über sein enges Spezialgebiet hinaus zu
walten berufen war, blieb es vorbehalten, sich rein intuitio auf dem fremden
Boden zurechtzufinden. Was nützen einem Heere die besten Frvntoffiziere, die
tüchtigsten Waffenkonstrukteure, die findigsten Pioniere, wenn kein einheitlicher Wille,
leine Stäbe ihre Arbeit zu einheitlichem Wirken zusammenfassen? Zwar suchte
man nach Leuten, die mit dein Organismus des Wirtschaftslebens, mit den
Wechselbeziehungen aller Teilkräfte desselben vertraut gewesen wären. Man rief
nach Volkswirten. Man hatte nicht vorgesorgt: jetzt gebrach es daran. Zum
mindesten waren sie nicht greifbar zur Hand.
Es fehlte eben nicht nur die rechtzeitige Organisation; es fehlten auch die
Menschen. Man hatte versäumt, sie heranzubilden! Das Studium der Volks¬
wirtschaft war seit langem schwer vernachlässigt worden. Zwar hörten aus den
Hochschulen viele junge Leute die trefflichen Lehrer, aber überwiegend aus
eigenem Antrieb und zudem meist als Nebenfach. Der Staat hatte in seinem
Noutinentrott übersehen, seinerseits den unerläßlichen Anreiz zu geben, Leute,
deren er eines Tages so dringend notwendig bedürfte und die er längst sehr gut
hätte gebrauchen können, heranzuziehen. So hatte er es unterlassen, den Volks¬
wirten irgendwelche Laufbahn in seinen Diensten zu öffnen. Das verknöcherte
Juristenprivileg hielt sie fern. Selbst da, wo der Nationalökonom mit dem
ganzen Rüstzeug seiner Wissenschaft die segensreichste Tätigkeit hätte entfalten
können, der Jurist dagegen sich erst mühsam, in seine Aufgabe hineinfinden und
sein formaljuristisches Gedankenkleid oft zuvor abstreife« mußte, um zum Ver¬
ständnis der.ihm obliegenden Pflichten durchzudringen, selbst da blieben die Türen
der Behörden dem Volkswirt eifersüchtig verschlossen. Weder in der Steuerver¬
waltung, noch im Schatzamt, weder im Handelsministerium, noch in der Land¬
wirtschaftsverwaltung oder in der Sozialversicherung bot sich auch nur der be¬
scheidenste Posten, auf dem ein Volkswirt seine Tätigkeit hätte entfalten dürfen.
Das Eisenbahnministerium wie die handelspolitische Abteilung des Auswärtigen
Amtes waren gegenüber dem Nationalökonomen gleich „exklusiv". Höchstens
durfte er sich, wenn man ihn schon gar nicht entbehren konnte, wie in den
statistischen Andern, als Hilfsarbeiter Herinndrücken. Als so eine Art wissenschaft¬
licher Offizierstellvertreter: der jüngste Leutnant, will sagen Regierungsrat oder
gar Assessor, blieb stets sein Vorgesetzter. Während sich die Techniker und Bau-
fachleute allmählich eine Bresche in die undurchdringlich gekittete Phalanx der Juristen
hatten schaffen können, um wenigstens im Patentamt, im Eisenbahnministerium usw.,
wo sie unerläßlich waren, auch einige Aussicht auf Fortbewegungsfreiheit—zu deutsch:
Karriere — zu erlangen, stieß der Volkswirt überall auf verschlossene Türen.
So gründlich wie er war überhaupt kein akademischer Berufszweig vom
Staatsdienst (außerhalb des Lehrbetriebes auf den Hochschulen selbst) ausgeschlossen.
Indem man ihm nicht einmal die Möglichkeit zur Ablegung eines Staatsexamens
bot, hielt man sich ihn von vornherein vom Halse. Während jeder andere Hörer
der philosophischen Fakultät, jeder brotsuchende Student der alten Sprachen, jeder
Botaniker sein Staatsexamen als Oberlehrer machen kann, blieb den Jüngern dieses
modernsten Faches jeder Erwerb einer Berechtigung zum Staatsdienst versagt. In
die Wissenschaft als solche mochte wohl jeder nach eigenem Belieben eindringen;
doch der Staat verschmähte irgendetwas dazu zu tun, daß man sich der Disziplin
widmete. Wer betrieb da noch das Studium der Volkswirtschaft? Außer den
Juristen, die meist vor dem Examen flüchtig dieses „Nebenfach" paukten, und
Leuten, die von echtem Wissensdrang dem Fach zugeführt wurden, waren es ent¬
weder künftige Dozenten oder solche, die ihre Ausbildung zu Syndici der wirt¬
schaftlichen Körperschaften (Handelskammern usw.) erlangen wollten. Endlich noch
Geister höheren Fluges, die sich für leitende Stellungen großer Unternehmungen
ausersehen glaubten, wo weiter Überblick über das gesamte Wirtschaftsleben er¬
forderlich oder doch förderlich erschien, wie z. B. im höheren Vankfach usw. Doch
auch diesen verschmähte der Staat irgendeine ..Approbation" als Gewähr und
Erleichterung mit auf den Lebensweg zu geben, wie er sie doch jedem Zahnarzt
oder Fleischbeschauer gönnte. Man würdigte den geschulten Nationalökonomen
keines Befähigungsnachweises. Nun braucht man die Bedeutung abgelegter Examina
durchaus nicht zu überschätzen; allein es liegt in des Staates eigensten Interesse.
Leute zu nützlichen Fächern heranzuziehen und ihre Ausbildung in ausgiebiger
Zahl zu veranlassen. Zu Prüfungen lag übrigens vom Standpunkte des Staates
kein Anlaß vor. da er doch keine Ämter den Volkswirten anzuvertrauen gesonnen
war. Diese Vernachlässigung der Heranbildung und Verwendung eines zahlreichen
volkswirtschaftlich durchgebildeten Personals seitens der Regierungen ist eine
schlimme Unterlassungssünde aus Kurzsichtigkeit gewesen
So geschah es denn. daß. als der Krieg plötzlich die höchsten Anforderungen
an nationalökonomisch geschulte Kräfte stellte, solche nicht ni ausreichender Anzahl
aufzutreiben waren. Und soweit es solche gab, hatten ste sich in allerhand Privat-
steUungen verloren. Man mußte sie erst wieder ausgraben: der Staat hatte erst
recht keine zur Hand! Er behalf sich, indem er zu seinen meist ahnungslosen
Juristen seine Zuflucht nahm oder, auf die Gefahr der Jnteressentenwlrtschaft hui.
praktische Fachleute heranzog, denen jedoch meist ein erweiterter Gesichtskreis über
'hr Erwerbsfeld hinaus ebenso abging, wie jeder Schimmer von staatlicher Ver
waltungskunst. In letzterer Hinsicht sei nur auf die bitteren Ersahrungen in
einigen Krieasgesellschaften mit ihren Umständen. Übelständen und Mißbräuchen
erinnert. Aus den Reihen der Juristen aber erschienen lere komischen Kauze, wie
iener juristische Kanaldirektor, der zum Oberbefehlshaber der Kartoffeln ernannt
wurde, zum Unheil des deutschen Volks. Oder solche Juristen die Ernahrungs-
'rcigen zu lösen hatten, ohne die geringste Atmung von Physiologie, Technologie
und Landwirtschaft zu haben; die Einfuhrgesuche zu genehmigen bekamen, ohne
'ich ein Bild vom Handelsbetrieb oder von der technischen Verwendbarkeit der
Waren, vom Ineinandergreifen der Industrien machen zu können; die bisher die
Ansicht hatten, ein Zwanzigmarkstück sei eine „Valuta", und sich nun unverhofft
.dar die verzwicktesten Aufgaben der Devisenpolitik und der Zahlungsbilanz ge¬
stellt sahen.
. Kein Zweifel kann bestehen: Deutschland ist schlecht gerüstet für Bewältigung
großzügigen wirtschaftlichen Ausgaben, die die Neuzeit in ungeheurem Schwalla»f die Staatsverwaltung und aus jenen privatwirtschaftlichen Wettstreit wälzt,unter dem sich letztlich doch wieder draußen auf dem Weltmarkt die nationale
Durchsetzung vollzieht. Im inneren Verwaltungsdienst, der in rein juristischer Be-
Ziehung so gründlich durchgebildete Beamte aufweist, bleibt das Verständnis für
wirtschaftliche Dinge völlig dem persönlichen Talent des einzelnen, also dem Zu-
M überlassen. Im Auslandsdienst bleibt gleichfalls die Aneignung volkswirtschaft-
«cher Kenntnisse mehr oder weniger Privatsache. Vom Botschafter bis herab zu denewzelnen Konsuln begegnet man krassen Profanen in Fragen ökonomischer Zu-
sammenhänge. Sie bringen ja nach ihrer Dienstallsbildung nicht den geringsten
Betrag derartiger Kenntnisse mit in ihr Amt, manche der Herren wähnen sich nur
zur würdigen Repräsentation berufen und fühlen sich hoch erhaben über so schäbige.
Dinge wie Frachtengestaltung, Tarifschacher, Handelskammern usw. Als man die
Lücke gar zu bitter empfand, da legte man sich endlich Volkswirte als „Sach¬
verständige" zu, hütete sich jedoch, sie den Botschaften anzugliedern — wie eS
andere Staaten taten, um ihren Agenten überall die beste Einführung und schärfste
Einsicht zu sichern — oder sie gar in die Konsulatslaufbahn einzugliedern, sondern
ließ sie sich in kleinen Nebenposten herumdrücken. Es war kein Platz für sie im
Haushalt der „hochherrschaftlichen" Auslandsvertretung-, nur als AusHilfspersonal
ließ man sie zur Not gelten. Und das in einer Zeit, da das Wirtschaftsleben
immer stärker das Dasein der Völker durchdringt, ihnen den Platz im Weltgetriebe
anweist und im Frieden wie im Krieg ihre Schicksale bestimmt I In einer Zeit,
da die wirtschaftstechnischen Vorgänge immer verwickelter, ihre Verflechtungen mit
der Volkswohlfahrt immer engmaschiger werden und das Wirtschaftsleben immer
greller in die politischen Gestaltungen ausstrahltl Diese mangelhafte Rüstung hat
nichts zu tun mit ungenügender Entwicklung der Wirtschaftslvissenschäften, die
etwa die erforderlichen Vorkenntnisse zu beschaffen nicht befähigt gewesen wäre.
Wohl aber hängt sie zusammen mit den bereits erwähnten Mißständen. Einmal
ist zu wenig oder eigentlich nichts geschehen, um ihren Ergebnissen die erwünschte
Verbreitung zu verschaffen und Gelegenheit zur Anwendung zu gewährleisten. Zwei¬
tens war ihre Stellung innerhalb des Hochschulbetriebes und der akademischen
Studienordnung eine unglückliche. In ersterer Hinsicht wäre zu fordern, daß
jeder Verwaltungsjurist sich eine wirklich gründliche Kenntnis volkswirtschaftlicher
Disziplinen aneigne und solche durch eine Prüfung nachweise, die nicht wie heute
als nebensächlich angesehen würde. Weiterhin wäre es ratsam, ein Staatsexamen
einzuführen (etwa als Wirtschaftsreserendar), und diesen zu praktischer Verwaltungs-
tätigkeit bestimmten Leuten eine weitgesteckte Laufbahn vorzubehalten überall dort,
wo innerhalb der Staatsverwaltung wirtschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen
in erster Linie und vor formal-juristischer Ausbildung erwünscht scheinen. Es
kämen vornehmlich hierbei in Frage etwa alle Finanzverwaltungen, die Sozial¬
versicherung, die Ministerien für Handel, Landwirtschaft, Eisenbahnen, sowie einige
Abteilungen der inneren Verwaltung, wie z.B. die Statistischen Ämter; ferner
die Handelsabteilung des Auswärtigen Amtes und dessen gesamter Auslandsdienst.
Alle diese Stellen würden ungeheuere Förderung ziehen aus einer starken Durch¬
setzung ihres so einseitig juristischen Personals durch erprobte Volkswirte. Und
die völlige Gleichberechtigung der letzteren, die die natürliche Voraussetzung
sein müßte, könnte der Würde der Juristen gewiß keinen Abbruch tun, vielleicht
eher durch fruchtbringende gemeinsame Arbeit zu deren durch den Ruf der Welt¬
fremdheit ins Wanken geratenen Ansehen beitragen.
Nun noch ein Wort zur falschen Eingliederung der Volkswirtschaftslehre in
den deutschen Hochschulbetrieb. Fast durchweg waren einst die,.Kameralwissenschasten"
den philosophischen Fakultäten zugewiesen worden, was gewiß der Weitung ihres
Forschungsbereiches förderlich gewesenist, vornehmlich durch die enge Berührung mit
der Philosophie und Geschichtswissenschaft. Später wurden sie in Preußen vielfach an
die juristische Fakultät verwiesen; in Süddeutschland hauptsächlich errichteten viele
Universitäten eigene staatswissenschaftliche Fakultäten, oder doch besondere Abtei¬
lungen an ihrer juristischen Fakultät. Schon diese unbestimmte Buntheit der Lage
zeugt deutlich dafür, daß man nicht recht wußte, was damit anzufangen war-
Zweifellos wäre die geeignetste Lösung eine eigene Fakultät, vorausgesetzt, daß
diese planmäßig dazu ausgebaut würde, um für den praktischen Verwaltungsdienst
tüchtige Fachmänner heranzubilden. Hierzu bedürfte sie der Heranziehung juristischer
Disziplinen, wie Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Verfassungskunde.
Diese Verknüpfung wäre wieder ihrerseits bedingt durch die Zusicherung einer
mit den Juristen gleichberechtigten Laufbahn im Staatsdienst. Zu welchem Zweck
würde man sonst die Leute mit weitem Gesichtskreis für den reinen Verwaltung^-
dienst züchten, wenn man sie bestenfalls in engen Winkeln herumhocken ließe?
Würde aber diese Reform durchgeführt, dann würde sich auch eine eigene Fakultät,
oder doch eine gesonderte Abzweigung der juristischen wohl lohnen. Bis sich diese
Erkenntnis Bahn gebrochen hat. jedoch in Vorbereitung einer solchen, wäre der
Platz der Nationalökonomie möglichst dicht bei den Juristen. Doch dann, wohl¬
gemerkt, als gleichberechtigtes und vollgültiges Fach, das durch die Studienordnung
so gestellt wird, daß jeder spätere Verwaltungsjurist es als ein Hauptfach bestehen
muß! Wohl mögen sich mannigfachere Anregungen aus den engen Beziehungen
zu den historisch-philosophischen Fächern für die stille Forschungstätigkeit ergeben;
und die Volkswirtschaftslehre ist, wie gesagt, in dieser Hinsicht nicht schlecht
gefahren unter dem Dach der Philosophen. Allein zur Vorbereitung ihrer
Jünger für die praktische Betätigung im heiß pulsierenden Leben draußen wäre
die Annäherung an juristische Fachbildung ungleich zuträglicher. Insoweit deshalb
die Errichtung von Sonderfakultäten noch untunlich erscheint, ist die gegebene
Unterkunft der Wirtschaftswissenschaften die juristische Fakultät. Beide Teile
würden, bei völlig paritätischem Ausgleich in der Prüfungs- und Studien¬
ord mung für angehende Verwaltungsleute, in gleicher Weise Nutzen voreilt-
«über ziehen.
Die Staatswissenschaften, vornehmlich die Volkswirtschaftslehre gehört zu¬
nächst zur Juristerei, wie die .Kontrapunktlehre zur Musik, wie Anatomie und
Physiologie zur Medizin. Die bisherige Trennung ist für beide Teile vom libet.
Der Volkswirt bedarf, sobald ihn die Erkenntnis von der Notwendigkeit irgend¬
welcher Eingriffe in das Wirtschaftsleben zum Vorgehen veranlaßt, stets des
Rechts als des Werkzeuges zur Herbeifüh/ung solcher Neugestaltung-, daher eine
gehörige Vertrautheit mit der Handhabung des Rechts ihm unumgänglich ist.
Andernfalls stände er, ungeachtet seiner erleuchtetsten Erkenntnis, hilflos den
diagnostizierten Schäden, ohnmächtig den kühn konzipierten Neuschöpfungen gegen¬
über. In der Tat macht sich auch heute die bisherige Entlegenheit von der
Rechtswissenschaft bei den meisten Volkswirten hindernd bemerkbar. — Der Jurist
dagegen, und möge er das Werkzeug seiner Einwirkung noch so virtuos hand¬
haben, ermißt meist die wirtschaftliche Tragweite seiner noch so schön formulierten
Erlasse, noch so sauber subsummierten Begriffe nicht. So wenig wie der tüchtigste
Schiffsbauer etwa ein tüchtiger Seefahrer ist, wenn er das Element nicht kennt,
das seine Werke trägt. Die engste Wechselwirkung besteht eben zwischen Rechts¬
wissenschaft und den Staatswissenschaften im weiteren Sinne, in erster Linie der
Volkswirtschaftslehre. Und daher gehören beide zusammengerückt zu einheitlichem
Studium. Daraus ergäben sich erst wirklich vollwertige Verwaltungsbeamte —
vielleicht gar Staatsmänner. Dem Juristen würden die Ereignisse des praktischen
Lebens, das er im Interesse des Gemeinwohls zu meistern berufen ist, erläutert,
während jetzt der Strom der Ereignisse fernab von ihm vorbeiflutet. Dem Volks-
w re aber würde bei seiner regulierende» Tätigkeit ein Zugreifen erleichtert; nicht
wehr würde er, wie heute so oft, trotz klarer Erkenntnis der Bedürfnisse, mit
einer gewissen Unbeholfenheit den Dingen gegenüberstehen. Beide Wissenschaften^
ergänzen sich; sie gehören nebeneinander gelehrt, zusammen ausgeübt.
Heute dagegen finden wir, wie gesagt, die Wirtschaftswissenschaft stief-
wütterlich in eine entlegene Ecke gerückt, und nur gelegentlich als Aschenbrödel zu
wichen Arbeiten herangezogen, die andere nicht erfüllen mögen oder nicht zu be¬
wältigen verstehen. Auf der Hochschule ist sie nur ein Nebengleis. Der Jurist
befährt es kaum und nur so weit, als es notdürftig erforderlich ist, um nicht im
Examen durchzufallen. Die Mehrzahl derer, die mit wirklicher Hingebung die
-Lahn verfolgen, sind Leute mit bereits anderweit erwählten Lebensberuf, denen
ernsthaft um ihre eigene Vervollkommnung zu tun ist und eine Prüfung als
leere Formalität gilt. Mit der ganzen Frische und dem unmittelbaren Schwung
unternehmender Jugend wenden sich verhältnismüßig wenig zahlreiche Leute dieser
^ssenschaft zu mit der Absicht, sich ihr ganz zu widmen. Eben weil dem Gleis
ewe Endstation, der Übertritt in einen festen Beruf und schönen Wirkungskreis
fehlt. Die lebendige Wissenschaft der Sozialökonomie ist durch ihre Lage zum
toten Strang gemacht ...
Indessen braucht der Staat immer dringender tüchtige Wirtjchaftsbeamie.
Seine moderne Organisation greift immer tiefer ins wirtschaftliche Gebiet über.
Die Außeninteressen der Staaten sehen sich je länger je stärker von wirtschaftlichen
Beziehungen durchsetzt, ja bestimmend beeinflußt. Die Privatwirtschaften wachsen
sich immer mehr zu gewaltigen Verbänden aus, die weitsichtiger, ökonomisch ge¬
schulter Leiter und Angestellter bedürfen. Unter der wachsenden Einsicht — die
Not des Krieges hat den Scharfblick gesteigert — rufen Staat und Verbände
aller Art laut nach Volkswirten; tausend Probleme harren fachmännischer Lösung.
— Man richte daher rechtzeitig Studium und Laufbahn zweckentsprechend her -
und die tüchtigen Fachleute werden binnen kurzem bereit stehen.
in Leitartikel der „Frankfurter Zeitung" (..Die Pflicht der Mehrheit")
vom 10. Februar heißt es:
„. . Die Zeiten haben sich geändert. Der Reichstag ist nicht
mehr nur zum Reden, er ist zum Handeln berufen. Seine Mehrheit
entscheidet über die Richtung der Politik und über das Schicksal
der Negierung."
Ferner erklärt die „Liberale Korrespondenz", der Parteioffiziosus der Fort-
schrittler, im Anschluß an die bekannten Äußerungen des Grafen Hertling und des
Ministers Friedberg zur Wahlreform:
„Hiernach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Graf Hertling, Dr. Fried¬
berg und Dr. Drews mit dem gleichen Wahlrecht stehen und fallen."
Zunächst ein Wort der Quellenkritik. Der Satz der „Liberalen Korrespondenz"
ist uns noch einmal überliefert. In der „Sozialen Praxis" schreibt Professor Francke
„aus unanfechtbarer Quelle", der Reichskanzler habe „keinen Zweifel darüber ge¬
lassen, daß er mit der preußischen Wahlrechtsreform stehe und falle". Nur ein
Wechsel von der dritten zur ersten Person und doch ein völlig veränderter Sinn!
Denn daß ein konstitutioneller Minister von sich aus seinen Abschied einreicht, wenn
er wie Graf Hertling im vorliegenden Falle sein gegebenes Wort auch „mit allen
ihm zu Gebote stehenden Mitteln"*) nicht zu halten vermag, ist durchaus loyal.
Die letzte Entscheidung über sein Stehen oder Fallen hätte dann aber immer noch
die Krone. Wir wissen nicht, ob die „Liberale Korrespondenz" denselben Gewährs¬
mann wie Professor Francke hat, ihre Fassung läßt zum mindesten eine Deutung
zu, die sich mit dem Satz der „Frankfurter Zeitung" deckt.
Was besagt der nun aber? Parlamentarisches System in Deutschland? Ja
und Nein! Zu einer näheren Antwort gehört die Verständigung über diesen heute
im Brennpunkt des Interesses stehenden Begriff.
Dreierlei gilt es bei ihm klarzustellen!
1. Das System setzt einen monarchischen Faktor im Staate voraus, es kann
gleichsam nur an diesem seinem Widerpart rein in die Erscheinung treten.
2. Dieser monarchische Faktor ist verfassungsrechtlich und stets, nicht bloß
politisch und gelegentlich gezwungen, das Ministerium nach dem Wunsche der
Parlamentarischen Mehrheit zu bilden, bzw. diese Relation dauernd zu erhalten.
Die Bindung ist auch eine persönliche, indem das Kabinett in seinen maßgebenden
Bestandteilen aus Parlamentariern bestehen muß.
3. Solche „Regierungsform" setzt-die Republik als „Staatsform" voraus.
Alle Versuche, das parlamentarische Königtum noch als „Monarchie" begreifen zu
wollen, sind — denn oder rrmla kiäe begangene — Irrtümer.
Die scharfe Hervorhebung dieser in- und ausländischer Fachwissenschaft ver¬
trauten Kernpunkte und vieles andere Wertvolle zur Erkenntnis des Problems findet
man in der soeben in zweiter Auflage herausgekommenen Schrift des Würzburger
Staatsrechtslehrers Piloty*). Er erklärt dementsprechend die parlamentarische
Regierung als „dasjenige System der repräsentativen Republik, wonach das Par¬
lament durch sein Kabinett und nach seinem Programm regiert, die formelle Bil¬
dung des Kabinetts aber dem König überlassen bleibt", wobei sämtliche obigen
Merkmale zur Erscheinung kommen.
Die „Frankfurter Zeitung" bringt also das Programm der parlamentarischen
Regierung nur unvollständig zum Ausdruck (in welchem Umfange sie sich tatsächlich
zu ihm bekennt, ist eine andere Frage). Doch nehmen wir die Worte einmal so,
wie sie geschrieben stehen.
Da darf man nun die „Änderung" gegen früher nicht so auffassen, als ob
die sogenannte „konstitutionelle" Regiermigsform (also das bisherige spezifisch
Preußische und deutsche System) keinerlei Rücksicht auf Strömungen und Meinungen
der parlamentarischen Faktoren gekannt habe. Gegen das Parlament konnte auch
bei uns auf die Dauer nicht regiert werden. Das hat sich bei Berufung und
Entlassung der „Diener der Krone" gezeigt, wenn auch die Bindungen und Lösungen
mehr durch Fühlungnahme unter der Hand, als im vollen Lichte verfassungs¬
rechtlicher Notwendigkeiten geschahen. Wie war es denn beim Fürsten Bülow?
»?rive cle la ooniianco an souverain, it resta Knie mois an pouvoir, ete no-
vembre IY08 ü juillet I90Y, en s'ilppu^ant uniquement sur les represenwnts
6u peuple. Lullu, mis en minorite sur la question lirmnLiöre, it se retira."
So glaubt man selbst im Ausland die Dinge sehen zu müssen, wo doch eine
Verunglimpfung der deutschen autokratischen Regierungsmethoden auf der Tages¬
ordnung steht. Wie abhängig selbst der geniale Schöpfer des Reichs von dem zu
dieser Schöpfung gehörenden Parlamente gewesen ist, bleibt bestehen, auch wenn
man nicht so weit gehen will, seinen Sturz in unmittelbaren Zusammenhang mit
der Haltung des Reichstags zu bringen, wie das Hans Delbrück behauptet hat.
Im allgemeinen sind die Parlamente bei uns nie auf die Stufe bloßer Debattier¬
klubs und Redehallen herabgesunken. Mittels der Ausschüsse und Parteiorgani¬
sationen haben sie von jeher „gehandelt", d. h. praktische Arbeit geleistet, und ihr
Einfluß auf die Exekutive ist so beträchtlich gewesen, daß die betrachtende Staats¬
rechtslehre (Neben) von einer „Mitherrschaft in der Verwaltung" reden konnte.
Trotz dieser „Präzedenzien" ist natürlich der Unterschied zwischen dem Heute
und dem Einst nicht zu verkennen. Um noch bei den Worten der „Frankfurter
Zeitung" zu bleiben - jetzt begnügt sich die Reichstagsmehrheit nicht mit der
„Entscheidung über das Schicksal" zweier Regierungen, sondern weist der darauf
folgenden von vornherein die „politische Richtung" an.
Der Ausgangspunkt liegt bekanntlich in dem Verhalten des inter¬
fraktionellen Reichstagsausschusses kurz vor der Ernennung des Grafen Hertling.
Jener ließ durch Herrn von Valentini beim Kaiser ein Schreiben übergeben, worin
der Monarch gebeten wurde, vor der „von ihm zu treffenden Entschließung die
zur Leitung der Reichsgeschäfte in Aussicht genommene Persönlichkeit zu beauf¬
tragen, sich mit dem Reichstag zu besprechen". Der Bitte ist willfahrt worden,
indem der gegenwärtige Kanzler in einer „vertrauensvollen Verständigung über
die innere und äußere Politik" die Möglichkeit eines gedeihlichen Zuscmnnen-
arbeitens mit dem Reichstage vor Antritt seines Amtes feststellte.
Man könnte hier den Ausgangspunkt eines Gewohnheitsrechtes sehen, und
in der Tat haben die sogenannten Mehrheitsparteien erklärt, daß von dem einmal
geübten Brauche nicht wieder abgegangen werden solle. Auf feiten der Regierung
denkt man darüber anders; Graf Hertling bemerkte im Abgeordnetenhause, daß
die Art und Weise seiner Berufung gewissermaßen nur eine Kriegssitte darstelle
und für kommende Friedenszeiten nicht als Präzedenzfall herangezogen werden
dürfe*). Für die Gegenwart könnte man allerdings daraus immer noch folgern,
daß die Ausnahmebedingungen des Entstehens auch für das Bestehen wenigstens
dieses Ministeriums in Geltung bleiben.
Ein Zufall fügt es, daß der Name Hertling schon einmal in der Geschichte
des parlamentarischen Regierungssystems bei uns eine Rolle gespielt hat. Das
geschah in Bayern, noch unter der Regentschaft, als die dort herrschende Zentrums¬
partei nach einem Konflikt mit dem Minister von Frauendorffer Budgetverweige¬
rung beschloß, die zweite Kammer aufgelöst wurde und, nachdem die Wahlen die
Stellung der Mehrheitspartei bestätigt hatten, deren Führer — eben der da¬
malige Freiherr von Hertling — an die Spitze des neuen Ministeriums berufen
wurde. Auch hier glaubte man die Grundzüge parlamentarischer Regierungs¬
weise — trotz des charakteristischen deutschrechtlichen Schnörkels der Kammer¬
auflösung — erblicken zu können, für das Ausland trug die Krise jedenfalls den
„akzentuierten Charakter des Parlamentarismus". Aber auch hier hat die Regie¬
rung jede Festlegung für die Zukunft abgelehnt, und daß sie im Kriege ihre An¬
sicht nicht änderte, scheint aus einem Artikel der „Bayerischen Staatszeitung"
(vom 12. Juli 1917) hervorzugehen, in dem es unter anderem heißt: „Jeder vor¬
urteilslose Kenner der Geschichte unseres Verfassungslebens und unserer Partei¬
verhältnisse wird zugeben müssen, daß die Übertragung des parlamentarischen
Systems auf Deutschland eine Unmöglichkeit ist, daß sie eine Maßnahme wäre,
die den Bestand des Deutschen Reiches aufs allerschwerste gefährden würde. Sie
nutz daher als unannehmbar von vornherein abgelehnt werden".
Der Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums Dr. Friedberg hat sich
gelegentlich der Beratung der Herrenhausvorlage im Verfassungsausschuß weniger
bestimmt ausgedrückt und immerhin die Möglichkeit eines Eintritts des Ereignisses
angenommen.
Und in der Tat ist es mit abwehrenden Gesten vom Regierungstische, ja
selbst mit dem Hinweis auf die verfassungsrechtlichen Hindernisse und Gefahren
nicht getan. Wir leben in einer Zeit, wo man vor beiden nicht mehr zurücksehend.
Jene Vorgänge bei der Ernennung des heutigen Kanzlers sind ja nur eine Teil»
erscheinung der unleugbaren Tatsache, daß die Machtstellung des Parlaments infolge
der milliardenschlingenden Kriegszeit sich wesentlich gewandelt hat. Und das nicht
nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Man ist auf dem Wege, die gleichsam
elastisch von Fall zu Fall und freiwillig geübte Rücksichtnahme von feiten der
Regierung in die tyrannischen Formen der Gewohnheit und Konventionalregel zu
bannen. Die bisherigen Verhältnisse sollen im Sinne des erstrebten Zieles umgestaltet
werden. Dazu gehört z. B. die Artikel 15 der R. V. widersprechende „Vor°
Sanktion" des Parlaments bei Bestallung des höchsten Reichsbeamten, das Verlangen
nach Parlamentarisierung seines Kabinetts im Reich und Preußen, die Forderung
verantwortlicher Reichsministerien, die unter dem Schutze von Art. 78 R. V.
(Kompetenz-Kompetenz des Reiches!) gegen einzclstaatliche Rechte, gemeint sind die
preußischen, unternommene Offensive, die berühmte Attacke auf den Art. 9 R. V..
der parlamentarische Siebencrausschuß zur Beratung der Papstnote u. a. ,in
Überall sind die Vorarbeiten sichtbar, die dem großen Brückenschlag ans Ufer des
Parlamentarismus dienen sollen. Das eine Jahr 1917 hat uns da mehr Über¬
raschungen gebracht als die gesamte Periode der Reichsverfassung seit ihrem Be¬
stehen, und nur die durch die Demokratie so sehr in den Vordergrund geschobene
Frage der preußischen Wahlreform hat das Interesse vorübergehend von dem
springenden Punkte unserer inneren Politik abzulenken vermocht.
"
Der Kampf zwischen „Junkern" und „Demokratie um die Macht in
Preußen gehört auch zum Bilde, aber gleichsam nur als Vorentscheidung für die
eigentliche Auseinandersetzung, bei der letzten Endes die Regierungs- und Staats,
form in Reich und Einzelstaaten, sowie die äußere Struktur unserer Reichsverfassung
auf dem Spiele steht.
Es handelt sich nicht um die Vorzüge von monarchischer oder republikanischer
Staatsform, von konstitutioneller oder parlamentarischer Regierung. Worauf die
Anhänger beider Lager lvyalerweise Rücksicht nehmen müssen, das ist die richtige
politische Perspektive der Dinge, ihr notwendiger Zusammenhang und Abstand.
Bei ausschließlicher Betrachtung des preußischen Wahlrechtskampfes scheint es
eigentlich mir zwei handelnde Personen oder Personengruppen zu geben: die
glücklichen Besitzer und die begehrlichen Anwärter der Staatsgewalt. Zieht
der eine Teil die angeblich gefährdeten Interessen der Krone ins Spiel, so sieht
die Gegenseite darin einen „auf Täuschung berechneten Versuch, den Monarchen
S»M Mitinteressenten der konservativ-bureaukratischen Herrenschicht zu machen."
(Naumann.)
Und doch braucht kein Täuschungsversuch vorzuliegen, denn zur Verteidigung
des überlieferten Besitzstandes gehört auch die traditionelle Stellung der Monarchie,
deren Interessen sich gleichsam automatisch mit jenem decken.
Da aber Preußen nicht auf einer Insel im Weltmeer gebettet liegt, sondern
inmitten und als Glied eines komplizierten Staatsgebildes, Deutsches Reich ge¬
nannt, so wird jede dort vorgenommene Machtverschiebung in allen Teilen des
Gesamtorganismus fühlbar. Die Verschiedenheit der Wahlrechte und als Folge
davon der Mehrheitsverhältnisse in Preußen und dem Reich schloß es aus, daß
die von ein und derselben Persönlichkeit (Kanzler, bzw. Ministerpräsident) vertreten;
Regierung einen parlamentarischen Charakter gewann. Werden nunmehr die
beiden Parlamente nach gleichen Grundsätzen gebildet, so ist eine wichtige Voraus¬
setzung für die Parteiregierung vor allem im Reiche geschaffen, die, wie wir wissen,
nur auf eine Verneinung der im Bundesrate verkörperten Einzelmonarchien
hinauslaufen kann.
Hand in Hand mit diesen demokratisch-republikanischen Folgerungen geht
drittens eine Strukturveränderung unserer Reichsverfassung. „Die JdentifilMon
der beiden Parlamente würde ein Riesenschritt auf dem Wege zur Einheit sein",
urteilte ein ausländischer Autor, W. Martin, vor dem Kriege. „Einheit", hier
nicht im Sinne des Attinghausenwortes, sondern des Einheitsstaates im Gegensatz
zum bisherigen Bundesstaat. In dieser Richtung würde die Machtvermehrung des
Reichstages, als des rein unitarischen Organs unserer Gesamtverfassung, wirksam
werden. Das bedeutete aber eine Bedrohung aller föderalistischen Elemente, ins¬
besondere der außerpreußischen Staaten. Der oben erwähnte Ausländer hat gut
beobachtet, wenn er in dem „preußischen Egoismus, gegen den die übrigen
Staaten unaufhörlich protestieren, eine Garantie ihrer eigenen Unabhängigkeit"
sieht. Der „Egoismus" der Wahlrechtsgegner verliert darum nicht seine Eigen¬
schaft, aber er erfüllt eben zugleich noch andere Zwecke.
So sehen wir, wie die Herausnahme eines Steines (PreußenWahlrecht) nach
und nach das ganze Gefüge unseres Staatsbaues ins Wanken und Gleiten bringt.
Wenn es schließlich zum Einsturz kommt, ist noch nicht gesagt, daß aus den ein
zelnen Elementen nicht ein neues Gebäude entstehen könne — aber der Wunsch
wird begreiflich, wenn irgend möglich, das von genialen Meisterhänden errichtete
Werk vor solchen Gefahren zu behüten. Ob und wie das möglich ist, darauf
soll diesmal nicht eingegangen werden. Die Antwort würde Zugleich die Schwierig¬
keiten und Aussichten parlamentarischer Regierungsweise bei uns zu Lande näher
betrachten müssen.
Noch zwar ist jener Stein nicht aus dem Mauerwerk gelöst', die erste
Abstimmung über den Z 3 des Regierungsentwurfs hat eine nicht unbedeutende
Mehrheit gegen die Vorlage gebracht, indem sich ^ der Nationalliberalen dem
Votum der konservativen Parteien anschlössen. Die vier Abgeordneten, insbesondere
ihr Führer Lohmann, haben jetzt den gesammelten Zorn der reformfreundlichon
Linken auf sich geladen, ihre Namen werden gleichsam an den Pranger gestellt.
Der „Vorwäris" fällt in seine alte Tonart zurück, wenn er die „Antinationalen
und Antiliberalen" der „schlimmsten Tat gegen Deutschlands Ruhm und Ehre"
bezichtigt und ihnen als Motiv „lediglich Mandatsrettung" unterschiebt. Zwei
Seiten später wird der Vorschlag einer Wahlpflicht als „Mittel, das höchste Recht
des Volkes zu verkümmern", entrüstet abgelehnt. Dabei spielt natürlich der
Gesichtspunkt der sozialdemokratischen Mandate beileibe keine Rollell Aber selbst
das Organ des linken Flügels der Nationalliberalen, die „Berliner Börsenzeitung",
redet von einem „alles ater" in der Geschichte der Partei, und die „Kölnische
Zeitung" sucht den preußischen Genossen das „deutsche" Gewissen zu schärfen.
Die nervöse Gereiztheit der Zeit schadet dein.Gedächtnis. Was haben denn
jene Männer eigentlich Hochnotpeinliches begangen? Sie hielten an einer
Vereinbarung fest, deren Partner die Regierung seinerzeit selbst gewesen war.
Denn was ist der vorläufig angenommene Pluralvorschlag anderes als jener
Kompromiß, für dessen Durchführung zwischen Ostererlaß und Julibotschaft eine
überwältigende Mehrheit des Abgeordnetenhauses (Konservative, Freikonservative,
Nationalliberale und Zentrum) gewonnen worden war. Daß die Regierung des
Herrn von Bethmann dann plötzlich aus gewissen Gründen umschwenkte und im
Sinne der Minderheit das gleiche Wahlrecht auf die Tagesordnung setzte, mußte
den Teilnehmern der ersten Verabredung mindestens „unerwartet" kommen, und
ma.^ sollte sich ehrlicherweise nicht wundern, wenn ein großer Teil von ihnen
seine Ansicht nicht wie einen Handschuh wechselt, am wenigsten angesichts des
Terrors der Presse und Straße.
Das Zentrum hat ja bei der Kommissionsabstimmnng die Parteien verlassen,
mit denen es noch im Frühsommer zu gemeinsamem Handeln verbunden war;
ist es aber deshalb bereits in das gegnerische Lager übergegangen? Auch hier
vergaß man, die Dinge klar und ruhig zu sehen. Unter der Führung von
». Porsch — so schreibt die „Vossische Zeitung" — habe es die Partei fertig gebracht,
»ihr ganzes Stimmgewicht einheitlich für die Vorlage in die Wagschale zu
werfen", ein Verhalten, wie es die „Berliner Börsenzeitung" von der „weitaus-
schauenden derzeitigen Politik des Zentrums" auch gar nicht anders erwartet.
Und doch ist über den Z 3 der Vorlage überhaupt nicht, sondern nur über den
konservativen Pluralantrag abgestimmt worden! Das Zenttum trat also as iure
und alö facto zwischen - beide Extreme, nachdem ein Teil seiner Mitglieder
hinsichtlich des gleichen Wahlrechts „die endgültige Stellungnahme" sich vorbehalten
hatte. Auch dies gewiß eine „weitausschauende Politik"!
Solche historischen Feststellungen sind nicht überflüssig, auch wenn man
gewissen Orts tauben Ohren predigt. Der stille Beobachter macht noch sonst
seine eigenartigen Bemerkungen.
Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die" das ablehnende Ergebnis in der
Kommission voraussagten. Je näher der erste Kommissionsbeschluß der Plenar-
debatte lag — so meinten diese - desto ungünstiger waren die Aussichten der
Beratungen in ihrem entscheidenden Punkte. Die Zeit hätte für die Reform
gearbeitet. Mag dem sein, wie ihm wolle. Hätte hier ruhiges Abwarten vielleicht
nützlich sein können, so darf man jedenfalls bestimmt aussprechen, daß ein
geduldigeres Benehmen der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr als recht und billig
sein sollte. Aber wie hier Organe der sozialdemokratischen Minderheit — daneben
darf man wohl das „Berliner Tageblatt" jetzt stellen, nachdem die Fortschrittler in der
Kommission gegen die bekannten Feststellungen Dr. Lohmanns*) keinen Widerspruch
erhoben haben — beinahe vom ersten Tage der Beratungen an „Petroleum ins
Feuer" der aufgeregten Volksstimmung gössen, so brachen von dieser Seite
und auf der gesamten Linken die Versuche nicht ab, den ruhigen Gang der
Verhandlungen durch fortgesetzte Anrempeleien über Verschleppungsmanöver
usw. zu stören. Eigentlich sollte man von jenen Parteien etwas mehr Respekt
vor dem loyalen Gange parlamentarischer Verhandlungen erwarten; allerdings
belehrt ihr sonstiges Verhalten eines Besseren, wird doch von ihnen mit
einer naiven Selbstverständlichkeit der Negierung Verfassungsbruch in Form der
Oktroyierung nahegelegt. Der traditionelle Kultus der „Konstitution" scheint
Ausnahmen zu kennen, wenn es um die eigenen Interessen geht. Auch hier
darf der König absolut sein, „wenn er unsern Willen tut".
Alle die mit und ohne Hintergedanken angestellten Erwägungen, was die
Regierung zu tun gedenke, kommen recht verfrüht, denn erst spricht noch einmal
die Kommission und dann gibt es noch zwei Machtproben im Plenum, bevor die
Regierung „handeln" muß. Was man bisher sagen kann, ist nur —- um mit
einer Ketzerei zu schließen — daß die einschneidende legislatorische Maßnahme
das Z 3 der Regierungsvorlage, die wichtigste seit es überhaupt konstitutionelle
Gesetze gibt, in verhältnismäßig rascher Zeit in erster Instanz erledigt wurde.
Aber unsere „Demokratie" will heutzutage nicht zugeben, daß alles mit rechten
Um die Aufregung
der Polen über die im ersten Frieden von
Litauisch - Brest gefundenen Grenzen gegen die
Mraina in den österreichischen Parlamenten
zu beschwichtigen, ist zwischen den beteiligten
Mächten und den Polen ein Zusatzabkommen
zum Frieden mit der Mraina abgeschlossen
worden, daß die Einsetzung einer auch von
den Polen zu beschickenden Kommission zur
endgültigen Festlegung der Grenze vorsieht.
Die Polen behaupten, ihnen sei durch die
Grenzfestsetzung vom 9. Februar furchtbares
Unrecht zugefügt z die Ukrainer vertreten dem¬
gegenüber den auch von den Mittemächten
anerkannten Standpunkt, daß sie nur das
bekommen hätten, was ihnen ethnographisch
zukäme.
Wie liegen nun die Dinge tatsächlich?
Erinnern wir uns zunächst, daß das
Cholmer Land zu jenem großen Zwischen--
gebiet gehört, das zwischen dem orthodoxen
Moskaner und dem katholischen Staate der
Polen gelegen, seit fast zweihundert Jahren
Tummelplatz des Kampfes um die Seelen
der Bevölkerung zwischen Rom und Moskau
gewesen ist. Dies Zwischengebiet umfaßte im
wesentlichen die Gouvernements des alten
russischen Nordwest- und Südwestgebietes
(Litauen, Weißrußland, Mraina, Südru߬
land). Der Kampf wird in den Geschichts¬
büchern beschrieben unter dem Titel „Unions¬
bestrebungen". Damit wird der staats-
Politische Kern des Kampfes verschleiert, aber
der Kampf selbst ungeheuer verschärft, weil
er sich der religiösen Leidenschaften der Be¬
völkerung ebenso bedient, wie ihrer Habsucht.
Im achtzehnten Jahrhundert wurden die
Unionsbestrebungen, das sind die Versuche,
die Bevölkerung des Zwischengebietes mit der
orthodoxen Kirche zu vereinigen (unieren),
>in Südwestgebiet mit Erfolg durch Katharina
die Große betrieben. Im Nordwestgebiet be¬
sorgte der Uniatenbischof Sjemaschko unter
Nikolaus dem Ersten die entsprechende Arbeit,
während Murawjew das Werk der Union
politisch vollendete.
Im Cholmer Lande war es dem Bischof
Martell Popiel am 23. März 187ö vorbe-
halten „mit seiner Diozöse" den Anschluß an
oieorthodoxe Kirche zu gewinnen. Damit waren
die ethnographisch von: Rusfentum für sich in
Anspruch genommenen Gebiete, die seit dem
siebzehnten Jahrhundert vom polnisch-litau¬
ischen Staate in Besitz genommen waren,
wieder mit der russischen Kirche vereinigt
>,reuniert". Diese Wiedervereinigungen er-
folgten immer in einem Moment, wo bereits
der polnisch-katholische Einfluß so stark ge¬
worden war, daß die eingeborene nichtpol¬
nische Bevölkerung durch Vermittlung der
katholischen Geistlichkeit und die polnische
Herrenschicht schon im Begriff stand, dem
Polentum zu verfallen und seine ursprüngliche
Eigenart zu vergessen. Infolgedessen folgte
dem formellen Übertritt einer Diözöse ge¬
wöhnlich erst ein erbarmungsloser Kampf der
Verwaltungsbehörden, um die Bevölkerung
"und zur Nachfolge zu zwingen. Im Cholmer
Land, das die östlichen Kreise der Gouverne¬
ments Ludim und Sjedlec umfaßt, haben die
Oberprokurore deS Heiligston spröd Tolstoi
und Pobjedonostzew durch den Publizisten
Katkow, den Generalgouvemeur Gurko und
Zuletzt durch den Bischof Eulogius im Sinne
dieser Aufgabe gewirkt, mit unmenschlicher
Grausamkeit, wie hinzugefügt werden kann,
die aber doch übertroffen wurde von den
Grausamkeiten, die sich die polnischen Agita-
ioren zuschulden kommen ließen, als
am 17. April 190ö ein zarischer Mas die
Glaubensfreiheit verkündete. Damals traten
etwa 260000 „Kleinrussen" zur katholischen
Kirche über.
Wurde scheinbar um den Glauben der
Arkaden Chvlms gekämpst, so ging es tat¬
sächlich in allen den Jahren um die Gewin¬
nung der Ukrainer für den großrussischen
Volksstamm oder für die Polen. Die Be¬
zeichnung „katholisch-' oder „orthodox" als
Synonyma für „polnisch" und „ukrainisch"
ist daher willkürlich. In den Kampfjahien
besonders nach 1904 hat sich zwar das ka¬
tholische Bekenntnis ausbreiten können; da¬
neben aber ist allmählich ein „ruthenisches"
ukrainisches Bewußtsein, nicht etwa ein Pol¬
nisches aufgewachsen. Die Kämpfe bei den
Dumawahlen wurden schon auf völkischer
Grundlage, vor allen Dingen gegen die
Polen geführt und die ukrainische Bevölkerung
ging trotz ihrer Zugehörigkeit zum Katho¬
lizismus hinter den Losungen des sogenannten
„schwarzen Hunderts" des Bischofs Eulogius,
nachdem sich dieses gegenüber dem Polnischen
Grundbesitz das Agrarprogramm der süd-
russischenSozialrevolutionäre angeeignethatle.
— Die Ukrainer können somit rin einiger
Ruhe den Kommissionsentscheidungen ent¬
gegensehen: für sie haben Polen und Mos¬
kowiter und die Zeit gearbeitet. (Näheres
vergl. Cleinow, „Die Zukunft Polens", Ver¬
lag Friedr. Wilh. Grunow, Leipzig Band II
Seite 170 bis 198.)
Di
e For¬
derungen nach einer Wohnungsfürsorge, als
der wichtigsten Aufgabe des Staates (Reich,
Bundesstaaten und kommunale Körperschaften)
in der Übergangswirtschaft, müssen immer'
dringender erhoben werden, da Grund zu
den schwersten Besorgnissen vorliegt. Denn
wenn man bedenkt, daß in vergangener
Friedenswirtschaft alljährlich rund 198000
Kleinwohnungen und in jetziger Kriegszeit
fast gar keine gebaut worden sind, so wird
man der Tragweite einer Hintenansetzung
der Kleinwohnungspolitik voll und ganz be¬
wußt.
Schauen wir rückwärts: Was brachte uns
der Friede von 1871 ? Neben der Aufrichtung
des deutschen Kaisertums, das im Volke die
höchste Potenz nationaler Gefühle, nationaler
Zusammengehörigkeit hervorrief und aller¬
seits Jubel und Hoffnungen auf eine bessere
soziale Zukunft auflöste, die Wohnungsnot
in des Wortes vollster und schärfster Be¬
deutung, den Umschlag der optimistischen Ge¬
fühlsregungen zu Zweifel und Verzweiflung.
„Gerade in den Jahren 1871 bis 1873
schnellten die Mietpreise und schnellten
die Preise der Baustellen, der unbebauten
Grundstücke und Häuser gar kolossal em¬
por, — Ich sollte meinen, die einfache
Tatsache, daß einem zurückkehrenden Krieger
die Miete gesteigert, oder, weil er mit einer
großen Familie gesegnet ist, die Wohnung
gekündigt wird, hat zehnmal mehr aufhetzend
gewirkt, als irgend etwas, was die Sozial¬
demokratie theoretisch oder Praktisch vertreten
hat," So unser allbekannte, kürzlich ver¬
storbene, Volkswirtschaftler, Exzellenz Adolph
Wagner in seiner Schrift: „Wohnungsnot
und städtische Bodenfrage",
Welche Wirkungen diese allgemeine Woh¬
nungsnot, dieser offensichtliche Mißbrauch mit
dem Boden auf das — namentlich gro߬
städtische — Volk ausübte, zeigt, neben der Tat¬
sache des Berliner Barrikadenbaues, der Um¬
stand, daß der damalige Berliner sozial¬
demokratische Kandidat 2623 Stimmen erhielt
(Januar 1874), gegen 82 Stimmen im März
1871. Aber nicht nur in Berlin, auch in
anderen Industriezentren waren die Ver¬
hältnisse ähnliche. Der Sieg, den wir er¬
rungen hatten, barg allzuviel Gefahren in
sich, zumal man nicht der sich ergebenden
inneren Zwiespältigkeiten Herr werden konnte.
Machtlos stand man den eingetretenen anor¬
mal-sozialen Verhältnissen gegenüber.
Wie stellte sich die Wissenschaft zu diesen
Schäden? I^ÄiZser tsire, lsisser aller, le
morale va cle lui-nunc, das war das Heil¬
mittel, das die Volkswirtschaftler dem zer¬
klüfteten, kranken sozialen Körper verschrieben,
in dem starken Glauben an die Unumstö߬
lichkeit dieses vor ihr erzeugten Naturrecht¬
dogmas und die kraftaussölmende Wirkung
des (zu stark) verabreichten Gesundungs¬
mittels. Und konnte dieses Prinzip der
Freiheit, des ungehinderten Geschehenlassens
als Organisationsprinzip dienen, wo doch
radikalster Subjektivismus proklamiert wurde?
So herrschte nicht Harmonie der wirtschaft¬
lich-sozialen Interessen, sondern ein wahres
Chaos radikal-doktrinärer Tendenzen, die
im Kapitalismus mit seiner Ausstapelung
kapitalisierter Mengen, mit seiner Spelu-
lationswut gegenüber „dem Fleiß der So¬
lidität des Schaffens", ihren würdigen Ver¬
treter fanden.
Hand in Hand mit der Wohnungsnot der
siebziger Jahre war eine unverdiente Wert¬
steigerung des Grund und Bodens gegangen,
Wertsteigerungen von 33Vg bis 100 Prozent
waren an der Tagesordnung. So war es
gar nicht Wunders, wenn sich in der Ent¬
wicklung der deutschen Arbeiterbewegung so¬
zialdemokratische Prinzipien einbürgerten, die
die oben erwähnte rapide Stimmensteigerung
bewirkten, „Ist auch nur ein Taler der fran¬
zösischen Milliarden verwandt worden, um
die auf die Straße geworfenen Berliner Ar¬
beiterfamilien unter Dach zu bringen I"
(Engel.) Alle diese inneren Zerwürfnisse
nahmen schließlich noch schärfere Formen an
und lösten Tendenzen aus, die in der Auf¬
lösung der absoluten Monarchie, des feudalen
Grundeigentums gipfelten. Noch ist es leb¬
haft in jedermanns Gedächtnis, als Liebknecht
den Krieg mit dem Zwischenruf: „Kapital¬
interessen!" verwarf und den Boden der
„Unabhängigen Sozialdemokratie" schuf, die
aus den Zweifeln und Verzweiflungen (an
den staatlich unzulänglichen Fürsorgema߬
nahmen) unserer nach dem Kriege heim¬
kehrenden Vaterlandsverteidiger eine staats¬
verneinende Mehrheit emporsprießen sieht.
Diese „unabhängigen sozialdemokratischen"
Gedankengänge müssen in das Reich der Fabel
versetzt werden! Lassen wir an den Bildern
der siebziger Jahre genug sein und die Woh¬
nungskrise unmittelbar nach dem Friedens¬
schluß, wenn unsere Millionen und aber Mil¬
lionen Feldgrauer in ihre bürgerlichen Ver¬
hältnisse zurückströmen, nicht eintreten.
Nun einige Betrachtungen mehr Psycho¬
logischer Art: Schon vor dem „In Szene
treten" dieses Weltendramas waren in der
Bevölkerung Bewegungen bemerkbar, die von
der Stadt, von dem Elend der Großstadt-
Mietskaserne, nach dem Land, den beschei¬
denen mit Garten versehenen Eigenheimen
drängten. Eine Bewegung, die nur freudig
zu begrüßen war. Unsere Krieger nunmehr,
die den Anschluß mit der Natur wieder¬
gefunden, schließlich auch in der Etappe mit
Garten- und Feldarbeiten beschäftigt wurden,
auch sie werden ein freies Leben inmitten
ursprünglicher Verhältnisse führen und der
schon vor dem Kriege eingesetzten Bewegung
sein volles Recht wahren wollen. Kann man
ihnen verübeln, wenn sie das „Heraus aus
dem sozialen Elend in all' den unter dem
Drucke spekulativer Machenschaften erbauten
Wohnungssystemen mit ihren feuchten und
lichtlosen Zimmern, dunklen und finsteren
Höfen" kategorisch zur Richtschnur ihres Lebens
machen? Derartige Wünsche hat das Vater¬
land genährt, und das Eigenheim des Kriegers
wurde zum Schlagwort, da nur in ihm des
Daseins Ruhe und Kraft ersprießt und dem
Staatskörper diejenigen Kräfte zuführt, die
ihn erhalten und stärken. So versucht der
Krieger im Hinblick auf eine gesegnetere,
bessere Zukunft die augenblicklich rauhe Schale
der Gegenwart zu vergessen.
Derweilen sitzen die Angehörigen daheim
"ut behelfen sich in oft sehr eng zusammen¬
gedrängten Wohnverhältnissen und harren,
gleich den kriegsgetrauten Frauen, die noch
bei den Eltern geblieben sind, und den ihrer
Ernährer beraubten Familien der Zeit, die
ihnen allen Gelegenheit geben soll, in eigene,
auch bescheidenere Behausungen überzusiedeln.
Reichen schon heute die verfügbaren Klein¬
wohnungen nicht aus, um die augenblicklichen
Bedürfnisse auch nur annähernd zu befrie¬
digen, was soll daraus erst nach dem Kriege
werden?
Die siebziger Jahre haben uns die Un¬
zulänglichkeit und Erfolglosigkeit der Steue¬
rung der Wohnungsnot auf Basis vom freien
Spiel der Kräfte gezeigt. Wir dürfen uns
°uf diesen selbsttätigen Ausgleich zwischen An¬
gebot und Nachfrage, auf die Lösung wirt¬
schaftlicher Problemstellungen durch den wirt¬
schaftlichen Liberalismus nicht länger ver¬
lassen! Haben wir doch bereits dieselben
Erfahrungen in der Lebensmittelversorgung
machen müssen, wo wir nur durch das — wenn
auch späte — Eingreifen von Staats wegen vor
dem wirtschaftlichen und somit Politischen
Zusammenbruch verschont geblieben und da¬
durch der Gedanke der staatsmonopolistischen
und staatssozialistischen Wirtschaft Kraft und
Perspektive gewann.
So bleibt uns keine andere Wahl, als,
auch in bezug auf Wohnverhältnisse, dem freien
Getriebe des wirtschaftlichen Lebens, dem
wirtschaftlichen Individualismus, mit staat¬
lichen Zwangsmaszregeln Grenzen zu ziehen,
unter rücksichtsloser Beseitigung schwerfälliger
Bedenken, zeitraubender Hemmungen und
eigennütziger Widerstände. „Wir müssen
zurück zum alten Bodenrecht, oder vielmehr
nicht zurück, sondern wir müssen vorwärts,
damit wir, den alten Grundgedanken des
deutschen Bodenrechtes in neuer Form lebendig
nacheilt" (Damaschke.) Denn „auf der ge¬
sicherten eigenen heimatlichen Scholle wächst
nicht nur am sichersten die leibliche Gesundheit,
me Kraft und das irdische Wohlsein unseres
Volkes, sondern auch die idealen Güter:
Liebe und Treue zu König und Vaterland,
zu Kaiser und Reich, ein glückliches Familien¬
leben und auch ein gesundes Christentum.
Eile aber tut not, wenn man dem rollenden
Rad des Verderbens noch in die Speichen
greifen will", (v. Bodelschwingh.)
- .,Dir Gr«ndbegriffe der Volkswirtschaftslehre." 2. „Der Aufstieg der Be¬
gabten und die Einheitsschule, ein Problem der praktischen Volkswirtschafts¬
lehre." Von Dr Jakob Hacks, Stadtschulrat in Breslau. Breslau 1917,
Priebatsch's Verlagsbuchhandlung. Preis 1,40 Mark und 1.25 Mark.
Der Weltkrieg, diese größte Katastrophe, welche die geschichtliche Menschheit
jemals erlebte, hat uns Deutschen eine Reihe von Problemen in den Vordergrund
des öffentlichen Interesses gerückt, deren Lösung keinen Aufschub duldet. Der
Inhalt der vorliegenden Schriften ist ein wertvoller Beitrag zur Lösung eines
Teiles dieser Probleme. Durch mancherlei Begleiterscheinungen des Krieges ist
unter anderen offenbar geworden, daß unter allen Wissenschaften die Volkswirt¬
schaftslehre am unbekanntesten ist. Bis tief in die Kreise der Gebildeten hinein
herrschen über die einfachsten volkswirtschaftlichen Dinge meist die verworrensten
Vorstellungen. Wie bedauerlich diese Unklarheit aber ist, das hat sich während
des Krieges oft und deutlich genug gezeigt. Und noch eine andere Erkenntnis
hat uns der Krieg mit brutaler Konsequenz zum Bewußtsein gebracht, das ist die
Tatsache, daß wir keinen Raubbau mehr treiben dürfen mit den menschlichen
Arbeitskräften, die unser Volk enthält, daß wir Ersatz schaffen müssen für die
Arbeitskräfte, welche mit der vernichteten oder schwer geschädigten Generation
unserer aufblühenden hoffnungsvollen und arbeitsfrohen Jugend auf immer ver¬
loren gingen. Es wird eine klaffende Lücke auszufüllen sein; denn der Krieg hat
einen Aderlaß an der Menschheit Europas angerichtet, dessen volle Schwere man
heute kaum schon richtig einschätzt. Ein großer Teil unseres Volksvermögens ist
in Gestalt von Arbeitskraft dahin; und es ist der wertvollste Teil dieser Arbeits¬
kraft, denn es ist die jugendkräftige Generation, die in den Grabhügeln der Fremde
liegt. Vor allem wird es an Qualitätsarbeitern auf allen Gebieten fehlen; denn
zu'den besten zählten viele, welche nicht wieder heimkehren werden. Sie alle
müssen ersetzt werden, möglichst bald und tunlichst vollkommen. Deshalb be¬
schäftigt denn auch seit dem Anfange des Weltkrieges kein Problem Schulmänner
wie Laien so stark, als die Frage von der Auslese der Tüchtigen und dem Auf¬
stieg der Begabten; und es gibt zurzeit keine pädagogische Frage eine solche
ist sie ja vorwiegend —, die für die Zukunft unseres Volkes von größerer Be¬
deutung wäre. Mit Recht hat das Reichskanzlerwort: „Freie Bahn für den
Tüchtigen" so einmütige Zustimmung gefunden.
Das erste der vorliegenden Bücher will nun dem tatsächlichen Mangel
an Hilfsmitteln abhelfen, die geeignet sind, die Gebildeten über die Grund¬
lagen der Volkswirtschaftslehre zu unterrichten. Es soll zur Beseitigung der Un¬
klarheiten und Verworrenheiten beitragen, die auch unter den Gebildeten jeden
Standes und Berufes über diese Dinge bestehen. Die Schrift sucht also ihren
Leserkreis vornehmlich unter diesen Gebildeten; denn die Grundlagen der Volks¬
wirtschaftslehre müssen notwendig Allgemeingut des ganzen deutschen Volkes
werden, und dabei sollen die Gebildeten vorangehen. Nun ist aber auch nicht
jeder Gebildete ohne weitere Vorbereitung imstande, zu seiner Belehrung über
diese Dinge mit Nutzen sofort die umfangreichen grundlegenden Werke über'Volks¬
wirtschaftslehre zu Rate zu ziehen. Es fehlt ihm zuviel fundamentales Wissen.
