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Bücherkiste im Anzeigenteil des betr. Heftes
Kranz. Prof.: Aus Prcnsj-us Ostmark . . . 40, 5
—"
icht wie des Menschen Leben, das nach dem Worte des Psalmisten
siebzig, und wenn es hoch kommt achtzig Jahre währet, ist die
Stätte seiner Arbeit zeitlich begrenzt. Aber gleich dem individuellen
Dasein gibt ihr die Mühsal, die sie sah, den Ausspruch köstlich
genannt zu werden — ihr vor allem, wenn sie ein Hort geistigen
Ringens, ehrlichen Strebens war. Wenn wir fünfundsiebzig Jahre, die Spanne
Zeit vom Tage des erstmaligen Erscheinens der „Grenzboten" bis zur Gegen¬
wart rückschauend umfassen, so sehen wir Kräfte am Werk, die, Ziel und
Richtung wechselnd, den Höhenflug des Wollens nie verleugneten. Weit, ohne
scharfe Begrenzung, wie der Linienzug des norddeutschen Tieflands, war der
Pflichtenkreis der „Grenzboten", frisch wie die Luft, die darüber hinstreicht und
über seine Grenzen dringt, war ihr Wirken. Ihr Lebensgang war aber nicht
hemmungsloser Aufstieg, er heischte oft die Kraft der Überwindung und sie
hat nie versagt.
Als die „Grenzboten" ins Leben traten, schien sich ihnen ein reiches
Arbeitsfeld im Nordwesten Deutschlands aufzutun Belgien, das große Rätsel
unserer Tage, das damals erst kürzlich zur Selbständigkeit gelangt war, galt
es mit Deutschland innerlich zu verknüpfen. Durch seine geographische Lage
erschien Brüssel für einen Austausch geistiger Güter, zumal deutscher und
belgischer, besonders geeignet. So schuf denn Jgnatz Kuranda in Brüssel ein
Organ, das er „Die GrenzboLen, Blätter für Deutschland und Belgien"
nannte. „Eine große und edle Aufgabe sehen wir vor uns liegen", schrieb er
einleitend im ersten Heft seiner Zeitschrift, „zwei Länder, die von der Natur,
von der Geschichte, von unzähligen inneren und äußeren Beziehungen, geistigen
und materiellen Lebensimpulsen dazu bestimmt scheinen, in dem innigsten Ver¬
ständnis, in dem freundlichsten Verkehr mit einander zu gehen, stehen durch
eine Reihe von Vorurteilen, durch ein Verkennen ihres gegenseitigen Interesses
schroff und fremd einander gegenüber. Diese Vorurteile zu heben, dieses Ver¬
kennen auszurotten, die Scheidewand zu untergraben und die Brücke zu einer
geistigen Vereinigung und gegenseitigen Anerkennung zu bauen, ist eine Auf¬
gabe des besten Strebens würdig. Diese Aufgabe sollen diese Blätter un¬
veränderlich im Auge behalten. Eine zweifache Arena sehen wir unserer
Tätigkeit eröffnet. Indem wir einerseits ein deutsches Organ in einem fremden
Lande eröffnen, glauben wir den in diesem Lande einzeln zerstreuten, dem
deutschen Geistesleben verwandten und geneigten Elementen einen Mittelpunkt
zu bieten. Wir denken die Kenntnis deutscher Zustände den damit unbekannten
Personen dadurch zu erleichtern, daß wir eine Tribüne in ihre Mitte schieben,
die über das geistige, soziale und geschichtliche Leben der deutschen Nation
manche nötige Aufschlüsse geben kann. Wer die ungeheuren Fortschritte, die
Deutschland in seiner neuesten Zeit gemacht, in allen Folgen erfaßt, dem ahnt
es wohl, daß die Zukunft Europas im Schoße jenes Landes ruht. Der
mächtige Aufschwung des preußischen Staates, die industrielle Ausdehnung
Österreichs, die Konzentrierung der einzelnen Stämme und Gebiete durch den
Zollverein und die Eisenbahnen, alles dies zeigt, daß der Stern jener Nation
erst im Aufgehen begriffen ist. Wem kann es wichtiger sein, die Entwicklung
desselben zu beobachten, als Belgien, das die Garantie seiner Zukunft nur in
einem klaren Verständnis der Weltlage findet, und in dem klugen Begreifen,
welche Kraft in auf- und welche in absteigender Linie sich bewegt."
Der Kampf um die Seele Belgiens, der damals begann, hat nicht die
Früchte gezeitigt, die Kurcmda auf Grund geschichtlicher und psychologischer
Beobachtung zu ernten hoffte — Belgien ist uns heute Feind. Der Geist der
Freiheit, der es beseelt, ist das kostbare Erbe mittelalterlich - germanischen
Städtelebens, seine Abneigung gegen das Einerlei, die Ausgeglichenheit, die
um einen einzigen Mittelpunkt kreist, ist deutsch und doch hat der blinkende
Flitter französischen Wesens den Zugang zu den Quellen seiner Kraft ver¬
schüttet. Heute, wie vor fünfundsiebzig Jahren ringt niederdeutsches Blut mit
seiner eignen Schwäche.
Schon im Jahre 1842 erkannte Kuranda Umstände mannigfacher Art, die
seinen Bestrebungen den Erfolg versagten. Von regem Unternehmungsgeist erfüllt,
entschloß er sich, die „Grenzboten" nach Leipzig in die Firma F. W. Grunow
(F. L. Herbig) überzuführen und ihnen nunmehr die Aufgabe zuzuweisen,
einen regen Verkehr zwischen Deutschland und seiner alten Heimat Österreich
zu vermitteln. Der schwere Druck, der damals auf Osterreich lastete, machte es
den regen Geistern zum Bedürfnis, jenseits der Grenze eine geistige Helmstädt
zu suchen. Freilich wurde die Zeitschrift in Österreich verboten, aber das ver¬
hinderte nicht, daß sie dorthin gelangte und eifrig gelesen wurde. In den
siebenundsechzig Jahren, während welcher die „Grenzboten" in Leipzig und im
Verlage von F. W. Grunow verblieben, spiegelte sich aber naturgemäß der
Wechsel der Zeiten in den Blättern. Immer mehr fanden sie ihr Genüge im
Dienst der deutschen Heimat, wenn sie auch heute noch über die Grenzen
greifen, so weit sie deutsche Brüderbande fassen. Bedeutsam wurde für die
„Grenzboten", daß Friedrich Wilhelm der Vierte am 3. Februar 1847 den
Vereinigten Landtag einberufen hatte. Sie wurden dadurch genötigt, sich in
erster Linie mit preußischen Angelegenheiten zu befassen. Eine Reihe auf-
fehenerregender Artikel über preußische Verhältnisse aus der Feder des damals
noch völlig unbekannten Berliner Realschulleyrers Julian Schmidt trugen
diesem eine Aufforderung Kurandas ein. probeweise in die Redaktion der
„Grenzboten" einzutreten. Damit gewann das Preußentum in den „Grenz¬
boten" festen Boden. Überdies verschlugen die Wogen der Februarrevolution
Knranda nach Wien, wo er sich bald überzeugte, daß die veränderten Ver¬
hältnisse der österreichischen Wirksamkeit der „Grenzboten" Schranken setzten.
Sie hatten ihre Misston erfüllt, als sie in den Jahren der Bedrückung den
Deutsch-Österreichern für ihre Klagen und Wünsche Gastrecht gewährten. Nun¬
mehr war die Preßfreiheit in Österreich im ausgedehntesten Maße hergestellt.
Der Abschluß der ersten Entwicklungsperiode der „Grenzboten" der somit er¬
reicht war. und der Wunsch Julian Schmidts, sie jetzt in den Dienst rein
deutscher Interessen zu stellen, sowie auch seinen persönlichen Standpunkt in
erster Reihe geltend zu machen, führten dazu, daß er 1847 in Gemeinschaft
mit Gustav Freytag die Leitung der grünen Hefte aus den Händen des be¬
währten Begründers übernahm.
Die revolutionäre Bewegung war abgeebbt, aber die Geister waren
auseinandergestäubt wie Spreu vom Winde. Die neue liberale Grenzboten¬
redaktion suchte eine Partei um sich zu sammeln zur Reformarbeit auf Grund
dessen, was durch die Revolution erreicht worden war. „Die Grenzboten
werden den Regierungen gegenüber entschiedene Demokraten sein, gegen die
Launen und den Unverstand der Masse die Aristokratie der Bildung und des
Rechts vertreten" — so lautete das Programm der neuen Redaktion. Gustav
Freytags politische Anschauungen und somit der Standpunkt, den er in der
Redaktion vertrat, ist erst kürzlich anläßlich seines hundertsten Geburtstags in
den Grenzboten geschildert worden.*) Julian Schmidt vor allen war es, der
immer wieder die Notwendigkeit einer organischen Entwicklung dessen, was sich
als lebensfähig erweisen sollte, betonte und den Preußen den hohen Wert ihres
Staates vor Augen führte. Aber den Junker Bismarck, dessen Stern zu
leuchten begann, haßte und bekämpfte er. Er fand einen Bundesgenossen in
Moritz Busch, der sich der Redaktion zugesellt hatte. Auch Busch verabscheute
Bismarck als den Hauptfeind des Liberalismus, aber im Kampf mit ihm
erkannte er die Bedeutung der genialen Schöpferkraft und unterlag der dialektischen
Entwicklung seiner Gefühle. Die natürliche Folge war eine Absage an die
Genossen der Arbeit. Aber auch deren Zeit bei den „Grenzboten" hatte sich
erfüllt. 1865 verließ Julian Schmidt die Redaktion und wurde durch Max
Jordan ersetzt, jedoch schon wenige Jahre später, am 1. Januar 1871 löste sich
die gesamte Redaktion vom Grunowschen Verlage. Die „Grenzboten" blieben in
den Händen Friedrich Wilhelm Grunows, der bereits 1873 starb, ohne
daß es ihm gelungen wäre mit Hilfe von Hans Blum den alten Baum zum
Sprießen zu bringen.
Sein Sohn Johannes Grunow ergriff nun die Zügel. Er entschloß sich
alsbald, um Konflikte zwischen Verlag und Redaktion zu vermeiden, das Blatt
unter eigener Verantwortung herauszugeben und zwar wollte er es im Sinne
der Vismärckischen Politik leiten. Freilich wurde der Rahmen nicht auf das
politische Gebiet eingeengt, vielmehr wurde das ganze innere Leben des neuen
Reiches der Gegenstand der Beurteilung und vielfach der Ablehnung. Die
unerfreulichen Züge der neuen Zeit sind noch frisch in der Erinnerung. Die
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden, die geistige Öde kam dem größeren
Teil der Volksgenossen erst allmählich zum Bewußtsein. Tapfer haben die
„Grenzboten" in den Irrungen der Geister, im Streit der Meinungen und Parteien
den Sammelruf zur Betrachtung der Dinge von höherer Warte aus erschallen
lassen, jedoch nur langsam fand sich die Gemeinde zusammen, die der Nähr¬
bodens ihres Wirkens werden konnte. Sie lebten der Überzeugung dem Wahren
und Guten zu dienen und sind dieser Überzeugung auch treu geblieben, als sie
1909 aus dem Besitz der Grunowschen Erben in denjenigen des gegenwärtigen
Herausgebers übergingen und nach Berlin als dem Zentrum des politischen
Lebens übersiedelten.
Wie die „Grenzboten" ihren Idealen dienen, weiß jeder Freund der Zeitschrift;
es wäre müßig in wenigen Worten darauf hinzuweisen, was jahrelange Arbeit
kündet. Ihren Ausbau auf dem Grunde ihrer altehrwürdigen Überlieferung
zu einem Organ gesunden nationalen Lebens, das den Forderungen der Gegen¬
wart in ihrer Weite und Tiefe Rechnung trägt, hat das gigantische Unwetter
jählings unterbrochen. Daß sie ihm standhielten, mag für die Güte des
Fundamentes sprechen. Da die scheinbar unerschütterlichen Grenzen des alten
Europas barsten, ward der Name der grünen Hefte wieder zum Symbol.
Vom Anflug schweift der Blick in die Ferne, sieht die Klippen und Fähr-
nifse der Brandung um uns her — aber unbeirrt bleibt der Glaube an die
Zukunft unseres Reiches und an die Kräfte, die ihm in Treue dienen. Abermals
sprechen wir mit dem Psalmisten:
Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich, und
fördere das Werk unserer Hände bei uns, ja das
Werk unserer Hände wolle er fördern.
le Ansiedlungskommission sagt in ihrer Denkschrift für das
Jahr 1914, wo im ganzen 14 614 Hektar erworben wurden,
daß seit Beginn des Krieges der Güterkauf und die Anlage
neuer Siedlungen eingestellt, die eingeleiteten Abschlüsse aber
erledigt worden seien. In der für 1915 bemerkt sie, der Land¬
erwerb (364 Hektar) und das Siedlungsgeschäft hätten fast ganz gestockt; um
so mehr Arbeit hätte die Güterverwaltung und die Fürsorge für die Ansiedler
verursacht. Obwohl sie von ihren Beamten und Angestellten zwei Drittel für
den Kriegsdienst abgegeben hat. steht sie den Familien vor dem Feinde stehen¬
der oder gefallener Ansiedler tatkräftig zur Seite und bewahrt so die meisten
vor Vermögensverfall. Ende 1915 waren von den etwa 22 000 Ansiedlern
7252 mit 7775 Söhnen und 2534 Knechten, im ganzen also ein stattlicher
Heerbann von 17 561 Feldgrauen, ins Feld gerückt; 1080 waren bereits für
das Vaterland gefallen und 51 wurden vermißt; Frauen mußten 2208 An¬
wesen im Umfange von 29 500 Hektar ohne männliche Arbeitskraft bewirt¬
schaften. Nach einer — vielleicht unvollständigen — Zusammenstellung steht
sich die Kommission 1916 zu Ausnahmen von jener Regel, d. h. zum Erwerb
solcher Güter (bisher 5—6000 Morgen) gezwungen, die anderenfalls Gefahr
laufen, aus deutscher Erde polnische zu werden. In einem Falle handelte es
sich um ein großes Rittergut, dessen deutsche Besitzerin, eine Witwe, der Schwierig¬
keiten der Bewirtschaftung wohl nicht Herr wurde, in drei anderen um mittlere
Güter, deren Zwangsverkauf beantragt war oder stattfand. Das eine war
das wertvollste Objekt der Konkursmasse des Breslauer Beamten-Spar- und
Darlehnsvereins, das zweite in schnellem Wechsel aus einer Hand in die andere
gewandert und zuletzt, am Tage der Zwangsversteigerung, vermutlich in pol¬
nischer, ein drittes mit ähnlichem Schicksal zuletzt in deutscher Hand gewesen.
Unsere polnischen Mitbürger haben während des Weltkrieges von ihren
bisherigen Bemühungen, Boden innerhalb der Ansiedlungsprovinzen und außer¬
halb zu erwerben, nicht abgelassen. Durch unerbittliche Brandmarkung ihrer
„Kolonisatoren", der „Verschacherer polnischer Erde", als Verräter an Volk und
Vaterland hatten die Leiter der polnischen Aktion erreicht, daß deutsche Unter-
Händler an verschlossene polnische Türen klopften. In den ersten zehn Jahren
hatte die Kommission zu mäßigen Preisen von Polen 67 500 Hektar erstanden;
1907—13 konnte sie, trotz hoher Preise, von Polen nur noch 20 000 Hektar
kaufen, von Deutschen dagegen rund 90 000. Seit 1896, namentlich seit
Wawrzynia?, der „Lenker des gesamten polnischen Finanzwesens", wie ein Pole
ihn nennt, energisch und zielbewußt das polnische Genossenschaftswesen der pol¬
nischen Bodenpolitik dienstbar gemacht hatte, ging der deutsche Grundbesitz in
beiden Provinzen dauernd zurück, während der polnische entsprechend (1896 —1911
um 96 000 Hektar) zunahm. Wer, der unsere Polen kennt, hat erwartet, daß
sie, weil 1912 ein leiser Rückschlag zu deutschen Gunsten eintrat, den bis dahin
siegreichen Kampf aufgeben, oder nicht vielmehr, daß sie ihre Anstrengungen
verdoppeln werden? Es steht für sie zuviel auf dem Spiele. Nicht die Ver¬
hetzung der Massen, nicht Zeltungslärm und Intellektuellen-Geschwätz, nicht die
Verdrängung der deutschen Handwerker und Kleinhändler, auch nicht die all¬
mähliche, vorläufig recht mäßige Erstarkung ihres Großhandels oder gar ihrer
in den Anfängen befindlichen Industrie, nur die Erhaltung und Mehrung ihres
Bodenbesitzes, des kleinen, wie des gut fundierten und so umfangreichen großen,
des Hauptfaktors ihrer nationalen Existenz in Preußen, vermag, das wissen sie,
den Bestand ihres Volkstums diesseits von Drewenz uno Prosna auf die
Dauer zu sichern.
Der Güterhandel ist auch in Posen und Westpreußen, trotz des Krieges,
recht lebhaft. Die Subhastationskalender oftmürkischer Blätter weisen jedesmal
eine stattliche Reihe überwiegend kleinerer Begüterungen auf, deren in Not
geratene Eigentümer auffallend oft polnische Namen tragen. Deutsche Käufer
kommen aus dem Westen, bis aus dem Rheinlande, und machen sich, wenn
möglich, ansässig. Bei der Zwangsversteigerung werden nicht selten erhebliche
Summen an Hypotheken verloren; der Inhaber einer letzten Forderung über¬
nimmt dann und wann die Last der Bewirtschaftung, bis er auf einen Wag¬
halsigeren oder Dümmeren stößt. Weit häufiger freilich bewahrt die organisierte,
wohl von einer Zentrale aus geleitete polnische Wachsamkeit polnischen Besitz,
auch größeren, vor dem Übergange an Deutsche und erwirbt die polnische
Begehrlichkeit mit raffinierter Schlauheit deutschen, selbst unter Überzahlung, in
rnaiorem poloniae Zloriam. Es würde zu weit führen, wollte ich die
deutschen größeren, mittleren und kleinen Begüterungen, die bisher in diesem
Jahre in polnische Hand gelangt sind, sämtlich aufzählen. Erinnert sei an
die freihändigen Verkäufe Deutscher von Obiecanowo an Dr. von Brodnicki,
von Nieder-Lissa in Nieder-Schlesien an Herrn von Grabski-Grieser, von
Grabin in Westpreußen für mehr als eine Million an den bekannten Parla¬
mentarier Saß von Jaworski und vor wenigen Tagen von Nieder-Alt Driebitz
bei Fraustadt an Frau Stanislawa Maciejewska.
Gibt es auf deutscher Seite eine ähnliche — private — Organisation?
Wirkt sie gleichfalls mit tödlicher Sicherheit? Was bisher in die Erscheinung
trat, war jedenfalls von Staatswegen, im Zusammenhange mit der großzügigen
Ostmarkenpolitik von 1886, geschaffen. Vom Gesamtbesttz beider Provinzen,
von welchem Ende 1910 zwei Drittel deutsch (3 452 000 Hektar) und ein
Drittel polnisch (1 705 000 Hektar) war, war damals nach einer Mitteilung
des Landschaftsministers, Herrn von Schorlemer. ein Drittel (1 747 000 Hektar),
die größere Hälfte des deutschen und etwas mehr als der ganze polnische Besitz,
als Staatseigentum, als deutschen Korporationen oder der Ansiedlungskommisston
gehörig, ferner durch fideikommissarische Bindung, sowie durch Befestigung seitens
der Mittelstandskasse in Posen und der Deutschen Bauernbank in Danzig für
das Deutschtum gesichert; nur noch 1 705 000 Hektar, gerade soviel, als die
Polen besaßen, waren verkäufliches, wegen der nationalen Gleichgültigkeit vieler
Deutschen jederzeit gefährdetes und der polnischen Erwerbssucht preisgegebenes
deutsches Eigentum. Ergänzend sei hinzugefügt: 1912 besaß der preußische
Staat in beiden Provinzen, nachdem er seinen Bestand an Domänen und
Forsten seit 1836 unablässig durch Ankäufe vermehrt hatte, 159 000 Hektar
Domänen und, namentlich in Pommerellen. 677 000 Hektar Forsten. Der
Besitz der Ansiedlungskommission umfaßte Ende 1915 rund 460 000 Hektar
oder 80 Quadratmeilen, die seiner Zeit mit 480 Millionen Mark bezahlt worden
waren; verwendet waren bereits 402 000 Hektar, davon zu Ansiedlerrecht ver¬
geben 309 000 Hektar 54^ Quadratmeilen und so dem Deutschtum erhalten.
Majorate waren von Deutschen seit 1886, auch in der letzten Zeit, häufig
- gegründet worden; die dadurch gewährleistete Besitzbefestigung löste stets das
lebhafte Mißfallen der Polen wie ihrer deutschen Schutzpatrone aus. Von
1892 bis 1911 wurden im Posenschen von Deutschen 43 Majorate mit
69000 Hektar und von Polen 6, unter Caprivi und bald nach ihm, mit
18 500 Hektar errichtet. Nach Herrn von Guttry, einem Polen, gab es 1915
in dieser Provinz 15 polnische mit 59 000 Hektar; die ältesten waren aus
den Tagen Friedrich Wilhelms des Vierten. Die Deutsche Bauernbank endlich
und die Posener Mittelstandskafse hatten bis 1914 weit über 250 000 Hektar
und zwar 209 größere Güter und 9379 Bauernhöfe für immer als deutschen
Besitz befestigt; sie ersparten den regulierten bäuerlichen Wirten an Zinsen
jährlich 1^ Millionen Mark, davon 850 000 zum Zweck der Schuldentilgung.
Eine nahe Zukunft wird erweisen, ob die seit Kriegsanfang stockende
deutsche Besitzbefestigung nach dem Kriege in der bisherigen Art wieder auf°
genommen, insonderheit ob die Ansiedlungskommission ihre Käufe gefährdeten
deutschen Landbesitzes fortsetzen, auch wohl sonstigen zur Zwangsversteigerung
aufgebotenen erwerben oder aber dem polnischen Güteraufkauf frei Feld lassen
wird. Nur oberflächliche Betrachtung kann der Ansicht sein, den preußischen
Polen, die doch sonst für polnische Zwecke, für die Sienkiewiczspende, den Posener
Unterstützungsausschuß für die notleidenden Polen Kongreßpolens usw.. mit
oft betätigter Opferwilligkeit Millionen aufbringen, die sich wohl auch, nach der
Verfügung des Erzbischofs Dr. Dalbor, an der Zeichnung der 5. Kriegsanleihe
„in weitesten Umfang" beteiligen werden, werde es dann an Mitteln zur er¬
folgreichen Weiterführung ihrer Auskaufaktion fehlen. Sie erhöhen, nebenbei
gesagt, im dritten Kriegsjahre das Aktienkapital der Posener Rustikalbank
(dank Mlo3ni-lnsKi) um eine Million, gründen eine Gesellschaft zur Förderung
der polnischen Industrie in Posen und lassen soeben in Posen die ersten Num¬
mern der „Gazeta narodowa" (Volkszeitung) erscheinen; diese soll, da die vor¬
handenen polnischen Blätter meist an dem anderen Strange ziehen, für die vom
Hochadel immer wieder «erfochtene, sonst in keiner Schicht beliebte Versöhnungs¬
idee Anhänger werben und wird den Gründern, „Großgrundbesitzern mit zu¬
sammen über 100 000 Hektar", so manchen Obolus aus den Taschen ziehen.
Nach dem „Knryer Poznanski" herrschte im Mai d. I. in den polnischen Banken
und Genossenschaften solch Überfluß an Bargeld, daß „die nicht untergebrachten
Kapitalien der polnischen Genossenschaftsorgamsation fast 100 Millionen Mark,
fast 25 v. H. sämtlicher Kapitalien, über die die Organisation vor Ausbruch
des Krieges verfügt hatte, betrugen."
Der Geschäftsbericht des Wawrzyniakschen Verbandes polnischer Erwerbs¬
und Wirtschaftsgenossenschaften für 1915, der gedruckt vorliegt, bringt den
zahlenmäßigen Beweis, daß das Polentum der Ansiedlungsprovinzen tatsächlich
über so bedeutende Geldmittel verfügt. Da das polnische Bankwesen erst schwach
entwickelt ist, so ist das, was diese Genossenschaften an Kapitalien, Depositen,
Reserven usw., aufweisen, der Grundstock und Hauptbestandteil des zu jeder
Zeit flüssigen polnischen Nationalvermögens. Dem Verbände waren Ende 1915,
bis auf 45, sämtliche (293) polnische Genossenschaften angeschlossen; 209 waren
Kreditgenossenschaften, Volksbanken (dank luäow^) genannt, 16 Landerwerbs¬
und Austeilungs- und 13 Landwirtschaftliche Ein- und Verkaufsgenossenschaften
(rolniks). Die Spareinlagen, 1900 erst 36 Millionen Mark, stiegen bis Ende
1907, 1910, 1913, 1914 und 1915 auf 123, 204^/g, 253, 284 und
306 Millionen; der größte Teil rührt also aus der Zeit vor dem Kriege her,
wenn auch „der Geldbedarf der Genossenschaftsmitglieder während des Krieges
mit Rücksicht auf den teilweisen Stillstand des Gewerbes geringer geworden ist
und aus diesem Grunde den Depositenkonten größere Beträge zugeführt werden."
Ähnlich ist die Sachlage bei der Bank des Verbandes; Ende 1913 verzinste
sie 40^2 Millionen Mark Einlagen, Ende 1914 bezw. Februar 1915 aber
45 und 51 Millionen. Die Reserven der Genossenschaften, 1907 nicht ganz
8 Millionen, wuchsen bis 1910 auf 12Vz. bis Ende der Jahre 1913, 1914
und 1915 auf 17, 18^2 und 20 Millionen, die Geschäftsanteile seit 1907
von 17^/4 bis Ende 1915 auf 29^; sie waren im letzten Jahre noch um
rund 40 000 Mark gestiegen. Das polnische Genossenschaftswesen, von dem
verstorbenen Wawrzmnak genial und zäh auf feste Grundlagen gestellt, ist, wie
gezeigt, im Kern gesund und verfügt, mag auch seine Entwicklung durch die
Kriegsnöte verlangsamt sein, über ganz erhebliche, eben zum großen Teil vor
dem Kriege aufgespeicherte Aktiva, die nach dem Kriege auch für die Zwecke
der Landerwerbs- und Austeilungs-, kürzer der Landgenossenschaften arbeiten
werden. Um nicht durch ein Zuviel an Zahlen zu ermüden, stelle ich noch
fest, daß der Gesamtgewinn (1913 drei Millionen) sich 1915 auf 2V2 Millionen
Mark beziffert hat, daß 1914 keine. 1915 nur 2 Genossenschaften ihre Tätig¬
keit eingestellt haben, daß 1915 nur 6 Volksbanken Verluste in Höhe von
59 000 Mark aufwiesen, die rolniks mit dem sehr günstigen Gewinnergebnis
von 865 000 Mark abschlossen, die Landgenossenschaften aber einen empfindlichen
Verlust von fast 305 000 Mark erlitten. Auf letztere ist näher einzugehen.
Der „Dziennik Poznanski" hat sich vor einigen Tagen der dankenswerten
Aufgabe unterzogen, von der Tätigkeit der Landgenossenschaften während der
letzten 6 Jahre in Tabellenform ein anschauliches Bild zu entwerfen; die folgen-
den Zahlen sind ihm entnommen:
Wer diese Zahlen sorgfältig mustert, nimmt zweierlei wahr; erstens, daß
der Krieg den Rückgang des national-polnischen Landerwerbs- und Aufteilungs-
gefchäfts zwar wesentlich beschleunigt, aber nicht ausschließlich verursacht hat;
zweitens, daß. worauf die fett gedruckten Zahlen hindeuten, der Höhepunkt
der Entwicklung bereits vor dem Kriege 1911 und 1912 erreicht und 1913
überstiegen war, was namentlich die Abnahme der Reserven und des Betriebs¬
kapitals und die Zunahme auf der Verlustseite ergibt. Wie erklärt sich das?
Herr von Podbielski. damals Landschaftsminister, übte 1904 im Herren-
hause in Abwehr von „Geistesblitzen" des Herrn von Koscielsli. nach dem
Grundsatze: Die beste Verteidigung ist der Hieb, an den polnischen Parzellie¬
rungsbanken einschneidend Kritik. Er kennzeichnete ihre Verträge als „Hals-
abschneiderkontrakte" und betonte, daß diese Banken „nur Geldinstitute und auf
hohe Zinsen bedacht" seien. Indem er, unter dem Beifall des Hohen Hauses,
hinzufügte, es würden so „Stellen geschaffen, wo die Käufer vom ersten Tage
an ihrem Untergang entgegengingen", hatte er nach der deutschen Theorie
ganz, nach der polnischen Praxis nicht ganz recht. Recht hatte er in Betreff
der Güterschlächter und der zahlreichen polnischen Privatunternehmungen zu —
angeblich patriotische» — Parzellierungszwecken, deren gewagten Geschäftsbetrieb,
z. B. den des verstorbenen Biedermann die unabhängige polnische Presse
ja oft genug gerügt hat. Nicht ganz recht hatte er, salls sein Tadel, auch
nach dieser Seite gerichtet war, gegenüber der Parzellierungsaktion der dem
Wawrzy mal-Verbände angeschlossenen Landgenossenschaften. Diese arbeiten
pro patria, wollen allzeit Mehrer des polnischen Nationalvermögens sein und
mit der — augenblicklich allein durchführbaren — Anlieger- und Ausbau¬
parzellierung das Gedeihen ihrer Klienten fördern; sie wollen also weder
Krawattemnachergeschäfte machen noch bewirken sie, wenigstens in der Regel
nicht, wirtschaftlichen Ruin. Um ihr hochgegriffenes Ziel zu erreichen, nutzten
Wawrzyniak und seine Getreuen, obgleich ihnen das Geld gewisser deutscher
Hypothekenbanken zur Förderung arti-deutscher Bestrebungen, zuerst wohl im
Falle Pinschin, zur Verfügung stand, die Ersparnisse ihrer Volksgenossen, vor
allem den breiten Strom der von den polnischen Wanderarbeitern alljährlich
aus dem Westen aufgebrachten, sagen wir zwanzig Millionen Mark in die
Kassen ihrer Kreditgenossenschaften überleiten, um aus diesen Geldern .die
Landgenossenschaften zu finanzieren. Sie mußten in dem erbitterten Kampfe
um den Boden zu jedem Mittel auch dem der Überzahlung greifen, wenn
anders sie möglichst viel deutsches Land der deutschen Hand entwinden
wollten, sie mußten sogar, was die Ansiedlungskommission nicht durfte. Ver¬
luste riskieren. Wenn sie das alles taten, so konnten sie es tun, weil auf den
kleinen Anwesen nicht anspruchsvolle Deutsche, sondern genügsame und un¬
verdrossene polnische Unterschicht angesetzt wurde; sie konnten es freilich nur
unter harten Zahlungsbedingungen, die sie ihren Schützlingen auferlegten, tun
und nur tun, weil und solange ihre Wanderarbeiter, Männer und Mädchen,
im Westen bedeutende Summen verdienten, von diesen zwar im Winter mit
den Greisen, Weibern und Kindern, die die Wirtschaft im Gange halten,
lebten, aber doch noch soviel erübrigten, daß sie die — nach deutscher Auf¬
fassung — zu hohen Zinsen des Restkaufgeldes und wohl auch etwaige Tilgungs¬
raten bezahlen konnten.
Als der Krieg ausbrach, die polnischen Saisonarbeiter zu unzähligen
Tausenden dein Rufe des obersten Kriegsherrn folgten, die Sachsengängerei und
jene Ersparnisse also aufhörten, trat nicht der Zusammenbruch des Schwindelbaus,
wie schadenfrohe weissagten, sondern nur der abnorm hohe Verlust von 1915
ein. der unter diesen Umständen selbstverständlich war und zum Teil durch du:
Überspannung des Bogens seit 1912. durch die Zahlung zu hoher Kaufpreise
an deutsche Vorbesitzer und durch die Festsetzung zu hoher Verkaufspreise für
die misers, eontribuens pied8 erklärt wird. Bereits im Frühjahr 1914 hatte
ein Sachkenner, gelegentlich des Grundteilungsgesetzes. in der „Deutschen Volks-
wirtschaftlichen Korrespondenz" auf diese Mißstände hingewiesen. Die Erfolge
unserer mit großen Mitteln ins Werk gesetzten Ostmarkenpoliti!. schrieb er.
werden großenteils durch die polnischen Ansiedlungsbanken in Frage
gestellt, die ihrerseits deutschen oder auch polnischen Großgrundbesitz zu ab¬
normen Preisen aufkaufen und als kleine Besitzer möglichst zahlreiche
polnische Land- und Industriearbeiter, die als Wanderarbeiter etwas Er¬
sparnisse gemacht haben, ansiedeln. Immerhin, wie all dem sein mag, die
polnischen Landgenossenschaften kommen, das laßt sich schon heute behaupten,
über die sicherlich recht kritische Situation mit einem blauen Auge hinweg.
Ihrem Verlust der letzten sechs Jahre von 856000 Mark steht ein Gewinn von
fast einer Million mehr gegenüber; ihre Reserven, ihr Grundbesitz, die Geschäfts¬
anteile sind so groß. daß. selbst wenn der Krieg noch lange dauern sollte, die
Belastungsprobe doch ertragen werden wird. Dazu kommt, daß, wenn es sein
nutz, die polnischen Banken und Kreditgenossenschaften nicht einen Augenblick
schwanken, sondern mit den ihnen ja im Überfluß zur Verfügung stehenden
Kapitalien helfend einspringen würden. Die Sache ihrer Landgenossenschaften
ist eben für alle, nicht bloß für die preußischen Polen, wie z. B. die Gründungs¬
geschichte der Bank Ziemski zeigt, Herzens- und Ehrensache. Nur indem sie
ihren Ausdehnungsdrang in dieser Weise betätigen, können sie, das wissen sie,
ihren Landbesitz und damit ihr Volkstum erhalten und mehren. Aus dieser
Erwägung wird, was im laufenden Jahre zwangsweise versteigert oder freihändig
verkauft wird, von und für Polen, selbst mit Verlust, zurück- oder aufgekauft.
Zudem läßt sich das ja, da der deutsche, wenigstens der staatliche Wettbewerb
auf dem Gütermarkte so gut wie ausgeschaltet ist, bei sinkenden Preisen durch¬
führen. Erinnert sei hier an ein Vorkommnis von 1906. Damals sagte der
Verband der polnischen Genossenschaften aus seinem Verbandstage unter dem
Vorsitz seines Patrons Wawrzyniak „den Parzellierungsgenossenschaften auch
fernerhin feinen sorgsamen Schutz und die Erledigung der Finanzierung ihrer
Geschäfte in geeigneter Weise" zu. desgleichen gab er der Überzeugung Aus¬
druck, daß „weder jetzt noch in Zukunft aus dem Verhältnis der Kredit- zu
den Parzellierungsgenossenschaften ein Schaden entstehen könne, für die ersteren
nicht einmal beim Sinken der Bodenpreise". Was der Verband damals ver¬
sprach und als seine Überzeugung aussprach, das wird er (kein Kenner der
Polen zweifelt daran) wie in Wawrzyniaks Tagen auch heute in Wawrzyniaks
Geist zur Richtschnur seines Handelns machen.