Deshalb wirkt das unvermittelte Studium jener Werke schon durch die Art ihres
Vortmges eher erdrückend oder verwirrend auf den Anfänger, statt ihn aufzu¬
klären. Die Verfasser dieser Werke können und wollen gar nicht Rücksicht aus
den Mangel an Vorkenntnissen bei ihren Lesern nehmen. Sie verfolgen ganz
andere Zwecke und wollen vor allem ihr System wissenschaftlich lückenlos dar¬
stellen. Ihre Werke können daher mit Nutzen nur nach propädeutischen Vor¬
studien durchgearbeitet werden. Und dafür ist unser Buch geschrieben. Es will
ebenso dem gebildeten Leser bei seinem Vorstudium dienen, wie es sich die ver¬
wandte Aufgabe stellt, den volkswirtschaftlichen Belehrungen an den höheren
Lehranstalten zur Unterlage zu dienen. Die Einfügung der Volkswirtschaftslehre
als Pflichtunterricht in die Lehrpläne aller höheren Lehranstalten ist nämlich eine
Forderung, die der Verfasser mit Rücksicht auf die Bedeutung des Gegenstandes
für die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend stellt. Von jedem
Deutschen, der eine höhere Schule besucht hat, ist zu fordern, daß ihm die Grund¬
lagen der Wissenschaft, die ihre Wurzeln so tief in das Wirtschaftsleben unseres
Volkes senkt, nicht fernerhin „böhmische Dörfer" sind. Durch diesen Zweck ist
Anlage und Stoffauswahl der Schrift bedingt, und der aufmerksame Leser erkennt
auf jeder Seite, daß pädagogische Erfahrung die Hand des Verfassers sicher ge¬
führt hat. In knapper, klarer und übersichtlicher Darstellung werden die grund¬
legenden Begriffe der Volkswirtschaftslehre in kurzen Abschnitten erörtert. Güter.
Arbeits- und Bodenverbrauch. Nahrungs- und Kulturmittel, Produktivität und
Rentabilität. Kapital. Produktion und Fabrikation, Fortschritt im volkswirtschaft¬
lichen Sinne, Einkommen, Sparsamkeit u. a. werden erläutert und durch sinn¬
fällige Beispiele klar gemacht. Die Bevölkerungslehre nimmt einen breiteren Raum
ein und das Bevölkerungsgesetz wird zusammengefaßt: Übervölkerung kann Nahrungs-
Mittelmangel, aber keinen .Kulturmittelmangel und keinen übermäßigen Arbeitstag
hervorrufen. Die weit vorbreitete Meinung, daß wir an Übervölkerung leiden, ist
also falsch. Die gegenwärtigen Verhältnisse werden besonsers in den Abschnitten über
die volkswirtschaftliche Bedeutung des Alkohols, über die Kosten des Heeres in
Friedenszeiten und über die Kosten des Weltkrieges berücksichtigt. Die Berechnung der
Heereskosten in Arbeit und Boden liefert ein viel treffenderes und klareres Bild, als
die durch Geld ausgedrückte Rechnung. Wenn man erfährt, daß das Heer den
zwanzigsten Teil der VolkSarbeit und den achtzigsten Teil des Volksbodens er-
fordert, so erfährt man mehr, als wenn man hört, daß die Kosten des Heeres
jährlich 1200 Millionen Mark betragen. 'Denn man will nicht wissen, wieviel
Geld durch das Heer seinen Besitzer wechselt, sondern um wieviel der Lebensunter¬
halt der Bewohner des Deutschen Reiches sich durch das Heer verschlechtert oder
verbessert. Dagegen lassen die Arbeits- und Bodenkosten des Heeres das Opfer
erkennen, welches das deutsche Volk für sein Heer bringen muß. Dieses Opfer
besteht darin, daß durch das Heer der zwanzigste Teil der Volksarbeit und der
achtzigste Teil des Volksbodens der nationalen Produktion entzogen werden. Das
ist aber keine unerschwingliche Belastung des deutschen Volkes. Eine Verminde¬
rung des Alkoholverbrauches um die Hälfte würde die gesamten Arbeitskosten
und mehr als die gesamten Bodenkosten des Heeres decken. Dabei ist noch nicht
einmal berücksichtigt, daß das Heer die Menschen zur Arbeit erzieht, also produk-
twnsfähiger macht, während der Alkohol das Gegenteil bewirkt. Die volks¬
wirtschaftliche Kostenberechnung des Weltkrieges führt zu dem Ergebnis, daß das
Wort: „Zum Kriegführen gehören drei Dinge, nämlich Geld, Geld und nochmals
Geld." zwar früher genau so oberflächlich war, wie es heute ist. aber in dem
Sinne, wie es früher richtig war, auch heute noch richtig ist. Das Geld stellt
eben nur die scheinbaren Kriegskosten dar. die wirklichen bestehen in Nahrungs¬
und Kulturmitteln oder in Bvoen und Arbeit. Sie werden den Wohlstand des
Deutschen Reiches nicht schädigen.
Das Opfer an Arbeitsanfall für die nationale Produktion durch den Krieg
Swingt uns nun, das in der zweiten Schrift behandelte Problem des Aufstieges
der Begabten zum Range der Teilaufgabe eines viel umfassenderen Problems zu
erheben. Dieser Aufstieg ist nämlich nicht etwa nur eine Forderung der sozialen
Gerechtigkeit zugunsten einzelner Menschen, sondern ein volkswirtschaftliches Problem
von größter Wichtigkeit. Aus Gründen der Wohlfahrt des ganzen Volkes muß
den Begabten der Aufstieg ermöglicht werden. Durch ihn soll im letzten Grunde
der Wohlstand des ganzen Volkes, sein Reichtum und seine Kultur mächtig ge¬
fordert werden. Und deshalb handelt es sich nicht nur um ein pädagogisches oder
um ein soziales, sondern um ein praktisch-volkswirtschaftliches Problem. Das gibt
der Schule aber auch eine wesentlich neue Aufgabe, nämlich die Steigerung des
nationalen Einkommens, des Nationalvermögens und der nationalen Kultur. Wie
die Psychologie längst eine Hilfswissenschaft der Erziehungslehre geworden ist, so
Auß das auch die Volkswirtschaftslehre werden. Jeder Lehrer muß mit ihren
Elementen ebenso vertraut sein, wie mit den Elementen der Psychologie. Wenn
der Lehrer die Auslese der Begabten treffen soll, so muß er bekannt sein mit den
^rschiedenen Arten und Graden der Begabung, sowie mit der Verteilung der
Aegabung auf die einzelnen Bevölkerungsklassen. Soll er auch mitwirken bei der
Verteilung der Ausgelesenen auf die verschiedenen Berufe, damit jeder Begabte
den Weg zu den: Berufe findet, in dem er am meisten leisten kann, so muß er
auch die für jeden Beruf erforderliche Begabung kennen. Aus dieser verwickelten
und verantwortungsvollen Aufgabe ergibt sich, daß der Lehrer allein sie nicht lösen
kann, er muß dabei vom „Schulpsychologen" unterstützt werden. Nach der Aus¬
lese müssen die Widerstände gegen den Aufstieg der Begabten überwunden Werden.
Einen Hauptwiderstand findet der Verfasser in dem sozialen Vorurteil, in dem
„Vorurteil der guten Familie", nach dem die, welche die niederen Stände nicht
oder nur mangelhaft kennen, eine Abneigung gegen die Angehörigen einer niederen
Volksklasse haben. Das „Vorurteil der guten Familie" unterstützt die Meinung,
daß der Abkömmling einer sozial höher stehenden Familie schon deshalb eine höhere Art
Mensch sei, der einen Anspruch darauf hat, gut zu leben und eine angesehene Stellung
im Leben zu bekleiden; der Sprößling einer Arbeiterfamilie dagegen hat kein Anrecht
auf eine höhere Daseinsform. Von diesem Vorurteile aber verschieden ist die An¬
erkennung der Tatsache, daß die „gute Kinderstube" von allergrößten Werte für
das Leben sei. Die soziale Erkenntnis besteht nun in der Überwindung des
sozialen Vorurteiles. Diese Erkenntnis erleichtert uns aber auch das Auffinden
der Hilfsmittel, durch die jedes Kind seinen Fähigkeiten entsprechend ausgebildet
werden kann in einer reformierten Schule. Die Hilfsmittel für die Auslese durch
die Schule sind sehr mannigfach, aber viele der vorgeschlagenen sind auch noch
stark umstritten. Dagegen empfiehlt der Verfasser aus volkswirtschaftlichen Gründen
mit besonderem Nachdrucke die durch Gesetz erzwungene Verlängerung der Volks¬
schulpflicht um ein Jahr. Nicht mit Unrecht nennt er es Raubbau an der Volts¬
arbeitskraft, wenn man vierzehnjährige Kinder zu acht- bis zehnstündiger Arbeit
heranzieht. Durch Verlängerung der Schulpflicht soll einerseits diese Schädigung
unmöglich gemacht und andererseits das für die geistige Entwicklung des, Kindes
so wichtige Lebensjahr im Schulunterrichte besser ausgenutzt werden. Er empfiehlt
weiter die Gründung besonderer Schulen für die verschiedenen Arten der Be¬
gabung und das Ausscheiden der Unbegabten aus den höheren Schulen. Zur
Erleichterung des Aufstieges der begabten Volksschüler ist die Vermehrung der
Freistellen an mittleren und höheren Schulen nötig. Auch muß der Übergang
von der Volksschule zur Mittel- oder höheren Schule wesentlich erleichtert werden.
Aber die „Einheitsschule" ist nicht die notwendige Vorbedingung für die Aus¬
lese und den Aufstieg der Begabten.
Sollen nun alle die notwendigen Verbesserungen im Schulwesen durch¬
geführt werden, so wird das Schulwesen mehr kosten, als heute. Aber besorgte
Stadtväter beruhigt der Verfasser durch deu Hinweis, daß die Geldaufwendungen
keineswegs unerschwinglich sind, daß es sich vielmehr um Geldbeträge handelt, die
durchaus mäßig genannt werden können. Ihnen stehen als Vorteile gegenüber
eine hohe Steigerung der Produktion von Kulturmitteln und eine mächtige
Förderung der Kultur. Der in Arbeit umgerechnete Gewinn der neuen Ein¬
richtungen dürfte die Arbeitskosten vielleicht hundertmal übertreffen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aiifsittze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berlaaö acstatrer.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterjelde West. — Mannstriptsendungen und
Briefe werden erbeten unter der Adresse:
An dir Schriftleitung der Grenzboten in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer 36».
Fernsprecher des Herausgeber«: Amt Lichterf-lde 4S8, de« Verlags und der Schristleitung: Amt Lüyow MI«,
Verlag: Verlag der Gr-nzbot-n G> in. b. H. in Berlin SV II, T-mpelhoser Ufer LS->,
Druck: „Der Reichsbote" «. in. b. H. in Vcriln SV/ 11, Deffauec Ser-He W/N.
nglands Bundesgenossen haben zum größten Teile ein trauriges
Schicksal gehabt. Belgien wurde gleich im Anfange des Weltkrieges
erobert, die Balkanstaaten sanken dahin, das russische Weltreich wurde
zertrümmert. Frankreich befindet sich in einem Erschöpfungszustände,
aus dem es sich nie wieder erholen kann. Italien hält sich nur
allenfalls noch vorläufig mit fremder Hilfe aufrecht. Angesichts dieses jetzt schon
feststehenden Ergebnisses des Weltkrieges ist immer wieder die Frage aufgeworfen
worden: Trifft dieses Schicksal seiner Bundesgenossen nicht auch England? Wird
sich England infolge dieser Niederlagen seiner Bundesgenossen, die es mittelbar
doch auch selbst treffen, nicht zum Frieden bereit finden lassen?
Gegenüber einer solchen Frage nutz immer wieder darauf hingewiesen werden,
daß die Stellung Englands zu seinen Bundesgenossen eine ganz andere ist, als
die Deutschlands zu den seinigen. Selbstverständlich wird weder die englische noch
die deutsche Politik durch Gefühlsmomente bestimmt. Für die gesunde Politik
eines Staates kann nie etwas anderes maßgebend sein als sein eigenes Interesse.
Aber dieses Band des wechselseitigen Interesses ist eben sür die beiden Staaten
verschieden. So widersinnig es aus den ersten Blick scheinen mag, so bedeuten
doch die kriegerischen Erfolge Deutschlands gegen Englands Bundesgenossen zum
Teil geradezu weltpolitische Erfolge Englands, die Englands Machtstellung nicht
schwächen, sondern vielmehr verstärken, ihm unliebsame Wettbewerber vom Halse
schaffen, also nimmermehr eine Friedensneigung hervorrufen können. Es wurde
bei einer anderen Gelegenheit darauf hingewiesen, wie es England während des
Krieges gelungen ist, sein weltumspannendes Kolonialreich weiter auszubauen"').
Die Entwicklung seiner weltpolitischen Stellung gegenüber anderen Mächten geht
damit Hand in Hand.
Deutschland war von Anfang an durch die festeste Interessengemeinschaft auf
Gedeih und Verderb mit seinen Bundesgenossen verbunden. Ihre Niederlage wäre
gleichzeitig eine deutsche Niederlage. Deutschland und Osterreich bilden mit wechsel¬
seitiger Rückendeckung die mitteleuropäische Gesamtmacht. Bulgarien und die Türkei
eröffnen beiden Mächten den Weg nach dem Osten und bewahren sie dadurch vor
vollständiger Abschnürung.
Ganz anders das Verhältnis Englands zu seinen Bundesgenossen. Eng¬
land hat allerdings nach dem bekannten Ausspruche immer einen dummen Kerl
auf dem Festlande gebraucht — noch besser mehrere —, um für englische Interessen
die Haut zu Markte zu tragen. Aber wenn es diesem Genossen schlecht geht, so
berührt das England in seiner inselmäßigen Vereinzelung an sich herzlich wenig.
Im Gegenteile wird es der englischen Politik vielfach nur angenehm sein, wenn
mögliche Wettbewerber von der Weltbühne verschwinden.
Vielleicht nur zu einem einzigen seiner Bundesgenossen nimmt England eine
andere Stellung ein, zu Belgien. Selbstverständlich ist, es nicht daS angeblich
gekränkte Völkerrecht und die uneigennützige Vorliebe für die kleinen Nationen,
das die englischen Staatsmänner so gern im Munde führen, sondern das eigenste
Lebensinteresse Englands. Belgien war der englische Brückenkopf nach dem Fest¬
lande, der Besitz von Antwerpen und der flandrischen Küste durch eine große Fest¬
landsmacht bedroht die inselmäßige Sicherheit Englands militärisch und wirt¬
schaftlich. Der Unterseebootkrieg wäre in diesem Umfange nicht möglich, wenn
England die flandrische Küste beherrschte. Deshalb ist es nicht leeres Wort¬
geklingel, sondern voller Ernst, daß England alle militärischen und politischen
Anstrengungen machen wird, um Belgien wieder zu befreien. Wer nach dem
Friedensschlüsse Belgien beherrschen wird, der hat den Krieg gewonnen, wie auch
immer die Friedensbedingungen lauten werden.
Aber die übrigen Bundesgenossen Englands?!
Da ist zunächst Rußland.
Menschenalter hindurch, bis der deutsch-englische Gegensatz alles überschattete,
war die große Politik beherrscht von dem Gegensatze zwischen England und Ru߬
land. Als drohende Wolke stand der Krieg zwischen beiden am politischen Horizonte,
und man erwartete mit Gewißheit den Kampf zwischen Walfisch und Eisbären.
Von natürlicher Bundesgenossenschaft, bedingt durch Gemeinsamkeit der Interessen,
waren beide Mächte so entfernt wie möglich.
Die auswärtige Politik Rußlands strebte mindestens seit den Zeiten Peters
des Großen nach dem offenen Meere. Überall, wo man das Meer erreicht hatte,
war man nur an Sackmeere gekommen und mußte weiter. Nach Süden gab es
drei Auswege, über die türkischen Meerengen ins Mittelmeer, über Zentralasten
nach Indien oder über die Mandschurei nach dem eisfreien Stillen Ozean. Aber
auf allen drei Wegen stieß man auf widerstrebende englische Interessen. Um den
Weg ins Mittelmeer zu versperren, hatte England im Krimkriege mit Frankreich
verbündet zu den Waffen gegriffen und war 1878 nach dem Frieden von San
Stephano bereit, dies noch einmal zu tun. Als Nutzland um die Jahrhundert¬
wende den entlegensten Ausweg am Stillen Ozean suchte, hatte ihm England die
kleinen Japaner auf den Hals gehetzt und durch sie die Straße versperren lassen.
Aber am gefährlichsten war doch der mittlere Durchbruch nach Indien. Er bot
für Rußland die glänzendsten Aussichten. Mit dem Erwerbe des reichen Indien
lag ganz Asien zu seinen Füßen, und der Weg nach dem Indischen Ozean war
in einer weiten Bresche eröffnet. Gleichzeitig wurde gerade hier England in seinen
eigensten Lebensinteressen getroffen. Und dabei rückte Rußland über Zentralasien
Von Jahr zu Jahr den indischen Grenzen immer näher. Der Kampf der beiden
Weltmächte um die Beherrschung Asiens schien unabwendbar.
Nach seiner beliebten Politik hätte England sich für den Kampf gegen Nutz,
land zu gern der deutschen Bundesgenossenschaft versichert, stietz dabei aber immer
deutscherseits auf entschiedene Ablehnung, da tatsächlich keine ernstlichen deutsch,
russischen Gegensätze bestanden. Nun mußte es umgekehrt versucht werden.
Wie die russische Politik sich immer, wenn ihr der Ausweg nach der einen
Meeresseite versperrt war, nach der anderen gewandt hat, so nahm sie nach dem
Scheitern des Versuches im äußersten Osten ihre Balkanpoliti! wieder auf. mußte
sich aber sehr bald davon überzeugen, daß der Weg nach Konstantinopel nicht
nur über Wien, sondern auch über Berlin führe. Das verschlang sich mit dem
inzwischen immer schärfer ausgeprägten deutsch-englischen Gegensatze und führte
Zum englisch-russischen Bündnisse. England gab dabei scheinbar den Weg durch
die türkischen Meerengen frei, da ohne dies Rußland nicht zu haben war, ver-
sperrte ihn aber gleich wieder durch Besetzung der davor gelegenen Inseln.
Während des Krieges blieb für Rußland nichts anderes übrig, als diesen
hinterlistigen Streich Englands über sich ergehen zu lassen und das Zugeständnis
der Meerengen dankbar anzunehmen. Nach einem für die Entente siegreichen
Frieden hätte aber in Rußland das Bewußtsein Ausdruck finden müssen, daß man
das erstrebte offene Meer mit den Meerengen doch nicht erreicht hatte,, sondern
wieder in der Sackgasse saß. Dann hätte sich die gewaltige Macht des siegreichen
Rußlands nach der bisherigen Gepflogenheit seiner auswärtigen Politik wieder
einem anderen möglichen Auswege zugewandt. Und das war diesmal voraus¬
sichtlich Indien.
Die indische Gefahr wäre für England nie größer gewesen, als nach einem
Kr die Entente siegreichen Ausgange des Weltkrieges. Diese Gefahr ist jetzt vor¬
über. Indem das deutsche Schwert das russische Weltreich zertrümmerte, besorgte
es auch Englands Geschäfte. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir im Sinne
von Hoetzsch und anderen das russische Reich möglichst hätten erhalten sollen, um
in ihm einen künftigen Bundesgenossen gegen England zu gewinnen. Die Menschen-
'nassen Indiens unter Rußlands Herrschaft wären uns noch viel gefährlicher ge¬
worden als unter derjenigen Englands. Das Zersplittern Rußlands ist auch für
uns einer der größten Erfolge des Weltkrieges. Aber es ist begreiflich, daß man
dem Untergange Rußlands in England keine Träne nachweint, sondern erleichtert
ausatmet. Die Niederlage Rußlands ist nicht auch eine Niederlage seines eng¬
lischen Bundesgenossen, sondern eher das Gegenteil davon. Jedenfalls kann sie
ans die englische Friedensneigung nicht bestimmend einwirken.
Nicht viel anders ist es mit Italien.
Italien trug sich mit gewaltigen Weltmachtsplänen. Das Adriatische Meer
sollte mit dem Erwerbe Jstriens, Dalmatiens und Albaniens ein geschlossenes
italienisches Binnenmeer werden, wie einst in den besten Zeiten der venetianischen
Republik. In Tripolis hatte Italien eine Landgrenze mit Ägypten, einer der
empfindlichsten Stellen des englischen Weltreiches. Im östlichen Mittelmeer hatten
die Italiener den griechischen Dodekanes besetzt und strebten nach weiteren Er-
Werbungen in Klein-Asien. Das ganze östliche Becken des Mittelmeeres sollte
unter italienischen Einfluß kommen. Bei der Beherrschung aller wichtigen Ein-
und Ausgänge des Mittelmeeres durch England und bei dem bedeutenden Über¬
gewichte der englischen Flotte wäre die Verwirklichung dieser Bestrebungen für
England wenigstens vorläufig kaum gefährlich geworden. Aber lästig konnte eine
solche Vormachtstellung Italiens im östlichen Mittelmeere doch werden, zumal
wenn sie sich mit der russischen Politik verband.
Auch damit ist es jetzt vorüber. Im allergünstigsten Falle behauptet Italien
sein bisheriges Gebiet. Selbst wenn es den Dodekanes und Tripolis verliert,
fallen diese an Griechenland und die Türkei, die für England nie gefährlich werden
können. Mögen die italienischen Staatsmänner sich jetzt noch mit den Südslawen
unterhalten über die beiderseitigen Besitzungen an der östlichen Adriaküste, so
täuscht man damit kaum noch große Kinder. Italien wird keinen Fußbreit neue
Küste und keine weitere Meeresherrschaft gewinnen.
Für England ist diese italienische Niederlage der erwünschteste Ausgang,
der sich denken läßt. Bei einem Siege der Entente hätte man Italien Zugeständ¬
nisse machen müssen, die doch einmal recht lästig hätten werden können. Die
italienische Niederlage ist für England erheblich vorteilhafter als ein italienischer
Sieg, zumal sie Italien für lange Zeit in bedeutender Schwächung zurückläßt.
Andererseits hat zwischen England und Österreich nie ein ernsthafter
politischer Gegensatz bestanden, weil Osterreich bei seiner geographischen Lage nie
eine bedeutende See- oder Handelsmacht werden konnte. Das wäre vielleicht
anders geworden, wenn Osterreich den einst in großer Stunde ins Auge gefaßten
Vormarsch nach Saloniki angetreten hätte. Aber damit war es vorbei, seit
Osterreich 1908 auf Italiens Verlangen kleinmütig den Sandschak räumte und
beim Balkankriege von 1912 auch die letzte Gelegenheit zum Vormarsche vorüber¬
gehen ließ. Die österreichische Macht im Adriawinkel störte England nicht.
Dagegen hatte England stets das lebendigste Interesse, in einem starken
Österreich ein Bollwerk gegen andere, England feindliche Mächte zu sehen. Von
den Kriegen Ludwigs des Vierzehnten bis zum Berliner Kongresse war daher
England immer der natürliche Verbündete Österreichs. Dieses Verhältnis wurde
höchstens vorübergehend einmal getrübt, wenn sich Osterreich wie im siebenjährigen
Kriege oder jetzt im Weltkriege mit Feinden Englands verbündet hat. stellt sich
aber mit dem Friedensschlüsse ganz von selbst wieder her.
Während Österreich rings von heulenden Raubtieren umgeben war, die die
Monarchie aufteilen wollten, hätte England eine solche Aufteilung nie zugelassen,
sondern höchstens Österreichs Feinden einige Brocken hingeworfen. Die Erhaltung
der österreichischen Großmachtstellung war ein zu starkes englisches Interesse
namentlich gegenüber Rußland, aber auch gegenüber Italien-
Deshalb ist es für England ein doppelter Gewinn, daß es gerade Österreich
ist, dem Italien unterliegt. Mögen die deutschen Waffen dazu mitgewirkt haben,
Deutschland hat keinen weiteren Gewinn davon, als daß es Osterreich errettete.
Der dauernde politische Gewinn liegt ausschließlich bei Österreich. Und das kann
der englischen Politik nur recht sein. Es ist für England noch vorteilhafter als
ein italienischer Sieg.
Bei dieser Sachlage ist das Schicksal der Balkanstaaten für England ganz
gleichgültig. Dafür, daß Osterreich nicht in Saloniki das Agäische Meer erreicht,
ist anderweit gesorgt. Im übrigen mögen Serbien und Montenegro untergehen
oder in irgend welcher Weise wiederhergestellt werden, das berührt kein englisches
Interesse. Daneben sorgt schon die bedeutende Machtstellung, welche Bulgarien
gewonnen hat und das nunmehr für Österreich den Weg nach Saloniki versperrt,
dafür, daß die ausschließliche Beherrschung der Balkanhalbinsel nicht an
Osterreich fällt.
So bliebe noch Frankreich.
Jahrhunderte hindurch, von den englisch-französischen Kriegen des ausgehenden
Mittelalters bis über die Zeiten Napoleon des Ersten hinaus, ist die Weltgeschichte
von dem englisch-französischen Gegensatze erfüllt. Frankreich war immer einer der
gefährlichsten Gegner Englands, weil es die diesem gegenüberliegende Küste be¬
herrschte und daher England in seiner militärischen und wirtschaftlichen Insel-
sicherheit bedrohte. Diese Gefahr war um so größer, da Frankreich zeitweise
nicht nur die bedeutendste Landmacht des Festlandes, sondern sogar eine bedeutendere
See- und Kolonialmacht war als England selbst. Wie sich die neuere englische
Politik' immer gegen die bedeutendste Festlandsmacht richtete, die ihm auf dem
Gebiete des Seehandels gefährlich werden konnte, erst gegen Spanien, dann
gegen die Niederlande, so richtete sich die englische Politik in dieser Hinsicht von
ven Zeiten Ludwigs des Vierzehnten bis zu denen Napoleons des Ersten gegen
Frankreich. Endlich mit dem Wiener Kongresse war das englische Ziel erreicht,
Frankreich war als See- und Kolonialmacht vernichtet.
Doch es konnte als solche wieder aufleben. Die dritte Republik hatte wieder
ein gewaltiges Kolonialreich zusammengerafft. Frankreich besaß wieder eine be¬
deutende Flotte. Damit erwachte ganz von selbst wieder der englisch-französische
Gegensatz. Man braucht nur das Wort Faschoda zu nennen. Da war es denn
ein Glück für England, daß die Franzosen wie hypnotisiert auf das Loch in den
Vogesen starrten und sich als englische Landsknechte für den Festlandskrieg ge-
winnen ließen.
Daß Frankreich sich wesentlich für englische Interessen verblutet und nie
Mehr die Stellung einer Großmacht, geschweige denn einer Weltmacht für sich
beanspruchen kann, ist ein weiterer Gewinn der englischen Politik. Und dabei springt
"och ein besonderer Vorteil heraus. Die französische Kanalküste wird England nie
wieder freiwillig herausgeben, und das geschwächte Frankreich ist am wenigsten die
Macht, die es dazu zwingen kann. Behauptet Deutschland die militärische Herr¬
schaft über Belgien, und gelingt England die Befreiung Belgiens nicht, so steht es
freilich bewaffnet daneben in Calais und Boulogne.
Bei den meisten der englischen Bundesgenossen bedeutet es also für England
Mehl eine Niederlage, sondern geradezu einen Vorteil, wenn sie durch das deutsche
Schwert abgetan werden. Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht macht nur Belgien.
Andererseits ist doch auch Deutschland durch den Weltkrieg erheblich geschwächt.
Sein Gewerbe ist wenigstens vorläufig von dem Weltmarkt verdrängt, seine Handels¬
flagge von den Weltmeeren verschwunden. DaS Erbe haben Angelsachsen und
Japaner angetreten.
Weshalb sollte also England trotz aller deutschen Siege mit den Ergebnissen
des Weltkrieges nicht zufrieden sein, zumal es dabei auch seinem Kolonialreiche
ewe gewaltige, bisher selbst in den kühnsten Träumen kaum gehoffte Ausdehnung
geben konnte?
Es fragt sich nur, ob diesem weltpolitischen Gewinn Englands nicht anderer¬
seits auch eine Verlustrechnung gegenübersteht, indem es sich aus dem Stillen Ozean
und aus Ost-Asien zurückziehen und hier dieHerrschaft den Japanern überlassen mutzte.
Doch in dieser Hinsicht bietet der amerikanisch-japanische Gegensatz vorläufig
einen Trost. Die Bedrohung der Straits-settlements und Indiens durch Japan
ist nicht annähernd so groß wie einst die Bedrohung Indiens durch Rußland. Ist erst
der Weltkrieg in Europa beendet, so kann der neue Weltkrieg zwischen Angelsachsen
und Japanern um die Herrschaft über den Stillen Ozean beginnen.
Alle deutschen Siege haben uns dem Endziele des Krieges, der Besiegung
Englands, bisher um keinen Schritt näher gebracht. IJm Gegenteile bedeuten die
deutschen Erfolge im wesentlichen auch Erfolge der englischen Weltpolitik. Eng¬
lands Macht ist nicht in der seiner Bundesgenossen zu treffen.
Zum Glück ist auch England nicht unverwundbar. Einen zwanzigjährigen
Krieg gegen die französische Revolution und Napoleon konnte England aushalten,
weil er nur Englands Bundesgenossen traf. So konnten auch Englands Staats¬
männer von einem neuen zwanzigjährigen Kriege sprechen. Aber wie für den ein¬
zelnen Menschen sein Geldbeutel der empfindlichste Körperteil ist, so wird England
getroffen in seiner Handelsmacht. Während die englische Kriegsflotte sorgfältig ver¬
borgen gehalten wird, so daß niemand weiß, wofür sie da ist, versinkt die erste
Handelsflotte der Welt samt der seiner Bundesgenossen und der Neutralen, soweit
sie sich in Englands Dienst gestellt haben, in den Tiefen des Meeres. Damit er¬
füllt sich auch Englands Schicksal. Und deshalb muß der Weltkrieg für England
»inen anderen Ausgang haben als einst der gegen Napoleon.
t äst unbeachtet von der öffentlichen Meinung im Reiche scheint sich im
! Herzen Mitteldeutschlands eine durchgreifende Änderung der bundes¬
staatlichen Besitzverhältnisse anzubahnen. Schon Anfang März 191?
erhoben die Sozialdemokraten Koburg-Gothas bei den Verhand¬
lungen über die Thronfolge ihres Herzogtums offen die Forderung
einer thüringischen Gesamtrepublik. Wenig später, Anfang September,
sprach sich der nationalliberale Parteitag in Erfurt nachdrücklich für „eine organische
Zusammenschließung der thüringischen Staaten in Gesetzgebung und Verwaltung
und für eine thüringische Volksvertretung" aus. Zum wenigsten müsse, so war
die allgemeine Meinung. Verwaltung und Gesetzgebung der in der Gemengelage
liegenden Länder, die geographisch, historisch und wirtschaftlich ein Ganzes bilden,'<>^A^'
Mi5^
einheitlich und gleichmäßig gestaltet werden. Als Oberbau sei ein thüringisches
Parlament zu schaffen. Einen gewissen Abschluß dieser Vorberatungen zeigt der
Antrag, den der Jenaer Staatsrechtler Eduard Rosenthal am 23. November 1917
auf dem Weimarischen Landtag im Namen der ganzen liberalen Fraktion „wegen
Vereinheitlichung von Gesetzgebung und Verwaltung" einbrachte. Gleichzeitig lockte
aus Jena ein wissenschaftliches Preisausschreiben zur Ausarbeitung von Entwürfen
zu weitgehender Vereinheitlichung von Verwaltung, Recht und Wirtschaft.
Den Anstoß zu dieser Bewegung, die in allen thüringischen Staaten Beifall
findet, hat zweifelsohne die Not des Tages gegeben. „Dem denkenden Beobachter",
schreibt die ..Jenaische Zeitung", „schien es manchmal geradezu ein Gegensatz zu
der großartigen Zusammenfassung der gesamten deutschen Volkskraft gegen die
äußeren Feinde, wie im Kampfe gegen die inneren Schwierigkeiten der Lebens-
Mittelknappheit jeder kleine Staat sein Leben für sich lebte und sich ängstlich gegen
die Nachbarn abschloß." Hinter dieser „sinnfälligen Überspannung des Partikulci-
riSmus" aber, die der thüringische Städtetag bereits vor mehr als Jahresfrist durch
die Schaffung einer Wirtschaftseinheit zu lösen versuchte, tritt jetzt in dem national-
liberalen Antrag die große politische Frage der „thüringischen Einigung" über¬
ragend hervor. Aus dem Kreise vertraulicher Einzelbesprechungen drängt im Herzen
Deutschlands ein Problem zur Entscheidung, das seit einem Jahrhundert in den
wichtigsten Krisen der nationalen Entwicklung als ein Mikrokosmos des großen
Kampfes zwischen Reichsgedanken und Territorialstaat galt.
Wie die deutsche Einheitsfrage, wurde auch die thüringische Einheitsfrage
zum erstenmal im Zeitalter der deutschen Erhebung gestellt. Ihre Lösung konnte
damals, in den Jahren der Fürstenrevolutionen, nur rein dynastisch gedacht
werden. Wohl ließ Napoleon den schweren Schlägen von Jena und Auerstädt nicht
die großzügige Mediatisierungspolitik folgen, die seine Herrschaft in Franken und
Schwaben, am Niederrhein und in Westfalen kennzeichnet. Nach wie vor hielt
vielmehr die bunte, vielfarbige Karte Thüringens auch in der neueren Zeit das
Bild der alten territorialen Zersplitterung fest, die bislang ganz Süd- und West¬
deutschland, der Heimat des Reichsgedankens, eigentümlich gewesen war. Erst in
den Jahren 1813 bis 1815 versuchte Herzog Karl August von Weimar, anfangs
mit Hilfe Napoleons selbst, beim Wechsel des Kriegsglücks mit Unterstützung der
Verbündeten, als mächtigster Sproß der Ernestiner ganz Thüringen unter seiner
Herrschaft zu einigen. Als dies mißlang, wahrte doch die großherzogliche Krone
die Hegemonieansprüche seines Hauses.
Auch die zweite große Krisis der großen deutschen Einheitsbewegung fand
ihren Widerhall im kleineren Kreise der thüringischen Bundesstaaten. Noch 1826
zwar hatte der Streit um das ausgestorbene Herzogtum Gotha-Altenburg nur
neue Zersplitterung gebracht. Ohne Rücksicht aus dynastische und territoriale Zu-
sammenhänge wurden damals Gotha mit Koburg, Meiningen mit Hildburghausen zu¬
sammengekoppelt. Das von den Kreishauptmannschaftt'n Zwickau und Leipzig
fast erdrückte Altenburg ward selbständiger Bundesstaat. Wenige Jahre später aber,
1833, fanden alle thüringischen Gebietsteile zum ersten Male als Provinz des
Preußischen Zollvereins einen lebensfähigen wirtschaftlichen Zusammenschluß. Die
natürliche Hauptstadt des Landes, Erfurt, das auch Napoleon seinerzeit als
»Kaiserstadt" unter seiner unmittelbaren Herrschaft gehalten hatte, wurde wieder
der wirtschaftliche Mittelpunkt ganz Thüringens. Es war der Vorläufer der neuen
Politischen Einheitswelle, die mit den Märzstürmcn des Jahres 1848 das ganze deutsche
Land überflutete. Im Strom dieser unitarischen Bewegung suchte auch Thüringen
aufs neue zur Einigung zu gelangen. Von Innen heraus drängten immer stärker
dle kleinen Nöte des Tages, deren Ursprung man in der Zersplitterung von Ver¬
waltung, Justiz und Wirtschaft erblicken mußte, zur Entscheidung. Von Außen
her forderten die Gedanken an Deutschlands Einheit auch im Herzen des Reiches
Wr Nacheiferung auf
Schon im Frühjahr 1848 lassen sich diese Hauptgedankengänge aus dem
Gewirr diplomatischer Noten, aus Flugschriften und Aufsätzen, die alle die Lösung
der thüringischen Einheitsfrage vorbereiten wollen, herausschälen: Erhebung der
Kleinstaaten zum Reichsland mit republikanischer oder monarchischer Spitze, An¬
schluß Thüringens an einen neuen sächsischen Kreis unter den jüngeren Wettinern,
endlich innere Einigung Thüringens unter dem Führerstaat Weimar. Alle drei
Pläne aber — das ist vor allem wichtig und fruchtbar — spiegeln in ihrer staats¬
rechtlichen Begründung und in ihrem Schicksal zugleich die Probleme der deutschen
Einheitsfrage: Einheitsstaat, Staatenbund und Bundesstaat.
In das Gewirr der Verhandlungen und Meinungen, das ich auf Grund
neu erschlossener Quellen unlängst zu klären versuchte") kann hier nicht eingegangen
werden. Nur das Ergebnis sei in kurzen Zügen wiedergegeben.
Unter dem Druck des in Frankfurt aufsteigenden „Neichsterronsmus" schien
eine Zeitlang in der Tat die ganze Welt des kleinstaatlichen Wesens dem Unter¬
gange nahe. Im Herbst 1848 brachen allenthalben, vor allem in Altenburg, in
beiden Reuß und in der preußischen Provinz Sachsen, neue revolutionäre Unruhen
aus, die nur durch tatkräftiges Einschreiten der provisorischen Zentralgewalt unter¬
drückt werden konnten. Der Gedanke an eine „thüringische Republik" fiel damit
von selbst. Aber bis in den November hinein hielt sich die Hoffnung aus eine
freiwillige Liquidation der mindermächtigen Staaten zugunsten des Reiches. Als
am I.Oktober 1848 der letzte Fürst von Reuß-Ebersdorf abdankte, erwartete man
vielfach, daß dies Beispiel sehr bald bei den übrigen Regenten Nachahmung finden
würde. Das Reichsminifterium selbst erklärte, „daß eine gründliche Heilung nur
dadurch erfolgen werde, daß diese kleinen Souveränitäten aufgehoben und größere
Länderkomplexe hergestellt werden". Im Schoße der Erbkaiserpartei wurde die
Meinung laut, daß die Jmmediatisierung, die Gründung von unmittelbarem
Reichsland, ein fruchtbarer und folgenreicher Gedanke sei.
Wohl fiel auch diese Hoffnung sehr bald der neuen politischen Umgruppierung
zum Opfer, die sich aus dem Umschwung in den eng verknüpften Fragen der
österreichisch-deutschen und der preußisch-deutschen Einigung ergab. Erfolgreich
aber hatten die Unitarier mit ihrem Vorstoß die Mediatisierungsversuche des
Königreichs Sachsen zurückgewiesen, das seit den Märztagen durch dynastische und
durch demokratische Lockungen ein Großsachsen zwischen Elbe. Harz und Thüringer
Wald zu gewinnen suchte. Altenburg und beide Reuß, die von jeher von dem
mächtigen Nachbar wirtschaftlich völlig abhängig waren, zeigten sich zu weitgehen¬
dem Entgegenkommen bereit. Herzog Ernst der Zweite von Koburg-Goebel knüpfte
Verhandlungen über eine Militärkonvention an. Die thüringischen Fürsten wollten
damit der Gefahr entgehen, die ihnen die größte Demütigung schien, der Unter¬
ordnung unter einen Standesgenossen, den Weimarischen Großherzog.
In der Tat hatten dessen Hegemonieforderungen auch die wirksame Unter¬
stützung der Reichsgewalt gefunden, als der Gedanke an ein Reichsland im Herzen
des Reiches schwand. Unter der Leitung eines Reichskommissars berieten Mitte
Dezember 1848 und Anfang Januar 1849 Vertreter sämtlicher thüringischer Klein¬
staaten in Gotha über einen von Weimar vorgelegten Einigungsvertrag. Zur
Führung war danach die Gesamtheit der Fürsten und ein neu zu schaffender Ge-
samtlandtag berufen. Im Kerne aber drängte alles wie in der Reichsverfassung
der Paulskirche zur Ausbildung einer einheitlichen Spitze. Und anfangs schien
wie in Frankfurt so auch in Thüringen der Erfolg nahe. Der Entwurf der
Reichsverfassung selbst rechnete bereits mit einer gemeinsamen Vertretung Thü¬
ringens im Staatenhause. Erst die neue Krisis der Reichspolitik, in der Mitte
Dezember Heinrich von Gagern zum Führer der neuen, kleindeutschen Mehrheits¬
partei berufen wurde, bereitete den Niedergang auch der thüringischen Einigungs-
frage vor. Die von mir zum ersten Male veröffentlichten Sitzungsberichte der
Gothaer Konferenzen zeigen deutlich, wie sich unter dem Druck der Nachrichten
aus Frankfurt, Wien und Berlin die Zuversicht der kleineren ernestinischen Staaten
wieder hob. Unter der Führung Meiningens setzten sich die Regierungen gegen
die drohende Gefahr einer Hegemonie Weimars tatkräftig zur Wehr, während im
großen Gesamtdeutschland die Vertreter föderativer Staatsanschauungen neuen
Einfluß gewannen. Schritt für Schritt wichen die Unitarier von dem Gedanken
an einen deutschen Einheitsstaat zur Theorie vom Bundesstaat zurück, der die
volle Souveränität nicht nur Preußens, sondern auch sämtlicher Kleinstaaten an¬
erkannte. Die Pläne einer konstitutionellen Einigung Thüringens verrannen in
einigen von Weimar beeinflußten Versammlungen von Landtagsabgeordneten
und Vereinen.
Wie schon 1813/15 hatte es sich gezeigt, daß der innere Trieb zum Zu¬
sammenschluß noch lange nicht stark genug war, die Hemmungen der Überlieferung
an den Höfen, in den Residenzen und im Landvolk zu überwinden. Nur die
bereits von der neuen Freiheit der Industrie ergriffenen Gebietsteile gaben dem
republikanischen Drängen nach. Auch die dynastischen Fäden, die erst nach 1815 in
Altenburg, in Koburg-Gotha und Hildburghausen geknüpft waren, hatten wenig
Tragkraft bewiesen. In mannigfaltiger Färbung konnte daher der thüringische
Einigungsgedanke, der dann seit den Märztagen auf diesem Boden erwuchs, von
außen her kräftig gefördert werden."
Der Frankfurter „ReichsterrorismuS und die demokratischen Gedanken, die
in Berlin und Leipzig ihre Stützpunkte hatten, waren seine Schrittmacher gewesen.
Die wirtschaftliche und soziale Not der Zeit, der Ehrgeiz Weimars und nicht zu¬
letzt die burschenschaftliche, unitarische Begeisterung, die den gebildeten Mittelstand
erfüllte, brachten die neuen Ideen zur Reife. Der gerade für die thüringischen
Verhältnisse furchtbarste Gedanke, daß beim Aussterben der direkten Linie des
regierenden Hauses ihr Land ans Reich fallen solle, teilte das Schicksal aller Ent-
würfe, die in diesen Monaten ..das Staatsrecht von den Dächern predigten". Er
wurde auch bei der Reichsgründung aus Achtung vor dem von Bismarck fast
allzu stark betonten „hündischen" Unterbau des Gesamtstaates nicht wieder auf.
genommen. Aber die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Einigung Thü¬
ringens blieb seit der deutschen Revolution Gemeingut der aufstrebenden Elemente
des Landes.
Eifrig waren in allen Staaten Negierung und Volksvertretung bereits in
den letzten Jahrzehnten am Werke, die Schranken niederzulegen, die Verwaltung.
Gesetzgebung und Wirtschaft der nahezu fünfzig Gebietssplitter trennen. Dem
1817 geschaffenen Oberappellationsgericht und der ernestinischen Gesamtuniversität
traten die thüringische Landesversicherungsanstalt und 1912 ein Oberverwaltungs¬
gericht in Jena zur Seite. Doch zu organischem Ausbau kam es nicht. Die viel
verbreitete Meinung, daß nur Preußen der Zwingherr zur Einigung sein könne,
drang kaum an die Öffentlichkeit. Offener zeigte sich in den wirtschaftlich von
Sachsen abhängigen Landesteilen, in Altenburg, in Reuß und in dem erst 1815
Zu Weimar geschlagenen Neustädter Kreise die Hinneigung zu Dresden. Dagegen
Wen die während der Herbstrevolution von 1348 begonnene Union der reußischen
Staaten, deren Beispiel die beiden Schwarzburg folgen wollen, wenigstens eine
Vereinheitlichung der innerstaatlichen Verhältnisse Thüringens vorzubereiten.
Größere, umfassendere Pläne aber kamen kaum zur Sprache. Wie 1813/15 und
wie 1848 bedürfte es der großen Erlebnisse Gesamtdeutschlands, um auch im
Herzland des Reiches den Willen zu einer „Neuorientierung" in weiteren Kreisen
su wecken. Und nur in diesem größeren Zusammenhang sind die erwähnten Ent¬
würfe der Nationalliberalen richtig zu werten, die auch heute wie in den Tagen
ver deutschen Revolution einen „Mikrokosmos" der preußischen und deutschen
^nigungswünsche darstellen.
Die Vereinheitlichung, so führen die erwähnten Vorschläge aus, werde Er¬
sparnis von Arbeitskräften, von Zeit, Nerven und Geld und Kraftgewinn bringen.
Berechtigtes gelte es pfleglich zu erhalten, überlebtes zu beseitigen mit Schützen-
grabengeistl „Die Heranziehung aller Schichten unseres Volkes zur politischen
Mitarbeit in Staat und Gemeinde" ist daher auch den Führern dieser thüringi¬
schen Bewegung das Wichtigste: ein Spiegelbild der preußisch-deutschen Be¬
strebungen von Verwaltungs- und- Wahlrechtsreform! Zur Vorbereitung wünscht
man „ein großzügiges Teilungs- und Austauschverfahren zum Zwecke der Zu»
sammenlegung Thüringens zu abgerundeten Staatsgebieten", so daß sich organisch
über den Gemeinden der Kreis, darüber die Staatsregierung und als letzte Instanz
der „Verband Thüringen" erhebe.
Trotz dieser weitgehenden unitarischen Forderung rechnen die Führer der
bürgerlichen Parteien, wie es scheint, ernsthaft mit der Möglichkeit, die Souveränität
der Einzelstaaten unberührt lassen zu können. Wohl war die dynastische
Anhänglichkeit einzelner Länder, die erst nach dem politischen Erwachen der deutschen
Einheitsbewegung ihr Fürstenhaus wechselten, nie sehr groß. In anderen, wie
in Weimar und Meiningen, ist dieser Zusammenhang in den letzten Jahren stark
gelockert worden. Trotzdem besteht allenthalben ein natürliches Staatsgcfühl, das
mehr oder weniger auf der Anhänglichkeit des Thüringers an dem heimischen
Boden beruht. Diese Stimmung nun suchen die an die Öffentlichkeit dringenden
Stimmen dadurch zu schonen, daß sie einen Staatenbund als Zwischenstelle
zwischen Reich und Bundesstciaten einschieben. Als Sitz des „Verbandes" soll
keine der Landesyauptstädte. sondern sozusagen nur ein neutraler Ort inmitten
des Landes — genannt wird Arnstadt — in Frage kommen. Zugleich lehnt der
Landesausschuß der nationalliberalen Partei in Thüringen als das Organ der
bürgerlichen Einigungsfreunde jeden Eingriff der Reichsgesetzgebung in die Ver¬
fassung der thüringischen Staaten als der Bundesverfassung und dem Bundes¬
charakter widersprechend auf das bestimmteste ab.
Wer die geschichtlichen Zusammenhänge der thüringischen Einheitsfrage
kennt, wird dieser Forderung nicht zustimmen können. Sie erinnert gar zu sehr
an die überkünstlichen Entwürfe der Märztage 1848. die wie Spreu vor der
Wucht der großen Ereignisse in Frankfurt, in Wien und Berlin verflogen. Die
politische Formulierung der Einigungswünsche, die in der Bevölkerung nur
unbewußt und ohne selbständige Expansionskraft wurzeln, hängt heute wie vor
zwei Menschenaltern in allen wesentlichen Stücken von der verfassungsrechtlichen
Stimmung im Reich ab. Schon die Vereinigung beider Reuß und Schwarzburg
haben diesen Ländern ein ganz unverhältnismäßig großes Gewicht im Bundesrat
verschafft. Ein „Verband Thüringen" würde die Stimmenkumulationen der
Kleinstaaten, die bereits Bismarck unwillig genug empfand, staatsrechtlich sanktio¬
nieren. De, hündische Charakter des Reiches wäre aufs empfindlichste bedroht,
wenn „Thüringen" mit seinen knapp anderthalb Millionen Einwohnern in der
Vertretung der Einzelstaaten seine acht Stimmen mit gleichem Erfolge in die
Wagschale werfen dürfte, wie die vereinigten Königreiche Sachsen und Württemberg
mit ihren sieben Millionen Einwohnern und einem mehr als anderthalbmal
größeren Landbesitz. Sollte vor allem Preußen ruhig zusehen, wie an wichtigster
Durchgangsstelle ein neuer Mittelstaat entsteht? Ein Mittelstaat, der 'die
preußischen Gebietsteile Thüringens vom Hauptteil der Monarchie abdrängt,
während bisher umgekehrt die thüringischen Einzelstaaten Enklaven im preußischen
Gesamtstaat waren?
Das alles sind Fragen, die bereits weit hinausweisen über die innere Flur¬
bereinigung Thüringens. — Es ist nicht anders: Wie 1815 und wie 1848 hängt
auch heute die sogenannte Mediatisierungsfrage, die in diesen thüringischen
Einigungswünschen lebendig ist, aufs engste mit der preußisch ° deutschen Frage
zusammen, mag sich auch äußerlich beider Charakter inzwischen wesentlich geändert
haben. „Erst eine neue Lösung des deutschen Einheitsproblems kann auch dem
thüringischen Einheitsgedanken Erfüllung bringen."
le Litauer sind später als die Polen, die sich schon vor dem Kriege die
Gunst der Herren dieser Welt zu sichern und für ihre Zwecke auszu¬
nutzen wußten, aufgestanden und haben nur allmählich als Gebot der
Selbsterhaltungspflicht erkannt, den deutschen Sieger mit der Ver¬
gangenheit und Gegenwart, der Natur und Kultur ihres Landes be¬
kannt zu machen und bei ihm den Wunsch anzumelden, von der brutalen
Willkür des Tschinowniks und dem schweren Druck des polnischen Pan dauernd
befreit zu bleiben, ihre nationale Eigenart aber ungehindert und selbständig ent¬
wickeln zu dürfen. Übrigens sind nicht bloß sie, sondern auch zahlreiche Deutsche,
Feldgraue, Kriegsberichterstatter, Verwaltungsbeamte usw., bemüht, Litauen, von
dem wir nicht viel mehr als nichts wußten, in unseren Gesichtskreis zu rücken.
Aus der Fülle dieser Schriften, die oft mehr gut gemeint als gut sind, heißt es
den Weizen von der Spreu aussondern und den deutschen Leser auf solche hin¬
weisen, die die Absicht ihn zu informieren wirklich erfüllen.
Zunächst einige deutsche Autoren! Axel Ripke, der aus Nußland stammt,
hat zu dem von ihm 1916 herausgegebenen Sammelbande „Der Koloß auf tönernen
Füßen" (I. F. Lehmann, München) einen in der Form knappen, aber an Inhalt
reichen Aufsatz beigesteuert, in dem er das litauische Problem und das Verhältnis
der Litauer zu ihren Mitbewohnern erörtert. Ripke, der aus eigener Anschauung
recht Interessantes zu berichten weiß, ist überzeugt, daß die Litauer, deren „Ziel
die Selbständigkeit ihrer Heimat war und bleibt", den Anschluß an Deutschland
suchen, weil sie anderenfalls fürchten müssen, ihr Land könne ganz oder zum Teil
zum neuen Königreich geschlagen werden und ihr Volk, in die polnische Fasson
gepreßt, schließlich im polnischen Meere aufgehen; er rät dringend von der An-
erkennung der tatsächlich unbegründeten polnischen Ansprüche auf das Groß-
fürstentum ab.
Ausführlicher aber doch in gedrängter Kürze hat Erich Zensur 1915 „Litauen
und seine Probleme" in der „Internationalen Monatsschrift" (B. G. Teubner,
Leipzig) und 1917 „Litauen" in Serings „Westrußland und Mitteleuropa" (gleich¬
falls bei Teubner) behandelt; er hatte in der Zwischenzeit Gelegenheit gehabt,
Litauen und seine drei einander befehdenden Stämme im Brennpunkt der polnischen
Agitation, in dem zu Unrecht „Perle des polnischen Landes" genannten Wilna.
zu studieren; wissenschaftlich geschult und durch gediegene Beiträge zur polnischen
Frage bereits bewährt, den Quellen gegenüber kritisch und im Urteil fast ängstlich
zurückhaltend, schreibt er nur das nieder, was als verbürgte Tatsache angesprochen
werden kann. Wer von ihm (und Ripke) ausgeht, wird leicht herausmerken, wo
andere, deutsche, litauische und polnische Schriftsteller von Partei- oder nationalem
Geist beeinflußt und deshalb mit Vorsicht zu genießen sind.
Eine brauchbare und lesenswerte Zusammenstellung zumeist auf heimische
Kenner zurückgehenden dokumentarischen und auch statistischen Materials bietet
Otto Keßler „Die Baltenländer und Litauen" (Berlin 1916; Puttkammer und
Mühlbrecht), desgleichen so manches Wissenswerte zur Geschichte, Kultur und Volks¬
wirtschaft dieser Länder, sowie in bezug auf die deutsche Verwaltung und deren
Verordnungen.
Ein durch die äußere Aufmachung ansprechendes, mit Bildschmuck versehenes
Buch ist des Dr. Paul Michaelis „Kurland und Litauen in deutscher Hand"
(Berlin-Steglitz; Fritz Würtz). Der Verfasser findet mit glücklichem Blick das
Wesentliche und Charakteristische heraus und stellt es in kurzen Berichten aus
dem Felde (für das „Berliner Tageblatt") klar, schlicht und leicht faßlich dar; er
urteilt einsichtsvoll und maßvoll und erkannte bereits im Frühling 1916. daß
?as russische Reich im Zerfall begriffen war und die „Fremdvölker", den Großrussen
w jedem Betracht fremd, sich von ihm loszulösen begannen. Er lobt die deutschen
Eroberer als Kulturbringer, was sie bei diesen kleinen Völkern noch längere Zeit
bleiben müßten. Seine Kriegsberichte verdienten, in Buchform weiteren Kreisen
zugänglich gemacht zu werden, um so nachhaltiger zu wirken.
Ein liebenswürdiger, den Leser schnell fesselnder Autor ist der humane und
tolerante Tilsiter Propst Wronka, der sein deutsches Herz auf dem rechten
Fleck hat. Sein „Kurland und Litauen" (Freiburg i. Br. 1917; Herdersche Ver-
lagsbuchhandlung) wird den Weg in viele deutsche Häuser finden und bedarf
kaum einer besonderen Empfehlung. Wronka. des Litauischen kundig und ver¬
mutlich mit den Tilsiter Führern der litauischen Bewegung seit langem in Verbindung
kennt Litauen aus eigener Anschaumig und die Litauer aus vielfachem persön¬
lichen Verkehr; er darf als einer von wenigen Deutschen von sich behaupten, daß
er „die litauische Volksseele durch reichliche Erfahrung kennen gelernt hat". In
seiner Darstellung, die uns mit der Geographie und Geschichte, mit den politischen,
nationalen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen Litauens vertraut macht,
nehmen die kirchlichen Zustände, für die er ja ein besonderes Interesse und Ver¬
ständnis hat, einen ziemlich breiten Raum ein; er ist hier in der Lage, manches
zu berichten, was andersgläubigen Schriftstellern verborgen bleibt. Indem er
außer der amtlichen russischen Statistik zuverlässige kirchliche Ausstellungen benutzt,
errechnet er für 1915 auf dem zusammenhängenden litauischen Sprachgebiet von
1800 Quadratmeilen, bei einer Gesamtbevölkerung von N/2 Millionen, rund
1.8 Millionen Litauer, bis auf 51000 sämtlich Katholiken, in ganz Rußland aber
1.9 Millionen und in der ganzen Welt 2-/« Millionen (davon in Amerika 690000).
also weniger, als sonst wohl angegeben werden.
Die Verwaltung des von deutschen Truppen besetzten Ostens hat zweimal,
im Herbst 1916 und 1917, den Deutschen in der Heimat Gelegenheit geboten,
das Okkupationsgebiet, das erstemal das Gouvernement Kowno, das zweitemal
das ganze Verwaltungsgebiet Ober-Ost, im Bilde und aus belehrenden Dar¬
stellungen kennen zu lernen. Das erstemal hat Dr. Schlichnng im Austrage des
Fürsten von Jsenburg, des Chefs der Deutschen Verwaltung Litauen, „zur
bleibenden Erinnerung für die Herren der Verwaltung", eine große Anzahl gut
ausgeführter „Bilder aus Litauen" zusammengestellt und zu diesen Bildern, „die,
mit Liebe gesammelt, mehr sagen als alle Schilderungen und getreulich die Städte
und Dörfer, wie sie sind, die Menschen in ihrem Alltag, in ihren Freuden und
Leiden zeigen", eine knappe Einleitung verfaßt. (Druck und Verlag der „Kownoer
Zeitung" ) Eine vor kurzem erschienene zweite Auflage weist an Bildern eine
erheblich vermehrte Zahl, aber auch eine ganze Reihe sachkundiger Artikel auf, von
denen der „Geschichtliche Rückblick" Zechlins und Dr. Schlichtinas Aufsatz über
„Das Gebiet und die Organisation der Verwaltung Litauens" wenigstens genannt
seien. Das zweite Werk „Das Land Ober-Ost" (Stuttgart 1917; Deutsche Ver-
lags-Anstalt), daL übrigens mit 28 Lichtbildern. 13 Federzeichnungen und 8 Karten
ausgestattet ist. sucht vornehmlich durch die belehrende Darstellung zu wirken.
Der stattliche Band, (472 Seiten) enthält 58 Aufsätze, die von Fachmännern, in
der Verwaltung des Gebiets oder im Heeresdienste tätigen Herren, herrühren,
gründliche Sachkenntnis verraten und stilistisch auch einen verwöhnten Geschmack
befriedigen. Genannt seien von Mitarbeitern der Dichter Herbert Eulenberg, der
Universitäis-Professor Clemen, der Urwaldmajor Escherich (Bialowies). der Forst¬
mann Borggreve, Herr von Rümker, der seinen tiefgründigen Veitrag bescheiden
„Landeskulturskizzen" nennt, und der Privatdozent Dr. Häpke, der von der Land¬
wirtschaft und ihrem Betriebe zum Zweck der Volksernährung durch die Ver¬
waltung Ober-Ost handelt. Das Sammelwerk, das auf amtlichen, durchaus zu¬
verlässigen Angaben beruht, erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche
Leistung, wie etwa „Das Handbuch von Polen", das die „Studienergebnisse
der Mitglieder der Landeskundlichen Kommission beim Generalgouvernement
Warschau" zusammenfaßt (Berlin 1917; Dietrich Reimer), sondern eine gemein¬
verständliche Darstellung für gebildete Deutsche zu sein; es bietet zu diesem Zweck
„aus allen Gebieten der Verwaltungstätigkeit Ausschnitte und in der Gesamtheit
einen vollständigen Überblick über die deutsche Arbeit in diesen Landstrichen".
Um den wissenschaftlichen Wert des Buches zu erhöhen, ist ein wertvoller statistischer
Anhang, ein Sachregister und ein möglichst vollständiges Literaturverzeichnis über
das gesamte Gebiet, das die drei Militärverwaltungen Kurland, Litauen Nord und
Süd mit 109000 Quadratkilometern Bodenfläche und (Ende 1916) 2.9 Millionen
Einwohnern umfaßt, angefügt. Um die Vielseitigkeit des Inhalts anzudeuten,
seien die Überschriften der Hauptabschnitte: Volk und Geschichte; Das Heer als
Verwalter-, Verkehr; Landeskultur; Handel und Gewerbe; Kirche, Schule. Kunst
und Wissenschaft, angegeben. In Summa: Ein Werk, das jeder gelesen haben
müßte, und an dem jeder, der es liest, seine Freude hat.