Was wird die Zukunft, die „Neuorientierung der inneren Politik"
bringen? Nach dem Programmartikel der „Gazeta Narodowa", die über vor¬
zügliche Informationen verfügt, haben „die arti-polnischen Strömungen ihren
Einfluß wesentlich eingebüßt" und werden wichtige „Änderungen in Bezug
auf die Anerkennung der Rechte der Polen eintreten". Wird die Besitz«
befestigung deutscher Bauern und Gutsbesitzer sowie die Anstedlung deutscher
Bauern durch die Ansiedlungskommission wieder aufgenommen, die Errichtung
von Majoraten und der Ankauf von Domänen und Forsten weitergeführt
werden? Der Landvorrat der Ansiedlungskommission betrug Ende 1915 alles
in allem 57 082 Hektar, das reine Stellenland aber 27 000 Hektar für 2250
Ansiedler; die Besitzbefestigung, die für die Ansiedlungsprovinzen ausgesetzt ist,
schwebte Ende 1915 für 1879 bäuerliche Stellen und 42 größere Güter. Ich
frage wieder: Was wird die Zukunft bringen? Da ich nicht weissagen ge¬
lernt habe und selbst der schärfste Kopf, wenn er sich auf das Glatteis der
Konjekturalpolitik begibt, nur zu leicht ein Bein bricht, stehe ich, aus diesen,
aber auch aus anderen Gründen, von der Beantwortung meiner Frage ab.
Der Rest sei Schweigen.
n einem kleinen Staate wie Belgien, in dem bei annähernd
gleichem Kräfteverhältnis zwei völlig verschiedene Volksgruppen
beständig um die geistige Oberherrschaft bezw. um Gleichberechti¬
gung ringen, muß notwendig jede den Anschluß an ihr nahe¬
stehende stärkere Kulturgruppen außerhalb des Staates suchen.
So liebäugeln die Vlamen mit „Groß-Niederland", die Wallonen mit Frank¬
reich, genauer gesagt mit jener Kulturmacht, die sich im Namen Paris verkörpert
oder verkörperte. Wallone sein war nichts. Belgier war — eben infolge der
völkischen Spaltung — etwas Unbestimmtes. Physiognomieloses — geistig
Franzose sein dagegen, das hieß einen Teil der geistigen Welt beherrschen.
So ist es bei dem kulturellen Übergewicht, das die Wallonen nun einmal hatten,
ohne weiteres verständlich, daß die offizielle belgische Kultur französisch orientiert
ist. Nicht so, als ob es ihr völlig an Selbständigkeit mangelt. Die neue
belgische Monumentalarchitektur ist z. B. durchschnittlich besser als die französtfche,
die belgische Gartenkunst steht weit höher, und Maeterlinck. Verhaeren sowie der
Bildhauer Minne sind wichtige Faktoren des französischen Geisteslebens gewor¬
den. Aber alles, was die Kultur des täglichen Lebens betrifft, Kunstgewerbe,
Möbel, Kleidung, Lebensführung, wird in den wallonischen Provinzen durch¬
weg von Paris bestimmt. Der Brüsseler Advokat, der Brüsseler Gelehrte, der
Brüsseler Industrielle sind von den französischen Berufsgenossen nur schwer zu
unterscheiden. Sie sind im Vergleich zu Parisern Provinziale, ihre Lebens¬
führung ist nicht so nervös, dafür breiter und gröber, ihr Französisch klingt
nicht tadellos, aber ihr Ideal ist deutlich der Pariser.
Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß im Gegensatz zu den viamischen
Zentren Gent und Antwerpen, auch die Theater in Brüssel, die mit Ausnahme
der Königlichen Oper fast durchweg ihre Tore wieder geöffnet haben, im wesent¬
lichen, d. h. mit Ausnahme eines kaum ins Gewicht fallenden Volks- und eines
Operettentheaters, französische Theater sind. Auch sie haben unleugbar etwas
Provinziales: In Dekorationen, die, auch wenn sie prunkvoll gedacht sind,
immer an die altmodische Pracht von Passagecafös der achtziger Jahre erinnern,
bewegt sich um wenige gute oder doch mindestens gewandte Schauspieler viel
Anfängertum mit offenkundiger Freude an geschmetterten Tiraden und leeren
Gesten, viel hoffnungslose Mädeben und Gleichgültigkeit, und angesichts der
ausgibig bemalten überschlanken Damen, die im dürftigen Staat einer Zirkus¬
direktorin auf Redaktionsbesuch mit linkischem Lächeln vergeblich Aristokratinnen
vorzutäuschen suchen und hübscher Bonvivants, die von spekulierenden Regisseuren
nur allzu absichtlich in den Vordergrund geschoben werden, wird niemand
behaupten können, vor Offenbarungen der Schauspielkunst zu sitzen. Den
Deutschen stören überdies die beständige Zwischenaktmusik, die verhältnismäßig
langen Pausen und die Rauchfreiheit im Parkett.
Dos Repertoire ist durchaus französisch und es ist bezeichnend, daß selbst
belgische Autoren den Schauplatz ihrer Stücke durchweg nach Paris oder Frank¬
reich verlegen. Im TlMtre Moliöre, das den hübschesten Theaterraum Brüssels
hat, mit vielen, aber vortrefflich und intim disponierten Plätzen, gibt es für
die beste bürgerliche Gesellschaft altmodische Reißer wie den „Hüttenbesitzer", die
„Kameliendame", ,,^in)8 bon8 vlIlAKe(ii8" von Sardon, dessen zweiter Aktschluß
mit dem Umzug einer kleinstädtischen Bürgergarde das durch den Anblick frau>
zösischer Uniformen in kindische Freude versetzte Publikum zu ostentativen Beifalls¬
stürmen hinreißt, dazwischen mal einen routiniert gemachten Blender von Kiste-
maekers. In der „Olympia" und im „Winter-Palace" gibt es mal die Pariser
Thesenstücke von Bernstein oder Lavedan, mal die Lustspiele der Caillavet und
Genossen, man läßt sich hier als behaglicher Bürger gerne von dem weltge¬
wandter Causeur belehren, belacht eifrig und ein wenig ostentativ die in Paris
üblich gewordenen Bonmots über den lieben Gott und spendet mäßig aber
voll dankbarer Anhänglichkeit Beifall. Warmer wird man in der Gans, wo
die um das aus Pariser Stücken hinlänglich bekannte zweischläfrige Bett auf¬
gebauten Schränke Hennequins durch eine von Geist, Grazie und echter Komik
völlig verlassene Darstellung vollends unmöglich gemacht werden.
Künstlerisch Wertvolles wird nur in einem Theater geleistet, einer Neu¬
gründung, die den für Deutsche irreführender Namen „La Bonbonniöre" trägt.
Ein kleiner, nach unsern Begriffen reichlich dürftiger Salat mit einem Parkett
von höchstens vierzehn Sitzen Breite, in gleicher Höhe an den Seiten ein paar
Logen ohne erhöhte Wände, im Hintergrunde ein kleiner Balkon, im ganzen
höchstens 200 Plätze und eine Bühne, auf der die Bewegungsfreiheit der Schau¬
spieler um ein paar Möbel herum zu einem ernsthaften Problem wird. Aber
mit unleugbaren Geschick hat man aus der Not eine Tugend zu machen ge¬
wußt und hier, mitten im Kriege mit ruhiger Sachlichkeit ein Ideal erreicht,
dessen Verwirklichung in Deutschland trotz aller Sehnsucht aufrichtiger Theater¬
freunde und aller Prätention von feiten der Direktoren noch immer nicht,
wenigstens nicht dauernd geglückt ist: das intime Theater. Allabendlich finden
sich hier zwei ausgezeichnete, mehrere gute und durchweg ernsthaft bestrebte
Schauspieler zusammen, um vor oder nach einem trefflich einstudierten schwank¬
haften Einakter, der das größere Publikum einfangen muß, jene hübschen Nichtig¬
keiten zu spielen, in denen mit erfreulichem Bühnengeschick eine schalkhafte aber
richtige Beobachtung, eine unnachahmlich graziöse Strecke Dialog, eine leichte
und heitere Situation steckt, oder mit ein paar skizzenhaften aber lebensprühenden
Strichen ein tragischer Charakter unirissen wird. Wer Verständnis hat für jene
Eigenart französischer Schauspielkunst, alle Äußerungen des alltäglichen Lebens:
leichte Plauderei, Lachen und Weinen. Ärger und Zorn. Verlegenheit und
Müdigkeit. Liebe- und Enttäuschung zu psychologisch verräterischen, menschlich
bedeutsamen Momenten zu erheben, mit einer selbstverständlichen Fülle von
scheinbar unbedeutenden Gesten lebenswahr zu charakterisieren, ohne Pose immer
neu und interessant zu sein, und auch die fadeste Rolle ohne Gewaltsamkeit
reizvoll zu gestalten, kommt hier bei jeder Premiere d. h. alle acht Tage auss
neue voll ans seine Rechnung. Eine Aufführung von DieudonnöZ „Perdreau" mit
Emile Deluc und Uvonne George gehörte im bescheidensten Rahmen zu
dem bedeutendsten, was ich an Darstellungskunst überhaupt gesehen habe.
Ähnliche Bestrebungen hat das Theater „Bois Sucre", das jedoch weniger
gute Schauspieler hat und zu allerlei Kompromissen im Repertoire greifen muß.
Das alles ist wie gesagt Französisch. Brüsseler Lokalgeist taucht erst auf
in den zahlreichen Revuen. Die Form der Revue ist international und auch dem
Deutschen hinreichend bekannt. Nur ist die Brüsseler Revue intimer. Das
zeigt sich nicht nur in dem beliebten Hineinziehen des Theatersaals in die
Handlung (beispielsweise tauchen die Mitspieler aus dem Parkett auf), sondern
auch in dem Kontakt, den besonders der männliche Causeur, der Compere. mit
dem Publikum sucht. Er fragt ins Parkett hinunter, wendet sich in gesungenen
Tiraden an die Logen, posiert den Wohltäter der Armen, gibt gute Lehren,
ja man kann sagen, er vertritt den antiken Chor, indem er sich zur Stimme
des Publikums macht. Für die Kenntnis Brüsseler Lebens während des Krieges
bilden diese Revuen, wenn man vom Politischen, das natürlich unberührt
bleiben muß. absieht, eine wichtige Quelle. Im Vordergrund des Interesses
steht selbstverständlich die auch in Brüssel bereits empfindliche Teuerung, die
Lebensmittelversorgung durch die städtischen Behörden, die nach den Revuen zu
urteilen, hier so wenig klappt, wie anderswo, obgleich man im allgemeinen
weniger Klagen hört als beispielsweise in Berlin, der Mangel an Seife.
Gummi, Kleingeld usw., ferner werden glossiert die Faulheit der Arbeitslosen, die
Langsamkeit der Handwerker, der Paßzwang, der wirklich lächerliche Neuigkeiten¬
hunger, die Straßenjugend. Dazwischen stehen ein paar sentimentale Reißer
von sozialen Pflichten (in jeder Revue tritt das kleine Mädchen oder der
Junge mit Streichhölzern und Schnürbändern auf!) und fast durchweg hübsch
arrangierte Balletts. Gesprochen wird im Brüsseler Dialekt, d. h. in jenem un¬
schönen aber gemütlichen Französisch mit breitgesprochenen Endungen und auf
barocke Weise vermischt mit drolligen vlämischen Ausdrücken. Und dieser
Sprache gemäß ist der ganze Ton: kein ätzender Witz, keine scharfe Satire,
kein gallischer Esprit, aber ein klownhafter Humor, ein joviales Belachen der
kleinen Nöte des Alltags, gemütlich mit lauerndem Ernst dahinter, leichtsinnig,
weil das Klagen ja doch nichts hilft, burschikos aus Kraftgefühl.
Französisch ist die Oberschicht, eine Mischung die Mittelschicht, will man
wissen wie das Volk ist, so muß man sich die ursprünglich vlämische, hier aber
in französischer Übersetzung gespickte Lokalposse „Familie Klepkens" von Aug.
Hendrickx ansehen.
Der aufgehende Vorhang zeigt im bescheidensten kleinbürgerlichen Milieu,
in der Wohnstube, die zugleich Werkstatt, Eß-, Kinder- und Empfangszimmer
ist, eine Schneiderfamilie. Ein paar komische Gesten beim Maßnehmen, ein paar
Witze im Brüsseler Dialekt, ein paar volkstümliche Redensarten, die Miesmuschel-
verkäuferin, eine Liebesszene zwischen Haustochter und Geselle voll frischer
Naturlaute und ohne jegliche Sentimentalität, bringen das Publikum in gute
Laune, bis mit großem Geschrei und stürmisch begrüßt der Bruder von Madame
ins Haus fällt. Ein aus dem Leben gegriffener Typus. Friseur von Beruf,
lang, ungepflegt, mit rotem Gesicht und schlechten Manieren, die er aus Grund
eines zehnjährigen Pariser Aufenhalts für den Gipfel des Schick hält, entsetzlich
renommierend und hinter jedem Satz ein alsbald in der Familie wie im Publikum
widerhallendes OK in 1^1 hinterdrein sanfaronnierend. Nachdem er mit Markt-
schreiergebahren die mitgebrachte billige Bazarware unter die geblendete Familie
verteilt hat, sucht er, ein Bein übergeschlagen, die Daumen in den Ärmel¬
löchern seiner tiefausgeschnittenen Kommiswefte und mit den übrigen Fingern
am Ausschnitt Klavier spielend, mit seinen: Plan heraus: Klepkens müssen mit
nach Paris kommen, wo es zur Weltausstellung Geld wie Heu zu verdienen
gibt. Allgemeine Begeisterung, Madame ist gleich bereit, einmal „Pariserisch"
zu lernen, man ißt und trinkt, und mit den Aussichten auf eine glänzende Zu¬
kunft schließt der Akt.
Die Herrlichkeit des windigen Verwandten erweist sich als eine trostlos kahle
Mansarde mit zwei wackligen Betten und ein paar Flaschen als einzigem Hausrat.
Nach der enttäuschenden Ankunft und einem Wortwechsel mit der Concierge, die mit
geradezu grauslicher, aber keineswegs übertreibender Realistik als versoffene Furie
dargestellt wird, wird Essen eingeholt. Weißwein vom Bistro, dessen Wohlfeil¬
heit die Familie mit Ausnahme des nach dem heimischen Landin seufzenden
Oberhauptes die Familie etwas mit der Unbehaglichkeit aussöhnt, und Kartoffel-
schnitz, Dann gehen die Männer die Ankunft begießen, während die übrige
Familie Anstalten zum Schlafengehen trifft, was Anlaß zu einer Fülle komischer
Mimik gibt. Das Jüngste wird im geöffneten Koffer verstaut, der Junge sucht
unter vielen Grimassen und wechselweise krampfig hochgezogenen Beinen das
Nachtgeschirr, Madame, dem Publikum ihr enormes Hinterteil zukehrend, ent¬
hüllt beim Auskleiden zuerst einen knallroten Unterrock, dann die Hose aus
zartrosa Flanell (keine Spur von Wagnis, eher eine Parodie auf die Entkleidungs-
stücke), der Junge klatscht mit einem Pantoffel Wanzen tot. Gewitter, tropfende
Löcher in der Decke, böse Nachbarn. Endlich kommt, mit einem Rausch, dem
man die tiefe Enttäuschung und gänzliche Hoffnungslosigkeit anmerkt, Vater
Klepkens nach Hause und wird von der energischen Ehehälfte unter Beihilfe
der Tochter ausgezogen und auss Bett geworfen. Nach einem kurzen Kampf
um die Bettdecke fällt der Vorhang.
Im gleichen Stil ist der dritte Akt gehalten. Man hat Geld verdient,
leidet aber jetzt nach der Ausstellung unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit.
Zwei Kinder sind (ganz einfach!) gestorben. Vater Klepkens sucht Heimweh und
Sorge durch Trinken zu verscheuchen, noch einmal wird gegessen und getrunken
(ohne das geht es nun einmal im fchmauselustigen Belgien nicht), die Liebenden
kriegen sich und der große Losgewinn der Ausstelluugstombola gibt Anlaß zu
vergnügter Rückkehr nach Brüssel.
Das Interessante und Bezeichnende an all dem ist jedoch nicht so sehr die
.Handlung, sondern die Figuren, die Art der Darstellung und die Aufnahme
beim Publikum. Solche frischen Mädel wie die Tochter, solche Typen wie
Meister, Geselle und Schwager sieht man Sonntags auf der Elektrischen hinaus¬
fahren nach Tervueren und Waterloo. solche Hausmütter, mit rotem Haar, voll¬
busig und doch beweglich, ein wenig ordinär aber gutmütig, mit bedeutenden
Stimmitteln und einer schwindelnmachenden Zungengeläufigkeit, gründlich in ihrem
Tun. umsichtig, sauber und doch von einer gewissen Schlampigkeit in Gebaren
und Anzug beobachtet man auf dem Markt oder abends vor den^ Haustüren
der kleinen Straßen. Die Darstellung arbeitet, dem Stil des Stückes ent¬
sprechend, mit groben Strichen aber mit sicherem Gefühl für die Natur des
Dargestellten, kunstlos im Zusammenspiel, energisch zupackend, erstaunlich echt
in Maske und Bewegung. Die Trunkenheitsszenen aber stimmen nachdenklich.
Es ist keine Spur von Komi! darin, kein Witz, der Betrunkene kalte, lärmt
und rülpst ohne Übertreibung, aber auch ohne jede konventionelle Verschleierung.
Es wäre falsch von „erschütterndem" Realismus zu reden, es fehlt, wie dem
ganzen Stück, die soziale Note, es fehlt auch die melancholisch-lyrische Weich¬
heit des „Nachtasyls", alles bleibt ruhig, sachlich, es ist eine fast naturhistorisch
anmutende Schilderung alltäglicher Szenen und nur Kunst, weil man mit Klepkens
nicht zufällig auf demselben Flur wohnt. Und wenn Mutter und Tochter
einer tüchtigen Familie ihre ganze Kraft anwenden müssen, um den aus sehr
ernsthafter Enttäuschung viehisch betrunkenen Mann und Vater zu Bett zu bringen,
so hat man bei aller Bewunderung für die Darstellungskunst, denselben pein¬
lichen Eindruck, den man vor gewissen Experimenten des Naturalismus der
neunziger Jahre hatte. Anders das Publikum. Das Parkett, voll kleiner Leute,
ist ein einziges Meer von Gelächter, in den Logen ist man deutlich amüsiert
und von den Rangen lacht es in immer sich erneuernden Kaskaden herunter.
Empfindet kein Mensch das Peinigende, das hier geboten wird? Befremdet
sieht man sich um. bis einem einfällt, daß der Paolo Veronese der Vlamen.
dessen unflätige Schmausereien Patrizier in ihre Speisesäle hingen. Jordaens
heißt, daß der größte und feinste Kolorist dieses Volkes. Brouwer. in Wüstheit
zu Grunde ging und daß der große Rubens, der Weitgereiste, Vielsprachige,
der als Diplomat an den zeremoniellsten Hof Europas geschickt wurde, zugleich der
Maler der urwüchsigsten Bauernkirmeß, der ungezügeltsten Bacchanalien ist.
Man steht auf einen Untergrund von kraftstrotzender Roheit, von fast wider¬
wärtig anmutender fleischlicher Gesundheit, der überall, wo nicht ausschließlich
Wallonen sitzen, den Unterton des Lebens abgibt.
Das ist das Fundament, auf dem sich der schwer zu analysierende Brüsseler
Volksgeist aufbaut. Das Volk ist, wie man sich überall überzeugen kann, im
wesentlichen vlamisch, auch wenn es Französisch spricht, der turbulente wallonische
Typus ist in der Minderzahl, reißt aber den schwerfälligen Vlamen, wenn er
ihn erst in Bewegung gebracht hat, leicht mit weg, französisch sind die Leitenden
und das Ganze ein wunderliches Gemisch von dumpfer Kraft, Üppigkeit, Grazie,
Bosheit und Leichtsinn, der dieser zwischen London, Paris und Berlin gelegenen
Hauptstadt gerade jetzt, wo das internationale Fremdenpublikum sehlt und das
deutsche Element sich deutlich abhebt, ein so eigentümliches Gepräge gibt.
amenlos wie das Ungeheure, wie die Gottheit und das Schicksal, ist
der Krieg in unsere Friedenswelt gesprungen, und noch reicht der
Gattungsname vollkommen aus, ihn, der unser Gesichtsfeld ganz
erfüllt, eindeutig zu benennen: der Krieg, wie ihn die Franzosen
1a Zuerre, die Engländer tke war nennen. Aber die Zeit wird
kommen, wo man auch diesen ungebärdigen Ankömmling wird taufen müssen,
aus dem gleichen Grund, aus dem man Buben und Mädchen einen Namen
gibt: um ihn, der in seinen Dimensionen, an Fülle und Gewalt kriegerischen
Erlebens seinesgleichen nicht hat, von den Ereignissen zu unterscheiden, mit denen
er den Gattungsnamen Krieg teilen nutz, um so den Zweck der Sprache, die
Verständigung, auch an ihm zu erfüllen. Das wird erst nach seinem Ende
nötig sein, wie auch ältere Kriege der Deutschen ihren endgültigen Namen erst
nach ihrem Abschluß erhalten haben. Der dreißigjährige und der siebenjährige
Krieg zeigen das ja schon äußerlich an.
Dann aber wird die Verlegenheit nicht gering fein. Als sich der ungeheure
Krieg aus begrenzten Anzeichen entwickelte, da konnte man wohl vom serbisch--
österreichischen Konflikt hören und lesen, der bald zum serbisch-österreichischen
Kriege wurde. Rußland mischte sich ein, und man mußte die Vorstellung er-
weitern auf einen Kampf der europäischen Ostmächte. Doch auch sie wurde
binnen weniger Tage zu eng, als Rußland mit seiner Mobilmachung uns zur
Kriegserklärung zwang, als unmittelbar darauf Frankreich und Belgien ihre
Neutralität verweigerten und England die Stirn hatte, uns den Krieg zu er¬
klären. Damals konnte man von einem europäischen Krieg sprechen, wie es
die Amerikaner tun — strenggenommen war freilich auch dieser Name von
vornherein zu eng. denn Frankreich war längst entschlossen, seine afrikanischen
Kolonialtruppen. Senegalneger. Turkos und Zuaven gegen uns kämpfen zu
lassen; Rußland führte sibirische Regimenter gegen die deutsche und österreichische
Ostgrenze; England ließ sich von Kanada Hilfe versprechen, landete indische Truppen
auf dem europäischen Festland, wiegelte Japan zum Kriege gegen Deutschland
auf und trug mit seiner Hilfe den Kampf in den Indischen Ozean und das
Gelbe Meer. Ein Weltbrand ohne gleichen ist rings umher endlose, und ein
Wort, das ihn räumlich faßte, ist nicht mehr zu denken, es wäre denn das
Wort Weltkrieg selbst, dem wir uns soeben schon genähert haben. Es scheint
Aussicht zu haben, sich durchzusetzen, und wenn der Sprachgebrauch dahin ent¬
scheidet, wird man ihn gelten lassen und gern anerkennen, daß der Name hinter
seinem großen Gegenstand nicht zurückbleibt. Eher im Gegenteil: so ungeheuer
der Krieg ist, die größere Hälfte auch schon der von Menschen bewohnten Welt
läßt er unbeteiligt und vollends unberührt dehnt sich über uns eine unermessene
Welt, in der unsere arme Erde kaum ein Tropfen am Eimer ist. So betrachtet
ist der Name Weltkrieg viel zu weit.
Anderseits sind aber die Namen vergangener Kriege räumlich oft zu eng
genommen worden. Der peloponnesische Krieg ist nicht nur auf der Peloponnes
und nicht nur um ihren Besitz geführt worden. Hier ist der Name für uns
bestimmt worden durch die kämpfende Partei, mit deren Augen wir den Krieg
zu sehen gelernt haben: der Athener Thukydides spricht vom peloponnesischen
Krieg ebenso selbstverständlich, wie ein Lakedämonier vom athenischen Krieg
sprechen mußte, seine ätherische Namengebung ist für alle Folgezeit maßgebend
geworden. So haben wir den trojanischen und die Perserkriege mit den Augen
der Griechen, die punischen Kriege mit denen der Römer zuerst sehen gelernt und
nennen sie mit den alten Siegern, die dann auch zu den klassischen Darstellern
ihrer Kriege geworden sind, nach den unterlegenen Gegnern. Daß eine solche
Namengebung beim Kriege von 1914/16 unmöglich ist. springt in die Augen: ihn
lernen wir nicht mit den Augen des Geschichtsschreibers sehen, sondern als
innerlichst beteiligte Zeitgenossen kennen wir ihn von seinem ersten Tage an.
Und auch der unterlegenen Feinde sind zu viele. Nicht ein Volk ist der Gegner,
nicht eines kann als Hauptleidtragender den Namen leihen, wie beim französischen
Krieg von 1870/71 (ein Krieg war es. kein Feldzug; einen im sprachlichen
Sinne guten Namen hat er leider nie erlangt), sondern eine Koalition steht
gegen uns in Waffen, die sich bei der Namengebung ebenso schlecht bewährt
wie im Felde. Kurz, auch hier kann die Namengebung nicht Fuß fassen.
Die Freiheitskriege vor hundert Jahren — die törichte Mode, sie Befreiungs¬
kriege zu nennen, ist ja wohl überwunden — sind auch darin glücklich gewesen,
daß sie in der sittlichen Triebkraft, die die Völker gegen den Welteroberer siegen
ließ, zugleich den Ehrennamen für alle Zeit gefunden haben. Damit ist aber
zugleich jener Name für alle Zeit vorweggenommen und unmöglich für den
Krieg von 1914/16, obgleich er geführt wird, um die deutsche Freiheit zu behaupten,
die damals erkämpft ward. So ist es ein deutscher Krieg, den wir heute
führen, der herrlich vollenden soll, was damals angehoben war. Und wenn
unsere Feinde im Westen heute schau vom deutschen Krieg sprechen und damit
den von 1914/16 meinen, wohl auch dabei bleiben werden, je mehr sie die
deutsche Kraft zu spüren bekommen, so könnten wir ihnen in diesem einen Punkte
gern nachgeben, sind wir doch überzeugt, daß mit deutscher Größe, um deutsche
Größe dieser Krieg geführt wird, wie nur einer. Dann hieße der deutsche Krieg
nach seinen Helden, dem deutschen Volk. Aber, ganz abgesehen davon, daß
schon unsere österreichisch-ungarischen Bundesgenossen sich diesen Namen niemals
aneignen könnten, die Kriege unseres Volkes heißen nicht nach ihren Helden.
Die Kriege, die Friedrich der Große geführt hat, heißen die schlesischen und der
siebenjährige Krieg, obgleich doch in ihrem Mittelpunkt ein Held steht von einer
persönlichen Größe, wie niemals in einem Feldzug der Deutschen seit dem, den
Arminius gegen die Römer führte, der eben auch nicht nach feinem Helden
benannt ist.
Wiederum einen persönlichen Helden, der allein und ausschließlich im
Mittelpunkt stünde, hat der gegenwärtige Krieg nicht. Unser Volk, die Völker
führen ihn, und Völkerkrieg wäre zum Ende die treffendste Benennung. An
die Freiheitskriege knüpften wir dann mit dem gegenwärtigen Krieg auch in
diesem Sinn an. Vor hundert Jahren die Tore aufgestoßen zu einer deutschen
Zukunft, die 1871 ihr politisches Vorzeichen im nationalen Machtstaat empfing
— jetzt das deutsche Menschheitsvolk an die Spitze der Erdenvölker berufen,
um eine neue Epoche der Weltgeschichte heraufzuführen. Damals der ganze
Seelenbesitz des innerlich reichsten Kulturvolks hineingeschmolzen in die deutschen
Waffen und ihren Sieg über den Erbfeind — heule unser gesamtes geistiges
Sein aufgerufen zur Selbstbehauptung gegen eine Welt. Die Völkerschlacht an
der Schwelle der Zeiten, der Völkerkrieg in der Stunde der Erfüllung!
Aber mehr nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft muß jedem
Freund unseres deutschen Hochschulwesens am Herzen liegen. Und da ist es
denn für die gesamte kommende Entwicklung eine Lebensfrage, ob die Wissen¬
schaft imstande sein wird, die tiefen Klüfte zu überbrücken, die der Krieg zwischen
den verschiedenen Kulturvölkern hat entstehen lassen. In der Beantwortung
dieser Frage herrscht augenblicklich noch große Meinungsverschiedenheit. Der
Kieler Mediziner Professor Lubarsch zeigt in einer Rede, wie sich in der neueren
Entwicklung der Wissenschaft die Zunahme des völkischen Bewußtseins bei allen
Nationen offenbare. Er kommt zu dem Schluß: „Der Vorsprung der Deutschen
ist nur ein Ausdruck des Einflusses des Volkstums auf die Wissenschaft" und
sieht „als eine sichere Lehre des Krieges die Tatsache an, daß man den Ge¬
danken aufgeben muß. als ob die Wissenschaften geeignet seien, die Gegensätze
zwischen den Völkern zu mildern und die dunklen Mächte zu bannen, die Leiden¬
schaft bis zur Naserei in ihnen entfacht." An eine national bedingte, fest im
Volkstum verankerte Wissenschaft denkt letzten Endes auch die von mehr denn
3000 Hochschullehrern unterzeichnete Erklärung, welche sich dagegen wendet, daß
man im Ausland einen Unterschied zwischen dem Geiste der deutschen Wissen¬
schaft und dem des preußischen Militarismus mache.*) Vom gleichen nationalen
Stolze zeigt sich auch der Schreiber des Aphorismus: „Weltwissenschaft" erfüllt,
wenn er sagt:**) „Eine Zeit friedlichen Zusammenarbeitens und -forschens der
Gelehrten aller Völker wird kommen, wenn Europa in harter Schule gelernt
hat. sich zu beugen vor dem Volk, das sein Herz ist. zu ahnen, daß an dem
deutschen Wesen die Welt genesen soll .... Hilf sie erstreiten, die deutsche
Weltwissenschaft I Sie. nur sie gewährleistet jetzt der Wissenschaft das. was sie
braucht: Jnternationalität."
In schroffem Gegensatz zu Professor Lnbarsch steht dagegen Professor von
Wilamowitz.Moellendorff, der in seiner Bismarckansprache begeistert ausruft:
„Wissenschaft ist nicht eines Staates, nicht eines Volkes. Der versündigt sich
an ihr, der sie ihres übernationalen, überirdischen Wesens entkleiden will."
Und diese überschwengliche Auffassung führt naturgemäß dazu, auf die Wissen¬
schaft als Versöhnerin große Zukunftshoffnungen zu setzen. „Die Liebe zur
Wissenschaft," so sagt der gleiche Gelehrte in seiner Rektoratsrede, „der Drang
empor zu denselben Idealen ist ein göttliches Feuer, und die Herzen, in denen
es brennt, müssen sich einander trotz allem verwandt fühlen. Eros, der Mittler
zwischen Göttern und Menschen, wird auch die Seelen wieder zueinander
führen, sobald nicht die ebenso heilige Liebe zum Vaterlande unsere ganze Kraft
des Leibes und der Seele in Anspruch nimmt." Und auch der Leipziger
Rektor Professor Adolf Strümpell betonte in seiner Ansprache an die Vertreter
der neutralen Presse am 16. Dezember 1915 nachdrücklich „daß gerade
die Wissenschaft und die Universitäten die ersten Fäden spinnen werden, die in
einer nicht allzu fernen Zeit des Friedens die Völker wieder verknüpfen können
und ihnen aufs neue zum Bewußtsein bringen werden, daß es über der Welt
der Interessen- und Machtkämpfe auch eine lichte Welt des Geistes und der
Gedanken gibt — ohne Kanonen und blutige Menschenopfer." *) Wann aller¬
dings in der Wissenschaft eine Wiederherstellung der alten internationalen Be¬
ziehungen, deren bisherigen Wert ein erfahrener Beurteiler wie der Münchener
Historiker Th. v. Heigel übrigens ziemlich niedrig einschützt, wirklich erfolgen
dürfte, ist heute eine schwer zu beantwortende Frage.
Eine eigenartige, für den Kenner der sehr konservativen akademischen
Verhältnisse allerdings nicht auffallende Erscheinung, zeigt sich in der gesamten
akademischen Kriegsliteratur insofern, als von offizieller Stelle aus nirgends
die Frage behandelt wird, welche Änderungen oder gar Umwälzungen der
Weltkrieg in den Einrichtungen des zukünftigen Hochschulwesens hervorrufen
purste. Professor Albert Küster stellt in seiner feinsinnigen Leipziger Rektorats¬
rede fest, wie die Verbindung der Universität mit den Kriegen der Neuzeit seit
dem Erwachen deutschen Lebens unter Friedrich dem Großen immer enger
geworden sei, und meint am Schlüsse allgemein, der gegenwärtige Weltkrieg
wirke auch auf die Universität und ihre Einrichtungen umgestaltend und nach
Friedeeisschluß müßten einige Zöpfe am Hochschulwesen abgeschnitten werden.
Ebensowenig berührt der Jenaer Professor Kartelliert diese Seite des akade¬
mischen Lebens in seinem Vortrag, worin er sehr kurz von den Einwirkungen
des Krieges auf die wissenschaftliche Arbeit spricht. Rein negativ kritisierend
und verdammend ist die in den ungemein scharfen Streitschriften Hans Blühers
gehaltene Philippika gegen die heutige Universität, jene „Unioersal-Lehranstalt,
in der das jeweilige Jntellektuellengewerbe die jeweiligen Tendenzen der Öffent¬
lichkeit bedient." Die Ausführungen Blühers, der zuerst durch seine Geschichte
des „Wandervogels" bekannt geworden ist, erscheinen als der lebendige Aus-
druck einer an Nietzsche und dem Griechentum entzündeten dionysischen Künstler¬
stimmung, welch- in einem Teil der akademischen Jugend, besonders im Kreise
der Mitarbeiter ander kurzlebigen Zeitschrift: „Der Ausbruch", nach Gestaltung
und Geltung ringt. Kber die schwere und nüchterne Organisationsfrage, die
sich bei Ausführung jedes Planes ganz von selbst einstellt, gleitet Binder leichten
Herzens hinweg; es genügt ihm. als Ideal zu verkünden: „Die Freie
Akademie .... ist die oberste geistige Instanz eines Volkes, in der nur tue
im schöpferischen Ur-Zustande verharrenden, unbestechlichen und entscheidenden
Köpfe lehren. Die Lehrer der Freien Akademie sind unabhängige Denker, die
Schüler sind Jugend und zwar ausgewählte Jugend." Mit seiner Forderung,
der Hochschulbildung den alten männlichen Charakter wiederzugeben und die
Frauen davon auszuschließen und für sie besondere Frauenhochschulen zu schaffen,
kommt Binder heute, wo das Frauenstudium vollendete Tatsache ist, zu spät.
Ebensowenig greifbare Vorschläge zur Neubildung der Universität bietet Blühers
geistiger Gesinnungsgenosse Ernst IM mit seinen in dichterisch schöner, stellen¬
weise überschwenglicher. Sprache vorgetragenen Forderungen der „Wartenden
Hochschule". Bedeutungsvoll ist nur bei beiden die heiße Sehnsucht nach Be¬
freiung von jeglichem alexandrinischen Wissenschaftsbetrieb und ihr kühnes Ein¬
treten für das Hochschulideal Fichtes, das seit Felix Behrends „Freistudentischem
Jdeenkreis" (1907) mehr als früher in der akademischen Öffentlichkeit als ton¬
angebend hervortritt. In dem Wirken für eine Erneuerung von Fichtes
Gedankenwelt treten übrigens der Jugend auch Ältere zur Seite, und das
Studium dieses Philosophen wird von berufenen Kritikern wie dem Berliner
Professor Riehl und dem Rostocker Historiker Professor Reineke-Bloch den
Universitäten besonders ans Herz gelegt. Und zwar gilt die Wiederbelebung
dem in lichter Höhe idealer Gedanken weilenden Philosophen nicht wemger als
dem begeisternden Volksredner. wie ihn das ausdrucksvolle und fesselnde Bild
Arthur Kampfs in der Berliner Universitätsaula, das erst während des Welt¬
krieges beendet ward, uns lebensplastisch vor Augen führt.*)
Sehr beherzigenswerte Anregungen zu Reformen bringt der Hamburger
Rechtsanwalt Dr. Hattler. Er meint, daß die durch den Krieg verursachte
große Krisis im Hochschulwesen dazu benutzt werden solle, einen Weg zur Ver¬
kürzung des Studiums zu finden, die er im allgemeinen Volksinteresse für
unbedingt nötig hält. Seinen Vorschlag, schon an der Gymnasialzeit zu kürzen,
dürfte wahrscheinlich kein Freund unserer Jugend unterstützen, dagegen verdient
seine Forderung, durch Neugliederung des akademischen Jahres Zeit zu gewinnen,
gerade jetzt wieder Beachtung. Abweichend von andern Reformern, die Tertiale
statt Semester wünschen, schlägt Hattler Quartale vor — Zeiträume, die doch
wohl zur Erreichung der Hochschulziele zu kurz sein dürften.
Wirklich fruchtbare und wertvolle Zukunftsgedanken wirft auch Diplom¬
ingenieur Berger in die Diskussion, und seine Ausführungen verdienen es, selbst
von seinen grundsätzlichen Gegnern eingehend geprüft und beachtet zu werden.
Sein Büchlein ist durchglüht vom berechtigten Stolz auf die Leistungen der
heutigen Technik, aber dies macht ihn nicht blind den Mängeln gegenüber,
welche der von ihr erzeugten Kultur zu feinem Schmerze heute noch anhaften.
Mit Recht sagt er: „Über dem Bildungswesen unseres Vaterlandes waltet eine
gewisse Tragik, die zu einem versöhnenden Ausklang zu bringen, die vornehmste
Aufgabe der geistig führenden Kreise ist, wenn anders Deutschland stark und
fähig werden soll, seine innerpolitischen Kulturaufgaben zu lösen und weiter
eine Kulturmission an einer vielfach im Materialismus und Sinnenkult ver¬
sinkendem Welt zu vollbringen. Diese Tragik liegt in dem Ringen einer alten
stolzen, durch Tradition geheiligten idealistischen Kultur mit der kühn und kraft¬
voll ihr Haupt erhebenden jungen technischen Kultur. Diese beiden Haupt¬
strömungen lassen sich in unserem vielgestaltigen Kulturleben nach unten leicht
bis zu den beiden verschiedenen Bildungsquellen der geistigen Auswahl unseres
Volkes, den humanistischen und realistischen Lehranstalten, zurückverfolgen. Nach
oben setzen sie sich fort durch die Lern- und Lehrjahre an den verschiedenen
Hochschulen und werden auch bei den meisten reifen Akademikern unserer führen¬
den Kreise nicht überbrückt." Eine gewisse tragische Schuld mißt er den Universi¬
täten bei, mit denen er scharf ins Gericht geht und denen er vorwirft, daß sie
der technischen Kultur das „Brandmal des Barbarismus" aufgedrückt hätten.
Als Ideal schwebt ihm eine Vereinigung unserer Universitäten mit den Tech¬
nischen Hochschulen vor; solange sich diese aber nicht verwirklichen läßt, sollen
die ersteren wenigstens an einer harmonischen Verschmelzung alten deutschen
Geisteslebens mit der jungen technischen Intelligenz mitarbeiten und so den
tragischen Zwiespalt im deutschen Geistesleben beseitigen helfen.
Ähnliche Stille wie bezüglich der Hochschulreformen herrscht auch hinsichtlich
der Zukunftsgestaltung des studentischen Lebens, der „großen Saatzeit für das
eigene wie für des Vaterlandes Zukunft", wie es Professor Adickes in der
einen Tübinger Schrift bezeichnet. Diese Ruhe ist einesteils darauf zurückzu¬
führen, daß die Hauptträger des Stuoententums, die akademische Jugend, zum
größten Teil im Felde steht und für viele das sonst so vertraute oder hei߬
ersehnte Hochschulleben wie mit einem Vorhänge verdeckt ist, der vorläufig noch
lange niedergelassen bleibt. Andernteils mag auch der Wunsch lebendig sein,
die alten vorhandenen Gegensätze und Spannungen zwischen den studentischen
Parteien nicht hervortreten zu lassen und den bestehenden Burgfrieden nicht zu
brechen. In der Hauptsache finden in der akademischen Presse nur Gegenwarts¬
fragen von geringerer Bedeutung wie z. B. die des Farbentragens während
des Krieges eingehendere Besprechung; aber auch das Problem der Unterstützung
kriegsbeschädigter Akademiker sowie das der Fortbildung während der langen
Kriegszeit in der Heimat und in der Fremde, die Schaffung von Kriegshoch¬
schulkursen und Ähnliches treten allmählich mehr hervor. Dagegen verschwinden
naturgemäß andere Fragen, die vor der Mobilmachung zum Teil die Gemüter
sehr erhitzten, zunächst völlig von der Tagesordnung wie die Frage des Sports
und die des studentischen Wohnens.*) Was sich im übrigen an Verbesserungs-
vorschlügen in der Broschürenliteratur wie in den studentischen Zeitungen geltend
macht, ist durchaus allgemeiner Natur. So wünscht der Rottenburger Bischof
Dr. von Keppler („Unter deutschen Eichen"), daß in Zukunft „das kurze akade¬
mische Dasein nicht auf den schwanken, moorigen Grund des Genießens. träger
Sinnlichkeit, niedriger Lüste" gestellt werde, sondern „einzig und allein auf den
Felsengrund der Pflicht", daß „der Religion an unsern Universitäen wieder
das volle akademische Bürgerrecht zugestanden werde", daß der Gemeinsinn
mehr gepflegt und der Alkohol wirksam bekämpft werde.
Eine durchgreifende Änderung in der Gruppierung der Studentenschaft ist
nach dem Kriege kaum zu erwarten. Wohl alle Teile der akademischen Jugend
haben heftige Erschütterungen erlitten und werden Zeit brauchen, um sich zu
erholen, aber im großen und ganzen dürften sie sich in ihrer Eigenart in die
Friedenszeit dank ihrer Organisation hinüberretten. Den schwersten Schlag
haben zweifellos die auf internationale Studentenverbrüderung abzielenden
Bewegungen erhalten, wie sie in den bei der akademischen Jugend bisher
wenig heimischen „Internationalen Studentenvereinen" und in den noch in
den Anfängen steckenden Abzweigungen des „Christlichen Studenten-Welt¬
bundes" zum Leben strebten. Von den Erschütterungen, die dem letzteren
widerfuhren, gibt Pfarrer Humburg einen eingehenden Bericht, an dessen Schluß
er nach berechtigter Polemik gegen die Auslandspresse den deutschen Standpunkt
ruhig, aber nachdrücklich darlegt.
Ganz zweifellos wird nach dem Kriege das studentische Korporationswesen
weiterleben, wenn es sich auch in mancher Hinsicht wandeln dürfte; dagegen
läßt sich heute noch nicht voraussagen, in welcher Form die jüngeren Bewegungen
wie die des Freistudententums. der Freischaren und der Freideutschen sich in der
Zukunft erhalten und welche Kraft die neu aufkommenden Strömungen wie die
von Hans Binder und Franz Sachs laut verkündigte antifeministische entwickeln
werden. Ein Aphorismus der Schrift: „Wenn es gilt fürs Vaterland" rühmt
den Korporationsgeist und das Korporationswesen. „Wir waren nicht ein
bloßer Klub, heißt es dort, der einige gemeinsame Abende auf seinem Programm
hatte, sondern ein festes Organon." Mit warmen Worten tritt auch der Freiburger
Prorektor Professor von Below im „Weihnachtsgniß 1915" für die Forterhaltung
altüberlieferten Studententums ein, das während des Weltkrieges in dem Tübinger
Professor Adickes und dem Leipziger Professor Götz ungemein scharfe Kritiker
gefunden hatte. „Die alten Symbole studentischer Landsmannschafts- und
Ordensverbände, sagt von Below, wie sie sich in den Farben der Bunter,
in Wappen und Zirkeln, den Inhalt wechselnd, bis auf unsere Tage erhalten
haben, die Erinnerungen an die Stellung des Hochschülers als Ritter und
Edelmann, wie sie sich in der Führung der Schärpe und des Schwertes äußern,
die Spuren der historischen Kämpfe um die akademische Freiheit, das köstlichste
Gut unserer Studentenschaft, welches sie in der damit verbundenen Selbst-
verantwortlickikeit über alle ausländischen Studentenschaften erhebt und verpflichtet,
wie sie sich in Liedern, Sitten und Gebräuchen in die Kreije unserer Korpo¬
rationen und sonstigen studentischen Verbände gerettet haben, sie alle wollen wir
aufs treuste pflegen und nach dem Kriege erst recht wieder zum lebendigen
Ausdruck bringen. Unser Volk ist nicht so reich an historischen Symbolen, daß
es sich mutwillig auch nur des kleinsten entäußern darf. Die alles verneinenden
Kritiker des studentischen Farbentragens, der studentischen Sitten, des deutschen
Korporations- und Verbindungslebsns sind über den erzieherischen Wert all
dieser Dinge viel zu wenig unterrichtet. Gute Ratschläge ernst nachdenkender,
die akademische Jugend liebender Männer seien auch von ihr stets gehört und
beachtet. Aber der Spötter erwehre sie sich."
Das studentische Gemeinschaftsgefühl ist durch das gemeinsame Leben,
Leiden, Kämpfen und Streben im Felde stärker geworden als früher; man hat
auch die Vertreter anderer Richtungen, die man sonst verachtete und verfehmte,
achten und schätzen gelernt, und empfindet, wie das akademische Leben unsichtbar
sonst feindliche Brüder umschlingt. „Ich kenne Euch nicht, Ihr kennt mich nicht,
schreibt ein Student aus dem Feldes, und doch fühle ich stärker denn je das
Band, das alles umschlingt, was in wahrer Erkenntnis der schönen Aufgaben,
der großen Berufung unser aller, die wir uns die akademische Jugend nennen,
wie vordem im Frieden so jetzt im Kriege restlos seine Arbeit und seine Kraft
dem Vaterland und der Nation schenkt." Und ein anderer schreibt: „Möge die
Scheidung zwischen Korporations- und Freistudenten sowie jegliche konfessionelle
Spaltung in Zukunft unterbleiben." Und zukunftsverheißend ist vielleicht die
mehrfach erhobene Forderung einer stärkeren Vereinheitlichung des studentischen
Lebens und eines Ausgleichs der oft recht künstlichen Gegensätze, die auf reli¬
giösen und sozialen Unterschieden beruhen. Einen schönen Ausdruck hat diesem
Wunsche der Jenaer Professor Thümmel gegeben, der auf die Schaffung einer
neuen idealen Burschenschaft hofft, in welcher tels gleichberechtigte und unter
gemeinsamem Ehrengericht stehende Gruppen die bisher feindlich geschiedenen
Teile der Studentenschaft gemeinsam nebeneinander wirken, und „des heißen
Kampfes geistigen Ertratt an innerlichen Gütern für die Entwicklung des studen-
tischen Lebens" sichern. Und eine Gruppe scheint ihm zur Erreichung dieser
Ziele besonders geeignet, und an sie wendet er sich mit Nachdruck: „Möchte die
Deutsche Burschenschaft", so ruft er aus, „auch dazu mit aller Kraft mitwirken
und sich bei diesem friedlichen, aber nicht weniger mühevollen Einsetzen aller
Kräfte der burschenschaftlichen Vorfahren von 1815 würdig erweisen." Und
tatsächlich hat während des Weltkrieges die Deutsche Burschenschaft einen wichtigen
Schritt vorwärts getan, um eine einheitliche Zusammenfassung der Studenten¬
schaft anzubahnen. Von ihr ging der große Gedanke des Akademischen Hilfs-
bundes aus. der bisher schon eine segensreiche Fürsorgetätigkeit für kriegs-
beschädigte Akademiker entfaltet hat. Die wertvolle Weiterarbeit dieses Bundes
ist nach dem Kriege nur dann gesichert, wenn die in ihm vertretenen Studenten,
gruppen sich nicht gegenseitig wieder in unschöner Weise verfehmen oder in
unüberbrückbaren Gegensatz zueinander treten, sondern zu gemeinsamen großen
sozialen Aufgaben sich die Hand reichen. Daß die Einordnung der einzelnen
studentischen Zusammenschlüsse als „dienender Glieder" in ein großes Ganzes
auch für die akademische Jugend keine Unmöglichkeit ist. zeigen die bereits vor¬
handenen Studentenausschüsse, zu denen mit Beginn des Weltkrieges nach langen
Bemühungen auch der an der Universität Berlin hinzugetreten ist. und vielleicht
hat gerade der Weltkrieg der Studentenschaft klar vor Augen geführt, welche
Kraft und Bedeutung einer guten Gesamtorganisation innewohnt, und was für
große Leistungen durch sie allein möglich werden.
Überblickt man zum Schluß zusammenfassend das gesamte akademische
Leben der Gegenwart, wie es auch in der Kriegsliteratur nach Gestalt und
Geltung ringt, so erkennt man. daß es Lehrer und Jünger der Hochschule
trefflich verstanden haben, das Wertvolle aus der Vergangenheit in die Zukunft
durchzuwintern. Nirgends ist ein scharfer Bruch mit der früheren Zeit erfolgt,
im Gegenteil; die organische Weiterentwicklung unseres Hochschulwesens schreitet
trotz des Weltkrieges ruhig und stetig fort. Für all die unverdrossene und
aufopferungsvolle Tätigkeit unserer Hochschulen im Dienste des Vaterlandes
kann es kein schöneres Zeugnis geben als ein Urteil des feindlichen Auslandes,
auf das Professor Götz in seiner schon genannten Schrift hinweist: „Man sagte
einst, so heißt es bei ihm. der preußische Schulmeister habe die Schlacht von
Königgrätz gewonnen; vor kurzem schrieb eine englische Zeitung (^Ke I^arcet).
an die Stelle des Schulmeisters sei jetzt der deutsche Gelehrte getreten und ihm
gebühre im Falle des deutschen Sieges ein wesentlicher Anteil am Erfolg".
Wenn sich nun auch in der vorläufig vorhandenen Literatur etwas überragend
Neues und Großes im Hochschulwesen für die Zukunft nicht ankündigt, so darf
man doch die Erwartung hegen, daß sich das erreichte hohe Niveau unseres
wissenschaftlichen Lebens weiter erhält, und daß unsere Hochschulen imstande
sind, den neu auftauchenden Problemen eines veränderten Europa gerecht zu
werden. Die enge Fühlung, die unsere Wissenschaft und unsere Hochschulen in¬
folge des Weltkrieges mit dem Gesamtleben des Volkes genommen haben, muß
ihnen als köstlichstes Erbteil für die Zeit des kommenden Friedens verbleiben.
Sie sichert sie vor Erstarrung und führt ihnen neue Kräfte zu; sie erhält in
ihnen das Streben, das einst Leopold von Ranke mit den Worten kennzeichnete:
„Nur in beständiger Selbstbesinnung erhalten sich große Bewegungen."
1. Die Technische Hochschule München im Weltkrieg. Vom derzeitigen Rektor
H. v. Schmidt. München, den 1. August 1916. — 2. Kommilitonenl Vom Rektorat
der Technischen Hochschule. München, zur Jahreswende 1916. — 3. Breslauer Hoch¬
schul-Rundschau. 12. Kriegsnummer. Den Breslauer Akademikern unter der Fahne ge¬
widmet. 20. Mai 1916. Breslau, Verlag von W. Finsterbusch. — 4. An die im Felde
stehenden Studierenden der Universität Halle - Wittenberg. Von Professor
Dr. O. Kern, Rektor. Halle, den 10. Februar 1916. — 6. Bericht über die ersten
zwei Kriegssemester der Universität Leipzig, Oktober 1914 bis August 1916.
Herausgegeben für die Kommilitonen im Felde vom Allgemeinen Studentenausschuß. Leipzig
1916. — 6. Rechenschaftsbericht über die Einrichtung eines Verwundetenspitales in der
K. K. Universität. Erstattet im Namen der Spitalskommission des Akademischen Senates und
der Spitalsverwaltung von Dr. Richard Wettstein Ritter von Westerheim, d. Z. Prorektor
der K. K. Universität. Wien 1914. Druck von Adolf Holzhausen. — 7. 1. Nachtrag zum
Rechenschaftsbericht über die Einrichtung eines Verwundetenspitales in der K. K. Universität.
Erstattet im Namen der Spitalskommission des Akademischen Senates und der Spitalsver¬
waltung von Hofrat Professor Dr. R. v. Wettstein. Ebenda 1915. — 8. Ostergruß der
Rheinischen Friedrich - Wilhelms - Universität zu Bonn an ihre Angehörigen
im Felde. Bonn, Ostern 1916. Carl Georgi, Universitätsbuchdruckerei. — 9. Erlangen
in der Kriegszoit, Ein Gruß der Universität an ihre Studenten. Schriftleitung: Pro¬
rektor Professor v. Grützmacher. 1915. Druck der Universitätsdrnckerei E. Th. Jacob in
Erlangen. — 10. Erlanger im Kriege. Ein zweiter Gruß der Universität an ihre
Studenten. Schriftleitung: Professor l). Grützmacher. Erlangen 1916. Universitätsbuch¬
handlung von Theodor Krische. — 11. Unsere Kommilitonenl Weihnachtsgruß 19151
Die Freiburger Hochschule. Mit Zeichnungen von Stück. plin. Gertrud Moritz und Stück.
rer. nat. Johanna Greiner. Freiburg 1916. — 12. Freiburg und der Breisgau im
Krieg. Von Professor or. Franz Doflein. Sonderdruck aus den Süddeutschen Monats¬
heften. 1915.— 13. Gießener Universitätsbilderbuch. Liebesgabe für die im Felde
stehenden Angehörigen der Universität Gießen. Hof- und Universitätsdruckerei Otto Kindt.
Gießen 1915. — 14. Die Teilnahme von Angehörigen der Universität Gießen
am Kriege. Zwei Hefte. Ausgabe vom 31. Dezember 1914 und vom 31. Oktober 1915.
Ebenda 1916. — 15. Der Rektor der Universität Gießen an die im Heere
stehenden Angehörigen der ^.ima mater l^uctoviciana. Gießen, Juni 1916. —
16. Die CiLorßiia ^uZusta ihren Angehörigen im Felde. Göttingen, Weih¬
nachten 1916. Druck der Dieterichschen Universitätsbuchdruckerei (W. Fr. Kaestner). —
17. Greifswalder Universitätskalender. Kriegsausgabe. S-S. Greifswald 1916.
Verlag von Bruncken u, Co. — 18. Ein Weihnachtsgruß der Universität Jena an
unsere Kommilitonen im Felde. Bon Prorektor v. Thümmel. Weihnachten 1915.
Druck von G. Neuenhahn in Jena. — 19. Die Universität Jena während des
Krieges 1914/16. Personalnachweise und Bekanntmachungen, zusammengestellt vom Uni-
Versitätsamt, Zwei Hefte. Jena 1915 und 1916. Ebenda. — 20. Sonnwendgruß.
Ihren im Felde stehenden Kommilitonen am 21. Juni 1916 zugesandt von der Universität
Marburg. Marburg a. d. L. 1916, N. G. Elwertsche Verlagsbuchhandlung (G. Braun). —
21. Kriegszeitung der Universität Tübingen. Den Studenten im Felde gewidmet.
Schristleitung: Professor Dr. Fuchs. Tübingen 1915 und 1916. Verlag Wilh. KloereS. —
22. Weihnachtsgruß der Universität Tüb lügen. Schriftleitung: Professor Dr. Fuchs.
Ebenda 1915. —' 23. Liebe Kommilitonen! Sendschreiben vom Rektor der Universität
Würzburg Professor Dr. Ernst Mayer. Ostern 1916. — 24. Ihren Studenten zum
Gruß! Die Universität Würzburg. Ostern im Jahre 1916. Mit Bildentwürfen von Heinz
Schiestl. — 25. Die Universität Heidelberg ihren Studenten im Feld. Neujahr
1916. — 26. Denkschrift über die Einrichtung von Ergänzungskursen für
Kriegsteilnehmer. Mit einem Gutachten von Gymnasialdirektor Miller (Göttingen).
Universität Göttingen. 1915. — 27. Zusammenstellung über die derzeitigen mutmaßlichen
Aussichten für bayerische Studierende in verschiedenen akademischen Berufen. München, Uni¬
versität, im Februar 1916. — 28. Studentenauszug von Wilhelm Hermanns (Aachen).
Für Klavier mit unterlegten Text komponiert von Josef Schacher (Euskirchen). Heraus¬
gegeben vom Sekretariat sozialer Studentenarbeit. München - Gladbach. — 29. An die
deutsche Jugend im WeltkriegSjahr 1914. Von Eugen Kühnemann. 11. bis
20. Tausend. Leipzig 1914. Verlag von K F. Koester. — 30. Wenn eS gilt .fürs
Vaterland! Ein Kriegsbüchlein für Studenten. Berlin 1915. Ernst Siegfried Mittler
u. Sohn. - 31. Flugblätter an die deutsche Jugend. Ausgegeben von der Berliner
Freien Studentenschaft. Heft 1—12. 1915/16. Jena, Verlag von Eugen DiedenchS. —
32. Vorträge, herausgegeben von der Züricher Freistudentenschaft: Über den Sinn des
Krieges. Von Professor L. Ragaz. 1915. — Die Kulturbedeutung Englands.
Von Professor Dr. Theodor Vetter. 1915. — Die Kulturbedeutung Frankreichs.
Von Professor I. Matthieu. 1915. — Die Kulturbedeutung des deutschen Volkes.
Von Professor Dr. Fritz Medicus. 1915. — Die Kulturbedeutung Rußlands. Von
F. v. Wrangel. 1916. — Neutrale Pflichten und nationale Aufgaben. Von
Professor Dr. O. Nippold. 1916. sämtlich bei Art. Institut Orell Füßli in Zürich. —
33. Kraft aus der Höhe. Ein Hcimatgrusz ehemaliger und jetziger Universitätsprofessoren
an ihre Kommilitonen im Felde. Herausgegeben von Geh. Hofrat Professor Dr. H. Finke.
4. Aufl. Kempten 1915. Verlag der Josef Köselschen Buchhandlung. — 34. Das große
Wecken. Eine Feldgabe für unsere Kommilitonen. Herausgegeben vom Katholischen Ma°
demiker-Ausschuß München. München-Gladbach 1916. Sekretariat sozialer Studentenarbeit. —
35. Aus der Kriegsarbeit der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung
(Der deutsche Studentendienst). Von Dr. Gerhard Niedermeyer. Berlin 19.16 (Sonder¬
abdruck, 8 Seiten). — 36. Deutsche Weihnacht. Eine Liebesgabe deutscher Hochschüler.
Kassel 1914. Furche-Verlag. — 37. Deutscher März. Zweite Liebesgabe deutscher Hoch¬
schüler. Ebenda 1915. — 38. Das Johannes-Evangelium. Dritte Liebesgabe deutscher
Hochschüler. 2. Aufl. Mit einer Einleitung von Professor Dr. O. Seeberg und 16 Bildern
von Professor W. Steinhausen. Ebenda 1915. — 39. Unter deutschen Eichen. Vierte
Liebesgabe deutscher Hochschüler. Ebenda 1916. — 40. Heliand. Ein Suchsenscmg aus
dem neunten Jahrhundert. Fünfte Liebesgabe deutscher Hochschüler. Mit Buchschmuck von
Jda C. Stroever (Bremen). Ebenda 1916. — 41. Vom deutschen Michel. Sechste
Liebesgabe deutscher Hochschüler. Ebenda 1916. — 42. Teure Heimat in der Ferne,
sei gegrüßet Vierundzwanzig teils unbekannte Handzeichnungen Ludwig Richters. Liebes¬
gabe deutscher Hochschüler Ur. 7. Mit einem Geleitwort von G. I. Kern. Ebenda, Weih¬
nachten 1916. — 43. Moritz v. Schwind und Karl Spitzweg: Bilder der Heimat.
Je sechs farbige Blätter nach Karl Spitzweg und Moritz v. Schwind, vier einfarbige Blätter
nach Moritz v. Schwind. Liebesgaben deutscher Hochschüler. 2. Kunstgabe. Ostern 1916.
(Die Mappe ist eine Schöpfung der Universität München. Ihre Widmung verdankt sie
Sr. Magnifizenz Geh. Rat Professor Dr. v. Grauert. Sie wurde zusammengestellt von
Geh. Rat Professor Dr. Wölsflin.). Verlag von F. Bruckmann, München, dann im Furche-
Verlag, Kassel. — 44. Herr, unser Trutzl Vierzig altdeutsche Kirchengesänge für Männer¬
chor. Herausgegeben von Bruno Nöthig. Mit neun Bildern von Rembrandt. Liebesgaben
deutscher Hochschüler. 3. Kunstgabe. Berlin-Kassel 1916. Furche-Verlag. — 46. Vor uns
der Tag. Eine Gabe deutscher Studentinnen in großer Zeit. Ebenda 1916. — 46. Die
deutsche Jugend und der Weltkrieg. Von Friedrich Wilhelm Foerfter. Ebenda
1916. — 47. Der deutsche Student im Felde. Ein Echo auf die erste Liebesgabe
deutscher Hochschüler. Ebendci1916. — 48. Kriegsbriefe deutscher Studenten. Heraus¬
gegeben von Professor Dr. Philipp Witkop. Verlag von Friedrich Andreas Perthes. Gotha
1916. — 49. Kriegsbriefe deutscher Studenten. Von Professor or. Philipp Witkop.
Sonderabdruck aus der Monatsschrift: „Der Panther". Leipzig 1916. Panther-Verlag. —
60. Wissenschaft und Volkstum. Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des
Deutschen Kaisers, König von Preußen Wilhelm des Zweiten in der Aula der Kgl. Christian-
Albrechts-Universität am 27. Januar 1916. Von Professor or. Otto Lubarsch. Kiel 1916.
Kommissionsverlag der Universität Kiel (Lipsius u. Tischer). — 61. Erklärung der Hoch¬
schullehrer des Deutschen Reiches. Berlin, den 16. Oktober 1914 (28 Seiten). Für
die Nichtigkeit: Professor Dr. Dietrich Schäfer. Zu beziehen vom Kaiser-Wilhelm-Dank.
Berlin V/. 36. — 62. In den zweiten Kriegswinter. Rede zum Antritt des Rektorates
der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Gehalten in der Aula am 16. Oktober
1916 von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Berlin 1916. norddeutsche Buch¬
druckerei und Verlagsanstalt. — 63. Rede zur Feier des hundertjährigen Geburts¬
tages des Fürsten Bismarck, gehalten in der Aula der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Uni¬
versität am 1. April 1916 von Ulrich von Wilamowitz - Moellendorff. Berlin 1915.
Universitätsbuchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke). — 64. Reden aus der
Kriegszeit von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. 2. Heft. IV. Militarismus
und Wissenschaft. Berlin 1916. Weidmcmnsche Buchhandlung. — 66. Krieg und
Wissenschaft- Rede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der Kgl. Akademie der Wissen¬
schaften am 14. November 1914 von K. Th. v. Heigel. München 1914. Verlag der K. B.
Akademie der Wissenschaften. In Kommisston des G. Franzschen Verlags (I. Noth).
56. Der Krieg und die Universität. Rede bei Antritt des Rektorates am 31. Oktober
1914 gehalten von Albert Köster. 1914: Im Insel-Verlag zu Leipzig (^ Rektorats-
Programm. Leipzig 1914. Druck von Alexander Edelmann). — 57. Ulrich v. Wila-
mowitz und der deutsche Geist 1871/1915. Von Haus Binder. Tempelhof-Berlin
1916. Verlag von Hans Binder. — 58. Die Intellektuellen und die Geistigen.
Von Hans Binder. Ebenda 1916. — 59. Der Krieg und die wissenschaftliche
Arbeit. Rede Sr. Mcignifizenz des Prorektors Geh. Hofrats Professor Dr. A. Cartellieri,
gehalten in der Studentenversammlung am 31. Oktober 1914. 1914. Sonderabdruck aus
der Jenaischen Zeitung Ur. 259 u. 260. — 60. Die Wartende Hochschule. Akademische
Kundgebungen von Ernst Jo öl und Erich Mo Hr. Jena 1916. Verlegt bei Eugen Diederichs. —
61. 1813 — Fichte — 1914. Rede am 23. Oktober 1914 von Prozessor or. Alois Riese.
Berlin 1914. Carl Heymanns Verlag. — 62. Fichte und der deutsche Geist von 1914.
Rede, gehalten am 28. Februar 1915 von Dr. Hermann Reineke-Bloch, d. Z. Rektor der
Universität Rostock. Verlag von H. Warkentiens Buchhandlung. Rostock 1915. — 63. Kann
das Studium unserer Akademiker abgekürzt werden? Eine Zeitfrage von Dr. Ed.
Hattler, Rechtsanwalt in Hamburg. Mit einem Vorwort des Geh. Hofrats Professor
Dr. Hubert Engels in Dresden. Hamburg 1916. Verlag von C. Bopser. - 64. Unsere
Kulturaufgaben. Ein Wort an denkende Menschen. Den deutschen Hochschülern, ins¬
besondere den Kommilitonen an den Technischen Hochschulen gewidmet von Diplomingenieur
P. Berger. Kassel 1915. Furche-Verlag. — 65. Der christliche Studentenweltbund
im Kriege. Von Pfarrer Paul Humburg. Ebenda 1915. — 66. Der bürgerliche
und der geistige Antifeminismus. Von Hans Bind er. Tempelhof-Berlin 1916.
Verlag von Hans Binder. — 67. Rede an die Kameradinnen. Von Franz Sachs, Kriegs¬
freiwilliger. Ebenda 1916. — 68. Akademischer Hilfsbund. Berlin. Werbeschrift. 8. Aus¬
gabe (Aufruf, Richtlinien und Ziele, Satzungen usw.). Juli 1915. — Zusammenstellung
derjenigen staatlichen Zuwendungen, welche kriegsdienstbeschädigten Studierenden nach Ma߬
gabe der bestehenden Gesetze und Dienstvorschriften bewilligt werden können. August 1915. —
Niederschrift der Arbeitsausschußsitzung des Akademischen Hilssbundes vom 24. Oktober
1915 im Reichstagsgebäude zu Berlin. November 1915. — Halbjahrsbericht des Vor¬
standes des Akademischen Hilfsbundes. E. V. Erstattet von Dr. Hugo Böttger und Dr. Erich
Uetrecht. Berlin, den 15. Oktober 1915. — Niederschrift der 4. Arbeitsausschußsitzung
des Akademischen Hilfsbundes vom 11. Dezember 1915 im Abgeordnetenhause zu Berlin. —
Geschäftsbericht des Akademischen Hilfsbundes über das erste Geschäftsjahr, vom Tage
seiner Gründung, L.April, bis 31. Dezember 1915. — Niederschrift der 5. Arbeitsausschuß-
sttzung des Akademischen Hilfsbundes vom 25. März 1916 im Neichstagsgebäude zu Berlin. —
Niederschrift der 6. Arbeitsausschußsitzung des Akademischen Hilfsbundes am 1. Juli 1916.
69. (Nachträglich:) Mein Kriegsfreiwilliger. Tagebuch eines Studenten von seinem
Vater. Bielefeld und Leipzig 1915. Velhagen und Klasing.
Alle» Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt Werden kann.
ne
Nu hilfst den Krieg verkürzen
üönere privatsLNule mit Internat (2. ?t. VI
Leise /statten -xviscnen Wasser unä Walä setir Zesunä ZeleZen.
Vesonäers tur scruter, ale spe?. k^öräerunZ unä OKnut veäürken.
Qrünälicner Unterrient in Kleinen Klassen unä Kursen. VorxüZlicne
VerMeZunZ. IVWn verlange Prospekt.
Wir bitten die Freunde derGrenzboten
das Abonnement zum IV. Quartal 1916
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanftalt entgegen. Preis 6 M.Verlag der
Gren^boten
G. in. b. Ä.
Berlin L^V n.
^.
is Fedenjka Neugodow zum Kollegienrat ernannt wurde, tele¬
graphierte sein Mamachen, die ihre Gelder im Auslande verlebte,
zur Beförderung ihres Sohnes: „Luis toute tisre boni3 con-
8eitler colleZe venäsx Ku3sie vencle? vite arZent envovex
8UI8 Ä 8LL." Onkelchen Fedenjka, der dieses Telegramm er¬
hielt, schüttelte den Kopf, da er nicht verstehen konnte, was die merkwürdigen
Worte bedeuteten „venae? Ku88le, verlas? vite", „verkaufe Rußland, ver¬
kaufe es so schnell als möglich." Schließlich aber begriff er, daß es sich um
das Loch Ruskina, das Familiengut der Neugodows handelte, und daß der
Telegraph sich geirrt hatte, als er von ihm den Verkauf ganz Rußlands ver¬
langte. „Aber was für ein bedeutungsvoller Irrtum", rief Onkelchen, als er
diese Entdeckung gemacht hatte. > .