Nationallitauer, die in deutscher Sprache über Litauen schreiben, tun eS fast
durchgängig mit der Tendenz, ihrem Volke unsere Sympathien zu erwerben und
die öffentliche Meinung Deutschlands für den Gedanken des autonomen litauischen
Staates zu gewinnen. Ihnen allen ist ein gewisser Optimismus und die Unter-
schätzung der Schwierigkeiten des Auf- und Ausbaues dieses Staates aus eigener
Kraft eigen, wofern diese nicht etwa aus taktischen Erwägungen zur Schau ge¬
tragen werden. Wenn es deshalb geboten ist. auf der Hut zu sem und das Für
und Wider ihrer Forderungen recht gründlich durchzudenken, so ist andererseits
unverkennbar, daß sie, mit ihrem Thema von Jugend auf vertraut, aus dem
Vollen schöpfen und uns unvergleichlich mehr zu sagen haben als Deutsche, die
nur vorübergehend dort verweilen und nicht sonderlich viel wahrzunehmen ver¬
mögen. Stimmen sie auch im Stoff und Gedankengang vielfach ub^ein, so hat
doch jeder von ihnen seine persönliche Note und sein Steckenpferd. ^ ^"
Paulukat. dessen „Litauische Hoffnungen (Halle 1915; Vaya-Verlag) ihn
als einen feinfühligen Ästheten von ungewöhnlich ausgebreiteter Kenntnis moderner
Literaturen verraten, gewährt uns tiefe Einblicke in die litauische Volksseele, in
der. trotz des korrekten römischen Katholizismus, das alte Heidentum noch immer
lebendig und mächtig ist; er ist so wenig Politiker, daß er — euie Merkwürdigkeit
unter seinen Landsleuten — an die Möglichkeit ihres friedlichen Zusammenlebens
mit der polnischen Herrenschicht glaubt. Vidunas, der in seinem „Litauen in
Vergangenheit und Gegenwart" (Tilsit 1913; Buchdruckerei Lituama) mit offenem
Visier für sein Volkstum eintritt, hat dadurch — für rhn em gutes Zeichen — den
Zorn eines streitbaren Allpolen erregt, dem das selbständige Litauen seit,e em
Dorn im Auge ist und der es für geschmackvoll halt, die litauische Sprache zu
verhöhnen. Werbelis, dessen ..Russisch-Litauen" (Stuttgart 1916; ^. Schrader) ich
in Nummer 34 der „Grenzboten" 1917 eingehend gewürdigt habe, stellt an der
Hand statistisch-ethnographischer Forschung mit nicht zu ermüdender Gründlichkeit
das heutige und das ehemalige, nach Süden und Osten erheblich weiter reichende
Sprachgebiet der Litauer fest und legt ihr nationales Erwachen und ihren auf¬
fallend raschen kulturellen Aufstieg, namentlich seit 1905. unwiderleglich dar; er
fordert voll seinem Leser ein scharf gespanntes Aufmerken, gewahrt ihm dafür
aber einen außerordentlich reichen Ertrag an Einsicht und Kenntnissen. Dr. Gai-
galat. Pfarrer und preußischer Landtagsabgeordneter, der der ..Grenzboten"gemeinte
durch seine Abhandlung „Die litauisch-baltische Frage" (1915) bekannt ist. hat
neuerdings in einer umfangreicheren Schrift „Litauen" (Memel 1917; Sandora-
Buchhandlung) das litauische Problem von allen möglichen Seiten angefaßt und
erschöpfend behandelt; ihm ist es darum zu tun, einen möglichst großen Leserkreis
Zu fesseln und für seine Ansichten zu gewinnen, was ihm, ich meine das erste,
gelingen dürfte; er schreibt klar, anschaulich und leicht verständlich. Tatsachen und
Zahlen beweisen; von beiden bringt er eine erhebliche Masse bei. die in mancher
Hinsicht das reichhaltige Material von Werbelis ergänzt; von besonderem Interesse
waren für mich die Abschnitte ..Der Protestantismus in Litauen" und „Litauische
Kunst", die als litauische Volkskunst bereits die Aufmerksamkeit vieler Deutschen
auf sich gelenkt hat. und als litauische Kulturkunst zwar noch jung ist, aber viel
verspricht. Zwölf Abbildungen und eine ethnographische Karte von Litauen er¬
höhen den Wert des Werkes. Kürzer in der Fassung, aber gleichfalls inhaltsreich
ist das erst vor kurzem herausgekommen« Buch von M. Aschmies „Land und
Leute in Litauen" (Breslau 1917; Verlagsbuchhandlung Priebatsch), das über
alles Wichtige und Wesentliche in ruhiger und sachlicher Darstellung Aufschluß
gibt, das Wirtschafts- und das Geistesleben eingehender behandelt, einen Abriß
der Geschichte Litauens bis auf unsere Tage bietet und uns mit dem Lande und
seiner sich aus sechs Völkern zusammensetzenden Bevölkerung bekannt macht.
Wer vor dem Weltkriege unvoreingenommen beobachtete, konnte wahrnehmen,
daß die Reichsleitung für gewisse Eventualitäten im Osten gewisse Vorbereitungen
traf und Richtlinien festlegte. Vor allem trat „Berlin" damals mit einer kleinen
Gruppe verhandlungsfähiger Polen in Verkehr und stellte ihr die Wiederherstellung
eines polnischen Staates im Gebiet der mittleren Weichsel, durch die Erwägung
der Notwendigkeit einer erheblich kürzeren Verteidigungsfront gegen ein nur um
Kongreßpolen gekürztes Nußland mitbestimmt, in Aussicht. Darüber hinaus wird
es aber auch bereits damals mit dem Fall gerechnet haben, daß das Schicksal
uns schon in diesem Kriege zwingen könne, die ostslawische Frage restlos zu lösen,
die ostpreußische Gefahr für immer zu beseitigen und die Randvölker, in aller¬
erster Linie die Ukrainer, durch Errichtung von Nationalstaaten für die dauernde
Verbindung mit Mitteleuropa zu gewinnen. Wenngleich „Berlin" im Verlauf
des Krieges dann und wann geschwankt, mehrmals an vorzeitigen Friedensschluß
mit Rußland, andererseits auch an Erwerb des so notwendigen Rentamtes für
deutsche Siedlungszwecke gedacht hat, im großen und ganzen war unsere Kultur¬
diplomatie zyn Verzichtsfrieden bereit, hielt am Nationalitätsprinzip, wie man es
heute nennt, am Selbstbestimmungsrecht der Völker fest und hat sich jetzt, nach
der russischen Revolution, für dessen ausnahmslose Durchführung entschieden; sie
hat deshalb vor kurzem aus dem ethnographischen Polen daS Cholmerland heraus¬
gelöst und der Ukraine zugewiesen: sie erkennt den von den Polen historisch mit
»ein Eroberungsrecht begründeten Anspruch aus alle ehemals zu Polen gehörigen
fremdsprachigen Länder, in denen es ein bodenständiges Polentum nicht gibt, nicht
mehr an, sondern zieht die Grenzen nach ethnographischen Gesichtspunkten, trennt
also das neue Königreich von dem neuen Großrußland durch ein breites Zwischen¬
gebiet in anderen Händen, nimmt ihm seine Wichtigkeit und Gefährlichkeit, ja
macht es fast zur czuantite neZIiZesble. Doch ich schweife ab, statt mich auf
Litauen zu beschränken.
Die Litauer haben spätestens gelegentlich der Einberufung des litauischen
Landesrats erfahren, daß ihnen, mehr als sie wohl hoffen durften, ein unabhän¬
giges Großfürstentum Litauen, also eine politisch-territoriale, statt der erwarteten
national-kulturellen, Autonomie gewährt werden würde. Sie gründeten damals
am 1. Oktober die in Berlin dreimal im Monat erscheinende Zeitung „Das neue
Litauen", dann, nachdem der Präsident d?s litauischen Landesrats Smetona am
13. November einen staatsmännisch abgetöntem Vortrag „Die litauische Frage"
vor einer Versammlung deutscher Politiker im Hotel Adlon gehalten hatte, am
30. November, in Anwesenheit von Mitgliedern aller deutschen Parteien, namentlich
aber der drei Parteien der Verzichtsfriedensresolulion, die Deutsch-litauische Ge¬
sellschaft und wählten Herrn Erzberger zum Vorsitzenden. Obgleich nicht zu ver¬
kennen ist, daß der Zug des Herzens zwischen Njemen und Dura viele nach der
russischen Seite hinführt, und daß die Mißvergnügten, die in der Schweiz die Monats¬
schrift „pro lltkuania" in französischer Sprache herausgeben, zurEntente schwören, den
deutschen Sieger hassen und z, B. die Beseitigung des Deutschen als Unterrichts¬
gegenstand aus den litauischen Volksschulen verlangen, so ist doch mehr als wahr¬
scheinlich, daß es den im litauischen Landesrat vereinigten Notabeln gelingen wird,
ihre Bolschewik niederzuhalten, ein monarchisches Staatswesen, den Wünschen der
Geistlichkeit entsprechend, auf christlich.konservativer Grundlage zu schaffen und die
große Masse für die dauernde Orientierung nach Mitteleuropa zu gewinnen.
Bestimmend wirkten auf sie einerseits die Gefahr, daß Litauen, wenn es sich dem
deutschen Sieger nicht fügt, dem polnischen Nachbar preisgegeben werden könnte,
der seinen Anspruch auf ganz Litauen ja immer wieder in Erinnerung bringt,
und andererseits die Vorteile, die Landwirtschaft wie Handel ihres Landes aus
einer Vereinigung mit dem deutschen Wirtschaftsgebiete erwachsen müssen; denn
nur nach dieser Richtung läßt sich ein gewinnbringender Warenaustausch einrichten.
Die führende, von dem Tausend nationallitauischer Geistlichen abgesehen,
spärliche Oberschicht wünscht nicht bloß die Pflege der nationalen und kulturellen
Güter und die Leitung ihres unabhängigen Staates so bald wie möglich aus der
deutschen in die eigene Hand zu nehmen, sondern auch, dasz Litauen den Litauern
erhalten, also möglichst deutschen- und polenrein und auch Wohl protestantenrem
bleibt. Sie lehnen den deutschen Gedanken einer beträchtlichen deutschen Bauern-
ansiedlung im Lande Ober-Ost, das nach Herrn von Rümker zur Besiedlung mehr
als ein anderes geeignet ist, a limine ab und finden bei Deutschen Zustimmung.
Nach dem Reichstagsabgeordneten Dr. Quessel braucht Litauen seine Acker und
Länder für seine eigenen Kinder und ist dort für deutsche Ansiedler kein Raum.
Und nach Liersch, dessen Schrift „Litauen und Litauer" (Stuttgart 1917:
I. Schrader) nach Form und Inhalt gleich vortrefflich ist, wurde vie deutsche
Bauernansiedlung dort auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen; er teilt die
Ansicht Gciigalats. welcher dafür eintritt, daß der polnische überschüttete und
meist schlecht bewirtschaftete Großgrundbesitz in Litauens Grenzen wie bisher so
auch in Zukunft an landhungrige Litauer. Bauern und Landlose aufgeteilt wird.
Da dort achtzig und mehr Prozent auf dem Lande leben, sei dieses dicht bevölkert
und biete fremden Kolonisten in größerer Zahl keine Möglichkeit der BetaUgung.
Selbst bei Aufwand großer finanzieller Mittel sei die Aussicht auf deren Gedeihen
ausgeschlossen. Die nationalen Gegensätze würden bei dein starken Nationalbe¬
wußtsein der Ureinwohner sehr schroffe Formen annehmen und den Deutschen den
Aufenthalt verleiden. In dem wirtschaftlich noch so wenig erschlossenen Gebiete
würde der landwirtschaftliche Betrieb auf geraume Zeit recht schwierig und wenig
lohnend sein und die Deutschen zur Ansiedlung nicht zu verlocken vermögen Es
sei bemerkt, daß auch gegenseitige Stimmen laut werden. Nach Wronka ist im
Besitz der Litauer soviel Bauernland, daß ein kräftiger Bauernstand darauf ge¬
deihen kann. Und nach Zensur ist der litauische Bauer verhältnismäßig reich mit
Land ausgestattet (durchschnittlich 60 bis 70 Morgen), wäre also bei intensivem
Betriebe, gesteigerter Produktion und den höheren Preisen des deutschen Marktes,
von der unterbietenden Konkurrenz des russischen Getreides befreit, durchaus im-
stande, auch ohne Vergrößerung seines Besitzes zu gedeihen, und brauchte keinen
Landhunger mehr zu haben. Wenn es gestattet ist, eine Vermutung auszusprechen,
so wird die Umwaiidluug des polnischen Guts- in litauisches Bauernland sich
sehr bald vollziehen, und zwar um so schneller. le zahlreicher die über ziemlich
viel Geld verfügenden Litauer, deren Rückwanderung bereits organisiert wird, aus
Amerika in die Heimat zurückkehren werden. >. ^
Ich könnte schließen, doch nutz ich noch auf eins hinweisen Liersch. der
den Litauerstaat sich bereits zu einem nordischen Bulgarien entwickeln sieht, rät
warnend ab, die litauischen Bauern durch Vermengung mit denk chen zu der-
stimmen und dadurch russische oder polnische Strömungen heraufzubeschwören,
stauen solle doch „ein Puffer nach Osten" sein. Als ob wir Deutschen einen
wichen. zudem recht winzigen, nötig haben. Sicherlich dann nicht, wenn eine
"reite, mit Deutschen besiedelte Militärgrenze angelegt und wir selber die Grenz¬
wacht beziehen würden, wie eigentlich selbstverständlich ist. Unsere Kulturdiplomaten
schaffen docy nicht uns zuliebe und uns zum Vorteil, um uns vor dem ohnmächtigen
und ohne die Ukraina armen Großrußland zu schützen, im Westgelnete souveräne Klein-
staaten, sondern um das Nationalitätsprinzip zu verwirklichen und um der deutschen
Selbstlosigkeit, deren eben nur ein Deutscher fähig ist. zu fröhnen. was Erich
Arsch, obgleich er ein Deutscher ist. nicht zu begreifen scheint. Der bisherige
Mes der Militärverwaltung Litauen. Fürst von Jsenburg - Birstein, der für die
Hebung Litauens so unendlich viel getan hat, sagte am 23. September 1917 zudem litauischen Landesrat: „Ein Kulturland soll Litauen werden, das allen seinen
Bewohnern unter Wahrung titanischer Eigenart freie Betätigung und Entwicklung
bietet". Allen seinen Bewohnern! Unter diesen Bewohnern werden nach der sich
jetzt anbahnenden Entwicklung die Deutschen, die Polen und auch die Juden nur
spärlich vertreten sein. Die Litauer werden unter sich, Litauen wird ein ge¬
schlossener Nationalstaat in Reinkultur sein.
n Ur. 5 der „Grenzboten" veröffentlicht Dr. F. Reiche einen Aufsatz
über „Das allgemeine, gleiche Wahlrecht und die Kommunen", der
sich für die Einführung jenes Wahlrechtes in ihnen ausspricht. In¬
dem ich die darin enthaltene lehrreiche Zergliederung des Problems
in einzelnen Fragen anerkenne, möchte ich doch wesentlichen Auf¬
stellungen, die er macht, widersprechen. Ich beginne mit einigen
allgemeinen Erwägungen."
„Wo große Gleichheit ist, — sagt Macchiavelli — „errichte man eine Re¬
publik; wo große Ungleichheit ist, eine Monarchie, wenn man nicht ein schlecht
proportioniertes, undauerhastes Ding schaffen will." Diese alte Wahrheit sollte
man sich auch heute gegenwärtig halten. Der Gegensatz, um den es sich heute handelt,
ist ja nicht einfach der von Republik und Monarchie, sondern der einer schroff
demokratisch, parlamentarischen Verfassung und einer durch stärkere monarchische Ein¬
richtungen gestützten gemäßigt demokratischen Verfassung. Aber auf diesen Gegen¬
satz trifft das Wort des großen politischen Denkers auch vollkommen zu. Wenn ich
die bisher bei uns bestehende Verfassung als eine durch stärkere monarchische Ein¬
richtungen gestützte gemäßigt demokratische Verfassung meine, so werde ich bei
keinem Einsichtigen Widerspruch finden. Die demokratischen Einrichtungen sind
ja bei uns an so vielen Stellen — vom Reichstag bis zu den Krankenkassen
mit starkem Einfluß vorhanden, daß es keinem Urteilsfähigen beikommen kann,
unser Staatswesen „Autokratie", und wie die schönen Wilsonschen Titulierungen
sonst heißen, zu nennen. Insbesondere auch in den Gemeinden finden sich überall
starke demokratische Elemente, im einzelnen in verschiedener Abstufung. Der Kampf
der Gegenwart geht nicht auf erstmalige Einführung demokratischer Einrichtungen,
sondern auf Herstellung einer reinen Demokratie und zwar mit dem gleichzeitigen
Ziel einer parlamentarischen Regierung. Gegen das Königtum schlechthin geht
nicht die Bewegung. Man weiß, daß es nicht mehr viel bedeuten, nicht mehr
unbequem sein wird, wenn die anderen Ziele erreicht sein werden. Diese Ziele
lassen sich nur erreichen durch die völlige Demokratisierung des preußischen Ab¬
geordnetenhauses. Eben darum geht der heftigste Kampf um dieses. Ist die
Demokratisierung des Abgeordnetenhauses durchgeführt, so werden auch die letzten
Einrichtungen, die dann noch einer radikalen Demokratisierung unserer Verhältnisse
entgegenstehen, leicht beseitigt werden, insbesondere die noch nicht ganz demo¬
kratische Verfassung unserer Gemeinden.
Im Anschluß an das Wort Macchiavellis müssen wir hervorheben, daß die
völlige Demokratisierung Deutschlands ein „schlecht proportioniertes Ding" schaffen
würde. Wir würden in einen Zustand der Tyrannei und Ungerechtigkeit kommen-
Bei einem Gemeinwesen von wesentlicher Gleichheit der Verhältnisse, z. B. in
einem Bauernstand ist eine völlige Demokratie ganz unbedenklich; es wird dort
niemand von einer Mehrheit sozial unterdrückt, weil soziale Unterschiede nicht be¬
stehen. Ganz anders steht es bei einem Gemeinwesen von großer sozialer
Mannigfaliigkeit, wie es das unserige ist. Es ist nur eine von vielen Möglich-
keiten, wenn wir daran denken, daß die riesige Arbeiterschaft, wenn sie die Herrschaft
erlangt hat, große industrielle Betriebe schwer schädigen kann. — gewiß immer
Ma eigenen Schaden, aber mit der Kurzsichtigkeit, die eben Nicht den eigenen
Schaden erkennt. Denken wir ferner an den Mittelstand, der zahlenmäßig schwächer
als die große Arbeiterschaft ist und darum in einer radikalen Demokratie mit
seinen Ängelegsnheiten im Hintergründe bleiben muß. Indem ich es unterlasse,
die verschiedenen Möglichkeiten durchzusprechen, will ich muh nur noch auf treffende
Bemerkungen beziehen, die der Abgeordnete Traub neulich gemacht hat (vgl. ..Tag.
liebe Rundschau" (Ur. 67): . ' , . , -
..Es muß offen gesagt werden, daß man in Berlin manchmal eure falsche
Taktik einschlug: man'hat das .Maß der Masse' dort selbst langsam eingeführt
und sich davon irreführen lassen. Damit wollen wir sagen, daß man manchmal
nicht zuerst die Gerechtigkeit und Billigkeit einer Maßregel untersuchte, sondern
vorher nach sozialdemokratischen Muster fragte: .wicwiel Menschen. Vereine. Or¬
ganisationen haben Sie hinter sich?' Diese Fragestellung wirkt zerstörend', sie
Sieht den Massenbegriff als Hauptmaßstab des Urteils groß. Ein Volk ist in
seinem ganzen Handel und Wandel auf der schiefen Ebene, wenn es den Grundsatz
einreißen läßt: '
.wer am meisten schreit, kriegt am melsteul' Nicht die Masse ent¬
scheidet, sondern die Leistung und der Charakter." , ^, ^,
Die bedenklichen Erscheinungen, aus die Traub hier hinweist, machen sich
jetzt schon geltend, weil die Neichsregierung zurzeit den Wünschen der Sozial-
demokratie aus bekannten Gründen glaubte nachgeben zu müssen. Es ist zu be¬
fürchten, daß sie nach einer völligen Demokratisierung unseres Vaterlandes dauernd
werden und sich noch verstärken dürften. , ^ ^ . ^ ^ ^
Die „Neuorientierung", von der heute so viel gesprochen wird, hat das
Programm: ..Freie Bahn dein Tüchtigen" aufgestellt. Auf die parlamentarischen
Verhältnisse angewandt, würde dies bedeuten, daß diejenigen politisch brauchbaren
Kräfte, die bisher noch nicht 'gelingend in den Parlamenten und sonstigen Ver-
tretungSkörpkrn zur Geltung gekommen waren, fortan zu stärkerer Geltung ge¬
langen. Würde aber die Einführung des Reichstagswahlrechtes in Preußen eine
solche Wirkung haben? Sie würde vielmehr die doch zweifellos einseitige Zu¬
sammensetzung des Reichstages auf das preußische Abgeordnetenhaus übertragen.
Gerade die politisch brauchbaren Kräfte des deutschen Bürgertums wurden statt
M stärkerer, zu geringerer Geltung gelangen. Man denke z. B. an so manchen
erfahrenen, und charaktervoller Politiker aus der uationalliberalen Partei des Ab¬
geordnetenhauses, der bei einer Wahl nach dem Neichstagswahlrecht schwerlich zu
derem Mandat gelangen würde. In besonderem Maße aber treffen diese Be¬
achtungen auf die Gemeindewahlen zu. Die völlige Demokrat.merung der Ge¬
meinden würde höchst wertvolle Teile des deutschen Bürgertums einfach mundtot
wachen. Wenn wir keineswegs die Fähigkeit der Sozialdemokraten zur Mit-
Wirkung an der kommunalen Verwaltung bestreiten, so bergen die bürgerlichen
Gruppen doch mehr brauchbare Kräfte in sich. Warum diese ohne Not ausschalten?
Daß aber die Sozialdemokratie aus irgendwelcher Toleranz den bürgerlichen Gruppen
den sachlich ihnen gebührenden Platz «immunen würde, daran ist ja nicht zu denken.
"
Auch wir wünschen eine Reform des Wahlrechtes). Ans den dargelegten
Umständen ergibt es sich indessen, daß nur eine solche Reform sachlich in Betracht
kommen kann, die das Programm „Freie Bahn dem Tüchtigen" zu gesunder
Wirklichkeit bringt. Die völlige Demokratisierung unserer Verfassung würde wert-
"ollste Kräfte in großem Umfang einfach lahmlegen.
Bei der Frage der Demokratisierung unserer Gemeinden ist noch ein wich¬
tiger Gesichtspunkt zu würdigen, der leider in den gegenwärtigen Verhandlungen
meistens übersehen wird"). Setzt sich eine Partei einer Gemeinde in den Besitz
der Herrschaft, so verleiht ihr das weiter zugleich sür das gesamte Stnatswesen
erhöhte Macht. Denken wir uns den Fall, daß die Sozialdemokratie eine große
Zahl von Gemeinden — und darunter solche mit maßgebender Bedeutung für
das öffentliche Leben, wie Berlin und Hamburg— beherrscht, so würde das eine
starke Rückwirkung für die Sozialdemokratie im gesamten deutschen Staatsleben
ausüben. Die Erinnerung an die Bedeutung von Paris im französischen politischen
Leben und der Blick auf Petersburg im gegenwärtigen Nußland sprechen hier
Bände. Wenn Berlin bisher die deutsche Öffentlichkeit weniger beeinflußt hat,
so liegt das wesentlich an den Schranken, die die preußische Stadtverfassung der
Demokratie zieht. Man vergegenwärtige sich doch einmal die Wirkungen einer
tobenden Stadtverordnetenversammlung mit bedeutender sozialdemokratischer Mehr¬
heit in Berlin und die Machtmittel der Stadt in ihrer Hand. Würden wir unter
solchen Verhältnissen Krieg und Streik so gut überstehen können wie jetzt?
Es ließe sich wohl der Satz verteidigen: die Einführung des NeichstagS-
wahlrechts in Preußen wäre weniger bedenklich, wenn es nicht auch' in den Ge¬
meinden eingeführt wird. Indessen wir sehen ja voraus (und auch Dr. Reiche
deutet es an), daß das eine das andere nach sich ziehen würde. Darum sehen
die Gegner der Demokratisierung der Gemeinden der völligen Demokratisierung
des preußischen Abgeordnetenhauses mit großem Bedenken entgegen.
Ich wende mich nunmehr den besonderen Darlegungen Dr. Reiches zu.
Es erleichtert unsere Auseinandersetzung, daß er in der Abschätzung der Wirkung
der völligen Demokratisierung der Gemeinden mit mir insofern einig ist, als auch
er von ihr die Beherrschung-des Stadtverordnetenkollegiums und des Magistrats
durch die Sozialdemokratie in einer großen Zahl von großen und kleinen Städten
erwartet.
Dr. Reiche meint, daß von den kommunalen Ausgaben der Ortspolizei, des
Schulwesens, der Bauten, des Armenwesens, der Steuererhebung „die letzten drei
Punkte wohl keinem Bedenken unterliegen". Von der Steuererhebung erklärt er,
sie sei „ja nur eine rein technische Arbeit". So einfach steht die Sache doch
keineswegs! Wir haben ja beobachtet, daß die Finanzen der verschiedenen Städte
sich sehr verschieden gestaltet haben, je nachdem die Stadtverwaltungen gut oder
schlecht gewirtschaftet, eine waghalsige oder vorsichtige Steuer- und Finanzpolitik
getrieben haben. Ein warnendes Beispiel liefert die Geschichte der Stadt Offen¬
bach a. M., deren Finanzen gerade unter dem starken Einfluß der'Sozialdemokraten
eine unerfreuliche Gestalt angenommen haben. Ein Mißbrauch der Finanzgewalt
durch eine sozialdemokratische Mehrheit ist sehr Wohl denkbar. Dr. Reiche fährt
fort: „Das Armenwesen wird ebenso unter demokratischer Verwaltung gedeihen
wie unter der bisherigen und die öffentlichen Bauten desgleichen, da hierfür ja
doch hauptsächlich Fachmänner in Betracht kämen, die als besoldete Genieinde¬
beamte bzw. Magistratsmitglieder angestellt oder gewählt werden müssen." Hierzu
ist zunächst zu bemerken, daß die „Fachmänner" nicht lediglich nach eigenem sach¬
verständigen Ermessen handeln können, sondern von der politischen Gewalt ab¬
hängig sind, die sie anstellt. Wird ein sozialdcmokratischer Magistrat dem „Fach¬
mann", der seiner eigenen Überzeugung folgen will, immer freien Spielraum
lassen? Dr. Reiche erhofft ferner eine Besserung der städtischen VerlMnisse im
Armen- und Bauwesen von der Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses.
Wenn wir hieraus zunächst erwidern müssen, daß die städtische Armen- und Bau¬
verwaltung keineswegs einseitig auf die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten
Rücksichten genommen hat, vielmehr sich von weiten und großen Gesichtspunkten
leiten läßt und emsig auf weitere Fortschritte im echt sozialen Sinn bedacht ist,
so dürfen wir weiter gegen Gefahren, die von einem sozialdemokratischen Regiment
drohen, keineswegs die Augen verschließen. Es gibt auch eine einseitige und
darum kurzsichtige nrmenfreundliche Politik. Man wendet finanzielle Mittel un¬
zweckmäßig an, was sich hinterher bitter rächt. So wenig wir bestreiten. daß sich
innerhalb der Sozialdemokratie Männer finden, die Verständnis für solche Ge¬
fahren besitzen, so ist doch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie gegenüber dem
unverständigen Trieb einer großen Masse nicht aufkommen. I)r. Reiche verwertet
auch die Klagen über den „kommunalen Klüngel", der sich bei der Anlage von
Straßen begünstigt, und versichert, solche Ubelstünde würden mit dem sozial¬
demokratischen Regiment aufhören. Wir wollen nicht in die Erörterung der Frage
eintreten, ob die herkömmlichen Klagen über diesen „Klüngel" nicht übertrieben
lind; setzen wir selbst den Fall, sie seien vollauf begründet — glaubt irgend jemand
wirklich, daß die Möglichkeit solcher Ubelstünde mit dem neuen Regiment aufhören
werde? Keineswegs! Wir brauchen hier nicht auf die Verfassungsänderungen
im alten Rom und in den mittelalterlichen Städten zurückzugreifen, welche den
Beweis liefern, daß in dieser Beziehung die Verfassungsänderung wesentlich nur
einen Wechsel des herrschenden Personenkreises hervorbrachte, daß aber die Mi߬
stünde an sich nicht aufhörten. Die Erinnerung an manche Begebnisse in der
Geschichte der sozialdemokratischen Kassen und sonstigen Verbandseinrichtungen
lehrt ja, daß mit der „breitesten Demokratie" der „Klüngel" sehr wohl vereinbar
ist. Wir fürchten, daß er sich bei einem einseitig sozialdemokratischen Regiment
sogar verstärken würde. Denn die Kontrolle, die mit dem starken Anteil einer
Vielheit von Parteien an der städtischen Verwaltung gegeben ist, und die das
beste Mittel gegen den „Klüngel" darstellt, fiele damit fort.
Bei den Betrachtungen über die Wirkungen des sozialdemokratischen Regi¬
ments auf Ortspolizei und Schulwesen geht Dr. Reiche überall von der Voraus¬
setzung aus, daß der Staat gewissen Gefahren, die er für diese Gebiete zugibt,
steuern könne und werde. Gewiß, wein: der Staat von dem starken Einfluß der
Sozialdemokratie unabhängig bleibt! Allein daran ist ja bei der Einführung deS -
Reichstagswahlrechts in Preußen nicht zu denken! Dieses soll ja gerade den
sozialdemokratischen Einfluß auf die allgemeine Staatsverwaltung sichern! Ver¬
gegenwärtigen wir uns einen Fall, den Dr. Reiche bespricht: ein von dem sozial-
demokratischen Magistrat angestellter Lehrer mißbraucht die Geschichtsstunde für
Parteipolitische Bestrebungen. Dann soll „die Aufsichtsbehörde, Direktor oder
Provinzialschulkollegium", dem betreffenden Lehrer ein anderes Fach, Latein oder
Erdkunde, übertragen. Ja, wenn die Stadt aber schon zum Direktor einen Sozial-
demokraten ernannt hat! Dr. Reiche meint freilich: „Der Anstellung sozial¬
demokratischer Oberlehrer oder gar Direktoren kann der Staat stets durch Ver-
saqung der Bestätigung vorbeugen". Gewiß, wenn der Staat unabhängig ist.
Allein man setze den Fall, der Staat habe die Bestätigung versagt: wie sehr
würde der Kultusminister dafür im Abgeordnetenhaus mitgenommen werden!
Um einem Mißverständnis zu begegnen, bemerke ich, daß ich hier die allgemeine
Frage der Verwendung sozialbemokratischer Lehrkräfte unerörtert lasse.
In Bezug auf die Ortspolizei äußerte steh Dr. Reiche dahin, daß „die
Folge der Demokratisierung der Kommunen" sein werde und müsse, daß in noch
viel höherem Maß als bisher die Ortspolizei „königlich" wird; insbesondere müsse
es da geschehen, „wo man der herrschend gewordenen Sozialdemokratie die Polizei¬
verwaltung, also die diskretionäre Ausübung der Staatshoheit, nicht anvertrauen
kann". Hier wird wiederum die Voraussetzung gemacht, daß der Staat unab¬
hängig bleibt. Aber man setze den Fall, daß der Minister des Innern im „neu
orientierten" Abgeordnetenhaus wegen der Absicht, einer sozialdemokratischen Stadt¬
gemeinde die Pvlizeiverwaltung abzunehmen, interpelliert wird — wir brauchen
die Situation nicht auszumalen! Freilich stimme ich Dr. Reiche darin zu, daß
die Demokratisierung die Selbstverwaltung sehr beschränken wird; aber nicht die
Demokratisierung der Gemeinden speziell, -sondern des Staates im Ganzen. Es
lst ja eine bekannte Tatsache, daß, je demokratischer ein Staat ist, die Freiheit
der Gemeinden um so mehr beschnitten wird. Wir haben den interessanten Unter¬
schied zwischen Frankreich und Deutschland. Dort ausgeprägter Parlamentarismus
und formell scharfe Demokratie, demgemäß die Gemeinden von der Zentral-
Verwaltung und den von ihr bestellten Präfekten sehr abhängig, während bei uns
der Abwesenheit der scharf demokratischen Verfassungskonstruktion ein hohes Matz
von Selbständigkeit der Gemeinden entspricht. Eben hierbei aber nehmen wir
auch wiederum wahr, daß formell ausgeprägte scharfe Demokratie keineswegs
wahre Freiheit garantiert.
Was I)r. Reiche über die ländliche Verwaltung sagt, das würde gleichfalls
nur unter der Voraussetzung zutreffen, daß der Staat noch ganz unabhängig
bliebe. Er setzt es als selbstverständlich voraus, daß die Negierung die Beamten
nach ganz sachlichen Gesichtspunkten werde ernennen können, daß „niemals ein
dem Staate nicht genehmer Mann" ein wichtigeres Amt erhalten werde. Dr. Reiche
scheint den Staat als in der Luft frei schwebend, unbeeinflußt von realen Parteien
und ihren Interessen anzusehen. Das Entscheidende liegt ja aber gerade darin,
daß der „neu orientierte" Staat nichts weniger als unbeeinflußt von der Sozial¬
demokratie sein wird. Wir können uns der Meinung l)r. Reiches, daß „niemals
ein dem Staat nicht genehmer Mann" ein wichtigeres Amt erhalten werde, in
diesem Sinn anschließen, insofern hier der stark demokratisch beeinflußte Staat
in Betracht gezogen wird : dieser wird in der Tat dafür sorgen, daß niemals ein
„ihm nicht genehmer Mann" Beamter wird. In diesem Sinn nehmen wir auch
die weitere Bemerkung Dr. Reiches an, in einem Konflikt werde der Staat mit
der Entschlossenheit und Zähigkeit, mit der er seine Macht geltend mache, stets
siegen. Gewiß, aber welcher Staat! Und hier haben wir daran zu erinnern,
daß der demokratisch beeinflußte Staat seine Entschlossenheit und Zähigkeit oft
auch zuungunsten einer Gemeinde, die nicht so demokratisch gestimmt ist, ferner
zugunsten einer demokratischen Parteigruppe in einer Gemeinde gegen eine
anders gesinnte Bcvölkerungsschicht geltend machen wird.
Von der Kirche meint Dr. Reiche, daß „sie der Einwirkung des städtischen
oder sonstigen Patronats durch ihre Verfassung entzogen ist". Darauf ist zunächst
zu entgegnen, daß jeder Patron aus die Bestellung des Geistlichen Einfluß hat.
Aber auch sonst würde die Kirche unter dem vorwaltenden Einfluß der Sozial¬
demokratie mancherlei Schicksale durchzumachen haben.-
Hinsichtlich der sprachlich und national gemischten Provinzen sieht Dr. Reiche
selbst die Folgen der vollen Demokratisierung der Gemeinden nicht so. ganz rosig
an. Aber auch hier begegnet uns wiederum der Trost, „der Staat" werde das
notwendige tun, „um sich 'gegen das Überhandnehmen des Polentums zu schützen".
Der Landrat, der Distriktskommissar, „der Treueid für König und Vaterland",
„der Staat, bei dem die Anstellung der Volksschullehrer liegt", „der auch weiter¬
hin .zu Orts- und Kreisschulinspektoren keine polnischen Geistlichen bestellt", —
auf diese Instanzen glaubt sich Dr. Reiche verlassen zu können. Daraus müssen
wir nur von neuem erwidern, daß der durch ein radikales Abgeordnetenhaus
beeinflußte „Staat" nicht mehr die alte Unabhängigkeit besitzen würde. Die Zu¬
sammensetzung unseres Reichstags hätte ja die unabhängige Polenpolitik des
preußischen Staats, die Dr. Reiche erhalten zu sehen wünscht, unmöglich gemacht,
wenn der preußischen Regierung nicht ein in anderer Weise zusammengesetztes
Abgeordnetenhaus zur Seite gestanden hätte. Mas aber den Landrat und Distrikts¬
kommissar betrifft, so sind sie ja Organe der jeweiligen Negierung. Und man
weiß, daß schon jetzt, unter dem Druck der gegenwärtig hochgehenden demokratisch-
polenfreundlichen Welle, mehrere hochverdiente Regierungspräsidenten und Land¬
räte aus ihrem Amt entfernt worden sind, weil sie den Standpunkt der bisherigen
unabhängigen preußischen Polenpolitik nicht aufgeben wollten. Wenn dies bereits
heute geschehen ist, wo Preußen nur den Druck der Erzberger-Gothein-Scheide-
mcmnschen Reichstagsmehrheit erfährt, so kann man sich ein Bild davon machen,
was wir von der Einwirkung eines preußischen Abgeordnetenhauses zu erwarten
haben, in dem es zu einer entsprechenden Mehrheitsbildung kommt. <so sehr wir
endlich den Treueid für König und Vaterland schätzen, so würde doch — von
anderem abgesehen (an böhmische Verhältnisse wollen wir gar nicht einmal er-
innern) — der Treueid in vorliegendem Fall kein Schutzmittel sein, da es doch
darauf ankommt, was die Regierung künftig noch verlangen und was sie durch-
gehen lassen würde. . ^ .
Über Einzelheiten der preußischen Polenpolitik mag man streiten. Die
beiden Hauptpunkte müssen festgehalten werden: die deutsche Bauernanstedlung
und die deutsche Schule. Was der Herausgeber der „Grenzboten" über die Aus-
Ueferung der Schule im bisher russischen Polen gesagt hat. das trifft in erhöhtem
Maß für die preußischen Grenzprovinzen zu. Hinzu kommt die Frage der all¬
gemeinen Steigerung des polnischen Einflusses durch du-, geplante Verfassungs¬
änderung. Warum sollen wir das Wahlrecht so ändern, daß den Polen in
Provinz und Gemeinde das Übergewicht verschafft wird? I)r. Reiche sagt Mit
Recht: „Handelt es sich doch darum, ob der schwarze oder weiße Adler über
Posen und vielleicht auch über Westpreußen und Schlesien herrschen soll". Und
ebenso: „Fest müssen die Dämme gegen die slawische Flut sein". Gerade weil ich
hier vollkommen mit Dr. Reiche übereinstimme, bin ich Gegner der geplanten
Verfassungsänderung. So wenig ich behaupten will, daß die Verfassungseinnch-
wngeu die einzigen in Betracht kommenden „Dämme" sind, so sehr ich davon
überzeugt bin. daß auch auf die Stimmung, die Anschauungen des Volks Gewicht
5u legen ist. so darf man doch die Verfnssuugseinrichtungen als Dämme nicht gering
schätzen. Es handelt sich vielmehr darum, die Dämme festzuhalten, die das
Deutschtum schützen. Und überdies liegen die Dinge noch so, daß die Gegner
des Deutschtums Dämme zu dessen Bekämpfung aufrichten wollen.
Wir haben bisher von den vielen und großen Gefahren der völligen
Demokratisierung unserer Verhältnisse gesprochen- Stehen ihnen nun etwa erhebliche
Vorteile gegenüber? Wir wüßten keinen - einzigen zu nennen. Der Stadtrat Dr.
Luther, einer der angesehensten Männer der deutschen Selbstverwaltung, hat nach¬
drücklich hervorgehoben, daß die Stadtverwaltungen unter der Herrschaft des
Dreiklassenwahlrechts durchaus sozial gehandelt haben und handeln. Durch freie
Entschließungen haben sie — sagt er („Deutschland und der Weltkneg"^Sette WK)
— in mehrfacher Richtung die 'sozialen Leistungen der Reichsgesetzgebung sogar
überboten, und zwar in großem Umfang. Ist da also eme große ^Änderung
nötig? Stadtrat Luther spricht von der preußischen Stadtverfassung. >M Baden,
dessen Staatsangehöriger ich bin. hat das abgestufte Wahlrecht der Gemeinoen
sich ebenfalls durchaus bewährt. Niemand wird gegetz eme badische Stadtver¬
waltung den Vorwurf erheben können, daß sie sich von einem engherzigen
Klassenstllndpnnkt leiten lasse.
Das einzige, was sich für die völlige Demokratisierung der Gemeinden anführen
Ueße, wäre der Hinweis auf den „Zug der Zeit", der aber oft nur der Herren
eigener Geist ist. Und man weiß ja zur Genüge, daß sich hinter der angeblichen
großen Volksstimmung recht viel internationale Beziehungen mannigfaltiger Art
verbergen. Wenn es sich um das wahre Wohl des ganzen deutschen Volks
handelte, so wären wir der geforderten Neuerung natürlich geneigt. Indessen
gerade aus dem Eifer für das Volkswohl widersprechen wir ihr. .
^ Da, wie wir gesehen, Gemeindewahl und Wahl für den Landtag in nahem
Zusammenhang miteinander flehen, so mögen hier zum Schluß noch ein paar
Worte über die zweckmäßigste Art der Änderung der Landtagswahl Platz finden.
>w den „Grenzboten" ist von ihrem Herausgeber kürzlich mit Recht betont worden,daß es hente für unser Vaterland vor allem darauf ankomme, die Kräfte nach
Ma zusammenfassen, und daß dahinter die inneren Fragen zurücktreten müßten.
^>cum sich aus diesem Gesichtspunkt die Notwendigkeit ergibt, die Wahlrechtssrage
?naht um jeden Preis jetzt rasch zu erledigen, so spricht der rein sachliche Grund
Mer hohen Wichtigkeit ebenfalls dafür, sie nicht übers Knie zu brechen. Eine
gründliche und darum etwas längere Beratung bedeutet wahrlich keinen Verlust,
ist hier besonders auch in Betracht zu ziehen, daß neue Probleme für die
Wahlrechtsfragen in der letzten Zeit hervorgetreten sind. Namentlich wird dem
berussständischen Parlament heute eine Aufmerksamkeit gewidmet, die vor einigen
Jahren noch unbekannt war. Als im Jahre 1913 in den „Grenzboten" Graf
Albrecht Stolberg-Wernigerode seine Abhandlung „Eine Reform des preußischen
Wahlrechts", die die berufsständische Vertretung empfahl, veröffentlichte (auch als
Sonderabdruck im Verlag der „Grenzboten" erschienen), konnte seine Äußerung
fast noch als eine einzelne ^stimme gelten. Inzwischen aber haben sich die Sym¬
pathien für eine solche Vertretung gemehrt, und von verschiedenen Ausgangspunkten
aus wird sie gefordert. Wenn Graf Stolberg die Berücksichtigung der Selbstver¬
waltungskörper forderte, so wird auch dieser Gedanke heute stark vertreten. Von
neuesten Beiträgen möchte ich hier einige Artikel eines Altmeisters der Rechts¬
wissenschaft, Professor Binding im „Tag", Jahrgang 1917, Ur. 266 bis 268
nennen, der mit Recht betont, daß die Vertretungskörper im Staat nicht bloß
auf eine Art zustande kommen müßten, sodann einen Aufsatz von Staatsanwalt
l)r. Ficker, „Der Weg zu einem gerechten Wahlrecht", in den „Anhaltischen Nach-
richten" vom 1. Dezember 1917, ferner einen Artikel eines im praktischen Leben
der Selbstverwaltung stehenden Mannes, des Direktors der Vereinigung der
preußischen Landkreise, U. v. Hasselt, ebenfalls im „Tag", Jahrgang 1918, Ur. 4,
endlich die soeben erschienene Schrift des Professors Ed. Heyck, „Parlament oder
Volksvertretung der Berufe und der Arbeit" (Halle a. S.. N. Mühlmann)"). Wenn
die Gründlichkeit der Prüfung der neueren Vorschläge die Fertigstellung des Wahl¬
gesetzes um ein paar Monate hinausschiebt, so wird es immer zeitig genug fertig
werden.
Endlich möchte ich auch noch an das ältere österreichische Wahlrecht, das
einem berufsständischen nahekam, erinnern. Es hat sich besser bewährt als das
gegenwärtige ganz demokratische und hat dem österreichischen Staat weniger
Schwierigkeiten gemacht, während — es ist traurig, daß man die Sache so for¬
mulieren muß — das nach dem gegenwärtigen Wahlrecht gewählte Abgeordneten¬
haus ihn fast zum Stillstand zu verdammen droht. Die Schwierigkeiten Öster¬
reichs werden wahrlich nicht durch die Steigerung der -Demokratie gehoben. Daß
aber auch uns Reichsdeutschen die Verstärkung der Demokratie Gefahren bringt,
hat unsere obige Betrachtung gelehrt. Unser Ideal ist ein nicht extrem demo¬
kratisches und doch volkstümliches Parlament, eine Volksvertretung, welche die
staatliche Entwicklung nicht hindert, sondern fördert.
Fast drei Monate haben unsere Di¬
plomaten dazu gebraucht, den Frieden mit
den Maximalsten zustande zu bringen. Daß
dahinter ein Friede mit ganz Rußland steht,
kann mit gutem Gewissen nicht behauptet
werden. Rußland, das will sagen jenes ge¬
waltige Volkswirtschaftsgebiet, das von der
Weichsel nach Osten bis an die Gestade des
Stillen Ozeans reichte und zu einem Staate
zusammengefügt war, besteht nicht mehr.
Was an seiner Stelle entstanden ist, ist noch
nicht definierbar; es ist drüben alles im Fluß.
Die Wraina ist noch kein fertiger Begriff,
sondern eher ein Wort, in das sich der Poli¬
tische Begriff erst hineinbauen soll. Ober
schließlich einen selbständigen Staat, einen
russischen oder mitteleuropäischen Bundesstaat
"der eine russische Provinz darstellen wird,
vermögen wir noch nicht zu erkennen und,
wenn wir ehrlich gegen uns selbst sind, so
gestehen wir uns auch, daß Wir noch gar nicht
klar darüber sind, was wir uns wünschen
sollen. In der Politik soll man zweckmäßig
das wünschen, was unabänderlicherweise
kommen muß.
Ohne Frage wird zunächst die innerpoli-
kische Auseinandersetzung weitergehen. Die
Maximalisten können unmöglich Herren der
Regierungsgewalt bleiben, wenn sie auch dem
russischen Volk die Beendigung des Krieges
Yachten. Den Frieden bringen sie ihm
NichtI Dadurch verliert der Friedensschluß
Naturgemäß sehr an politischer Bedeutung.
^ ist eigentlich vorerst ein militärisches Er¬
eignis, das uns sehr erheblich entlastet, nicht
vollkommen freimacht im Osten. Denn wollen
du'r die wirtschaftlichen Vorteile, die der
Friedensschluß nach sich ziehen soll, nutzen,
so bedürfen wir des sozialen Friedens auch
^ Rußland, muß die Auseinandersetzung
zwischen der Ukraina und den Maximalisten
beendet werden, muß die friedliche Entwick¬
lung wenigstens der Ukraina sichergestellt sein.
Daneben hat eine intensive Arbeit an den
von der Armee noch besetzten Gebieten zu
^folgen. ES wird noch ein hartes Stück
^den zu leisten sein, ehe sie zu dem Wunsche
gelangen, für „ewig" mit Deutschland ver¬
eint zu bleiben. Da aber hüte man sich,
der nationalen Zugehörigkeit eine größere^
Bedeutung beizulegen, als es die Unistände
erfordern. Die Liebe der Völker geht doch
im wesentlichen dnrch den Magen, wird be¬
stimmt durch die wirtschaftlichen Belange.
Man zeige darum den Bewohnern der bal¬
tischen Provinzen, Weißrußlands und Litauens,
daß sie größeren Bcrdienstmöglichkeiten ent¬
gegengehen, leichteren Arbeitsbedingungen,
besseren Rechtsverhältnissen als bei Rußland
oder in Selbständigkeit. Man vermeide Ma߬
nahmen, die in erster Linie den Anschein des
Opfers für die deutsche Sache haben!
Der beste Weg dazu wird sein die För¬
derung großer wirtschaftlicher Aufgaben, an
denen das ganze Land beteiligt ist, Aufgaben,
die zu Keimen und Trägern eines Staats-
gedankens werden können. In solchem Staate
wird die politisch und wirtschaftlich befähigste
Nationalität die Führung übernehmen mit
und gegen die Einflüsse Deutschlands oder
Moskowiens. Wir sind überzeugt, daß das
baltische Deutschtum in dieser Hinsicht eine
bedeutende Rolle spielen muß. Wirtschaftlich
tüchtig, von hoher politischer Moral, in einem
jahrzehntelangen Kampf gegen die Nnssifizie-
rung politisch herangebildet, erscheinen die
Völker als die natürlichen Führer des Landes.
Sollte es gelingen, sie auch mit einem Tropfen
sozialen Oich zu salben, so werden sie die
ihnen noch einmal von der Geschichte über¬
tragene Ausgabe ruhmvoll durchführen.
Der Friede mit den Maximalisten bedeutet
wie gesagt noch nicht den Frieden mit Nußland.
Aber er gibt uns Zeit und Raum zur Er¬
richtung neuer Grundmauern für spätere
friedliche und vertrauensvolle Beziehungen
zu den Völkern des ehemaligen Nußland.
Wie diese Grundlagen beschaffen sein werden,
das aber wird in hohem Maße auch davon
abhängen, wie unsre Armee im Westen die
ihr bevorstehenden gewaltigen Aufgaben zu
lösen imstande ist. Dort muß die weitere
Vorentscheidung über deu Inhalt des künftigen
Friedens auch mit den Russen fallen.
Auf
der Jubiläumstagung des Bundes der Land-
Wirte sagte Herr von Oldenburg Januschau:
„Was außen geschehen ist, überwindet die
Tapferkeit unserer Armee, aber im Innern,
wie wir da wieder herauskommen sollen, das
ist nur Gott bewußt. Der Kanzler, der das
wieder in Ordnung bringt, auf den wird ge¬
schossen werden, und wenn auf ihn nicht ge¬
schossen wird, so taugt er nichts. Es kommt
bloß darauf an, ob er auch schießt."
Die Äußerung vom schießenden Kanzler
wurde im Handumdrehen zum geflügelten
Wort; prompt arbeitete die Legendenbildung
durch Zusatz des „Volkes" als Objekt und
des Maschinengewehres als Mittel, und die
Parteitaktik war um eine Waffe reicher. Im
Reichstag ritt man schon in drei Sitzungen
den oldenburgischen Schimmel zu Tode, wie
Abg. Stresemcmn launig und treffend zugleich
bemerkte.
Wir verspüren keinerlei Neigung, den
konservativen Heißsporn — der übrigens nicht
Fraktionsmitglied ist — in Schutz zu nehmen.
Er hat sich wie gewöhnlich im Tone gröblich
vergriffen, obwohl diesmal zweifelhaft bleiben
wird, ob seine Äußerung nicht bildlich ge¬
meint war. Entscheiden könnte das nur, wer
sie gehört hat, und das Verholten der Ver¬
sammlung — die Berichte verzeichnen „Heiter-
keit" und „stürmischen Beifall" — scheint da-e
für zu sprechen. Denn wir glauben nicht,
daß es Deutsche gibt, die „vor Freude heulen"
bei dem Gedanken, daß auf Angehörige ihres
Volkes geschossen wird, wie daS der „Vorwärts"
(19. Februar) unterstellt. '
Gerade diese Seile kleidet höhnische Ent¬
rüstung schlecht, denn sie treibt es genau so
arg wie Herr von Oldenburg! Findet man
doch in dem führenden Blatte der Berliner
Sozialdemokratie folgenden „Aufruf":
„Es sind unsere Feinde . . . Wir müssen
sie schlagen... Und wir werden sie schlagen,"
so steht es in fetten Lettern, dickunterstrichen
mitten im Text, und der Leser freut sich dieses
Bekenntnisses zur Parole vom 4. August. Der
Ahnungslose! Nicht das Baralongvolk oder
die Revanchefanatiker sind mit den „Feinden,,
genieint, sondern, wie „zwischen den Zeilen"
bei genauerem Hinsehen deutlich wird, die
eigenen Landsleute, „die unter dem irre¬
führender Namen .Vnterlanbspartei' den
.Krieg ins Endlose fortsetzen wollen!" Auf
„Feinde" wird jn Wohl auch „geschossen"!?
Wo ist da noch ein Unterschied von den Über¬
treibungen des Januschauer .Kammerherrn?
Nur eine Empörung ist am Platze, die
nämlich, daß die geile Pflanze der deutschen
Zwietracht wieder üppig ins Kraut geichossen
ist. Und nur einer darf mit Recht höhnisch-
zufrieden dreinschauen, der wahre „Feind"
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls ilei Ablehnung eine Rücksendung
nicht »erbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Anfsntzc nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Barläus „cstatrct.
«erantw örtlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterselds West. — MaimskriptsendunaM u«d
' Briefe werde» erbeten unter der Adresse:
An die Schriftlcitunn der Grenzboten in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer 35».
ffernsprechcr des Herausgebers: Amt Lichterfelde <Is8, des Verlags und der Schrislleirnng: Amt Liitjom Will,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in, Berlin SV IZ, Tempelhofer Ufer 35».
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Veriln LV le. Dessauer Strafe
ieser Tage schrieb mir ein Freund: „Wenn wir zu unserer Aus-
dehnung Gebiete gebrauchen, und wir brauchen sie zweifellos, so
gibt es für uns nur zwei Wege: Aussiedlung durch Gewalt oder
Aussiedlung durch wirtschaftliche Überwindung. Die erstere ist un¬
moralisch, aber ich sah sie bisher als ultima rstiv an. Die zweite
ist mir, bisher wenig erfolgversprechend, erst durch Ihren Aufsatz („Polenpolitik")
als zweckmäßiger Ausweg annehmbar geworden. . ." Was ist unmoralisch?
Durch weiche Rücksichtnahme auf Gefühle eine schleichende Krankheit sich solange
ausbreiten lassen, bis sie den Körper zerfressen hat oder der harte Entschluß zu
einer Operation ans Leben und Tod? Ist es wirklich unmoralisch, den Funken
eines künftigen Krieges, der, allen Staatsmännern sichtbar, nicht einmal mehr
unter der Asche glimmt, aufzutreten und den schwelenden Zunder in alle Winde
SU zerstreuen oder mit ftommem Augenniederschlagen zu warten, bis das ge¬
fährdete Haus brennt? Ist es moralisch, einem Volk die Möglichkeit zu geben,
sich zum Kampf gegen uns zusammenzuschließen, indessen Hunderttausende unserer
Stammesgenossen draußen in der Gefahr schweben, entrechtet und geknechtet, von
Haus und Hof verjagt, schließlich wie Ratten mit Knütteln totgeschlagen zu werden?
An der Wolga harren Hundertfünfzigtausend deutsche Bauern des Rufes, der ihnen
«me neue Heimat schafft, da ihnen die seit hundert und mehr Jahren durch ihrer
Hände Arbeit eroberte genommen worden istl Angesichts solcher Tatsachen sollte
es unmoralisch sein, wenn wir unsere offenen Feinde ersuchten, jenen Platz zu
Machen? Nein, ich kann nichts von Unmoral in dem Vorschlag entdecken, der
stoischen die preußischen und russischen Polen einen breiten Siedlungsstreisen für
die deutschen Rückwanderer aus Rußland bereitgestellt haben will durch Aussiedlung
der polnischen Bevölkerung I Es wäre im Gegenteil eine an Unmoral grenzende
Schwäche, wollte heute die deutsche Regierung auch nur auf ein Mittel verzichten,
das mit einiger Aussicht auf Erfolg dem Ausbruch eines neuen Kontinentalkrieges
an unserer Ostgrenze vorbeugen möchte. Nachdem wir gezwungen waren, Staaten
niederzureißen wie Kartenhäuser, darunter das einst mächtige Reich der Zaren,
nachdem wir selbst aus Millionen Wunden geblutet und unsere Frauen und Kinder
drei lange Jahre hindurch gedarbt haben, nachdem wir Hunderttausende edler
Männer der Habgier unserer Feinde opfern mußten, nur um selbst leben und
wirken zu können, kann es nie und nimmer unmoralisch sein, wenn wir unsere
Feinde von den Einfallstellungen vor unserer Burg vertreiben. Die Frage der
Aussiedlung polnischer Bevölkerungsteile aus Gebieten des ehemaligen Nußland —
nur um diese kann es sich handeln, nicht um die alten preußischen Gebiete —,
um daselbst deutschen Flüchtlingen aus aller Welt eine neue Heimstätte zu schaffen,
ist keine Frage der Moral, sondern ausschließlich eine solche politischer und wirt¬
schaftlicher Technik. Und welche technische Aufgabe gäbe es. die wir mit unseren
Machtmitteln der Wissenschaft und des Schwertes nicht zu lösen imstande wären?!
Wir sind vom Geschick berufen, den deutschen Reichsbau auszubauen, ihn zunächst
im Osten den neueren Ansprüchen der Kontinental- und Weltpolitik anzupassen.
Es hieße das Blut der gefallenen deutschen Männer verleugnen, wollten wir vor
den praktischen Konsequenzen dieser Berufung, die durch unsere Siege verbrieft
ist, bebend zurückweichen. Was zwischen unseren alten Ostgrenzen und den öst¬
lichsten Vorposten des Besetzungsheeres liegt, ist das Material zum Bau, zum
Teil vorbereitet, zum Teil in der Vorbereitung erprobt, zum Teil schon als un¬
tauglich erkannt. Durch die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk ist der Bauzaun
gezögert
Friedrich Wilhelm der Erste sagte einst seinem Sohne, dem nachmaligen
großen König: „Dein größter Reichtum sein die MenscherI" Das Wort gilt auch
in unseren Tagen; doch haben wir hinzugelernt, daß es weniger das Einzel-
individuum ist, als vielmehr die um den Staatsgedanken herum organisierte Masse
der Individuen, die diesen Reichtum ausmacht. Eine den deutschen Reichs- und
preußischen Staatsgedanken bekämpfende organische Masse macht das Einzelindi-
vidium, aus dem sie besteht, zu unserem Feinde, macht es untauglich, als Material
für unsern staatlichen Umbau verwendet zu werden.
In der deutschen Presse hat man bisher die Fragen des Ostfriedens zu¬
sammenhanglos einzeln behandelt. Man hat das polnische, das littauische, weiß-
russische, ukrainische und neben dem baltischen auch das kurländische Problem in
mündlicher und schriftlicher Aussprache in entsprechenden Vereinen, Gesellschaften
und Konventikeln behandelt, hat sich brav herum gestritten und sich gegenseitig
Fehde und Kampf angesagt. Mit deutscher Gründlichkeit und Engherzigkeit wurden
polnische, littauische, baltische und die dazugehörigen Neben- und Unterinteressen
vertreten, als ginge es um diese und nicht das große Gesamtinteresse der Deutschen.
Wer aber wagte daran zu erinnern, daß Deutschland doch auch noch da sei, wurde
von allen diesen Spezialgruppen mit Haß und übler Nachrede begeifert, und war
er gar amtlich tätig, möglichst aus seiner Stellung hinausintrigiert. Die Polen
waren in dieser Richtung besonders glücklich und erfolgreich. Die Bestimmungen
des Friedensvertrages mit der Ukraine haben sie indessen nachdenklich gestimmt,
wenn auch nicht über ihre eigene Schuld daran. Nun scheint bei uns ein Streit
über Litauen anzuheben. Die „Deutsche Zeitung", die kürzlich auf die Bestrebungen,
eine sächsische Sekundogenitur in Litauen einzurichten, hinwies, hat durchaus Recht,
wenn sie sagt, es ginge ja gar nicht um Litauen. Nein, es geht wirklich weder
um Polen, noch um Litauen, noch um Estland, Livland, Kurland, sondern aus-
schließlich um Deutschland. Alle diese Gebiete und Völkerschaften auf ihnen und
die sich daraus ergebenden Probleme sind mehr oder minder geeignetes Material
für den östlichen Anbau des Deutschen Reiches.
Jeder Bau beginnt mit der Fundamentlegung.
Nach der Zertrümmerung Rußlands, deren ganzer Umfang weder nach der
negativen noch nach der positiven Seite schon zu übersehen ist, hatte die Regie¬
rung dafür zu sorgen, daß sich in unserem eigenen Mauerwerk keine Risse bilden.
Die Gefahr scheiM beseitigt. Jetzt heißt die Frage nicht: was machen wir mit den
Nationalitüten der besetzten Gebiete, sondern: wie fassen wir die Gebiete wirt¬
schaftlich zusammen, um sie zu leistungsfähigen Trägern einer Brücke unserer
Interessen nach dem Osten zu machen? Das gilt sowohl im wirtschaftlichen, wie
im politischen Sinne. Politiker lernen zwar erwiesenermaßen nicht viel aus der
Geschichte, aber sie sollten doch wenigstens nicht so leicht vergessen, was ihnen
einmal in Fleisch und Blut übergegangen zu sein schien. Ohne das große, alte
Nußland als Hinterland, daran wollen wir uns immer erinnern, wären wir nicht
M der Kraft gekommen, die es uns ermöglicht hat, den Kampf gegen England
wirtschaftlich und militärisch erfolgreich zu führen; auch mit dem neuen Rußland
außerhalb der Ukraine müssen wir uns zu stellen verstehen. Rußland ist daS
Land der ganz großen Probleme und Fragen. Keine russische Regierung hat sich
mit politischen Kleinigkeiten befaßt. Als Petersburg und Moskau durch eine Eisen-
bahn verbunden werden sollte, und bei den beteiligten Andern Meinungsverschie¬
denheiten über die Linienführung auftauchten, nahm Nikolaus der Erste ein Lineal
und zog über alle Privatinteressen hinweg die Linie, die die kürzeste Entfernung
zwischen zwei Punkten ist. schnurgerade, nur die Waldaihöhe umgehend, durch,
laufen die Schienenstränge die Entfernung von 900 Kilometern. Rußlands
Minister waren alle mehr oder weniger Revolutionäre: Miljutin. der Bauern¬
befreier, Pobjedonoszew, der Kircheneiniger, Witte, der Schöpfer der modernen
Großindustrie, Stolypin. der Zerstörer der Bauerngemeinde, des Fundaments
des zarischen Rußland, Miljukow, der Kadett, und Trotzki, der den Kampf gegen
das Bürgertum der ganzen Welt zu führen gedachte! Und jeder von diesen
Männern hat fanatische Verehrer gehabt! Wollen wir den Russen gewinnen, ihm
wenn nicht Vertrauen, so doch Achtung einflößen, so dürfen wir uns bei der
Neuordnung der Ostmark nicht krämerhast an Kleinigkeiten klammern. Alles,
selbst Orgien der Rache, würde der Russe verstehen, nur nicht kleinliche Engherzigkeit.