Diese niedliche Geschichte, die für die russische Empfindungswelt kenn¬
zeichnender ist, als manches lange Buch, ruft die „Rußkija Wjedomosti" ihren
Lesern ins Gedächtnis zurück zur Charakteristik der Epoche, die Nußland zur
Zeit durchlebt. Die Zeitung denkt dabei insbesondere an die abenteuerliche
Verhaftung jenes Manassewitsch-Manuilow, der es vom Polizeispitzel und
Provokateur der Pariser russischen Botschaft zum politischen Emissär Rußlands
in Schweden, zum „Diplomaten" der „Nowoje Wremja", zum Beamten für be¬
sondere Aufträge bei dem Ministerpräsidenten Stürmer gebracht hatte. Er
hatte in seinem wechselvollen Dasein die Grundbedingung, die Losung richtig
erkannt, unter der man seinem Vaterlande am besten nützen konnte. VencZex
I?u83le, venae? vite! Mit dem Chor der Suworinjünger, jener „danae
ac kau88cur8", wie sie Sasonow einmal genannt hat, hatte er sein Schlacht¬
geschrei angestimmt. Unter diesem Signum feierte der Liebling der Peters¬
burger Ballerinen, der Freund der Mächtigen, seine Triumphe. Alles nützte
er für sein Geschäft aus, der im Gange befindliche Patriotismus lieferte ihm
die besten Gimpel für seine Sprenkel. Heute abend schreibt Herr Rennikow oder
Herr Resanow in der „Nowoje Wremja" über die verdächtig deutschfreundliche
Firma Karl Karlowitsch S..., morgen präsentiert Manuilow pünktlich seinen
Wechsel im Geschäftslokal. Das Geschäft blüht und die Gelder fließen. Im
Bären und bei Cubae kostet die Flasche französischer „Limonade" 40 Rubel.
Da heißt es verdienen. Aber schließlich geht der Krug solange zu Wasser, bis
er bricht. Manuilow, der kluge und weltkundige Mann, kam an den Falschen.
Er soll sich an den Grafen Tatischtschew, Direktor der Moskaner Unionbank
und Ministerkandidat, herangewagt haben. Der verstand keinen Spaß, oder
vielmehr verstand ihn besser als Manassewitsch-Manuilow. Die 50 000 Rubel,
die der Gauner forderte, wurden Nummer für Nummer im Beisein von
Zeugen notiert, am nächsten Tage lieferte eine Haussuchung die Scheinchen
alle ans Tageslicht. Man hatte Herrn Stürmer benachrichtigt, der gerade
noch Zeit hatte, den einflußreichen Mann, den Freund hoher Personen, seines
Beamtencharakters zu entkleiden.
Venäs? Kussie. . . Manuilow ist nur ein Fall unter vielen. Er ist
nur eine Illustration. Rußland wird im kleinen verkauft und im großen, im
wirklichen und übertragenen Sinne. Man könnte lange Geschichten über das
verkaufte Rußland schreiben.
Da gibt es eine Brot- und eine Mehlnot fast in allen großen Städten. In
Petersburg kriegt man kein Weißbrot mehr, eine Art Kleister stellen die Bäcker
her, aus dem sie ein übelschmeckendes weißliches Gebäck bereiten. Während
der Ministergehilfe Glinka feierlich erklärt, von der alten Ernte sei noch
über eine halbe Milliarde Pud vorhanden, stehen in Moskau vor allen Läden
lange Reihen von Leuten, um ein halbes Pfund Schwarzbrot zu erhalten. Der
Oberkommandierende der Stadt erläßt einen Aufruf an die hungernde Be¬
völkerung, der ganz an die Zeiten Trepows erinnert. Zwar drohte er nicht,
wie dieser damit, daß er seine Truppen angewiesen habe „Mronow ne
snalAtj" (die Patronen nicht zu sparen), aber er wies für den Fall von Un¬
ruhen mit nicht mißverständlicher Gebärde auf den Kriegszustand hin. Die
Moskaner „Wetschernija Jswestia" vom 10. September sprechen es deut¬
lich aus:
„Alles ertrugen wir, alle Teuerungssorgen. Nun stehen wir vor der
größten Heimsuchung: wir hungernl Wir haben weder Milch noch Eier
noch Butter noch Fleisch. Seit gestern sind Zucker und Brot aus Moskau
verschwunden. Zucker und Brot sind für Moskau Luxusmittel... Die
hungernde Bevölkerung vermag nicht, diesen Bund zwischen bösem Willen
und Talentlosigkeit zu beseitigen. Gegen diesen Bund müssen wir einen
langen, hartnäckigen und wohlüberlegten Kampf beginnen. Allerdings ohne
Aufreizung zu Unruhen, die jetzt nicht am Platze wären. Gegen diesen
Bund muß die Gesellschaft zur Selbsthilfe schreiten. Zu diesem Zwecke
müssen diejenigen Gesetze, die die schwachen Elemente den stärkeren grätenlos
ausliefern, abgeschafft werden."*)
Das ist keine Schamade mehr, das ist eine Fanfare, und wie es in
Moskau ist, so ist es in Tambow, in Nischny, in Saratow und sogar im
kornreichen Süden, in Jekaterinoslaw. Und während dort die Mengen hungern,
halten in den großen Mühlen die Spekulanten das Mehl zurück, in Erwartung
der kommenden höheren Preise, über die ganz Nußland — mit Ausnahme der
Bobrinskyleute in Aufregung geraten ist.
„Wir sind alle, so erklärte ein Olschläger in Nowotscherko.öl, abgefeimte
Spekulanten, nicht feste Preise (der russische Ausdruck für Höchstpreise) sind
für uns nötig, sondern feste Gefängniswände. Setzt uns alle hinter Schloß
und Riegel und haltet uns dort möglichst lange Zeit fest, wir werden dann
schon eine Taxe ausarbeiten, die sowohl für uns wie für die Bevölkerung an¬
gemessen ist." —
In Moskau stehen die Fleischpolonäsen von früh bis abend und von
abend bis früh, schlimmer, weit schlimmer, als es bei uns jemals der Fall
war. Ich entnehme der „Njetsch" vom 19. September folgende Beschreibung:
„Von Freitag vier Uhr stand die Polonäse. Um elf Uhr abends kam be¬
rittene Schutzmannschaft und jagte sie auseinander. Mancher verlor dabei im
Getümmel seinen Schal, sein Tuch, seine Schlüssel. So erzählte man wenigstens
am nächsten Morgen. Um drei Uhr Nachts, also vier Stunden nach dem
Auseinanderjagen fingen wiederum Frauen an, sich dem Laden zu nähern.
Zuerst schüchtern, dann dreister, begannen sie die Polonäse zu bilden, die um
sieben Uhr morgens, als sich endlich der begehrte Schlächterladen öffnete, be¬
trächtliche Dimensionen angenommen hatte. Über die Größe der Polonäse
kann man danach urteilen, daß die von sechs Uhr früh Stehenden erst um
drei Uhr nachmittags ihre zwei Pfund Fleisch erhielten. Am Sonnabend war
der Laden bis um acht Uhr abends geöffnet, aber beim Zuschließen bildete
sich schon wieder eine neue Polonäse, die die Nacht über wuchs. In dieser
Nacht wurde niemand weggejagt. Um sieben Uhr Sonntags wurde der
Laden geöffnet, und als er um acht Uhr abends geschlossen wurde, da schrien
über hundert Menschen, daß es sür sie nicht gelangt hatte und sie blieben die
folgende Nacht über in der Polonäse stehen. In der Nacht fiel ein heftiger
Regen und die Temperatur ging bis auf vier Grad herunter. Die Leute
wurden bis auf die Haut durchnäßt und ein Teil von ihnen lief weg. Aber
als sie am Morgen unter dem feinrieselnden Regen zurückkamen, fanden sie
natürlich ihre Plätze besetzt. Am Montag um sieben Uhr war ich neugierig
und ging sehen, was wohl am Laden los war. Ich fand in der Polonäse
über vierhundert Menschen, von denen die Hälfte die ganze Nacht ausgehalten
hatte, und ungefähr fünfzig waren der Rest von der Sonntagspolonäse, die
der Regen auseinandergejagt hatte.....Wie viele Leute müssen mit ihrer
Gesundheit für diese zwei Pfund Fleisch bezahlen. Wie viele alte — und
ihrer waren viele dabei — kürzen ihr Leben um Jahre dadurch ab! —"
Und während das in Moskau passiert, in „dem reichsten Lande der Welt,
das jährlich auf dem Weltmarkt Milliarden Pud Nahrungsmittel warf," wie
es in dem Hilferuf der Moskaner Stadtverordneten heißt, fahren die Spekulanten
auf den entferntesten Dörfern Sibiriens herum, treiben dem Bauer die letzte
Kuh aus dem Stalle unter der Drohung, daß das Militär sie requirieren
werde, falls sie nicht gutwillig verkauft würde.
Das Schlachten von Kälbern ist verboten, um den Nachwuchs des schon
allzusehr gelichteten Viehbestandes zu sichern, aber der „Kälbergeist" fuhrt durch
das russische Dorf. Es ist Sonntag und die Bäuerinnen möchten gern einen
guten Braten essen. Langsam lüftet der Schlächter seine Wagendecke und läßt
die Neugierigen hineinblicken. „Aber das ist doch Kalbfleisch", — ruft eine
der Unvorsichtigen. Bald wird sie zum Schweigen gebracht. „Nur junges
Rind gibts bei mir" und die Bäuerinnen haben bald den Wagen geleert. —
Venciox Ku88le, venas? vite. —
Eine neue Kriegsanleihe ist in Rußland im Gange. Von den zwanzig
Milliarden Rubeln Kriegsausgaben sind nur 4,6 Milliarden bisher in festen
Anleihen untergebracht und Bar! macht ein neues Experiment, und versucht das
Papier, mit dem das Land überschwemmt ist, einzudämmen und die Ausgaben,
wenn auch nur eines Monats (der Krieg kostet jetzt täglich 40 Millionen Rubel)
festzulegen. Die bisherigen Anleihen waren in dieser und mancher anderen
Beziehung ein totales Fiasko. Statt vom Papiergeld zu entlasten, machten sie
die Ausgabe immer neuer Noten notwendig und Bark erweitert zum dritten
Mal auf Grund des berüchtigten Artikels 87 der Verfassung das Emissions¬
recht der russischen Staatsbank. Am 1. September gab es 7,1 Milliarden
russischen Papiergeldes auf dem Markte. Bald wird es mehr geben, und der
Rubelkurs, dessen Disagio an der Newyorker Börse zur Zeit 41°/„ beträgt,
wird weiter fallen. Wie ist denn die Technik der russischen Anleihe? Ganz
einfach. ^ jeder Anleihe wird den russischen Privatbanken aufgepackt. Die
aber hüten sich das Geld etwa aus ihren Depositen zu zahlen. „Sie
lombardieren zu Vorzugsbedingungen die Zertifikate der neuen Anleihe bei der
Staatsbank und bewirken die Zahlungen auf die Anleihe in der Hauptsache aus den
von der letzteren vorgeschossenen Mitteln" („Roon Ekonomist" Ur. 36). Kraft dieses
Verfahrens konnten die russischen Anleihen den Verkehr nicht um einen einzigen
Papierrubel erleichtern und Bark muß zusammen mit der Ankündigung der
neuen Anleihe die Emissionsmarge von neuem erhöhen. Aber wohin wandert
das Geld? Entweder in den Strickstrumpf — oder zum Börsenspiel. „Man
muß mit Bedauern feststellen," heißt es im „Ekonomist", „daß das Privatkapital
zum großen Teile sich von den Kriegsanleihen zurückhält, daß es sich dem
Börsenspiel widmet und bisweilen sogar geradezu abenteuerliche Unternehmungen
den Kriegsanleihen vorzieht." Die „Nowoje Wremja" konstatiert in einem
interessanten Aufsatz vom 13. September, daß Rußland das einzige Land ist,
wo sich eine starke Gründertätigkeit während des Krieges bemerkbar macht.
„Wenn die Sache in dem bisherigen Tempo weiter geht, so wird die Gründer¬
tätigkeit im Jahre 2 Milliarden Rubel erreichen. Die bekannten russischen Börsen¬
papiere stehen glänzend. Ich nenne ein paar Unternehmungen, die auch dem
deutschen Leser bekannt sind. So stiegen:
Ein Taumel hat die Petersburger Börse erfaßt. Venae? Kussie,
venas8 vite!
Manchem Russen mag ein anderer Gedankengang in diesem Zusammenhang
nahe liegen. Ich meine das Verhältnis Rußlands zu England.
Zunächst wiederum auf finanziellem Gebiete. Der britische Botschafter in
Petersburg, Herr Buchanan, hat neulich den russischen Freunden eine Liste der
Wohltaten vorgehalten, die England während des Krieges Rußland geleistet hat.
Taktvoll, wie er war, ist er auch auf das Geld zu sprechen gekommen, das England
seinem Verbündeten vorgestreckt hat. Wie Coriolan seine Wunden entblößt, so
zeigte Buchanan auf das Soll und Haben in dem englisch-russischen Hauptbuche:
„Ich will die Ziffern nicht nennen, Hunderte von Millionen Pfunden,
welche England Ihrer Regierung zur Verfügung stellte, aber ich täusche mich
wohl nicht, wenn ich annehme, daß wenn die russische Gesellschaft diese
Ziffern erfahren wird, sie die Loyalität und Freigebigkeit ihres Verbündeten
anerkennen muß."
Vor mir liegt ein Aufsatz des bekannten russischen linksstehenden Politikers
Peschechonow in den „Rußkija Sapiski", der die russische schwebende Schuld an
England auf Grund des russisch-englischen Finanzabkommens auf 7 Milliarden
Rubel beziffert. Peschechonow fährt fort:
„Zugleich mit dieser Hilfe ... hat sich England verpflichtet, uns unter
der Bedingung mit Gold zu versehen, daß dieses Gold die ganze Zeit in den
Kellern der englischen Bank bleibt, aber bei Schluß des Krieges unverzüglich
an das uns leidende England zurückgegeben wird. Solches Gold im Ausland
hat die Reichsbank nach dem Ausweis von 23. Mai jetzt über 1400 Millionen
Rubel. . .*) Auf diese Weise sind wir an „Gold im Ausland jetzt erheblich reicher
geworden und haben dort nur etwas weniger als im Inlande (1540 Millionen
Rubel). Dieses ausländische, in Wirklichkeit nur nominelle (auf dem Papiere
stehende) Gold ist der Reichsbank nötig, um im Innern weiter Papiergeld
ausgeben zu können . . .".
Ist wirklich, wie es hiernach den Anschein hat, von England die Be¬
dingung der Rückgabe in Gold nach Beendigung des Krieges an Rußland
gestellt worden, so ist in Wahrheit kein Gold mehr in den Kassen der russischen
Staatsbank vorhanden, sondern alles russische Gold gehört England und
Buchanan hatte wirklich Anlaß, sich dieser Wohltaten zu rühmen ... — Venae?
l?u88le!
Einer der interessantesten Aufsätze, die in der letzten Zeit über das russisch¬
englische Zusammenarbeiten geschrieben worden sind, ist zweifellos der von
Migulin im „Nowy Ekonomist" vom 2. September. Migulin ist ein naher Ver¬
wandter von Alexejenko, dem Präsidenten der Budgetkommission der russischen
Duma, also ein sehr unterrichteter Mann. Er steht anscheinend ganz auf dem
Boden der englisch-russischen Freundschaft. Interessant ist seine Darstellung,
daß sich England nur unter der Bedingung Rußland gegenüber zum Mit¬
gehen verpflichtet hat, daß Rußland keinen Sonderfrieden schließt. Ist
das richtig, so ist die englische Politik wirklich sehr klug und vorausschauend
gewesen. Migulin aber fühlt sich verpflichtet, über die Zukunft zu sprechen,
über die glückliche Zukunft, die kommen wird, wenn Deutschland vernichtet ist.
Und was er da sagt, ist von hohem Interesse, weil es die Furcht und zugleich
die Naivität zeigt, die noch jetzt in manchem Russen steckt. Ich zitiere Herrn
Migulin wörtlich:
„Wenn aber Deutschland nicht mehr sein wird, wenn Österreich-Ungarn
in seine Bestandteile zerfallen und die Türkei untergegangen sein wird, wer
wird dann noch Rußland bedrohen? Und wie kann England denn Rußland
bei Lösung feiner Lebensaufgabe, den Ausgang zu dem warmen Meere zu er¬
langen, hinderlich in den Weg treten? Zu welchem Zweck würde England
dies tun wollen? England wird nach dem schweren Kriege ebenso einen
langen Frieden nötig haben wie Rußland.*) Wird England wohl anfangen,
einen neuen großartigen Konflikt vorzubereiten, — und gegen wen? Gegen
seinen Bundesgenossen, der es soeben aus tätlicher Gefahr gerettet und der
von ihm ebenso aus der gleichen Gefahr gerettet wurde?! Alle solche Vor¬
aussetzungen sind für England geradezu beleidigend.(I) England weiß, daß
das heutige Geschlecht des russischen Volkes ganz gut ohne unmittelbare Aus¬
gänge zum Mittelmeere und Persischen Meeresbusen bestehen kann, und daß
Rußland vorläufig keine Vergrößerung seines Gebiets nötig hat. Bei der
gewohnten russischen Bescheidenheit ist Rußland stets bereit, von eigenen Vor¬
teilen zurückzutreten. Aber die künftigen Geschlechter? Kann man wohl dem
künftigen großen Rußland den Ausgang zu den offenen Meeren verschließen,
kann man wohl dem russischen Volke die an seiner heutigen Staatsgrenze ge¬
legenen Wüstengebiete absperren? Das würde eine Vorbereitung zu einem
künftigen neuen großartigen Zusammenstoß bedeuten, wobei für England die
Aussichten auf Erfolg sehr gering sein würden. Und wozu auch? Hat Eng¬
land tatsächlich Alexandrette oder Bender-Abbas nötig? Hat es Armenien
oder das türkische Küstenland am Schwarzen Meere oder Mesopotamien
nötig?**) Die türkische Erbschaft ist groß. England wird seinen Anteil er¬
halten, aber auch Rußland muß seinen Anteil haben. Die Teilung ist keines¬
wegs schwer.
Freilich wird England nicht die russischen Interessen vertreten. Das ist
Sache der russischen Diplomatie. Die russische Diplomatie war in früheren
Zeiten immer bereit, auf russische Interessen zu verzichten. Man braucht
z. B. nur an das Vordringen Rußlands in Zentralasien oder sein Verhältnis
zu Persien zu denken. Wenn Rußland auch jetzt den alten Traditionen folgen
wird, so wird es natürlich keine Vorteile aus dem jetzigen Kriege ziehen.
Schließlich muß man jedoch etwas lernen. Am Ende wird Rußland noch tat¬
sächlich auf den Gedanken kommen, ein unabhängiges oder autonomes Armenien,
Kurdistan, Lasistan usw. zu gründen oder für die Erhaltung der Türkei in
beschnittenem Zustande zu sorgen. Rußland wird vielleicht auf die deutsche
Erbschaft in der Türkei (Rayon der Bagdadbahn) und auf die Ausgünge zum
Mittelmeer und zum Indischen Ozean verzichten. Alles ist möglich. England
aber kommt dabei nicht in Betracht. Es wird uns keine neuen Gebiete und
neue Stützpunkte am Meere aufdrängen.... Daß im mittleren Orient für
uns nicht alles glatt und glücklich von statten geht, zeigt das Verhältnis zu
Persien, welches offenbar feindselig sowohl gegen Nußland wie auch gegen
England gesinnt ist und eine sogenannte Neutralität einnimmt, die für die
Feinde Rußlands sehr günstig erscheint, obgleich es im wesentlichen vollständig
von Rußland und England abhängig ist. Trotzdem sind sowohl die Russen
wie auch die Engländer Persien gegenüber besonders zuvorkommend, unter-
zeichnen Verträge über seine Unabhängigkeit, Unversehrtheit, Unantastbarkeit,
formieren persische Truppen (die später gegen Rußland kämpfen),*) versehen
Persien mit Geldmitteln usw. Persien hätte indessen längst zwischen Rusland
und England geteilt werden müssen. Jedenfalls hätte mit der doppelsinnigen
Haltung dieses in Zersetzung übergehenden Staates, der keineswegs ein un¬
abhängiges Dasein verdient, ein Ende gemacht werden müßen, und England
müßte dabei die Initiative übernehmen, denn es ist an der jetzigen anormalen
Lage der persischen Angelegenheiten mehr schuld als Rußland, da es auf der
Entthronung Schäds Mohamed Ali und auf der Bestätigung einer deutsch¬
freundlichen Regierung bestand.
Über eine zukünftige Gewaltherrschaft Englands, insbesondere über eine
Verwandlung Rußlands in eine englische Kolonie zu reden, ist schon aus dem
Grunde lächerlich, weil England einer solchen Aufgabe nicht gewachsen ist.
England kann im Gegenteil Rußland behilflich sein, sich von der wirtschaftlichen
deutschen Knechtschaft zu befreien, die selbst nach dem glücklichsten Kriege er¬
neuert werden könnte.
Die bei England anläßlich des Krieges gemachten Schulden müssen natürlich
berichtigt werden. Rußland ist nicht imstande, sie zu bezahlen und sie werden
selbstverständlich in dieser oder jener Form dem besiegten Deutschland auferlegt
werden. Jedenfalls erscheint es seltsam (!) von einer Enteignung russischer
Naturreichtümer zugunsten Englands zur Tilgung der Schulden zu reden.
Wird Rußland denn nach einem siegreichen Kriege eine Kriegsentschädigung an
England zahlen?
Überhaupt ist ein größeres gegenseitiges Vertrauen und weniger Hinter¬
gedanken notwendig. Der Feind ist noch sehr stark, und man kann noch an
keine Erbschaft denken. Man muß viribuZ unitis bis zu Ende kämpfen und
sich nicht gegenseitig verdächtigen, Ränke zu schmieden. Rußland und England
ergänzen sich gegenseitig und jede dieser Mächte würde einzeln von Deutschland
ohne Zweifel besiegt werden. Diesen Gedanken muß man festhalten. Beide
Mächte können gegenseitig auf vieles verzichten, wenn nur mit dem Feinde ein
Ende gemacht wird, dessen Kraft unvorsichtigerweise von Rußland selbst ge¬
schaffen wurde."
Ich möchte den Lesern der „Grenzboten" überlassen, selbst ihr Urteil zu
fällen. Die Migulinschen Ausführungen über Persien, Mesopotamien, Syrien
sind zu naiv, als daß sie ein Engländer ohne ein heimliches Lächeln lesen wird.
Inzwischen geht das „englisch-russische Zusammenarbeiten" weiter. „Und Ru߬
land?" fragte der amerikanische Interviewer Herrn Lloyd George. „Rußland
wird bis zum Tode (I) kämpfen", erwiderte der englische Minister.
Venae? Ku88le, venae? vns!
er Weltkrieg hat so mancher Frage des öffentlichen Lebens wie
mit einem Zauberschlage ein neues Aussehen gegeben. Bei näherer
Prüfung ergibt sich allerdings sehr oft, daß die verschiedenen
Probleme an sich wenig verändert sind; richtiger wäre es deshalb,
von einer Belastungsprobe durch den Krieg zu reden, insofern
manche Angelegenheiten, die vorher zu Unrecht als Sache dieses oder jenes
kleineren Kreises betrachtet wurden, nunmehr die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich lenken.
In einer derartigen Lage befinden sich heute die großen Grundprobleme
der Schulerziehung und Schulbildung. Wenn irgendein Ideal, hoch über der
Mannigfaltigkeit aller anderen mehr oder minder berechtigten Sonderwünsche, grund¬
sätzliche Zustimmung in den verschiedensten Kreisen findet, so gewiß dasjenige einer
bewußten und entschiedenen „deutschen Bildung". Mag dabei betreffs der Be¬
wertung der bisherigen deutsch-nationalen Erziehung und Bildung wie über
deren künftige Formen eine gewisse Meinungsverschiedenheit bestehen: der Ge¬
danke selbst, der lebhafte Wunsch nach einer solchen ist allerorten rege.
Zu einem Schlagwort mit seinen unvermeidlichen üblen Nebenbedeutungen
hatte sich bereits einige Zeit vor Kriegsbeginn der Begriff der „staatsbürger¬
lichen Bildung" entwickelt. Nicht minder zahlreich wie die Formen, die man
ihr im Schulunterricht zu geben gedachte, waren die Ansprüche, die — wenigstens
innerhalb der geschichtlich-sprachlichen Fächergruppe — die einzelnen Unterrichts¬
gegenstände auf die Mitarbeit an der Verwirklichung dieses Ideals erhoben.
Zu wenig beachtet wird dagegen leider auch heute noch das Bestreben,
der stofflichen Zersplitterung, wie sie unserem vielgestaltigen höheren Schulwesen
je länger desto mehr anhaftet, nach Kräften entgegenzuwirken. Droste doch
schon den Hauptformen, der humanistischen, realgymnasialen und der realistischen,
infolge der ihnen im Jahre 1900 ausdrücklich zugebilligten Betonung ihrer
Eigenart, ein bedenklicher Mangel an geistigem Gemeinbesitz der Abiturienten
jener Anstalten.
Fast noch schlimmer aber sind die Folgen für den einzelnen: wohin man
auch blickt, namentlich aber auf der Oberstufe der höheren Schule, ein großen¬
teils unvermitteltes Nebeneinander überreichlich zugemessener Bildungsstoffe und
rein formalen Geistesübungen, die auf den jugendlichen Geist einstürmen. Eine
besonnene Schulreform der Zukunft wird es sich hoffentlich, entschiedener als
bisher üblich, angelegen sein lassen, den verschiedenen Schulformen ein stark
ausgeprägtes Gemeinsames zu geben, dem einzelnen Schüler aber vermehrte
Gelegenheit, den von ihm erworbenen geistigen Besitz wie von einer höheren
Warte überschauen und dessen einzelne Teile in innerer Beziehung zueinander
zu setzen.
Wie kann die Erdkunde zur Lösung der genannten Aufgaben beitragen?
„Vor allem soll der Deutsche wissen, was er an seinem Lande hat," sagt
Fr. Ratzel. Mancher wird erwidern, der Landeskunde des Deutschen Reiches
werde seitens der höheren Schulen genügende Aufmerksamkeit geschenkt. Soweit
sich dies auf den Unterricht der Unter- und Mittelstufe bezieht, trifft es im
großen und ganzen auch zu. Es kann aber nicht entschieden genug darauf
hingewiesen werden, daß es gerade auch in der Länderkunde sehr viel weniger
auf das Was als auf das Wie ankommt. Mit dem leider noch vielfach üb¬
lichen Auswendiglernenlassen unzähliger Gebirge, Berge, Flüsse, Städte usw.
erzieht man schlecht zu deutsch-nationaler Bildung und Gesinnung. Vielmehr
gilt es, unter Beschränkung des Gedüchtnisstoffes auf das unbedingt Notwendige,
möglichst alle Geistes- und Gemütskräfte anzuregen. Welche nicht ganz gering
einzuschätzenden Einsichten und Triebfedern deS Wollsns lassen sich z. B. schon
aus der rechten Beobachtung unserer Grenzen, ihrer Zugänglichkeit für den
Verkehr, der Möglichkeit ihrer Verteidigung, der Lage der Festungen u. tgi. in.
selbst bei einer ersten elementaren Durchnahme der deutschen Landeskunde erwerben!
Vor dem Kriege war in weiten Kreisen unseres Volkes jeder, der „die
ganze Welt" kannte, co ip3v wie von einer Glorie umgeben. Ob ihm das
eigene Vaterland nach seiner landschaftlichen und völkischen Eigenart aus persön¬
licher Anschauung entsprechend vertraut war, kam dagegen kaum in Betracht.
Gewiß hat der Modegeschmack feinen nicht zu unterschätzenden Anteil, wenn
bald Italien oder Ägypten das Ziel deutscher Reiselust war, bald Schweden oder
irgendeine andere Weltgegend im Sinne des Touristen als „modern" galten.
Nun aber die Kehrseite! Wie viele Süddeutsche, die nicht Beruf oder Zufall
dorthin führte, kannten die landschaftliche Anmut der Holsteinischen Schweiz?
Wie viele norddeutsche die stille Größe der Vogesenlandschaft? Wie viele Rhein¬
länder die seit Hindenburg sozusagen „entdeckten" masurischen Seen? — Ab¬
gesehen von der landläufigen Geringschätzung alles dessen, was „nicht weit her"
war. hatte nicht zuletzt die mangelnde Sachkenntnis, d. h. letzten Endes die
geographische Schulbildung einen Hauptanteil an der Schuld. — Bis vor etwa
einem Jahrzehnt war höchstens ausnahmsweise einmal das Deutschtum im Aus¬
lande Gegenstand erdkundlicher Betrachtung in der Schule. Es ist ein an¬
erkennenswertes Verdienst der neueren Schulbücher, daß sie, und zwar schon seit
einigen Jahren vor dem Kriege, die frühere Versäumnis gutzumachen suchen.
Daß aber der Mehrzahl der Gebildeten Deutschlands die Tatsache der „zwei
Millionen deutscher Bauern" in Rußland im Augenblick ihrer höchsten nationalen
Bedrängnis überhaupt erst bekannt wurde, wird späteren Geschlechtern hoffentlich
nur schwer verständlich erscheinen.
Weiterhin ist die Erdkunde als Unterrichtsfach höherer Schulen berufen,
noch weit entschiedener, als es bisher meist geschah, vor allem die wirtschaft¬
lichen und die völkischen Beziehungen des Deutschtums zum Auslande gebührend
zu würdigen. Es scheint, als wenn wir uns in diesen Punkten früher teils
von der vielberufenen deutschen „Objektivität" gegenüber anderen Völkern und
ihrer nationalen Betrachtungsweise, teils von falsch verstandener Wissenschaft¬
lichkeit und der Lust an systematischer Vollständigkeit allzusehr haben be¬
stimmen lassen.
So einfach wie auf dem Gebiet der Erziehung zu deutscher Bildung und
deutschem Nationalbewußtsein liegen die Dinge keineswegs, wenn wir uns nun
die Frage der staatsbürgerlichen Bildung zuwenden. Wie bekannt, wird sie
nach ihrer stofflichen Seite außerordentlich verschieden gesaßt. Dem einen be¬
deutet sie im wesentlichen ein Bekanntmachen mit den Grundfragen und Haupt¬
tatsachen der Verfassung, der Staatsverwaltung und der Volksvertretung. Andere
möchten der Staatsbürgerkunde im Schulunterricht je nachdem einen mehr histori¬
schen, juristischen oder soziologischen Einschlag geben. So berechtigt nun diese
Auffassungen sein mögen, darf daneben doch die folgenschwere Tatsache nicht
übersehen werden, daß Staat und Staatsboden aufs engste zueinander
gehören und in mannigfacher Wechselbeziehung zueinander stehen. Diese
letztere Betrachtungsweise kommt aber derjenigen der wissenschaftlichen politischen
Erdkunde von heute sehr nahe. Es ist daher von der heraufkommenden
staatsbürgerlichen Bildung eine vertiefte Einsicht in die Abhängigkeit der Volks-
wie der Weltwirtschaft von den physisch-geographischen Verhältnissen zu fordern.
Man denke nur z. B. an die zahlreichen Gelegenheiten, die städtebildende und
städtevergrößernde Wirkung gerade der Industrie (im Gegensatz zur Landwirt¬
schaft) mit ihren für das gesamte Staatsleben bedeutsamen Licht- und Schatten¬
seiten. Diesen und vielen ähnlichen Vorfragen der inneren Politik kann eine
im staatsbürgerlichen Sinne bildende und erziehliche Wirkung schwerlich abge¬
sprochen werden. Ja, man darf getrost behaupten, daß die Anschauungsweise
der modernen politischen Erdkunde geradezu eine unentbehrliche Ergänzung zu
dem Bilde liefert, das der Schüler aus der mehr rückschauenden Betrachtung
des Geschichtsunterrichts gewinnt. Gibt dieser gleichsam den Längsschnitt der
politischen und kulturellen Entwicklung, so die Erdkunde den Querschnitt. An¬
gesichts der ununterbrochenen heutigen Volksverschiebungen innerhalb der Staats¬
grenzen und über diese hinweg darf der Schüler bei der Erwähnung des Begriffs
„Völkerwanderung" nun nicht mehr wie hypnotisiert einzig die Jahreszahl
375 n. Chr. sich ins Gedächtnis zurückrufen; und wenn mit der gewohnten
Ausführlichkeit von der Agrarreform des Gracchus die Rede ist, warum ist dann
in: erdkundlichen Unterricht ein Verweilen bei der Frage des gegenwärtigen
Bodenbesitzes in unserm Vaterlande etwas so Unerhörtes? —
Die Zahl derer mehrt sich, die selbst dem gebildeten Deutschen eine kaum
noch entschuldbare Interesselosigkeit in Sachen der äußeren Politik vorwerfen.
Wie mir scheint, wird diese Anschuldigung fast ebenso oft erhoben, wie eine
Besserung — an der unrichtigen Stelle gesucht. Man übersieht nämlich
meistens die eine folgenschwere und unbestreitbare Tatsache, daß der bloße Begriff
„äußere Politik" heutzutage wesentlich umfangreicher und noch dazu sehr viel
verwickelter geworden ist, als er es noch — jedenfalls für den Deutschen —
etwa vor einem Menschenalter war. Vergleichen wir beispielsweise die rein
kontinentale Politik der auf den Krieg von 1870/71 folgenden anderthalb Jahr¬
zehnte mit den weltbewegenden Fragen, die in den letztverflossenen Zeitläufen
in: Vordergrund des außerpolitischen Interesses standen! Zwei Dinge find es
da vor allen anderen, die dem letztgenannten Zeitraume ihr ganz besonderes
Gepräge geben: der gegen früher fast sprungartig erweiterte Schauplatz politi¬
schen Geschehens bezw. politischer Probleme, sodann die unlösbare Verkettung
der wirtschaftlichen mit den (im engeren Sinne sogenannten) politischen sowie
mit militärischen Fragen. — Die wirtschaftliche und nationale Bedeutung dieses
oder jenes gerade in Betracht kommenden Erdraumes nicht (oder doch nicht
genügend) verstehen, ist im Zeitalter der Weltpolitik und Kolonialpolitik
nahezu gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine auch nur im bescheidendsten
Maße selbständige politische Stellungnahme zu den Fragen der großen Politik
überhaupt. Über diese brutale Tatsache hilft uns keine fromme Selbsttäuschung
hinweg; und selbst die an sich durchaus berechtigte Forderung eines vertieften
Geschichtsunterrichts im Sinne der Erweckung staatsbürgerlichen Denkens und
Urteilens ist doch keineswegs das Allheilmittel, als welches es heute oft etwas
überschwänglich angepriesen wird. Erst Geschichte und Erdkunde — um von
anderen Wissensgebieten zu schweigen — aber auch nur unter der Vor¬
aussetzung reinlicher Scheidung ihrer besonderen Aufgaben, geben dem gebildeten
Staatsbürger den dringend zu wünschenden Weitblick, ja, überhaupt erst das
nötige Interesse ein den Grundfragen der neueren wie der zukünftigen äußeren
Politik.
Welches sind die Hauptkornkammern der Erde? Welche Länder erzeugen
bezw. verarbeiten am meisten Kohle und Eisen? Welche Länder sind vor¬
wiegend Ackerbau', welche mehr Industriestaaten? Welche Weltverkehrswege
verfolgen die großen Vaumwoll- (Woll-, Getreide-) frachten? In welchem
Herrschaftsbereich werden diese Güter erzeugt? — Diese und zahllose verwandte
Fragen sind doch zugleich ebensoviele Vorfragen der äußeren Politik, und zwar
in einem Maße, daß das Wissen um sie durchaus nicht nur Sache des Politikers
von Fach ist.
Neben dem ernstlichen Betriebe der Wirtschaftsgeographie auf höheren
Schulen täte ein sachgemäßes Eingehen auf die Hanpttatsachen der Völkerkunde,
.soweit sie zum Verständnis der Völker und des Siaatswesen dient, bitter not.
Längst hat sich zwar — und mit Recht — die eigentliche Völkerkunde aus dem
Verbände der Gesamtgeozraphie als Wissenschaft losgelöst. Aber doch sind,
unbeschadet ihrer Sonderziele, Erdkunde und Völkerkunde in Forschung und Lehre
aufeinander angewiesen. Im Rahmen der Schulerdkunde lassen sich beide Wissen¬
schaften noch viel weniger ohne Schaden voneinander trennen. Es wäre eine wichtige
Aufgabe der Schulerdkunde, die geistig-seelische, körperliche und, nicht zuletzt — die
kulturelle Eigenart der Völker darzustellen: der sogenannten Natur- wie der Halb-
und Vollkulturvölker. Leider konnte — aus Gründen, die weiter unten erörtert
werden sollen — von einer planmäßigen und vom Bewußtsein ihrer inneren Bedeut¬
samkeit erfüllten Arbeit der höheren Schule auf diesem Gebiet bisher wohl nur in
Ausnahmefällen die Rede sein. Soweit ich sehe, fanden bezügliche Äußerungen von
Ethnologen und Kolonialpolitikern bisher nicht den verdienten Beifall in ma߬
gebenden Kreisen; jedenfalls hat man aus ihnen nicht die praktischen Folge¬
rungen für einen zeitgemäßen Ausbau des Erdkundenunterrichts, im besonderen
auf der Oberstufe, gezogen.
Die großen Linien dessen, was sich, vom nationalen Standpunkt angesehen,
im Schulbetrieb unseres Faches zu ändern bezw. anzubahnen hat, zeichnet
Paul Rohrbach in den folgenden, der „Deutschen Politik" entnommenen Dar¬
legungen:
. . . „Das Bekenntnis zur Internationalen und zum Völkerfrieden ist an
und sür sich heute praktisch ebenso zick- und wertlos, wie das zum Schutz des
Vaterlandes und selbst der Welt- und Überseepolitik. Die Allgemeinheiten helfen
nichts, es muß vielmehr das Wissen um eine bestimmte Mindestmenge von
positivem Stoff und eine Vorstellung davon erlangt werden, was dieser Stoff,
diese Tatsachen mit unsern nationalen Interessen zu tun haben. . . .
Angenommen, wir wollten das, was wir brauchen, schulmäßig lehrhast
ausdrücken, so wäre ein neues Fach in die Volksbildung einzuführen: politische
Weltkunde. Bleibt man, um zunächst durch die Entwicklung eines Themas
formelle Deutlichkeit für unsern Gedanken zu gewinnen, bei dem Bilde eines
Schulfaches, so könnte über die Grundlage, auf der es aufzubauen wäre, kein
Zweifel sein: natürliche und politische Erdkunde. Erweitert man diesen Begriff
nach der geschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Seite hin, so hat man das
beisammen, was als Wissen und Anschauung in unsere nationalen Bildung auf¬
genommen werden muß. . . .
Nirgends ist es damit getan, die Flüsse und Gebiete, die Grenzen und
Städte, die Quadratzahlen und die Einwohnerzahlen im Kopfe zu haben. Über¬
all kommt es auf die innere Verbindung dieser Dinge an, und darauf, wie sie
sich in politische Notwendigkeiten und politisches Streben umsetzen. Überall
kommt es vor allen Dingen darauf an, was für Menschen in den Ländern
wohnen und was für eine Sinnesart sich in ihnen gebildet hat. Das alles ist
„Weltkunde", und wenn diese Art von Weltkunde nicht recht bald zu einem
festen Stück unserer politischen Volksbildung wird, so werden wir nicht daran
denken können, zukünftigen Krisen mit einer besseren inneren Vorbereitung ent¬
gegenzugehen, als wir es diesmal getan haben." —
So hervorragend wichtig nun die politisch-kulturelle Seite der Erdkunde im
Hinblick auf die allgemeinen Ziele der Bildung ist, darf darum doch die physische
Erdkunde im Schulunterricht der Zukunft keinesfalls vernachlässigt oder zugunsten
der politischen gekürzt werden. Das Verhältnis der beiden scheinbar so grund¬
verschiedenen Seiten eines und desselben Unterrichtsgegenstandes andeuten,
heißt, auf einige weit verbreitete schiefe Ansichten und Mißverständnisse eingehen,
die allein schon aus Gründen der gesamten Schulreform einer Klärung in der
weiteren Öffentlichkeit bedürfen.
Die preußischen Lehrpläne von 1901 betonen die Notwendigkeit, physische
und politische Erdkunde im Unterricht nicht grundsätzlich zu trennen. Es scheint
auch heute noch angebracht, darauf hinzuweisen, daß beide zusammen, in engste
Beziehung zueinander gesetzt, die spezifisch-erdkundliche Betrachtungsweise im
modernen Sinne überhaupt erst ermöglichen. Ein Gebirge z. B. ist an und
sür sich ein Gegenstand geologischer Forschung, die Entstehung, Alter, Schichten¬
folge u. a. in. festzustellen sucht. Die physische Erdkunde dagegen interessieren
diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse hauptsächlich insofern, als sie die
heutigen Gebirgsformen und deren Ausmaße, die Entstehung der Täter, u.tgi.
verständlich machen. Das Gesamtbild endlich, wie es namentlich die spezielle
Erdkunde („Länderkunde") von jenem Gebirge entwirft, enthält überdies z. B.
eine Darstellung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gebirges (Mineralschätze,
Bodenbenutzung usw.), ferner Näheres über die Verkehrsbedeutung, Lage und
Art der menschlichen Siedlungen: alles dies nach Möglichkeit in begründend-
vergleichender Darstellung. — Entsprechend könnte man zeigen, wie z. B. die
geographische Klimakunde, ihrer scheinbaren „Ähnlichkeit" mit der Meteorologie
zum Trotz, tatsächlich nach Methoden und Zielen von der reinen Meteorologie,
d. h. Physik der freien Atmossphäre, wesentlich verschieden ist. Und die
Meereskunde bedeutet als Teilgebiet der geographischen Wissenschaft — und
mutatis mutanäi8 der Schulerdkunde — mehr als die Summe der chemisch-
physikalischen Eigenschaften des Meerwassers, der Strömungen und Gezeiten
usw. — Eigentümlich ist also der heraufkommenden Schulerdkunde nach ihrem
physischen Teil das Hervorheben der Einwirkungen, die z. B. Luftkreis und
Meer auf die feste Erdoberfläche ausüben, fernerhin überhaupt die Darstellung
der Wechselbeziehungen zwischen Festem, Flüssigem und Luftförmigem nach ihrer
örtlichen Verteilung auf unserm Planeten.
Wie einerseits mit der politischen Erdkunde (Anthropogeographie), ist die
physische Erdkunde andererseits mit der astronomischen durch tausend Fäden
verknüpft. So wenig wie etwa die Klimakunde im Schulunterricht sich in
„Wolken, Luft und Winde" auflösen darf, soll auch die Betrachtung unseres
Erdkörpers als Glied der Sternenwelt nicht in eine richtungs- und uferlose,
wenn auch stark verwässerte Astronomie und Astrophysik ausmünden. Viel mehr
wird nicht zum wenigsten in dem letzteren Punkte eine besonnene Methodik das
Wesentliche von dem Ballast des geographisch Unwichtigen befreien. Um einen
der vielen gangbaren Wege anzudeuten, erinnere ich nur an die eine Tatsache
der Schiefe der Ekliptik, auf deren schwerlich zu überschätzenden Folgen für die
organische — und anorganische irdische Natur Schopenhauer einmal hinweist. —
Das Gesagte möge genügen, um das Oberflächliche der bis in die Kreise
der höheren Schule verbreiteten Ansicht zu zeigen: die Erdkunde im allgemeinen,
physische und politische Erdkunde im besonderen ein bloßes Konglomerat der
verschiedenartigsten Wissensgebiete, dem nur der Gesichtspunkt der räumlichen
Anordnung den Schein einer selbständigen Wissenschaft verleihe. —
Demgegenüber gilt es, gerade im Hinblick auf die Mitarbeit unsres Faches
an den Gesamtzielen der höheren Schule, auf eine vielfach verkannte Stärke
des erdkundlichen Unterrichts hinzudeuten: einmal die Erziehung zum kausalen
Denken, dieser im allgemeinen viel zu wenig gewürdigten Aufgabe unsrer höheren
Schulen. Zweitens ist die Erdkunde, besonders auf der Oberstufe, in einem
Maße wie kaum ein zweites Fach nach ihrer ganzen Eigenart dazu befähigt,
das Jneinssehen von Natur- und Kultur und ihrer Wechselbeziehungen zu üben.
Es ist nämlich kein Zweifel, daß das Übermaß des rein Stofflichen (bzw. des
rein Formaten) in den meisten Unterrichtsfächern nachgerade einen beängstigenden
Grad erreicht hat. Die Stimmen derer mehren sich, die der auf diese Weise
hervorgerufenen geistigen Zersplitterung für den einzelnen Schüler durch ein
entschiedenes Betonen derjenigen Fächer entgegenarbeiten möchten, die das
erworbene Wissen ihm in einer neuen Beleuchtung zeigen, seine formalen Fähig¬
keiten (z. B. Mathematik, Zeichnen, Sprachen) auch außerhalb des jeweiligen
eigentlichen Fachgebietes sich beendigen lassen möchten. „Nicht ohne zureichenden
Grund sind sicherlich die vielen Klagen, daß der Schüler vor lauter Mathematik
nicht mehr die Sterne, noch vor lauter Grammatik die Sonne des klassischen
Altertums sehe." Früher erhoffte man die nötigen „assoziierenden" Wirkungen im
besonderen vom Deutschunterricht (deutscher Aufsatz), und in der Tat ist das
Deutsche zu einer Mittel- und Vorrangstellung schon aus dem angedeuteten Grunde
berufen. Aber eben nur innerhalb der sprachlich-geschichtlichen Gruppe von
Lehrfächern! — Neben dem Deutschen wird neuerdings gerade zur Erfüllung
des genannten Zweckes die sogenannte philosophische Propädeutik für die Ober
klaffen herbeigesehnt. Indes beschränkt sich ihr Wirkungskreis naturgemäß auf
das rein Ideelle.
So bleibt also, wie man die Sachlage auch ansehen mag, der Erdkunde
in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen Natur- und Kulturerkenntnis eine
wichtige Teilaufgabe unsrer höheren Schule zu erfüllen übrig.
Bevor die Schulerdkunde imstande sein wird, selbst nur den bescheidensten
Erwartungen nach dieser Richtung gerecht zu werden, sind mancherlei Hemmnisse
zu überwinden.
Ist die Erdkunde eine ganz besonders „komplexe" Wissenschaft, so folgt
daraus für einen gedeihlichen Schulunterricht, daß zu einer vollen Auswirknng
ihrer Bildungsmöglichkeiten der Schüler ein nicht zu gering bemessenes Wissen
aus den wichtigeren Hilfswissenschaften bereits sein eigen nennen muß, wenn
anders der Erdkundenunterricht auf ihnen wirklich aufbauen soll. Praktisch
gesprochen ist also, — selbst abgesehen von der nötigen geistigen Reife, — erst die
Oberstufe der geeignete Platz, um den geographischen Unterricht zum befriedigenden
Abschluß zu bringen.
Heute sind wir von der Verwirklichung dieser auf zwingenden Gründen
beruhenden Erkenntnis noch ziemlich weit entfernt. Zwar schreiben die amtlichen
Lehrpläne „länderkundliche Wiederholungen im Anschluß an den Geschichts¬
unterricht" auf der Oberstufe vor; zwar werden den Oberklassen der Ober«
realschulen für eine (I) erdkundliche Wochenstunde verhältnismäßig umfangreiche
Lehraufgaben gestellt, so u. a. „die Grundzüge der allgemeinen Erdkunde,
gelegentlich auch einiges aus der Völkerkunde." Aber man kann sich bei näherer
Prüfung dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser Unterricht allein schon wegen
seines allzu bescheidenen äußeren Umfanges, gleichsam in der Luft schwebt —
dies um so mehr, wenn er von Tertia (oder doch Untersekunda) an auf
einem großen Teil der höheren Lehranstalten nur mit einer Wochenstunde
betrieben wird.
Fast noch schwerwiegender will ein anderer Umstand erscheinen. Wie aus
Statistiker der letzten 15 Jahre unzweideutig hervorgeht, ist der Anteil der
nicht fachmännisch vorgebildeten Lehrer der Erdkunde an der Gesamtzahl der
Lehrer dieses Faches ein unerwartet hoher, obwohl geprüfte Fachlehrer der
Erdkunde im allgemeinen weit mehr als unbedingt nötig vorhanden sind.
Nach zuverlässigen Angaben aus dem Schuljahr 1907/08, — neuere Zahlen
liegen mir nicht vor — die sich auf verschiedene deutsche Landesteile (Berlin,
Königreich Sachsen, Elsaß-Lothringen) beziehen, wurde unser Fach zu etwa
40—50 Prozent und darüber von Nicht-Geographen unterrichtet Leider ist es
immer noch, im Widerspruch zu den ausdrücklichen amtlichen Bestimmungen,
melerorten „Brauch", erdkundliche Lehrstunden womöglich ohne Rücksicht darauf,
ob der betreffende Nichtfachmann sich einarbeiten kann oder will, als „Füll¬
stunden" zwecks Erreichung der erforderlichen Stundenzahl unter die Mitglieder
eines Lehrerkollegiums zu verteilen I!
Ich will auf die naheliegenden Folgen für den wissenschaftlichen Ernst der
Schularbeit und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit nicht eingehen. Das Gesagte
dürfte auch dem Fernerstehenden verständlich machen, weswegen der bisherige
erdkundliche Schulunterricht die auf ihn gestellten Erwartungen in der Regel
überhaupt nicht erfüllen konnte. Damit ist meines Erachtens zugleich der
Weg angedeutet, den eine künftige Schulreform wird gehen müssen, will sie
nicht gegenüber einer dringenden pädagogischen Forderung der Gegenwart als
rückständig erfunden werden. —
Vergessen wir nicht den weiteren Zusammenhang, in dem wiederum die
Schulreform als Ganzes mit der Reform des Universitätsunterrichts steht!
Gern und dankbar sei der Verdienste der akademischen Vertreter der Geographie
um die Schulerdkunde gedacht. Ich nenne nur bekanntere Namen, wie Ratzel,
Kirchhofs, H. Wagner. Aber von diesen und einigen weiteren rühmlichen Aus¬
nahmen abgesehen, liegt trotz allem, was darüber geredet und geschrieben ist,
die akademische Ausbildung der künftigen Erdkundelehrer der höheren Schulen
vielfach immer noch im Argen. Es ist ungemein bequem und einleuchtend, vom
Schulunterricht zu verlangen, er solle endlich einmal seine alte bläßlich-papierene
Farbe ablegen und sich mehr Freilicht- und Luftkultur zum Grundsatz machen.
Man darf versichert sein, daß diese und viele andere derartige Wünsche noch
nach einem Menschenalter zu den „frommen" gehören werden, wenn nicht in¬
zwischen der akademisch-geographische Unterricht, so namentlich durch regelmäßig
wiederkehrende und planvoll geleitete geographische Studienreisen, vorsorgt.
Daß gewisse, im Schulunterricht der Erdkunde besonders wichtige Teilgebiete,
wie z. B. die Wirtschaftsgeographie, an manchen Universitäten allzu stiefmütter¬
lich behandelt werden, erwähne ich nur der Merkwürdigkeit wegen. Was soll
man aber dazu sagen, wenn ein namhafter Universitätslehrer der Geographie
ebenso geringschätzig wie sachunkundig redet von der geographischen Hochschul¬
bildung als einer „Wissenssumme, die dann beim Unterricht nur zu verdünnen
ist"*). — Unter den obwaltenden Verhältnissen ist es von vornherein verfehlt,
eine Reform des geographischen Unterrichts an höheren Schulen ohne ent¬
sprechende durchgreifende Änderungen im Universitätsbetrieb der geographischen
Wissenschaft zu erhoffen. Diese Erkenntnis bricht sich in den beteiligten Fach¬
kreisen zwar sehr langsam, hoffentlich aber sicher Bahn. Die Schulmethodik
und die verschiedenartigsten Lehrmittel für die Erdkunde sind — mindestens in
der Theorie — so weit vervollkommnet, daß wir als das nächste Ziel, aber
auch als die Lonäitio sine qua non, eine den Zeitverhältnissen angepaßte
äußere Stellung im Lehrplan und Lehrbetrieb der höheren Schule bezeichnen
müssen. —
Möchten meine Ausführungen mit dazu beitragen, die mancherlei veralteten
und einseitigen Anschauungen über Wesen und Aufgaben neuzeitlicher Schul¬
erdkunde zu klären und so die Verwirklichung ihrer Forderungen zu beschleunigen.
Hakespeare der Dichter steht als scharf umrissene Persönlichkeit vor
unseren Augen, obgleich wir über Shakespeare den Menschen nur
dürftige Nachrichten besitzen, die noch dazu in der Hauptsache auf
spät entstandenen Legenden beruhen; in Lessings Werke vertiefen
wir uns, ohne daß uns dabei das Verlangen anwandelt, uns
eingehender mit seinen Lebensumständen bekannt zu machen, und bei Schiller
haben wir sogar das dunkle Gefühl, daß uns der Zwiespalt zwischen seinem
kümmerlichen, von materieller Not und Krankheit eingeengten Erdenwallen
und seinem himmelstürmenden Gedankenfluge den Genuß seiner dichterischen
Schöpfungen eher beeinträchtigen als erhöhen müßte. Bei Goethe dagegen ist
uns jede Mitteilung willkommen, die seinem äußeren Bilde auch nur eine Linie
hinzufügt, seine Gestalt, sein Wesen, seine Lebensführung in neuer Beleuchtung
zeigt, oder auch Längstbekanntes aufs neue bestätigt. Die Klage, daß Werke
über Goethe mehr Leser fänden als Werke von Goethe, ist alt und gewiß
nicht ganz unberechtigt; aber man sollte nicht außer acht lassen, daß das
unübertroffene Hauptwerk des Altmeisters in der Tat sein Leben ist, zu dessen
zahlreichen Ausstrahlungen auch seine Schriften gehören. Streng kritisch be¬
trachtet, ist, von wenigen Gedichten abgesehen, bei allem Gedankenreichtum kein
einziges seiner Werke in Form und Inhalt von vorbildlicher Vollkommenheit,
wie denn auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, so befruchtend sie auch auf
die spätere Forschung eingewirkt haben, unleugbar den Stempel des Auto-
didaktentums und des Dilettantismus tragen. Vollkommen im höchsten Sinne
des Wortes sind erst Goethes Werke in ihrer Gesamtheit und mit dem Brenn¬
punkte seiner Persönlichkeit, in dem sich alle Strahlen der Außenwelt sammeln.
Und weil für ihn die Quelle aller Erkenntnis und damit zugleich auch allen
Schaffens die Welt um ihn her mit allen ihren Erscheinungen ist — wie für
Shakespeare die Menschenseele, für Lessing der eigene kritische Verstand, für
Schiller die philosophische Spekulation —, so muß uns jede Veröffentlichung
willkommen sein, die uns den großen Lebenskünstler in irgendwelchen Be¬
ziehungen zur Umwelt zeigt.
Ein solches Buch, vielleicht den wichtigsten Beitrag zur Goethe-Literatur seit
dem Erscheinen der herrlichen „Briefe der Frau Rath Goethe", herausgegeben
von Albert Köster (Leipzig, Insel-Verlag, 1908), hat uns soeben Hans Gerhard
Graf in seinem zweibändigen Werke „Goethes Briefwechsel mit seiner
Frau" geschenkt (Frankfurt a. M., Literarische Anstatt Rütten u. Loening, 1916.
Geh. 15 M., in 2 Halblederbänden 20 M.). Graf, dem wir unter anderem
bereits das grundlegende Werk „Goethe über feine Dichtungen" in neun Bänden
verdanken (Frankfurt a. M. 1901 ff.), erweist sich auch hier wieder als den
sachkundigen, gewissenhaften und taktvollen Herausgeber und Erläuterer, als
den ihn die Goethe-Gemeinde längst schätzt; er zeigt sich aber auch, wenigstens
was Christianens Briefe anlangt, deren Orthographie sich nach Bernhard
Suphcms' Wort „gegen den Druck sträubt", und die nur auf dem Wege des
lauten Lesens zu enträtseln waren, als einen geduldigen und scharfsinnigen
Entzifferer, der freilich in dem köstlich frischen Stil, den er aus dem Wust von
Buchstaben und Universalzeichen herausschälen durste, den schönsten Lohn für
seine Mühe gefunden haben wird.
Christianens Briefe erscheinen spät an der Öffentlichkeit, genau hundert
Jahre nach dem Tode der Schreiberin. Sie zusammen mit denen des Gatten
„als ein seltsames, aber notwendiges Gegenstück zu Goethes Briefen an Frau
von Stein" zu veröffentlichen, erschien dem Herausgeber als eine Pflicht der
Dankbarkeit sowohl gegen Goethe als auch gegen Christiane. Galt es doch,
vor den Augen der Nachwelt die Beziehungen Goethes zu dem Wesen klar¬
zustellen, dem er achtundzwanzig Jahre lang in herzlicher Liebe zugetan war,
und das doch, durch den Klatsch pharisäischer und mißgünstiger Zeitgenossen
gebrandmarkt, wie eine Verfemte abseits stehen mußte, bis dann, nach dem
Erscheinen der Briefe von Goethes Mutter an den Sohn, die Schwiegertochter
und den Enkel im Jahre 1889, der Umschwung eintrat und man damit be¬
gann, Christiane zu überschätzen und gegen Frau von Stein auszuspielen.
Die geistige Kluft, die zwischen dem Dichter und seiner kleinen Haus-
genossin bestand, wird auch durch den Briefwechsel beider nicht überbrückt.
Christianens Natur war einfach und entwickelte sich durchaus folgerichtig, aber
bildungsfähig im höheren Sinn war sie nicht. „Ich habe Dich lieb und ganz
allein lieb", schreibt sie einmal, „sorge für mein Bübchen und halte mein
Hauswesen in Ordnung und mache mich lustig" — in diesem Bekenntnis, das
man als Motto über die Briefe Christianens setzen könnte, liegt das ganze
Programm ihres Daseins. Tieferen Anteil am geistigen Leben ihres Beschützers
und Gatten zu nehmen, oder auch nur seine Bedeutung zu ahnen, war ihr
versagt. Goethe fand sich mit dieser Tatsache ab, er hat auch nie versucht, die
„Kleine" zur gebildeten Dame zu erziehen. „Sollte man wohl glauben", sagt
er einmal im Gespräch mit einem Vertrauten, „daß diese Person schon zwanzig
Jahre mit mir gelebt hat? Aber das gefällt mir eben an ihr. daß sie nichts
von ihrem Wesen aufgibt und bleibt, wie sie war." Und ein andermal
bemerkt er zum Grafen Reinhard: „Zuerst muß ich Ihnen sagen, daß von
allen meinen Werken meine Frau keine Zeile gelesen hat. Das Reich des
Geistes hat kein Dasein für sie, für die Haushaltung ist sie geschaffen. Hier
überhebt sie mich aller Sorgen, hier lebt und webt sie; es ist ihr Königreich.
Dabei liebt sie Putz, Geselligkeit und geht gern ins Theater. Es fehlt ihr aber
nicht an einer Art von Kultur, die sie in meiner Gesellschaft und besonders im
Theater erlangt hat." Daß die beiden ersten Sätze starke Übertreibungen
enthalten, beweisen sowohl seine getreuen Berichte über das Fortschreiten seiner
Arbeiten wie ihre ermutigenden Worte, wenn es mit seinem Schaffen einmal
„nicht gehen will", vor allem aber Bemerkungen wie die folgenden: „Ich freu
mich recht, wenn Du wiederkommst, etwas von dem neuen Stück (.Natürliche
Tochter') zu hören", „Die Scene mit Egmont und Clärchen ist außerordentlich
gut gegangen, und ich und Caroline (ihre Freundin Caroline Ulrich) haben
uns an diesem Stück einmal wieder recht erbaut," oder endlich die drastische
Herzensergießuug: „Mit Deiner Arbeit ist es schön; was Du einmal gemacht
hast, bleibt ewig, aber mit uns armen Schindludern ist es ganz anders. Ich
hatte den Hausgarten sehr in Ordnung, gepflanzt und alles. In Einer Nacht
haben mir die Schnecken beinahe alles aufgefressen, meine schönen Gurken sind
fast alle weg, und ich muß wieder von vorne anfangen. . . Doch was hilft
es? ich will es wieder machen; man hat ja nichts ohne Mühe. Es soll mir
meinen guten Humor nicht verderben."
Sogar Christianens Urteil scheint dem Dichter nicht so ganz gleichgültig
gewesen zu sein, wie hätte er ihr und ihrer Gesellschafterin sonst den eben
gedruckten ersten Teil der „Wahlverwandtschaften" unter der Bedingung senden
können, das Bändchen bei verschlossenen Türen zu lesen, niemand zu verraten,
daß sie es gelesen hätten, und bei der Rücksendung etwas über den empfangenen
Eindruck zu schreiben? Das bei Christianens Interesse an Goethes Arbeiten
die ökonomischen Rücksichten manchmal stärker waren als die ästhetischen,
erkennen wir aus dem Briefwechsel nicht ohne heiteres Behagen. Wer hätte je
daran gedacht, „Hermann und Dorothea" einmal in Verbindung mit Seife
erwähnt zu finden? Hier lesen wir: „Ich komme auch noch mit einer Bitte
bei Dir an: es steht mit meiner Seife schlecht, und hier ist sie wieder teuer
geworden. Ich dächte, wenn das Gedicht fertig wär, bekäme ich einen halben
Stein." Und Goethe, der den wirtschaftlichen Sinn seiner kleinen Hausgenossin
zu würdigen weiß und in diesem Punkt sogar von ihr gelernt zu haben bekennt
— „Hiermit, mein Liebchen, schicke ich Dir fünf leere Bouteillen und sogar die
Stöpsel dazu, damit Du stehst, daß ich ein gut Beispiel in der Haushaltung
nachzuahmen weiß" — geht liebevoll auf ihre kleinen Sorgen ein und schreibt
am 10. August 1807 tröstend aus dem teuern Karlsbad: „Übrigens bin ich
fleißig gewesen, habe viel diktiert und bringe gewiß für das Doppelte meiner
Ausgaben Manuskript zurück, an Romanen und kleinen Erzählungen".
Christiane war vor allem eine unermüdliche, treusorgende Hausfrau, jederzeit
bemüht, das leibliche Wohl ihres „lieben Geheimrath" zu fördern. Sie war
aber auch eine geschickte Diplomatin, wenn es galt, ihm die zur Arbeit nötige
Ruhe zu sichern, in seiner Abwesenheit Beziehungen weiterzupflegen. Geschäfte
abzuwickeln und dem Gatten eigene oder fremde Wünsche behutsam zu unter¬
breiten. Goethes Vertrauen zu ihren Fähigkeiten als Vermittlerin tritt aus
vielen brieflichen Äußerungen zutage, und Aufträge wie: „Wende alles, was
Du kannst, die nächsten acht Tage von mir ab, denn ich bin gerade jetzt in
der Arbeit so begriffen, wie ich sie seit einem Jahre nicht habe anfassen können.
Würde ich jetzo gestört, so wäre alles für mich verloren, was ich ganz nahe
vor mir sehe, und was in kurzer Zeit zu erreichen ist. Wie gesagt, mein
Kind, laß nur die nächsten acht Tage nichts an mich heran, was abzuhalten
ist," lesen wir mehr als einmal. Während seiner häufigen Abwesenheit in
Jena und Karlsbad, wo er offenbar erst die rechte Ruhe zum Schaffen fand,
dient sie ihm als Referentin für Theaterangelegenheiten, die nicht nur über die
Wirkung der Stücke, die Leistungen der Schauspieler, Intrigen und Krawatte, —
bei den Lauchstädter Aufführungen sogar über die Kasseneinnahmen — ge¬
wissenhaft berichtet, sondern auch die Verbindung der Mitglieder mit dem Chef
aufrechterhält und ihm ihre mannigfachen Wünsche getreulich übermittelt. Da
bittet z. B. eine Theaternovize um die Erlaubnis, mit der Truppe nach Lauch-
städt gehen zu dürfen, und dann, als ihr dies bewilligt und sie bei Madame
Beck in Kost gegeben ist, um ein wöchentliches Taschengeld von vier Groschen;
„sie wäre doch nur noch ein Kind, und die Kinder hätten doch manchmal auch
außer Tischzeit Appetit." Ein andermal heißt es: „Die ganze Gesellschaft
vom Theater empfiehlt sich Deinem Andenken, besonders aber Denn, welcher
äußerte, daß, wenn Madame Teller sterben sollte, seine Frau in diesem Fach
aushelfen wollte, komische Alte habe sie schon mit Beifall gespielt. Und sie
wünscht weiter nichts, als, wenn Du zurückkommst, bei Dir einmal eine Probe
von dieser Art abzulegen." Aber Christiane greift gelegentlich auch mit Rat
und Tat in die Theaterangelegenheiten ein, so, wenn sie dem Gatten meldet:
„Den Tod der Madame Teller wirst Du wohl von Gemahl erfahren haben.
Madame Ackermann wird Dich wohl nun mit vielen Schreiben inkommodieren.
Aber zu einem Engagement wollte ich doch ja nicht raten; es ist doch besser,
Junge zu engagieren, da einige bei der Gesellschaft doch schon alt sind," oder
wenn sie sich mit berechtigtem Stolz ein wenig als Beschützerin unterdrückter
Talente aufspielt: „Es ist aber sehr gut, daß ich dieses Jahr wieder hier (in
Lauchstädt) war, denn ich habe vielerlei im Stillen für Lortzings würken können,
wo ich denn doch täglich mehr sehe, daß die gewissen Leuten nur ein Dorn im
Auge sind, und wovon ich Dir allerlei zu erzählen habe."
In ihrer Leidenschaft für das Theater, wie in der Bereitwilligkeit, für
andere Menschen, besonders für Schauspieler, ein gutes Wort einzulegen, zeigt
die kleine Frau Berührungspunkte mit Goethes Mutter, wie sich denn überhaupt
aus diesem Briefwechsel eine unleugbare Seelenverwandtschaft zwischen beiden
offenbart. Was Christianer dem Leser vor allem empfiehlt, ist ihr naiver
Humor. Sie. die zum Lesen nie Zeit und Geduld hatte, muß sich auch zum
Briefschreiben zwingen, und wir dürfen annehmen, daß ihre ausführlichen
Berichte das größte Opfer gewesen sind, daß sie ihrem lieben Geheimrat
gebracht hat. Man hört sie förmlich erleichtert aufseufzen, wenn sie eine ihrer
Episteln mit den Worten schließt: „Heute ist mein Brief gewiß besser geschrieben,
denn ich habe mir sehr große Mühe gegeben. Es ist mir aber auch schon
zweimal schlimm geworden, und wär der Brief nicht an Dich, ich hätte schon
längst aufgehört." Ein andermal schließt sie, gewiß ebenfalls im Bewußtsein
treuer Pflichterfüllung: „Nun hoffe ich aber auch, daß mein Allersuperbester
auch ein Laubthälerchen an mich wenden wird, weil ich ein so großer tugend¬
hafter Schatz bin." Als ihr eine Reise in Aussicht steht, meint sie treuherzig:
„Gutes Wetter werden wir gewiß haben, denn ich bin sehr fromm gewesen",
und aus Lauchstädt meldet sie, um ihre Selbstüberwindung ins rechte Licht zu
rücken: „Es ist gut, daß Du nicht hier bist, denn es sind drei Putzhändlerinnen
hier; und wem: Du hier wärst, so würde gewiß allerlei gekauft. Ach Gott,
es sind gar zu schöne Sachen, ich sehe gar nicht hin", und ein andermal:
„Alsdann frühstückten wir zusammen auf dem Keller, wo viele Juden kamen;
es wurde sich aber sehr tugendhaft betragen und nichts gekauft". Einmal, in
ihrem letzten Lebensjahre, zeigt sie sich sogar als eine Tochter der klassizistischen
Zeit, wenn sie die Schweine, von denen sie vier Stück besitzt, die „Odussteischen
langnasigen Völker" nennt.
„Ich habe Dich lieb" —, dieses schlichte Bekenntnis, verbunden mit der
Bitte, sie in der Ferne nicht zu vergessen, kehrt in allen Briefen Christicmens
wieder. Einmal gibt sie mit dem kleinen August dem nach Jena Reisenden
bis Kötschau das Geleit. Am andern Tage meldet sie dann: „Stell Dir vor,
wie lieb Dich Deine beiden Hasen haben: wie Du in Kötschau von uns weg
warst, gingen wir raus und sahen auf dem Berg Deine Kutsche fahren, da
fingen wir beide eins an zu heulen und sagten beide, es wär uns so wunder¬
lich." Goethes Plan, nach Italien zu reisen, beunruhigt sie monatelang.