Die würde ihn anwidern. Und wir müssen die Russen für uns gewinnen, wollen
wir auch nach dem Weltkriege llberseepolitik und Weltpolitik treiben.
Der Weg zum Herzen der Russen führt nicht durch Nachgiebigkeit. Daß
Deutschland das fünfundvierzigmal größere Rußland zertrümmerte, das imponiert.
Verscherzen wir uns diese Stimmung nicht, um so weniger, als sie vielfach noch im
Unterbewußsein schlummert. Die Russen sind im Grunde genommen friedfertig von
Charakter, mehr Ackerbauer und Kaufleute wie Soldaten, darum auch keine
Organisatoren. Die Träger ihrer Feindschaft gegen uns sind vorwiegend
Männer unseres eigenen Stammes, dazu Juden und Polen und die fremden
Konkurrenten. Suchen wir der russischen Seele näher zu kommen, dieser primitiven,
"uf leichten Gewinn gerichteten, nicht jenem Bastardgeist der Intelligenz! Diesen
könnten wir ignorieren trotz Presse, wenn wir jene zu fassen wissen. Rußland
nutz wirtschaftlich angefaßt werden. Hätten wir ihm 1871 von unserm Milliarden-
segen abgegeben und später Frankreich als Geldgeber ausschalten können—wir waren zu
arm dazu — wer weiß, ob es dann trotz aller russischer Balkangelüste zur franko-
russischen Allianz gekommen wäre.
Wir können Rußland auf wirtschaftlichen Wegen gewinnen durch die Art,
wie wir die neue Ostmark einrichten. Nicht vom Recht der Nationalitäten aus¬
gehend, sondern von wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus sollten die Gebiete von
der Ostsee bis zum Pripet organisiert werden. Fangen wir erst einmal an, die
chemische, lettische, litauische, weißrussische, jüdische und polnische Frage in diesen
Gebieten lösen zu wollen, so verfallen wir der Zersplitterung und ertrinken im
Kleinkampf durchaus nicht etwa heroisch, sondern absolut lächerlich. Auch die
Nationalitätenfragen müssen sich über die Wirtschaft lösen lassen und zwar nicht
durch uns, soudern durch die zunächst beteiligten Nationalitäten selbst. Ein gro߬
zügiger Wirtschaftsplan könnte alle die kleinen Völkerschaften am Baltikum mit der
Welt verbinden, und dazu bedürfen sie einer Weltsprache. Russisch oder deutsch,
eine dieser Sprachen wird der Bewohner der Ostmark anch in Zukunft sprechen
müssen. Wenn auch vor der Hand noch das Russische überwiegt, so wachsen in
diesem edlen Wettstreit die Chancen der deutschen Sprache in dem Maße, in dem
wir den Handelsverkehr, seine Wege und großen Organe, wie Banken und Presse,
beherrschen und — wie wir es fertig bringen, den großpolnischen Gedanken aus
dem Baltikum fern zu halten. Seine Träger sind der polnische Großgrundbesitz
in Litauen in erster Linie und in zweiter die polnischen Angestellten in Städten
und Dörfern und aus Gütern deS deutschen Baltikums.
Das ist kein Widerspruch zu dem oben Ausgeführten, sondern dessen Er¬
gänzung. Große politische Aufgaben lassen sich Nicht nach einer einfachen Formel
lösen: es sind immer nebeneinander laufende und ineinander greifende Berech¬
nungen aufzustellen. Die Polen sind mit ihrem politischen Ehrgeiz ein störendes
Element zwischen den Deutschen und Russen, da sie sich trotz dreijährigen MühenS
im Kriege von unsrer Seite nicht bereit erklären können, ohne Borbehalt auf den
Besitz deutscher Provinzen zu verzichten, so nutz ihrem Ehrgeiz auf andre Weise
der Nährboden entzogen werden.
Aus diesen beiden Aufgaben: Verständigung mit dem Russentum und Über¬
windung des großpolnischen Gedankens, ergibt sich der Grundriß zu den Fundamenten
der neuen Ostmark. Zunächst im Norden: Zusammenfassung der Gebiete ohne
Rücksicht auf die Nationalitäten zu einer gewichtigen Wirtschaftseinheit, in >der der
tüchtigsten und kultiviertesten, dabei auch kapitalkräftigsten Nationalität ohne
weiteres die führende Rolle zufiele. Ein Blick auf die Karte lehrt, daß die Achse
dieser Einheit nur der Dünastrom, bis herauf nach Polock, das sind etwa
400 Kilometer, das Herz aber Riga, an der See und doch mitten im Lande
gelegen, sein kann. Riga zugleich Haupthafen für Rußland, die regulierte Dura,
seine bedeutendste Schlagader im Weltverkehr. Beide zusammen auch das finan¬
zielle Rückgrat des neuen Staates. Ihn bilde man aus Estland, Livland, Teilen
des Gouvernements Witebsk, Kurland und Litauen, ohne eine historische An¬
knüpfung als Königreich in Realunion mit dem Deutschen Reiche.
Dann hätte man die Sandhaufen der Feldschlacht, von denen ich in Heft 5,
Seite 135 sprach, in die feste Burg eines schützenden und geschützten Staates ge-
wandelt. Südlich davon folge als preußische Provinz Südpreußen, der nicht
Zur Ukraine gehörige Teil des Gouvernements Grodno, Lomsha und Plock, be¬
grenzt im Süden durch Bug und Weichsel. Dies Gebiet sei deutsches Koloni¬
sationsland, ebenso wie westliche Teile des Gouvernements Warschau, Kalisch und
Petrikau. Das Siedelungsland wäre in erster Linie den Donationsgütern, dann
dem Großgrundbesitz zu entnehmen. Etwa auszusiedelnde Bevölkerung wäre nach
Weißrußland zu leiten, wo genügend Großgrundbesitz zur Besiedlung durch
Bauern vorhanden ist, und die geringe Bevölkerungsdichte auch sonst noch Hundert¬
tausenden Raum bietet. Ob es zweckmäßig wäre, dies Gebiet an Rußland zurück¬
zugeben, mag späterer Erörterung vorbehalten bleiben. Der Rest von Polen
könnte zu einem vollständig selbständigen Staate gemacht werden, schon aus dem
einem Gesichtspunkte, weil auch ein unselbständiges Gebilde niemals aufhören würde
in der ganzen Welt gegen Deutschland zu intrigieren.
Ich meine die hier vorgetragene Skizze einer Neuordnung unserer Ver¬
hältnisse im Osten kommt dem, was wir uns nur wünschen können zu erreichen,
am nächsten. Sie verteilt die Last des Baues auf viele Pfeiler zu entsprechenden
Teilen. Der schwächste Punkt ist die polnische Ecke. Dort wird wegen des un¬
sichern Baugrundes die Gefahr des Zusammensturzes bestehen bleiben, so¬
lange die deutsche Neichsregierung sich zu durchgreifenden Maßnahmen nicht zu
entschließen vermag. Zu solchen Maßnahmen gehört das Recht der Aussiedlung
polnischer Bevölkerungsteile aus den uns besonders gefährdenden Kreisen von
Russisch-Polen.
Finden wir jetzt im Anschluß an den Krieg nicht den Mut diejenigen
Positionen auf dem gewonnenen Schlachtfelde zu beziehn, die jedes Anrennen
gegen unsere Gesamtstellung von vornherein aussichtslos machen würden, so müssen
wir darauf gefaßt sein, daß der Kampf um den Boden auf preußischem Gebiet
fortab in für uns nachteiligen Stellungen wird geführt werden müssen.
Was du ererbt von deinen Vätern hast.
Erwirb es, um es zu besitzen!
er Kampf um das gleiche Wahlrecht ist entbrannt. Nicht leicht
wird es der nationalliberalen Partei, Stellung in ihm zu nehmen.
Zu oft hatten sich die entscheidenden Instanzen gegen die Über¬
tragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen ausgesprochen, aus
zu verschiedenartigen Schichten setzt sich die Gefolgschaft der Partei
zusammen, als daß eine einheitliche Stellungnahme zu erwarten
gewesen wäre.
So verständlich es daher auch sein mochte, daß der Wortführer der Fraktion
un Abgeordnetenhause es bei der ersten Lesung ablehnen mußte, für seine Partei
schon jetzt Stellung zu nehmen, so bedauerlich war doch diese Tatsache. Der Streit,
ob die Wahlrechtsfrage von größerer oder geringerer Bedeutung für Volk und Vater¬
land ist, ist müßig; wie so oft in der Politik kommt es nicht auf die Tatsache als
solche an, sondern auf die Bedeutung, die ihr beigemessen wird, und da kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß weite Schichten des Volkes die Frage des Wahlrechtes
als den Prüfstein dafür betrachten, in welchem Maße die Regierung in der
Folgezeit mit dem Volke zusammenarbeiten will, und diese Frage ist so stark in
den Vordergrund geschoben worden, daß andere, vielleicht gleich wichtige Fragen, wie
z. B. die Ausdehnung der Bureaukratie, weit mehr in den Hintergrund getreten
sind, als es für das Staatswohl notwendig wäre. Die Wahlrechtsfrage ist so
vielseitig erörtert worden, daß sich etwas Neues über dieselbe kaum noch sagen
läßt. Wenn in einer derartigen altbekannten und im Vordergrunde des Interesses
stehenden Frage die Partei nicht geschlossen Stellung nimmt, so wird dies ihre An¬
hänger vielfach in Verwirrung bringen, diejenigen aber, die im Laufe des Krieges sich
zur Anhängerschaft -an die Partei durchgerungen haben, zurückschrecken. Die
Wirkung, die diese Haltung der Fraktion auf die Partei ausübt, kann nicht anders
als unheilbringend sein.
Vom Standpunkt des einzelnen Individuums aus kann die Wahlrechtsfrage
mit Erfolg überhaupt nicht erörtert werden. Weder Besitz noch Bildung, weder
Alter noch Familienstand, weder Amt noch Beschäftigung geben einen Maßstab
für die politische Reife des einzelnen. Auch der Umstand, daß jemand Jahre
hindurch sein Leben im Interesse des Staates in die Schanzen geschlagen hat,
bietet keine Gewähr dafür, daß sein politisches Verständnis sich vergrößert Hut.
Mißmut und Verärgerung, Verengerung des Horizontes, jahrelanges Getrennt¬
sein vom Vaterlande können das Gegenteil bewirkt und den Sinn für das
Wesentliche abgestumpft haben. Gibt es aber keinen Maßstab für die Einschätzung
des einzelnen in seinem politischen Verständnisse, so gibt es nur zwei Möglichkeiten,
entweder man verwirft überhaupt Wahlen und kehrt damit zum absoluten Staate
zurück, oder aber man zählt lediglich die Stimmen im ganzen Staate und berechnet
sie nach dem System der Verhältniswahl, so daß die Gewählten genau der Zahl
ihrer Anhänger im ganzen Staate entsprechen. Die Rückkehr zum absoluten Staate
wird heute kein Einsichtiger wollen, während der andere Weg, die Durchführung
des sozialdemokratischen Ideals, zu der größtmöglichen Ungerechtigkeit führt, es
erstickt die weniger zahlreichen Volksschichten zugunsten der großen Menge und
setzt wertvolle Güter im Staate auf das Spiel. Und die vornehmste Aufgabe
des Staates, die Hilfsbedürftigen, soweit sie der Hilfe wert sind, zu stützen, wird
ihm dadurch unmöglich gemacht, die Gesellschaft frißt den Staat auf und macht
ihn überflüssig.
Hieraus folgt mit zwingender Notwendigkeit, daß die Frage des Wahlrechts
nicht vom Standpunkte des einzelnen, sondern nur vom Standpunkte des Staates
aus gelöst werden kann. Das Naturrecht hat sich überall als ein Irrweg gezeigt,
nur in der Frage des Wahlrechts hält man vielfach noch immer an dem Irrwahne
fest, daß mit jedem Staatsbürger das ihm zukommende Wahlrecht geboren werde.
Das sachliche und das geistige Eigentum, die Vertrags- und Handlungsfreiheit
dürfen heute nur insoweit betätigt werden, als sie im Interesse des vom
Staate repräsentierten Ganzen nicht schädlich wirken. Nur bezüglich der Frage
des Wahlrechts geht man noch immer von längst als falsch erkannten Grundsätzen
aus, und dies tut gerade die sozialdemokratische Partei, die im übrigen die
staatliche Beschränkung des einzelnen nicht scharf genug betonen kann.
Geht man aber vom Standpunkte des Staates aus, so kann die Frage
nur gestellt werden: Welches Wahlrecht ist heute für den preußischen Staat das
beste, und welches setzt ihn den geringsten Erschütterungen aus? Diese Frage
aber wird nicht dadurch gelöst, daß man auf die zu erwartende Demokratisierung
des Abgeordnetenhauses und ihre Folgeerscheinung hinweist. Daß hier schwere
Unzuträglichkeiten in bezug auf die Kultur, die Ostmarken, die Steuerpolitik
möglich sind, wird kein politisch Einsichtiger in Zweifel ziehen können. Dennoch
wird die Einführung des gleichen Wahlrechtes aus diesem Grunde nicht abgelehnt
werden können, wenn zu erwarten ist, daß seine Ablehnung zu noch größeren
Unzuträglichkeiten führen wird. ^ . .
Die Demokratisierung des Volkes ist eine Tatsache, welche acht dadurch
aus der Welt geschafft wird, daß man ihr die Möglichkeit nimmt oder beschränkt,
sich bei den Wahlen zu offenbaren. Da kein Staatsmann auf die Dauer sich
ohne die Zustimmung der großen Volksmassen erhalten kann, so ist es für den
Staat von keiner einschneidenden Bedeutung, ob herrschende Strömungen sich ver¬
fassungsmäßig offenbaren können oder nicht. Derartige Strömungen werden,
wenn sie künstlich zurückgebannt werden, mit um so größerer Gewalt sich einen
Ausweg suchen. Wenn man demgegenüber darauf hinweisen will, daß die demo¬
kratischen Wellen eine vorübergehende Erscheinung seien, so wird sich dies auch,
falls eS zutrifft, in dem Ausfall späterer Wahlen offenbaren und tue Besorgms
gerade derjenigen, die auf diesem Standpunkte stehen, fällt im wesentlichen in steh
zusammen. Daß wir selbst bei dem besten Frieden schweren wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnissen entgegengehen, ist eine Binsen-Wahrheit. Daß ste eme tief¬
gehende Unzufriedenheit im Volke erzeugen werden, steht für denjenigen, der das
Volk beobachtet, nicht weniger fest. Diese Unzufriedenheit wird und muß ste»l
gegen den Staat wenden, wenn in agitatorischer Weise die Schwierigkeiten der
Verhältnisse als der Ausfluß der Ungerechtigkeit des Wahlrechtes gepredigt wird.
Dies ist unseres Einesteils die schwerste Gefahr, in welche sich der preußische
Staat überhaupt begeben kaun, und schon sie allein würde ausreichen, um die
Gefahren des gleichen Wahlrechtes wettzumachen. . . ^ . ^. ^
Dazu kommt, daß die Krone das gleiche Wahlrecht versprochen hat. Gerade
Wenn man der Ansicht ist. daß das monarchische Gefühl im preußischen Staate
stark verankert ist. setzt man die Krone einer schweren Gefahr aus. wenn man
das gleiche Wahlrecht ablehnt. Das Volk hat zu der Macht der Krone heute noch
ein unbedingtes Vertrauen. Letzten Endes wird es der Krone zur Last legen,
wenn ihr Wunsch nicht zum Gesetz erhoben wird. Man wird darauf hinweisen,
daß nur allmählich und unter dem Zwange der Ze-t das Versprechen des gleichen
Wahlrechtes gegeben worden ist. Aus diesem Grunde habe ste ihre Machtmittel
nicht genügend zur Geltung gebracht und dadurch verhindert, daß ihr Wunsch
Gesetz werde. Man wird daraus hinweisen, daß das Versprechen der Freiheits¬
kriege gebrochen worden ist, die Verheißung, die Friedrich Wilhelm IV. 1840 in
Königsberg ausgesprochen, und die Zusage, welche er 1848 gegebeii ha gleich¬
falls nicht erfüllt worden sind, und diese Dinge werden, agitatorisch ausgeschlachtet,
das monarchische Gefühl im Volle schweren Erschütterungen aussetzen, deren Trag¬
weite im voraus nicht zu übersehen ist. aber keinesfalls unterschätzt werden darf.
Andrerseits bedeutet das gleiche Wahlrecht keine Einschränkung der Rechte
d er Krone, weil die Kompetenzen nicht anders verteilt weiden, als ste bisher ver-
t^ne sind. Auch weiß jeder, der sich nur oberflächlich mit der Geschichte befaßt
hat. daß die Macht der Krone nicht von Institutionen, sondern von der Persön¬
lichkeit des Herrschers abhängt und von der Geschicklichkett, mit welcher es ihr ge-
lwgt, große Vollsteile hinter sich zu bringen Oft genug sind absolute Herrscher
"ur der Spielball in der Hand einzelner Personen und Cliquen gewesen, oft
Unug haben konstitutionell stark beschränkte Monarchen es verstanden, ihren
Willen in allen grundlegenden Fragen durchzusetzen. Wer e^ mit der Monarchie
ernst meint, sollte die Grundlagen, auf die sie sich stutzen kann, verstärken und
"icht durch künstliche Zurückdämmung wesentlicher Bolksstimmungen schwachen.
^ Aus diesen Gründen gibt es unseres Erachtens für die Partei nur die
Möglichkeit, dem gleichen Wahlrecht zuzustimmen, und zwar so zuzustimmen, daß
s" nicht als getriebene Menge, sondern als treibende Kraft erscheint, andernfalls
wird sie die Nachteile des allgemeinen Wahlrechtes verspüren, ohne ^me Vorteile
SU genießen. Aufgabe der Partei wird es sein, die durch das gleiche Wahlrecht
M gewärticienden Gefahren auf das Mindestmaß zu beschränken. Daß das Wahl¬
recht, so wie es vorgetragen ist, wesentlich den liberalen und den durch ste ver-
tretenen Schichten deS mittleren Bürgertums Abbruch tun wird, steht fest. Dem
wird durch Änderung der Wahlkreiseinteilung oder durch Einführung der Ver¬
hältniswahlen entgegengearbeitet werden müssen. Ebenso wird Vorsorge dafür
zu treffen sein, daß durch eine entsprechende Ausgestaltung des Herrenhauses und
durch Vermehrung seiner Befugnisse Schäden, die für den Staat aus vorüber¬
gehenden Mehrheiten geschaffen werden, von vornherein beschworen werden.
Die Partei hatte stets als die Grundlage ihres Wirkens betrachtet, die
Zeichen der Zeit zu beobachten. Lehnt die Fraktion des Abgeordnetenhauses auch
nur in einer starken Minderheit das gleiche Wahlrecht ab, und kann man ihr gar
mit einem Anschein von Recht die Verantwortung dafür aufbürden, daß das gleiche
Wahlrecht in Preußen zu Fall gekommen ist, so werden die Folgen für die Partei,
sowohl in Preußen wie im Reiche, unabsehbar sein, und es steht zu befürchten,
daß sie bei den kommenden Wahlen zerrieben wird.
Der bisherige Führer der Fraktion hat als stellvertretender Minister selbst
bekannt, daß er bisher ein Gegner des gleichen Wahlrechts gewesen sei. Wenn
ein Mann von der staatsmännischen Kunst und Erfahrung wie er offen bekennt,
daß die genauere Kenntnis der Verhältnisse ihn davon überzeugt habe, daß
die Einführung des gleichen Wahlrechts eine StaatSnotwendigkeit sei, so sollte das
jedem, ohne Rücksicht auf seine persönlichen Interessen, einen Fingerzeig geben,
daß die Frage in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann, und daß sie
für die Fortentwicklung des Staates sowohl wie für unsere Partei von grund¬
legender Bedeutung ist.
>ibd es für uns überhaupt eine elsaß-lothringische Frage? — Mit
diesem Zweifel möchten weite Kreise vor allem Norddeutschlands
gar zu gern aller Verantwortung und aller Opfer enthoben sein,
die die Auseinandersetzung über die staatsrechtliche Zukunft des
Reichslandes vom Reich und von den Bundesstaaten fordert.
Gewiß: eine internationale elsaß-lothringische Frage gibt es nicht
mehr, seit im Frankfurter Frieden der „historische Prozeß" um die Zugehörigkeit der
beiden Grenzlünder zugunsten Deutschlands entschieden wurde. Auch auf den künftigen
Friedenskonferenzen darf sie nicht vorgebracht werden, um dem geschlagenen Frank¬
reich „die Loslösung vom Feinde zu erleichtern". Aber um so offener dürfen und
müssen wir es uns selbst eingestehen, daß die nationale Not im heutigen Reichs¬
land ein Problem ernstester Art bietet. Ein Problem, das unsere Machtstellung
und unsere Sicherheit im Westen bedroht und das wertvolle Kräfte unseres Volkstums
zur wirtschaftlichen und sozialen Unfruchtbarkeit verdammt.W
Wie all diese bösen Zustände eingerissen sind, darüber ist in letzter Zeit
bereits oft genug gesprochen worden und es steht zu hoffen, daß auch die Kreise,
die bislang gleichgültig oder nur parteipolitisch interessiert zusahen, endlich zur
Wahrschau aufgerufen werden. Richtlinien zur Lösung aber fehlen gemeinhin.
Und nicht nur Rücksichten der Zensur versperren die Aussicht: Giftpflanzen und
Gestrüpp mancherlei Art haben in den letzten fünf Jahrzehnten den Weg über¬
wuchert, der Reich und Reichsland mit dem Ausbau unserer nationalen Selb¬
ständigkeit zusammenführen sollte. Wie die „thüringische Einigungsfrage" ist auch
unsere „elsaß-lothringische Frage" aufs engste verknüpft mit der Entwicklung der
deutschen Einheitsbewegung. Wie sie tritt das Problem des „Reichslandes" in
den großen Staats- und verfassungsrechtlichen Krisen, die das deutsche Volk im
neunzehnten Jahrhundert durchzumachen hatte, in schärfste Beleuchtung. Der Druck
von außen, von Frankreich, her, der 1815 und 1870 im Kern Mitteleuropas neue
Staatenbildungen schafft, treibt auch die elsaß-lothringische Frage stets aufs neue
w den Mittelpunkt der Erörterung.
In den Monaten zwischen der Leipziger Schlacht und dem Siegestage von
Belle-Alliance erhob sich das deutsche Einheitsstreben zum ersten Male zu selb-
ständiger politischer Bedeutung. Und gleichzeitig wandelte sich das unklare Sehnen
des deutschen Volkes nach Wiedererlangung der verlorenen Gebiete am Oberrhein
SU bestimmten, fest umrissenen Vorschlagen. In den drei Stichworten vom
Pufferstaat, von Angliederung an die benachbarten Einzelstaaten und endlich vom
Reichsland lassen sich unschwer alle die vielfältigen Entwürfe und Jdeenverbindungen
Zusammenfassen, die in der nationalen Bewegung der letzten hundert Jahre das
Schicksal Elsaß und Deutsch-Lothringens bestimmen wollen.
Der anfangs viel beachtete Gedanke, aus Elsaß-Lothringen einen neuen
Pufferstaat zu machen, verlor jede Berechtigung, als Preußen seine Grenzen
machtvoll in das Depressionsgebiet zwischen den Niederlanden (Belgien) und der
Schweiz vorschob. Einleuchtender und zweckmäßiger schien in den Verhandlungen,
dre dem zweiten Frieden von Paris (1815) vorausgingen, die Teilung zum
wenigsten des Elsaß unter die Dynastien von Bayern, Württemberg und Baden,
insbesondere die Wittelsbacher erhofften in einer durchgreifenden Flurbereinigung
am Oberrhein die Verbindung zwischen Franken und der Rheinpfalz zu erlangen.
Aur so konnte ja in der Tat das linksrheinische Bayern in Verwaltung und
-Wirtschaft fest und sicher dem Stammland angegliedert werden, so lange Zoll¬
grenzen und Durchfuhrverbote den deutschen Staatenverein durchzogen. Wichtiger
noch waren die Gründe, die König Friedrich von Württemberg damals im gesamt¬
deutschen Interesse für eine dauernde Grenzberichtigung anführte. Der Verlust
Wner rein deutschen Provinzen, so ließ er 1815 die Wortführer eines Verzicht-
MedenS mahnen, beraube die französische Nation weder ihrer „natürlichen Grenzen"
"och ihrer Verteidigungsbollwerke, sondern entziehe ihr lediglich die vielfach alß-
"wundem Angriffsbastionen. Bei der Verwertung der wiedererrungenen Länder
aber blieb der schwäbische Mittelstaat in den alten Anschauungen von rein dy¬
nastischer Teilung stecken. Baden aber, das unfertige, langgestreckte künstliche
Staatsgebildo der napoleonischen Zeit, versagte sich solchen Plänen. Jetzt wie
Weiter fühlte es sich allzu schwach, die Grenzwacht am Oberrhein zu übernehmen.
», In der Tat konnte nur der sichere Schutz der deutschen Großmächte jeder
Verschiebung der Macht auf dem tausendjährigen Kampffelde der germanisch-roma-
Mchen Völker dauernden Halt verbürgen. Und Osterreich, das alte deutsche
Kaiserhaus, versagte offen jede Unterstützung. Preußen dagegen, dessen Staats¬
männer, Heerführer und Publizisten damals zum ersten Male um die Teilnahme
von Regierung und Volk Süddeutschlands warben, nahm den Ruf Württembergs
Mangs freudig auf. Aber die Ungunst der übrigen Großmächte ließ die neuen
Gedankenverbindungen, die das Verlangen nach Einheit Kleindeutschlands und
"ach Erwerbung von Elsaß und Deutsch-Lothringen bereits aufs engste zu ver-
"upfen schien, nicht zur Reife gelangen. Siegreich brach sich jedoch die Erkenntnis
^ayn daß an moralische, wirtschaftliche und politische Eroberungen zwischen Rhein.
Mesen und Maas nur dann zu denken sei. wenn ein einheitliches deutsches
' reich in festen staatsrechtlichen Formen und Grenzen hinter den von der ratio-
„5^" Sehnsucht getragenen Forderungen stehe. Offen hatten es Josef Görres
all ^ Moritz Arndt ausgesprochen, daß auch den Elsässern selbst, die das Zeit-
"er Napoleons aufs engste in das Leben der großen französischen Nation ein-
gefügt hatte, nicht zuzumuten sei, „einige Lappen mehr zu dem teutschen Hans¬
wursttuche zu liefern". Prophetisch mahnte der „Rheinische Merkur", den beiden
Trägern der deutschen Einheit, Österreich und Preußen, den Grenzschutz in Elsaß
und Lothringen zu übertragen. Vor allem den Staat der Hoherizollern wollte er
so dauernd an die Interessen Süddeutschlands fesseln: „Die Festigkeit und Sicher¬
heit Teutschlands wird sich dadurch vermehren und die innere Lebenskraft unseresVater-
landes dadurch einen Zuwachs und einen erhöhten Schwung ihrer Tätigkeit gewinnen."
All diese Hoffnungen vernichtete bekanntlich der zweiie Pariser Frieden. Aber
ungebrochen hielt sich in der Sehnsucht des deutschen Volkes die Verbindung der
Gedanken an Freiheit und Einheit im Innern und nach außen. Wohl trieb der
harte Druck der Reaktion zeitweise die Forderung der verfassungsmäßigen Freiheit
so stark in den Vordergrund, daß die Sicherung der Westgrenze scheinbar völlig
zurücktrat. Ju den Tagen der deutschen Revolution mußte sich das Denken dös
deutschen Volkes erst mühsam herausarbeiten aus dem Genius weltbürgerlicher
und nationalstaatlicher Vorstellungen, mit denen es eine ungeheuer reiche Ge¬
schichte belastet hatte. Siegreich setzte sich zunächst nur der Gedanke an den klein¬
deutschen Bundesstaat, der sich in der Entwicklung der thüringischen EinigunzS-
frage spiegelte, durch. Doch unverloren blieben auch weiterhin die Pläne von
einem föderativ geeinten Mitteleuropa, die der Weltkrieg siegreich wieder empor-
treibt. Und fest und sicher blieb trotz aller Teilnahme, die sich das demokratische
Frankreich in den Jahrzehnten der Demagogenverfolgungen erworben hatte, das
Verlangen nach neuer Sicherung im Westen verankert.
„Alles, was uns der Einheit näher bringt, bringt uns auch der Hoffnung
auf Wiedererlangung von Elsaß und Lothringen näher": so konnte die deutsche
Publizistik bereits 1860 das Zeitalter der Reichsgründung einleiten. Als im
Kampfe um die Vorherrschaft in Deutschland Osterreich unterlegen war, drängte
die nationale Entwicklung in logischer Folge zur endgültigen Abrechnung auch
mit Frankreich, zum Abschluß der „unvollendeten Freiheitskriege". „Zuerst leise
anklopfend wie ein verschämter Wunsch" wurde der Ruf nach Elsaß und Lothringen
bereits Mitte August zum mächtigen Feldgeschrei der Nationen. Und gleichzeitig
erneuerte sich der Kampf der Meinungen um die staatsrechtliche Zukunft der ge¬
raubten Länder. Aufs neue schieden sich die Geister in der Forderung eines
Pufferstaats und einer Aufteilung an die angrenzenden Bundesstaaten, bis Bismarck
den Gedanken eines Reichslandes wieder aufnahm und in ihm die, Wünsche der
Parteien, Stämme und Dynastien des neuen Reiches einte.
Wie im Pariser Frieden die internationale Interessengemeinschaft der übrigen
Großmächte, so verzichtete jetzt die aufkeimende Internationale der deutschen sozial¬
demokratischen Gedankenwelt von vornherein auf alle „Erobcrungs"absichten.
Anklang und Beifall aber fand sie ebensowenig wie der Gedanke an einen Puffer¬
staat, den zahlreiche Diplomaten der alten Schule in ewiger Neutralität oder als
„autonomen Bundesstaat" zu schaffen hofften. Einleuchtender und aussichtsreicher
schien längere Zeit der Vorschlag, Oberelsaß an Baden, Unterelsatz an Bayern,
Lothringen an Preußen zu geben, Württemberg dafür mit den Hohenzvllernschen
Landen, Hessen in der bayerischen Pfalz zu entschädigen. Die schlimmsten Tage
der Rheinbundszeit schienen wiederzukehren. Und doch war diese Eigenpolitik der
süddeutschen Einzelstaaten auch damals noch wohlberechtigt, solange nicht ein
übergeordneter Einheitsstaat den Ausgleich der wirtschaftlichen und politischen
Lebensinteressen seiner Glieder gewährleistete. Erst die publizistischen Erörterungen
und dann die diplomatischen Verhandlungen über die Reichsgründung selbst
konnten zu neuen, rein nationalen Wünschen und Forderungen über die Zukunft
des Neichslcmdes überleiten. Den mächtigsten Anstoß dazu gab Großherzog
Friedrich von Baden, als er offen erklärte, daß kein süddeutscher Staat imstande
sei, die neu erworbenen Gebiete „mit seinen Machtmitteln festzuhalten oder mit
Erfolg sich innerlich anzueignen".
Beifällig nahm die gesamte liberale Publizistik Deutschlands den Hinweis
auf Preußen auf, der in diesen Worten lag. Vor allem der „Schwäbische Merkur"
Wiederholte tatkräftig die Gedankengänge, die uns aus dem „Rheinischen Merkur"
von 1815 geläufig sind: „Es muß nicht nur wie bisher Preußens edelste Pflicht
bleiben, der Hort Deutschlands zu sein, es muß auch sein eigenstes Interesse darin
finden. Übergebt also das deutsche Tor dem Torwart, der stark genug ist. es zu
behaupten." Und mit all seinem gewaltigen Pathos mahnte Heinrich von TreUschke
aus Heidelberg: „Wer diese große Zeit versteht, der darf nicht wollen daß an
die Stelle des'preußisch-österreichischen Dualismus ein preußisch-bayerischer trete,
daß Baden und Württemberg haltlos zwischen Preußen und Bayern emher-
schwcmken." — „Wer ist stark' genug," fragt er. „diese verlorenen Lande zu be¬
herrschen und durch heilsame Zucht dem deutschen Leben wiederzugewinnen?
Preußen, allein Preußen I Dem Deutschen Reiche aber wird es zum Heile ge¬
wichen, wenn die führende Macht in ihrem eigenen Hause süddeutsche Eigenart
Zu würdigen lernt, und wenn der preußische Staat alle Gegensatze des deutschen
Lebens in sich einschließt und versöhnt." ^ ^ . , ^ ... r- °-
Zuerst leise, dann lauter und nachhaltiger aber werden gleichzeitig un links-
liberalen Lager Stimmen laut, die Elsaß und Lothringen nicht dem Polizcistacit
Preußen ..mit dem preußischen Herrenhause, mit Eulenburgscher Landratsver-
waltung und mit anderen dergleichen schönen Dingen" ausliefern wollen Sie
hoffen im Gegenteil, daß die neu erworbenen Länder ein „liberaler Musterstaat"
werden." Mit dem Rufe nach „Kaiser". ..Reich" und „Reichstag" klingt als em
Erbteil der deutschen Revolution immer lauter und voller die Forderung noch
einem ..Reichsland" in der Erörterung wieder. Hatten doch die unitarischen
Theorien von 1848 zeitweise nicht nur die ..Jnunediati fierung der Kleinstaaten,
insbesondere Thüringens, sondern auch die Auflosung Preußens alö der Haus-
wacht des künftigen Kaisers in Reichsprovinzen gefordert! Und in merwurdigem
Zusammenfiel kommen gleichzeitig auch die Führer der konservativen Publizistik
M gleicher Forderung. Wie die Nationalliberalen erwarten ste von den demo-
ratischen Kräften Elsaß und Lothringens eine Lockerung des al preußischen, kon¬
servativen Staatsgefüges und suchen daher nach anderem Ausgleich. ^"
Dem „zentralisierten konstitutionellen Einheitsstaat zu entgehen, schlagt die
..KreuzMtung" als die einzig mögliche Lösung der ^narung von Elsaß und Lothringen als freies derttsches Reichsgebiet" vor. Die
Einnahmeüberschüsse, meint sie. würden in die Bundeskasse fließen d,e Militärischen
Besatzungen aus allen Bundesgebieten zu stellen em Die Oberbeamwi der
Zwilverwaltung würden in der ersten Zeit aus den bisherigen deutschen Staaten
hervorgehen, während man später diese Stellen auch Elsaß Lothringern zugänglich
wachen könnte. Überaus wichtig aber sind diese konservativen Anschauungen von
der staatsrechtlichen Zukunft der neu erworbenen Gebiete deshalb, weil ihren
Grundzügen Bismarck bereits im Frühherbst 1«?" "n Briefwechsel mit dem ehe-
"ougen preußischen Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel zustimmte.
Seit Mitte August hatte sich 'der Bundeskanzler offen zur Notwendigkeit
bekannt. Elsaß und Deutsch-Lothringen dauernd nut dem werdenden deutichen
Aundesstoat zu verewigen. Zuerst in diplomatischen Noten nach Petersburg uno
^ndon. dann der breiten europäischen Öffentlichkeit gegenüber betonte er ,edochdamals und später, daß die Notwendigkeit, Frankreich seine Angriffsbastlonen
Segen Deutschland zu nehmen und so den europäischen Frieden zu sichern, derausschlaggebende Grund sei. Nur als Unterstimmung Key er sich von den natio¬
nalen Forderungen tragen, die die verlorenen Lande am Oberrhein als dauerndes
Pfand der Sicherheit von Kaiser und Reich heisesten. Em Stuck dieser natio-
nalen Sehnsucht aber schien Bismarck zu verwirklichen, als er gleichzeitig in den
Verhandlungen mit den deutschen Bundesstaaten Elsaß und Lothringen als „Reichs-
U"d" in gemeinsamer Verwaltung der verbündeten Fürsten und Städte zum
Wundstem der Reichsgründung machte. Wie in den publizistischen Planen eures
^orres und Arndt im Jahre 1815 überwölbte der neue Begriff des Gesamtbesitzes°Ac einseitigen dynastischen und partikularistischen Gedanken.
Wundervoll erfüllte sich, wie ich vor längerer Zeit schon ausführlich, er¬
örterte/) die Hoffnung, die deutsche Zeitungen bereits am 10. August 1870 ver¬
kündet hatten:
„Der, welcher diesen Krieg siegreich zu Ende führt und Elsaß-Lothringen
wieder zu Deuschland bringt, soll deutscher Kaiser sein." Als Vismarck die Eifer¬
sucht der Dynastien durch diese Lockung mit der Jnhabergemeinschaft von den neu¬
erworbenen Ländern bannte, fügte er gleichzeitig all die verschiedenen Fäden, die
die Jdeengeschichte der deutschen Einheitsbewegung von 1815 her durchzogen, zu
einheitlichem Wirken zusammen. Wer die Schöpfung des „Reichslandes" als ein
Werk der ganzen Nation, der Parteien und Stämme, wertet, wird die üblich
gewordene Bezeichnung als „Verlegenheitsschöpfung" aufs schärfste ablehnen müssen.
Nur ungern und zögernd aber, das wird heute zu leicht — zum Teil wohl
gar absichtlich! — vergessen, haben Bundesrat und Reichstag im Jahre 1871 der
neuen staatsrechtlichen Zwitterbildung zugestimmt. Die Erklärung, daß „die Inter¬
essen des Reiches und Preußens in Elsaß und Lothringen durchaus identisch" seien,
fand in den Beratungen der Verbündeten Regierungen keinen Widerspruch. „Die
übrigen Glieder des Reiches", so erklärte offen der Vertreter Württembergs,
würden nicht glauben, beeinträchtigt zu sein und würden den mit Deutschland
wieder vereinigten Gebieten nicht ferner stehen, wenn Preußen statt als Mandatar
des Reiches, kraft eigenen Rechts die Souveränität über Elsaß und Lothringen
übernähme". Nur die Feststellung Bismarcks, den „Gedanken, aus Elsaß und
Lothringen ein staatliches Gebilde zu schaffen, habe er nicht, und der Begriff eines
Reichslandes sei mit dem eines selbständigen Staatswesens nicht kongruent",
beschwichtigte im Ausschuß des Reichstages die Bedenken derer, die in der
Schöpfung des „Reichslandes" bereits damals den „Triumph des Föderalismus"
erblicken wollten.
Auf den endlich errungenen Besitz legten die Völker gemeinhin längst nicht
mehr dasselbe Gewicht wie auf das, was sie erhoffen und wünschen. So sinkt
auch das „Reichsland" seit 1870 immer tiefer in der Wertschätzung des deutschen
Volkes herab. Als Bismarck 1873 den großen Umschwung in der Reichspolitik
von der Seite der Nationalliberalen zum Bündnis mit Konservativen und Zentrum
vollzog, wurden auch die Fäden, die bis dahin Elsaß und Lothringen doch noch
in die Obhut Preußens und damit in festere und staatliche Verbindung mit dem
Reiche zu führen schienen, jäh durchschnitten. Die Notwendigkeit, das neue
Bündnis mit Österreich-Ungarn nicht mit den Nevancheforderungen Frankreichs
zu belasten, ließ eine Versöhnungspolitik im Westen aufkeimen,' die. wie ihr
Widerspiel, der RückVersicherungsvertrag mit Rußland, zu immer neuen Zugeständ¬
nissen zwang. Üppig durfte sich unter ihrem Schutze die Notabelnwirtschaft im
„Reichsland" entwickeln. Und am übelsten war, daß das demokratische Ideal der
„Selbstbestimmung" und der „Autonomie", widerlich verzerrt im elsaß-lothringischen
Nationalismus, nicht nur bei den Doktrinären der Linken, sondern vor allem auch
bei den förderativen und konservativen Parteien hin Reich und in Preußen, auf
die der Reichskanzler sich fortan stützte, gehegt und gepflegt wurde. So kam es.
daß die sogenannte „Versassungsreform" von 1911 endlich die unitarischen
Klammern, die in der Jdeengeschichte der deutschen Einheitsbewegung Reich und
Reichsland verbinden, bis auf wenige Reste löste. Nur drei Hauptpunkte bestehen
noch: als Organ des Reiches, nicht als Landesherr, übt der Kaiser die Staats¬
gewalt aus. Ernennung und Entlassung des Statthalters müssen vom Reichs-
kanzler gegengezeichnet werden. Vor allem ist das Verfassungsgesetz für Elsaß-
Lothringen ein Reichsgesetz und kann nicht durch einen Akt der Landesgesetz'
gebung geändert werden.
Wie wenig jedoch diese äußeren Sicherungen den inneren Zusammenhang
des „Reichslandes" mit dem Reich gewährleisten, haben auch die Erfahrungen
der letzten Jahre, vor allem auch die der Kriegszeit gezeigt Über d^e Notwendig¬
keit einer Änderung im staatsrechtlichen Charakter des Landes ist such daher leder
klar, der Einblick in das Getriebe der Parteien und rü den unfertigen sozialen
und wirtschaftlichen Zustand der Bevölkerung erhält. Und wieder wie 1815 und
wie 1870 stoßen und drängen sich die Pläne und Entwürfe. Vom Pufferstaat
geht der Weg über die verschiedenen Fassungen der Autonomie und des Reichs-
landes hinüber zur Forderung der Aufteilung unter angrenzende Bundesstaaten
oder der Einverleibung in Preußen. Wer die geschichtliche EntMckelung verfolgwird kaum im Unklaren sein, daß nur der Pfad gangbar ist. der erst seit 18 i9
Mit Gestrüpp überwuchert wurde. „Wer Preußen", mahnt der -schwebe RudolfKjellen. „ist ein neuer Neichsgedanke emporgewachsen, der M vor seiner Reife¬
prüfung steht". Wesen und Gedanken des „Reichslandes" wie ihn Arndt und
Görres 1815 verkündeten, übernimmt der preußische Staat, der im Begriffe steht
ein „neues Autoritätsband zwischen Staat und Massen" zu schaffen. daS aufs
neue Nord- und Süddeutschland aufs engste zusammenführen wird.
le der Krieg unsere gesamten Lcvensgebiete getroffen hat. so ist auch
unser Bildungswesen von ihm nicht unberührt geblieben. Lehrer
und Schüler folgten dem Ruf zu den Fahnen; die oberen Klassen
leerten sich und der Unterricht zeigte Lücken, die nur behelfsweise
dadurch ausgefüllt werden konnten, daß Vertreter, die dem Lehramt
A-^ZMH bis dahin fern gestanden hatten, einspmnqen. In einem kurzen
^Uege wäre das unbedenklich gewesen, aber durch seine Länge wurde die Unter-
"wlsverwaltung mit Rücksicht auf die im Publikum sich regenden Wünsche all-
"ayiich zu Maßregeln gezwungen, die zweifellos Gefahren für unser Bildungs-
^°>en in sich tragen.
. Die Gesichtspunkte, die sie dabei verfolgte, waren an sich richtig: es galt,rü draußen Weilenden den Dank des Vaterlandes abzustatten, ihnen, die sich in
Dienst der großen Sache gestellt hatten, nun auch nach Möglichkeit vorwärts-
Uietfen oder ihnen wenigstens ihre Laufbahn nicht zu erschweren. Aber wir
Kur "icht nur draußen Krieg, sondern auch im Inneren, ja dieser zweite
in-n?^ ^t)k uns Daheimgebliebene fast noch näher an, und da nun hier zu dem
Heer unserer Streiter auch die Jugend gehörte, die an die Stelle der
»tZ^gelten trat, so wurde auch sie. die unter normalen Verhältnissen ruhig
Hai? Ausbildung hätte leben können, mit hineingerissen, und auch ihr gegenüber
dr>U ^ Staat eine Dankesschuld abzutragen, die sich in Erleichterungen aus-
sow.^ mußte. Man ist wohl gar unter dem Druck des Aushungerungskrieges
bed-«. fangen, die Formel zu prägen: Brot ist wichtiger als Bildung, ohne zu
Um« ' daß diese Antithese zu den allerbedenklichsten Folgen führen mußte,
ub "" wir durch den Krieg dahin kämen, die rein-materiellen Bedürfnisse im Ernst
dar?. geistigen zu stellen, so wäre das der Bankerott deutschen Wesens. Gerade
Bj^ur aber soll man seine Augen nicht vor dem augenblicklichen Zustand unseres
"ungswesens verschließen und die nötigen Folgerungen ziehen.
Schon bei Anfang des Krieges konnten Oberprimaner, die ihrer Klasse drei
Halbjahre angehörten, ihre Notreifeprüfung ablegen, wie auch eine ähnliche Ver¬
günstigung den Untersekundanern in bezug auf die Abschlußprüfung zuteil wurde.
Die so erreichten Notabiturientenzeugnisse wurden dann als ausreichend für die
Immatrikulation erklärt. Allmählich verschob sich der Termin für die Erlangung
dieser Zeugnisse nach Unterprima, und heut liegt es so, daß Unterprimaner, die
bis zu den Weihnachtsferien dieser Klasse angehört haben, das Abiturientenzeugnis
erhalten können, wenn sie auf Grund der Einberufung ihrer Jayresklasse ins Heer
eingetreten sind, daß aber die, die kürzere Zeit in Unterprima gesessen haben, die
Berechtigung besitzen, sich ohne weiteres bei Urlaub zur Prüfung zu melden, wenn
sie glaubhaft machen, daß sie sich „genügend vorbereitet haben". Nach Einführung
des Zivildienstes erhielten allmählich auch die Schüler, die zu diesem einberufen
wurden, fast die gleichen Vergünstigungen, so daß man wohl ohne Übertreibung
sagen kann, daß das Ziel der höheren Schulen für die Schüler in der Heimat um
eineinhalb bis zwei Klassen herabgedrückt ist.¬
Zu alledem kam nun noch die Tragikomödie der sogenanten Kriegsprimaner
prüfungen, die fast die letzte Scheu vor der Reifeprüfung beseitigten. Der Minister
hatte schon 19is zugesagt, daß für die jungen Leute, die aus den drei obersten
Klassen ins Feld gerückt waren, Sonderlehrgänge nach Friedensschluß zusammen¬
gestellt werden sollten, in denen sie in freierer Weise und in schnellerer Zeit auf
das Abiturientenexamen vorbereitet werden sollten, als das bei Aufrechterhaltung
sämtlicher lehrplanmäßiger Anforderungen möglich gewesen wäre. Allein bald
darauf setzte eine heftige Agitation dafür ein, daß Preußen nach dem Vorbild der
süddeutschen Staaten den jungen Leuten ohne jede Prüfung das Reifezeugnis
verleihen sollte, sobald der entsprechende Jahrgang in der Heimat das Examen
gemacht hätte. Schritt vor Schritt wich das Ministerium zurück- in der aller¬
letzten Zeit sind auf Wunsch der obersten Heeresleitung statt der Sonderlehrgänge
„Kriegsreifeprüfungen hinter der Front" eingeführt, für die lediglich das Zeugnis
des Regimentskommandeurs gefordert wird, daß der Betreffende während seiner
militärischen Dienstzeit sich wissenschaftlich weiter gebildet hat. Die Prüfung selber
kann man wohl ohne Übertreibung fast als Formalität bezeichnen: es ist wirklich
von den Prüfenden nicht zu verlange», daß sie die Prüflinge, von denen sie
wissen, daß sie am nächsten Tage in die Front zurückkehren und hier für das
Vaterland fallen können, durchfallen lassen. So ist das Resultat dieser Entwick¬
lung gewesen, daß die Einrichtung, die den jungen Leuten nach ihrer Rückkehr
aus dem Feloe eine neue Eingewöhnung in die Arbeit ermöglichen sollte, unter
dein Ansturm einer Bewegung, die sie gerade hierdurch benachteiligt wähnte, fiel,
und daß sie nun an die Universität gelangen, nicht nur ohne die Kenntnisse, die
dort ein einheitliches Arbeiten gewährleisten, sondern — kurz gesagt — geistiger
Arbeit überhaupt entwöhnt. Diese Lage der Dinge hat aber auch auf die Mel-
dungen bei Heimaturlaub zurückgewirkt: da in dem Erlaß über die „Kriegsreife'
Prüfungen hinter der Front" sich die Bestimmung findet, daß auch die jungen
Leute sich melden können, die aus der Schule die Reife für Unterprima erlangt
haben — also auch die Notreife, die solchen verliehen wurde, die, eben in du?
Obersekunda eingetreten, sich zum Heeresdienst gemeldet hatten — wollte naht
diejenigen, die mit Urlaub in die Heimat kamen, nicht zurücksetzen, und so ist der
tatsächliche Zustand heut der, daß auch solche, die aus der Obersekunda abgegangen
sind und sich in der Heimat melden, zur Prüfung zugelassen werden. Daß aber
in der Prüfung selber lange, lange nicht mehr das verlangt wird, was früher
gefordert wurde, liegt in der Natur der Dinge: durch die Erlaubnis, daß Unter¬
primaner, Obersekundaner auf Grund einer „Vorbereitung", die mindestens bei
der Meldung nicht nachzuprüfen war, in die Prüfung hineingehen konnten, muM
sich der Gedanke entwickeln, daß man mit — höchstens — Unterprimareise dos
Examen bestehen könne; in der Praxis wird wohl auch heute kaum mehr ver¬
langt. Und so erleben wir es denn, da die Zeugnisse die Universität zur Jo'
matrikulation verpflichten, heute als Regel, daß junge Leute in ein Studiuw
eintreten, das ihnen eigentlich erst offen stehen dürfte, wenn sie zwei weitere Jahre
ernster Schularbeit hinter sich hätten. Es wird der Tag kommen, an dem mancher
von ihnen trotz emsigsten Bemühens nicht den Anforderungen der Universität
»enügen kann. Das aber wird zur Folge haben, daß er die Schuld denen zu-
schiebt. die ihn in diese falsche Stellung, hineingebracht haben.
Dabei muß darauf hingewiesen werden, datz die Universität Göttingen schon
vor dem Kriege eine Denkschrift herausgab, in der sie auf die mangelhafte Vor»
bereitung der jungen Studenten hinweisend. Vorbereitungskurse an der Universität
selber förderte. Wenn schon damals ein Abiturient nicht mehr imstande war. in
den Kollegien zu folgen, so kann man daraus einen Rückschluß auf die augen¬
blickliche Höhe der Kenntnisse bei ersten Semestern machen. Die Schule hat diese
immaturi mit einem ..Reifezeugnis" entlassen, ohne irgendeine Verantwortung
für ihr Fortkommen übernehmen zu können.
Aber nicht nur das Ziel, auch der Betrieb unserer höheren Schulen hat
erheblich gelitten. Zunächst wurde 'sofort bei Kriegsanfang die militärische Vor-
bereitung der Jugend in Angriff genommen. Ein Ministerialerlaß sagte billige
Rücksichtnahme bei der Bemessung der häuslichen Arbeiten zu; das Provinzial-
schulkollegium der Provinz Brandenburg ging weiter: es machte den Direktoren
Zur Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Nachmittage der Ubungstage frei von Ar-
beiten blieben. Dadurch wurde natürlich die Einheitlichkeit der betreffenden
Klassen gesprengt, da der eine Teil gearbeitet, der andere an den Uebungen teil-
genommen hatte. Allmählich mußten so die schwächeren Schüler unter dieser
Teilnahme leiden, und da sie nicht benachteiligt werden durften, so tett die ganze
Klasse, um so mehr, als sie nun völlig ungleichartig war.
Die Schwierigkeiten der Ernte veranlaßten neue Erlasse: der Jugend wurde
es als vaterländische Pflicht vorgestellt, einzugreifen. Von Jahr zu Jahr haben
sich mehr Schüler dabei betäiigt und in den Verfügungen wurde es den Schulen
eingeschärft, daß die freiwilligen Helfer keinen Schaden dadurch leiden sollten, in,
beim kommenden Ostertermin soll auch bei der Versetzung auf die Lücken
aus 1917 Rücksicht genommen werden. Da Nachhilfekurse, die der Minister zu-
gesagt hatte, durch Erlaß nicht eingeführt sind.*) so werden also letzt ern gut Teil
Schüler versetzt werden, die ein Viertel des Jahrespensums und darüber — um
soviel Zeit handelte es sich bei den Erntearbeiten — versäumt und zum größten
Teil nicht nachgeholt haben. ^ -- ^-^ ^, ^
Neben diesen Schwierigkeiten hat endlich der empfindliche Kohlenmangel
dahin gewirkt, daß- in manchen Provinzen die Ferien erheblich verlängert worden
Und, sa daß hier wieder Ungleichheiten zwischen den einzelnen Landesteilen — in
Berlin bekanntlich auch zwischen den einzelnen Anstalten — Platz griffen.
Wir haben staunend erlebt, mit welchem Erfolge sich die Mobilmachung
unserer Jugend zu den einzelnen Sammlungen vollzog: die Gold- und Gold-
chmucksammlung. die Metall- und Wollsammlung, die Altmaterial- und Knochen-
sammlung und nicht zuletzt die Sammlung und Werbung für die Kriegsanleihen
haben ganz erstaunliche Resultate gezeitigt. Mit einem wahren Feuereifer sind
unsere Jungen daran gegangen, ihre „Sammelwut" zum Besten des Vaterlandes
S" betätigen: sie haben sich Ehrenzeichen und Diplome verdient, und ihre Namen
N"d vor der ganzen Schule bei den Feiern genannt worden. Aber — sie sind
°Ach durch diese Dinge von der Schule selber abgelenkt worden und hielten es
schließlich für bedeutend wichtiger, sich auf diese Weise zu betätigen, als geistig
SU arbeiten. Der feste Zusammenhalt in der Schule wurde auch durch diese Dinge
untergraben, und die Unterstützung der Sammlungen durch die behördlichen Er¬
lasse wirkte gewissermaßen aus Schüler und Eltern wie ein Freibrief, durch den
U'an sich von den Anforderungen der Schule loskaufte.
So ist denn das Bild, das unsere höheren Schulen augenblicklich bieten,
?!^^erade^sehr erfreulich. Gewiß beruht Bildung nicht nur auf Kenntnissen,
*
aber sie kann auch ohne sie nicht bestehen, ja nicht einmal entstehen. Was aber
das Schlimmste ist: gerade in den Oberklassen entwickelt sich erst die Fähigkeit zu
geistiger Schulung, zu wissenschaftlichem Denken; erst auf der Oberstufe können
wirkliche Probleme angefaßt, kann selbsttätiges Denken angeregt werden. Die
Jahre, die hier fehlen, sind unersetzlich; das muß klar erkannt werden. Daß die
Schule auf die Universität wirkt, liegt auf der Hand: schlecht vorbereitete Studenten
drücken auch dort auf die Anforderungen. Dazu kommen aber jetzt noch die sehr
natürlichen Wünsche der Kriegsteilnehmer, recht bald ihre Staatsprüfung bestehen
zu können, die zum Teil bereits ministerielle Maßnahmen gezeitigt haben.
Nach der vortrefflichen Zusammenstellung der Bestimmungen in den „Ber¬
liner Akademischen Nachrichten" kann bei den Juristen die Vorbereitungszeit um
höchstens ein Jahr gekürzt werden, doch nutz für jedes fehlende Semester ein
achtwöchentlicher Herbstlehrgang durchgemacht werden. Den Medizinern kann der
Kriegsdienst bis zu einem Semester angerechnet werden, die Oberlehrer erhalten
bei der Ablegung ihrer Prüfung bestimmte Erleichterungen. Immer wieder wird
allerdings betont, datz die wissenschaftliche Bildung nicht in Gefahr geraten darf.
Der Staat befindet sich eben in einer Zwangslage, die am besten durch die dies¬
bezügliche badische Verordnung gekennzeichnet wird. Diese bestimmt, daß bei der
Prüfung „einerseits den hinsichtlich der Vorbereitung durch den Krieg geschaffenen
besonderen Verhältnissen und Schwierigkeiten . . . Rechnung zu tragen, andererseits
aber auch nicht außer Acht zu lassen ist, daß eine wesentliche Herabsetzung der
Prüfungsanforderungen ebensosehr den Interessen des Staates an der Erhaltung
eines tüchtig vorgebildeten Veamtenstandes wie auch den wohlverstandenen In¬
teressen der Kriegsieilnehmer selbst, die einer vollen Grundlage für ihren künftigen
Lebensberuf bedürfen, zuwiderlaufen würde."
Der Vorschlag einer Trimestrierung der Universitätszeit, bei der dann jedes
Trimester für die Prüfung als Semester rechnete, ist nach der Aufnahme, die er
gefunden hat, wohl erledigt; er ist unbedingt abzulehnen, wenn sich dahinter der
Versuch verbirgt, eine Erleichterung der Prüfung in sich durchzusetzen. Allen
solchen Wünschen nutz die Unterrichtsverwaltung ein entschiedenes „NeinI" ent¬
gegensetzen: wir haben diesen Krieg gerade durch unsere wissenschaftliche Bildung
gewonnen — sie darf nicht ins Wanken kommen. GeWitz soll hier nicht einem
falschen Intellektualismus das Wort geredet werden, aber man nutz es gerade
jetzt, wo in jedem zweiten Buch gegen das „öde Auswendiglernen" Sturm ge¬
laufen wird, immer wieder aussprechen, daß zur Grundlage der Bildung gründ¬
liche Kenntnisse mit gehören. Erst recht aber zum wissenschaftlichen Arbeiten!
Natürlich bestehen ähnliche oder noch schlimmere Verhältnisse wie bei uns
auch bei unseren Gegnern — bei den Franzosen ganz sicher viel schlechtere.
Nichtsdestoweniger muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß, wenn es so
weiter geht, ein Teil, und ein nicht unwichtiger, der Grundlagen unserer Bildung
ins Wanken gerät: es wird das einerseits davon abhalten, unvernünftige Forde¬
rungen, die hier und da bereits hervortraten, zum Schaden unserer Jugend zu
erheben, andererseits auf eine Wiedererhöhung unserer Anforderungen vorbereiten.
Die ersten zehn Jahre nach dem Kriege werden in dieser Beziehung erst die wahren
Sieger zeigen.
ir wollen, werter Herr, das Gespräch brieflich da aufnehmen, wo
wir gestern abend die mündliche Unterhaltung abgebrochen haben,
am Eingang zur deutschen Gesellschaft und bei dem Thema: gesetz¬
geberische, organisatorische, journalistische und andere Knegsschreck-
nisfe. In der Deutschen Gesellschaft sieht man noch immer außer¬
ordentlich viel mehr Leute essen als lesen! Dabei ist me Bücherei
pente beträchtlich besser, muß besser sein, als das Essen, ohne daß der Wirt,
der sich alle Mühe gibt, etwas dafür kann. Jedenfalls hält das Menü
und — und! — die Luft der Toleranz, die das Haus durchweht, die ver-
schiedensten Parteien, Weltanschauungen, KriegZziele, Wahlrechtsthevrien, Klassen
und Unter hübsch beisammen und macht das anderswo Unmögliche zur schonen
Wirklichkeit, daß keiner den unbekannten andern, Hacken zusammenschlagend, bittet,
SU gestatten, daß er der Regierungsrat X oder der Direktor Y sei und daß keiner
die Kräfte, die die Kriegsernährnng und Paragraphen-Übertretung übrig läßt,
daran setzt, den andern von Ansichten zu bekehren, du; falsch, ruchlos und staats¬
gefährlich sind. Dieser Klub der übereinkunftsgemaß respektierten Anschauungs¬
gegensätze konnte nur in einer Zeit entstehen und gedeihen, in der jeder genug
andere Sorgen hat und jeder neue Tag den Zwang bringt, soviel Zeitungen und
soviel in der Zeitung zu lesen, daß keine Zeit und keine Beredsamkeit ausreicht,
die Fragen in früher'gewohnten Bckehrungsdebatten auszutragen. Zumal das Bier
M einer geringwertigen Abart des Wassers geworden ist und die Zigarre von heute
einen menschenleeren Raum um sich her erzeugt. Für ernstes Männergesprach al,o
Zwei wichtige Voraussetzungen fast vernichtet sind. Längst sind uns und allen anderen
Völkern die Wellen der gesetzgeberischen, finanziellen, wirtschaftlichen mit gastronomi¬
schen Fragen über die Köpfe geschlagen, längst knüpft kein Denker, kein Schreiber kein
Redner, kein Gesetzgeber mehr Kette und Einschlag zu einem wohluberstchtlichen
Gewebsmuster. Das Gesetz der großen Zahl regiert und das Gehirn kann nicht
mehr fassen als hineingeht. So gesellt sich Verordnung zu Verordnung und wo
die Verordnung den Mißstand gebiert, bringt der Mißstand eine neue Verordnung.
Das Mittel uniert nicht einmal das Symptom und i.etes neue Tausend Ver¬
ordnungen häuft nur die Zahl der Rechtsverletzungen im Kleinleben deS Tages.
Knecht und Magd, Bürger und Bauer, Geheimrat und Staatsminister Md an ihrer
Mehrung mit gleicher Hingebung tätig. Ein nervenkranker Nechtskcmdidat,
der sich am Abend vor dem Staatsexamen an dem berauscht hat. was man heute
noch Bordeaux nennt, könnte, auch wenn er dabei Influenza hatte nicht träumen,
was der Gesetzgeber im heutigen Deutschland fertig gebracht hat und täglich
fertig bringt. Der Unterschied zwischen der Intensität der Gesetzgebung und der
Extensität der Übertretungen ist heute bereits so groß, wie der zwischen verdienen
und „Verdienen" bei den Kriegsgewinnlern. Erreicht wird diese gesetzgeberische
Massenproduktion nnr noch von der Massenorganisation, die Rießer un Reichstag
>° hübsch an einem charakteristischen Teile geschildert hat. Bisher war ein Mann,dein Gott ein Amt gab, froh, wenn er den Verstand nachgeliefert erhielt. Heute
erhält ein einigermaßen maßgebender Mann zu einem Amt zwar ebensowenigUeber wie früher den Verstand, gewiß aber ein Hotel und 500 Herren und
Damen an 500 Schreibtischen, vor 500 Schreibmaschinen und die freie Verfügungüber eine Papiermenge, in die man die Erdkugel einwickeln könnte. Von den
Fonds nicht zu reden. Junge Herren, die noch vor drei Jahren in ihrem ank-
uchen Tätigkeitsbereich nicht selbständig über die Briefmarken verfügen durften,
M-n mit Siegerlächelu täglich dem Steuerzahler eine neue Bürde auf. Die
Leidenschaft der Unter, die Lust an organisatorischer Anhäufung von Einzelkräften
An um der Organisation willen, um des bezaubernden Spieles mit einer riesigen
Maschine willen, tobt sich aus in ungemessenen Orgien. Man zeige unseren Organisa-
loren einen Zweck, eine Aufgabe, die sie nicht spielend so aufblasen könnten, daß kein
Grandhotel groß genug ist/ um die Kräfte aufzunehmen, die ihre Erfüllung un¬
bedingt — unbedingt! — nötig macht. Sei es die Aufgabe,, die deutschen Zei¬
tungen mit Artikeln zu versehen, die sie infolge der durch die Ämter und ihr Tun
und Schreiben vergrößerten Papiernot nicht abdrucke» können, sei es die Aufgabe,
organisatorisch dafür zu sorgen, daß die Fische, die nicht da sind, auch wirklich
nicht in den Kochtopf der Hausfrau gelangen, oder daß die zu liefernden Kar¬
toffeln, wenn sie schon die ütüche erreichen, wenigstens ungenießbar eintreffen.
Das physiologische Gesetz, daß auf einen stets wiederholten Reiz immer schwächer
reagiert wird, hat wohltätig gewirkt. Wir reagieren auf die Reize, die gesetz¬
geberisch oder bureaukratisck-organisatorisch auf uus ausgeübt werden, so gut wie
nicht mehr, wir helfen uns durch die Schwierigkeiten, die Gesetzgeber und Or¬
ganisator nicht lösen, und die sie schaffen, so gut hindurch, wie es geht, und
freuen uns, daß wir nicht umzubringen sind.
Nein, wir sind nicht umzubringen, wir überstehen das Maschinengewehrfeuer
der Verordnungen, wir weichen den Tanks der Organisationen unzerquetscht aus,
wir marschieren, ohne den Atem zu verlieren, durch die Gasnebel der Kriegs¬
publizistik. Maximilian Harden wird seine Kriegsleitartikel in Buchform heraus¬
geben, und wenn die „Wahrheit" die Wahrheit sagt, hat er dafür weit über hundert¬
tausend Mark Honorar erhalten. Stimmt das, so muß es jeden freuen, der der
Meinung ist, daß der Mann, der da schreibt, seines Lohnes wert sei, auch wenn
man ihn nicht ganz versteht. Herr Harden kann, wie hoch sein sagenhaftes Buch¬
honorar auch sei, sicher noch mehr verdienen, wenn er die Arbeiten erst ins
Deutsche übersetzen läßt. Jedenfalls sind diejenigen Schreiber über auswärtige
Politik bei uns vorläufig am berühmtesten, die die deutsche Sprache behandeln,
wie die Bolschewiki die Nichtbolschewiki: mit einer leidenschaftlichen Zwanglosigkeit.
Wir sind noch nicht daran gewöhnt, daß man so viel über auswärtige Fragen
schreibt. In der Ära Bismarck hätte sich die schreibende Besserwisserei an das
Thema der auswärtigen Politik nicht gewagt. Als wir nnter Vülow bei den
Ohren in die Weltpolitik gezogen wurden, war es das erste und einzige Mal in
Deutschland, daß Probleme auftauchten, zu denen die gewohnte Bibliotheken und
Zeilungsbände füllende Literatur fehlte. Jetzt, nach drei prüfuugsreichen Schul¬
jahren, ist dem Bedürfnis abgeholfen. . Jeder besserpekleidete Herr schreibt über
die weltpolitischen Aufgaben Deutschlands und die Zahl der Handbücher „Wie
treibe ich Weltpolitik", die aber nicht immer Kopfbücher sind, wächst wie die Zahl
der Einbrüche in dunklen Nächten. Wir alle, bis zum Amtsrichter im Bayerischen
Wald und zum Apotheker an der Mosel haben davon profitiert und halten den
Staatsmann, der von den Handbüchern und den Leitartikeln abweicht, sür einen
Schädling. Die Sache ist uns noch neu und wir haben noch die staunende Ver¬
ehrung für jeden, der mit schöner Sicherheit über diesen Gegenstand schreibt.
Aussprüche haben für uns noch den Wert von Ereignissen. Es ist die Blütezeit
der großen und kleinen Phropheten, der pathetischen, wie der weltmännisch geist¬
reichen und vor allem der immer grenzenlos empörten. Diese haben noch immer
den größten Erfolg. Aber wir werden täglich einen Tag älter, wir haben nun
schon öfter bemerkt, daß die publizistische Tat von gestern zum Einwickelpapier
von heute wird, wir kommeu allmählich dahinter, daß in dieser Literatur die
Hexerei nicht größer ist, als in der schönen, wir sehen, daß die Wahrsagungen der
weltpolitischen Propheten so wenig eintreffen, wie diejenigen jener Damen, die in
den besten Vierteln Berlins einer ungeahnt großen und ungeahnt eleganten Kund'
schaft die Zukunft zu entschleiern Pflege», auch gegen Honorar, und ebenfalls riethe
anonym. Das Ende des Respekts vor dem Leitartikel wird der Anfang der
politischen Weisheit sein. Ihre zweite Stufe, die Einsicht, daß in der auswärtigen
Politik die Dinge nie so einfach sind, als sich darüber schreiben läßt. Erst auf
dieser Stufe gewährt die fleißige Zeitungslektüre den rechten Nutzen. Die
Wellen der Ereignisse spülen auflösend in das Gefüge der richtigstkU
Theorien über die Zukunft Europas, geradeso, wie die nur zu ertragenden,
nicht zu behebenden kleinen Schwierigkeiten des Magens und des gegen Nässe und
Kalte zu schützenden Körpers in das Gefüge der staatlichen Organisationen hin¬
einkriechen und selbst vor den ehrwürdigen Gestalten der organisierenden Sena¬
toren nicht Halt machen. Dabei lernt Beamter und Laie die wichtigsten Wahr¬
heiten dieser Zeit, die keine Präzedenzfälle kennt und über die nichts bei den
Akten liegt:
Der eingeseifte Ringelschwanz einer fliehenden San ist leichter zu fassein
als die Probleme, die diese Zeit täglich unerwartet stellt. Die vorhandenen und
noch zu schaffenden bureaukratischen Organisationen werden zwar dieser Probleme
nicht Herr werden, sie werden aber auch den guten Ausgang des Krieges nicht
SU hindern verwögen, so wenig wie die Gesetzgebung die zur täglichen Gewohn¬
heit gewordenen kleineren oder größeren Rechtsverletzungen noch beträchtlich zu
steigern vermag. Wenn es auch gelingen mag, durch Vermehrung der Papier¬
erzeugung die Zahl der Darstellungen der allein und unfehlbar zum schnellen und
guten Frieden führenden Wege zu erhöhen, so wird dies den Krieg doch nur
unwesentlich verlängern können.
nsere Sprache ist stets nur ein unvollkommenes Hilfsmittel gewesen,
die ewig veränderlichen und vielseitigen Formen der Erscheinungswelt
verständlich zu machen. Die Begriffe und Wolle, mit denen sie arbeitet,
gleichen Lampen, die eine geistige Wegstrecke erhellen sollen, oft aber
nur trüben Schein verbreiten oder geradezu wie Irrlichter wirken.
. Mit dieser gewissermaßen „gegenständlichen" Fehlerguelle ver¬
ewigt sich die Vorliebe des Sprechenden für das begu-mie Zeit und Über¬
legung sparende Schlagwort, um die Differenz zwischen Abbild und Urbild zu
verstärken. Das „stenographische" Denken ist auch auf politischem Gebiete beliebt,
wo die Kürznnq der Formel am allerwenigsten paßt; nur erleben es taglnglich
an den in ihrer Monotonie ermüdenden inneren Fehden- mit Bezeickmungen wie
..Vaterlandspartei" oder „Neuorientierung" Z- B, läßt sich in der Tat „trefflich
streiten" und manch „^System bereiten". ^ ^ >. ^ ^"
Im Schattenreiche der politischen „Ihnen steht gegenwärtig der Par¬
lamentarismus" an erster Stelle. Seit de>S Zeitalter der absolutistischen Kronen
vor dem aufsteigenden Gestirn von 1789 versank, hat die Tatsache der genossen-
'chaftlichen Kraftentfaltung im staatlichen Leben verschiedene Parolen gehabt.
?on den amerikanischen „clecu-nations ok riMs«. den französischen „cleLlamtions
6es all-vns nie I'liommL et ein eitlen" führt eine in ihrer begrifflichen Ver¬
engerung und Verfeinerung deutlich erkennbare Linie über die „Konstitutionen"
neunzehnten Jahrhunderts zu jenem Modeworte insbesondere der deutschen
Gegenwart
^ „Parlamentarismus", so heißt die letzte, die entscheidende Wegmarke der
»Neuorientierung", und folgerichtig läßt man die sogenannte N> ichstagsmehrheit, als
deren Anhänger gemeinsam die gewiesene Straße ziehen. Denn man täuscht sich
Über die Harmonie. Wie nach außen, in der Frage der Kricgsziele. der
6'^ete,!smehrheitsblvck deutliche Nisse zeigt (Äußerungen der „Germania" und
?Me schüfe Absage des jüngeren spähn an die traditionelle Bethmann-PoliNk
^ „Tag" beweisen das), so strebt auch im Inneren das parlamentarische Vier-
Gespann auseinander.
Schon hierbei macht das vereinfachende Verfahren des Formeldenkens Bankrott.
Einer geschichtlichen Betrachtung allerdings keine Überraschung.
Ein Buel in die Parteiprogramme und Wahlaufrufe der Periode von 1871
bis 1914 zeigt als unentwegter Verfechter parlamentarischer Regierungsweise
eigentlich nur die in der heutigen Fortschrittspartei zusammengeschlossenen Frak¬
tionen. Die deutsche Volkspartei verlangte 1895 „Bestimmung der staatlichen-
Politik durch deu Mehrheitswilleu der parlamentarisch vertretenen Nation" und
sprach damit nur uuverblümt aus, was verwandte Richtungen etwa mit „Ent¬
wicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens*) oder der „parla¬
mentarischen Verfassung durch Kräftigung der Rechte des Reichstages" vorsichtiger
umschrieben**).
Vergebens sucht man bei den übrigen Parteien ähnliche Äußerungen, weder
wie selbstverständlich auf der Rechten, noch bei Nationalliberalen, Zentrum und
Sozialdemokratie. Und hente?
Graf Hertling berief sich im Herbst, als er im bayerischen Landtage die Auf¬
hebung des Artikels 9 der R. V ablehnte***), auf die Haltung Windthorsts zu der
Frage verantwortlicher Reichsministerien. Die „Germania" empfahl vor kurzem
eine „gesunde Mischung" zwischen bureaukratischen und parlamentarischen Ministern.
Im nationalliberalen Lager herrscht starke Verschiedenheit der Ansichten.
Der Ministerabgeordnete Dr. Friedberg glaubte jüngst in einer Rede vor seinen
Solinger Wählern in Übereinstimmung mit dem Zentrumsorgan das „gemischte"
System („Fachminister durchsetzt mit parlamentarisch geschulten Politikern") als
„deutscheu Parlamentansmus" der Zukunft ankündigen zu können, was vielleicht
noch auf der Linie einer parteioffiziösen Kundgebung aus dem Herbste vorigen
Jahres liegt, wo die „Übertragung des parlamentarischen Systems" abgelehnt und
nur „ein enges und vertrauensvolles Zusammenarbeiten von Volksvertretung und
Regierung verlangt" wird. Völlig von diesem Programm entfernt sich jedenfalls
die „Berliner Börsenzeitung", deren politischer Neoakteur soeben den entschlossenen
Abmarsch nach links befürwortet. Die Bedeutung einer Mittelpartei, so lautet
die Begründung, sei in einem parlamentarisch regierten Lande gering. Die Natio¬
nalliberalen würden hoffentlich die Einsicht und das Verständnis für die ver¬
änderten Zeiten haben, daß sie als „unabhängige" Partei nur im Obrigkeitsstaate
zu Ansehen gelangen könnten. Die nun einmal den Parlamentarismus vorbe¬
reitende Gegenwart fordere eine klare Stellung, und die Zukunft der national¬
liberalen Partei sei nur dann gesichert, wenn sie sich bei der Neuformung unseres
politischen Lebens auf die liberale Seite schlage.
Die Sozialdemokratie endlich hat im allgemeinen andere Sorgen, als sich
über die Zusammensetzung des Kabinetts den Kopf zu zerbrechen. Sie verharrt
lieber in der Opposition als Kontrollorgan und Kritiker der Negierung, mit der
sich zu berühren oder gar organisch zu verbinden, peinlich vermieden wird. Ge¬
schehnisse des vergangenen Sommers ließen diese Gruudeinstellung der Partei
übrigens eine Erbschaft ans den Werdejahren deS deutschen Konstitutionalismus
wieder einmal recht deutlich werden. Der Nachdruck liegt bei den sozialdemo¬
kratischen Forderungen auf der Reform von Gesetzgebung und Verwaltung im
Sinne der Arbeiterinteressen; etwaigen Experimenten in der Zusammensetzung der
Negierung steht man hier sehr gleichgültig gegenüber. Es ist nicht überflüssig,
diese Tatsache zu betonen, da die öffentliche Meinung dazu neigt, über dem dicken
Trennungsstrich von „Rechter" und „Linker" die feineren, aber sehr wichtigen
Unterschiede innerhalb der so getrennten Hauptgruppen zu übersehen."
Um ein paar Beispiele zu geben: Im „Berliner Tageblatt erschienen
Herbst 1916 zwei Artikel Wolfgang Heines, „Deutsche Zukunft" überschrieben, die
das „Programm der Grundlinien einer neuen inneren Politik" entwickelten!
vom Parlamentarismus war nicht die Rede.f) Was sich hier mittels Schlusses
silentio folgern läßt, wird bei anderen sozialistischen Schriftstellern unverhüllt
ausgesprochen. „Hätte das deutsche Bürgertum im Jahre 1848 das parlmnen»
karische System durchgesetzt", — sagt Paul Lensch, „Drei Jahre Weltrevolution"
»dem Aufsteigen der deutschen Arbeiterklasse wären noch ganz andere Hindernisse
in den Weg geschleudert worden, wie es Bismarck und die Bureaukratie nur je
vermocht haben-." Dem entspricht die charakteristische Forderung „dem Reichs¬
tage die entscheidende Kontrolle der Beamtenregierung zu sichern."
An Deutlichkeit der Meinung nicht mehr zu überbieten ist ein allerdings
nicht ohne Widerspruch gebliebener Aufsatz Heilmanns in der „Glocke", wo eS
heißt: „Unser Feind ist das Kapital, und seine Verkörperung ist viel eher das
..Berliner Tageblatt" als der König von Preußen, viel eher die parlamentarische
Bourgeoisrepublik als die preußische Beamtenverwaltung, die überwiegend geführt
wird von studierten Proletariern an Vermögen und Rittern nur in der Pflicht.
Wir müssen sozialistisch und vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus denken und
die Losungen der Liberalen endlich dem „Berliner Tageblatt" und der „Vosstschen
Zeitung" überlassen, statt unsere Parteiblätter und unsere Parteitaktik zu einem
faden Aufguß oder knotigen Gebrüll ihrer Schlagworte zu machen. Was die
büreaukratische Ovrigkeilsregierung für die deutsche Sozialreform geleistet hat, ist
Zehnmal so viel wert wie das ganze Brimborium des parlamentarischen Regimes,
natürlich nicht für das „Berliner Tageblatt", wohl aber vom Standpunkt prole-
tarischer Klassenpolitik aus. Die Regierungsform hat für das Proletariat nur
gerade so viel Interesse, als es untersuchen will, welche Verfahrenweise Mit dem
höchsten Nutzeffekt für die breite Masse wirtschaftet. Das parlamentarische System
tut das sicherlich nicht. Darüber täuscht uns kein westeuropäisches Schlagwort
hinweg. Die Regierungsweise ist überhaupt nur das Gefäß, der Becher; was darin
Zum Trinken geboien wird, darauf kommt es den Arbeitern in erster Linie an.
Und damit ein Zeugnis vom äußersten Flügel nicht fehle: soeben beginnt
Julian Borchardt unter dem Titel „Demokratie und Freiheit" eme „Untersuchung
über das parlamentarische System und seine Wirkungen in den westlichen Kultur¬
staaten" mit einem Amerika gewidmeten Hefte, wo der zwar formell nicht par-
lamentarisch regierte, sich aber doch mit besonderem Pathos zu den „freien
Böllern rechnende Arete sein die trügerische Maske fallen lassen muß
Alles in allem ergeben sich bemerkenswerte Gruppierungen. Die beiden
Sozialdemokraten Lensch und Hellmann suchen die Freiheit mehr in der Ver¬
fassung als in der Verwaltung und berühren sich darin mit einem so konservativen
Staatsmann wie Verthold Niebuyr in schärfsten Gegensatze zu der Vorstellungs¬
welt des westlich orientierten Liberalismus, für den stets die Theorie der Regie-
wngsweise wichtiger war als die Praxis der ..aämlmstratlcm" (s. England I) Und
wenn Lensch vom sozialistischen Standpunkte für eine in ?eder Beziehung starke
Staatsgewalt eintritt, so kämpft er Seite an Seite mit den Vertretern des im
Kriege zu neuem Selbstbewußtsein erwachten deutschen Staatsgedankens, und der
gemeinsame Feind ist der Jndividualismus des Manchestertums in inmer wirt¬
schaftlichen und politischen Erscheinungsform. Der sozialistische Freiheitsbegriff
bei Lensch ist ein völlig anderer als der individualistische des liberale» Typus,
is-B. Hugo Preuß), wenn auch beide den Obrigkeitsstaat überwinden wollen!
Sehr charakteristisch für diese innere Fremdheit ist es, daß Preuß jüngst den eng-
"schen Soziologen Dawson auf die „Schwierigkeit des Problems" hinweist, „das
parlamentarische Regierungssystem mit einem hochentwickelten Sozialismus zu
vereinen."'')
Jedenfalls läßt sich von einer Einheitsfront in Sachen des Parlamentaris¬
mus angesichts dieses bunten Stimmeuchors bei den sogenannten Mehrheits¬
parteien nicht reden, wenn anch zugegeben werden soll, daß die Fortschrittler sich
Me mehr so in der Isolierung befinden wie ehedem, was aus der oben berührten
Haltung des Zentrums und eines Flügels der Nationalliberalen hervorgeht.
. Zugleich ist aber auch ein weiterer Irrtum des Formeldenkens deutlich ge¬
worden. Nicht nur steht man innerhalb der Parteien in recht verschiedenen Ab¬
ständen vom Ziel — dieses ist auch überhaupt nicht in allen Fällen das gleicheI
M. a. W.: was man sich unter Parlamentarismus denkt, nimmt sich hier und
dort und wieder an einer anderen Stelle recht verschieden aus.
Auch dieses Problem hat bei uns im Laufe der Jahre hinsichtlich seiner
begrifflichen Lösung Fortschritte gemacht, obwohl deutsche Gedankenarbeit sich in
der Regel andere Betätigungsgebiete suchte. Wir wollen im allgemeinen —
mit den üblichen naiven oder böswilligen Ausnahmen — nichts mehr wissen von
dem alleinseligmachenden Univcrsalschema der „guten" Verfassung (Dahlmann),
wie es der ältere Liberalismus in doktrinärem Glauben an Englands Erbweis¬
heit und ihre Propheten (von Montesquieu angefangen) aufrichtete. Man ist
über die Zeiten hinweg, wo Parlamentarismus und Konstitutionalismus als
gleiche Größen behandelt wurden, wie das beispielsweise im Deutschen Reichstage
noch während der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschah/)
Namentlich der Krieg hat hier wesentlichen Einfluß geübt, indem er weiten
Kreisen die Illusion der westlichen „Demokratien" zerstörte. „Das Schlagwort
Demokratie, mit dem England und seine Gefolgschaft hausieren gehen, darf uns
nicht blenden, damit wir nicht wie Insekten in ein vel sengendes Licht hinein¬
flattern." In diesen Worten eines — Gewerkschaftsvorsitzenden lebt die Erkennt¬
nis, daß wir uns vor einer blinden Nachahmung fremder Verfassungseinrichtungen
hüten müssen. Das schließt naturlich nicht aus, wirklich Gutes und Bewährtes
zu nehmen, wo man es findet, und die heimischen Zustände in einer Richtung
fortzubilden, die sich nach dem wenigstens theoretisch im Westen vertretetenen Grund¬
sätze gesteigerten Volkseinflusses orientiert.
Es ist noch nicht lange her, da glaubte unsere Staatslehre und Ver¬
fassungsgeschichte den preußisch-deutschen Typus eines monarchisch-konstitutionellen
«Staatswesens als die eigentümliche heimische Abart dem englischen Parla¬
mentarismus samt seinen plauetanschen Nachbildungen gegenüberstellen zu können.
Ähnlich scheint ja Minister Dr. Friedberg in seiner oben erwähnten Rede trennen
zu wollen, nur daß bet seinem Vorschlage auf dem Worte Parlamentarismus,
nicht mehr auf „monarchisch-konstitutionell" der Nachdruck liegt. Wie weit dem
eine sachliche Verschiedenheit entspricht, läßt sich aus dem Zeitungsabdrucke der
Rede nicht entnehmen. Denn es kommt, wie gesagt, alles darauf ein, was man
unter Parlamentarismus versteht. Der Minister erläuterte den „deutschen" Parla¬
mentarismus als „engere Fühlung zwischen der Volksvertretung und dem Parla¬
ment", darin also mit dem Zentralvorstand seiner Partei (vgl. oben) völlig über¬
einstimmend, und er will diese engere Fühlung durch eine beschränkte Personal¬
union zwischen Abgeordneten- und Regierungsstellen gleichsam garantieren.
Die eigentliche Kardinalfrage, von welchem staatlichen Willenszentrum
Bildung und Bestand des so zusammengesetzten Kabinetts abhängen, ist hier also
umgangen!"
DaS „Berliner Tageblatt — in seinem Kommentar zur Solinger Rede —
geht sofort an den Nerv der Dinge heran. Vom „deutschen" Parlamentarismus
schreibt das Blatt: „Auch wir haben nichts dagegen", um sogleich fortzufahren:
„Der Kernpunkt des parlamentarischen Systems liegt eben ganz wo anders. Die
Hauptsache ist nämlich, daß das Kabinett zurücktreten muß, wenn ihm die Mehr¬
heit des Parlaments ihr Vertrauen entzieht. Alles andere sind Nebensächlich¬
keiten." In der Tat! Die Hauptsache aber bedeutet, der Leser wolle sich der
Bemerkungen in Heft 9 erinnern, cle Koko die Republik als Staatsform. Denn
mit jenem „muß" ist der Einfluß der Krone auf die Ministerernennung aus¬
geschaltet.
Zweifellos zielen die Bestrebungen der „orthodoxen" Neuorientierung in
diese Richtung; vorderhand wird allerdings meist versichert, die Dinge wären
uoch nicht so weit, daß man an eine Verwirklichung der Forderung denken könne.
Die Dinge sind in der Tat noch nicht so weit. Vorläufig verbaut sich das
»Berliner Tageblatt" die eigene Straße, indem es den Bogen in anderer Weise
überspannt. l)r. Friedberg hielt es nicht für bedauerlich, wenn „die konservative
Einseitigkeit in der Verwaltung verschwinden" würde. Das „Berliner Tageblatt"
kommentiert: Der Minister habe damit ebenso wie der Vizekanzler im Reich alle
Brücken zu den Konservativen abgebrochen und auf ihre „positive" Mitarbeit
verzichtet. Das hat der Stellvertreter des Grafen Hertling in Preußen ebenso¬
wenig getan, wie dieser selbst') in seinem berichtigenden und beschwichtigenden
Nachtrag zur Polemik des Herrn von Payer. Wohl aber ist es der Wunsch des
Berliner Blattes (anscheinend ebenso des Vizekanzlers), und eben hier legt man-
sich selber Fallstricke. Denn gerade den hinkenden Parlamentarismus einer all¬
mächtigen Partei ohne die Möglichkeit des Wechsels, wie ihn die Liberalen in
Preußen und Bayern gegenüber Konservativen und Zentrum bekämpft hatten,
Mehl man jetzt mit verteilten Rollen fortzusetzen. Durch diese Versteifung des
Parlamentarischen Systems bewirkt man aber nnr, daß es bei uns in absehbarer
Zeit nie auf die Beine kommt!
Das Verhalten des Vizekanzlers in seiner großen Antrittsrede wirkt in der¬
selben Richtung. Er muß sich vom „Bayerischen Courier", dem führenden Zentrums¬
blatte des Königreiches, vorwerfen lassen, die Bedeutung des Reichstages im ent¬
scheidenden Augenblick auf den Wert einer politischen Fechterschule herabgedrückt
M haben! Und zwar nicht ohne Grund, denn die Konservativen haben dem
Minister keineswegs „den Fehdehandschuh hingeworfen" oder sogar „ins Gesicht
geworfen", wie ein Leitartikel der „Berliner Börsen-Zeitung" behauptet, sondern
sie haben nur den ihnen selbst wirklich geradezu ius Gesicht geschleuderten auf¬
genommen. Eine Partei von solchen Überlieferungen und Verdiensten wie die
ihrige mußte es in der Tat als Schimpf ansehen, mit den Ultras bolschewistischer
Färbung über einen Kamin geschoren zu werden"").
Herrn von Payer mag das parlamentarische Ideal, einen möglichst klaren,
einheitlichen Mehrheitswillcn nnter Ausschluß aller störenden Elemente herzustellen,
Zu seinem Vorgehen bewogen haben (das glaubt die „Vossische Zeitung"), weit¬
blickend war es, wie gesagt, nicht- denn wenn jetzt die Konservativen gleichsam
aus dem Staatsleben ausgeschaltet werden sollen, wie ehedem die Sozialdemokratie,
so kehrt die alte Schwierigkeit wieder, daß nämlich die auf diese Weise zurecht¬
gemachte Maschine des deutschen Parlamentarismus nicht zu arbeiten vermag.
Das „Zweiparteiensystem", von dein Friedrich Naumann seit Bethmanns Sturze
auch bei uns reden möchte, ist nichts weiter als eine Fiktion. Wir haben eine
»Opposition", die von der Mehrheit verfemt wird, insbesondere durch Aberkennung
M-er Regieruugssäyigkeit. Und wir haben eine „Regierungspartei", in deren
Leiden die Opposition gegen die eigenen Führer (vgl. oben die Äußerung des
»Bayerischen Couriers") nicht unterdrückt werden kann, die überhaupt an allen
schwächen einer Koalition krankt.
Nach dem weiter oben Ausgeführten lassen sich die deutschen Anschauungen
5'ber „Parlamentarismus" (wenn von der völlig ablehnenden Haltung der Kor-
^rvcitiven abgesehen wird) in eine extreme und eine gemäßigte Gruppe sondern,
xwr Gesichtsfeld der „exaltAcios" liegt nicht weniger als eine radikale Umwand¬
lung unserer Regierung und zugleich'auch unserer Staatsform. Hier erheben sich
^e von den Befürwortern des Wechsels begreiflicherweise allzu leicht genommenen
-Probleme eines neuen Reichs- und Fürstenrechies. Einiges davon wurde vor
"^erzehn Tagen an dieser Stelle angedeutet. Die .Mocteraclas" (vgl. die er¬
ahnden Vorschläge der „Germania", des nationalliberalen Zentralvorstandes, des
Münsters Friedberg) wollen sich mit gewissen Verbesserungen des herrschenden
Systems begnügen. Es fragt sich, wie weit man hier gehen kann, ohne mit dem
Grundcharakter unseres Verfassungsrechtes in Konflikt zu kommen. Ob sich über-"
Haupt eine Synthese ermöglichen läßt und uicht vielmehr jener Konflikt, der mit
dem ausgesprochenen Siege des einen oder anderen Teiles endigt, unaus
b
Alle»» Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsatze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterselde West. — Manikskriptfenduiigeu und
Bricke werden erbeten unter der Adresse:
An die «chriftlcitunn der Gr-nzboten in Berlin SV 11, Tempelhofer Ufer 35».
j>«r»Ipr-cher des Herausgebers- Am« Lichterfelde <W8, des Verlags und der Schriftl-itung: Amt Lützow Wlv,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in, b. H. in Berlin 8VV it, Tempelhof-r Ufer 35»,
Druck: „Der Rcichsbute" G, in. b. H. in Berlin SV/ 11, Dessauer Strasze M/37.
/<Wir bitten die Freunde der :: :: :: ::
das Abonnement zum II. Quartal 1918
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanstalt entgegen. Preis 7.50 M.
^.Verlag der
Gvensboten
G. in. b. S.
Berlin SW it.
Während im Osten die Morgenröte des Friedens heraufdämmert,
wollen unsere verblendeten westlichen Gegner die Äand zum Frieden noch
nicht reichen. Sie wähnen noch immer, uns mit Waffengewalt zu Boden
ringen zu können. Sie werden erkennen müssen, daß das deutsche Schwert
die alte Schärfe besitzt, daß unser braves Acer unwiderstehlich im Angriff,
unerschütterlich in der Verteidigung, niemals geschlagen werden kann. Von
neuem ruft das Vaterland und fordert die Mittel von uns, die Schlag-
fertigkeit des Heeres auf der bisherigen stolzen Höhe zu halten. Wenn
alle helfen, Stadt und Land, reich und arm, groß und klein, dann wird
auch die 8. Kriegsanleihe sich würdig den bisherigen Geldsiegen anreihen,
dann wird sie wiederum werden zu einer echten rechten deutschen Volks¬
anleihe.
er Kaiser hat den Ministerialdirektor Dr. Grafen von Keyserlingk
„zum Kommissar des Reichskanzlers für die Bearbeitung der An¬
gelegenheiten von Litauen, Kurland und der übrigen östlichen Ge¬
biete — das sind Livland, Estland, Letgalen, Weißrußland —-, mit
Ausnahme von Polen", ernannt. Damit ist zögernd der Weg be¬
treten, der zur völligen politischen Zusammenfassung der um die Dura herum¬
liegenden Gebiete führen kann, wie sie im vorigen Heft vorgeschlagen wurde. Ob
man soweit gehen will, ist freilich eine andere Frage. Die Entscheidung darüber
wird sehr wesentlich davon abhängen, wie sich die betroffenen Gebiete selbst dazu
stellen. — Inzwischen wird wohl die Regierung wieder zahlreiche Warnungen aus
den Kreisen, die vor dem .Kriege in irgendwelchen wirtschaftlichen oder ideellen
Beziehungen zu Rußland gestanden haben, zu hören bekommen, doch ja nicht zu
früh dauernde Verhältnisse im Osten zu schaffen, die einer späteren Verständigung
mit Rußland hindernd im Wege stehen könnten. Die heute noch so denken,
wurzeln mit ihren Anschauungen bewußt und unbewußt in den Gedankengängen,
die Bismarcks Politik leitete. Sie. können es sich nicht vorstellen, daß Nußland
nun einfach beiseite geschoben sein und nicht doch wieder einen Machtfaktor
darstellen sollte, nach dem Deutschlands Politik sich einzurichten haben werde. Bei
den wirtschaftlich interessierten, ebenso wie bei einer gewissen Richtung von Kon¬
tinentalpolitikern, spielen die alten Vorstellungen sogar eine so große Rolle, daß
man bei ihnen dem Wunsche begegnet, Rußland möchte sich so schnell als möglich
wieder unter einem Zaren sammeln, zu Kraft und Ansehen gelangen, damit es
uns, nun durch Schaden klug geworden, wieder wirtschaftlichen und politischen
Rückhalt in den Welt- und Kontinentalgeschästen gewähren könnte; um diesen Preis
wären sie sogar bereit, alle Rußland abgenommenen Gebiets wieder heraus¬
zugeben. Dabei ist ihr Blick starr auf Moskau und Petersburg gerichtet, wo
nach ihrer Meinung auch fernerhin Rußlands Macht liegen werde. Es sind zu ernste
Kreise, die solchen Auffassungen huldigen, als daß die Regierung über sie still¬
schweigend zur Tagesordnung übergehen dürfte. In der Sache selbst sind sie
durch die Taisacheu vorläufig ins Unrecht gesetzt. Das hindert jedoch nicht, daß
der stärkste Träger ihrer Gründe, der Glaube an die Zukunft Rußlands,
ein durchaus richtiges Gefühl ist.
Auch ich bekenne mich zu dem Glauben, daß Rußlands Geschick durch den
bisherigen Zusammenbruch nicht endgültig besiegelt ist. Die Völker Rußlands
werden sich, in irgendeiner Form wieder zu Macht und Ansehen zusammen¬
schließen und Rußlands angeblicher Zerfall wird sich uns, wenn es seine innere
Krise erst überstanden hat, als eine Befreiung starker, bisher gefesselter Kräfte ent¬
hüllen, die, auf ein gemeinsames Ziel geeint, Anspruch auf Beachtung und Berück¬
sichtigung in der Weltpolitik heischen werden. Wir selbst, unsre Kaufleute und
Ingenieure werden ihnen dabei helfen und unsere Truppen sind schon an der
Arbeit, die dem Wiederaufbau von ganz Rußland dient, indem sie die Ukraina von
den Banden der Maximalisten säubern und einer national bedingten Staatsgewalt
helfen Wurzel zu schlagen; durch Besetzung des Nordwestgebietes und des Baltikums
Swingen wir ferner die Moskowiter, sich auf ihre eigenen Angelegenheiten zu
konzentrieren, was sehr erheblich zur Konsolidierung beitragen dürfte.
Eine solche Auffassung von der Zukunft Rußlands hat indessen nicht zur
Konsequenz, daß unsere Regierung die Hände in den Schoß legt und die Ent-
Wicklung der besetzten Gebiete deren Bewohner selbst überläßt. Der Gedanken-
gang, der zu dieser Forderung führt, hatte Berechtigung, solange Nußland nicht
militärisch zu Boden geworfen war und solange sich nicht alle die Gebiete in
unseren Händen befanden, deren wir zur militärpolitischen Sicherung gegen den
Osten bedurften. 1916 einen Polenstaat zum Leben erwecken, ohne ihn fest an
unserer Seite zu wissen, hieß einen Preis für zweifelhafte diplomatische Werte
Kahlen, der diesen nicht entsprach! Die Eroberung Polens bot uns rein militärische
Vorteile, die zur politischen UmPrägung wohl zugunsten der Polen, nicht aber
für uns ausreichten. 1918, nach dem Sonderfrieden mit der Ukraina und dem
Frieden mit den Maximalisten, liegen die Dinge wesentlich anders: wir haben
damit erst die Freiheit gewonnen, sehr weittragende Entschlüsse wegen der besetzten
Gebiete zu fassen und können nun Verhältnisse schaffen, die geeignet sind, die
künftige Entwicklung eines neuen Rußland und unserer Beziehungen zu ihm tief
SU beeinflussen. Das ist der springende Punkt! Wollte die Regierung angesichts
des nunmehr vorhandenen Tatsachenmaterials die Hände in den Schoß legen, so
schüfe sie durch ihre Untätigkeit nur Raum für die Gefahr, daß wir tue Führung
im Osten, die unsere Armeen erstritten haben, wieder verlieren und selbst ins
Schlepptau des politischen Willens eines künftigen Rußlands gerieten.
Die neue Lage im Osten wird durch folgende Tatsachen gekennzeichnet: In
Nordrußland sprechen alle Anzeichen dafür, daß die Maximalisten. sobald ste aus
der Ukraina verjagt sind, einer neuen Regierung Platz machen werden, von der
wir noch nicht mit Bestimmtheit annehmen können, daß sie in den Fnedensvertrag
stritt; wir müssen sogar darauf gefaßt sein, daß sie mit Hilfe oder unter dem
Druck Japans in einem bestimmten Augenblick uns in irgendeiner Form femdlnch
Segenübertritt Demgegenüber steht die Tatsache, daß zwei wichtige Teile des
alten Rußland, nämlich Finnland und die Ukrain-, nicht nur Frieden mit uus
^schlössen haben sondern auch, wenn auch in Beschränkung auf den Osten, unsere
Bundesgenossen geworden sind; ihre Interessen laufen mit den unsrigen eine
">le es scheint, weite Strecke zusammen. Von ihm und acht von den
Staatszielen des alten Rußland haben wir auszugehen bei der Beurteilung,
ob unsere Maßnahmen in Polen und Dünaland der Wiederaufnahme guter
Beziehungen zu den Russen entgegenstehen werden oder nicht. Das alte
Nußland besteht im Augenblick nicht mehr; die Hüter der alten Ideale,
^e zum Kriege führten, sind militärisch und politisch ohnmächtig. Durch die
Gestaltung der Verhältnisse in den besetzten Gebieten sind wir befähigt, die
Wiedergeburt des alten Rußland zu verhindern oder doch zu erschweren. Alle
Faktoren daselbst drängen sich uns förmlich auf, dem neuen Rußland auch neue
politische Bahnen zu weisen. Dos von uns besetzte Gebiet eignet sich in Militär-
^graphischer, wirtschaftlicher und ethnographischer Beziehung zur Schaffung von
^'dischen Einheiten bis zum Staat einschließlich, die sich wirtschaftlich und
militärisch sowohl leicht gegen ein angreifend auftretendes Rußland verteidigen ließen,
wie auch eine Verbindung zu dem neuorientierten Nußland herstellen könnten.
Die Bevölkerung dieser Gebiete steht überdies in ihrer überwiegenden Mehrheit
der gegenwärtigen Negierung Nordrußlands durchaus ablehnend gegenüber.
Ehlen, Letten, Litauer wollen von den Maximalsten nichts wissen, — nur beim
jüdischen und polnischen Proletariat machen sich stärkere Sympathien für sie
bemerkbar. Es ist zwar damit noch nicht gesagt, daß diese Nationalitäten sich
nun besonders zu den Deutschen hingezogen fühlten. Nein, solchen Illusionen
wollen wir uns nicht hingeben. Ein bürgerliches Rußland, gleichgültig, ob
monarchisch oder republikanisch regiert, würde auf sie und auch auf zahlreiche
Deutsche innerhalb und außerhalb der baltischen Provinzen ohne Zweifel eine
weit größere Anziehungskraft ausüben, wie das demokratische Kaiserreich Deutsch¬
land. Aber darum geht es ihnen im Augenblick gar nicht, sondern darum,
wer ihnen ihren Besitz sicherzustellen und eine gewisse Garantie für friedliche Ent¬
wicklung zu geben vermag. Weil zufällig Deutschland und nicht Rußland die
Macht dazu hat, darum stehen sie auch auf unserer Seite. Für uns bedeutet
solche Stimmung vorläufig nur eine politische Chance im Kampf gegen das alte
Rußland und die Entente, die ausgenutzt werden kann und muß zum wohl er¬
wogenen Aufbau im Osten und damit zur Gestaltung unserer späteren Beziehungen
zum neuen Rußland.
Das neue Rußland, das aus dem bebenden Leibe der alten „Matuschka
Rosfija" gewaltsam ans Licht strebt, dessen Geburtsstunde die ganze Welt mit
Grauen und Staunen entgegensieht, wie wird es aussehen? welche Kraft wird es
darstellen? welche Ziele wird es verfolgen?
Die russische Revolution hat bisher, abgesehen von den inneren Umwäl¬
zungen und von dem Einfluß auf die Lage der Mitternächte, an positiven
Ergebnissen, nur eines für die große Politik gehabt: sie hat den Schwerpunkt des
Russentums, der nach der Auseinandersetzung zwischen den Kijeroer und Moskaner
Teilfürsten vor Jahrhunderten nach Norden gerückt war und dort künstlich, besonders
nach der Öffnung des Petersburger Fensters nach Europa und zuletzt durch die aus
Frankreichs Milliarden gestützte Wirtschaftspolitik festgehalten wurde, zurückfallen
lassen an seinen natürlichen Platz im Süden. Wird die Ukraina diese überragende
Stellung sich erhalten können und unter welchen Boraussetzungen? Damit nähern
wir uns dem Kern unserer ganzen Ostpolitik, der Frage, unter welchen Umständen
die Wiedervereinigung Rußlands vorauszusehen ist.
Daß die Ukraina alle geographischen und wirtschaftlichen Vorbedingungen
besitzt, die sie befähigen würden, einen eigenen Staat zu bilden, ohne von Nord¬
rußland abhängig zu sein, habe ich schon im Herbst 1914 in den „Grenzboten"
ausführlich nachgewiesen. Bezweifelt wurde die politische Tragfähigkeit des sozialen
Aufbaues beim ukrainischen Volke. Ihm fehlt eins eigene führende Schicht. Der
Moskowiter mit seiner internationalen Gefolgschaft hat die Stellung einer solchen
in der Regierung und Großindustrie eingenommen, während der ländliche Gro߬
grundbesitz vorwiegend polnisch ist. Eben darum konnte die Ukraina dem mosko¬
witischen Staatsgedanken wie eine reiche Kolonie dienstbar gemacht werden. Diese
Abhängigkeit ist auch durch die Revolution und die Verstaatlichung des Bodens
nicht beseitigt. Erst eine fernere Zukunft wird es erweisen, ob die freie Ukraina
ihrem eigenen Staatsgedanken eine eigene weltpolitische Richtung geben kann, die
das Moskowitertum mitzureißen imstande wäre, wenn es nicht gar stark genug
wäre eigene Wege zu gehen.
Aus den Zuständen in Nordrußland folgern zu wollen, daß die Maxima-
listenherrschaft das Volk unfähig machen werde, Jahrzehnte hindurch große Politik
SU treiben, hieße die Russen unterschätzen. Auch Nordrußland hat Schätze, mit
denen es ohne weiteres wieder in enge Handelsverbindung zur Ukrainer als will¬
kommener Kunde treten könnte: Gold, Platin, Edelsteine, Kupfer, Holz, Fische
und — menschliche Arbeitskräfte! Es sind wahre Völkerwanderungen, die sich um
die Zeit der Ackerbestellnng und der Ernte aus Nord- nach Südrutzland wälzen,
um dort in wenigen Wochen den Lebensunterhalt für den ganzen Winter zu ver¬
dienen. Zu Pfingsten aber beten Hunderttausends von Pilgern aus allen Teilen
Rußlands und Sibiriens in der Lawra zu Kijew um Befreiung von körperlichen
Gebresten. Gelänge es selbst die großwirtschastlichen Beziehungen zwischen den
beiden Gebieten durch Zölle, Tarife, Enteignungen und sonstige, dem sozialistischen
Almanach entnommenen Maßnahmen zu unterbinden, sofern solches überhaupt
un Interesse der Ukmina selbst läge, diese in den Bedürfnissen der breiten Massen
Wurzelnden Beziehungen sind kaum zu unterbinden. Wehe dem dritten, der es
etwa versuchen wollte, eine Trennung herbeizuführen. Beide Teile würden sich
geeint gegen ihn wendenI
Die Scheidung zwischen Moskau und Kijew kann nur eine vorübergehende
sein. Sie ist also keine jener Tatsachen, mit der im Schachspiel der Großen Politik
etwas Unerschütterlichein zu rechnen ist. Um so bedeutsamer wird für uns
schon in der nächsten Zukunft die Entscheidung sein, wer von den beiden Beteiligten
die Kraft haben wird, bei der Wiedervereinigung die Führung zu übernehmen,
^se es Moskau, und können dessen wirtschaftliche Bedürfnisse sich den Vortritt
erkämpfen, so wird der ganze politische Druck, den das alte Rußland aus die
Ostsee, aus das Baltikum, Finnland und die nordischen Staaten ausübte, neu und
un't verstärkter Kraft aufleben und uns in der Ostmark und an der Weichsel ebenso
bedrohen, wie Schweden in seinen nördlichsten Bezirken. Ist es aber die Ukraina,
so wird Neurußlands Bestreben nach Vorderasien, Persien, Zentralasien gerichtet
sein, als unser wirtschaftlicher Wettbewerber und Verbündeter, nicht als nationaler
Aeind. Im ersteren Falle würde sich sehr bald eine Verständigung des neuen
^ußland mit England und Amerika mit friedlicher Durchdringung des Baltikums
un Gefolge erzielen lassen; im zweiten wird Rußland eine ernste Drohung gegen
Indien sein und mit uns das gleiche Interesse an freien Ausgüngen aus dem
^ittelmeer zu den Weltmeeren haben. Ein von der Ukraina geführtes Rußland
^ weltwirtschaftlich in erster Linie Levantestaat, wenn Nordrußland führt, würde
es in erster Linie ein Ostseestaat werden.
Ist sich die Regierung über diese Alternative klar, so wird sie wissen, daß
?ne ihre Maßnahmen im Dünaland mit einer Wirtschaftspolitik in der Ukraina
M Einklang gebracht sein müssen, die diese befähigen würde, die weltpolitische
»uhrung des geeinten Nußland zu übernehmen. Gelingt dies nicht, so wird der
days Baltikum von neuen entbrennen und wir werden uns bald einer
ähnlichen Koalition von Mächten gegenübersehen, wie am Anfange des Weltkrieges,
"s die ungünstigsten Möglichkeiten aber muß die Politik gerüstet sein. Darum
werden die von uns an die Bereinigung des Baltikums zu einem großen Staats¬
wesen geknüpften Hoffnungen um so eher in Erfüllung gehen, je gefestigter dieser
Staat innerlich ausgebaut und je größere Vorteile er allen seinen Bewohnern
zu bieten vermag, Vorteile, für die es sich lohnte im äußersten Falle auch das
Schwert zu ziehn, sei es gegen die Moskowiter, sei es gegen die Polen oder
eine von England vorgeschobene Macht. Ob der Weg, der der Regierung gegen¬
wärtig durch jene Kurländer gezeigt wird, die dem Könige von Preußen den
kurischen Herzogshut anboten, der richtige ist, läßt sich solange nicht über¬
sehen, wie das Schicksal Litauens unbekannt bleibt. Einen Staat lediglich
nach den Wünschen einer Nationalität bilden zu wollen, wodurch alle andern von
vornherein in den Gegensatz zu diesem Staate getrieben würden, wäre entschieden zu
verwerfen. Dünaland sollte innerlich so eingerichtet sein, daß alle seine Be¬
wohner gleichen Anteil an seinem wirtschaftlichen Aufschwung nehmen können.
Im übrigen sollte es so in das oft- und nordeuropäische Wirtschaftssystem einge¬
baut werden, daß es, des neuen Nußland Welthandel zusammen mit dem deutschen
fördernd, dies niemals reizte, sich seiner zu bemächtigen. Dem Grafen v. Keyserling!
als Reichskommissar wird aus diesen Zusammenhängen heraus eine hochbedeutsame
und schöne Aufgabe, wie sie wenigen Staatsmännern in der Geschichte gestellt worden
ist. Möge er eine glückliche Hand haben! Von seiner Arbeit am Bau hängt das
Schicksal von Millionen unserer Kinder mit ab.
le letzten vier Wochen waren eine besonders gute Schule für das
Verständnis des Bündnisses zwischen den Mittemächten und für
die verborgenen und sehr wichtigen Beziehungen, die zwischen ihm
und der inneren österreichischen Politik bestehen. An der Ober¬
fläche sah man wieder einmal eine Parlamentskrise, als die unmittelbar
^ sichtbaren Ursachen dafür zeigten sich die enttäuschten großpolnischen
Hoffnungen, die polnische „Nationaltrauer" sowie die von der Gefühlspolitik der
Massen klug gestützte, viel erprobte Kuhhandelroutine des Polenklubs. Ganz zu
unterst aber, und dem flüchtigen Blick verborgen, ruht das dauernde, ungelöste
und wohl unlösbare österreichische Verfassungsproblem, von dem viele behaupten,
daß man es als ein Verwaltungsproluem ansehen müsse, wenn man ihm über¬
haupt irgendwie beikommen wolle. Denn die polnischen Drohungen wären
natürlich nicht imstande gewesen, selbst nicht mit Hilfe der maximalistisch-
doktrinären Sozialdemokratie, den Kricgshaushalt des Staates und seine gesetz¬
mäßige Bewilligung in Frage zu stellen, wenn nicht die Regierungsmehrheit
in diesem Parlament (und in diesem Falle ist es wirklich ein Spiegelbild der
Bevölkerung), immer in einem labilen, auf äußerst gewagten Kompromissen
ruhenden Gleichgewicht sich befände. Daß dieser Gleichgewichtszustand trotzdem
nicht aufhört, ist nur aus demselben Umstand zu erklären, aus dem letzten Endes
Osterreich selbst am besten erklärt wird: man weiß nicht, was nachkommen soll.
Im Grunde genommen sind ja nicht nur die Tschechen und Südslawen, diese
Zweiten übrigens mit Maß und Vorbedacht, dauernd in der Opposition, machen
nicht nur die Polen den Bestand des Staates von der Erfüllung ihrer Wünsche
abhängig: im Grunde ist auch der k. k. Sozialdemokratie, wie steh diesmal zeigte,
die Parteidoktrin wichtiger als der Staat. Im Grunde genommen, bleiben
eigentlich nur als die ewigen „Würzen", wie der Wiener bekanntlich du; freund¬
lichen Stützen einer Schmarotzergesellschast nennt, die deutschbürgerlichen Parteien
übrig. Sie, die am wenigsten vom Parlament haben, opfern am meisten und
ausdauerndsten für die verfassungsmäßige Erledigung des Kriegshaushaltes, und
Zwar nicht aus Schwäche, die selbstverständlich einzelnen ihrer Vertreter mit Neckt
nachgesagt werden, aber doch unmöglich die dauernde Grundlage für d.le
Politik eines ganzen großen Parteiverbandes bilden kann, sondern eben aus
tieferen Gründen, aus einem Zwiespalt heraus, der nicht in ihnen, sondern in
ihrer Lage begründet ist. < . „ ^. ^. c
So ergibt sich denn das merkwürdige Bild, daß alle, die die „Verfassung"
brauchen, mit aller .Kraft gegen sie ankämpfen, in der sicheren..Voraussicht", daß
sie ja doch wieder auf Kosten des Gesamtstaates oder wenigstens der Deutschen
von ihnen gerettet wird, indes gerade das Häuflein, aus dessen Vermögen haupt¬
sächlich der Kaufpreis für die Rettung der Verfassung im letzten Augenblick be¬
zahlt wird, sein Möglichstes dazu tut, um diesen Handel zu ermöglichen. So
war es auch diesmal'
. Erst wird ein weiteres Stuck vom Ansehen des Staates
und von Volksbedürfnissen geopfert, um die Stimmen der Sozmldemokraten zu
erkaufen: man enthält sich des Einmarsches in die Ukraine. Dann, als sich
dieses Opfer als ungenügend und auch nicht durchführbar erweut. gibt man
einen Teil der Vereinbarung mit den Ukrainern preis und oeginnt aufs neue
Mit der „anhero-polnischen Lösung" zu liebäugeln, um die Polen zur Stimm-
enthaltung zubringen. Durch eine polnische Audienz deren Kaiser, der aimer
wieder von der unfähigen Regierung Seidler vorgeschoben wird, so daß die
Krone allmählich eine sehr gefährliche "Belastung mit schwer emlosbaren Wechseln
zu tragen hat, wird das Budget gerettet. Auf die Kraftprobe: ob die Opposi¬
tionsparteien wohl die Verantwortung übernehmen wurden, daß tap Parlament
gesprengt und wieder absolut regiert wird, läßt man es auch diesmal nicht an¬
kommen. Letzten Endes hätten natürlich gerade die wütendsten Oppositions¬
parteien wenig Vorteil davon, wenn sie einen solchen Zustand herbeiführten.
Aber sie wissen ja, daß es nicht so gefährlich wird, und daß es wieder nur auf
Wien Handel hinausläuft. ^ ^ - ,
Jeder solche Handel mit den Slawen und auch und den «Sozialdemokraten
geht aber nicht bloß auf Kosten des Staatsgesüges und des innenpolitischen Besitz¬
tumes der Deutschen. Vielmehr zeigt sich bei jeder solchen Gelegenheit ga^z deutlich,was die Gegner treffen wollen, wenn sie auf diesen innerpolitischen Besitz der
Deutsche zielen. Sie sind natürlich nicht so naiv zu glauben, daß das Bündnis
iue Deutsch-Österreicher stütze, wenn sie auch so tun; ste wissen jedoch gan° genau,
soie sehr die Deutsch-Österreicher das Bündnis stützen, und das ist's, worauf es'h"en ankommt. Die Oppositionellen alle wissen dadurch ihren Kampf immer
wieder nach zwei Seiten plausibel zu machen (sowohl gegenüber ihren Wählern
!^es unten hin wie gegenüber der Krone nach oben hin), daß sie in einer Geheim-
wrache. die längst im Inlands und im feindlichen Auslande, nur in weiten Kreisen
Deutschlands noch nicht verstanden wird, versichern: wir kämpfen nicht gegen Osterreich
Menschin, sondern nur gegen ein mit Deutschland verbündetes. Neuerdings wird
^ ja ganz unumwunden gesagt. Damit ist aber auch die eigentümliche Stellung
Deutsch-Österreicher gegeben. Obwohl dieser gegenwärtige Staat, dieses an
5^utschland verbündete 'Osterreich seine außenpolitische Lage und seine inner-
kritischen Grundformen (die Kronlandseinteilung und eine Zentralverwaltung,°!e allerdings mehr und mehr Fassade wird), mir dadurch erhalten kann, daß es
ununterbrochen aus dem völkischen Besitzstand der Deutschen, aus ihren Steuer-
geldern und ihren Kulturleistungen, den Jrredentisten Trinkgelder gibt — müssen
doch eben diese ausgeplünderten Deutschen solange für diesen Zustand eintreten,
als sie nicht die Lockerung des Bündnisses befördern wollen. So vielfache Unzu¬
friedenheit sie in die Opposition drängt, sie können unmöglich den Kriegshaus¬
halt einem Staat verweigern, dessen Heer an der Seite des deutschen kämpft.
Und sie werden solange weiter aus ihrem Besitz die österreichischen Kosten des
Bündnisses bezahlen, als nicht eine andere außenpolitische und Weltlage ihnen
bessere innerpolitische Möglichkeiten bieten wird. Nur von da aus versteht man
die innere österreichische Politik richtig: sie wird von allen Beteiligten mit einem
Schielen nach außen hin gemacht, das nur für die Deutschen ein ehrliches Schauen
sein darf, weil sie nichts arideres »vollen, als was offiziell gewollt werden soll:
ein festes, vertrauensvolles Bündnis. Die Slawen unterwühlen es nach Kräften,
die Sozialdemokraten, die immer mehr von wenig bodenständigen Elementen ge¬
führt werden, leisten ihnen aus Haß gegen das „militärische" Preußen und aus
Ententefreundschaft Beistand — und die Krone? Sie hüllt sich bei den wüstesten
Hetzen gegen Deutschland in Schweigen, sie läßt es geschehen, daß Deutschland
für die Vereinbarungen über Chota verantwortlich gemacht wird, obgleich Czernin
allein und völlig frei mit den Ukrainern verhandelte, sie hat den bündnisfeind¬
lichen Hofrat Lammasch und den pazifistischen Kaffeehändler Meint. der eine
deutschlandfeindliche Wochenschrift „Der Frieden" seit kurzem finanziert, sehr nahe
an sich herankommen lassen....."
Den Reichsdeutschen aber, die immer ungeduldiger eine „Lösung des öster¬
reichischen Problems verlangen und mit Vorliebe die Deutsch-Österreicher für deren
Ausbleiben verantwortlich machen, sei mit aller Entschiedenheit gesagt: das öster¬
reichische Problem kann sich nicht selber lösen.
le thüringische und die elsaß-lothringische Frage sind nur Muster¬
beispiele der vielfältigen Probleme, in denen im Innern des
deutschen Bundesstaats wirtschaftliche Not aus der Enge territorial¬
staatlicher Gebundenheit herausdrängt. Überall, wo unselbständige
Kleinstaaten mit größeren Machtgebieten zusammenstoßen, Haufen sich
die Schwierigkeiten, den Aufwand von Rechtspflege und Verwaltung in
sachgemäße!, Einklang mit den verfügbaren Mitteln zu bringen. Die kleinsten Bundes¬
staaten Norddeutschlands zwar, Wald-'et und Lippe, haben ihr Dasein durch rück¬
haltlosen Anschluß an Preußen gesichert. Selbst in Anhalt, wo die Frankfurter
Reichsgewalt im Herbst 184» wie in Thüringen über eine „Jmmediatisierung"
verhandeln konnte/ haben sich Dynastie und Bevölkerung völlig in dies Abhängig¬
keitsverhältnis eingewöhnt. Gutpreußische Überlieferung weiß die societas leonina
ja aufs köstlichste mit allen Ehren und Würden einer prunkenden Scheinsouve-
ränität zu verbrämen.
Ganz anders steht es im Südwesten des Reiches. In der Rheinprovinz,
wo der Wiener Kongreß Mecklenburg-Strelitz, Hessen-Homburg. Sachsen-Coburg
und Oldenburg „entschädigte", sind die Mehrzahl dieser Enklaven längst durch
Verkauf und Verzicht in Preußens Besitz übergegangen. Als ein versteinerter
Rest aus der letzten Blütezeit dynastischer Begehrlichkeiten aber fordert das Fürsten¬
tum Birkenfeld nachdrücklich eine gründliche Flurbereinigung, die es endgültig vom
fernen Oldenburg trennt. Umgekehrt empfindet Württemberg das preußische
Außengebiet der alten hohenzollernschen Lande als Störung seiner wirtschaftlichen
Einheit. Auch hier schienen die Märzflürme der deutschen Revolution anfangs
einigend zu wirken. Erst als die Reichsgewalt die unmittelbare Übernahme der
Fürstentümer in die Verwaltung des Reiches selbst ablehnen mußte, verzichtete
Fürst Karl Anton zugunsten Preußens auf seine Souveränität. 1866 aber und
1870 hofften in Württemberg Dynastie und Demokratie auf den Anschluß der
Enklaven. „Das Haus Hohenzollern hat aufgehört, in den Donaufürstentümern
Sigmaringen und Hechingen zu regieren", dekretierte der Stuttgarter „Beobachter",
das Organ der schwäbischen Volkspartei, als im Juli 1866 falsche Nachrichten
vom Siege Österreichs einliefen. Und den nach Versailles abgehenden Ministern
legte die Königin Olga die Forderung eines Gebietsaustausches mit Preußen
eifrig ans Herz.
Wie damals könnte in der Tat auch heute die endgültige Regelung der
staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens erwünschte Gelegenheit bieten,
Württemberg und Baden an der oberen Donau abzurunden. Zugleich würde die
Auflassung des Reichslandes die Stärkung der bayerischen Rheinpfalz durch Zu¬
teilung bestimmter Gebiete im nördlichen Elsaß und im östlichen Lothringen er¬
möglichen. Ist doch der Kreis Weißenburg, den Bismarck noch im Anfang des
Jahres 1871 den bayerischen Unterhändlern halb und halb zusicherte, zum großen
Teile altes fränkisch-pfälzisches Sprachgebiet I Wenn auch die alten Forderungen
der Wittelsbacher nach Herstellung einer Landbrücke zwischen Franken und Unter¬
pfalz über Hanau oder Heidelberg unerfüllbar geworden sind, so würde das Reich
Mit solcher Regelung doch zeigen^ daß es Verständnis besitzt für die territorialen
Eigenwünsche seines zweitgrößten Bundesstaates, dem es in anderen, rein poli¬
tischen, militärischen und' wirtschaftlichen Fragen bekanntlich sehr weitgehendes
Entgegenkommen zeigt. Vielleicht würde so am zweckmäßigsten der Weg zur
Regelung der staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens geebnet, die heute
SU einer der drängendsten Fragen unserer inneren Politik geworden ist.