„Wenn Du so weg bist", schreibt sie, „sehe ich immer, wie schlecht es mir zu
Mute sein wird, wenn Du in Italien sein wirst. Vielleicht kann ich auch das
wegbeten." Ein halbes Jahr später fleht sie: „Ich bitte Dich um alles in
der Welt, gehe itzo nicht nach Italien! Du hast mich so lieb, Du läßt mich
gewiß keine Fehlbitte tun. Was mich die Menschen hier ängstigen, daß Du
nach Italien gingest, das glaubst Du gar nicht; dem einen hat es der Herzog
selbst gesagt, das andere weiß es von Dir gewiß, ich will gar keinen Menschen
mehr sehen und hören. Lieber, Bester, nimm es mir nicht übel, daß ich so
gramsele, aber es wird mir diesmal schwerer als jemals, Dich so lange zu
entbehren; wir waren so aneinander gewöhnt." Sogar zu einer Drohung
versteigt sie sich: „Und wenn Du nach Italien oder sonst eine lange Reise
machst und willst mich nicht mitnehmen, so setze ich mich mit dem Gustel hinten
darauf; denn ich will lieber Wind und Wetter und alles Unangenehme auf
der Reise ausstehen, als wieder so lange ohne Dich sein." Und in dem väter¬
lichen Tone, auf den alle Briefe Goethes an sein „kleines Naturwesen" ge°
stimmt sind, antwortet er von Frankfurt aus: „Vor allen Dingen muß ich
Dich bitten, mein liebes Kind, daß Du Dich über meine weitere Reise nicht
ängstigst und Dir nicht die guten Tage verdirbst, die Du haben kannst. . .
Du weißt überhaupt und hast auch auf der letzten Reise gesehen, daß ich bei
solchen Unternehmungen sorgfältig und vorsichtig bin, Du kannst leicht denken,
daß ich mich nicht aus heiler Haut in Gefahr begeben werde, und ich kann
Dir wohl gewiß versichern, daß ich diesmal nicht nach Italien gehe. Behalte
das für Dich und laß die Menschen reden, was sie wollen; Du weißt ja die
Art des ganzen Geschlechts, daß es lieber beunruhigt und hetzt als tröstet
und aufrichtet."
Unter den Beunruhigungen durch die lieben Mitmenschen hat Christiane
genug zu leiden, besonders, wenn es sich um die Beziehungen Goethes zu
anderen Frauen handelt. Aber sie weiß sich auch darein zu finden, und da sie
selbst an kleinen Eroberungen — „Äugelchen" ist der Kunstausdruck des Brief¬
wechsels dafür — ihre unverhohlene Freude hat, einigen sich die Gatten auf
den vernünftigen Grundsatz der Duldsamkeit und teilen einander ganz offen¬
herzig ihre Herzenserlebnisse mit. So berichtet Christiane aus Lauchstüdt, wo
sie auf großem Fuße lebt (— „Du glaubst gar nicht, was so eine Equipage
und Bedienter vor einen Respekt verschafft!" —) und wo man es offenbar
auch der Demoiselle Vulpius gegenüber mit der Etiquette weniger genau
nimmt als in dem engherzigen Weimar: „Wir müssen auf unserer Hut sein,
man will uns unsre Anglichen und Kurmacher wegkapern; ... wir wollen
nur erst sehen, daß wir etwas Anders kriegen und etwas Besseres, alsdann
kann sie die Jagemann bekommen. Es ist recht lustig, wie man da keine
Barmherzigkeit mit einander hat; das macht mir viel Spaß, und ich habe
Dir allerhand lustige Streiche zu erzählen." Mit milder Nachsicht geht Goethe
auf solche Geständnisse ein; nur einmal schreibt er mahnend: „Mit den
Äugelchen geht es, merke ich, ein wenig stark, nimm Dich nur in Acht, daß
keine Augen daraus werden", fügt aber beruhigend hinzu: „Wie sehr von
Herzen ich Dich liebe, fühle ich erst recht, da ich mich an Deiner Freude und
Zufriedenheit erfreuen kann." Und wie rührend ist es, wenn der Vierund-
fünfzigjährige die Geliebte bittet: „Schicke mir mit nächster Gelegenheit Deine
letzten, neuen, schon durchgetanzten Schuhe, von denen Du mir schriebst, daß
ich nur wieder etwas von Dir habe und an mein Herz drücken kann!" Die
eigenen Herzensbeziehungen behandelt Goethe mit der Objektivität des Histo¬
rikers, so, wenn er am 6. November 1812 aus Jena berichtet: „Gestern
Abend habe ich auch Minchen (Herzlich) wiedergesehn. Ich überließ es dem
Zufall, wie ich mit ihr zusammenkommen sollte. Der hat sich auch recht artig
erwiesen, und es war eben recht. Sie ist null eben um ein paar Jahre älter.
An Gestalt und Betragen usw. aber immer noch so hübsch und so artig, baß
ich mir gar nicht übel nehme, sie einmal mehr als billig geliebt zu haben."
Gewiß bleiben gelegentliche Anwandlungen von Eifersucht der kleinen Frau
nicht erspart, aber ihre Liebe hilft ihr auch darüber hinweg. „Was willst
Du denn mit allen Äuglichen anfangen?" schreibt sie einmal nach Karlsbad,
„das wird zu viel. Vergiß nur nicht ganz Dein ältestes, mich, ich bitte Dich,
denke doch auch zuweilen an mich. Ich will indes fest auf Dich ver¬
trauen, man mag sagen was man will. Denn Du bist es doch allein, der
meiner gedenkt."
Damit hat sie recht. Goethe, der Vielbeschäftigte, gedenkt seiner kleinen
Hausgenossin an allen Orten und in allen Lagen, und zwar mit dem liebe¬
vollen Eingehen auf ihre Beschäftigungen, Neigungen, Sorgen und Wünsche,
das ihn ja überhaupt als Briefschreiber kennzeichnet. Er paßt sich vollkommen
ihrer Gedankenwelt an, und diesem Umstände haben wir es zu verdanken, daß
wir ihn durch diesen Briefwechsel zum erstenmal als treulich sorgenden Haus¬
und Familienvater kennen lernen. Wir gewinnen Einblicke in einen gut
bürgerlichen Haushalt, teilen die Freude des Paares über einlaufende Honorar¬
zahlungen — „Herr Cotta hat sich mit lauter schönen Doppellouisdoren gezeigt,
an denen ich nur erst eine Freude haben kann, wenn ich Dir sie aufzähle oder
sie zu Deinem und des Kindes Nutzen anlege" — und lesen nicht ohne Heiter¬
keit die immer neuen Wendungen, mit denen Christiane dem Eheherrn bei¬
bringt, daß sie trotz aller Sparsamkeit wieder einmal nicht mit ihrem Wirt¬
schaftsgelde ausgekommen ist. „Wenn ich nicht gewiß geglaubt' hätte, Du
würdest heute kommen", heißt es da z. B., „so hätt ich Dir am Mittwoche
geschrieben, daß ich kein Geld mehr habe, und so gehet es mir nun sehr
schlecht, ich bin in größter Not, denn ich gebe der Köchin alleweile meinen
letzten kleinen Thaler. Ich habe auf das Buch Einen Carolin aufgelehnt, ich
wär also noch künftige Woche ausgekommen, und alsdann ist das Vierteljahr
um. Und man hat doch immer auch was im Vorrat, ohne das man doch
nicht sein kann. Wenn ich das alles rechne, komme ich doch gewiß ordentlich
aus. Denn bei itziger Zeit ist es würklich Kunst; denn, wenn Du nicht da
bist, es sind unser doch immer 6 zu Tische, und ich habe es die Zeit, daß
Du nicht da warst, sehr eingeteilt, so daß die Köchin immer nicht mit mir
zufrieden ist. Freilich, weil der Bube krank war, habe ich wieder manche
paar Groschen mehr ausgeben und ihm auch wieder etwas Apartes kochen
müssen . . . Von dem Carolin, den Du mir schicktest, habe ich das Komödie-
Abonnement bezahlen müssen und Starke den Thaler. 2 Paar Strümpfe
vor Dich, habe Holz machen lassen, dem Kutscher Trinkgeld, und wenn ich nur
nicht den Dukaten von Dir schon angewandt hätte, so Hütte ich doch noch
was. Die Weiber, die sich etwas schau machen, tun dock nicht ganz übel,
um im Notfall was zu haben. Sei so gut und schicke mir durch einen Ex¬
pressen oder durch die Post was." Kein Wunder, daß in solchen Notzeiten
die „Papierchen zu 100 Thalern", die Anweisungen an das Bankhaus Frege,
öfters Erwähnung finden!
Auch an Dienstbotennöten fehlt es im Goethehause nicht, und es ist lustig
zu lesen, daß der große Mann von seiner kleinen Freundin den Auftrag erhält,
sich in Jena nach einer Köchin sür sie umzusehn. Fatale Geschichten kommen
da vor, Prellereien mit dem Mietsthaler und Wäschediebstähle mit Hilfe eines
Hausschlüssels, der sich, wie Christiane nachträglich mit Schrecken entdeckt, als
Hauptschlüssel erweist. „Übrigens geht es mir ganz gut", heißt es einmal,
„nur mit meiner Köchin habe ich meine Not, die nimmt mir alles untern
Händen weg, und ich muß den ganzen Tag die Augen auf alles haben. Ich
habe mir aber eine andere gemietet; auf Weihnachten muß sie sort. . . Die
Marie aber wird alle Tage braver, und wenn ich die nicht hätte, ging' es
mir schlecht." In rosigerem Lichte scheinen Goethe die Köchinnen erschienen zu
sein; so schreibt er 1807 seiner in Frankfurt weilenden Frau: „Zuerst also
muß zum Lobe der Köchin gesagt werden, daß sie ihre Sachen vortrefflich macht,
gute Ware ankaust und sie mit Sorgfalt zubereitet, sodaß wir es uns jeden
Mittag können wohlschmecken lassen. Am Grünen Donnerstag hatten wir uns
Kohlsprossen bestellt und Honig zum Nachtisch, um dieses Fest recht würdig zu
feiern ... Da die Fastenbrezeln alle sind, so bäckt die Köchin allerlei Torten
und Kuchen, die ihr nicht übel geraten. Ein Truthahn ist abgeschlachtet, und
andre gute Dinge sind im Vorrat."
Überhaupt spielen Küchenangelegenheiten in diesem Briefwechsel eine große
Rolle, wie denn der Dichter als Realpolitiker des Lebens von guter Kost viel
hält und seine Vorliebe für gewisse Speisen wie Wildpret, Geflügel, Karpfen
auf polnische Art, Forellen, Krebse, Spargel, Schwarzwurzeln, Teltower Rüb¬
chen und Artischocken nicht verhehlt. Die schlechte Verpflegung in Jena bietet
für den von der folgsamen Hausgenossin offenbar Verwöhnten Anlaß zu un¬
unterbrochenen Klagen; wenn er nicht gerade „von Schillers das Essen hat"
oder von guten Freunden mit Schwarzwurzeln und Spinat versorgt wird, lebt
er „bloß von Cervelatwurst, Brot und rotem Wein" und richtet dann dringende
Bitten nach Weimar, ihn mit allen möglichen Lebensmitteln — wir lesen von
kaltem Braten, Gänseleberpasteten, geräucherten Zungen, Kalbsfüßen, Würsten,
Kaviar, Salatöl und Schokolade —- zu versehen. Anderseits sorgt er aber
auch für die Speisekammer daheim, sendet der Gattin Wildpret, Fische, Trüffeln
und Obst und läßt von auswärts Spickgänse — „es wird eine mit dem Porto
keinen halben Thaler kosten!" —. Schwarzwild, Bohnen zum Einmachen, Dörr¬
obst und Essig kommen. Die Wcmangelegenheiten bilden ein Kapitel für sich;
wir erstaunen nicht weniger über die große Zahl der Sorten, die in Goethes
Keller beheimatet sind, als über den starken Konsum. Daß Christiane übrigens
für einen guten Tropfen dasselbe Verständnis hatte wie ihr großer Freund
und Gatte, beweisen viele ihrer Briefe. So schreibt sie unterm 13. August
1797: „Wenn nur etwas Wein käme, sonst werde ich doch ein bißchen un¬
glücklich, denn den Wertheimer liebe ich mir nicht, und wir haben auch nicht
viel; und auf Deinen Geburtstag da müssen doch etliche Bouteillen aufgehn,
denn da werden meine guten Freunde, jung und alt, eingeladen. Wenn ich
nur ein paar Fläschchen Malaga hätte! Was recht übel war, daß wir in
Frankfurt keine Flasche Champagner getrunken haben. Das betrübt mich ordent¬
lich." Der Wein war ihr zum unentbehrlichen Bedürfnis geworden, und sie
behauptet ganz naiv: „Mem, Wägelchen tut mir gewaltig wehe, wenn ich keinen
trinke", wie sie denn auch den Rotwein als Universalmittel bei allen Krank¬
heiten benutzt und empfiehlt.
Im Gegensatz zu Küche und Keller scheinen die Garderobeverhältnisse im
Goethehause ziemlich bescheiden gewesen zu sein. Wenn Christiane auf der
Rückreise von Frankfurt in Marksuhl von einem Juden „vor 2 Laubthaler
kattunene Halstücher" kauft — „es hieß doch: ich käme von Frankfurt, und
ich wollte doch auch ein bißchen Aufsehen machen" —, oder wenn sie von der
in Weimar ansässigen englischen Familie Gore getragene Kleider erhandelt, so
spricht das genau so für ihre Anspruchslosigkeit wie ihre Bemühungen, aus
alten Sachen etwas Neues zu machen, und wie die Äußerungen ihrer Freude
über die Geschenke Goethes an Stoffen, Spitzen, Hüten und andern Toiletten¬
gegenständen. Beim Auspacken eines aus Karlsbad erhaltenen Wiener Shawls
bricht sie in einen solchen Jubel aus, „daß August um Ruhe bitten mußte,
damit er ins Postbuch quittieren konnte." Wenn von Schmuck die Rede ist,
handelt es sich meist um Granaten und künstliche Steine, „die so schön sind,
als die natürlichen nicht sein können"; nur einmal wird ein Halsband mit
Rubinen, Smaragden und einem Chrysolith erwähnt. Von Goethes eigenen
Garderobenangelegenheiten erfahren wir weniger; er schreibt meist nach wärmeren
Westen, und die Bitte: „Schicke mir doch die grünen Manchefterbeinkleider, ich
bin wieder einmal in allem auf das erbärmlichste heruntergerissen", läßt ebenso,
wie sein Entschluß, den schwarzen Hofrock zu einem Frack umzuändern und
seinen alten Überrock an August abzutreten, nicht gerade auf einen überfüllten
Kleiderschrank schließen.
Mit wahrer Leidenschaft widmet sich die kleine Hausfrau der Wäsche und,
wenn der Gates abwesend ist, den notwendigen Erneuerungen im Hause und
dem Großreinemachen. Die gelegentliche Bemerkung: „Von Wanzen haben
wir bei allem nicht Eine Spur entdeckt und auch keine Wanze gesehen" berech¬
tigt zu der Vermutung, daß auch diese kleinen Geißeln der Menschheit dem
Liebling der Götter nicht fremdgeblieben sind.
Wenn sich die 1798 angeschafften Pferde und mehr noch das im selben
Jahre erworbene Freigut zu Ober-Roßla als Quellen stetiger Sorge erweisen,
so spenden die Gärten am Haus und am Park Goethe wie Christiane trotz
dem allsommerlichen Ärger wegen der gefräßigen Schnecken desto reinere Freuden.
Hier war es, wo sich das ungleiche Paar in seinen Neigungen berührte und
vollkommen verstand, und wo beide Teile Werden und Vergehen mit gleichem
Interesse verfolgten. Noch zwei Wochen vor ihrem Tode, unterm 18. Mai 1816,
berichtet die kleine Frau dem Gatten nach Jena: „Dein Garten steht gegen¬
wärtig in seiner größten Pracht, und es macht wirklich verdrüßlich, daß die
üble Witterung so wenig im Freien zu sein erlaubt. Die Apfelbäume blühen
in höchster Fülle, es steht Blüte an Blüte, die Rabatten vor Deinen Fenstern
schmücken die schönsten gefüllten Tulipanen, deren schöne Farben die stolzen
Kaiserkronen verdunkeln, und trotz der geringen Wärme und den kühlen Nächten
reift doch alles der Vollkommenheit entgegen. Möge Dich die schöne Blüte in
Jena für diese Entbehrung reichlichst entschädigen." Hier sind die ewig neuen
Wunder des Lenzes echt goethisch gesehen und geschildert, und wir verstehen,
daß der Dichter mit Bezug auf die Elegie „Die Metamorphose der Pflanzen"
schreiben konnte: „Höchst willkommen war dieses Gedicht der eigentlich Geliebten,
welche das Recht hatte, die lieblichen Bilder auf sich zu beziehen; und auch ich
fühlte mich sehr glücklich, als das lebendige Gleichnis unsere schöne, vollkommene
Neigung steigerte und vollendete/' Im engen Bezirk des Hausgartens ging
die Prophezeiung des Jahres 1790 in Erfüllung:
„ . . . Die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt."
le Zukunft des Völkerrechts", „Der Wandel des Völkerrechts"
und „Todes und lebendiges Völkerrecht" sind die Titel von drei
Schriften, die mir zur Besprechung vorliegen. Die erste hat der
bekannte Staatsrechtler Triepel in Berlin verfaßt (Vorträge der
Gehe-Stiftung in Dresden VIII. 2, 1916, Teubner-Leipzig,
Mark 1), die zweite der Berliner Staats- und Verwaltungsrechtsforscher Conrad
Bornhak (Berlin-Heumann, 1916. Mark 2), die dritte der Berliner Sozial¬
wissenschaftler und derzeitige Rektor der Handels-Hochschule Paul Eltzbacher
(München und Leipzig. Duncker und Humblot 1916, Mark 1,20). Jene beiden
halten, wie die Titel ihrer Schriften besagen, das heutige Völkerrecht für noch
lebensfähig, wenn auch wandlungsbedürftig, Eltzbacher hält vieles darin für
tot. aber in seiner eignen Asche als lebendes während des Weltkrieges neu
erstanden. Jene Auffassung habe auch ich — wenigstens was die „Grund¬
mauern" des heutigen Völkerrechts anlangt — in dieser Zeitschrift (Grenz,
boten Heft 6, 1916, S. 167 ff.) vertreten.
Jeder der drei Autoren hat die Frage nach dem mutmaßlichen Schicksal
des Völkerrechts seiner Eigenart gemäß behandelt. Bornhak will dem Bestreben
nach volkstümlicher Rechtskunde auf einem Gebiete dienen, das ihm bisher ent¬
zogen war. Triepel beschränkt sich in der Hauptsache auf einige Gesichtspunkte
im Rechte der internationalen Streitigkeiten und die Mittel zu ihrer Beilegung,
vor allem den Krieg. Eltzbacher verfolgt Wandlungen des Völkerrechts in der
Geschichte, insbesondere die Verschärfung der Kriege, die Hineinziehung der
Völker in den Krieg, erblickt die Vorstufen des „Völkerkriegs" in der englischen
Kriegführung und der Kontinentalsperre, hält das bisherige Kriegsrecht für tot,
nämlich im Weltkrieg erschlagen und stellt die neuen „Grundsätze des Völkerkriegs"
auf (wobei die zulässigen Kampfmittel gegen die bürgerliche Bevölkerung und die
Rechte der Neutralen vorzugsweise Beachtung finden), um schließlich in der „Nutz¬
anwendung" zum Ergebnis zu kommen: Das alte Völkerrecht bietet uns nur
eine Grundlage zu Klagen und Anklagen, deren Wirkungsloftgkeit wir nach¬
gerade erkannt haben sollten; das neue Völkerrecht gibt uns die Freiheit zu
eignem kraftvollen Handeln.
Für alle drei Arbeiten ist charakteristisch, daß das Kriegsrecht einen breiten
Raum in ihnen einnimmt, ja daß sie fast ausschließlich kriegsrechtliche Normen
wiedergeben und zur Beweisführung heranziehen. Bornhak handelt davon
auf 39 von 102 Seiten, Eltzbacher auf 60 von 74, Triepel auf der Hälfte
von 30 Seiten, aber auch z. B. Seite 6 ff. Damit haben sie den für die
Gegenwart interessantesten und wichtigsten Teil des Völkerrechts unterstrichen.
Ob das aber ihre Beweise stärkt, möchte ich dahingestellt sein lassen.
Allerdings wird der Krieg heute von vielen Völkerrechtlern als ein „Rechts¬
verhältnis" angeehen, das dient zwar als gewaltsames Mittel, völkerrechtliche
Ansprüche oder Wünsche zur Erfüllung zu bringen, aber nicht mehr als ein
willkürlicher und barbarischer Kampf, sondern ein in seinen Voraussetzungen,
seinen Gebräuchen und seinem Ende völkerrechtlich geregelter Kampf. Auch ich
habe in meinen „Grundzügen des Völkerrechts" (Leipzig, Gloeckner 1915, Seite
126) die Rechtverhältnis-Theorie — wenigstens nicht abgelehnt, ich möchte
aber auf Grund der Erfahrungen im Weltkriege schon heute' an Stelle des
Wortes „Rechtsverhältnis" vorschlagen: Vom Rechte anerkanntes Tatsachen¬
verhältnis (juristisch der „Notwehr" vergleichbar). Liegt aber im Kriegsrecht
der Schwerpunkt auf den Tatsachen und nicht auf den Rechtssätzen, so ist das
Kriegsrecht ein wenig geeigneter Prüfstein für die Rechtsnatur, das Wesen,
die Wandlungen und die Zukunft des Völkerrechts.
, Wie viele neue „Tatsachen" aber hat der Weltkrieg zutage gefördert! Der
Unterseeboot- und Luftkrieg, die zum Angriff bewaffneten Handelsdampfer, die
nicht wirksame Blockade, der Bomben-, Handgranaten- und Gaskrieg, die sinn¬
losen Luftangriffe auf unverteidigte Plätze ohne strategische Bedeutung sind
solche „Tatsachen". Sind sie als „Tatsachen" Kriegsrecht und damit Völker¬
recht geworden? Für den Unterseeboot-, Bomben- und Luftkrieg möchte man
die Frage bejahen. Ist aber der Gasangriff eine „Waffe"? Oder eine er¬
laubte „Kriegslist"? Wie steh: es mit den zum Überfall und Angriff be-
waffneten Handelsdampfern? Ist das zur wirtschaftlichen Schädigung Ge¬
eignete, 5. B. die „unwirksame" (nicht effektive) Blockade auch kriegsrechtlich
erlaubt? Wo ist überhaupt im Kriege die Grenze zwischen Tat und Recht?
Zwischen tatsächlicher Gewalt und Recht?
Eltzbacher gibt hierauf die überraschendste Antwort: Nicht von neuen
Friedenskonferenzen, wie sie der holländische Minister van Houter bei seiner
Regierung im März 1916 angeregt hat, ist das neue Völkerrecht zu erwarten;
es ist bereits da in Gestalt der — Völkerrechtsverletzungen. Da wäre zu¬
nächst zu untersuchen — an dieser Stelle ist kein Raum dafür —, ob alles, was
Eltzbacher als völkerrechtswidrig ansieht, auch völkerrechtswidrig ist, z. B. der
deutsche Unterseebootkrieg. Aber entsteht aus dem Nichtgebrauch eines Rechts¬
satzes oder aus dem bewußten Gebrauch des gegensätzlichen Satzes schon das
Recht? Vor allem: das öffentliche Recht? Und nun gar das Völkerrecht?
Eltzbacher rechtfertigt seinen Standpunkt vorläufig im allgemeinen damit, daß
das Recht nichts Fertiges, sondern ein Werdendes sei. Ich habe dasselbe für
das Völkerrecht (a. a. O. Grenzboten S. 175) mit den Worten gesagt, es sei mehr
Rechtspolitik als Juristerei. Aber ist schon mit der einseitigen Nichtanerkennung
seitens eines Völkerrechtsstaates der bis dahin allgemein stillschweigend oder ver¬
tragsmäßig anerkannte Rechtssatz verschwunden? Bedarf es nicht vielmehr
auch einer Aberkennung der anderen beteiligten Staaten, die zweifellos nach
jenem Rechtsbruch hierzu berechtigt sind? Gäbe es andernfalls überhaupt ein
Völkerrecht im Sinne der Jurisprudenz? Damit wären wir bei dem Begriff
des Völkerrechts angelangt, über den ich ja (a. a. O. 168 ff.) genug gesagt habe.
Eltzbachers Definition ist juristisch und rechtspolitisch gleich anfechtbar; er
sagt: Das überstaatliche Recht, das die Beziehungen der Staaten zueinander
regelt (danach wäre z. B. die deutsche Reichsverfassung Völkerrecht); überall wo
sich im Verhältnis zwischen Staaten Rechtsgrundsätze herausgebildet haben, die
die Beziehungen dieser Staaten zueinander regeln, ist Völkerrecht vorhanden
(danach wären die Staatsangehörigkeitsgesetze für Ausländer und die ganze
Fremdenpolizei Völkerrecht). Es fehlt in dieser Definition vor allem die
Beschränkung auf Staatshoheitsrechte der Staaten als solcher. Zu allgemein
ist aber nicht nur das „im Verhältnis zwischen Staaten", sondern auch das
„Rechtsgrundsätze herausgebildet haben". Da mußte erst gesagt werden, was
man unter der Herausbildung von Rechtsgrundsätzen im internationalen Verkehr
verstanden wissen will. Eltzbacher hält das Völkerrecht mit Recht für „Recht".
Er ersetzt mit Recht die physische Erzwing harten in der Hauptsache durch das
stille Wirken auf den Willen gewissenhaft geleiteter Staaten, d. h. er sieht die
Völkerrechtssätze als Willensmotive an. er legt das Schwergewicht auf die
psychische Geltung des Völkerrechts. Das habe auch ich (a. a. O.) ausgeführt.
Aber immer hat man den Eindruck, daß er dabei mehr an Rechtspolitik denkt
als an Jurisprudenz. Wenn er jedoch (S. 9) die Ansicht ausspricht, das ver¬
einbarte Völkerrecht binde auch die Staaten, welche nicht zugestimmt haben, so
wird er unter den Völkerrechtlern wenig Anhänger finden. Die Analogie mit
den Untertanen, die der Verfassungsänderung nicht zugestimmt haben, paßt auch
nicht, da der Herrscher eines Staates höchstens die Vertretung des Volkes dabei
zuzuziehen braucht, wenn dies das Verfassungsrecht verlangt, nicht aber jeden
einzelnen Untertan. Die Revolution (auf die er anspielt) scheidet überhaupt
hier aus; sie ist Nichtrecht, bloße Gewalt, der Gegensatz zum „Recht". Auch
gibt es im Völkerrecht keine Untertanen, kaum ein „Volk". Auch an dieser
Stelle (die Beispiele aus 1780 und 17831) verfährt Eltzbacher rein rechts¬
politisch, — womit ich ja von meinem Standpunkt aus ganz einverstanden
bin; er müßte es aber sagen, daß er „Völkerrecht" nicht im Sinne der Juris¬
prudenz, sondern der Rechtspolitik erfaßt. So ist denn auch alles Folgende
höchst geistreich, höchst lesenswert, aber auch höchst unjuristisch. Das gilt auch
für die neuen „Gesetze des Völkerkriegs" (58 ff.), die er in drei „Grundsätzen"
zusammenfaßt: Die Beteiligung des gesamten Volkes am Völkerkrieg, der
bürgerlichen Bevölkerung aber nur passiv, deren Bekämpfung als Ganzes unter
Begrenzung auf das zur Erreichung des Kriegszieles Notwendige, wobei von
mehreren zur Erreichung des Kriegszieles geeigneten Mitteln gegenüber der
bürgerlichen Bevölkerung nur das mildeste gewählt werden müsse. Eltzbacher
hält hiernach für „lebendes", d. i. neues, geltendes Völkerrecht: Die Festnahme
von feindlichen Bürgern in ziemlich weitem Umfange, zu dem Zweck, dem
feindlichen Heere den Zufluß an Menschen nach Möglichkeit abzuschneiden; ferner
die vorgekommenen nachhaltigen Eingriffe in das wirtschaftliche Leben der
Völker; die Beschießung unverteidigter Küstenstädte; die Verkürzung der Rechte
neutraler Staaten. Gesetzt, der Vierverband hielte wirklich das alles für neues,
geltendes Völkerrecht, liegt die Anerkennung der Mittelmächte dazu vor (von
den neutralen Staaten ganz zu geschweige»), und wird ein Satz des Kriegs¬
rechts dadurch aufgehoben oder begründet, daß ihn die eine Kriegspartei zu
ihrem Vorteil aufhebt oder begründet? Ich mache hinter Eltzbachers Theorie
ein großes Fragezeichen.
Weniger umwälzerisch ist Bornhaks Wandel des Völkerrechts gerichtet.
Er beginnt mit einer Ablehnung des „ewigen Friedens", schildert die Ge¬
schichte des Völkerrechts, sucht dessen Wesen zu ergründen und die Völker¬
rechtsquellen als solche zu kennzeichnen. Auch er hält das Völkerrecht für
„Recht", wenn auch für ein unvollkommenes, um sich dann alsbald dem
Kriegsrechte zuzuwenden. Die Beschränkung der Kriegshandlungen auf die
Kriegsmacht des Gegners hält auch er (S. 17) für einen Satz des bis¬
herigen Völkerrechts, den der Völkerkrieg vernichtet habe. Ausführlich behandelt
er hiernach die für das „besetzte Gebiet" seither anerkannten Rechtssätze in der
Gestalt, in die sie der Weltkrieg umgestaltet hat, skizziert die Grundzüge des
„freien Meeres", die Mittel der Kriegführung und alle anderen Materien, die
im kriegsrechtlichen Teile eines Völkerrechts-Kompendiums behandelt zu werden
pflegen. Von besonderem Interesse wird der Abschnitt von den neuen Kriegs»
mitteln sein. Auch die „Stellung" und die „Not" der Neutralen wird leicht
faßlich und hinreichend eingehend geschildert. Möge der Zweck der Schrift, die
nach dem Vorwort in weitesten Laienkreisen und auch im Schützengraben Ver¬
wendung finden soll, erfüllt werden.
Anders geartet ist Triepels Vortrag, der an Ernst Immanuel Bekkers
„Völkerrecht der Zukunft" anknüpft, aber im Gegensatz zu Bekker schon im
heutigen sogenannten Völkerrecht ein solches verwirklicht sieht. Mit Recht weist
er darauf hin, daß ein „Weltbundsstaat" das Ende des „Völkerrechts" bedeuten
würde, nämlich nur „Staatsrecht" produzieren könnte. Die Geltungswurzel
des Völkerrechts erblickt er im Gemeinwillen der Staatengemeinschaft, an den
der einzelne Staat gebunden sei, wenn er an der Bildung des Gesamtwillens
durch Erklärung oder Billigung Anteil genommen habe. Das Völkerrecht ist
ihm „Recht" im Sinne der Jurisprudenz. Er hält (wie ich. stehe oben) das
seitherige Völkerrecht nicht für völlig „zusammengebrochen" (S. 7), da das
Friedensrecht erhalten geblieben sei. Aber auch das Kriegsrecht ist nach seiner
Auffassung als „Recht" trotz zahlloser Rechtsverletzungen nicht verschwunden.
Er prophezeit dem Friedensrecht eine normale Weiterentwicklung, steht aber
dem zukünftigen Recht, das zur friedlichen Erledigung internationaler Streitig¬
keiten bestimmt ist (S. 13), skeptisch gegenüber, insofern er eine Überschreitung
der Grenzen des bereits Erreichten für kaum möglich hält. Dem Kriegsncht
sagt er eine langsamere Entwicklung voraus, als es die Anläufe von 1907 bis
1909 hätten erwarten lassen. Er faßt zum Schlüsse die „Allbeteiligungsklausel"
(Zitelmann) als Voraussetzung der Geltung von Kriegsrechtssätzen für den
einzelnen Krieg in dem Sinne, daß alle Kriegführenden Vertragsparteien sein
müssen, sowie das Wesen des Volks- und des Handelskrieges ins Auge und schließt
mit dem auch mir aus dem Herzen gesprochenen Wunsch, daß es Deutschland
sei, das dem künftigen Völkerrechte den Stempel seines Geistes aufzudrücken
vermag.
Auf einer Wiese weidete eine Herde Schafe. Von Zeit zu Zeit erschien
der Fleischer und suchte eine Anzahl aus, um sie zu schlachten. Da ein Schaf
bemerkt hatte, daß immer die fettesten ausgewählt wurden, beschloß es nur
wenig zu fressen und so dem Tode zu entgehen. Als aber zuletzt nur noch
wenige übrig waren, wurde es trotz seiner Magerkeit mit ihnen zur Schlacht¬
bank geführt.
Ein Bär und ein Fuchs gelangten auf Beute ausgehend an einen Vieh¬
stall, dessen Tür verschlossen war. Unmutig sagte der Bär, der vergebens nach
einer Öffnung gespäht hatte: „Die Menschen sind vorsichtig — ich kenne sie.
Komm laß uns gehen! Hier werden wir unseren Hunger nicht stillen!"
„Nicht so rasch verzagt!" entgegnete der Fuchs; „du bist stark, Freund. stemme
dich gegen die Tür! Vielleicht drückst du sie aus den Angeln." Der Bär tat,
wie ihm geheißen, die Tür gab nach, und sie drangen in den Stall. Als sie
gesättigt von dannen schlichen, sagte der Bär: „Ich hätte wahrlich nicht geglaubt,
daß ich solche Kraft besitze. Nun laß uns das Stückchen öfter versuchen!"
Alle» Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
rophezeien ist immer eine heikle Sache, Prophezeien in politischen
Dingen gar führt meist zu recht unangenehmen Enttäuschungen.
Noch immer ist die Methode nicht gefunden, mit der sich die
Gesetze des historischen Geschehens ermitteln lassen, noch immer
sind uns so und soviele Triebkräfte des geschichtlichen Lebens
„reine Imponderabilien", unwägbar, unberechenbar. Und doch — gewisse
Voraussetzungen, gewisse Grundlagen, gewisse Richtlinien in Geschichte und
Politik, unleugbar und auch dem oberflächlichen Auge bemerklich, laden immer
wieder dazu ein, den unbestimmt abgegrenzten Zukunftspfad zu suchen.
Gibt es für die Franzosen eine Umkehr von jener Politik, die sie in diesen
Krieg geführt hat? Werden sie je aufhören, Deutschland als den Feind zu
betrachten? Es gibt Stimmen genug, die mit Ja antworten möchten, die uns
mit historischen Belegen überzeugen wollen, viele Stimmen, die meinen, dieser
ganze Krieg sei nur ein Kunstprodukt ebenso geschickter wie gewissenloser Politiker.
Manches mag ihnen zweifellos Recht geben. Die Basler Zusammenkünfte
konnten selbst schärfer Blickende zeitweilig täuschen, genau wie die deutsch¬
englischen Friedensschmäuse nicht wenigen den gesunden Geschmackssinn ver¬
darben und ihnen die Wirklichkeit süß statt bitter erscheinen ließen. Zwingend
fast scheint der Gedanke, daß das Unglück dieses furchtbaren Krieges das
französische Volk aufwecken müsse, daß es, blind und bewußtlos in diesen Krieg
gezerrt, sich ausbäumen werde, sehend geworden durch das viele nutzlos ver¬
gossene Blut seiner Söhne. Leider nur stimmt die Voraussetzung nicht. Das
französische Volk war weder blind, noch war es getäuscht, als es diesen Krieg
begann. Es sah ihn kommen, es hat ihn gewollt und es hat ihn vorbereitet.
Vor allem seine führenden Männer, ein Briand, ein Millerand, ein Clemenceau
— sie alle von der Linken — ebenso wie ein Barthou, ein Poincarö und
andere Männer des Zentrums, von den politisch einflußloser Führern der
Rechten ganz zu schweigen.
Man gefällt sich bei uns in recht merkwürdigen Vorstellungen von diesen
Männern. Man spricht von ihnen als einer Clique gewissenloser Politiker,
eitler und ehrgeiziger Erfolgjüger. Man ist von ihrer politischen Grundsatz-
losigkeit überzeugt. Man glaubt mehr oder weniger fest, diesen Männern sei
der Revanchegedanke nur ein politisches Zugmittel gewesen, um gewisse Kreise
an sich zu ketten. Man meint, sie seien ohne innere Überzeugung und nur
unter dem Zwange äußerer Verhältnisse in diesen Krieg gezogen. Poincars,
der französische Präsident, galt schon früher breiteren Kreisen als echtester Typ
deutschfeindlicher Politiker. Man wußte und kannte seine Gesinnung. Doch
ganz ernst nahm man sie nie. Die Vorgänge bei seiner Wahl, die stark anti-
poincaristische Opposition der Radikalen mit Herrn Palus als Bannerträger,
unsere hergebrachten Anschauungen über französischen Volkscharakter und fran¬
zösisches Staatsleben, das alles mag dazu beigetragen haben. Es fielen ver¬
ächtliche Worte von ehrgeizigem Advokaten, volksschmeichlerischem Streber, ge¬
wissenlosen Kriegsschürer. Man bestritt ernstlich die Tatsächlichkeit eines breiteren
Anhanges im Volke und gefiel sich eine geschickte und skrupellose Regie für seine
innerpolitischen Erfolge verantwortlich zu machen.
Es ist an der Zeit, mit allem Nachdruck gegen dieses bald legendäre und
durchaus gefühlsmäßige Bild des französischen Staatsoberhauptes wie der
führenden französischen Politiker Stellung zu nehmen. Lange genug hat es
die breiteren Kreise unseres Volkes gehindert, in dem Gegensatze „Deutschland-
Frankreich" klar zu sehen, sich über Verständigungsmöglichkeiten mit unseren
Nachbarn ein reales Bild zu verschaffen, unbeeinflußt von Satire, Witz, be¬
greiflichen Wunsche und schwächlicher Hoffnung.
Die Wahl Poincarös war ein Nationalfest. So scharf, als hätte ich es
gestern erlebt, steigt jener Tag vor meinem Auge auf. Es war in Nancy,
dem Nancy des Nationalisten Driant, in der Hauptstadt der „Lorraine",
dem Schoßkinde des französischen Sentimentalpatriotismus, Führerin in
„e8pörance <Zt souvenir" und Geburtsland des Helden. Ein Lothringer-
Präsident, das war ein Programm! Nicht umsonst und aus Lokalpatriotismus
nur wehten die Fahnen, war alles festlich geschmückt und trunken vor Freude,
glänzten die Blicke dem Fremden vielsagend und siegesgewiß entgegen I Man
sprach es offen aus und die Studentenschaft der Universität, im Restaurations-
sale mir gegenüber vereint, gröhlte es in überschäumenden Jubel über die
nächtliche Gasse zu meinem stillen Fenster herauf: Es nahte der Tag der
venZsanee! Der rechte Mann war endlich da, der Mann der nationalen
Stimmung, der Mann des ganzen Landes, nicht nur der parlamentarischen
Clique. Man mochte reisen, wo man wollte, überall vor- und nachher konnte
man dieser Überzeugung Ausdruck geben hören. Die ganze in Frankreich ja
so viel frühzeitiger zu politischer Reife und politischer Handlung herangezogene
Jugend war auf Seite des neugewählten. Eine nationale Hochspannung ging
durch das Land in jenen Tagen von einer Kraft, die den Fremden, die vor
allem den Deutschen überraschte.
War es doch durch Jahre hindurch geradezu ein Dogma bei uns, daß
die Revancheidee mehr und mehr im Ersterben sei, daß die breite Masse des
französischen Volkes nur Friede mit uns wolle. Alle Äußerungen gegenteiliger
Art, mochten sie noch so heftig und auch noch so gehässig sein, setzte man auf
Rechnung jenes, wie man glaubte, nicht recht ernst zu nehmenden Revolver¬
journalismus der Pariser Spektakelpresse, der Fünfpfennigblätter vom Schlage
des „Maler", „Petit Parisien" usw. oder man hielt sie für kaltberechnete, inner¬
licher Überzeugung bare Spekulation jener Politiker, Spekulation auf die immer
noch nicht ganz erstorbenen Nationalinstinkte der geschichtsstolzen Massen.
Als freilich die Revanchegesten immer stärker wurden, als die deutsch¬
feindliche Literatur sich schließlich zu ganzen Bergen turnte, die deutsch-
hässtgen Theaterstücke wie die Pilze emporschössen, haßentflammte Blätter
reißenden Absatz fanden, schließlich sogar friedliche deutsche Bürger drüben mehr
und mehr angerempelt wurden, da schaute man doch allmählich mit erstaunter
Aufmerksamkeit über die Grenze.
Es hatte allerdings eine Zeitlang geschienen, als ob die Revanche und die
Revanchards tot oder doch im Siechtum seien. Es war die Zeit, als die
radikale Partei der Herrschaft entgegenging, die Zeit, als man anfing, gegen
Klerus und Orden, gegen Kirche und Katholizismus vorzugehen, die Zeit, die
in Waldeck-Rousseau und Combes, in Felix Faure und Loubet ihre Höhe¬
punkte hatte. Die ganze Kraft des französischen Staatslebens wandte sich
damals innerpolitischen Aufgaben zu. Im Antiklerikalismus, in der Ver¬
weltlichung des Staates, der Laisierung des öffentlichen Lebens, der Trennung
der staatlichen Gewalten von den kirchlichen, der reinlichen Scheidung beider,
der Stärkung der Staatsmacht gegenüber der außerstaatlichen übernationalen
Kirche, in diesem anscheinend rein innerpolitischen Ziele lebte sich das politische
Leben aus.
Demokratie und Demokratisierung waren die Mittel zu diesem Ziele, ganz
von selbst dann aber auch wieder zum Selbstzweck aufwachsend. Der Kleri¬
kalismus stützte sich ja auf die konservativen, feudalen, aristokratischen und
monarchistischen Schichten. Demokratisierung bedeutete Ausschaltung ihres Ein¬
flusses, bedeutete zugleich auch Festigung und Stärkung der Republik. Also
Kampf für die Republik, Kampf für die Demokratie, Kampf für den weltlichen
Staat, das waren die Schlagworte für die damals anstürmenden und das
Land durchtobenden politischen Ideen.
Der Klerikalismus wehrte sich gegen den Sturm mit aller Macht. Er war
von jeher der Hauptträger der Revancheidee, von jeher vom Nationalismus
am schärfsten durchtränkt gewesen. Er kannte die Macht des Nationalitäts¬
gedankens auf die empfindlichen Gemüter aller Volkskreise. Mit ihm fiel er
im Angriff in die Reihen der Gegner ein und suchte sie zu verwirren.
Boulangismus und Anschlag gegen Dreyfuß waren seine wuchtigsten und
gefährlichsten Vorstöße, Zeiten zugleich der schärfsten Agitation gegen
Deutschland.
Sie wurden abgewehrt. Die Revancheidee geriet ins Hintertreffen. Der
Block der Linken tat alles, sie geflissentlich zu entwerten, dieses Ablenkungs¬
mittel gegen antiklerikale Politik unschädlich zu machen. Er griff in das Arsenal
der Gedanken von 1789, die in Frankreich nie ihre Wirkung verfehlen, auch
heute nicht. Er griff aus ihnen vor allem das Ideal der Freiheit heraus,
hielt die freiheitliche Ausgestaltung nach innen dem Lande als Hauptziel des
Staats- und Nationallebens vor, neben dem der Gedanke an Macht nach
außen, an Angriffspolitik gegen andere Völker durchaus zurücktreten mußte, ja
als dem Geiste der Freiheit widersprechend von einem großen Teile seiner
Parteigänger verabscheut wurde. Er war also durchaus innerpolitisch interessiert,
nach außen aus diesem Grunde auch durchaus pazifistisch, dachte mit mehr oder
weniger klarer Logik an friedliche Verständigung zwischen den Nationen, war
mehr oder weniger antinationalistisch, daher Deutschland gegenüber mehr oder
weniger neutral. Ein Combes, ein Waldeck-Rousseau, ein General Andrö
konnten den Revanchegedanken fast vergessen. Sie mußten jeden Versuch ihrer
klerikalen und antidemokratischen Gegner, die Aufmerksamkeit der Geister von
dieser Richtung nach außen abzulenken, bekämpfen, sie mußten deswegen den
Revanchegedanken sogar grundsätzlich als nebensächlich behandeln.
In erbitterten Kämpfen schuf die Linke aus ihrem Ideal Wirklichkeit.
Kämpfen, die zunächst das Land in Anarchie aufzulösen, jedes Gemeinschafts¬
gefühl zu zerstören, den Staat in völlige Ohnmacht und Entkräftung zu stürzen
schienen, die aber schließlich doch zu dem gewünschten Ziel, vor allem,
gewollt oder ungewollt, durch Unterwerfung der stärksten Widerstanvsgruppe
zu großer Stärkung der Staatsmacht führten. Es waren die ersten fünf
Jahre des neuen Jahrhunderts, die Jahre, die teils aus Prinzip teils im
Gefühl der inneren Schwäche die größte Zurückhaltung in der Außenpolitik,
das weiteste Entgegenkommen Deutschland gegenüber und fast allgemeines
Verstummen des Nevanchetamtams brachten und bei uns die Überzeugung von
der friedlichen Grundstimmung des französischen Volkes und der Erledigung
des Vergeltungsgedankens begründeten.
Da kam die Marokkokrise! Mit einem Schlage ändert sich das Bild. Der
alte Nationalismus taucht wieder auf und wächst seit 1905 von Jahr zu Jahr;
die Presse schreit immer lauter gegen Deutschland. Den Höhepunkt bringt das
Dreijahresgesetz. Es zeigt mit größter Schärfe, daß nicht nur gewisse Kreise,
nicht nur die Presse, nicht nur die klerikale und nationale Rechte in Deutschland
den Gegner sahen, sondern daß weite Kreise der antiklerikalen und, wie es
schien, antinationalistischen Linken sich mit ihren ehemaligen Gegnern im anti¬
deutschen Lager wieder zusammengefunden hatten. Und wenn auch bei vielen,
namentlich den Mitgliedern der sogenannten radikalen Partei äußerlich die „Ver¬
teidigung" der leitende Gedanke zu sein schien, so konnte man doch auch bei
ihnen bei schärferem Zusehen den Pferdefuß der Revanche hervorschauen sehen.
Die Hauptschlachten des antiklerikalen Feldzugs waren schon geschlagen, als
die Marokkokrisen begannen. Der Kampf war im Abflauen begriffen.
Die Linke hatte gesiegt. Ihr Ideal war zum großen Teil erreicht, ihr
Programm durchgeführt. Die breite radikale Oppositionspartei, die Haupt¬
bannerträgerin des Antiklerikalismus und der Demokratie, war längst an der
Macht und machte es sich in Ministerien und Präfekturen mehr als bequeni.
Die politische Lust wurde träge und stickicht. Das reinigende Element neuer
Gedanken fehlte. Damit trat denn auch die Zersetzung ein. Es bildeten sich
Gruppen. Klientelen einzelner bedeutenderer Männer, die sich gegenseitig in der
Herrschaft bekämpften. Die Anhängsel nach rechts, mochten sie sich demokratische
Linke oder anders nennen, gewannen an Bedeutung. Neue Parteibildungen
kristallisierten sich aus und es ist ja eine immer wieder zu beobachtende Er¬
scheinung, daß solche Minoritäten und solche kleinere Verwandten vermöge ihrer
strengeren Geschlossenheit und ihres infolgedessen strengeren Programms das Gros
der Familie mehr oder weniger beeinflussen.
Bei diesen kleineren Geiolgsgruppen aber gewann der nationale Gedanke
am ehesten, stärksten und bewußtestem wieder an Boden. Bei ihnen war er
überhaupt nie so zurückgedrängt gewesen wie bei den Radikalen. Sie vergaßen
bei dem Kampfe um die Freiheit nie jenes andere Ideal, das ebenfalls schon
die große Revolution in nicht unlogischer Jdeenverkettung und in frischer An¬
erkennung der nationalstaatlichen Tatsachen in ihrem Schoße geborgen hatte
und das als unklarer Volksinstinkt seitdem auch im französischen Volksleben
immer scharf lebendig war, den Gedanken an die Staatsmacht nach außen, die
Idee von der Größe des französischen Volkes und Staates, den Machtgedanken
mit all seinen Konsequenzen für die äußere Politik, mit feiner historisch gegebenen,
mit seiner von Franz dem Ersten und Ludwig dem Vierzehnten und einer ganzen
vierhundertjährigen Geschichte überlieferten Konsequenz der Feindschaft gegen
Deutschland vor allem.
Das gerade unterscheidet diesen rechten Flügel von der radikalen Linken,
wenn der Unterschied sich auch dem Auge anscheinend auf anderem Gebiete
offenbar macht. Sie sind nämlich innerpolitisch gemäßigter, wenn man will
konservativer. Ihr Freiheitsbegriff ist mehr gedämpft, ist strenger. Besorgten
und ängstlichen Blickes schielen sie immer mit einem Auge nach der Staatsmacht
und vorsichtig zügeln sie das an den Wagen des Staats gespannte Freiheitsroß,
um ihn und seine Lenkerin, die Macht, stark und willensfähig zu haben und
zu erhalten, zur Anwendung nach außen. Nicht zuletzt aus Machtgründen hatten
sie anch den Kampf gegen den Klerikalismus geführt. „Freiheit" war die Losung der
Radikalen, „Freiheit und Macht" die ihrige. Im Grunde der Unterschied von
deutschem „Fortschritt" und „Nationalliberalismus" ins Französische übertragen,
eigentlich ja nur ein Unterschied der Betonung, da auch von der Linken die
Notwendigkeit der Staatsmacht nicht geleugnet wird.
Das Ende des Kirchenstreits, die steigende Unzufriedenheit mit dem
regierenden Radikalismus und seiner Selbstzufriedenheit und die wachsenden
Marokkokrisen trafen also ausgezeichnet zusammen, um einerseits den latenten
Nationalismus wieder unverhüllt aufflammen zu lassen und andererseits dem
nationalen Machtgedanken und seinen Vertretern mehr und mehr Ansehen zu
verschaffen. Die Hetzpresse spiegelt nur eine innere Entwicklung wieder, die
sie freilich ihrerseits wieder beschleunigt, verstärkt und vergröbert hat. Sie hätte
jedoch nie die Bedeutung und Wirkung erlangen können, die sie tatsächlich hatte
und noch hat, wäre nicht vorher die Hauptmacht der Intelligenz, vor allem
die gesamte Jungintelligenz in das Lager des Nationalismus und zu den
Vertretern des Machtgedankens übergegangen. Grade die sogenannte Intelligenz,
am Anfang des Jahrhunderts parteipolitisch noch radikal und außenpolitisch
pessimistisch, ist seit den Marokkokrisen rationalistisch und agressiv, ist dem
nationalen Ideal neu gewonnen, hat es mehr und mehr wieder als politischen
Haupt- und Grundgedanken, als das Ideal ansehen gelernt. Mit ihr aber,
als ganz anders wie in Deutschland willig anerkannten Führerin des politischen
Lebens, werden auch die breiteren Schichten des Bürgertums auf nationalem
Gebiet mehr und mehr vom Instinkt zum bewußten politischen Gedanken geführt
und erzogen, immer mehr im eigentlichen Sinne rationalistisch orientiert.
Die radikale Partei, wenn sie auch stark abbröckelte, behielt zunächst noch
aus Gewohnheit die Masse der Wähler, an Intelligenz aber verarmte sie. Das
wurde von Jahr zu Jahr offenkundiger. Ihre Mittelmäßigkeit und geistige
Unbedeutendheit wurden offenes Ziel für den Hohn und den Witz nicht nur
einzelner Intellektuellen, sondern fast der gesamten Presse. Sie war eben die
Partei der kleinen Bourgeoisie. Im Lager des rechten Flügels der Linken
hingegen war bald Überfluß an bedeutenden und starken Persönlichkeiten.
Überaus empfänglich, wie der Franzose trotz allem, was man sagen mag, gerade
hierfür ist. konnten sich die Radikalen besonders mit ihrer anarchistischen Partei¬
organisation gegen deren Einfluß nicht wehren. Mochten sie auch theoretisch
noch immer ihren alten Ideen und ihrem Programm aus der Zeit des Kirchen¬
streits anhängen, sie sahen die Stimmung der Wählermassen sich ändern, sahen
den Einfluß der nach rechts gerichteten Elemente und konnten sich praktisch dem
nicht entziehen.
Starke Gruppen der Radikalen wie Pichon, DelcaM und bedingter auch
Clömenceau hatten schon früher auf durchaus nationalistischen Boden gestanden
oder sie wurden jetzt bewußt und völlig zu Nationalisten. Briand, Millerand usw.
sind bekannte Beispiele für die scharfe und dem Deutschen oft fast unverständliche
Wandlung der französischen Intelligenz nach dieser Richtung hin. Die Partei¬
unterschiede zwischen all diesen verschiedenen Elementen waren nur noch gering.
Sie schlossen sich immer enger zusammen, fanden sich immer öfter in gemein-
samen Kabmetten und waren bei den Wahlen von 1914 nicht mehr so gar
viel vom Zusammenschluß zu einer neuen Partei entfernt, die man mit deutschem
Terminus als die.nationalliberale hätte bezeichnen können. Die Rivalität der
verschiedenen Führer ließ es nicht so weit kommen. Aber die Bildung einer
starken „Gruppe" Briand, der Anschluß einer andern an Barthou-Poincarö
spricht deutlich genug.
Einen ersten sichtbaren und bedeutenden Erfolg trugen sie auch so davon:
die Wahl Poincarös, damals Kabinettschef im sogenannten Zranä Ministers
national und Bannerträger des nationalistischen Teiles der Linken zum
Präsidenten.
Die Präsidentschaftswahl war nur das äußere Zeichen dafür, daß der
Machtgedanke zum herrschenden der französischen Politik geworden, das Zeichen
dafür, wie sehr die Wandlung in der Kammer und innerhalb der Parteien
bereits durchgedrungen war.
„Größe und Würde des Vaterlandes" sind ständig wiederkehrende Ausdrücke
in den Reden des Präsidenten. Er ist einer der ersten gewesen, der sie wieder
zu Schlagworten eines politischen Programms machte zu einer Zeit schon,
als Combes und seine Schüler noch das Feld beherrschten, als sein Programm
unter den Politikern noch recht wenig Mode war.
Wie kann man ihm da die Überzeugung absprechen, wie kann man glauben,
dieser Mann sei nur kalter Rechner oder ehrgeiziger Streber, seine polirischen
Gedanken nur wohlüberlegte Lockmittel für die Masse! Wir können uns im
Gegenteil nicht scharf genug klar machen, wie stark diesen Mann und wie tief
ihn schon als Lothringer der Gedanke des nationalen Machtstaates und damit
des Gegensatzes zu Deutschland beherrscht, so tief, daß er trotz des lähmenden
Eindrucks von 1870 vor diesem Kriege nicht zurückschreckte, daß er alles daran
setzte, die alte Macht des französischen Staates wieder heimzubringen, koste es
auch einen verzweiflungsvollen Kampf. Und wie ihn, so beherrscht dieser Ge¬
danke auch all die Männer, die ihn gewählt, die ihm bald da bald dort
Handlangerdienste geleistet, die mit ihm als Ministerpräsidenten und Minister in
den letzten drei Jahren die große Politik gemacht und diese Katastrophe ein¬
gefädelt haben, alle die, die mit ihm heute diesen zähen Kampf gegen unser
Heer und Volk leiten. Sie alle werden, wenn nicht völlig geschlagen, nicht
zurückweichen, sie werden ihr Staatsideal nicht selbst zertrümmern. Sie kämpfen
für die historische Großmachtstellung Frankreichs gegenüber Deutschland. Das
gibt ihnen diese Zähigkeit und diesen unbeirrbaren Entschluß zum Erschöpfungs¬
kampf, diesen Optimismus, der uns oft fast irrsinnig oder lächerlich scheint. Daraus
ziehen sie die Rührigkeit und den scharfen Blick, die ihnen immer wieder neue Hilfs¬
mittel gegen uns verschaffen, sei es auf militärischem, sei es auf politisch-diplomati¬
schem Gebiet. Sie sind gezwungen zu kämpfen, wollen sie sich nicht selbst aufgeben,
innerlich vor allem, vom Äußerlichen ganz abgesehen. Und sie werden sich nicht auf¬
gebet, sie werden kämpfen. Denn noch immer bleiben ihnen die „espöi-anne
et 8ouvenir", jene beiden Worte und Ideen zugleich, die wie zwei Sterne
dem Nationalismus in Frankreich seit über vierzig Jahren voranleuchteten
und eine der großen Licht- und Kraftquellen der französischen Nation waren.
Bleibt das Gebiet der Instinkte, bleibt die Revanche als Trieb und die
inneren Beziehungen zwischen ihm und der bildungslosen Volksmasse.
Völker hätten ein schlechtes Gedächtnis, behauptet man. Beispiele aus
der politischen Geschichte sogar der neuesten Zeit scheinen dem Recht zu geben.
Man verweist auf die „entends coräiale". Aber der Schein trügt.
Diese Entente hat in Wirklichkeit jenes tiefe jahrhundertealte Mißtrauen
und jene instinktive Abneigung, die dem Durchschnittssranzosen seit seinen Vor¬
eltern England gegenüber im Blute sitzt, kaum zu mildern vermocht. Und
dies trotz bezahlter Presse, trotz ergebenheits- und freundschaftstriefender Reden
und trotz aller geschäftigen Freundschaftsreisen. Wie sollten wir uns da
wundern, wenn allem Deutschen gegenüber die Gefühle noch einige Grade
tiefer stehen? Wie konnten wir uns überhaupt je über diese Tatsache täuschenI
Wie konnten wir glauben, die Revanchegelüste seien im französischen Volke in
der Abnahme begriffenI Wenn Völker ein schlechtes Gedächtnis haben, so be¬
sitzen sie dafür um so bessere und stärkere Instinkte. Mit ganz instinktiver
Wucht bäumt sich die französische Seele gegen uns auf. Wir sind es gewesen,
die dieses Volk von seiner glanzvollen Höhe heruntergestoßen haben, wir haben
es in allem und jedem überflügelt, von uns hat die Welt täglich mehr geredet
in Neid und Sorge, wir haben Frankreich verdunkelt, ihm den Ruf des ersten
Kulturvolkes der Erde mit Erfolg streitig gemacht. Man muß den ganzen
Stolz des Galliers, seine ganze reizbare Empfindlichkeit, sein fast tragisches
Sehnen nach Geltung in der Welt, nach Geltendmachung wenigstens einer
geistigen Vorherrschaft kennen, man muß sich klar machen, wie brennend ein
Schwacher die Ursache seiner Schwachheit haßt, um zu erfassen, wie tief, wie
wild, wie besinnungslos der Haß der französischen Seele gegen den Deutschen
sein kann und oft auch ist. Kennen muß man auch den instinktiven Haß. den
der Franzose, wie jeder Romane, gegen alle über die Befriedigung des un¬
bedingten Lebensbedürfnisses hinausgehende Arbeitscmspammng, den er gegen
den Fleiß und die Energie des germanischen Deutschen im Blute sitzen hat,
kennen auch seinen von den verrücktesten und lächerlichsten Vorstellungen ge¬
tränkten Demokratenhaß und Demokratendünkel gegenüber dem monarchischen,
also — das ist die gegebene Logik der Franzosen — „barbarischen" Deutschland.
Zeitweilig konnte es scheinen, als ob alles Vergangene vergessen, als ob
Deutscher und Franzose zur Freundschaft reif seien. Man konnte so glauben,
weil eben die führenden Männer Frankreichs alles daran setzten, den Volks»
instinkt zurückzubannen, das Volk auf andere Ziele zu lenken. Man ließ sich
täuschen. Der Wunsch war nur zu sehr auch hier der Vater des Gedankens.
Die tiefgreifende Wandlung, die das Land da drüben durchmachte, kam uns
nur unsicher zum Bewußtsein und erst spät wurde es uns klar, daß nicht ehr-
geizige Politiker den Chauvinismus machten, sondern daß die deutschfeindlichen
Volksströmungen auch immer wieder jene Politiker in ihren Bann zogen und
in ihr Schlepptau nahmen, die an und für sich zu einer Versöhnung einsichtig
genug und bereit waren.
Der Krieg hat den Chauvinismus in Frankreich zu geradezu wahnsinniger
Hitze gesteigert. Wir wollen dem Widerstande der französischen Nation eine
gewisse Größe nicht absprechen. Aber die Quellen, aus denen die französische
Seele immer und immer wieder die Kraft zum Widerstande schöpft, sind doch
grundverschieden von den unseren. Sie sind nur Haß, tierischer Haß geradezu,
gegen alles, was deutsch ist, gleichgültig, ob Personen oder Sachen, Geist oder
Stoff, und sie sind wahnsinnige, blinde Überhebung.
Man lese den „Matin". Man sage nicht: Ein Skandalblatt. Jawohl
ein Radaublatt, aber eines das zu Hunderttausend-» gekauft und gelesen und
blind geglaubt wird, eines, das die mächtigsten Beziehungen und Verbindungen
hat, eines, das sehr oft Sprachrohr der Regierung, jedenfalls aber vieler
leitender Politiker ist. Täglich wird da in unsagbar verächtlicher, in unsagbar
haßerfüllter Weise von unserem Wesen, unserer Kultur, unserer Arbeit ge¬
sprochen, täglich werden die schlimmsten Schauergeschichten von unserer Krieg¬
führung, Schandtaten unserer Soldaten, Behandlung der französischen Ge¬
fangenen usw. usw. aufgetischt, täglich eine Flut von Schimpfnamen über uns
ergossen, der Kaiser und die deutschen Führer und Leiter mit Gift, Galle und
Gemeinheiten von oft geradezu lachhafter Unglaublichkeit bedacht. Und wie
der „Matin", so die vielen andern. Nur so erklären sich Szenen wie die zu
Lyon, wo letztes Jahr, laut Bericht eines Schweizers, die nach Deutschland
abgeschobenen deutschen Schwerverwundeten mit Schmähungen überhäuft wurden
und vor Tätlichkeiten kaum geschützt werden konnten.
Wer die französische Seelenverfassung während der letzten zwei Jahre vor
dem Kriege aufmerksam und allseitig aus nächster Nähe beobachtet hat, kann
sich darüber nicht wundern. Der Haß war latent. Auch in der Masse. Oft
trat er in taktlosester und verletzendster Weise zu Tage, „l^ c>ne3lion ä'^Igacs
n'sse pa8 6u tout reZIöL" war in gebildeten Faunen sehr oft der erste Satz,
den man zu hören bekam. Der Gedanke von den „natürlichen" Grenzen
Frankreichs (gemeint ist der Rhein!) spukte selbst in radikalen Köpfen, wenn er
vielleicht auch nur in intimerer Diskusston zum Vorschein kam. Deutschland
muß wieder in seine (nur zwangsweise vereinten!) Teile aufgelöst werden, war
eine ständig wiederkehrende Vorstellung, bezeichnenderweise am meisten bei der
jungen studentischen Generation. Die ganze Gedankenwelt des Franzosen war
von dem Worte „Deutschland" beherrscht. Sein ganzes politisches, militärisches,
soziales Leben war gebildet von der Furcht und der Scheu vor diesem Wort.
Deutschland war seit Jahren der Alp, der ihn quälte Tag und Nacht, infolge
begreiflicher und überwältigender Suggestion auch den gemeinen Mann, es war
das „Monstre" — wie einmal der Lyoner Bürgermeister Herriot in einer
Wahlversammlung sagte —, zu dessen Beseitigung er die wildesten An¬
strengungen machte, das „Monstre", das den Sozialisten nicht weniger
quälte wie den Bourgeois.
So bleibt die Revanche ebensosehr als Instinkt wie als Idee, beides in
gleichem Maße, in die französische Seele hineingebohrt und gewinnt gerade
in den führenden Köpfen, einem Poincarö, DelcaM, Maurice Barros, Richepin,
Comte de Mur, durch die Verbindung beider diese scharfe und rücksichtslose
Kraft, die wir zu gleicher Zeit bewundern und bedauern möchten.
u der militärischen und politischen Generaloffensive des Vier-
verbandes ist die wirtschaftliche getreten. Seit der Pariser Kon¬
ferenz begegnen wir überall den äußersten Anstrengungen Englands,
die Herrschaft der vieroerbändischen Wirtschaftsallianz durchzuführen
und zur Tatsache zu machen. Ganz klipp und klar ist der Weltkrieg
damit auf der Stufe angelangt, die eine Fortsetzung auf ökonomischem Gebiet
bedeutet. Dies ist die wichtigste Feststellung: das Mitteleuropa des Vierbundes
steht wirklich und wahrhaftig einem wirtschaftlichen Ententeblock gegenüber. Die
Neutralen, deren wirtschaftliche Unabhängigkeit sicherstellen zu wollen, die Pariser
Beschlüsse so wunderschön verkündeten, sind damit zwischen die Mühlsteine geraten.
Mögen sie sich einzeln noch so sehr sträuben mit Vorbehalten und Protesten
gegen die Londoner Regierung, so wird diese sich doch nicht abhalten lassen,
ihre Kraftprobe weiter zu versuchen. Solange die Vereinigten Staaten von
Amerika nicht die Rolle des Führers der neutralen Staaten übernehmen,
solange wird jeglicher Zusammenschluß und jegliches gemeinsame Vorgehen ein
Schlag ins Wasser bleiben. England hat die Neutralen bis auf ganz wenige
Ausnahmen samt und sonders unter seine harte Hand gezwungen und sie damit,
sei es gewollt oder ungewollt, mittelbar oder unmittelbar, zu einer Stellung ver¬
anlaßt, die für uns Deutsche heute feindselig ist. Man hat wahrhaftig Mühe,
einen Neutralen zu finden, der noch nicht vergewaltigt ist. Neben Griechenland
sind besonders in der letzten Zeit die nordischen Staaten und die Schweiz die
Opfer der englischen Willkür geworden. An die Einzelheiten zu erinnern, ist
in diesem Zusammenhang nicht nötig; sie dürften überdies in frischer Erinnerung
sein. Wir haben hier nur als einen ersten Punkt festzuhalten, daß wir, solange
der Krieg dauert, von den Neutralen nichts zu erhoffen haben, daß all ihre
ohnmächtige Wut gegen die Beaufsichtigung ihres Handels durch die Engländer
eben doch nur eine ohnmächtige Wut ist. Gibt es heute überhaupt noch
Neutrale? Die Frage erscheint gerechtfertigt in dem Augenblick, da man sich
überlegt, daß der Krieg in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen heute keinen-
Staat unangetastet gelassen hat. Soweit freilich braucht die Folgerung nicht
zu gehen, daß die so gemeinte Unneutralität mit einer offenen Feindseligkeit
gegen die Mittelmächte gleichgesetzt werden dürfte. Der Not gehorchend, nicht
dem eigenen Triebe, gilt auch hier für die meisten der Neutralen.
Wir stehen noch mitten in den schwersten Kämpfen auf allen Fronten.
Die Furcht vor der Wahrheit und die aufdämmernde Einsicht, uns militärisch
nicht unterkriegen. zu können, ist die wahre Ursache zu der erheblichen Ver¬
schärfung des Wirtschaftskampfes. Es ist bei ihm deutlich zu unterscheiden:
das Bestreben, den Aushungerungsplan zur Wirksamkeit zu bringen, um uns
zu einer schimpflichen Kapitulation zu zwingen; dann darüber hinausgehend,
bereits jetzt mit dem Kampf gegen den Wirtschaftskonkurrenten Deutschland mit.
aller Gewalt einzusetzen, um uns in Friedenszeiten für den Weltmarkt wett¬
bewerbsunfähig zu machen. Das sind die nächsten Ziele der englischen nun¬
mehrigen Handelspolitik. Sie zielen also ab auf den Gegner Deutschland. In
diesem Verhältnis wird sich bis zum Friedensschluß tatsächlich so gut wie nichts
ändern und ändern lassen. Der Krieg hat von selber ein Prohibitivsvstem für
alle Beteiligten geschaffen auf Grund der Abschließung, Einkreisung und
Blockierung der Mittelmächte. Wenn auch unser Außenhandel während des
letzten Jahres gegenüber dem ersten Kriegsjahr sich gehoben hat, will das doch
nichts besagen, sofern man sich vergegenwärtigt, daß unser Export, der in
Friedenszeiten rund zehn Milliarden Mark betrug, zum allergrößten Teil heute
sint liegt und keine nennenswerten Erträgnisse liefert. Unsere Industrie ist zur
Kriegsmaschinerie ausgebaut worden, unsere Rohstoffe und unsere Arbeitskräfte
sind in erster Linie da, den deutschen Sieg zu erringen. Wir müssen uns an
Wahrheiten halten und dürfen uns an keine Illusion verlieren. Die Rede
Asquiths zu den Pariser Beschlüssen, die ganz diktiert ist von der Angst der
deutschen Invasion auf den Weltmärkten, ist zwar ein unfreiwilliges Kompliment
für die Tüchtigkeit des deutschen Kaufmannsstandes und das hervorragende
deutsche Organisationstalent, aber weiter nichts. Wie die anderen Krieg-
führenden, so haben auch wir große Verluste an Menschenleben, seien sie
Intelligenz oder rein mechanische Arbeitskräfte, zu verzeichnen. Unsere Rohstoffe,
für die wir nicht selbst Hilfsquellen im Lande besitzen, sind zum großen Teil
aufgezehrt. Es ist also lediglich ein Märchen, wenn uns von der feindlichen
oder neutralen Seite immer wieder große Vorräte an fertigen oder halbfertigen
Erzeugnissen angedichtet werden, mit denen wir unmittelbar nach Friedensschluß
den Weltmarkt überschwemmen könnten. Wir werden im Gegenteil das Sinnen
und Trachten darauf richten müssen, unter Ausschaltung jeglicher Erschwernis
des Handels mit den Neutralen unsere Bestände so zu ergänzen, daß die deutsche
Valuta kreditfähig bleibt für die Zeit der neuen großen Kapitalanstrengungen.