Damit wird das Problem der deutschen Flurbereinigung herausgehoben aus
der Erörterung rein territorialstaatlicher Interessen. Unsere geschichtlichen Erinne¬
rungen zeigten, daß die MediaMerungs- und Arrondierungsforderungen der Einzel-
staaten in den Krisen des neunzehnten Jahrhunderts vornehmlich von den Dynastien
vertreten wurden. Nur zaghaft drängten von innen heraus auch die Volksver-
tretungen und die Publizistik nach. Und doch werden auch die Wünsche der
Fürsten und Regierungen ganz wesentlich von der Notwendigkeit bedingt und ge¬
tragen, den Einzelstaat zu wirtschaftlich selbständiger und leistungsfähiger Einheit
Zu erheben. Wie eine schlechte Satire mutet es daher an, wenn die national¬
liberalen Wahlvereine für Mecklenburg-Strelitz trotzdem auch heute noch gegen
die „schwere Schädigung" Einspruch erheben, die dem Land aus einer Zusammen¬
legung mit Mecklenburg-Schwerin erwachsen. Die Berufung gar auf „das Selbst-
vestimmungsrecht der Völker als Rechtsgrundsatz für politische Abmachungen" und
seine Anwendung auf die „Neu-Strelitzer Nation" rufen Erinnerungen an die
unseligste Zeit deutscher Kleinstaaterei wach, die im Zeichen des ersten Krieges,
den das deutsche Volk in staatlicher Einheit führt, nicht aufkommen durften. Von
diesem Standpunkt aus wird marGm Gegenteil den Zufall preisen, der beide Meck¬
lenburg zum gemeinsamen Landtag auch einen gemeinsamen Herrscher beschert.
Aufs deutlichste zeigt sich diese innere Notwendigkeit, die heute stärker
nöt denn je eine Vereinheitlichung der in der Geinengelage liegenden Verwaltungs-
und Wirtschaftskörper fordert, im Bild der deutschen Großstädte, die aus der
Vereinzelung herauszukommen streben. Nicht nur Berlin wünscht eine kom¬
munalpolitische Flurbereinigung. Auch an der Mündung der Elbe werden nach¬
drücklich Stimmen laut, die eine staatliche Eingemeindung der vier preußischen
Nachbarstädte Altona, Wcmdsbek, Wilhelmsburg und Harburg in die freie Hanse¬
stadt Hamburg begehren. Die Frage der Erweiterung des hamburgischen Staats¬
gebiets, so wird mit Fug und Recht betont, sei eine deutschnationale Forderung,
die nicht in Feilschen über Gebietsstücke ausarten dürfe. Weit über das Matz
und die Grenzen einzelstaatlicher Sonderinteressen und Wünsche mündet auch die
Erörterung dieser kleineren Fragen der Flurbereinigung wie die thüringische und
wie unsere elsatz-lothringische Frage in das große Problem, das das Verhältnis
von Preußen zum Reich seit ebenfalls hundert Jahren bietet.
Aufs engste und innigste ist ja seit den Tagen der deutschen Einheitsbewe¬
gung das Hineinwachsen der norddeutschen Großmacht ins Reich, ihr Drängen
zur offenen See und uach der Westgrenze der deutschen Volksgemeinschaft mit
den eigentlich politischen Fragen der Verfassung und des Stacitsrechts verbunden.
AIs Preußen aus dem Wiener Kongreß unwillig genug anstatt des heiß begehrten
Königreichs Sachsen die Gebiete zwischen Saar, Maas und Ardennen dem alt-
hohenzollernschen Besitz von Kleve, Mark und Navensberg angliederte, vollzog es
unbewußt den entscheidenden und wichtigsten Schritt zum Vormarsch nach „Deutsch¬
land". Schon wenige Jahre später durfte der Dichter und Theaterleiter Karl
Immermann seine Düsseldorfer Masken es aussprechen lassen: „Die Vereinigung
dieser weiten Lande mit Preußen ist das größte und glücklichste Ereignis, welches
sich seit Jahrhunderten in der deutschen Geschichte zutrug, denn dadurch wurde,
wie sehr das auch die Oberflächlichkeit leugnen mag, eine mächtige historische
Wahlverwandtschaft gestiftet, die nur fruchtbar sein kann." In gemeinsamer
wirtschaftlicher, sozialer und politischer Arbeit verbanden sich die Kräfte des alten
Preußen mit den Altregungen, die ihm aus dem Westen, aus der beweglicheren
Rheinprovinz, zuflössen. In harten Kämpfen mußten sich Dynastie und Regie¬
rungspraxis mit den liberalen und mit den katholischen Anschauungen auseinander¬
setzen, die von hier aus in das konservative Gefüge des protestantischen Staates
eindrangen.
Zugleich aber hatten die Führer der preußischen Reformzeit ebenfalls in
den Entscheidungskämpfen des Wiener Kongresses den Versuch gemacht, durch
„moralische Eroberungen" den Einfluß Preußens in Süddeutschland zu weiten.
nachdrücklich mahnte Gneisenau, daß Preußen durch den dreifachen Primat in
Kriegsruhm. Verfassung und Gesetzen und Pflege von.Künsten und Wissenschaften
in den übrigen Staaten den Wunsch erwecken solle, mit Preußen vereinigt zu sein.
Mit Hilfe geheimer Gesellschaften und dnrch eifrige Werbung in Rede und Schrift
dachten einzelne seiner Freunde sogar an Gründung einer konstitutionellen Ver¬
bindung mit dem Endzweck der „Einigung der deutschen Nation, geknüpft an die
Dynastie Hohenzollern und die preußische Monarchie". Die Leiter dieser Be¬
wegung, der selbst der Staatskanzler Hardenberg zeitweise amtlich seine Unter¬
stützung lieh, hofften dadurch in allen Kreisen des Volkes die Überzeugung zu
festigen, die ihnen selbst bereits geläufig war: „es müsse Deutschland, eins
in sich selbst, auch unter einem Herrscher, zu einem Volke vereint, äußerlich
dastehen".
Wohl verebbte die Begeisterung, die allein solch unerhört neue Gedanken zu
wecken und zu tragen vermag, sehr bald unter dem Druck der wirtschaftlichen und
sozialen Not der ersten Friedensjahre. DaS nächste Ziel, das neue Staatengebilde,
das sich jetzt von der Memel zur Maas in zwei scharf geschiedenen Gruppen hin¬
zog, in sich' zu kräftigen und lebensfähig M gestalten, stellte die preußische Ver¬
waltung vor drängendere Aufgaben. Aber als Teilstück dieser „Probemvbil-
machung der Geister" ist doch auch das Versprechen König Friedrich Wilhelms des
Dritten vom 22. Mai 181S zu werten, dem Staate eine Verfassung und eine aus
den Provinzialständen zu wählende Landesrepräsentation zu gewähren. „Der
Gedanke, daß Preußen, um in Deutschland zu regieren, zuvörderst sich selbst
liberal regieren müsse, ist fortan ein wesentliches Prinzip der preußisch-deutschen
Bewegung in und außerhalb Preußens". Über die Flugschriften und Berichte
eines Paul Pfizer und Friedrich von Gagern führt er die Staaten des alten
Rheinbundes unmittelbar hinein in die Tage der deutschen Revolution, in denen
alle' diese großen Fragen der verfassungsmäßigen Einigung Kleindeutschlands ihre
Läuterung finden sollten.
Inmitten dieser größten innerpolitischen Krisis erst, die das deutsche Volk
durchzumachen hatte, ist die Rheinprovinz ganz für Preußen und damit für Deutsch,
land gewonnen worden. Erst im Verfassungskampfe um konstitutionelle Umbildung
des hohenzollernschen Staates vollzog sich die völlige Verschmelzung der neuen
Gebiete im Westen nut dem Kernlande Preußens. Zugleich warb Heinrich von
Gagern um den preußischen Staat, daß er sich selbst und sein eigenes Leben auf¬
gebe um Deutschlands willen. Die Oktroyierung der ersten preußischen Verfassung vom
6, Dezember 1848 schien in der Tat zeitweise die Möglichkeit einer Verständigung
zwischen den „schwarz-weißen" Anhängern des Alten und der „schwarz-rot-goldenen"
Bewegung, die aus Frankfurt herandrängte,.zu eröffnen. König Friedrich Wilhelm
der Vierte selbst spielte damals Wohl mit dem Lieblingsgedanken seiner patriarchalisch
gerichteten Staatsanschauung, auf die Einrichtung der Prvvinzialstnnde zurück¬
zugehen, diese jedoch neben den alten Geburtsständen durch eine breite Repräsen¬
tation der Geistlichkeit, Schule, Wissenschaft und selbst der Zensuslosen zu stärken.
Aber das richtige Gefühl, daß weder Preußen noch Deutschland zu solcher Revolution
von oben reif genug seien, hemmte die Entwicklung. Das Programm der „Neichs-
terroristen" um den großdeutschen Max von Gagern, „daß das Haus Hohenzollern
gegen die erbliche Krone eines neuen Deutschen Reiches verzichten müsse auf das
abgeschlossene, überspannte brandenburgische Königtum, das einst unser altes
deutsches Reich zugrunde gerichtet hat", mußte selbst eifrige Freunde und Anhänger
eines bewußten Einheitsstrebens bedenklich machen. Gerade die Vertreter des
rheinischen Liberalismus, die ursprünglich doch die Verknüpfung deutscher und
preußischer Gedanken vermittelten, konnten sich dieser Forderung nicht anschließen.
»Sie hatten mit solchem Eifer für die Verschmelzung der Rheinlande mit dem
preußischen Staate und zugleich für die Erfüllung desselben mit liberalen Ideen
gekämpft, daß ihnen der preußische Staatsgedanke dadurch selbst ans Herz wuchs".
Und willig folgten sie dem Staate ihrer Geburt und ihrer Wahl, als dieser nach
den schweren Tagen der Konfliktszeit und nach den Schlägen von Königgrätz sich
abermals anschickte, nach Deutschland aufzugreifen.
Die Annexionen von Schleswig-Holstein, von Hannover, Kurhessen. Nassau
und Frankfurt machten, nach einem von Bismarck gebilligten offiziösen Worte,
gut, was der Neid und die Eifersucht der übrigen Staaten fünfzig Jahre zuvor
an Preußen gesündigt hatten. „Während es seine durch Friedrich den Großen
geschaffen« Stellung als Großmacht bisher nur durch die äußerste Anspannung
aller Volkskuiste aufrecht erhalten konnte, hat es jetzt durch die Ausfüllung und
Abrundung seines Ländergebietes in Nord- und Mitteldeutschland erst die 'wahr-
Mft naturgemäße Grundlage einer Großmacht an Land und Leuten gewonnen".
Darüber hinaus aber setzten die preußischen Anträge zur Berufung eines aus
allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehenden deutschen Parlaments
bereits vor dem Ausbruch des Bruderkrieges planvoll die Politik der „preußischen
Jakobiner" von 1815 fort. Wie damals einem sich territorialer Landgewinn nach
festen und moralische Eroberungen in Süddeutschland „zur Befestigung und Er¬
höhung der preußischen Machtstellung in Deutschland und damit zugleich der
nationalen Macht des deutsche» Vaterlandes". Deutsche und preußische „Mvtiven-
rechen", der Gegensatz zu Osterreich und zu den Liberalen des Berliner Abgeord¬
netenhauses, hatten den pommerschen Junker damals zur Mobilmachung des
'/eigentlichen Volkes" geführt. Erst die Erkenntnis, daß selbst das Dreiklassen-
^ahlrecht, das er damals bekanntlich in überwallenden Zorn auf den Fortschritt
oas elendeste aller Wahlsysteme genannt hat, wandlungsfühig sei und neue, bessere
Mehrheiten liefern konnte, hielt den preußischen Ministerpräsidenten zeitweise viel¬
leicht auch von einem revolutionären Umstur/, in Preußen zurück. Sehr bald
schon gewannen in der Tat die Getreuen der konservativen Partei, die allein die
Regierung Wilhelms des Ersten bei dem großen Werk der Armeereorganisation
gestützt hatten. Zuzug auch im liberalen Lager. Den Führern und Gefolgsmännern
des Fortschritts, vor allem in den Südstaaten dagegen fehlte auch jetzt, in den
Jahren der Luxemburger Frage und der französischen Kriegsdrohungen, jedes
Verständnis für die Machtinteressen eines selbständigen Staates. Noch im Früh"
jähr 1870 boten die Abrüstungsvorschläge und Weltfried enspläue der bayerischen
Demokraten und Föderalisteu den Hauptstoff für die Verhandlungen der Landtage
in München und Stuttgart! Unter diesen Umständen mußte Preußens Selbst-
ständigkeit und Eigenart unter allen Umständen vor dem lauen, verweichlichenden
Winde geschützt werden, der aus Süden und Westen herüberwehte. Aber wie in
dem ersten Verfassuugsversuch von 1848 gewannen unter dein Einfluß der „deut¬
schen Frage" die Bestrebungen, die einzelnen Provinzen der norddeutschen Gro߬
wacht selbständiger zu gestalten, die Landesgesetzgebung zugunsten der deutschen
Reichsverfassung „trocken zu legen", neue Kraft. So fügt sich auch hier die
ständische Selbstverwaltung, die seit 1867 zunächst den neuen Provinzen Hannover,
Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau zufiel, lückenlos in den Vormarsch Preußens
nach Deutschland ein. Zum Abschluß ist diese große Bewegung nicht gelangt.
Die nächste Etappe, die 1870 durch die Gründung des Deutschen Reiches und
durch die Angliederung Elsaß und Lothringens als Reichsland erreicht wurde,
kann geschichtlicher Betrachtung nur als Ruhepunkt, nicht als Ziel und Vollendung
gelten. Rücksichten auf die übrigen Großmächte und die Notwendigkeit, zunächst
einmal im Inneren neue Kräfte zu sammeln und die bisher unfreien Volks¬
schichten in wirtschaftspolitischen Kämpfen zu selbständiger Staatsanschauung zu
erziehen, hinderten die logische Weiterentwicklung.
Erst der Weltkrieg hat hier wie überall reinigend und klärend gewirkt.
Fünf Jahrzehnte rastloser Friedensarbeit haben neue soziale und wirtschaft¬
liche Kräfte geweckt. Eine fast unübersehbare Fülle von Gesetzen. Steuern, Ver¬
ordnungen und Verwaltungsmaßnahmen und nicht zuletzt der Ausbau unserer
Volkswirtschaft zur Weltpolitik schlugen starke, unzerreißbare Klammern um Preußen
und um das Reich. Das neue gemeinsame Erlebnis innerer und äußerer Kriegs¬
not schmiedet alle Stämme und Parteien fester denn je zusammen. Und vor
allem erweckt es die Hoffnung, daß das Verständnis für die Machtpolitik des
deutschen Staates inmitten der Gegner im Osten und Westen feste Wurzeln auch
in den Kreisel, geschlagen hat, die ihm bislang noch fern standen. Nach wie vor
mich ja das geschichtliche Gesetz Geltung behalten, daß „das Maß von Freiheit
im Staate umgekehrt proportional dem militärisch-politischen Druck ist, der auf
seiue Grenzen vom Auslande her ausgeübt wird". Und nur wenn ein macht¬
voller Siegesmille wie bisher die Massen beseelt und zu gutem Frieden führt,
darf ein deutscher und preußischer Staatsmann ein neues, lockeres und weit¬
maschiges „Autoritätsband zwischen Staat und Massen" knüpfen. Dann aber ist
auch die Zeit rastlos zu nützen, das Verhältnis Preußens zum Reich auf neuen
Grundlagen aufzubauen. Die Lehren der deutschen Geschichte im neunzehnten
Jahrhundert, die insbesondere Friedrich Meinecke („Weltbürgertum und National¬
staat". 4. Auslage, 1ö17) in praktische Politik übergeleitet hat. weisen die Wege,
auf denen die Entwicklung fortschreiten muß. Die territoriale Flurbereinigung
die allenthalben in der Gemengelage der deutschen Bundesstaaten neue wirtschaft¬
liche Kräfte entfesseln soll, muß unmittelbar mit einer verfassungsrechtlichen über¬
wölbt werden.
Handgreiflich verbinden sich beide Probleme, wie oben bereits angedeutet,
in der elsaß-lothringischen Frage. Zwingherr zur Deutschheit und Erretter aus
nationaler Not kann hier im Reichsland nur der preußische Staat werden, der
zugleich sein Verfassungsrecht dem Wesen des alten „konstitutionellen Deutschland"
angliedert Das neue Preußen muß die Hemmungen überwinden, die Vismarck
ungelöst ließ, als er seinen Nachfolgern im Innern und nach außen in Preußen,
im Reich und im Reichsland ein „System politischer Aushilfen" vererbte, das
nur seine Meisterhand im Gleichgewichtsstreben der fünf oder sechs europäischen
Großmächte zu beherrschen vermochte. Mag der einzelne auch das Verlangen nach
dein allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht an sich nur unwillig auf¬
nehmen: im Gefühl der Verantwortung, die die leitenden Staatsmänner tragen,
ist es heiligste Pflicht gerade der Mittelparteien, dem kömglichen Worte restlose
Unterstützung zu bringen. An ihnen ist es, deu Ruf nach einem sozialen preußischen
Königtum wieder aufzunehmen, der ursprünglich von den Konservativen ausging,
dem aber erst Naumann in der Vorstellung vom Kaiser im deutschen Volksstaat
neues Leben einhauchte.
Als der König von Bayern 1860 in Baden-Baden den preußischen Prinz¬
regenten nachdrücklich vor den Gefahren einer konstitutionellen Regierung warnen
zu müssen glaubte, verglich Prinz Wilhelm die Kunst des Regierens mit der. das
Bett eines Flusses zu regulieren: „Dazu muß man die User verbessern und be¬
festigen, da, wo der Sturm sie überfluten oder zerstören könnte; aber man darf
sie nicht zu weit oder zu enge legen und um keinen Preis einen Damm quer
durch das Bett ziehen." Ein schlichter, einfacher Satz nur, der aber gerade heute
allen denen zugerufen sei, die immer noch nicht die Zeichen der Zeit in ihrem
engeren und weiteren Vaterlande erkennen wollen I
Nur in der Vereinigung von Freiheit und Macht kann Preußen den
Vormarsch nach Westen, ins Reich, fortsetzen und vollenden, den es 1815 und
1866 unter den Leitworten von Lcmdgewinn. Verwaltungs- und Verfassungs¬
reform begann. Denn auch die Verwaltungsreform, die der preußische Staat
leit Jahren vorbereitet, wird nur in engster Verbindung mit der Wahlreform
?M lösen sein. Der vorgeschlagene Wegfall der Regierungsbezirke oder der
Oberpräsidien scheint zu einer Neueinteilung der Provinzen führen zu müssen.
Wie im Reich und in Thüringen drängt innerhalb Preußens selbst die Not¬
wendigkeit, „Arbeitskräfte und Zeit, Nerven und Geld" zu sparen, zu einer Flur¬
bereinigung, die die wichtigste Ergänzung zur verfassungsrechtlichen Reform bildet.
Während sich Preußens Verfassung zur Aufnahme neuer Wühlermassin rüstet,
weitet sich seine Verwaltung zur Angliederung neuer Gebietsteile, die nur seine
bewährte Kraft nach einem halben Jahrhundert verfehlter Reichspolitik in Wahrheit
dem neuen Deutschland voll erschließen kann. Aufs neue drängt auf dem Gebiet
der inneren wie auf dem der äußeren Politik zur Erfüllung, was Alfred Dove
1870 in den „Grenzboten" ersehnte: „Noch einmal wird, wie nach 1815 und nach
^866, das königliche Wort zur Tat werden, daß Deutschland gewonnen, was
Preußen erworben hati"
Nicht aber um eins „Vereinödung" handelt es sich bei dieser „Flurbereinigung"
"u Inneren des „Reiches", um eine vollständige Arrondierung etwa, in der jeder
einzelne Grundbesitzer scharf geschieden vom Nachbar sein Land mit eigenem Hof¬
recht für sich bearbeitet und verwaltet. Das würde, politisch gesprochen, zur Auf¬
lösung des Bundesstaates und zum Einheitsstaat führen, wie ihn 5ne „Reichs-
terroristen" der Paulskirche und der provisorischen Zentralgewalt von 1848 ver¬
langten. Auch heute erhebe» sich Stimmen, die gerade im Anschluß an Meineckes
Studien von der Einführung des Reichötagswahlrechtes in Preußen eine durch¬
greifende „Jmmediatisierung" der Einzelstaaten erhoffen. „Wir brauchen das all¬
gemeine Wahlrecht in Preußen", meint Gerhard Anschütz"), „als eine Macht,
welche werben und wirken soll für die Einheit von Staat und Volk und für den
«leg des Reichsgedcmkens über den mächtigsten seiner Partikularistischen Widerstände."
^lie Fragen der deutschen Flurbereinigung wären so mit einem Schlage gelöst I
Wer dem Werden, den Zusammenhängen und dem Zwiespalt der hier an¬
gedeuteten Probleme gefolgt ist, muß diese „Vereinödung" verwerfen. Die
„vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung, insbesondere die Reservatrechte
Bayerns, sind nicht nur den Einzelregierungen, sondern vor allem auch den
Stämmen selbst allzu tief in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie mit
einem Federstrich getilgt werden könnten. Die sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Kräfte des Gesamtvaterlandes, die dem geschichtlich gebundenen Blicke
neue Ziele eröffnen, dürfen und können nur durch vorsichtigste" Neuordnung des
Reichsgebietes und seines verfassungsmäßigen Rechtes zu fruchtbarer Arbeit ent¬
fesselt werden: durch „Verkoppelung", die sich mit Zusammenlegung allzu kleiner
und unzweckmäßiger Parzellen und mit Ausgleichung der Wirtschaftsformen begnügt.
>s ist viel schwerer, als man gewöhnlich annimmt, das wurzelhaft
Deutsche vom nichtdeutschen zu sondern-, denn das Nichtdeutsche ist
I keineswegs bloß eine äußerlich übergeworfene Maskerade, sondern
>es hat, vielfach wenigstens, gewirkt wie gut angegangenes Pfropf-
^ reif, d.h. es hat in inniger Vermählung mit dem wurzelhaften Stamme
l ein Neues geschaffen, das wieder ein Ganzes ist. Die Zweiteilung in
Deutsch und Nichtdeutsch ist daher für eine eindmgende Analyse der Kultur¬
phänomene unzulänglich, man nutz vielmehr an die Stelle jener Zweiteilung eine
Dreiteilung setzen: man muß neben dem unzweifelhaft bodenständig nationalen
und dem unzweifelhaft fremdländischen, nicht assimilierten .Kulturgut ein Drittes
unterscheiden: die übernationalen, aus gegenseitiger Befruchtung der Völker hervor¬
gegangenen Kulturgewinne. Diese sind zwar irgendwo zuerst aufgetreten, haben
sich jedoch so allgemein verbreitet, daß sie ihren nur nationalen Ursprung oft ganz
abstreifen.
Ich betrachte unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt ein Sondergebiet des
geistigen Lebens: die deutsche Verssprache, und ich hoffe dabei, über das besondere
Thema hinaus die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des eingangs gekennzeichneten
Standpunktes erweisen zu können. In großen Zügen versuche ich das ewig
Undeutsche vom Deutschgewordenen zu sondern, hinter beiden jedoch dasjenige
herauszuarbeiten, was sich als bodenständiges Nationalgut erweisen und als echten
Ausdruck spezifisch deutscher seelischer Eigenart begreifen läßt. '
Vielleicht mag es dem oberflächlichen Blicke scheinen, als sei es gerade in
der Sprachkunst leicht, das echt Nationale in Neinkultur darzustellen. Ist doch
das technische Material der Dichtung, die Muttersprache, scheinbar daS eigenste
Gut eines Volkes, so sehr, daß man vielfach das Volkögebiet ohne weiteres durch
das Sprachgebiet umgrenzt sein läßt. Während für andere Künste und vor allem
die meisten'Wissenschaften das Material ziemlich international ist. während so z. B.
die Musik oder die bildenden Künste nicht über ein spezifisch völkisches Material
verfügen, lebt die Dichtung in dein nationalen Urelement, der Volkssprache, die —
so sollte man denken — aus sich heraus die poetische Form bedingen müßte.
Indessen lehrt genauere Nachprüfung, das; die neuhochdentsche, ja auch schon
die mittelhochdeutsche Verssprache weit davou entfernt sind, rein nationale Gebilde
SU sein, daß sie keineswegs die charakteristischen Wesenszüge der angestammten
Sprachbesonoerheit ausgeprägt haben. Im Gegenteil, gerade unsere Untersuchung
wird dartun. daß selbst bei angesehenen Dichtern die völkische Besonderheit fast
«anz unterdrückt oder doch in fremdländische Formen gepreßt ist. Gewiß läßt
sich zeigen, daß z. B. dasjenige, was in der deutschen Dichtung als „klassische"
Form gilt, etwa die Klopstocksche Ode oder der Voß-Goethesche Hxxameter. in
Wirklichkeit völlig unklassische, auf Mißverständnissen gegründete Gebilde sind, in
denewK der deutsche Sprachgeist sich dennoch gegen den Willen der betreffenden
Dichter durchgesetzt hat: das hebt jedoch nicht die Tatsache auf, ddß jene, ihrem
Gehalt nach urdeutschen Dichter glaubten, sie schufen in klassischen, d, h. in nicht-
deutschen Formen, und noch stolz darauf waren. Ja. soweit hat sich die deutsche
Verssprache von ihrer ursprünglichen Gestalt entfernt, daß es oft wie gewollt«
Maskerade wirkt, wenn bewußt urgermanische Stilmittel wie der Stabreim (bei
Jordan oder N. Wagner) angewandt werden. Schon aus diesem Grunde wird
es nicht die Aufgabe einer Untersuchung wie der, vorliegenden sein können, etwa
auf Schaffung einer rein deutschen Verssprache hinzuarbeiten! Was wir leisten
können, ist ausschließlich, die richtige Erkenntnis und die richtige Einschätzung der
echldeulschen Elemente in dem komplizierten Gebilde der neudeutschen Dichtungs¬
sprache anzubahnen.
Immerhin sind wir in einer Hinsicht für eine national-psychologische Analyse
der Dichtung besser gestellt, als für eine ähnliche Untersuchung der bildenden
Künste oder der Musik. Die frühesten Denkmäler auf diesem Gebiete reichen weiter
zurück als die frühesten Denkmäler der anderen Künste, und zwar noch in eine
Zeit, in der wenigstens der später übermächtige klassische Einfluß noch nicht so
durchgedrungen war. An diese frühesten Schöpfungen müssen wir uns halten, wollen
wir die innerste Eigenart deutscher Dichtkunst ergründen. Gewiß, sie sind nicht
Zahlreich, aber sie 'sind doch ausreichend, um an ihnen einen ganz besonderen,
völkischen Stil germanischer Dichtung kenntlich zu machen. Werke wie die frühesten
Zaubersprüche und Kulllieder, vor allem die prachtvolle Ballade von Hildebrand,
auch größere Werke wie der Heliand sind in dieser Hinsicht unschätzbar."
Wir glauben gerade dadurch, daß wir diese urdeutsche Kunst der „klassischen
entgegenstellen, ihr^! Besonderheit am reinsten herausarbeiten zu können. Es er-
Mbt sich dann für die altdeutsche Verskunst, gegenüber der klassischen Regelmäßigkeit
eine weitaus größere Unregelmäßigkeit und Beweglichkeit, was freilich noch lange
Mehl Formlosigkeit bedeutet, wie'man fälschlich angenommen hat. Denn die
rassische Tradition ist so anmaßend, am liebsten alles, was nicht klassische Form
lst, als Formlosigkeit anzusehen, statt zuzugeben, daß nur eine andere Form vor-
»egt. Das ist in allen übrigen Künsten ebenso, tritt aber in der Poetik noch
stärker hervor, die leider seit alters her von pedantischen, auf Regeln eingeschworenen
schulmeistern vergewaltigt worden ist.
Die klassische Antike kannte nur eine Schönheit und eine Form: die aus¬
geglichene Regelmäßigkeit. Sind uns auch längst nicht alle Probleme der griechischen
Aersform gelöst, so ist doch das wenigstens sicher, daß es feste Formen gab, deren
Bestandteile rechnerisch bestimmt werden konnten und die dem uns anderweitigbekannten rationalen, auf Einheitlichkeit und in sich ruhende Abgeschlossenheit aus¬
gehenden Kunststreben der Griechen gemäß war. Dieser Formbegriff wurde von
den Römern und den neueren südlichen Völkern noch weiter verabsolutiert, und
es entstand jene Anschauung, es sei die dichterische Form eine an sich bestehende
Schale, in die der sie verwendende Poet nur neuen Inhalt zu gießen habe. Die
Dogmen von der Erlernbarkeit der Poesie, von ihrer rationalen Bestimmbarkeit
und Berechenbarkeit waren natürliche Folgen dieser Anschauung, die, besonders auf
die deutsche Sprache angewandt, geradezu verheerend wirken mußte.
Denn an sich ist bereits das deutsche Sprachmaterial ein ganz anderes als
das griechische. Unsere Sprache kennt nicht wie die griechische die deutliche Schei¬
dung zwischen langen und kurzen Silben, auf der das Stilprinzip des griechischen
Verses beruht. Die germanischen Sprachen kennen nur Grade des Akzents, und
zwar nicht nur, wie unsere klassisch verblendeten Poetiken uns aufreden wollen,
betonte und unbetonte Silben, sondern mannigfach abgestufte Grade der Betonung,
die der antiken Regelmäßigkeit widerstreben, aber dafür eine weit größere Mannig¬
faltigkeit und Beweglichkeit und damit irrationale Wirkungen gestatten, die der
antiken Poesie ganz unzugänglich sind. Gewiß ordnet auch die altgermanische
Poesie die Worte so, daß ein strafferer ausdrucksstarkerer Rhythmus entsteht als
in der ganz ungeordneten Alltagsspcache; man hebt diesen Rhythmus auch durch
Gleichklang der Wortanfänge, den sogenannten Stabreim, hervor: aber, in der
Hauptsache bleibt der Rhythmus doch beweglich, die Silbenzahl wird nicht abge¬
grenzt, die Form ist kein rationales Grundschema, sondern in jedem Fall der
spontane Ausdruck des Inhalts. Sie wächst mit diesem Inhalt selber, ist nicht
eine geprägte Schale, in die der Inhalt gegossen wird. Der altgermanische Vers
verhält sich also in seiner Mannigfaltigkeit, scheinbaren Regellosigkeit und irratio¬
nalen Beweglichkeit zum einheitlichen, ausgewogenen, rationalen klassischen Vers,
wie die nordischen Bandornamente zur regelmäßiger klassischen Ornamentik.
Im Hildebrandslied, im Heliand und allen unverfälscht germanischen Dich¬
tungen liegt der gekennzeichnete Tatbestand offen zutage. Leider aber wird er
noch immer falsch ausgedeutet, indem man den germanischen Vers in das Pro¬
krustesbett der klassischen Prosodie klemmt. Geblendet vom Begriff der allein¬
seligmachenden Regelmäßigkeit der klassischen Form, sucht man diese auch inner¬
halb der germanischen Beweglichkeit und, dciMan sie in den tatsächlich vorhandenen
Denkmälern nicht findet, so konstruiert man ein niemals vorhandenes ideales
Schema und behauptet, die uns überlieferten Denkmäler seien nur entstellte Ver¬
fallsprodukte. Damit aber stellt man den Tatbestand auf den Kopf, und es gilt
hierin eine prinzipielle Verständigung, die den klassizistischen Schematismus in
seine Schranken weist. (In Parenthese sei dabei bemerkt, daß die deutschen Ver¬
ehrer der klassischen Form auch die antiken Verse durchaus germanisch lesen, d. h.,
daß sie die antiken Qualitätsunterschiede fälschlich durch Akzecitverschiedenheitrn
ersetzen, so daß Alkaios oder Horaz vermutlich ihre so gelesenen Verse niemals
als ihre eigenen erkennen würden. Ein grotesker Witz der Weltgeschichte, daß
hier die nationale Art über alle Theorie einen unbewußten Sieg davonträgU)
Es ist nun sehr interessant, in der Geschichte der deutschen Dichtung zu verfolgen,
wie sich das in der altgermanischen Poesie rein ausgeprägte urdeutsche Kunst¬
wollen zur Dynamik, Freiheit, Irrationalität trotz aller klassizistischen Beschnei-
dungsversuche immer wieder durchsetzt. Gewiß, der Stabreim ging verloren und
wurde in seinen Funktionen, wie gleich zu zeigen sein wird, durch den Endreim
ersetzt. Aber die aller Regelmäßigkeit und Silbenzählerei spottende, frei akzen¬
tuierende Sprachgebung dringt immer wieder durch. Und zwar geschieht das
bezeichnenderweise überall gerade dort am stärksten, wo ein volkstümlicher Gehalt
sich einen Ausdruck sucht. Dabei erfolgt das vielfach ganz ohne bewußte An¬
knüpfung an alte Tradition, und gerade das beweist uns die innere, im Volks¬
charakter und im Wesen der deutschen Sprache liegende Notwendigkeit.
In den begeisterten Reden der deutschen Mystiker, in Luthers Psalmen-
Übersetzung, in Klopstocks ganz unklassischen Oden, in Novalis Hymnen, in Jean
Pauls Prosadichtungen bis zu Nietzsches Zarathustra haben wir eine spezifisch ger¬
manische Formung, die bezeichnenderweise im Französischen z. B. gar nicht nachzu¬
bilden ist. Und auch wo das internationale Kulturgut des Reimes übernommen
ist, behauptet sich doch der deutsche Wille zur Beweglichkeit, Mannigfaltigkeit und
Irrationalität, und so führt eine ähnliche Linie auch in der Reimpoesie vom
Nibelungenlied über Haus Sachs bis zu Goethes Faust, in dessen ganz unklas-
sischem Vers der germanische Sprachgeist seine reinsten Blüten treibt, die auch
durch Verwendung des Endreims nicht an Echtheit verlieren.
Es ist ganz falsch und ein klassizistisches Mißverständnis, wenn man bei
deutschen Versen von Jamben. Trochäen usw. redet. Gewiß haben die meisten
neueren Dichtungen eine Neigung zur Regelmäßigkeit, die jedoch lange nicht so
weit geht, wie unsere Schulmeister meinen. Denn wir dürfen eins niemals ver-
gessen: wenn sich auch unsere neudeutschen Verse als schematischer Wechsel von
betonten und unbetonten Silben lesen lassen, so wäre es doch ihr Tod, wollte
man sie wirklich so lesen. In der Tat verhält es sich so (und die neuesten Untei-
suchungen stellen das ausdrücklich fest), daß es nicht zwei Grade des Rhythmus
gibt, sondern unendlich viele, und daß man ganz unbewußt, wenn man einen
Schillerschen Blankvers oder ein Platensches Sonett liest, in jenes grobe Schema
von betonten und nichtbetonten Silben einen unendlichen Wechsel verschiedener
BetonungSstufen hineinliest, der jeder Rationalisierung spottet. So lebt im klassi¬
zistischen Gewände der alte Geist germanischer Freiheit weiter.
Betrachten wir also die genannten Dichtungen ohne klassizistische Brille (es
gehört leider für moderne Leser sehr viel Anstrengung dazu, diese wegzuwerfen),
W haben wir einen bodenständigen Versstil, der aus dem dynamisch akzen¬
tuierenden Geiste der deutschen Sprache naturgemäß erwachsen ist. Wesen der-
selben ist eine freie Dynamik, die durch besondere Hilfen wie die Alltteration ver¬
stärkt wird, die jedoch mit dem klassischen Formideal der Regelmäßigkeit wenig
gemein hat, Selbst wo die die deutsche Dynamik klassisch herausgeputzt ist. lebt
sie als heimlich herrschendes Prinzip hinter aller Verkappung. und Hölderlins
Oden z. B. sind trotz allem auch formal (vom Inhalt ganz abgesehen) weit mehr
deutsch als griechisch.*
Die neuere deutsche Verssprache nun ist, wie auf der Hand liegt, nicht eine
gradlinige Fortentwicklung des gekennzeichneten wurzelhaften Bestandes. Sie hat
fremde Stilelemente in sich aufgenommen, und zwar solche, die sich harmonisch
einfügten in jenen Bestand und solche, die ihr ewig fremd blieben und gen,',
äußerlich sich ihr aufzwängten. Wir begegnen damit also dein eingangs charak¬
terisierten Gegensatz zwischen wirklichem Fremdgut und assimilierbarem, allge¬
meinem Entwicklungsgut.
Beginnen wir mit letzterem, so finden wir da in erster Linie den Endreim.
Dieser ist vermutlich semitischen Ursprungs. (Übrigens kennen ihn auch die Ost¬
asiaten.) Zu uns kam er durch Vermittlung des lateinischen Kirchenliedes und
wurde bald zu einem internationalen Stilmittel, dem sich keine Kuliursprache ent¬
ziehen konnte. Er verdrängte den Stabreim als Bindemittel kleinerer Zusammen¬
hänge und wurde in immer größerer Reinheit allmählich zur anerkannten Stil-
Wirkung auch in Deutschland, wenn auch niemals in so ausschließlichem Grade
wie auf französischem oder italienischem Boden.
Der psychologische Grund dafür, daß der Endreim assimiliert werden konnte,
liegt darin, daß er dem Geist jener urdeutschen Verskunst nicht entgegen war. nein
vielmehr ihm dienstbar wurde. Der Endreim wird in Deutschland ein neues
Mittel der Sprachdynamik, da er ähnlich wie die Alliteration starke Akzente ab¬
gibt. Daneben aber gestattet er durchaus die Bewahrung der wurzelhaft deutschen
Beweglichkeit, Irrationalität und Abneigung gegen zählbares Matz. Die früheren
Dichtungen des Mittelalters waren, ehe von Frankreich her das Silbenzählen als
Mode aufkam, durchaus frei beweglich, nur durch einen oft sehr ungefähren End¬
reim zu äußerer Abrundung gebracht, und bis in die neueste Zeit hinein hat sich
dem deutschen Reimvers eine viel größere Freiheit und Beweglichkeit erhalten, als
etwa dem französischen.
Somit ist der Endreim als poetisches Stilmittel nicht ein antideutsches
Fremdgut, sondern ist. obwohl ursprünglich fremden Ursprungs, echter Besitz ge¬
worden. Er hat gewiß auch bei uns die musikalischen Reize, die er den roma¬
nischen Dichtungen verleiht: darüber hinaus jedoch ist seine Bedeutung im deutschen
Vers eine ganz andere als im romanischen. Während der Endreim in den Versen
Racines zum Beispiel zur Verstärkung der Regelmäßigkeit dient, ist die Wirkung
des Reims etwa in Goethes „Faust" oder in Schillers „Wallensteins Lager" gerade
die, daß er die Freiheit und Beweglichkeit der Verssprache nur deutlicher hervor¬
treten läßt und durch sein freies Auftauchen irrationale Glanzlichter in den be¬
weglichen Fluß der Gedanken webt.
Außer dem Endreim ist nun seit alters ein weiteres Stilelement in die
deutsche Verssprache eingedrungen: die klassische Regelmäßigkeit. Diese jedoch ist,
das hoben wir bereits oben hervor, nicht nur ein dem deutschen Geiste fremdes,
nein, sogar ein ihm widerstrebendes Stilmittel. Daher ist die Geschichte der
deutschen Verssprache die eines beständigen Kampfes gegen dies ihr aufgezwungene
Kunstwollen.
Allerdings ist eine gewisse Regelmäßigkeit auch der deutschen Verssprache
eigen- Sie ist keineswegs ein Chaos. Schon die Verbindung mit der Musik
erfordert eine gewisse Ordnung. Indessen der Gradunterschied bedingt hier
Wesensunterschiede. Die Regelmäßigkeit deutscher Poesie ist stets nur annähernd,
mehr geahnt und angedeutet als wirklich streng durchgeführt, was keineswegs
Nachlässigkeit ist. Im klassischen Vers dagegen ist die Regelmäßigkeit absolut.
Die alkäische oder die sapphische Strophe, das Distichon oder der Trimeter sind mit
mathematischer Genauigkeit festzustellen. Ihre Längen und Kürzen sind klare
Gegensätze, während die Betonungsstufen der deutschen Verssprache nur relative
Werte sind. Ebenso ist in der klassischen Prosodie der Franzosen die Silbenzahl
unverrückbar feststehend, ihr eigenstes Stilprinzip, während deutschen Versen
gegenüber das Silvenzählen stets öde Schulmeisteret bleibt.
Indessen, wie in den bildenden Künsten, ist auch in der Poesie die
Suggestionskraft der klassischen Regelmäßigkeit so stark gewesen, daß man sie —
trotz aller Fehlschläge — immer wieder auch in die deutsche Poesie einzuführen
versuchte. Wie falsch das war, kann man daraus ersehen, daß stets die Zeiten
größter Regelmäßigkeit Zeiten der poetischen Sterilität waren, daß jedoch um¬
gekehrt, je stärker die Dichterpersönlichkeiten waren, sie um so freier die Vers¬
sprache handhabten.
Ein kurzer historischer Überblick offenbart das. Der erste Versuch, die
deutsche Poesie unter klassisches Joch zu spannen, wird, in der sogenannten
karolingischen Renaissancezeit gemacht. Otfrieds Evangelienbuch ist ein Typus
dafür. Allerdings ist die Regelmäßigkeit noch recht inkonsequent, indessen zeigt
ein Vergleich der Verssprache Otfrieds mit der des Helianddichters sehr deutlich,
wie wenig gewonnen wird durch das fremde Stilprinzip. Die Dichtungen
der fvlgenoen Jahrhunderte, die oft gegen die der Stauferzeit zu Unrecht zurück¬
gesetzt werden, stellen sich als immer stärker werdende Reaktion gegen das
klassische Schema dar. Ganz fälschlich sieht man darin technische UnVollkommen¬
heit. So wenig wie der gleichzeitige, sogenannte romanische Baustil aus tech¬
nischem Unvermögen sich von der antiken Tradition fortentwickelt, so wenig darf
man die Entwicklung der Verssprache dieser Jahrhunderte als Zeiten des Un¬
vermögens ansehen; im Gegenteil, die Beweglichkeit und Freiheit dieser Verse
ist gerade der Ausdruck des erstarkenden Nationalgeistes.
Aber wie in den Augenkünsten setzt auch in der Dichtung um 1200 eine neue
Invasion ein, die zwar nicht rein klassisch ist, vielmehr aus dem damals noch recht
germanischen Frankreich kommt und daher durchaus nicht so unorganisch sich ein¬
drängt. Es ist der höfische Stil, den man mit Recht, wenn auch oft mit falschen
Beweisgründen, der gothischen Bewegung in den bildenden Künsten gleichgesetzt
hat. Wie diese ist der höfische Stil ein ausgesprochener Formalismus, indessen
nicht einer der statischen Regelmäßigkeit, sondern ein Stil recht bewegter Mannig.
sättigten. Infolgedessen wird er besonders in der Lyrik nicht nur als Zwang
empfunden, sondern gestattet der heimischen Kunsttendenz zur beweglichen Mannig.
sättigten reiche Betätigung. Die Kunst Walthers und vieler seiner Zeitgenossen
wirkt daher, soviel sie von den Provenzalen und nördlichen Trouvöres gelernt
haben mag, keineswegs undeutsch. Auch der epische Vers läßt immerhin noch eine
gewisse Freiheit zu, von der das Volksepos noch mehr Gebrauch macht als die
Ritterdichtung. Nur die Dichter zweiten Ranges wie Hartmann oder Friedrich
von Hausen nähern sich einer wirklichen Regelmäßigkeit des Verses an. Die
großen Dichter wie Wolfram und Walther durchbrechen überall das Schema und
bewegen sich in echtgermanischer Freiheit.
Wohin jedoch die sklavische Unterwürfigkeit unter das klassische Formideal
führt, offenbart am besten die Dichtung der Folgezeit. Die Ode der Meister-
singerei mit ihrem erstarrten Formalismus und die Totgeburten der Renaissance-
Poesie, die das Silbenzählen zum Stilprinzip machte, sind die Ergebnisse der un¬
deutschen Nachahmung fremder Formen. Aus dem gleichen Grunde unter uns
die Alexandriner der Barockpoesie so lcicrhaft, so tot an, weil dieser Vers mit
seiner starren Symmetrie dem deutschen Geiste von Grund auf zuwider ist.
Darum kommen uns Verse selbst großer Dichter wie Gryphius oder Angelus
Silesius, von den Opitz und Lobenstein zu schweigen, heute so starr und so
leblos vor.
Das seltsamste Schauspiel jedoch bietet erst die große Zeit unsrer Dichtung,
die wir nach Äußerlichkeiten die „klassische" nennen, die jedoch trotz gewisser
klassischer Maskeraden gerade die reinste Entfaltung deutscher Eigenart ist und als
solche endlich erkannt werden sollte. Gewiß dichtet Klopstock in Hexametern: aber wie
frei sind diese behandelt! Sind die Verse des Messias oder die der Oden in
Wahrheit nicht eine freie Rhythmik, die ziemlich willkürlich in einer antiken
Maßen ähnlichen Ordnung geschrieben sind? Und erreicht Goethe nicht gerade
dort seine tiefsten Wirkungen, wo er, wie in den Liedern oder im Faust sich
einer ganz unschematischen Rhythmik bedient? Lastet nicht auf den kunstvollen
Trimetern der „Pandora" oder der „Helenaszenen" im zweiten Faust die Form-
strenge wie ein atemraubendes Joch? Und erreicht nicht Schiller in der Braut
von Messina seine schönsten Sprachwirkungen gerade durch die völlige Freiheit
der Versbildung? Und zeigt nicht die Geschichte der romantischen und der
gesamten neueren Dichtung, daß nur solche Werke den Weg zum Herzen des
Volkes gefunden haben, die eine freie Rhythmik ausgebildet hatten, während
Platens Oden oder Rückerts Sonette ewig volksfremd bleiben? Es wäre inter¬
essant, unter diesem Gesichtspunkt nachzuprüfen, inwieweit die neuesten Be¬
strebungen zur Befreiung des Rhythmus aus klassizistischen Fesseln eine Auf¬
lehnung urdeutschen Volksgeistes sind. Vielleicht rücken so die Verse von Arno
Holz und Dehmel, von Rilke bis zu denen der jüngsten Expressionisten in neue
Zusammenhänge.
Wir brechen hier ab. Es dürfte schon ans dem Bisherigen zur Genüge
hervorgegangen sein, daß sich ziemlich deutlich scheiden läßt, was an fremdem
Kulturgut assimilierbar und was nicht ist. Eine solche Scheidung aber muß jeder
Bestrebung, die auf eine Reinigung der nationalen Kultur abzielt, vorangehen,
ehe sie fruchtbar werden kann. Das gilt weit über das hier behandelte Gebiet
hinaus I Es bedingt eine Umwertung der erstarrten Wertung, vor allem der
klassizistischen, die hier wie auf anderen Gebieten der Krebsschaden unserer Kultur
ist. Wir wollen gewiß nicht verkennen, was wir den klassischen Völkern verdanken;
es gilt aber in aller Reinlichkeit zu scheiden, was wirkliche Förderung und was
unassimilierbare Belastung ist. Das aber setzt wieder eine klare Erkenntnis un¬
serer eigensten Art voraus. Man muß endlich zugestehen, daß der deutsche Cha-
rakter dem klassischen vielfach nicht nur fremd, nein, oft diametral entgegengesetzt
ist. Was wir hier an dem Beispiel der deutschen Verssprache aufgezeigt haben,
gilt von der gesamten Kultur. Was einem Organismus an nicht assimilierbaren
Stoffen eingeimpft wird, ist nicht bloß toter Ballast, es ist oft schädliches Gift.
Was wir hier an der Geschichte der deutschen Versspracbe gezeigt haben, ist allent¬
halben zu beobachten, obwohl leider nur sehr selten die Kulturgeschichte unter
solchen volkspsychologischen Gesichtspunkten betrachtet worden ist. Mit einem gut¬
gemeinten Kampf gegen Fremdworte oder Pariser Moden schafft man keine nationale
Eigenkultur: es gilt tiefer zu graben und die spezifisch nationalen Werte als
solche zu erkennen und dem Bewußtsein einzuprägen, nicht aber mit klassischem
Matze- zu messen und danach entweder sie umzuformen oder gar zu verwerfen.
Leider aber zeigt die Geschichte unserer Kultur nur zu deutlich, wie oft gerade
die besten Bausteine für eine nationale Kultur verworfen worden sind.
assen Sie, sehr geehrter Herr, manchmal den gedankenvollen Blick
vom Militärischen und Politischen weg zu den sozialen und gesell-
schaftlichenVeränderungen schweifen, die unseren menschlichen Ameisen¬
haufen durcheinandertreiben? Versäumen Sie's nicht und denken,
Sie dabei zurück an die Zeit, als wir Tango tanzten, die Korre¬
spondenten der englischen Blätter ihren Lesern vom Kleiderluxus der Berlinerin
erzählten und es ein Ereignis war, daß auf einem Künstlerfest Hanns Heinz
Ewers einen Schönheitspreis erhielt. Das Leben ist eine Rutschbahn, sagt Wede¬
kind, der sich's auch nicht hätte träumen lassen, datz ihn Theodor Wolff nach
seinem Tode in den Olymp seiner Leitartikel versetzen würde. Das Leben war
eine Rutschbahn, heute ist es eine Berg- und Talbahn ä la Lunapark. Was oben
war, nutz unten stehen. Wer unten war uyd zufällig unentbehrliche Dinge zu
liefern hatte, bewohnt heute ein Palais oder wenigstens eine Luxusvilla, itzt mit
dem silbernen Messer von echtem Meißener, wandelt auf Perser Teppichen, kauft
in Ol gemalte Bilder, die mit Nahmen 20000 Mark kosten. Ja, diese Schicht
des neuen Reichtums hat auch schon ihre Oberschicht, die vom Papa nur in dunklen
Andeutungen spricht und nicht einmal auf dem Balkon Wucherpflanzen duldet,
von wegen peinlicher Erinnerungen. Mit kräftigen Ellenbogen drängt sich die
neue Schicht in die vorderen Reihen, wo sonst nur die Leute zu finden waren,
die schon mit festen Manschetten und Manieren zur Welt gekommen waren.
Seine Exzellenz, der Herr Schatzsekretär, möchte sie, — natürlich nicht aus gesell¬
schaftlichen Gründen — mit der Dcimpframme der Steuerveranlagung wieder bis
zu der Grenze hinunter treiben, wo das Ärgernis aufhört. Auch die vielum¬
strittene Seisachtheia, die einmalige Vermögensabgabe, gegen die niemand etwas
hat, der nichts hat, wird vielleicht kommen und nivellieren helfen. Aber glauben
Sie im Ernst, datz darum die Damen, die heute vor dem Spiegel nach geeigneten
Körperstellen suchen, wo sich noch Brillanten anbringen lassen, im nächsten Jahre
mit Warenhausbroschen einhergehen, oder daß die Herren mit den überlebens¬
großen Brillantringen und der neuen Eleganz darum ein Auto weniger kaufen
werden? Ich glaube es nicht. Die neue Schicht ist da und wird bleiben und
uns aus die Nerven gehen, und erst ihre Söhne und Töchter werden nicht mehr
unangenehm auffallen, sondern mit der ganzen Bildung ihres Jahrhunderts aus¬
gerüstet sein und von allem genau so klug reden, wie Sie oder ich. Ist sie über¬
haupt so schlimm, diese Umschüttelung der Vermögen? Die Kulturträger haben
ja immer gesagt, daß die geistigen Genüsse allein die des besseren Menschen
würdigen seien, sie können also froh sein, daß sie mit den materiellen künftig
weniger zu tun haben und abschreckende Beispiele ordinären Genusses vor Augen
haben werden. Mit der neuen wirtschaftlichen Oberschicht sind Eroberernaturen,
rücksichtslose Tatmenschen in den Vordergrund gelangt, die wir literarisch immer
begeistert gefeiert haben. Nun wohl, jetzt wird man sie im vollen Lichte aller
Kulturlampen als hervorragende Zeitgenossen in Freiheit und Tätigkeit sehen, in
Unternehmen und Betiitigungen aller Art. Eine Menge von ihnen wird so jen¬
seits aller schwächlichen Hemmungen stehen, wie es die modernen Kraft- und Nück-
sichtslosigkeits-Philosophen nur irgend wünschen können. Diese brauchen sich also
nicht zu beschweren und die kulturtragende Volksschicht möge zeigen, daß sie den
schweren Bissen gut verdauen und verarbeiten kann. Das ist ihre Aufgabe nach dem
Kriege neben der anderen, zunächst einmal als Mittelstand in Schönheit zu sterben.
Der physiologisch ein wenig brachliegenden Fähigkeit, gut zu verdauen,
werden auf dem moralischen Gebiet Herkulesarbeiten zugemutet. Wir müssen mit
der unheimlich verbreiteten Gepflogenheit, den Mitmenschen auf grobe oder feine
Weise auszurauben, fertig werden und die unmoralischen und rechtswidrigen Neu¬
bildungen im Volkskörper auflösen, ehe sie ihn verseuchen. Mit den Herren von
Dietrich und Stemmeisen wird das leichter sein, zumal, wenn die Richter die löb-
liche Gewohnheit beibehalten, das Strafmaß den Zeitumständen und den heute
selbstverständlichen Pflichten gegen die Allgemeinheit gemäß bis zur Höchstgrenze
zu strecken. Anders ist es mit der großen Mode von heute, möglichst vor dem
Frühstück bereits mehrere Verordnungen zu übertreten, und auch wenn man Jurist,
Politiker, Staatsstütze ist, nichts dabei zu empfinden, als die Freude, daß es wieder
einmal gelungen ist. Anders ist es auch mit der freundlichen Lebensgewohnheit,
sagen wir. vieler Händler, Not, Warenhunger und Torheit des Publikums, das
jeden Preis als ein Stück der gottgewollten Ordnung hinnimmt, das unentbehr-
liche Dingo natürlich haben muß, aber auch alle möglichen entbehrlichen um jeden
Preis haben will, jedesmal, wenn sie in Erscheinung tritt, mit einem Preisruck
nach oben zu beantworten. Die Ware empfängt auf jeder ihrer zahlreichen
Stationen, vom Erzeuger oder Einführer bis zu dem, der vom gelungenen Ankauf
erfreut ist, einen Schub auf die höhere Preisstufe und auf jeder Stufe bleibt ein
bißchen Treu und Glauben, ein bißchen Geschäftsmoral, ein bißchen Leben und
Lebenlassen und ähnliche Friedensware liegen. Aber auch — zum Schmerz des
ehrbaren Kaufmanns I — ein bißchen Achtung vor dem Handel.
Aber da nach dem Kriege diejenigen, die das Geld haben, nicht mehr ge¬
fragt werden, ob ihre Methode vor dem Professorenkollegium einer Handelshoch¬
schule bestehen würde und das freie Angebot Böse und Gute gleichmäßig auf dem
Pfad der kaufmännischen Tugend halten wird, wird nichts bleiben, als eine hä߬
liche Erinnerung für die, die dafür bezahlen nutzten, daß die Fesselung der Zufuhr
die Hemmungen der Geldgier entfesselte.
Ebenso wie die gesunden Zellen des gesellschaftlichen Körpers die einge¬
drungenen Fremdkörper aufsaugen müssen, muß der Staatskörper die bureaukratischen
Wucherungen resorbieren. Auch ohne Uniform ist heute beinahe jeder Deutsche Vor¬
gesetzter oder Untergebener geworden, infolgedessen in der Lage, sich bei jedem Ansturm
auf die persönliche Entscheidung an einem Amtstisch festzuklammern, eine Sache
statt zu Kopf und zu Herzen zu den Akten zu nehmen und die Verantwortung
auf jemand anders abzuwälzen. Die Unter, Ämter, 's klingt so wunderlich!
Die Reichssauerkrautstelle hat ihre eigene Presseabteilung gehabt, also beamtete
Persönlichkeiten, die das Publikum über die Schicksale dieser pikanten Speise zu
unterrichten und auf diese Weise überflüssige Akten zu produzieren hatten. Wir
sind in einen Offizialismus geraten, in dem alle Persönlichkeit ertrinkt. Die
Gefahr ist, daß, wenn nach Friedensschluß wieder der frische Wind des freien
Wettbewerbs Pfeife, zehntausende starker deutscher Männer nicht mehr allein gehen
und stehen können. Die Gefahr ist die, daß jedes Amt und jedes Ämtchen, das der
Krieg geschaffen hat, Ewigkeitswert geltend macht, weil der Mensch, der einmal
auf der untersten Sprosse der Leiter gestanden hat, auf der oben die Geheimräte
sitzen, nicht mehr freiwillig heruntergeht.
So bietet abseits von den größeren Geschehnissen diese Zeit ihre sonder¬
baren Auswüchse, Gefahren und Probleme. Die neuen Ritter mit der Greif-
klaue im Wappen müssen zur sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Stuben¬
reinheit erzogen werden. Der Wucher muß auf die Fälle beschränkt werden,
die ausreichen, um den Gerichtsbericht der Zeitungen interessant zu erhalten.
In der nächsten Geschichtsperiode soll höchstens auf hundert Deutsche ein Geheim¬
rat kommen. Oder sagen wir zwei. Aber nicht mehr.
cum in einem parlamentarisch regierten Lande die Bedeutung einer
Mittelpartei gering ist, wie kürzlich die „Berliner Börsenzeitung"
der nationalliberalen Landtagsfraktion warnend zurief, so ist sie
jedenfalls in unserem gegenwärtigen System eine sehr große. Mit
Recht sagt die „Internationale Korrespondenz", die bisher als das
amtliche Organ der Sozialdemokratie galt"), daß die Entscheidung über das Schick¬
sal der Regierungsvorlage in den Händen der Nationalliberalen liege.
Seit jener ersten Abstimmung im Verfassungsausschusse, wo vier von den
anwesenden sechs nationalliberalen Vertretern sich als Gegner des gleichen Wahl¬
rechtes bekannten, ist ein leidenschaftlicher Kampf um die Seele der Partei ent¬
brannt. Von vornherein glaubte, man an die Möglichkeit eines Sinneswechsels
in ihren Reihen. Um ihn herbeizuführen, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt.
Insbesondere sollte die Partei im Reiche die unbotmäßige Fraktion in Preußen
zur Vernunft bringen. Daß dort ein anderer Wind wehte, wurde bald betont,
zuerst wohl wiederum von der „Berliner Vörsenzeitung", die für alle Links¬
strömungen eine feine Witterung besitzt und an die Zukunft ihrer Partei nur dann
glaubt, wenn der Ton auf dem zweiten Bestandteil des Namens liegt.**)
Mit dem Wunsche als Vater des Gedankens verkündete das „Berliner Tage-
blatt" ante tsstum, daß die Wahlrechtsmehrheit im Abgeordnetenhause gesichert
sei, da sich der Zentralvorstand der nationalliberalen Partei mit neun Zehntel der
Stimmen dafür erklärt habe. In der dann am 10. März abgehaltenen Sitzung
des Zentralvorstandes gestaltete sich das Verhältnis allerdings nur wie 104 : 24,
unter den preußischen Mitgliedern sogar nur wie 64:21, wobei noch ein volles
Drittel der Stimmen (nach dem „Deutschen Kurier") durch Enthaltung oder Fern¬
bleiben ausgefallen ist. Das Ergebnis bleibt trotzdem schwerwiegend, erscheint es
doch — hinsichtlich der preußischen Nationalliberalen — als die nahezu genaue
Uiickehrung jener ersten Kommissionsentscheidung.
Der „Deutsche Kurier" glaubt dennoch keine Änderung in der Haltung
der Landtagsfraktion annehmen zu müssen, und die „Kreuzzeitung", obwohl weit
weniger optimistisch, hält den Zuzug von 21 nationalliberalen Stimmen und
damit die Ablehnung der Regierungsvorlage, vorausgesetzt, daß die Freikonser¬
vativen geschlossen dagegen sind, immer noch für möglich.
Man kann in der Tat noch nicht sagen, wie das ein Teil der Presse tut,
daß eine Mehrheit für das Wahlrecht bereits endgültig gesichert sei, wenn auch
wohl die Hoffnung berechtigt ist, daß eine schließliche Einigung auf dem Boden
der Vorlage zustande kommt. Der Beschluß des nationalliberalen Zentralvorstandes
fällt in einen recht ungünstigen Zeitpunkt, da seine praktisch« Wirkung zurzeit nicht
recht zur Geltung gelaugt und daher teilweise verpuffen muß. Seine Entstehung
wird man allerdings begreifen angesichts des tiefen Gegensatzes im Schoße dieser
Partei, deren „Mittellage" von jeher auf die Haltung ihrer Mitglieder eingewirkt hat.
Man spricht von einer Krisis, und in der Tat gibt es Anzeichen, die auf
eine Wiederholung der „Sezession" von Anno 1880 deuten könnten. Aus den
provinziellen und lokalen Organisationen der Partei kommt ein Kreuzfeuer von
ablehnenden oder zustimmenden Äußerungen zur Wahlreform! neben dem Sammel-
ruf an die Seite der Linken ertönen Protesterklärungen solcher Mitglieder, die
diese „Linksorientierung" nicht mitmachen wollen und darum ihren Austritt an
zeigen.
Was diese Parteistreitigkeiten so bedeutsam macht, ist der weitere Zu-
sammenhang, in dem sie stehen. Was sich hier als Kampf ums gleiche Wahlrecht
im nationalliberalen Lager, abspielt, das ist letzten Endes die alle Deutschen,
welchen politischen Bekenntnisses auch immer, angehende Frage: wie stellt sich in
Zukunft Preußen zum Reich I Die Frage, um die unsere besten Geister seit den
Tagen der Paulskirche gerungen haben. Erhält der größte Einzelstaat das im
Gesamtverbande geltende Wahlrecht, so kommt der Anähnelungsvorgang einen
entscheidenden Schritt vorwärts mit seinen für die Reichsverfassung notwendiger¬
weise sich ergebenden Folgerungen, auf die in diesen Blättern wiederholt auf¬
merksam gemacht worden ist. /
Es ist kein Zufall, daß die Führer der nationalliberalen Fraktionen im
Reichstage und im Abgeordnetenhause. Stresemann und Lohmann, in der Wahl¬
rechtsangelegenheit verschiedene Wege gehen. In ihnen symbolisiert sich der Zwie-
spalt der deutschen Seele, „Weimar" und „Potsdam", wie das nicht erst von
dem Ausländer Shaw im Weltkriege geprägte Schlagwort lautet. Schon bei der
ersten Lesung des Etats hatte Stresemann geäußert: „Ein kräftiger Widerspruch
zwischen Reichspolitik und preußischer ist auf die Dauer nicht zu ertragen, ein
besonderes preußisches Eigenleben im Reichslehen nicht möglich". Er bekennt sich
also zu jener Forderung eines „Aufgehens Preußens im Reich", wie sie die
1848 er Demokraten Friedrich Wilhelmi dem Vierten mundeten und wie sie ihre
Gesinnungsgenossen von heute in die Formel kleiden, Preußen müsse wie Reichs-
land regiert werden. Wenigstens ist das die Konsequenz seiner Worte, obwohl
wir glauben, daß praktisch zwischen ihm und Männern wie Anschütz. Preuß samt
der ihnen verwandten Presse noch ziemliche Unterschiede bestehen bleiben.
Es muß dem Sachsen Stresemann nicht leicht fallen, sich für das gleiche
Wahlrecht zu erklären, da, in seiner Heimat die Nationalliberalen mit den Kon¬
servativen gemeinsam gegen die dort ja so überaus starke Sozialdemokratie
operieren. In der vorsichtigen Art. wie er über das Verhalten seines preußischen
Kollegen Lohmann urteilt, möchte man noch eine Nachwirkung des schweren
Gewissenskonfliktes sehen, deu er zweifellos durchgemacht hat. bevor er aus Gründen
politischer Notwendigkeit (dasselbe wurde vor Wochen an dieser Stelle ausge-
sprachen), für das gleiche Wahlrecht eintrat. Ein Teil der nationalliberalen Presse
legt sich eine solche Zurückhaltung gegenüber ihren andersdenkenden Partei-
genossen nicht auf.
Die „Berliner Vörsenzeitung" hatte schon vor der Kundgebung des Zentral¬
vorstandes geschrieben: „Uns ist die Partei zu wertvoll, als dgß wir sie durch
das unkluge Verhalten einer Landtagsfraktion in Mißkredit bringen lassen möchten.
»
______ Wenn ein Mitglied der Landtagsfraktion, das allerdings den Namen
nationalliberal nicht mehr verdient, von der deutschen Aufgabe der Nationallibe¬
ralen spricht und darunter die Aufrechterhaltung des bundesstaatlichen Charakters
des Reiches versteht, so sind wir der Ansicht, daß der bundesstaatliche Charakter
des Reiches am besten nur dadurch gewahrt werden kann, daß die Wähler zu den
einzelnen Landesfraktionen das Vertrauen haben können, daß der liberale Gedanke
in ihnen wirklich eine Stätte findet." Und die „Kölnische Zeitung" meint: „Wer
heute die Arbeit der nationalliberalen Fraktionen in den Landtagen verfolgt, der
wird sich davon überzeugen müssen, daß die deutsche Aufgabe bei den Landtags-
sraktionen stark zugunsten von kleineren Gesichtspunkten und Jnteressenforderungen
zurückgestellt worden ist/'
Auch Bismarck war ja zuzeiten lebhaft vom unitarischen Reichsgedanken er¬
füllt und hat in solcher Stimmung Wohl gesagt, Preußen bedürfe mehr der Germani¬
sierung als Deutschland der Borussifizierung. Bei seinen die Gedankenweite und
-freiheit des Genies widerspiegelnden Äußerungen gilt jedoch stets der stillschwei¬
gende Vorbehalt: „Die Bezeichnung muß von der Hauptsache hergenommen werden."
Und diesen Grundsatz kann man auf obige Worte nicht anwenden, sobald man
das Gesamtwert Bismarcks überblickt.
Es heißt, die Stunde sei gekommen, in der das alte Preußentum seine Auf¬
gabe in der deutscheu Geschichte als gelöst ansehen kann. Gewiß liegt in einer
Vermählung preußischen und deutschen Geistes, in der Vereinigung von „Potsdam"
und „Weimar", unsere Zukunft beschlossen, aber die unendlich schwer zu beant¬
wortende Frage erhebt sich: Wie trifft man das richtige Mischungsverhältnis, und
dabei scheint doch manchmal vergessen zu werden, daß zwei Dritteile der Deutschen
innerhalb des preußischen Staates wohnen.
Auch die verschiedenen Parteien der parlamentarischen Entente unter sich sind
wohl nicht einig. Gemäß den Vorbehalten, die das Zentrum schou in der Plenar-
debatte gemacht hatte, beantragte es nunmehr in der Kommission eine verfassungs¬
mäßige Gewährleistung aller das Verhältnis der christlichen Kirchen zum Staat
betreffenden Gesetze, sowie des konfessionellen Charakters der öffentlichen Volks-
schulen. Gleichzeitig sollten Verfassungsänderungen erschwert werden durch Ein¬
führung einer Zweidrittel-Majorität. Dieser Antrag begegnete einmütiger Ab¬
lehnung von allen Seiten. Das „Berliner Tageblatt" redet zwar von dem „iso¬
lierten Zentrum", hofft aber, daß sich die Partei trotz dieser Erfahrung
„von einer sachlichen Zustimmung zur Wahlreform nicht abbringen lassen wird."
Die „Germania" des Herrn Erzberger umgeht die Antwort und kommt mit einer
Gegenfrage. Der Kampf um das Wahlrecht sei nunmehr „in ein neues Stadium
getreten", denn jetzt werde sich zeigen müssen, ob „die bedingungslosen Anhänger
des gleichen Wahlrechts auf der Linken nur darauf ausgehen, durch eine Demo¬
kratisierung Preußens die Verfechter in anderer Richtung liegender kultureller
Interessen mundtot zu machen."
Der gereizte Ton fällt aus, nicht weniger der so gar nicht zur modernen
Parlamentarisierung passende, die einige „Mehrheit" wieder in ihre Bestandteile
auflösende Sprachgebrauch! Man wird sich darüber nicht wundern dürfen, macht
doch ein Teil der linken Presse schon jetzt kein Hehl daraus, wie er unter der
Herrschaft des gleichen Wahlrechtes die kulturellen Fragen zu behandeln gedenkt.
Mit übler Demagogie Art bemerkt das „Berliner Tageblatt" für den
Fall, daß „die Bedingungen des Zentrums" angenommen werden könnten:
„Was bleibt denn noch (für den Landtag) zu tun übrig? Vielleicht die Regulierung
der Pissa und anderer „Ströme" Preußens zu bestimmen, oder eine Sekundär-
bahn von Mallwischken nach PMallen zu beschließen oder endlich Petitionen der
Hebammen in der Provinz Westfalen und der Latrinenreiniger im Kreise Neu-
tomischel entgegenzunehmen." Die Schminke ist zu dick aufgetragen, um nicht den
Zweck der Übung erkennen zu lassen. Der Abgeordnete Brockmann sagt mit Recht
(im „Tag"), daß „die ganze große Gefahr, die die Regierungsvorlage mit sich
bringt, unverhüllt und wahrhaft erschreckend vor dem christlichen Volke, dem katho°
lischen wie dem evangelischen, dastehe." Auch seine weitere Bemerkung trifft zu,
daß das genannte Blatt der Vorlage „einen schlechteren Dienst gar nicht tun"
konnte, als es durch sein Verhalten geschieht.
Nach der anderen Seite dagegen klingt es aus den Spalten der „Germania"
auffallend freundlich und gemäßigt. Das offiziöse Parteiorgan äußert nur sein
„schmerzliches Befremden", von den Konservativen, den „treuen Sekundanten bei
der Vertretung christlicher Weltanschauung diesmal im Stich gelassen" zu sein und
endet mit einem fast warmen Appell an das Verantwortlichkeitsgefühl der Rechten.
Hier aber ist man der Ansicht, daß es gerade „kaum zu verantworten gewesen"
wäre, durch Einschiebung von scheinbaren Garantien, die in Wahrheit keine wirk-
same Sicherheit bietet, dem Wahlrecht, welches die kirchlichen Interessen und den
christlichen Charakter der Schule auf das schwerste gefährdet, das Tor zu öffnen
(„Kreuzzeitung"). ,"
Die ablehnende Haltung der Konservativen zu dem „Sicherungsantrage
des Zentrums ist vom „Berliner Tageblatt" als Va-banque-Spiel bezeichnet worden,
wodurch das nackte, gleiche Wahlrecht noch anderen Parteien „verekelt" werden
sollte. Die Konservativen leugnen auch gar nicht, daß sie Baissepolitik treiben,
verwahren sich aber dabei gegen Unterschiebung falscher Beweggründe: „Die vom
Zentrum angestrebten Sicherungen auf dem Gebiete der Kulturpolitik", sagt die
„Deutsche Tageszeitung" in Übereinstimmung mit den obigen Worten ihres
Schwesterorgans, „sind eben solches Opium, wie die Verhältniswahl für die Ost¬
mark. Sie stehen und fallen in ihrer effektiven Wirkung mit der Zusammen-
setzung der Mehrheit des Abgeordnetenhauses, d. h. sie fallen beim gleichen
Wahlrecht."
Das Zentrum fordert jene Sicherungen aus dem ehrlichen Gewissenskonflikt
heraus, daß anderenfalls im preußischen Abgeordnetenhause gelegentlich eine
Kulturpolitik „5 1a krAn<?aise« gar zu leicht die erforderliche Mehrheit finden
könnte. Die Partei kann sich in dieser Frage dem Drucke der Geistlichkeit und
der christlichen Gewerkschaften gar nicht entziehen. Die Konservativen glauben
auch durch in die Verfassung eingebaute Dämme und erschwerte Abstimmungen
die schädlichen Wirkungen der demokratischen Flut bei Einführung des gleichen
Wahlrechts nicht verhindern zu können. Es handelt sich in der Tat nicht um
Parteifragen, sondern um Fragen der Weltanschauung, wie die Germania betont,
auch bei den Konservativen, denn eine Änderung der Ostmarkenpolitik, z. B.
würde unleugbar in erster Linie nicht konservative, sondern nationalliberale
Interessen berühren.
Was die Polen angeht, so glaubt allerdings die „Vossische Zeitung" über
die zukünftige Haltung der Demokratie beruhigende Versicherungen geben zu
können. „Bisher war die Abwehr der Polen in erster Linie eine Sache der
deutschen Bureaukratie. Die Polen sind auf dem besten Wege, auch die deutsche
Demokratie von der Notwendigkeit verstärkten nationalen Schutzes zu über¬
zeugen." Die „Befürchtung" der Konservativen, daß eine „andere Zusammen¬
setzung des Abgeordnetenhauses die polnische Gefahr steigern" würde, erklärt das
Blatt für „grundfalsch". Man weiß nicht recht, wie man diese Behauptung mit
dem Verhalten der „Mehrheit" in Einklang bringen soll, die vor kurzem durch
ihre Abgeordneten Erzberger, David, Naumann und Frhr. von Rechenberg mit
Vertrauensmännern der Warschauer Negierung in Unterhandlungen getreten ist,
wobei der „Versöhnungsgedanke" eine große Rolle spielte.
Diese parlamentarische Nebendiplomatie ist ja gleichzeitig zweifellos ein
glatter Eingriff in die Rechte der Negierung. Die „Kreuzzeitung" hat nicht so
Unrecht, wenn sie das Verfahren dahin deutet, „daß tatsächlich das Parlament
das Steuer des Staatsschiffs in die Hand nimmt." Gerechtigkeit gebietet aber
auch die Ursache des Vorgangs zu beleuchten. Und da ist es denn völlig klar,
daß die mangelnde Entschlußkraft der Negierung wie schon so oft in letzter Zeit
das Parlament zu einem Vorstoß seinerseits ermutigt hat. ' Die Grundsätze der
Verfassung werden dnrch die polaren Kräfte der Regierung und Volksvertretung
im Gleichgewicht gehalten. Eine verminderte Anziehungskraft des einen Pols
löst sofort verstärktes Hinneigen zu dem anderen aus. Nach dem Entriistungs-
sturin, den der Ukrainefrieden in polnischen Landen weckte, mußte angesichts der
unerhörten Hetzereien und Anmaßungen irgendetwas geschehen. Da die Regie¬
rung, vielleicht infolge eines ähnlichen Druckes politischer „Zwangsläufigkeiten",
wie sie der Staatssekretär von Kühlmann für das Auswärtige betonte, es unter¬
ließ, die arti-polnischen Konsequenzen aus den Vorgängen zu ziehen und von dem
verhängnisvollen Bethmannkurs ans dem November 1916 abzulenken, so versuchie
die Reichstagsmehrheit ihrerseits eine pro-polnische Lösung der Schwierigkeiten.
Angeblich ist „die deutsch-polnische Verständigung erreicht" und hat die diesbezüg¬
liche Erklärung der Reichtagsmehrheit die Zustimmung des Kanzlers gefunden.
(Berliner Tageblatt.)
Trotz der infolge des Zentrumcmtrages eingetretenen Unstimmigkeiten wird
man vor der Hand annehmen müssen, daß die „Mehrheit" beisammen bleibt.
Die „Germania" kennzeichnete sie vor jener Abstimmung zwar nicht als „Block",
wohl aber als „solide und dauerhaft". Inzwischen scheinen sich auch die National¬
liberalen, die gelegentlich die Rolle des parlamentarischen Kometen spielten, der
allgemeinen Notation wieder anschließen zu wollen. Ihre Neichstagsfraktion macht
die Teilnahme an den bekannten „interfraktionellen" Besprechungen davon ab¬
hängig, „wie sich die Sozialoemokrciten Scheidemannscher Richtung zu der Kredit¬
vorlage stellen werden." Da deren „Zustimmung nach der ganzen Haltung der
Partei eine Selbstverständlichkeit" ist, — so die „Internationale Korrespondenz",
im Widerspruche übrigens zu einer Vermutung der „Kreuzzeitung" — scheint die
„erweiterte Mehrheit" gesichert. ,
Der künftigen Bindung entspricht eine soeben vollzogene Lösung nach der
entgegengesetzten Seite. Nachdem infolge der persönlichen Angriffe, die die
„Deutsche Zeitung" gegen den Abgeordneten Stresemann richtete, die „National¬
liberale Korrespondenz" festgestellt hatte, daß die altdeutsche Politik jede Fühlung
mit der nationalliberalen Partei verloren hat, und daß sie nichts weiter mehr ist
als ein reaktionär-konservatives Filialunternehmen, haben eine Reihe von national-
liberalen Abgeordneten (darunter auch Stresemann) formell ihren Austritt aus
dem Altdeutschen Verbände erklärt.*)
Auf konservativer Seite bedauert man, daß es zu einem engeren Zusammen¬
arbeiten mit den Nationalliberalen nicht gekommen ist und bekundet unverhohlene
Abneigung vor der Machtvermehrung des Zentrums, das durch das gleiche
Wahlrecht im Reiche und Preußen zur „ausschlaggebenden und stärksten Partei"
(Kreuzzeitung) werde; die „treuen Sekundanten" (s. oben) denken also über die
parlamentarische Mensur etwas anders.
Die augenblickliche Lage kennzeichnet sich also durch die „konservative Ein¬
samkeit" (o. Graefe), die durch das vor einer Woche besprochene Verhalten des
Vizekanzlers von Payer eine grelle Beleuchtung erfuhr. Die innerpolitische
Gewichtsverteilung ist jedoch eine labile; wie die „Mehrheit" auf Kompromissen
beruht, die mannigfache Gegensätze überbrücken sollen, so sind Überraschungen
und .Huhhändel". z. B. zwischen Zentrum (Kulturpolitik) und Konservativen
(Fideikommißgesetz), denkbar und vielleicht von der Regierung in Rechnung
Festgabe für Otto Mayer. Zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von
Freun, en, Verehrern und Schülern. M. März 1916. Tübingen, Mohr, 1916.
In den Jubiläumsschriften, die unsere Wissenschaft ihren großen Bahnbrechern
und Förderern zu widmen pflegt, sind durch die besondere Bestimmung oft Ab¬
handlungen dem äußeren Blicke entzogen, die wertvolles Gedankengut der je¬
weiligen Disziplin bergen. So auch hier bei der Ehrung Otto Mayers, dem die
junge Lehre des deutschen Verwaltungsrechtes ihre systematische Grundlegung und
Zusammenfassung dankt. Auch weitere Kreise dürfen auf diese wissenschaftliche.
Arbeit aufmerksam gemacht werden.
Die Reihe der Beiträge eröffnet Paul Lab and. selbst ein schon in dieser
Form geehrter Meister des Rechtes, mit einem knappen Abriß der „Verwaltung
Belgiens während der kriegerischen Besetzung", so wie sie sich bis zum Ende des
Jahres 1916 herausgebildet hat, ein auch der Praxis sehr zustatten kommendes
Orientierungsmittel für das zurzeit so akute Problem.
Sodann spricht ein Schweizer Jurist, Fritz Fleiner in Zürich, über das
Thema: „Beamtenstaat und Volksstaat", für jenen Deutschland, für diesen seine
eigene Heimat (genauer die Verwaltung der Einzelkcmtone, nicht die des Bundes,
die eine Mischform zeigt) als Paradigma hinstellend, daneben vergleichende Blicke
auf Frankreich. England und die Vereinigten Staaten werfend. Die objektive
Art, wie hier Werte und Schwächen der beiden Verwaltungssysteme erörtert werden,
sticht angenehm ab von der einseitig-tendenziösen Behandlung, die dem Gegen¬
stande unter Vorantritt von Preuß in einem Teile der Literatur zuteil wird und
bei der auf den (hier bezeichnenderweise „Obrigkeitsstaat" genannten) Beamten¬
staat aller Schatten fällt. Mit Recht betont Fleiner, daß seine Verwaltung „nach
sehr vielen Richtungen der des Volksstaates überlegen" ist. „Denn Planmäßigkeit,
methodisches Vorgehen, Sachkenntnis und Beherrschung der Verwaltungstechnik —,
diese Vorzüge muß das Beamtentum des Volksstaates sich erst im Amte unter
Überwindung von mancherlei Reibungen und ungünstigen Einflüssen von außen
aneignen und gelangt dabei häufig nicht über ein mittleres Matz der Fertigkeit
hinaus."
Innerlich verwandt mit der eben berührten Frage ist das anschließende
Thema Hermann Redens, des anderen leider früh verstorbenen Staatsrechtlers
der Rheinlands neben Laband, der allgemein „Das politische Wesen der deutschen
Monarchie" erörtert. Neben versucht unseres Wissens zum ersten Male eine
möglichst restlose Systematisierung des verfassungsrechtlichen Hauptproblems der
Gegenwart: parlamentarische oder monarchisch-konstitutionelle Regierung. Wenn
er formal zuweilen die allerdings verwirrende Fülle der Erscheinungen etwas
reichlich subsumiert und gliedert, sowie die souveräne Kürze der Gesetzcssprache
auf Kosten glatter Lesbarkeit kopiert, so wird doch inhaltlich den Dingen mit er¬
frischender Deutlichkeit ins Gesicht geschaut und zwar nach beiden Seiten. Es ist
noch nicht lange her, da mußte eine Lehre, die das Dogma vom monarchischen
Prinzip in seiner irrigen Auslegung (Vereinigung der gesamten Staatsgewalt im >
Herrscher, das Parlament nur an ihrer Ausübung beteiligt) bekämpfte, auf erheb¬
liche Widerstände auch in der wissenschaftlichen Theorie gefaßt sein (vgl. Meisner,
„Lehre vom monarchischen Prinzip", 1913), heute kann Neben rubi>z aussprechen,
daß „parlamentarische Nebenregierung, Muherrschaft auch in der Verwaltung, also
Teilung der Staatsgewalt zwischen den Staatsorganen, Herrscher und Parlament
bei uns miaute vorliegt". Aber auch der andere Teil darf ehrlicherweise nicht über
Zurücksetzung klagen, denn Neben zeigt, daß die deutschen Parlamente „heute mehr
Gewalt besitzen, als ihnen von Rechts wegen zukommt". Denn, obwohl ihnen
die Verfassung nur Teilnahme an der sogenannten Legislative zusichert, „besitzen
sie auch Einfluß auf die dem Staatsoberhaupt vorbehaltene Exekutive", die „weit¬
gehend im Sinne der Parteien geführt wird" (vgl. hierzu auch Delbnick „Bismarcks
Erbe", S. 97). Wenn Neben dann sagt, die deutscheu Verfassungen hätten „das
Problem, der Vereinigung von monarchischer Ordnung und völkischer Freiheit"
versucht, ein „Nebeneinander von Fürsten- und Volkssouveränität" gewollt, so ist
diese Forderung allerdings politisch-tatsächlich, wie man weiß, nicht erfüllt worden.
Die Entwicklung aber drängte dorthin und hat zurzeit wohl schon diesen Puukt
erreicht. Alles kommt darauf an. das Verhältnis der beiden Staatsorgane,
Herrscher und Volksvertretung, das ja durchaus dynamischer Natur ist. in jenem
Gleichgewichtszustände zu erhalten und eine extreme Löning der fortgesetzten
Spannung zu verhindern. Die Möglichkeit eines statischen Verfassungsrewtes im
monarchisch-konstitutionellen Staate, die man bisher gewöhnlich als praktisch un¬
durchführbar ablehnte, scheint doch zu bestehen. Wieder wiese dann die Linie der
Zukunft auf einen Mittelweg, auf die Synthese von Autorität und Freiheit, wie
sie Friedrich Julius Stahl — der allerdings noch befangen in den Anschauungen
der konstitutionellen Kampf-und Werdezeit und darum im Grunde doch nicht ehr¬
lich — lehrte. Oder wie Neben es ausdrückt: „Weder allein Monarchie, noch
allein Demokratie, sondern EinHerrschaft gemäßigt durch Demokratie und Volks¬
herrschaft gemäßigt durch Monarchie... Versassungs- und Königtum " Diese
„dauerhafteste Staatsform" besitzen die Deutschen uach Neben nicht nur in den
Einzelstaaten, sondern auch im Reich, wo „der Reichstag mit dem preußischen
Könige die Herrschaft teile", indem der Bundesrat „kein leitendes, sondern ein
verwaltendes Exekutivorgcm" darstellt und „der hündische Machtfaktor überhaupt
^ ' i. ^ -7V«^M-N lind Ministerien der fünf deutschen Mittelstaaten vor-
Ud?nV^
der dann Überhaupt keinen Bundesstaat, sondern einen „deutschver oann »ver^..^" Ktnatenstaat. in dem em Teilstaat über den anderen
föderativer B"g°b ^ in die Erscheinung treten läßt. Man
steht", einen »P^M " Z ^ Charakter des Reiches die von
kann also keiner der M hin Th oren no gemischte: in erster Linie
Neben vorge^ ,^ in verschwindenden Umfange
Sur anderen Hälfte ist es
"berät. ( Das « ^ " E "schlag".) In der politischen Praxis
Suzeranitatsstaa Relat in dem Preußen die
dagegen erscheint Reich Ah seiner s^^ran wären. Diese Gegen-
MK-SW: ^ssM. KÄ«-
N^?.n" 2d^^ verschiedene Themen berühren, so die
^ZZ«Ä«^ -RA«Mz-AA«
PMWWM-,,. in d,in °.-und ^F^°,u Zs°-^
S7^,'"«N°S Zwq° -u. d.n-n d/s
öffentlichenRechtes.
;,ks Kieler Professors und AbgeordnetenNach gnmokcheu ^ im deutschen Staatsrecht"
van Calker über „D.e AnUsvers^ Vorbehalt des Gesetzeso ge erne S udre von Richard Th vena ^ preußischen Verfasungsrecht" die
(ern von Otto, Mayer geprägter A Zd A ^^^rtbarkeit entbehrt", dafür .aber
zwar des ZieizeS unmitte barer P ak es r ^ ^.^^ hingibt, einen eben-
nuf leben, der sich ihren seinen lurisn ani " ^ ?/»^ ^,sum,n-.uf»s^.,
bli t gen Reiz mlSüvt. Wir können h'er nur das ultat ^Wnmmfass^Art W N N Adi 2 Saat- Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern
se zu jedem GZtze WrdeÄ" Thoma weist überzeugend nach, daß es sich
hierbei ursprünglich um den formalen Gesetzesbegriff gehandelt hat und daß unter
diesen nicht nur die mittels der drei konstitutionellen
Ge etze. sondern auch vorkonstitutioneNe „Gesetze' der absolutistischen Zei zu rechnen
sind, deren Eigenschajt als solche (und Unterscheidung von den vorkonstuutionellen
„Verordnunge.i") durch ihre Publikation in der Gesetzessammlung begründet wird
Beide Arten von Gesetzen sind der Zuständigkeit der Legislative „vorbehalten"
und also einer selbständigen königlichen Verordnungsgewalt entzogen. „Diese
Vorbehaltsqestaltiing" war der Volksvertretung günstiger als die der vormärz-
lichen deutschen Verfassungen" und als die des heute geltenden Rechtes, wo beide
Male ein materieller Gesetzesbeariff sich siegreich durchgesetzt hat. der das Vor-
Handensein eines „Gesetzes" in einer konventionell, nicht logisch umschriebenen
Sphäre sogenannter „Nechtssütze" erblickt (vgl. S. 177). Die von Bovensiepen in
den „Preußischen Jahrbüchern" 1916 S. 307. versuchte Wiedergabe des Thomaschen
Kernproblems gibt, obwohl kein Mißverständnis vorliegt, em schiefes Bild
Allgemeines Interesse beansprucht die Feststellung von Professor Lukas in
Münster („Justizverwaltung und Belagerungszustandsgesetz'. Zugleich em Beitrag
zur Gewaltenlehre), daß von dem Übergänge der ge unter vollziehenden Gewa t
an die Militärbefehlshaber laut H 4 des Belag.-Z.-G von 1850 zwar die Funk¬
tionen der Staatsanwaltschaft, aber nicht die der Justizverwaltung betroffen seien,
welch letztere vielmehr zur Zeit der Entstehung des Gesetzes zur richterlichen
""""
„UngeschriVerfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat sucht Rudolf
samt-Bonn zwischen den Zeilen unserer „wenig ansprechenden, schlecht ge-
faßten und dem vollen Verständnis schwer zugänglichen" Reichsverfassung zu lesen,
das das nüchterne Artikelrecht gleichsam materialisiert. An den Beispielen des
Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten und der Stellung des
Kanzlers als eines „gemeinsamen Beamten der Bundesfürsten", wie der „föderative
Sprachgebrauch" es ausdrückt, wird einleuchtend gezeigt, wie sich hinter diesen
organisatorischen Einrichtungen funktionelle Verhältnisse bergen, die im ersten Falle
eine „pflichtmäßige Fühlungnahme zwischen Reichsleitung und Einzelstaatsregierung
in auswärtigen Angelegenheiten" überhaupt (wobei der Ausschuß nur einer der
möglichen Wege iftX im zweiten eben jene föderative Gesinnung aller Glieder des
Bundes und damit auch des mächtigsten zum Ausdruck bringon wollen. . Obwohl
samt in diesem Zusammenhange das föderalistische Moment in starkem Gegen¬
satze zu Neben (vgl. o.) betont, rückt er doch von den extremen Anschauungen der
Seydelschon Schule, die das Reich als Staatenbund konstruieren, ausdrücklich ab.
Den Beschluß macht eine rechtshistorische Untersuchung, die der Rostocker
Professor Nedslob den „Völkerrechtlichen Ideen der französischen Revolution"
gewidmet hat. „Stammen die Grundrechte der Menschen", so spitzt er seine Ge¬
danken zu, „aus den nordamerikanischen Kolonien (Jellinek), so atmen die Grund¬
rechte der Staaten den Geist der französischen Revolution." Neben die Souveränität
des Volkes im Innern, tritt die Souveränität des Staates nach außen, die jede
fremde Intervention in seine Angelegenheiten ausschließt. Die Lehre vom Staats¬
vertrag dort besitzt hier in dem Gedanken eines zwischenstaatlichen Bundesver¬
trages ihr Analogon. Gleichzeitig wird der Grundsatz der freien Staatenbildung,
das Nationalitätsprinzip verkündet, der bestimmt war, das folgende Jahrhundert
zu beherrschen und dessen berühmte Volksabstimmungen über politische Zugehörig¬
keit noch in der Gegenwart eine Rolle spielen. Letzten., Endes erträumt das
Völkerrecht der Revolution eine allgemeine Verbrüderung der Völker, eine
universelle Republik.
Vielleicht genügen diese Andeutungen, das Interesse zu wecken und die Scheu
zu überwinden, die das größere Publikum vor der Lektüre sogenannter Fach¬
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sSmtlicher Aufsähe n»r mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlauf «Mallet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin-Lichterselde West. — Manuslriptsenduugen und
Bricke werden erbeten unter der Adresse:
A« die Schriftleitunn der Grenzboten in Berlin 8W 11, Tcmpclliafcr Ufer 35 a.
Fernsprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde <es8, des Verlags und der Schristleitung: Amt Lüizow 05!it,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin it, Tempelhofer User SSs,
Druck: „Der Reichsbrte" G, in. b, H. in Veriln LV 11, Dessauer Straße R'/»7,
-i-loumdnna und Beschimpfung sind die geistigen Waffen, die unsere
L er nich^ gegen uns zu schwingen Bei allen ist
d/i- Blick starr einaestellt auf uns, ehren Feind, und um er Bild ist
s.» die nationale Leidenschaft. Auch bei
. 5 fs d artws^in^^^^^^^^^^ Aber es beherrscht nicht den Ton
. dro hundelt ^ Gewiß, wir korrigieren das allzu harmlos-
ft^^cheA^
stattet hatten, an den schmerzlich
gerecht zu werden, oft ollz gerecht^ Uno »n » unabweisbare innereiemdlichen nationalen Vildnrsse dur^ ^ ,streben nach K udei über n°non > ^ ^ die Anwürfe
« As S Zrage
^7^in.f^en'"und^^
Mi.S^ Darstellung soll hier
huigemeftnwilden.
^^ ^ ^ vor allem die nachbarlichen Meinungen
abhören, die in der Zeit vor dieser Weltenwende über uro laut geworden sind; daß
sie zufrieden sind, wenn sie unter den Stimmen der heute so einheitlich femd-
s.ligen Nachbarn auch eine Anzahl Anerkennung An¬
erkennungen etwa des deutschen Pflichtgefühls, der deutschen Gründlichkeit der
von nationaler Vorliebe ungetrübten Fähigkeit, das Schone und Wahre überall
in der Welt zu würdigen: des wissenschaftlichen Aufbaues der deutschen Technik
in allen Lebenszweigen»). Und doch was ist damit gewonnen 5 Ein kleiner
Beitrag zur Erkenntnis, aber kein Spiegelbild unseres Selbst- denn nur die Züge,
die jenen Nationen besonders auffällig waren, sind hervorgehoben, und wir wären
nicht Deutsche, wenn wir die Frage unterließen, ob jene Zuge Wesentliches ent¬
halten und welche Bedeutung ihnen im Gesamtorganismus unserer Volksart
zukommt. > -
^ -. -Denn diesen Vorzug — wenn es einer ist - dürfen wir unserem Volte
ohne Überhebung zusprechen, die Fähigkeit, die Dinge ohne Voremgenonmienheit
zu sehen. Und deshalb bietet ein Zeugenverhör deutscher Volksgenossen über
deutsche Wesensart viel weniger Fehlerquellen, als dies ber der engeren und un-
freieren Natur z. B. französischer Äußerungen über ^rankrerch der Fall ist. Dazu
kommt, daß unsere eigenen Beobachtungen über die Natur unseres Volkes auch
deshalb den Vorzug verdienen, „weil den Ausländern, namentlich den nicht¬
germanischen, unser innerstes Wesen ein Buch mit sieben Siegeln ist und stets
bleiben wird". Aus diesem Grunde sollte die prächtige Materialsammlung vor¬
wiegend deutscher Urteile über deutsches Wesen, deutsche Tugenden und Laster, die
der stattliche Band von Hanns Floeike*) bietet, zu Ständigem Gebrauche im Bücher¬
schrank jedes Mannes stehen, der sich gedrungen fühlt, deutscher Art nachzuforschen
und nachzuleben, wobei zum Nachleben neben der Klärung begrifflicher Art natürlich
die gefühlsmäßige Unterlage nicht zu entbehren wäre.
Wer nun aber versucht, unser Wesen nicht wie ein Mosaik aus vielen
Einzelligen zusammenzusetzen, sondern in seinem organischen Zusammenhang zu
begreifen, in seinen Wurzeln aufzusuchen**), der pflegt auf den deutschen Idealismus
oder die deutsche Innerlichkeit hinzuweisen. Aus der Fülle der Schriften, die je
nach der Artung der Verfasser diesen Gegenstand aufzuzeigen versuchen, sind vor¬
weg die kleinen Bücher von Heinrich Scholz***) und Ernst Bergmann s-) zu nennen.
Besonders dem 'scholzschen Buche ist eine Klarheit der Gedankenführung eigen,
die klassisch genannt werden kann. Beide Verfasser müssen sich natürlich mit dem
Problem auseinandersetzen, wie sich Idealismus und Realismus in uns vereinen,
wie Weimar und Potsdam, Innerlichkeit und Expansion, „die dynamische und die
inhaltliche Linie" ff) miteinandergehen können. Deutscher Tutwille ist aus dem
Geiste des Idealismus im Kreise Fichtes geboren, also keine Abkehr vom Geiste
Weimars. Und Bismarck, der Realist in der Politik, ist doch auch der Verwirk¬
liche! und Ermöglicher idealistischen Strebens, der Staat unserer Zeit aber gewinnt
immer mehr die Bedeutung eines Trägers geistiger Interessen. Also wir sind
Idealisten, auch wo wir Realisten sind, unser Realismus ist idealistisch in Wurzel
und Ziel. Denn Deutschland erstrebt ja nicht politische Macht um der Herrschaft
willen oder des materiellen Wohlseins, sondern, wie Humboldt schon 1813 vor-
ahnend sagte, „es nutz frei und stark sein, um das notwendige Selbstgefühl zu
nähren, seiner Naüonalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen und die
wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen einnimmt,
dauernd behaupten zu können."
In diesem Zusammenhange muß auch auf ein Büchlein hingewiesen werden,
das unsere Wesensart von anderem Gesichtspunkte zu klären sucht und hierbei
in der Tat einen Generalnenner findet, unter dem sich unsere und der anderen
Wesensart vergleichen läßt; ich meine die Schrift von Wilhelm Teudifff). Der
Grad der Sachlichkeit, mit dem wir den Gegenständen entgegenzutreten pflegen,
ist größer als der bei anderen Nationen. Und indem wir dies nicht erkannten
und den Gegnern mundeten, daß sie. Tatsachenbeweise anerkennen würden, haben
wir uns getäuscht. Offenbar ist unsere Gewöhnung, im Namen der Sachlichkeit
gegen jedes Übermatz selbstischen Strebens zu polemisieren, der Grund, weshalb
wir so oft „allzugerecht" zu Verfechtern fremder Interessen werden. So ist unser
sachliches Denken, wodurch wir den Nachbarn an Wert überlegen sind, zugleich
zu einem Feind unseres politischen VorschreiienS geworden.
Ein Problem ist freilich in allen diesen Schriften nicht bis zur Lösung
aebrackt- die Nraae. wie weit sich die allgemeinen Aussagen über den deutschen
National«^ den einzelnen erstrecken. Der Deutsche ist ein Idealist -
aber ^ ist kein Idealist' der Deutsche ist zu politischem Realismus
er?vom - N Pazifist um jeden Preis, der keinem Menschen welztun will
und uns unter der Last der Kriegssolgen niederbrechen läszt. ist gewiß kein Realist.
Ich cilaube es ist eine breite Schicht von Deutschen, die weder Idealisten in
in-llktttcker Ausübung noch Realisten auf Grund klarer Erkennens von Lage und
N s .?d^ ""loren Wollungen hin und her schwanken.. Die Wrkung
K^r ol le l i Gerüchte in dieser Kriegszeit äußert steh am staMen in dieser Schicht
d r Lauer, die sich nicht bewußt sind, was es heißt em Deutscher zu sem, -
nämlick mehr als von deutschen Eltern gehöre» zu se'in und die deutsche Sprache
? r^ ruhender Zustand unseres Volkes den die
Philosophen mit ihren Bezeichnungen ..deutsche Innerlichkeit, de.itscher Idealismus
und idea istischer Realismus" meinen; l«, es ist. empirisch angesehen^ eme Selbst-
täuschung. von einem Charakterzug eines Volkes zu reden, da stets Gegenbeispiele
genug gefunden werden können. Vielmehr ist es eine
Der Deu.sche ist ein Idealist bedeutet: der Deutsche ist seiner geistigen und seelischen
Struktur nach deS Idealismus fähig, er ist Realistisch veranlagt zum Ideales
erziehbar ode wird wenigstens in idealistischer A mosphare em Idealist d^
Prägung werden. Und wenn wir für das deutsche Volk kämpfen das deu sche
Volk lieben, dann meinen wir nicht die Summe von empirisch vorha.ideuen. te. s
achtu'igswerten teils minderwertigen Volksgenossen sofern den Deutschen wie
er sein und werden sollte, den Jdealdeutschen. dessen Entstehungs- und Leliens-
möglichkeiten nur im deutschen Volke liegen, verankert durch Rasse. Kinn. Boden
und «ichMchEl
^ schaffen, innerhalb deren de^ DeM^
Wesens Blüte entfalten kann Dieses Z>el gehört nicht erst zu den Erkenntnissen
des Krieges. Ich erinnere an Rudolf Euckens Buch Zur Sammlung der
Geister" (1913) und an die daran sich anschließenden Versuche. Aber e.n neuer
Schwung ist in dieses Streben doch durch den Krieg gekommen Natürlich gehen
die Wege auseinander; wie wäre es bei Deutschen auch anders möglich? Je
nach der Gesinnung der Wegzeiger erscheint das Ziel^ bald in sozial-humanitärem,
bald in nationalistischen Lichte.' Es zeigt sich auch hier, daß diese beiden Ideen,
die nationale und die soziale, nach einem Ausgleich suchen'), ober bisher noch
weit davon entfernt sind, obgleich ihre besten Vertreter guten Willens sind.
Zur vmwiegend sozialen Richtung gehört die Schrift von Diednch Bischoff**),
die zeigt, wie der Geist von 19l4 sowohl den Gemeinschaftsidealismus in der
Einsetzung aller für das Ganze als auch den Persönlichkeitsidealisinus in sich
trägt, der seiner Existenz höchste in Freiheit zu erfüllende Forderungen stellt. Der
Versasser verlangt von deu geistigen Führern eine starke Einwirkung auf die
Breiten des Volkes zur Erhaltung feiner Güter, jedoch nicht nur durch die Ver-
breitung von Wissen, sondern auch durch die Pflege des Gemütslebens. Vor
allein kommt es Bischofs auf die Schulung des sozialen Denkens und die Steigerung
der sozialen Urteilsfähigkeit an, von denen „der weitere Aufstieg deutschen Wesens
abhängt". Dies einerseits. Andererseits freilich soll nicht nur der übermäßigen
Schätzung sozialistischer Lebensordnungen entgegengetreten, sondern auch die
schöpferische individuelle Freiheit gefördert, ja sogar „ein selbsttätiges kulturbildendes
Künstlertum aller Volksgenossen" erstrebt werden. Der Verfasser sucht also für
zwei diametral entgegengesetzte Strebungen eine Einigung.
Sollte man nicht diese doch nur im Individuum organisch, aber nicht ratio¬
nalistisch lösbare Aufgabe zunächst beiseite lassen? Hier ist eine, allgemeingültige
Lösung, wie die Geschichte aller Zeiten lehrt, eben nicht möglich. Wir müssen zu
dem deutschen Wesen, das sich ja in diesen erhabenen Zeiten wie in der tausend¬
jährigen Vergangenheit so herrlich — individualistisch wie sozial — offenbart hat,
das Vertrauen hegen, daß es sich des rechten Weges wohl bewußt sei. Nur muß
jeder Volksgenosse sein Deutschtum nicht nur als Zustand, sondern auch als Auf¬
gabe empfinden, als Verpflichtung gegenüber allen anderen Volksangehörigen.
Eine Förderung des sozialen Empfindens ist es also auch, wenn wir das Deutsch¬
bewußtsein fördern. Halten wir also deutschen Geist, deutsches Wesen, Denken
und Fühlen hoch, daß es voranleuchte der großen Schar der völkisch Unbewußten,
die nur zu Zeiten großen Geschehens durch den Strahl tödlicher Blitze über ihre
Lage aufgeklärt worden sind und geblendet zugleich.
Für die große Menge der Deutschen sind zur völkischen Selbstbesinnung
die vorhin erwähnten Zeugen des In- und Auslandes nicht verwendbar, auch
nicht die philosophische .Klärung kann ihnen förderlich sein. Es gilt ihr inneres
Wesen zu wecken zu bewußtem Handeln im Sinne ihres Nationalcharakters. Das
geschieht, indem man ihnen fremde Einflüsse fernhält und sie mit offenem, unvor¬
eingenommenem Blicke deutsches Schaffe» und deutsches Denken aufnehmen läßt,
so daß sie ein Teil werden dieser deutschen Welt und schließlich unempfänglich
für jede Art von Ausländerei. Wohl bleibt ihnen ausländische Wesensart nicht
fremd, aber sie unterscheiden sich bewußt von ihr. Ein solches Jmmunwerden
gegen entfremdende Einflüsse ist unserer empfänglichen Generation noch etwas Un¬
erhörtes; und doch muß es erreicht werden, damit unsere Nachkommen das teure
Gut des deutschen Wesens ungeschmälert empfangen. Der Gefahren sind heute zu viele.
, Man sollte meinen, nur eine lange Menschenbeobachtung könne dahin
führen, das Ziel gefestigten Deutschbewußt'seins zu erreichen. Aber sie kann bis
zu einem gewissen Grade ersetzt werden durch die Empirie der Geschichte.
Diese Forderung stellen bedeutet eine Betrachtung historischen Geschehens
verlangen, die in unserer Vergangenheit stets das Eigengut zu erkennen strebt und
es scheidet von dem Fremden, was uns als dem Volte der Mitte von jeher
überreich zugeflossen ist. Schon vor dem Kriege ist derartiges versucht worden,
oft mit unzureichenden Mitteln und unter unzulässigen Voraussetzungen. Auch
hier hat der Krieg die Frage dringender gestellt. Das Weltgeschehen beeinflußt
auch die stille Arbeit der Wissenschaft.
Ein junger Heidelberger Gelehrter, Richard Benz, läßt soeben bei Diederichs
in Jena eine Folge „Blätter für deutsche Art und Kunst" erscheinen*), die nichts
Geringeres bezwecken als diese Frage für das Gebiet der höchsten Wesensleistung,
der Kunst, zu lösen. Er führt aus, daß die deutsche Kunst, ursprünglich in der
Religion begründet, von der kultischen Andacht des Beschauers getragen, durch
die Einflüsse fremder Elemente, die als „Renaissance" zusammenzufassen sind, sich
vom Leben gelöst und sich aus einer Ausdruckskunst in eine solche gewandelt hat,
der die Darstellung alles ist, die Vergnügen zu bereiten hat; um dieses Vergnügen
zu empfinden, gilt es ein Kenner zu werden, seinen Geschmack zum Kunstgenuß
zu Schulen. Eine unvolkstümliche Bitdungsatmosphäre, in die man nur durch
eine auf der Renaissance aufgebaute Schulung eindringen kann, hat maßgebende
Geltung erlangt. Insbesondere unser Verhältnis zum Kunstwerk ist auf intellek-
tucüistische Voraussetzungen gestellt worden, die das Erlebnis ausschließen. Wir
befinden uns mithin in einem Zustand den Künsten gegenüber, der fast aus allen
Gebieten das Gegenteil des germanischen Empfindens bedeutet. Mit den Aus¬
führungen von Benz wird sich die Wissenschaft und die Kulturphilosophie noch
auseinandersetzen müssen; hier mußten ein paar Andeutungen genügen. Daß
Benz diese Fragen überhaupt aufwirft, ist schon Förderung, selbst wenn sich
manches als nicht haltbar oder als allzusehr zugespitzt, als ohne hinreichende
Gesamtprüfung hingestellt erweisen sollte. Für Einzelheiten scheint dies ja der
Fall zu sein*). Als dringende Aufgabe ergibt sich ledenfalls. daß die Wissenschaft
für Mittelalter und Neuzeit und zwar für alle Lebenserscheinungen die Frage
„was ist deutsch?" aufwirft und zu beantworten sucht. Dann werden wir auch
über die kühne Behauptung Burdachs Klarheit gewinnen, daß ohne die Impulse
der Renaissance die deutsche Kultur untergegangen wäre.
Ich möchte also die Kontroverse, die sich hier angebahnt hat. hoch werten
als den Beginn der dringend nötigen Erörterung über deutsches Wesen, die den
Grundstein unserer künftigen Deutschwissenschaft bilden muß. Und diese wieder,
durch das Medium kräftiger Persönlichkeiten hindurchgegangen, wird die Erziehung
zu deutschem Selbstgefühl in weite Kreise tragen. Die Deutschwissenschaft oder
Deutschkunde (vgl. meinen Aufsatz in den ..Grenzboten" 1917 II Seite 137 ff,) wird
das vorhandene Wissensmaterial unter dem Gesichtspunkt neuordnen und nach
der Richtung weiter ausbauen, daß sie fragt: Inwiefern gewinnen wir daraus neue
Erkenntnis deutscher Art und fördern deutsches Leben? „Festigung des Bandes, das
als stolzes Bewußtsein der Volkszugehörigkeit alle Deutschen zusammenhält, flösse
aus dieser Darzeigung deutschen Wesens, in denen der ganze Menschheitswert
unserer Art zu volkstümlicher Offenbarung wird, und die in diesem Wert gelegene
Kraft würde über den Kreis der deutschen Gemeinschaft werben unter allen Völkern
der Erde, die guten Willens sind". So formuliert Walter Schmied-Kowarzik
in einem empfehlenswerten kleinen Buch'*) den Zukunftsausblick. Er zeigt, wie
der Gedanke einer „Gesellschaft der Deutschwissenschaften" seit der Humanistenzeit
immer wieder auftaucht, und man sieht aus seiner Darlegung, wie er sich geklärt
hat und immer deutlicher als Inhalt die oben umschriebene Aufgabe vor sich stellt.
Aber sollen wir nun warten, bis die wissenschaftlichen Grundlagen alle
bombenfest stehen? Nein, tausendmal nein! Wo die Überzeugung gewisse Ziele
für die Erziehung unseres Volkes als heilsam setzt, soll ste steh freudig aussprechen
und auswirken dürfen. So haben denn auch die nicht geschwiegen, die sich
berufenglaubten. Wege zu deutscher Zukunft zu weisen. Freilich wird hier kritische
Auseinandersetzung nötig. ^
Eine dringende Forderung scheint es zu sem, die Seutsche Kunst als un¬
mittelbarste Wesensäußerung unserer völkischen Art gegen das Überwuchern des
Volksfremden zu schützen. Wenn irgendwo, muß hier auf den Eigenwuchs der
Hauptwert gelegt werden, die deutsche Kunst als Auswirkung des deutschen Be¬
wußtseins erscheinen und ohne Blicke nach rechts und links auf ihren Weg gestellt
werden. Deshalb muß es zurückgewiesen werden, wenn Hermann Muthesius
der Kunst durchaus exzentrische Motive für ihre Betätigung zuweist.*") Wie ihm
französische Aufschriften an den Geschäften nicht deshalb abzulehnen sind, weil
unser unwürdig, sondern weil dieser Zug „im Gesicht unseres Volkscharakters"
uns bei den Nachbarn Geringschätzung einträgt, so erscheint ihm als Ziel deutscher
Kunst nach dem Kriege: Anerkennung in der ganzen Welt, „führend auch aus
diesem Gebiets zu werden, der Zukunft ihren Stil zu geben". Es ist merkwürdig,
wie bei Muthesius der Begriff der Kunst sich nach der wirtschaftlichen Seite
ausgestaltet; sie ist ihm nicht Wesensäußerung des Volkes, sondern vor allem
^Exportware. Die deutsche „Kunst" soll den Weltmarkt beherrschen, und als guter
Kaufmann hat man sich den Wünschen der Abnehmer anzubequemen. Das möge
der Händler mit allen anderen Waren, nur nicht bei Kunstwerken tun, denn hier
trifft es die nationale Würde. Deutsche Kunst kann sich nicht dem amerikanischen
oder englischen Markt anpassen, auch nicht, wenn unser Volk sich als „geschmacklich
führendes" die „Liebe der Welt" leichter erwerben könnte. Es gilt nicht, führend
zu sein, sondern sich rein auszudrücken. Ist man etwas, so wird man auf die
dünne Schicht kultivierter Menschen in allen Völkern, gewöhnlich Menschheit
genannt, seine Wirkung nicht verfehlen. Was aber Muthesius den Sieg des
deutschen Geschmackes, der deutschen Form, der deutschen Kunst nennt, ist der
Erfolg, den der Imperialismus des kunstgewerblichen Großhändlers davonträgt.
Vor der hierin liegenden Verwechslung von Industrie- und Handelswerten mit
Kunstwerken bewahre uns der heilige Sombartl
Nicht nach außen also, wie Muthesius will, sondern vor allem nach innen
das Licht des deutschen Gedankens wieder leuchten zu lassen, tut in diesen Zeiten
not, da Hunderttausende hinter geschickt ausgemachten Schlagworten herlaufen.
Wie soll das nun aber geschehen?
Bischoff läßt seine vorhin erwähnten Ausführungen ausklingen in einen
Aufruf an die geistig führenden Kreise, mit dem von ihm erstrebten „Persönlichkeits-
und Gesellschaftsidealismus" das ganze Volk zu durchdringen, damit es sich kräftig
erhalte, die „hohe, friedvolle und segensreiche Menschheitszukunft" zu fördern.
Aber wie er individualistische und soziale Strebungen versöhnen will, so strebt er
auch nationalen und menschheitlicher Zielen zugleich nach. Und hier stoßen sich
die Sachen, Doch das Eine ist an Bischoffs Gedanken zweifellos beherzigenswert:
die Gebildeten sollen sich ihrer Pflichten wieder bewußt werden, sie sollen als
lebendige Glieder des Volksganjen wirken, auf daß ihr Pfund wundere. Ob dazu
die Vereinigung in einen Bund notwendig ist, will ich nicht erörtern; praktisch wird sie
sich erweisen. Und da von den verschiedensten Seiten gleichzeitig der Gedanke sich durch¬
gesetzt hat, durch Zusammenschluß Gleichgesinnter die Herrlichkeit des Herbstes 1914
fruchtbar zu erhalten, so muß aus diese Erscheinung doch hingewiesen werden. Von
der ersten und größten Vereinigung, die in ihrer Bedeutung von Anfang an über¬
schätzt, heute stark zurückgetreten ist, braucht hier nicht geredet zu werden. Wichtiger,
weil klarer und den Problemen nicht aus dem Wege gehend, ist Pastor Küsters
Programm der Flensburger „Vaterländischen Gesellschaft für volkstümliche Vor¬
lesungen", das klar die drei Antinomien aufzeigt, an deren Lösung durch geistige
Anregung gearbeitet werden soll: Volksgefühl und Staatsbewußtsein, Individua¬
lismus und Eingliederung. Nationalgefühl und Weltbürgertum (vgl. „Die Tat"
vom August 1916). Zugleich trat Eugen Diederichs, der bekannte Verleger, an
die Spitze einer „Gemeinnützigen Gesellschaft 1914 zu Jena", die aus ähnlichen
Wegen, durch volkstümliche Vortragsreihen und durch das Theater erzieherisch
auf die „Bürgerschaft" zu wirken suchte. Im größten Stile aber ist die in Ham¬
burg von Adalbert Luntowski und Wilhelm Kiefer gegründete, auf das ganze
Reich ausgedehnte „Fichte-Gesellschaft von 1914" angelegt. Sie strebt durch
Vortrags- und Besprechungskurse (städtische Volkshochschulen, z. Z. in Hamburg
im Gange), durch Einwirkung auf Theater und Schrifttum, durch Gründung von
ländlichen Volkshochschulen, durch ihre Zeitschrift „Deutsches Volkstum" (früher
„Bühne und Welt") nach Gesundung unseres geistigen Lebens. Dem Gesamt¬
eindruck des Programmes nach steht bei Diederichs der soziale, bei der Fichte.
Gesellschaft der nationale Gedanke im Vordergrund; auch hier wieder die beiden
Leitmotive unserer Zukunft, in deren Versöhnung das Heil des deutschen Wesens liegt.
An ihren Früchten wird man schließlich den Wert dieser Vereinigungen er¬
kennen; an ihren Früchten auch die neue Schule der bewußten Deutschheit, auf
deren Entstehen und Ziele ich in diesen Blättern schon früher hingewiesen habe.
Hier wird sich freilich erst nach hartem Kampfe das Neue an die Stelle des Alten
setzen. Wer sich über den Stand des Kampfes unterrichten will, der lese die
ZSMM
«^FSg ^unAn'Zr VuAe^Z« SS ^
l^^nicht^ne Gewähr
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G^stespiegetweithin das deutsche
Leben?er Gegenwart. Aber wenn wir ^ÄÄru? ^eS' Z is- was d°um^ Komm^des deutschen ^.^W^ ^^^^ ^
Rttckoff ozialeFschritt und die Wel.friedensidee seien nnr zu
retten wem?d s Deu sah^ bleibe. Bergmann spricht davon, daß
der Deut che mit der Idee missionieren aus e, und denkt dabei an Preßpolitlk.
^^Seine^t^.
elA^lie^S
empfunden lard. 2 ere Mi"^ut! Sodie anderen uns sino, wie unzugnngi^, ^ > mnsinpn in riicnt
bleibt nur. daß wir uns echa ten
in der Wüste, sondern im Kreise ver Völker man kann ^ Und
wem wir etwas sein können, der w'rd uns ^
erzieherisch Wirten wenn U u« G^l? vZSiF: ^
uuwer re
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deutsche Sachlichkeit I^df d^usche Wev ^ deutschem Samenkorn
einmal einen echten Idealismus in i/ello^ c.k.tun>L 7ne>>
heranwachsen ftsM Aber: 6. °non onuo
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Also gewiß W derlegmig der ^ ^.^ ^^j^^p^p^^^^ z
^gnug der Gute deu cher ^ ^es Ichs mit einem Fremden;
^N?in M im ^ gilt schließlich, was
^ ?^ die anderen von unserem Geiste mehrSchopenhauer lArt ^n °W ^ ^^.^^ beförderten Versuchs,empfangen als einen Nester,. mittels elln.» ^- ruiner n,
unsere Gedanken mit ihren Köpfen zu denken, in d um ,o cyo ^doch um.ner noch
eroti cke Pflanzen, folglich verkümmert und geschwächt dienten werden
exotls H un z n g i
verzichten, daß am deutschen Wesen
in,?. s^ii? Nun eine geheimnisvolle Sendung unserer Nation zudie Welt g ne en soll^ °n ^ ^ rationalisti-
chen^eZü ?« de?Und?rtrÄüng unserer VottsindividualiM nicht zum
Ziele Mre und auch einer großen Nation unwürdig ist. kann doch jetzt nicht
mehr bezweifelt werd n. scheuen wir uns doch n.ehe es auszusprechein Wir
wis n Zahl Sinn und Ziel unseres Volksdasem^ deinem brauch^ick bat- wir handeln temere prechend. admi wir aper ^vir zu inm lnauch-
Kren und scharfen Werkzeugs ^ D,e Hand des Werkmeisters raro
nicht fehlen, wenn die Zeit erfüllt ist.
er den Begriff der Flurbereinigung ganz wörtlich auf die Bedürfnisse
uuserer Außenpolitik ausdehnen will, wird zunächst an Arrondierung
und Abglättung der zerrissenen deutschen Grenzen im künftigen
Friedensschluß denken. Gewiß warten auch hier drängende Auf¬
gaben, deren Lösung unsere militärischen und wirtschaftlichen General-
stabe mit Kraft und Einsicht vorzubereiten haben. Aber ent¬
scheidend sind doch allein die ganz großen Probleme: Wie in der inneren
„Flurbereinigung" die preußische Wahlrechtsreform am schärfsten und anschau -
liebsten den uralten Streit zwischen ReichsgedaNken und Territorialstaat verkörpert,
wurzeln die Leitworte von nritteleuropäischer'Gemeinschaft im deutschen Traume
einer Synthese von Weltbürgertum und Nationalstaat.
Eilfertige Federn haben wohl versucht, die Grundlagen dieses Gedankens
bis in die Aufzeichnungen und Meinungen deutscher Denker jahrhundertelang,
zum mindesten bis in die Ideenwelt von Gottfried Wilhelm Leibniz zurück zu
verfolgen. In Wirklichkeit ist von einem „Mitteleuropa", wie wir es heute zu
bilden versuchen, weder bei ihm noch bei seinen Epigonen die Rede. Laut und
vernehmlich klingt nur die Vorstellung vom weltgebietenden „römischen Reich
deutscher Nation" nach, wo allzu empfängliche Ohren den „Unterton" des mittel¬
europäischen Gedankens zu hören meinen. Erst nachdem das alte- deutsche
Kaisertum endgültig verschwunden war, konnte auf den Trümmern seiner politisch-
wirtschaftlichen und religiös-philosophischen Machtstellung der neue Begriff ent¬
stehen, der bereits in der großen Krisis der deutschen Revolution von 1848 lebhaft
genug pulsiert. Um den „Mikrokosmos" der thüringischen Einheitsfrage fügte sich
damals im Gewirr der Publizistik, wie wir schon hörten, das feste Band der klein¬
deutschen, bundesstaatlichen.Einigung- Im konzentrischen Kreise schlingt sich darüber
der Gedanke des deutsch-österreichischen Staatenbunoss, dem sich als Trabanten
die herabgefallenen Blöcke der mittelalterlichen Kaiserburg, die Pufferstaaten im
Westen und Norden, anschließen sollen. Aber die letzte Vollendung fehlt bereits
dem kunstvollen Bau solcher Ideen. Der Gedanke an die „Vereinigten Staaten
von Europa", der ebenfalls auftaucht, wird durchbrochen von der Erkenntnis, daß die
wirtschaftliche Zukunft des mitteleuropäisch-deutschen Staatenbundes im Osten liege.
Im Kampf gegen den englischen Freihandel Hütte ja Friedrich List schon zwei
Jahrzehnte zuvor die überquellende Kraft der großdeutschen Gedanken auf den
Weg zur Türkei gewiesen, wo sich neue Einflußgebiete eröffneten. Das so modern
anmutende Schlagwort „Berlin—Bagdad" ist 1848 deutlich vorgebildet in der
Hoffnung, in Anatolien <siedlungsland für deutsche Kolonisten zu gewinnen.
Der Keim neuer fruchtbarer Gedanken wurde damit gelegt, aber der Weg
zur Tat war noch weit. Selbst der gegenseitige Anschluß von Deutschland und
Osterreich blieb, wie ein wackerer Deutsch-Böhme damals mit Recht hervorhob,
vorerst noch „ein neuer, in der Geschichte unbekannter Begriff". Der ideale
Einheüsgedcmke, der die Deutsch-Österreicher nicht aus dem emporwachsenden
Reiche ausschließen wollte, hemmte im Jahre 1848 die Ausbildung der in ferne
Zukunft weihenden Ideen. Es ist nicht anders: erst der Bruderkampf von 1866,
der scheinbar die deutsche Volksgemeinschaft auf ewig zerriß, schuf die Möglichkeit,
die Grundmauern, ans denen sich der große Neubau sicher und fest zur Höhe er¬
heben konnte, in unberührtes Gestein zu schlagen. Als Bismarck dann vier Jahre
später dem neuen Reich durch die Einverleibung Elsaß und Lothringens eine
ewige Fron auferlegte, die seine Außenpolitik von vornherein und in jeder Welt-
-> . .^»«^ mit der Nevanchelust Frankreichs belastete, wurde die
sMSon^ne MMchk??zur^ Nicht im siebzehnten Jahrhundert,
w den 1?luasÄ^^^^ Staatsphilosophen vom ewigen Frieden, send die
Keim7uWr Adel^
^"^"7' SeLt S° w^ewZÄ Ac?r?es?"Z^und England a^ ^t ^er Gründung des Deutschen
S S^h^in^F L d^ die Hermann
Oncken dem „alten und neuen Mitteleuropa widmet ).
^„ Med->leilrova" - das ist die Gemeinschaft Deutschlands und Oster -
„Das alte Müde^ . SchlachttageSreich-Ungarns ti vor Btsmarcks G ste o ^^^^von Komggratz ^laut Dem ^ ^
^ ^ d Äer chaltet hatten, neues Leben zu ge°
von Gagem und ^osef ^" s'^wi^ aber niußte der Gedanke vonwaren. ^ Dein großen P^W ^ Sicherung Deutschlands gegen den Alpvornherein mehr few. die weltpolitl M ^ i ^ ^ > ^ Staatenbildung imder Koalitionsdro in^en v°" Wind ^. ^ ^ bedrohten! Hatte doch
Herzen Europas schon in ^er Worten ein russisch-französisches
Viktor Hugo, als er noch vor ^ - lebhaftesten Widerhall an der Newa
Bündnis als den -ff^el der Na ur p^ 186(> schon warb Bismarck daher
und Moskwa gesund n Seit d°in^ Zu ^ '
^^^ ^iber Staaten für
in der Publ'S stak wie d° /en ^aatsm diplomatischen Abschlusses klassische
den großen Gedanken. ^ ^ ^rauf ankommen lassen, auf dem
SSm Ä°«rrÄ^^
«Sb^ ««^a^ °suo Gegenseitigkeit so handeln,
als befinde es _
war der VertragLediglich defensiv aber - auch ^s i,r ^ ^em deutschen Bundes-
gedacht, der am 15,^ »Denn es war Interessenpolitik
Staat und dem H^ nur als Unter-
i.n bestenSmne d^Wo ^ ^^nschaft des
Strömung wi kee dle Ennnerung an man^ ^ ^ Deutsch-Österreicher
ganzen deutschen Volk s »"t^ Sie Z A ° ^ ^ein Reich iind dein neiien Ge-
b!n ke ?'a?:n ^ der sich jeht erst fruchtbar um den
^
e»°r allem
s s ^rot? des Büu2^ "°es ilium und außenbemüht. Wh iro^ de. ^nn ist ^
^bewahren, und wehrte^^^^^^^^^^^^^ ^rhandlungen mit dem Grafen Andrassh mit
^Sinn/ Me h^t Etlichen ^ verfassungsmäßiges Bündnis zudem /'"schlag F„et^en zustande gekommen,schließen, das den? 'Va ^ ^^^^^ Bi.ndesrates und desmich nur mit Zi^ ^.^ Vertretung von M und Trans-
NeichstageS. in - M^und deo ^a,,er^ . ^ ^ ^leithamen auflösbar nsvllt Uno ! ^ französischen AngriffesAnstoß d?ra". daß Öhle re:es mAt « v I » wurde. Sein Kanzlerauf Deutschland ausdr^ ^ der das Reich mit demaber war Mit dem xuMren^ ^ ^ ^ ^^^^ ^
Habsburger Staat °r ^se gegn d ^ ^^^^^
S^^lgÄchügke^?^ Tat beide Staatskörper ein Menschenalter
hindurch aneinanoergekettet hat.
--
In dieser Voraussicht war der Leiter der deutschen Geschicke fast allzu ängstlich
darauf bedacht, das feingearbeitete Werk nicht durch die natürlichen außenpolitischen
Gegensätze des eigenen, aufstrebenden Volkes im Westen und auf der See über¬
mäßig zu beschweren und den Garig der mitteleuropäischen Politik dadurch zu
hemmen. Während in Osterreich die Nationalitätengesktzgebung des Grafen Taafe
und die Sprachenverordnungen Badenis gerade unter dem Schutze des Bündnisses
mit Deutschland die Hegemonie der Deutschen im Staate selbst zurückdrängen
konnten, drückte der Zwang dieses selben Bundes der Nationalitätenpolitik des
Reiches den Stempel der Unentschlossenheit und Halbheit auf. Die einzelnen
Phasen der preußischen Polenpolitik sind nur zu verstehen, wenn man sie in Be¬
ziehung setzt zu der auswärtigen Politik Deutschlands, die das zarte Pflänzchen
„Mitteleuropa" nicht durch den Gegensatz gegen den Zaren belasten durfte. Und nicht
anders stand es in Elsaß-Lothringen. Auch hier ist die Behandlung der reichs-
ländischen Frage und die wechselvolle Versöhnungspolitik gegenüber Frankreich
nur durch die Rücksichten erklärlich, die das Reich in Wien und Budapest nehmen
mußte. Daß diese „Rücksichten" dann nur zu bald bei den Mittelstellen hier wie
dort Selbstzweck wurden, bei den verantwortlichen unteren Verwaltungsorganen
sogar zu strafwürdiger Vernachlässigung nationaler Reichsinteressen ausartete, ist
ja bekannt. Für den Staatsmann des mitteleuropäischen Gemeinschaftlebens aber
war und blieb es in der Tat erste Pflicht, Rußland und Frankreich auseinander¬
zuhalten und ihrer Angriffslust nach Möglichkeit jede Nahrung zu entziehen.
Kaiser Karl des Fünften Wort: „Wenn Wien und Straßburg zu gleicher Zeit
bedroht seien, würde er zuerst zum Rhein eilen", konnte im' neuen Habsburger
Doppelreiche erst nach harter Prüfung wieder Geltung gewinnen.
„ „Die ersten Bündnisverhaudlungen, die zeitlich unmittelbar an den Abschluß
mit Österreich-Ungarn anknüpfen, sind aus demselben Geiste geboren wie das
Bündnis von 1879 und daher geeignet, seinen Sinn noch deutlicher herauszu¬
stellen." Dank der persönlichen Fürsprache Fürst.Karls von Rumänien, den als
Ministerpräsident der ältere Bratianu kräftig und gewandt unterstützte, wurde der
Wall Mitteleuropas gegen Rußland im Herbst 1883 bis zum Schwarzen Meer
verlängert. Im Jahre zuvor holte Italien nach der Besetzung von Tunis durch
Frankreich offen Halt und Schutz bei den beiden Mittelmächten gesucht. Nur so
glaubte es der völligen Isolierung am Mittelmeer entrinnen zu können, die seine
weltpolitische Großmannssucht schärfer und empfindlicher bedrohte als der nationale
Gegensatz gegen Osterreich, der trotz des neuen Bündnisses lebendig blieb. Im
Sinne der'mitteleuropäischen Gesamtpolitik war damit der schwächste Partner, der
Habsburgische Nationalitätenstaat, durch den Anschluß von Rumänien und Italien
wesentlich entlastet. In Siebenbürgen, am Jsonzo und in Welschtirol wurde die
Gefahr der Jrredenta zunächst beschworen. Der Neubau des Deutschen Reiches
dagegen ertrug willig die drückende Last der polnischen und elsaß-lothringischen
Hypothek, so lange nur das Bündnis mit Österreich den europäischen Frieden ge¬
währleistete. Gestützt aus die guten Beziehungen, die England zum Dreibund als
den Gegner seiner weltpolitischen Nachbarn, Nußland und Frankreich, pflog, konnte
Bismarck sogar an die Gewinnung außereuropäischer Stützpunkte für Deutsch¬
lands Weltgeltung denken.
In all diesen Wandlungen aber blieb sich der deutsche Reichskanzler stets
der Gefahr bewußt, die selbst der neuen mitteleuropäischen Gemeinschaft von einem
Zweifrontenkriege drohte. Die Pflege überlieferter Freundschaft mit Rußland sah
er daher nach wie vor als Pflicht der Realpolitik an, der er durch den RückVer¬
sicherungsvertrag von 1887 meisterhaft entsprach. Mit ihm schob er nicht nur den
Zusammenschluß des Zarenreiches mit Frankreich gerade über die Jahre erhöhter
Revanchelust und der Rüstungen Boulangers hinaus. Auch die Annäherung Eng¬
lands an den Dreibund, die uns den unschätzbaren Gewinn Helgolands brachte,
wurde durch den weltpolitischen Zwang, den Bismarck durch das Übereinkommen
mit Rußland mittelbar aus Großbritannien ausübte, aufs trefflichste vorbereitet.
Nach allen Seiten stieß die deutsche Außenpolitik kraftvoll aus der Panzerfeste
Mitteleuropa vor und hielt jede engere Einschließung fern.
"
Inmitten dieses „diplomatischen Bewegungskrieges hat der Gründer des
Reiches die Leitung niedergelegt. Den jüngeren Kräften, die ihm folgten, ist es
nur gelungen die Einkreisung, die sich dem rückschauenden Auge zum mindesten
seit 1886 deutlich abzeichnet, ein gutes weiteres Jahrzehnt aufzuhalten. Die Auto¬
rität und das weltgebietende Ansehen, die dem Staatsmanne, der jetzt aus
Friedrichsruh seine Warnungsrufe und Mahnungen ertönen ließ, zu Gebote ge¬
standen hatten, mußte der neue Kurs durch stärkste Ausprägung der Richtlinien
der bisherigen Reichspolitik zu ersetzen suchen. Aus diesem Grunde war es, wie
^ermann Oncken hervorhebt, durchaus richtig, ihre problematischen Bestandteile
zunächst wieder auszuschalten und den Rückverstcherungsvertrag acht zu erneuern.
Die Annäherung an England, die die Ära Cuprivl kennzeichnet, gab dasür die
Möglichkeit, Italien fester zu> binden und den Dreibund in sich W stützen Vor
allem fiel die Notwendigkeit, Rußland in der Bestimmung der Balkanschicksale
allzu freie Hand zu lassen. Als der Balle Julius Eckardt 1892 auf die
Wichtigkeit Bulgariens als Schutzwall Konstantinopels gegen Rußland hinwies,
begann auch die deutsche Reichspolitik, nach einen: kaiserlichen Wort von 1909.
die Straße nach Kleinasien als den „letzten und einzigen Landweg Deutschlands
in die Well" zu werten. „Die Frage, ob der slawisch, russische Eisenring von
einer oder von zwei Seiten (von Osten und von Süden) um den germanischen
Leib gelegt, und ob der direkte Weg in den Orient für das nnttlere Europa
gesperrt werden solle, diese Frage wurde eine eminent deutsche Frage."
(I. v. Eckardt 1892.)
Mit solchen Vorzeichen begann die Werbung für das neue Mitteleuropa, in
der wir heute noch stehen. Die Propheten und Vorkämpfer des alten Mittel-
europa hatten sich mit der Forderung engsten gegenseitigen Anschlusses Deutsch,
lcinds und Österreich-Ungarns begnügen können. Im Wechselst
Machtpolitik standen beide vereint als Erben deo römischen Reiches deutscher
Nation wohl gerüstet bereit, den Kampf gegen die sämtlichen kontmmta en Gegner
aufzunehmen. Das junge Geschlecht, das im Angesicht neuer, weltumspannender
Konstellationen aufwuchs, in dessen Leben die Wirtschaftvfragen alle nationalen
und kulturellen Interessen zu überwuchern drohten, durfte und mußte seine Ziele
weiter stecken. Als sich König Eduard des Siebenten Einkreisungspolitik die
Drohungen des russisch-französischen Zweibundes dienstbar zu machen wußte, er-
strebte das Reich in einer konsequenten Orientpolitik Halt und Starke un nahen
Osten Weltpolitische Wanderer und Kaufleute, die Pfadfinder der modernen Real-
Politik wiesen immer deutlicher den Weg nach Konstantinopel und darüber hinaus
nach Bagdad. Aber mit Recht folgten ihnen me leitenden Staatsmänner und die
Gunst des deutschen Volkes nur vorsichtig und zögernd Beide hielten auch hier
den Grundgedanken der Bismarckschen Politik aufrecht, steh acht einem einzigen
Staate ausschließlich zu verpflichten. Bis in die letzten Sommertage des Jahres
1914 wurden alle Möglichkeiten erwogen, den Frieden zu wahren und in ihm
die bisherige Weltwirtschafts, und Handelspolitik Deutschlands weiter zu führen.
Ob diese Versuche aus militärischen Rücksichten nicht etwa doch bereits früher ab-
gebrochen werden mußten, ist eine Frage, die nur die Politik des Deutschen
Reiches allein berührt. Im Sinne der mitteleuropa^chen Gemeinschaft, die sichin all diesen weltpolitischen Problemen der letzten Jahre starker und stärker her-
ausarbeitet, war es jedenfalls nicht, von Deutschland aus den/unvermeidlich wer-
denden Weltkrieg zu entfesseln. Nur so übertvanden wir die Balkankrisen, und
nur so wurde Bulgarien an die schimmernde Welthandels- und Heerstraße ange-
schlossen die heute in der Tat nicht nur von Berlin sondern von Riga und Reval
bis Damaskus Europa und Asien durchzieht. Nur so konnte das stolze Gebäude der
Bismarckschen Bündnisgruppe, das alte Mitteleuropa, den Wegfall ver „Hilfskonstruk.
livrer". Italien und Rumänien, ohne Schädigung seiner Standfestigkeit überwinden.
Dem neuen Mitteleuropa aber, das in unerhört heftigen Kriegsgewittern
zur Wirklichkeit wurde, sind bei seinem Aufbau die stärksten Klammern eingefügt
worden, durch die sich Staaten auf die Dauer allein binden lassen: die tiefsten
und höchsten persönlichsten Lebensinteressen seiner Völker. „Als schöpferischer
Zerstörer Hot der Krieg einen neuen Vierbund geschaffen, der nicht durch die zer-
reißbaren Fäden diplomatischer Verabredung, sondern, aus gemeinsamer Tat
geboren, durch die tiefsten inneren Notwendigkeiten aneinander geknüpft ist." Aber
es ist Kriegsarbeit, unter der Last äußeren Druckes zusammengefügt, was vor uns
liegt; und begreiflich regt sich der Wunsch, das gemeinsame Erlebnis auch im
Frieden auszuwerten, die Kriegsverträge den Bedürfnissen des freien wirtschaftlichen
und kulturellen Wettbewerbes anzupassen. Von Friedrich Naumanns „Mitteleuropa"
zu Onckens letzter Flugschrift schlingt sich daher eine schier unübersehbare Literatur,
die das Fundament des Bundes tief in die Seelen der Völker zu senken sucht.
Als wir Naumanns Buch im Hochsommer 1916 in den Trümmern von
Hooge lasen, erweckte es fast ebensoviel Anregung wie Widerspruch. Bewundernd
folgten wir den feinen, scharf geschliffenen Wendungen, die uns das mitteleuro¬
päische Wirtschaftsvolk vor die Seele zu zaubern, 0M militärischen Verteidigungs¬
bund zur inneren Gemeinschaft zu erheben suchten. Aber zugleich wurde auch
schärfster Widerspruch wach. In den kargen Kampfpausen, die uns gegönnt
waren, lastete in unerträglicher Schwere der ganze Fluch des Stellungs¬
krieges auf uns, die wir damals schon seit dreiviertel Jahren im flandrischen
Boden zur Untätigkeit verdammt waren. Voll grimmen Neith vernahmen
wir die Siegesnachrichten vom Osten, wo die Kameraden in anregendem
Bewegungskrieg von Festung zu Festung flogen. Selbst der einfachste Soldat
fühlte in alle» Fasern, daß nur äußerste Not den deutschen Offensivgeist, der alle
beseelte, in Fesseln legen dürfte. Und Naumann pries uns gleichzeitig den
„Schützengraben als die Grundform der Vaterlandsverteidigung", während wir,
die wir seit Monaten die neuen Waffen des Grabenkrieges handhaben mußten,
mit Sehnsucht des Tages harrten, der uns aus ihm erlöse! Heute ist über diese
einseitige Auffassung glücklicherweise kaum noch ein Wort zu verlieren. Schon in
den Tagen, da Naumann sein Buch abschloß, legte der Durchbruch von Gorlice
die erste Bresche nicht nur in den eisernen Gürtel, den die Entente dem alt-
neuen Mitteleuropa um die sich reckenden Glieder gelegt hatte. Er schob auch
die „wirtschaftlichen Schützengräben" weit genug vor, um Raum und Atem zu
gewinnen zu neuen Angriffen, die das Ziel der mililäriscken und der wirtschaft¬
lichen Kriegführung lebensvoller Völker lind Staaten bleiben müssen. Jahr für
Jahr hat'das deutsche Volksheer inzwischen den Beweis geliefert, daß es
als Führer des neuen Mitteleuropa durchaus nicht geneigt ist, sich mit dem
Raum innerhalb der Schützengräben zu begnügen, die ihm die Gegner auf¬
gezwungen haben.
Mitteleuropa muß, darin stimmen wir Naumann freudig zu, auch in
künftigen Zeiten der Haltepunkt der ihm angeschlossenen Völker bleiben. Und
freudig wird es gerade Deutschland begrüßen, wenn sich das Bündnis mit dein
Habsburger Staat in dem Sinne umgestalten läßt, wie es schon Bismarck 1879
wünschte: zu einem öffentlichen, verfassungsmäßigen Vertrage, der über mili¬
tärische Hilfeleistung hinauswerft zu immer engeren: Jneinanoereinlcben in Wirt¬
schaft, Recht und Kultur, Darüber aber dürfen wir die Mahnung nicht ver¬
gessen, die Onckens geschichtliche Darstellung von Bismarcks mitteleuropäischer
Politik eindringlich genug uns nahe legt: „Die staatlichen und nationalen In¬
dividualitäten sind in ihrem eigenkräftigen Sonderleben viel zu wertvoll, als daß
sie zugunsten künstlich abgeleiteter Begriffe verdrängt werden dürften. Seine
Individualität bereichert nur, wer sie behauptet, nicht, wer sie durch Anpassung
und Unterordnung auszudehnen vermeint."
Stärker als unter Bismarcks Regiment, das, den Übergang von der
nationalen, kontinentalen Politik der Großmächte seiner Zeit zum imperialistischen
,r c «»ii^n Weltmächte bezeichnet, muß also für uns dieAusdehnungsd^ bleiben auch für unsere Weltpolitik,ntteleuropmsche Ge mein ^ unerträglicher Zwang wirken. DasAber ste dar berede so « Gründer des Reiches so meisterhaft„System poU^sche Aufl» ^ik die Oberhand gewinnen, sobald die Be°
handhabte, wird auch in uMe er Hann in .^^^^^^ ^.^^ aufgenommen
S^ZT^ ^ZZk sind ^ ^rzeichen Für
ihr Ziel hat Graf H?/"^ 7da?w"7die S?aat^es^ inunserer Verbündeten dea gestützt. Frieden schließen, zudenen wir letzt auf ^^ ^ ^^^^ . ^unseren Freunden in der Zu unse 'nawe- > ^ ^ politischen Druck,aber sicher.: die Heere un ^ bindet als die wirtschaftliche undder we Freiheit der EnZchUeßung wen M ^ ^.
niUttarische Not. do uns der ?T ^ ^^Jedes Gelingen schon
gilt es zu nutzen. Wie w.r mit frohes ^« . >
Me. noch Mitten in ^ ^ ^le territoriale ^Neu-
nommen haben so g ^ des Reiches und an eine „Flur-
ordnung und Zusammenleg ^ Wirtschaftliche Notjahrebermiigung" auch »"f d°in G b ete ^ Interessen. Hoffnungendrangen nnr zu bald rei n^ °nulli ^ v ^ ^schjchmche Wahrheit giltund Wunsche in den Hin ^ im Reich und in den Ein?el-
usbesondere und vor allem für da^ von 1848 und der glühenden
Staaten. Selbst den berauschenw Abspannm.g, die' in weitenans mag der K?u ^rede W ^ alten politischen Trägheit des
Weisen des gebildeten Mittel ^ ^'/hundert Jahren brachen unmittelbardeutschen Philisters führte. Und gerade v r ^^laden Karlsbader Entschlüssen -
nach dem Wartburgfest Denker des aufstrebendend!° Traume selbst der tägliche Brot zusammen, dieL.deralismus vor der draiigenden Sorge Mi v » ^ knöchernemauch damals nach zwanzig ^riegsmhren ' ^ . »
Finger zu harter Arbeit in Verwaltung und ^>irMMi r^r,.
Emrrenuiig, uem l^^^^^uligsoouwerl gegen roe nem ^ s->,->>->n dürfenAussalltore zur Fortsetzung unserer WeltpolM -
einseitigenNur so wird unsere weltpolitische ^«ve ^^^^ Verfassung selbst dasVeremodung" werden. F>° wemg w,r ^ durch einen verflachendenZnsanmienarveiten von Reich und Terrltottan a ^ ^ AußenpolitikEinheitsstaat ersetzen mochten, so wenig wu ^^feigen Weltbürgertumsein restloses Aufsaugen unseres wirtschastWM Nationalstaat. Aber diedurch den einseitig gebundenen und verpsn^ vorsichtige und schonendReibungen in Ost und West gilt es zu "un?^. y^^cheii Gemengelage liegen-durchgeführte „Verkoppelung" der in der mUtcUM^ stetes, der zurden Teilstücke und Völker wird die Kräfte d ^ ^ ^Kemeinschast gehört, unendlich starken: zum -wvu^
eines langfristigen Friedens.
icht ganz zufällig scheint es zu sein, daß von den höheren Lehr¬
anstalten gerade die Frauenschule bereits während des Krieges aus
eine wesentlich veränderte und erweiterte Grundlage gestellt worden
ist. Die entscheidenden Gründe dafür sind einmal in der nahezu
allgemein unbefriedigender Form der bisherigen Frcmenschule zu
suchen, anderenteils hat die Not der Zeit offenbar keine längere
Unklarheit über die bezüglichen Anforderungen der Zukunft an diese Schulen
geduldet.
Mit erfreulicher Ausführlichkeit gibt denn auch der unterm 31. Dezember
1917 veröffentlichte preußische Ministerialerlaß die in Fachkreisen seit Jahren
lebhaft erörterten Mängel der Frauenschule von 1908 zu. Deutlich und unum¬
wunden werden die wünschenswerten Dinge beim rechten Namen genannt. Dein
Pflichtenkreise der gebildeten Frau entsprechen als für alle Mädchen zu erstrebende
folgende drei Leitziele:
a) Einsicht in die Bedürfnisse, und Anforderungen des Haushaltes, sowie
Kenntnis der zu ihrer Befriedigung dienenden Mittel; die Fähigkeit, die zur Ver¬
fügung stehenden Stoffe vollständig und mit dein größten Vorteil für die Wirtschaft
auszunutzen;
b) Einsicht in die Aufgaben, die die Sorge für das körperliche und geistige
Wohl des Kindes ein die Mutter und Erzieherin, die Sorge für alle Familien¬
angehörigen an die Hausfrau stellt ; dazu
c) eine allgemeine Weiterbildung, die sich einerseits die Erstarkung der sitt¬
lichen Persönlichkeit, andererseits ein Verständnis für die Stellung des einzelnen
zur Gesamtheit und seine Eingliederung in das Gemeinschaftsleben des Volkes
zum Ziel setzt.
Ganz ähnlichen Sinnes, wenn auch weniger scharf formuliert, waren aller¬
dings schon die leitenden Grundsätze der einschlügigen Bestimmungen von 1908.
Wer aber deren Ausführung in der Praxis trotz allem zu optimistisch beurteilte,
dem dürfte die nunmehrige amtliche Feststellung doch zu denken geben. Die
damals aufgestellten Ziele sind „nach den bisherigen Erfahrungen nicht immer
erreicht, neben dem einer allgemeinen wissenschaftlichen Weiterbildung auch nicht
immer fest genug im Auge behalten worden". Mit Nachdruck wird ferner darauf
hingewiesen, daß „vor allem eine, straffere Gestaltung des gesamten Unterrichts
und eine größere. Betonung der praktischen Fächer" für unbedingt erforderlich an¬
zusehen sei.
Damit wird in der Tat viel behauptet, mehr noch verlangt. Allein die
Behauptung stützt sich auf umfangreiche Erfahrung, sie steht namentlich in voller
Übereinstimmung mit vielfach geäußerten Wünschen aus Frauenkreisen, die Bildung
der weiblichen Jugend im Hinblick auf die Pflichten der Frau, der Mutter, der
Staatsbürgerin „allgemeiner und gründlicher" zu gestalten. Tatsächlich bestand
ja der größte Mangel der bisherigen Frauenschule in einer gewissen Weltfremd-
heit, die jedenfalls in der Mehrzahl der Einzelfälle nicht die mutige Entschieden¬
heit fand, mit der stark litermisch-ästhetisch gefärbten Konvention auf ihrem Gebiet
zu brechen. Weiterhin aber stand überhaupt das Theoretische zu sehr im Vorder¬
grunde des Unterrichts der Frauenschule.
Es ist in seiner Weise ein ziemlich hartes Zugeständnis, das Weltfremdheit
und Theorie dem schlechthin unsemimentalen Geiste der Gegenwart wie auch den
unabweisbaren Erfordernissen der absehbaren dentschen Zukunft machen müssen.
Um so freudigere Anerkennung verdienen die obersten Gesichtspunkte der neuen
Frauenschule, die kaum irgendwie den sattsam bekannten Geist des Zwar—aber
atmen und vielmehr aus der Philosophie des Sowohl—als auch geboren sind.
Dementsprechend treten an die Stelle des kaleidoskopischen Vielerlei und der all-
zu großen Wahlfreiheit drei ziemlich fest umrissene Gruppen von Lehrfächern mit
zusammen etwa 28 Wochenstunden, deren Besuch Verbindlich ist. Bestimmungs¬
gemäß soll ferner jede Frauenschule künftig die praktische Betätigung auf dem
Gebiet der Haushaltung, der häuslichen Gesundheitspflege und der Erziehungs-
tätigkcit in den Mittelpunkt der Gesamtarbeit stellen. Im Rahmen der genannten
Gesamtzahl von 28 Wochenstunden würden etwa 6 Stunden der Beschäftigung
mit Einzelaebieten der Religion, der deutschen Literatur, sowie besonders der
Bürgerkunde und Volkswirtschaft (im Anschluß an das Fach der Geschichte) dienen.
Ganz in den Umkreis der Frauenschule werden endlich — den jeweiligen persön¬
lichen und örtlichen Verhältnissen entsprechend - einige weitere Wochenstunden
verwiesen, so für Turnen und Bewegungsspiele zu freier Betätigung und zur
Weiterbildung in einem oder dem anderen wissenschaftlichen Fache, zu Befiehl!,
gnügen unter Führung u. a. — jedoch unter der Voraussetzung, „oaß keine Über-
bürdung zu befürchten wäre". , ., .... 5,,.,.. » ....
Die materiellen Anforderungen ebenso wie die geistig-sittlichen Kräfte, die
die Neugestaltung der preußischen Frauenschule in der großen Mehrzahl aller
Fälle wir'f '
so wenige
einer — s
mit einer gewissen Selbstverständlichkeit'..
ist. deren Allgemeinbildung über das 5M der Volksschule hinausgeht. Ausdrück¬
lich wird denn auch damit gerechnet, daß selbst kleinere Städte allgemein an die
Gründung einer Frauenschule herantreten. - Unter diesen Umstanden müssen die
bisherigen übergroßen Verschiedenheiten im ganzen Aufbau und der Tangkert der
Frauenschule einer maßvollen und wohldurchdachten Beschränkung auf gewisse,
nicht zu umgehende feste Formen weichen. Als Regel wird die zweijährige Kursus¬
dauer aufgestellt- doch soll bereits der einjährige Besuch der Frauenschule eme
in sich abgeschlossene Ausbildung verbürgen. Der Plan der zweMmgen Frauen¬
schule siebt eine doppelte Möglichkeit vor: entweder eine gründlichere und viel¬
seitigere Ausbildung, oder aber eine Ergänzung und Erweiterung der im ersten
Jahre erworbenen Bildung im Sinne der Wohlfahrtspflege. Im letzteren Falle
würde die Hauswirtschaft in die Volkswirtschaft einmünden, die Säuglingspflege
in die Säuglingsfürsorqe, die Kiemkinderpflege und -erziehung in die Kinder-
fürsorge. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die letztgencmmen Gesichts¬
punkte ein ernstes Streben nach Entgegenkommen bekunden, sowohl gegenüber
den naturgemäß verschiedenartig'en Bedürfnissen der künftigen Schülerinnen wie
auch gegenüber der Leistungsfähigkeit und den sozialen Verhältnissen der Ge¬
meinden. sinngemäß wird im übrigen denjenigen Anstalten, welche die praktisch
bedeutsamsten Fächer der Haushaltunqskunde. Gesundheits- und Erziehungslehre
nicht zu ihrem Rechte kommen lassen die Bezeichnung als „Frauenschulen" nicht
mehr gestattet! solche führen künftig 'vielmehr den Namen ..Fortbildungsklassen".
Als Normalmaß der wissenschaftlichen Vorbildung gilt das Schlußzeugnis
des Lyceums; doch sind anerkennenswerterweise, unter Voraussetzung der Zu¬
stimmung des Anstaltsleiters, auch solche Schülerinnen teils als „Vollschülerinuen",
teils als ..Gastschülerinnen" zugelassen die eine anerkannte zehnjährige Mädchen¬
schule bezw. eine solche neunjährige oder eine Mittelschule bis zur ersten Klasse
mit befriedigenden Erfolg durchgemacht haben. - Gleichfalls als „Gastschülerwnen"
mit dem Recht, „nach Wunsch nur an einem der Fächer. Haushaltungskunde,
Gesundheitslehre und Erziehungslehre teilzunehmen, werden junge Mädchen zu¬
gelassen, die eine über das Lyzeum hinausgehende Bildung besitzen, insbesondere
Studentinnen 'und Lehrerinnen, die sich neben ihren sonstigen Arbeiten praktisch
ausbilden wollen" — letzteres eine Bestimmung, die meines Erachtens sicher viel
Beifall in den betreffenden Kreisen finden wird.¬
Hatte man der bisherigen Frauenschule vielfach durch Lehrgänge zur Aus
bildung von Fachlehrerinnen zu einer Daseinsmöglichkeit verhelfen zu können
geglaubt, so wird nunmehr eine reinliche Scheidung beider voneinander vorge-
nommer. Zwar dürfen nach wie vor derartige Ausbildungsgelegenheiten nebenher
»erkaufen, sie bilden aber künftig keinen Teil der eigentlichen Frauenschule; zudem
dürfen sie nur da angegliedert werden, wo die die neue Form der Frauenschule
kennzeichnenden Bedingungen restlos erfüllt sind. — An Berechtigungen verleiht
das Schlußzeugnis einer Frauenschule diejenige zum Eintritt in die Lehrgänge
zur Ausbildung von technischen Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen,
außerdem Zulassung zu der Mittelstufe eines staatlich anerkannten Kindergärt¬
nerinnen- und Hortncrinnenseminars mit einundeinhalbjährigem Lehrgang und zur
Ausbildung als Jugendleiterin.
Es wurde schon bemerkt, daß die neuen Bestimmungen in vielfacher Hinsicht
den persönlichen Wünschen aller Beteiligten wie auch den örtlichen Besonderheiten
weiten Spielraum lassen. Nun wird es sich zeigen, ob und inwieweit die mit
der Ausführung Betrauten fähig und geneigt sind, im Geiste namentlich der (im
Erlaß recht ausführlich dargestellten) obersten Gesichtspunkte ihres Amtes zu
walten. Wie der Schlußabschnitt erkennen läßt, will man für ihre jeweilige Auf¬
gabe vollauf befähigte Persönlichkeiten — und nur solche — zur Unterrichts-
erteilnng heranziehen; u. a. wird die Mitwirkung seitens der Frauen gerade auch
an leitenden Stellen als unerläßlich bezeichnet.
Alles in allem genommen, darf man von dem neuen Frauenschul-Erlaß als
solchem mit gutem Recht als einer „Tat" reden. Sollte er wider alles Erwarten
später einmal nicht das allgemein befriedigende Ergebnis zeitigen, das man von
ihm erhofft, so würde gegebenenfalls die Schuld dessen zum größten Teil am
mangelnden guten Willen oder an der Verständnislosigkeit der Beteiligten liegen.
Im vesonderen fragt es sich, ob bei dem weiten Spielraum hinsichtlich der Lehr¬
aufgaben die bisher meist an ganz bestimmte „Perser" Gewöhnten durchweg den
Mut zu eigenen Entscheidungen und zu eigenen — Fehlern haben werden. Denn
aus Fehlern lernt man doch am gründlichsten und nachhaltigsten.
Was weiterhin den Zusammenhang mit dem gesamten übrigen Bildungs¬
gang der weiblichen Jugend betrifft, sind wohl Zweifel daran erlaubt, ob die
heutzutage teilweise bereits stark überspannten Anforderungen an die Berufsvor¬
bereitung eine weitere ein- bis zweijährige Ausdehnung der „Schulzeit" für den
weitaus überwiegenden Teil aller überhaupt in Betracht Kommenden zulassen.
Sicher werden einsichtige Eltern sich sehr bald daran gewöhnen, im Sinne des
Erlasses „den Besuch der Frauenschule als notwendig für eine abgeschlossene
Bildung ihrer Töchter anzusehen". Wie die Verhältnisse aber voraussichtlich noch
auf lange Zeit hinaus liegen, ist die Frage nicht ganz abzuweisen, ob nicht in
zahllosen Einzelfällen das Gebot der praktischen Vernunft hinter den nicht minder
gebieterischen materiellen Möglichkeiten wird zurückstehen müssen. Es hängt daher
außerordentlich viel gerade davon ab, ob nach denk Kriegs vor allem die gesell¬
schaftlich führenden .Kreise dauernd das erforderliche persönliche und nationale
Selbstgefühl aufbringen werden, das eS ihnen verbietet, eine Pensionopolis im
Stile von Lausanne, Genf, Brighton usw. als eine Art Selbstverständlichkeit für
ihre Töchter zu betrachten. — Immerhin tut sich hier mit der Lösung eines
sozialen und schulpolitischen Problems eine Reihe weiterer Fragen auf.
Hier sei zum Schluß nnr eine einzige in aller Kürze noch angedeutet:
Welche Rückwirkung auf das Ganze der Lyzealoildmig ist von der Neuordnung
der Frauenschule zu erwarten? Schon vor dem Kriege waren in den Kreisen
des Lyzeums starke Zweifel an der Richtigkeit der theoretischen Voraussetzungen
wie auch ein der Zweckmäßigkeit zahlreicher Einzelbestimmungen laut geworden;
neuerdings scheut man sich nicht, von der seinerzeit fast überschwenglich gepriesenen
sogenannten „Reform von 1!108" als von einem „Irrtum" schlechthin zu reden.
Was auch die Folgezeit vielleicht an Mängeln oder Schönheitsfehlern der neuen
Frauenschule ergeben wird, soviel scheint sicher: ihr Geist ist der der realen Lebens-
notwendigkeit, wie ihn die eherne Not der Zeit, unserer Zeit, geboren. Selbst
wenn man nun das „Alter" des demnächst zehnjährigen Lyzeums als mildernden
Umstand gelten läßt, wird man doch ein Gleiches oder Ähnliches von dieser
normal-Vorschule der neuen Frauenschule im Ernste nicht behaupten können.
Immerhin besteht angesichts unseres Erlasses gegründete Hoffnung, daß die
gegenwärtig im Werden begriffene neue Frauenschule rückwirkende Kraft auf die
Gestaltung des Lyzeums der Zukunft haben wird.
^^
le hätten Hamstern sollen, geehrter Herr, grünes Papier Hains ern
Kenn ^ Gesicht verloren haben, ehr grünes
GeM ist hr schL Farbenwechsel merkt selbst
der aufmerk" nur in lichten Momenten einen F^Wechsel des Umschlages merken beinahe alle und haben daS Gefühl
?e?K n ^ Puppe ein Bein Floren hat. oder ^nneisters Anton, wenn er die Welt nicht mehr versteht Also An S «.
schon von der grünen Papiernot ergriffen ob. versichern Se^daß es nichts auf sich hat Es wird sowieso alles anders in die er ^Zeit. Herr Lehmann hat keinen Bauch mehr. Herr Meyer em V«in°g-n Herr
Schulze ist tapfer geworden und hat einen Orden. Herr Mutter ist u Hause g
blieben und Hot eine Million. Die „norddeutsche Mgememe K ^zur.g geschminkt seit sie sich Serin Hovvinq zu eigen gab und versucht. am Arme
dieses me A'iach Verl-gerhöhen klimmenden Mannes
den Tanzschritt des Wel dia Z materielle Grundlage zu d.e.em in eressa.Um
Beginnen ist tragkräftiq. dank dem Vertrage, der Herrn
schränkten Gebieter sämtlicher Reklameflächen in sämtlichen Bah ho?in
macht, wobei sich der Fiskus ant steht. Herr Hobbing noch besser und ^ruber
nur mit halben Dampf ge es npft werden kann, da der Fiskus em besseres Geschäft
".acht als früher, und das K d «hin teuren Zeiten ausschlaggebend sem muß^ Wenn
MI? >>i" ^ ^nur die Eiftnbawellm^unter das Zeichen und^ gerät und soviel Matz ge-
halten wird, daß man s^ nicht mit dem Tete! eines lieue,i
Abführmittels verwechs le ^Le^^^^ ..norddeutsche" dann in
schönen Eifer auf alle Wagen lo so brauchen wir sie ja nicht zu lesen, sondern
tonnen das papierreiche Organ beispielsweise auch zum Einwickeln verwenden
Die Regierung hat im Kriege mit den Engländern und den Partner viel gelernt
und will ihr Blatt vergrößern und verschönern, da jede andere Macht im
Staate für ihre Publizistik sorot die Schwerindustrie sogar sehr. ,ogar sehr. Wenn
dabei das geschaffen wird. waS der Politiker bisher vermißte em Organ, aus
dem sich jeder ein klares Bild machen kann, wohin d,e politischen Wege der Re¬
gierung führen sollen, so ist das ein Fortschritt, der der vernünftigen Betrachtungder Politik nur nützen kann Natürlich hat jede Regierung auch ihre Nebenkanale.durch die sie ihre Auffassung in den aroßen Strom der öffentlichen Meinung leitet.
Aber das ist kein Ersatz für ein cones. modern geformtes Sprachrohr rat der
nötigen Schallkraft. Wenn dann noch kluge Leute hineinsprechen und gescheites
hineingesprochen wird, tann's jedem recht sein, der auch, wo die Negierung rin
Spiele ist. den Grundsatz des gleichen Rechtes für alle nicht vergißt. Voraussetzungist immer, daß die Freiheit der übrigen Presse weder innerhalb noch auherha bder Bahnhöfe beeinträchtigt wird Die Freiheit brütet bekanntlich Kolosse ausund da der Deutsche im Kriege ein kolossaler Zeitungsleser gewordmist, wrrdmese Zeit den Beginn einer kolossalen Aufwärtsentwicklung der deutschen Pressebuben. Nur kann man auf diesem Gebiet nicht, wie bei uns jetzt gar zu lebhaftversucht wird, dnrch Organisation das Wirken der Persönlichkeit ersetzen. Wennauch letzt so und so viele laufende fleißiger Staatsdiener jeder Art der Presse zu
helfen sich bemühen und Notizen und Material, Auszüge und Meldungen in einem
Umfang herbeitragen, daß die Presse, der nicht nur das grüne Papier fehlt, wie
Ihnen, sondern auch das weiße, nicht den zwanzigsten Teil davon verarbeiten
kann —, die beste Zeitung wird immer nur von zwei Leuten gemacht, einem be¬
gabten Verleger und einem begabten Schreiber, die, soweit sie den Staat nicht
umzuschmeißen drohen, tun und lassen dürfen sollen, was ihnen richtig dünkt.
Der Krieg hat ein bißchen viel Staat zur Entfaltung gebracht. Wir wollen, so¬
lange noch der Feind das Rad rückwärts zu drehen versucht, den starken Arm des
Staates soviel stützen, beschützen, halten, vorwärtsschieben lassen, als irgend möglich.
Aber die drei Jahre Staatsbetrieb und Zwangswirtschaft auf allen möglichen
Gebieten haben in zuviel Köpfen ein theoretisches Zukunftsbild erzeugt, das nach
dem Willen sehr einflußreicher Leute bis in alle Zukunft Wirklichkeit bleiben und
werden soll. Im Kopf des Soldaten malt sich unser künftiges irdisches Leben als
eine Kombination von Kadettenanstalt, Kaserne, Bezirkskommando und Etappe.
Im prophetischen Geiste des Oberregierungsrats als ein riesiges Amt mit Schreib¬
stuben, vielen, vielen Akten, regelmäßigen Kvnimissionssitzmi'gen und Konferenzen
zur Regelung der menschlichen Schicksale und einem großen Amtsschimmel,, der
beschriebenes Papier frißt und Paragraphen von sich gibt. Ein gewaltiges
„Schema l?" leuchtet voran. Süßen Lohn bilden wohlabgestuft^ Titel und die
Orden, denen niemand mehr entgehen darf. Dem Kapitän der Industrie stellt
sich die Zukunft der Deutschen in der Organisationsform einer gewaltigen A.°G.
dar, mit einigen unermeßlich klugen, unermeßlich hoch besoldeten Direktoren an
der Spitze und unter ihnen einem Bienenstaat von fleißigen, wunschlosen, wohl¬
gedrillten Angestellten, die sämtlich einen Knopf auf dem Schädel haben, auf den
der Direktor drückt. Diesen Angestellten wird durch ein patentiertes Verfahren
auf psycho-chemischem Wege die Persönlichkeit mit ihren Unregelmäßigkeiten und
technisch-kaufmännischen Ünzuverlässigkeiten gänzlich entzogen. Alle diese Zu¬
kunftsorganisatoren stimmen darin überein, daß, so tüchtig das deutsche Volk ist,
ihm noch zuviel Unberechenbares, organisatorisch Unzweckmäßiges, Individuelles
anhaftet, daS der Disziplin und Ordnung widerstrebt und den Nutzeffekt der
Arbeit herabsetzt. Da will einer Romantiker sein und von der neuen Zeit nichts
halten, der andere ein Geschäft betreiben, weil es sein Vater schon betrieben hat,
das von der A.-G. mit fünfzig Prozent mehr Nntzew nebenher erledigt werden
könnte, der Vierte möchte gemäß einer sich der Kontrolle entziehenden Welt¬
anschauung leben, der Fünfte, der Fünfte — so etwas gibt's I — hat keinen
Respekt vor Titeln und findet — man traut sich's nicht zu sagen I — daß uns
die Persönlichkeiten und die unbetitelte Pflichterfüllung herausgerissen haben und
wieder groß machen werden und möchte die Schlußfolgerungen daraus ziehen.
Sollten Sie, geehrter Herr, der Meinung sein, daß die Triumphe der Ver¬
staatlichung zwar groß, aber nicht entscheidend gewesen sind, daß man das Beste
nicht organisieren kann, daß man das Beste sogar weg organisieren kann, nämlich
die vielseitige, schöpferische Kraft des Willens, der aus einer selbständigen Persön¬
lichkeit fließt, stehe sie im großen oder kleinen Kreise, daß viele selbständige
Existenzen für Kraft und Gesamtleistung eines Volkes wichtiger sind, als Riesen¬
organisationen mit ein paar Leitern und tausend gedrückter menschlicher Knöpfe,
daß Deutschlands zahllose kleine Kulturzentren seine Vielseitigkeit erhalten und
damit seine Kraftbasis verbreitert haben, kurz daß der Reichtum an Selbständig¬
keiten, freien Persönlichkeiten, Verantwortlichkeiten, einzelnen Unabhängigkeiten,
Ausdrucksformen menschlicher Beendigung auf allen Gebieten den wahren Wert
Deutschlands darstellen, und daß dieser Wert gepflegt und erhalten werden muß,
wo immer er bedroht ist, in der Persönlichkeit, in der selbständigen Einzelexistenz,
im Bundesstaat — dann verzeihen Sie diesen langen Satz und sorgen Sie dafür,
daß Ihnen nicht mit dem grünen auch noch das weiße Papier ausgehe, denn
dann werden Sie seiner bedürfen, gegenüber kommenden großen publizistischen und
anderen Konzernen und angesichts wichtiger Friedensaufgaben, an denen gern
mitwirken wird
ährend an der äußeren Front der Entscheidungskampf beginnt,
herrscht an der inneren eine gewisse Ruhe. Die Gefechtspause vor
der, zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage bietet Gelegenheit zur
Waffenprüfung.
Der Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums Dr. Fried¬
berg hat in der Rede vor seinen Solinger Wählern erklärt, die Krone sei ver¬
pflichtet „alle verfassungsrechtlichen Mittel bjs zur Erschöpfung" anzuwenden, um
die Wahlrechtsvorlage, für die sie ihr Wort eingesetzt habe, durchzubringen. Ebenso
erklärt der preußische Minister des Innern in seinem Erlaß an die Regierungs¬
präsidenten, daß sich der König durch das Versprechen vom 11. Juli 1917 „selbst
gegenüber den breiten Volksmassen verbindlich gemacht" habe, es mithin oberste
Pflicht der Staatsregierung sei, „die Verbindlichkeiten des Königs zu restloser Ein¬
lösung zu bringen".*)
Insofern in beiden Fällen eine besondere Verpflichtung der Regierung aus¬
gedrückt werden soll, sich für die Durchführung ihrer Vorlage (im Gegensatz zu
gewöhnlichen Initiativanträgen, wo die Tatsache der Einbringung genügt) inS
Zeug zu legen, ist dagegen nichts zu sagen.
Ganz schief ist es und wieder ein Beispiel für die auf Kosten des „Objektiven"
geübte Parteitaktik leider auch auf dieser Seite, wenn der „Lokalanzeiger" zu dem
Drewsschen Erlaß bemerkt: So etwas existiere ja nicht einmal in dem Verhältnis
der sozialdemokratischen Parteipäpste zu ihren Wählern. Die Fassung des Ministers
komme schon einer Anstellung des Königs von Preußen durch die breiten Massen nahe.
Das Blatt bekreuzigt sich vor dem Begriff der königlichen Verbindlichkeiten gegen¬
über den „Massen" (wie die tendenziöse Umwandlung lautet), als sei mit seinem
Aussprechen schon der Parlamentarismus proklamiert. Und doch war gerade ein
ViSmarcl der Meinung, daß man „die lebendige Wechselbeziehung zwischen dem
Könige und dein Volke nicht anrühren" solle, daß „der direkte Verkehr mit dem
Volke dem Ansehen der Monarchie" nicht „schaden" könne I (Rede vom 24. Ja¬
nuar 1832.) Nein, gerade weil wir an unserem bewährten monarchisch-konstitu-
tionellen System festhalten, wollen wir alles vermeiden, was so aussehen könnte,
als ob es für die Krone keine parole ü'nvnneur gäbe. Gerade weil das Geraume
im Lande nicht aufkommen soll, als sei es der Staatsregierung nicht voller, ein¬
dringlicher Ernst mit der Ausführung des Julierlasses (Drews) und, weil es aller¬
dings „für den monarchischen Staat sehr schwer zu tragen ist", wenn die Krope
ihr gegebnes Wort nicht einlösen kann (Friedberg), muß ihr die Gelegenheit, den
guten Willen zu zeigen, voll und ganz offen gelassen werden.'
Etwas anderes ist es, wie sich das Parlament zu der Sache stellt. Sein
freier Wille als Faktor der Gesetzgebung wird in der Tat keineswegs durch die
Form des Negierungsantrags behindert, mag sie noch so feierlich ausfallen.
Wir haben das hier schon Ende Januar (vgl. Heft 4) betont. Es ist also wohl
möglich, daß die Vorlage infolge des Widerspruchs im Landtage nicht Gesetz
werden kann. Der Minister des Innern hat ja auch durchaus nicht gesagt, daß
das königliche Versprechen „auf alle Fälle eingelöst werden müsse", wie der frei«
konservative Abgeordnete Dr. Newold behauptet, das konnte in der Tat „Seine
Majestät der König als konstitutioneller Fürst am allerwenigsten verlangen". Er-
zwingen läßt sich der Wille der Krone heutzutage nicht, wohl aber mit aller
Energie und allen „verfassungsmäßigen Mitteln*) verfolgen.
Worin bestehen diese verfassungsmäßigen Mittel gegenüber dem Abgeordneten¬
hause, wenn man den „Pairsschub" in der anderen Kammer beiseite läßt?
Seit der Ablehnung des Regierungsantrages in der Verfassungstommission
ist in der Tagesliteratur lebhast über die Wege diskutiert worden, die nunmehr
der Regierung offen stehen, um ihren Willen durchzusetzen- Übereinstimmend wird
dabei vor allem an vier Möglichkeiten gedacht. Die Dinge vereinfachen sich aber
wesentlich, da nicht weniger als drei von ihnen ausscheiden, weil sie das Merkmal
„verfassungsmäßig" nicht erfüllen.
Dazu gehört zunächst die sogenannte „Rückoktroyierung". Wie das Drei-
klassenwahlrecht durch eine Königliche Verordnung (vom 30. Mai 1849) ins Leben
getreten ist, so könnte es — denkt man — auf demselben Wege wieder abgeschafft
werden. Diese Verordnung ist aber kurze Zeit nach ihrer Entstehung geltendes
verfassungsrecht geworden (durch Aufnahme ihrer wesentlichen Teile in die
revidierte Verfassung von 1850) und dadurch jeder Abänderung im Wege der
Verordnung entzogen.
Ebenso aber auch jeder Abänderung im Wege der sogenannten „Notver¬
ordnung" (-- Verordnung mit Gesetzeskraft), da eine solche nach Artikel 63 der
revidierten preußischen Verfassung dieser „nicht zuwiderlaufen" darf im Unterschiede
S- B. von Württemberg und anderen südlichen Staaten".)
, Nicht anders verhält es sich aber mit dem Umweg über die Reichsverfassung.
Selbst wenn man annimmt, daß die Reichsgesetzgebung auf Grund des Artikels 78
R- V. (sogenannte „Kompetenz-Kompetenz") befugt wäre, für den Einzelstaat
Preußen ein Wahlrecht zu schaffen - schon dies ist jüngst bestritten worden'")— wurde ein solcher Versuch des Reichstages im Bundesrat auf unüberwindlichen
Widerstand stoßen und hier die vierzehn zur Ablehnung einer Verfassungsänderungerforderlichen Stimmen (aus den um ihre Gerechtsame besorgten Mittelstaaten I)
gar bald gegen sich haben. Auch dann, wenn durch Ausdehnung des Reichstags-
Wahlrechts auf alle Bundesstaaten (als Mindestforderung der Reform) der ominöse
Charakter einer lex sveciMZ Korns8ica gemildert würdet
Nun hat vor kurzem der OberverwaltungSgerichtsrat Dr. Lindenau in der
..Vossischen Zeitung" in Anerkennung dieser Hindernisse folgenden Ausweg vor-
geschlagen.
„Preußen selbst beantragt im Bundesrate den Erlaß eines Reichsgesetzes,
durch das für die Abänderung der preußischen Wahlgesetze die Übereinstimmung
des Königs von Preußen und der Mehrheitsbeschlüsse des preußischen Herren¬
hauses sowie der gegenwärtigen Inhaber der preußischen Reichstagssitze für
erforderlich und ausreichend erklärt wird. Auf Grund dieses Reichsgesetzes beruft
der König die preußischen Reichstagsabgeordneten zusammen, die für diesen
Sonderfall an die Stelle des Abgeordnetenhauses treten." Wenn auch durch
diese Notkonstituante der 236 geschmeidigeren Preußen vom Königsplatz (an Stelle
ihrer rennenden Landsleute in der Prinz Albrechtstraße) die bittere Pille einer
Vergewaltigung des größien Einzelstaates durch das Reich verzuckert wird — die
Tatsache bleibt doch bestehen, daß das vorgeschlagene Verfahren „für Preußen
durchaus die Bedeutung eines Staatsstreichs" haben würde („Kreuzzeitung").
Nach Fortfall der drei ersten Vorschläge bleibt also nur der letzte, nämlich
das alte konstitutionelle Mittel der Kammerauflösung.
Die Berechtigung seiner Anwendung von seiten der Krone steht außer Zweifel,
über den Erfolg gehen die Ansichten weit auseinander. Während z. B. Conrad
Bornhak „mit ziemlicher Bestimmtheit" annimmt, daß „unter demselben Wahl¬
system, wenn die Parteien sich einmal durch ihren Beschluß gebunden haben, auch
dieselbe Mehrheit wiederkehren wird" („Berliner Tageblatt"), glaubt der ehemals
konservative, jetzt .mit der Rechten zerfallene Politiker Thinae, sich von einem
solchen Verfahren die größten Umwälzungen versprechen zu können.*) Er beruft
sich auf Vismarck, der die preußische Regierung bei den Wahlen schon zu seiner
Zeit „unwiderstehlich" genannt habe, was noch viel mehr heutzutage gelte, wo der
von der Negierung her wehende Wind sich mit dem „Sturmwind.der Massen" vereine.
Jeue werde die erforderliche Verminderung der konservativen Sitze um
20 bis 25 „mit spielender Leichtigkeit erreichen", insbesondere durch energische
Anwendung des Beamtenerlasses vom 4. Januar 1882. Danach „wird jeder
politische Beamte (vom Regierungspräsidenten bis zum Landrat) gehalten sein,
bei den Neuwahlen für das gleiche Wahlrecht mit Entschiedenheit einzutreten, und
wer sich dieser Pflicht entzieht, muß sein Amt niederlegen oder gewärtig sein,
seines Amtes entlassen zu werden".
Dazu bemerkt die „Kreuzzeitung": man dürfe das Dokument von 1882
nicht ohne die spätere Auslegung Bismarcks im Reichstage heranziehen und nach
dieser,(Rede vom 24. Januar) habe es dem Kanzler völlig ferngelegen, von den
politischen Beamten zu verlangen, daß sie für eine ihren Auffassungen wider¬
sprechende Politik der Negierung „mit aller Entschiedenheit eintreten".
In der Tat hat der Kasizler damals den Begriff der „Vertretung" der
königlichen Politik, von der im Erlasse die Rede ist, dahin umschrieben, daß die
politischen Beamten („von den unpolitischen . .. verlangt eigentlich Se. Majestät
nichts") bei aller Freiheit der eigenen Wahl der Verpflichtung nicht überhoben
wären, „die Intentionen der Negierung gegen Entstellung, Irrtum und Ver¬
leumdung, wie sie bei den Wahlen so oft vorkommt, zu schützen". Diese De¬
finition entspricht ganz dem Wortlaut des Erlasses, der das Verhalten der Be°
amten ebenfalls, das verkennt Thinae, durch eine negative Wendung wiedergibt.
Bismarck betont mit Recht an mehreren Stellen seiner Rede, daß jene „keine
Weisung bekommen, irgendetwas zu tun", und daß man im Jahre 1882 „durch-
aus nicht so weit" gegangen sei wie in dem Eulenburgschen Erlasse von 1863.
Insofern besteht also die Argumentation der „Kreuzzeitung" gegenüber
Thinae zu Recht*). Es handelt sich weder um eine „einschränkende negative
Auslegung" als persönliche Meinung Bismarcks, noch ist die Authentizität dieser
Auslegung zu bezweifeln — wie es Thinae durch Anführungsstriche tut —. denn
Bismarck hat sie selber ausdrücklich sür sich in Anspruch genommen.
Eine andere Frage ist die spätere Praxis. Und hier mag die gewohnheüs-
rechtliche Anschauung dahin gegangen sein, daß die politischen Beamten „sich in
ihrer Betätigung mit der Auffassung der Regierung identifizierten" (Thinae).
Ähnliches ist neuestens bei Beratung des Antrages Fuhrmann (tue Lcmdratc
künftig zu den nichtpolitischen Beamten zu rechnen) vom Minister Drews verlangt
worden. Sie müßten also sür das gleiche Wahlrecht offen eintreten und konnten
nicht sagen, wie es ViSmarck ihnen noch zugestehen wollte: „Ich gehöre nicht zu
der Partei der Regierung, ich bin gegen sie".
Stellt man sich aber auf diesen Standpunkt, so gibt es für sie nur zwei
Möglichkeiten: entweder sie nehmen ihren Abschied (so wird der Fall des Frank¬
furter Regierungspräsidenten von Schwerin vom „Lokalanzeiger" gedeutet) oder
sie gewinnen die „höhere Einsicht" der Regierung. Man wird zugeben, daß weder
jene Massenflucht ins Privatleben noch dieses Eindringen französischen Präfekten-
geistes erfreuliche Erscheinungen für unseren Staat sein würden.
Thinae und andere wollen den Konservativen von heute einen Strick daraus
drehen, daß sie die einst von ihnen selber**) lebhaft befürwortete regierungsfreundliche
Stellung der Beamten beim Wahlkampf nunmehr als Gewissenszwang („Ber>
tuer Neueste Nachrichten") ansehen Sie vergessen, daß sich inzwischen die Politik
der Regierung — geradezu diametral — geändert hat. Man könnte zu den Kon-
servativen sagen: damals, als es um Euere Interessen ging, hattet Ihr gut reden;
jetzt, wo der Wind umgeschlagen ist, müßt Ihr Euch nun aber auch mit dem
Grundsatz abfinden, was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Zugegeben!
Aber damit schafft man die Tatsache nicht aus der Welt, daß es sich heute für
die Pendel und alle Gegner des gleichen Wahlrechtes um einen wirklichen Ge¬
wissenskonflikt handelt, wenn sie aufgefordert werden, für die Politik der Re¬
gierung „mit aller Entschiedenheit einzutreten". Der „Vorwärts" behauptet:
»Nichts ist unehrlicher als ihr plötzliches Geschrei". Nein, gerade aus innerster
Ehrlichkeit heraus kann und wird in der Mehrzahl der Fälle der Entschluß zum
Protest geboren werden I
Wird nun die Regierung ihr, wie wir sahen, einziges Mittel gebrauchen und
das Haus der Abgeordneten „auflösen"?
Der am 20. März angenommene Gesetzentwurf-einer Verlängerung der Legis-
wturperiode scheint nicht für diese Absicht zu sprechen. Das „Berliner
Tageblatt" hält ihn denn auch für „bedenklich" und bedauert, daß „die preußische
Regierung vorzeitig eine Waffe eins der Hand gibt, die für das gleiche Wahlrecht
entscheidend eingesetzt werden konnte". Gemeine ist natürlich die Möglichkeit, auf
die Gegner des Wahlrechts angesichts der ablaufenden gesetzgeberischen Periode
einen Druck im Sinne des Entweder-Oder ausüben zu können. Über die Schärfe
dieser Waffe läßt sich streiten, man hat sie auch im umgekehrten Sinne an¬
wenden wollen. Die Regierung hofft jedenfalls zunächst immer noch auf eine
Verständigung und will gerade aus diesem Grunde die Zeitspanne der Beratung
verlängern. Andererseits Hai sie keinen Zweifel darüber gelassen, daß im Falle einer
„Zwangslage" trotz der Abwesenheit von ungefähr der halben Wählerzahl Neu¬
wahlen vorgenommen werden würden. (Minister Drews imHause der Abgeordneten.)
Vorläufig werden sich die Dinge noch nicht zuspitzen. Am 15. März hat
der Verfassungsausschuß die erste Lesung der Wahlrechtsvorlage, des Herrenhaus¬
und das Etatgesetzes beendet. Die zweite soll am 11. April beginnen. Der
Minister hat i'n derselben Sitzung des Plenums, wo er von der „Zwangslage"
sprach, den „großen Eifer und die große Gewissenhaftigkeit" rühmend hervorgehoben,
mit der im Ausschusse gearbeitet worden sei. Auch von seiten der Wahlrechtssrennde
wird das zugegeben. So schreibt die „Germania": „Es muß ehrlicherweise an¬
erkannt werden, daß flott gearbeitet worden ist. Abgesehen von der etwas gedehnten
Generaldebatte könne niemand sagen, daß von irgendeiner Seite die drei wichtigen
Gesetze verschleppt worden seien. Alle Parteiredner bemühten sich, kurz und sachlich
ihre Wünsche zu äußern und die gestellten Anträge zu begründen".
Wird das Zentrumsorgan mit dieser vernünftigen Einsicht bei den Mitgliedern
der sogenannten*) Mehrheit Gehör finden. Wir möchten es bezweifeln. Da?
Schlagwort von der „Verschleppung" ist ein zu wertvolles Agitationsmittel und
ein zu dankbarer Stoff auch für das Witzblatt, als daß mau es wieder entbehren
möchte. Der „Vorwärts" glaubt sogar in der Tatsache, daß die nächste Kommissions¬
sitzung auf einen Nachmittag anberaumt ist, die überall gewitterte Verschleppungs¬
absicht erblicken zu müssen I
Sachlich brachte die letzte Sitzung vor Ostern als bemerkenswertes Ergebnis
die Ablehnung sämtlicher Anträge über das Verhältniswahlrecht. Schon im
Plenum waren die Ansichten diesem Verfahren r-icht güvstig. Damals fand es vorbehalt¬
lose Befürwortung nur bei den Sozialdemokraten. Auch jetzt hatten, außer diesen und
den Polen, alle Parteien ihre Bedenken. „Eine allgemeine Einführung
des Proporze? würde — so meinte ein Konservativer — eine noch
weiter? Radikalisierung des künftigen Abgeordnetenhauses bedeuten." Die
Nichtigkeit dieses Satzes muß bezweifelt werden, wir verweisen dafür .auf das
in Heft 7 der „Grenzboten" Gesagte. Die Negierung wünscht ebenfalls die
Verhältniswahl nur in der Ostmark verwirklicht'zu sehen. Augenscheinlich ist
die Frage trotz umfangreicher Literatur noch nicht spruchreif; auch im Reichstage
verlangt man von der Regierung Material über bisherige „Erfahrungen" und
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, du andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlans gestattet,
verantwortlich: der Herausgeber Georg Clcinow in Berlin-Lichterselde West, — Manuslriptsendungen und.
Bricke werden erbeten nnter der Adresse:
An die Echriftlcitunii der Grcuzdotcir in Berlin SV 11, Tciupelhofcr Ufer 35».
jZernsvrecher des Herausgebers: Amt Lichterselde 4V8, des Verlags und der Echristleitnng: Amt Lüyow Mit!,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in, b. H. in Berlin 11, Tempelhofer Ufer Wo,
Dritte: „Der Reichsbote" W. in. l>, H. in Berlin SV 11. Dessimer soch- MM.