Das oben besagte Prohibitivsnstem hat logischerweise zu dem Bestreben geführt,
sich mehr und mehr selbst zu genügen. Das ist ja auch die Grundidee der
mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft, daß wir uns späterhin für alle Fälle
ein verläßliches Wirtschaftsbündnis schaffen, das uns die politische Stärkung
eines geschlossenen Handelsstaates in jedem Augenblick zu gewähren imstande
ist, daß das Mitteleuropa, um mit Friedrich List zu reden, als eine einheitliche
„Agrikulturmanufalturhandelsnation" in die Erscheinung tritt.
Von gar nicht zu überschätzender und trotzdem merkwürdigerweise vielfach
übersehener Wichtigkeit ist nun ein zweiter Punkt: England baut vor für seine
ganzen Weltmarktinteressen, nicht nur für seine Verrechnung mit Deutschland.
Es ist durch die Tatsache, daß es in von den Leitern der Londoner Politik
ungeahntem Umfange zur tätigen Teilnahme am Kriege gezwungen worden ist,
in sehr beträchtlichem Maße von den wirtschaftlichen Geschehnissen fern¬
gehalten worden. Seine europäische politische Bedeutung hat, das darf man
ruhig angesichts der bedeutenden Verpflichtungen der Ententegenossen gegenüber
England aussprechen, wohl kaum gelitten, dagegen ist seine weltwirtschaftliche
Stellung nicht unerheblich erschüttert. Menschen und Maschinen arbeiten heute
aus dem Jnsellande wenig genug für den Export von Friedenswaren. Auch
die englische Industrie ist mehr und mehr zu einer Rüstungsindustrie geworden.
Diese Sorge, zu viel eingebüßt zu haben von der Weltmachtstellung in wirt¬
schaftlicher Hinsicht, drückt die Londoner Machthaber heute unseres Erachtens
ebensosehr wie das Bangen um den Kriegsausfall selber. Die Vereinigten
Staaten von Amerika und Japan haben England in großem Maße Abbruch
getan. Die Märkte der Welt diesen beiden Konkurrenten gegenüber sich soweit
wie möglich zu erhalten und neu zu gewinnen, darauf laufen die Bemühungen
hinaus. Wie stark die Schwierigkeiten, die sich diesen Anstrengungen entgegen¬
setzen, übrigens sind, geht aus den folgenden Ausführungen des Londoner Mit¬
arbeiters der „Züricher Post" hervor: „Die Verewigten Staaten machen
gewaltige Anstrengungen, um den Handel in Südamerika an sich zu reißen,
und sie haben schon bemerkenswerte Erfolge erzielt. Auch in Südafrika sind
es die Amerikaner, die den Minenbesitzern, besonders bei der Ausbeutung der
Diamanten die modernsten Maschinen verkaufen. Auch die amerikanischen Werk¬
zeuge finden größeren Absatz als die britischen. In Australien sind es wieder
die amerikanischen Häuser, die überallhin ihre Vertreter aussenden, um genau
die lokalen Verhältnisse zu erkunden. Seit dem Krieg hat sich dieses England
ungünstige Verhältnis noch bedeutend zugunsten Amerikas verschoben. Daß
Kanada von den Amerikanern besonders aufmerksam bearbeitet wird, ist bekannt.
Die Japaner befassen sich hauptsächlich mit Indien und Neuseeland. Besonders
in dieser letzteren Kolonie haben die Japaner den Platz der Deutschen ein¬
genommen und verkaufen dort zu bedeutend billigeren Preisen als die Deutschen
dies je getan haben. Gegenwärtig ist in Neuseeland kein Geschäft, das nicht
irgendeinen japanischen Artikel verkauft. In Indien gewinnt der japanische
Handel immer mehr an Boden. Die japanische Regierung unterstützt die aus¬
wärtigen Unternehmungen tatkräftig. Selbst in Großbritannien gelangen
Strumpfwaren und Artikel für den Tuchhandel, die in Japan fabriziert werden,
zum Verkauf. Die Preise der japanischen Waren sind auch in England
bedeutend niedriger als diejenigen für die gleiche Ware deutscher Herkunft vor
dem Krieg."
Schon aus diesen wenigen Angaben erhellt, daß der britische Kaufmann
trotz der Ausschaltung der Deutschen nicht mehr Herr seines Marktes ist. Es
ist also wohl verständlich, wenn diese Verschiebung der Kräfte in England
außerordentlich zu denken gibt, und daß man alle Hebel in Bewegung setzt,
die zwei Hauptziele zu erreichen, nämlich: Deutschland militärisch und wirt¬
schaftlich niederzukämpfen, sein wirtschaftliches Leben zu erdrosseln und gleich¬
zeitig den Kampf auf dem Weltmarkt gegen die neuen durch den europäischen
Krieg zur Macht gelangten Konkurrenten Amerika und Japan auszunehmen
und gegen das erneute Eindringen und Wachsen der deutschen Konkurrenz
vorzubeugen. Der Wirtschaftskrieg hat demnach einen Kriegssinn und einen
Fnedenssinn- beide durchdringen sich jetzt schon in intensivster Weise.
Welcher Mittel bedienen sich die Alliierten, oder, besser gesagt, bedient
sich England zur Erreichung dieser Ziele? Es dürfte einleuchten, daß
sich bei dieser Fragestellung nicht mehr unterscheiden läßt, wie es die
Pariser Beschlüsse fein säuberlich zu tun vorgeben, zwischen Mitteln der
Kriegszeit, der Übergangszeit in den ersten Friedensjahren und solchen
einer permanenten Handelspolitik für die Zukunft. Hier fließen die
Begriffe schon vollkommen ineinander über, wie es auch die Absichten tun.
Während die Blockadepraktiken lediglich auf die Verhinderung der Zufuhr von
Rohstoffen und Lebensmitteln in das Gebiet der Mittelmächte abzielen, reichen
die Vergewaltigung der Neutralen und, um nur ein Beispiel zu nennen, das
System der Schwarzen Listen, weit in die Übergangszeit mit dem oben geschil¬
derten doppelten englischen Ziel hinein. Formulieren wir positiv die Absichten
Englands näher, so laufen diese auf die Schaffung wirksamer Maßregeln zum
Schutze feiner Industrie hinaus. Das ist in der Tat auch der Feldruf geworden.
Die Schwierigkeiten, mit denen die englische Industrie in den letzten Jahrzehnten
zu kämpfen gehabt hatte, lagen zu einem guten Teil im Freihandel begründet.
Er hat allen ausländischen Jndustrieprodukten. auch solchen, die im Inlands
besser erzeugt werden konnten, Tür und Tor geöffnet und die Abstoßung der
Überproduktion des Kontinents zu Schundpreisen ermöglicht. Der englische
Exporthandel zeigte sich demgegenüber, wie von britischer Seite selbst zugegeben
wird, überall lässig und rückschrittlich. Man ließ die Kundschaft an sich heran-
kommen, anstatt sie aufzusuchen und gab der Konkurrenz das Feld zu leichten
Kaufes preis. Der Freihandel, der den englischen Transithandel ganz zweifel¬
los zu einer großen Blüte verholfen hat, hat auf die Industrie - Politik nur
wenig förderlich gewirkt. Nun da Englands Wetthandelsstellung gefährlich
bedroht ist — nicht nur durch die Kriegsereignisse mit der Schaffung der Straße
durch den Balkan und der ständigen Gefahr für den Suezkanal, sondern auch
durch die Änderungen im Tarifwesen infolge der Verbilligung der Landtrans¬
portmittel und des schnellen Emporkommens der deutschen Schiffahrt — ist England
in die Zwangslage geraten, genau wie es von der Bekämpfung des Militaris¬
mus selber zum Militarismus übergegangen ist, auch seine wirtschaftlichen
Grundsätze zu verleugnen: seinen freihändlerischen Standpunkt umzudenken in
einen schutzzöllnerischen. Es sind also durchaus Ideen einer merkantilistischen
Handelspolitik, die von den Pariser Beschlüssen zum Programm erhoben worden
sind, ja, der Krieg hat uns, wie es der schwedische Nationalökonom Gustav
Cassel ausgedrückt hat, sogar plötzlich in eine „Hochrenaissance dieses Merkan¬
tilismus versetzt, die den alten Ideen niegeahnte Lebenskraft verliehen hat und
dieselben Methoden wieder hat aufleben lassen." Im Mittelpunkt der Bestre¬
bungen dieses Geistes steht der Wille, die Zentralmächte von einer Meistbe¬
günstigung in den Gebieten der Alliierten auszuschließen. Nach Asquith „haben
sich die Verbündeten untereinander verpflichtet, den feindlichen Mächten für
eine Anzahl Jahre die Behandlung auf der Basis der Meistbegünstigung zu
verweigern und in dieser Zeit der Erholung vom Kriege ihre Hilfsmittel unter
Bedingungen so auszutauschen, daß die Maßregeln Deutschlands, sich Vorräte und
Material aus den neutralen Ländern zu sichern, durchkreuzt würden." Eine kurze
Überlegung läßt schon erkennen, daß hier der wunde Punkt des Pariser Programms
liegt. Abgesehen davon, daß die Interessen der einzelnen Ententegenossen viel zu
sehr auseinanderstreben und viel zu wenig Gemeinsames haben, ist der Gedanke
der Schaffung einer solchen abgeschlossenen Einheit absurd zu nennen, da sich
die Gesetze von Produktion und Umsatz nicht von heute auf morgen ändern
lassen. Weiter ist das Aufeinanderangewiesensein bei der heutigen innigen
Weltverflechtung aller am Weltmarkt teilnehmenden Nationen so stark aus¬
gebildet, daß anzunehmen ist, bald nach Friedensschluß werde das oberste
ökonomische Prinzip des wohlverstandenen Eigennutzes politische Rücksichten
leicht in den Hintergrund drängen. Das Rad der Weltgeschichte läßt sich nicht
zurückdrehen. Die Zeit der Nationalökonomie ist längst ersetzt durch die einer
Weltökonomie. Ist das eine naturgegebene Gegenwirkung gegen die englischen
Pläne, so stellen sich außerdem noch eine Unmenge von Hemmungen ein, die
die Probleme erschweren und ihre Lösung fast utopisch erscheinen lassen. Be¬
trachten wir diese näher, so stehen technische Schwierigkeiten obenan; denn die
Versagung der Meistbegünstigung an Deutschland heißt unbedingt für England
die Einführung des Schutzzolles. Das bedeutet weiter die Notwendigkeit der
Schaffung von Freibeznken in sämtlichen Welthäfen der Entente und unendliche
Beschwerlichkeiten in der Zollbehandlung der Güter nach ihrem Ursprungslande.
Ausgleichsmärkte anzulegen, dieser Gedanke entspricht ganz und gar den kleinen
Geistern, die heute die englische Politik machen. Immer wird ein Kunde dort
kaufen und von dort beziehen, wo er die Waren am billigsten und mit den
geringsten Transportkosten verknüpft, erhält. Die Länder der Erde sind ja
von der Natur lange nicht gleichmäßig mit Rohstoffen begabt, ebensowenig wie
mit einer auf gleicher Höhe stehenden Industrie, mit einem gleichgearteten wissen-'
schaftlichen Geist und organisatorischen! Sinn. Eine Abschließung der Vierverbands-
mcukte von Erzeugnissen des Vierbundes würde also ohne Zweifel bei der
unvermeidlichen Zuspitzung der dann notwendigen Zollkriege eine gesicherte
friedliche Entwicklung, ein Zurücklenken in die Bahn des allgemeinen mensch¬
lichen Fortschrittes, zur Unmöglichkeit machen. Es ist nicht ohne pikanten
Beigeschmack, daran zu erinnern, daß das auf Grund eines überzeugten
Bekenntnisses zum Freihandel gewählte englische Parlament und Kabinett sich
heute unter dem Zwang der Lage damit beschäftigt, das Prinzip einer inter¬
nationalen Handelsfreiheit abzuhauen, das allein dort Berechtigung hat, wo eine
Konföderation aller Nationen auf gleicher politischer und wirtschaftlicher Basis den
ewigen Frieden garantieren könnte. Und noch an eins sei in diesem Zusammen¬
hang der Gegenwirkungen erinnert, das uns das Recht gibt, dem Anschlag der
Alliierten auf unser Wirtschaftsleben mit Ruhe entgegenzusehen: wir meinen, die
deutsche wissenschaftliche Schulung und unsere technische Organisation. Ein Blick
auf die Entwicklung dieser Dinge zeigt, daß es in Preußen 1871 erst 36 Patente
gab, daß wir in unseren Reichsgrenzen 1877 nicht weniger als 29 verschiedene
Patentgesetze zählten, während in England bereits 1852 ein weitsichtiges Patent¬
gesetz erlassen worden war. Von diesem letztgenannten Jahre an datiert recht
eigentlich erst die Weltmarktbeherrschung der Engländer. Es war hierzulande
dem einzelnen Erfinder nicht möglich, in allen Staaten Patentgelder zu
zahlen, er wanderte aus nach England, wo er für seinen Geistesblitz
reichliche Verwendung finden konnte. In der Tat war ja seinerzeit Eng¬
land das Hauptauswanderungsland, aber nicht wie heute Amerika für niedrig¬
stehende, halbunkultivierte Völker, sondern gerade für die besseren Schichten.
Wir wissen, daß um diese Jahrzehnte durch die Erfindung der Dampf¬
maschine und vor allem der langen Reihe neuer Arbeitsmaschinen, besonders
in der Textil- und Eisenindustrie, die ersten großen Erfolge neuzeit¬
licher Technik errungen worden sind, daß der Kapitalismus mit zielbewußter
Rücksichtslosigkeit in England den Typus des Fabrikbetriebes herausgebildet
hat. Also nicht aus eigener Kraft allein, sondern zusammenwirkend mit natür¬
lichen Begünstigungen und fremden Einflüssen ist England so zum „xvork8top
ok worlä« geworden und hat als solcher nicht nur die anderen Länder, vor
allem Deutschland, mit seinen Erzeugnissen versorgt, sondern ihnen auch als
große Musterwerkstätte gedient. Seit es uns auf Grund der endlich errungenen
nationalen Existenz gelungen ist, ein großes eigenes Wirtschaftsgebiet zu kulti¬
vieren, seit wir begonnen haben, eine neuzeitliche Industrie zu entwickeln, ist
England den Krebsgang gegangen. Es hub die so auffällig plötzlich einsetzende
Zeit des Versiegens des englischen Ersindungsgeistes an und die Jahre kamen,
in denen wir Maschinen und Halbfabrikate, Vorarbeiter und Unternehmer
in großem Maßstabe aus England bezogen. Der über alle Maßen großartige
Aufschwung der technischen Wissenschaften und der Naturwissenschaften, die Heran¬
bildung eines tüchtigen, unter dem Schutze der Sozialgesetzgebung wohlgehaltenen,
gelernten und ungelernten Arbeiterstandes und der Pioniergeist des deutschen
Unternehmertums, das sind Faktoren, die wir ruhig den Pariser Wirtschafts¬
beschlüssen entgegenstellen dürfen. Wenn also die Pariser Konferenzmächte als
ein würdiges Gegenstück zu dem Exportausschluß der Mittelmächte beschlossen
haben, alles was an internationalen Patent- und Markenschutz, internationalem
Schutz des literarischen und künstlerischen Eigentums in der Zeit vor dem Kriege
erreicht worden ist, in Scherben zu schlagen und einer teilweisen Freibeuter¬
periode Tür und Tor zu öffnen, so ist auch das ein Punkt, dessen Bedeutung
wir nicht unterschätzen, aber auch mit Nichten überschätzen wollen. Der Ent¬
wicklung dieser Dinge können wir getrost entgegensehen.
Wir versagen uns, an diesem Ort auf die scharfen, bereits in offener
Form zutage tretenden ^Interessengegensätze wirtschaftlicher Art im Rahmen der
Vierverbandsmächte selber des näheren einzugehen. Das Großbritannische Im¬
perium mit seiner ausgesprochenen Industrialisierung, das noch überwiegend
agrarische Rußland, Italien, Serbien und Montenegro und das wirtschaftlich
geschwächte Frankreich und Belgien, wie stellen sich die Herren Asquith,
Grey und Runciman die Aufgabe vor, die divergierenden Interessen aller
dieser Länder unter einen Hut zu bringen? Der Handelsverkehr ist mit
dem modernen Kapitalismus so eng verbunden, daß Schädigungen des einen
auch Schädigungen des anderen bedeuten. Die „wirtschaftliche Schützengraben¬
gemeinschaft" also, die die Pariser Wirtschaftskonferenz „beschlossen" hat, ist
nichts weiter als eine schöne Phrase. Sehr scharf drückte die Gegensätzlichkeiten
in dem feindlichen Lager der Präsident der Moskaner Börse aus, der erklärte:
„Wir müssen darauf bedacht sein, uns nicht nur gegen unsere Feinde, sondern
auch gegen unsere Freunde wirtschaftlich zu verteidigen". Dem allen halten wir
den weit logischeren und zwingenderen Aufbau der mitteleuropäischen Wirtschafts¬
gemeinschaft von Hamburg bis Bagdad entgegen. Es handelt sich also für uns,
ohne unser Ausfallstor nach der Nordsee zu vernachlässigen, darum, allen Ernstes
und energisch an diesem Abwehrbund zu arbeiten.
Wir fassen zusammen: als leitende Ideen bestimmen den heutigen und
künftigen wirtschaftlichen Krieg die Furcht Englands vor dem neuerstehenden
deutschen Wettbewerb, die Furcht vor der nun mehr und mehr infolge der Selbst-
zerfleischung Europas zum Aufschwung gelangenden Konkurrenz der Vereinigten
Staaten von Amerika uno Japans, die Absicht Englands, die eigenen Bundes¬
genossen sür alle Zeiten an sich zu fesseln und sie zu verpflichten, sich auch
weiterhin vor den Karren der Londoner Regierung und der englischen Geldinteressen
spannen zu lassen. Der Krieg, den dabei die Entente gegen die Neutralen führt,
ist lediglich eine Nebenerscheinung für die Dauer des Krieges mit dem Ziele,
unsere Aushungerung doch noch durchsetzen zu können, vielleicht auch den einen
oder anderen Neutralen in das Lager der angestrebten Weltwirtschaftsvereinigung
des Vierverbandes hinüberzuziehen. Die — und das ist wohl zu beachten
— bislang nur unvollständig und in phrasenhaften Sätzen bekannt gewordenen
Ideen, die die Pariser Konferenz in ihren Beschlüssen festgelegt hat, bedeuten
also angesichts des bereits mit aller Schärfe betriebenen Kampfes in vielen
Teilen eine Utopie, wir meinen aber, daß es nicht angeht, sie mit dem Prädikat
einer wirtschaftlichen Wahnsinnstat abzutun, es müßte denn sein, daß man
Wahnsinn mit Verzweiflung bei der englischen Regierung gleichsetzen mag. Ganz
ohne Zweifel gehen wir den gewaltigsten wirtschaftlichen Kämpfen entgegen.
Demgegenüber gibt es in der Weltgeschichte keinen Vergleichsmaßstab. Die
Kontinentalsperre, die Napoleon gegen England errichtet hat, ist gegen die
heutigen Pläne ein harmloses, kleines Beginnen gewesen. Wir erkennen das
Bestreben des Vieroerbandes, die Welt in zwei Handelsgebiete auszuteilen und
die Naturgesetze jeglichen Wirtschaftsverkehrs umstoßen zu wollen, für einen
baren Unsinn, und trotzdem möchten wir warnend die Stimme erheben gegen
eine Unterschätzung der Dinge, die sich da vorbereiten für unsere deutsche Zukunft
mit besonderem Hinweis auf die politischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben
werden. Macht steht gegen Macht.
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AW?'MMnsere deutschen Landsleute in den Ostseeprovinzen, deren Schicksale
wir gerade in dieser Zeit mit besonderer Teilnahme verfolgen,
zerfallen in die'mehr zerstreut wohnenden, aber ständisch fest¬
geschlossenen Großgrundbesitzer, die inmitten einer einheimischen
Bevölkerung ihre Güter haben, und in die eng zusammenwohnende
Bürgerschaft der größeren Städte Riga, Reval, Dorpat und der kleineren, von
denen ich hier Goldingen und Pernau nenne. Von dem echt deutschen bürger¬
lichen Zusammenleben in diesen Städten am Ende des Mittelalters soll die folgende,
lediglich auf Urkunden beruhende Darstellung handeln.
Von jenen größeren Städten ist Riga im Jahre 1201 von dem berühmten
Bischöfe Albert den Ersten gegründet worden, und unter seiner rührigen
Leitung ergossen sich bald Ströme der deutschen Einwanderer in das so günstig
gelegene Land an der Mündung der Dura, Reval verdankt seinen Ursprung
dem dänischen König Waldemar dem Zweiten, aber dieser gab der Stadt das
Lübsche Recht und begünstigte dem Zuzug deutscher Ansiedler, und Dorpat oder
Darpte ist die alte, im Jahre 1030 gegründete, russische Stadt Jurgew, sie kam
aber im Jahre 1224 in die Gewalt der Deutschen, wurde von diesen neu be¬
besiedelt und trat, wie die beiden genannten Städte, dem Hansabunde bei. An
diesen schloß sich die deutsche Bevölkerung dieser Städte an, weil sie nur so
Schutz finden konnte gegen die Versuche des seit 1237 im Lande seßhaften
deutschen Ordens, die städtische Selbständigkeit zu vernichten.
Schon das Äußere der genannten Städte hatte ein niedersächsisches Gepräge
und hat dieses auch zum großen Teil trotz aller Ungunst der Zeiten bewahrt.
Wir sehen schon von weitem die hochragenden, alten, früh von deutschen Meistern
erbauten Kirchen: in Riga die Marien- oder Domkirche, in Reval die hoch
über der Stadt liegende Kirche des heiligen Olafs, und wenn wir näher kommen,
sehen wir die eng gebauten Städte umgeben von einer Mauer mit vielen Türmen.
Schon die mittelalterlichen Namen der letzteren unter uns heimatlich an. In Riga
haben wir den Buddenturm, den tom antiker 6ör Zroten AiIcle3tovL, den
tom KeleZen acuter elem IZIIerbroKe. den verlauten tom. Und dasselbe
Gepräge haben die Namen der engen Straßen: in Riga die Kopstrate,
Kremerstrate, Kuterstrate, Slotstrate, Schostrate und, um den niedersächsischen
Humor zu Worte kommen zu lassen, die Straße des hinkenden Schneiders, oder
die hinkende Schneiderstraße oder schlechtweg die hinkende Straße.
Neben dem alten Rathause stehen die niedersächsischen Buden und Schwib¬
bögen, die von der Stadt an die Handwerker und Kaufleute vermietet werden.
Die Schlachter haben außerdem noch ein gemeinsames Schlachthaus, das sogenannte
Kuthus, das der Stadt gehört, die Schuster ein ebenfalls von dieser gemietetes
Gerberhaus. Auch gibt es eigene Häuser zum Pressen von Wachs, Flachs
und Talg, sogenannte Persehäuser, ferner eine Reperbahn. Vor der Stadt Riga
finden wir, wie in Rostock und anderen Städten, einen Rosengarten. Von
größeren, zum Teil jetzt noch erhaltenen Prachtbauten nenne ich neben den
Schlössern die Gildehäuser in allen drei Städten, vor allem die Häuser der
sogenannten Schwarzenhäupter, der jungen vornehmen Kaufleute. Auch die benach¬
barten Großgrundbesitzerhatten, wie in den niedersächsischen Städten, wohlihreHäuser
oder Höfe in der Stadt, wie z. B. in Riga die Herrn von Rosen ihren Rosenhof.
Daneben besaßen sie auch einige von den oben genannten Buden. In Dorpat
waren die Tiesenhausens begütert.
Die mannigfachen in der Stadt betriebenen Gewerbe werden uns am klarsten
durch die Familiennamen anschaulich gemacht, denn diese sind ursprünglich Zu¬
sätze zu dem früher allein gebrauchten Vornamen: so sind aus Konrad dem Ader-
leter später die Aderleter entstanden. Von der guten Bewaffnung der allezeit
wehrfähigen und wehrtüchtigen Bürger geben uns die Namen Harnischmaker,
Platenschläger (Plate ist ein lederner, mit Stahlplatten versehener Panzer),
Schwertfeger eine Vorstellung, und so finden wir vom handfesten Knochenhauer
und Koppersleger bis zu dem kunstfertigen, hoch angesehenen Zulverberner oder
Testberner, „der das Silber im Tiegel oder im Test probiert und die Blicke
brennt, damit es fein werde", alle weitverzweigten Handwerksarten des Mittel¬
alters in den Namen der Bürger vertreten.
Eine andere, ebenfalls echt niederdeutsche Art von Familiennamen ist aus
körperlichen oder geistigen Eigentümlichkeiten des Betreffenden hergeleitet. Ich
erwähne nur die Namen Langhals. Magerfleisch, Nemandesvrunt und im Gegen¬
satze dazu Gudekumpan, Sachtelevent, b. h. der sachte oder üppig und bequem
dahinlebt. Und endlich finden wir in reichster Fülle die Namen der Land¬
schaften und Städte vertreten, aus denen die einzelnen ausgewandert sind, von
l'KeutonicuZ oder Duschen, Frese, Westfal, Sasse an bis zu den vielen kleinen
und großen Städten Niedersachsens, die ich hier nicht im einzelnen auszählen
kann. Selbst in Reval, das doch von Waldemar von Dänemark gegründet war,
treten die nordischen Namen Jwersen, Judasson, Salomonsen u. a. gegen die
deutschen zurück. Ja, den Niedersachsen allein gebührt der Ruhm, dieses Land
der deutschen Kultur gewonnen und diese Kultur gegen alle Angriffe tapfer und
zäh verteidigt zu haben.
Alles Sinnen und Trachten dieser deutschen Bürger war darauf gerichtet,
ihre Sitten und Einrichtungen, die sie in ihrer Heimat liebgewonnen hatten,
auch hier in der Ferne treu zu bewahren. Zunächst zeigt sich das in der
Verfassung der Städte. Auch hier ist der Rat Träger der äußeren Politik
und die Seele der inneren Verwaltung. Die gesamte Bürgerschaft, die so¬
genannte Mannheit, gibt ihren Willen kund und stellt ihre Anträge in den
Burspraken, deren uns verschiedene erhalten sind. In ihnen tritt deutlich die
deutsche Eigenart hervor. Im Jahre 1405 findet sich in der Rigaer Bursprake
folgende Bestimmung: „Auch so soll kein Deutscher mit einem Altdeutschen durch
Einschuß eines Kapitals in eine Handelskompagnie treten," und 1412 wird be¬
stimmt: „Keiner soll Med brauen, wenn er nicht ein seßhafter Bürger ist. Ebenso
soll kein Undeutscher Med brauen, noch ausschenken." Und an unsere heutigen
Kriegsgesetze und Verordnungen erinnern uns folgende Satzungen einer Bur¬
sprake aus dem Jahre 1405: „Niemand soll außerhalb der Stadt Gut kaufen,
das auf dem Wege ist zur Stadt zu kommen, bei drei Mark Brüche. Auch
soll man nicht dobelen d. h. würfeln um derartiges Gut, was der Landmann
zu Markte bringt, ehe das gekauft ist, bei einer halben Mark Rigaisch. Keiner
soll Vieh, Butter, Käse, trockene Fische und solche Lebensmittel nicht mehr kaufen,
als er derselben mit seinem Gesinde bedarf in seinem Hause bei drei Mark
Strafe." Besonders wird das noch eingeschärft in bezug auf das Brennholz.
„Niemand soll Brennholzes mehr kaufen, als er dessen bedarf zu seines Hauses
Notdurft, und auch das nicht wieder verkaufen bei drei Mark Nigaisch." So
sollte allen Preistreibereien vorgebeugt werden, und als der gewiesene Kauf¬
platz galt ein für allemal der Markt, auf dem sich der Preis von selbst regulierte
und allzu hohen Preisen leicht vorgebeugt werden konnte.
Andere Bestimmungen beziehen sich aus die gemeinsame Verpflichtung zur
Hilfe bei Feuersbrünsten und bei einem Angriffe auf die Stadt. So heißt es:
„Zum Feuer soll jeder kommen mit Spannen (hölzernen Gefäßen) und Äxten
und mit so starken Tauen, daß man damit retten kann." Jeder Bürger war
zu nächtlichem Wanddienste verpflichtet und hatte seinen bestimmten Platz auf
der Mauer einzunehmen, im Falle eines feindlichen Überfalls. Daher mußte
jeder einen vollen Harnisch „zu seinem Leibe" haben bei drei Mark Strase.
Zur Kontrolle fanden kirchspielweise Besichtigungen statt, und so finden wir einmal in
einer Revalschen Kämmereirechnung vom Jahre 1440 die wunderliche Zusammen¬
stellung: „item so kostete das harnsch (Harnisch) und de Schorsten (die
Schornsteine) zu besehen eine Mark im Se.-Nikolauskirchspiele."
Ja, es mußte ein wehrhaftes, kerniges Geschlecht von deutschen Bürgern
hier an der äußersten Grenze deutscher Kultur auf dem Posten stehen gegen
heidnische Angriffe, aber auch zur Verteidigung seiner Rechte gegen die hohen
geistlichen Würdenträger, mochten es nun die Bischöfe oder die Ordensmeister
sein. Daher auch die vielen Handwerker zur Herstellung von Wehr und Waffen,
wie wir oben sahen. Und streng hielt der Rat darauf, daß nicht Üppigkeit,
Aufwand und nächtliche Ausschweifungen diese Wehrhaftigkeit vernichteten. Um
neun Uhr mußte jeder zu Hause sein, zu einer Hochzeit durfte man nur zu
sechzig Schüsseln einladen, zum ersten Besuch einer Wöchnerin nur zwölf Frauen,
und nur ebenso viele durften ihrem ersten Kirchgange beiwohnen.
Trotz aller Abhärtung und kriegerischen Rüstung war aber die Politik der
Städte, so lange es irgend möglich war, eine friedliche, und vor allem suchten
sie sich durch Zusammenschluß mit andern städtischen Gemeinwesen zu stärken.
Träger dieser klugen Politik war der Rat, und Abgeordnete dieses Rates er¬
schienen zu den oft lagerten Versammlungen in Wall, wo nur die Städte der
Ostseeprovinzen vertreten waren, andere aber traten die weite Reise zu den
großen Hansetagen an, die seltener stattfanden. Gerade durch den Anschluß
an die Hansa bekam das Deutschtum der Städte im fernen Osten einen starken
Rückhalt, denn den Städten in Deutschland mußte viel daran liegen, Riga und
die anderen Orte, die den wertvollen Handel mit Rußland vermittelten, stark
und selbständig gegen die Übergriffe des Deutschordens zu erhalten. Ferner
aber wurde auf diesen Hansetagen auch die Beschaffenheit der Waren, die nach
dem Osten geschafft wurden, einer strengen Aufsicht unterzogen. Wir hören
wiederholt von den vorgebrachten Klagen über die zunehmende Kleinheit der
Honigfäsfer und das schlechte Maß der Iperschen, Poveringschen. aber auch der
Göttinger Laken d. h. der Tuchballen. "
Alle diese Verhandlungen überließ die Bürgerschaft vertrauensvoll dem
Rate, und dieser hatte auch großen Einfluß auf das Zusammenleben der
Bürger im Inneren der Stadt, auf ihre Zünfte und Gilden, die uns hier
wegen ihres durch und durch deutschen Charakters besonders beschäftigen müssen.
Der Deutsche des Mittelalters war nicht nur ein Glied der gesamten Bürger¬
schaft, die als solche nur selten zusammenkam; er hatte vielmehr das Bedürfnis,
mit seinen engeren Standes- und Handwerksgenossen in Sachen seines Ge¬
werbes und zur Pflege der Geselligkeit in seiner Gildestube zu weilen. Es
gab Gilden der Handwerker, der Kaufleute und der vornehmen Jugend,
der sogenannten Junker. Wer in der einen Gilde war, durfte nicht gleich¬
zeitig in einer anderen tagen; im Gegensatz zu dem Vereinsleben der
heutigen Zeit nahm die Gilde die Kraft des einzelnen ganz und ungeteilt
für sich in Anspruch. Aber dafür werden in den Satzungen der einzelnen
Gilden auch alle Seiten des bürgerlichen Lebens berücksichtigt. Es wird streng
gehalten auf kirchlichen Sinn, auf bürgerliche gute und einfache Sitte, auf Zucht
und Ordnung im geselligen Zusammenleben der Gilde, auf gegenseitigen Beistand
in Not und Krankheit und endlich auf Pflege und Bewahrung des Deutschtums.
Wir gehen hier aus von den Gilden der Handwerker, an die wir zunächst
bei dem Worte Gilde denken. Erhalten sind uns die Schraaen oder Satzungen
der Böttcher, Kürschner. Schneider, Schuhmacher, Schmiedegesellen und Fischer
in Riga, der Knochenhauer, der Fuhrleute und der Bierbrauer in Reval. Bei
den letzteren sehen wir deutlich, wie der Rat und die Bürgerschaft solche Gilden
gründeten, denn in der Urkunde des Jahres 1438 heißt es: „In diesem Jahre
wurde unserR at einig mit Vollmacht der Mannheit, daß sie der Brauergesell-
schaft eine Redlichkeit und Schraae geben wollten." Wenn wir hier von
den technischen Einzelheiten, in denen sich die verschiedenen Handwerke von¬
einander unterscheiden, absehen, so ist allgemein das erste Erfordernis für
den Eintritt in die Gilde Wohlanständigkeit und Zugehörigkeit zur deutschen
Nation; so heißt es noch in der schon erwähnten Urkunde vom Jahre 1438 im
§ 8 der Brauergesellschaft: „Niemand soll in die Gesellschaft aufgenommen
werden, er sei denn der Gesellschaft würdig und sei ein deutscher Mann und
habe eines guten deutschen Mannes Kind zur Frau."
Der Eintritt in die Gilde war mit besonderen Kosten verbunden. Eine
Bestimmung der Schraaen für die Fuhrleute in Neval lautet folgendermaßen:
„Wer die Kompagnie gewinnen will, soll fünf Mark ausgeben und zwölf
Schillinge zu Wachsgelb (d. h. zu Wachskerzen in der Kirche) und drei Tonnen
Bier und eine Kost mit allem Zubehör den ehrbaren Herrn aus dem Rate
und die uns aus dem Rate als Beisitzer gesetzt sind und der Kompagnie."
Wir finden auch schon in den Gilden die erste Form unserer Krankenkassen,
wenn es in einer Schraae der Schmiedegesellen heißt: In Krankheitsfällen soll
man erst eine Kräuterfrau stellen; wenn einer aber längere Zeit kränkelt, soll
man ihm leihen einen halben Vierding, das sind ungefähr zehn Mark heutigen
Geldes, aus der Büchse, die er ersetzen muß, wenn er gesund ist. Stirbt er
aber, dann soll die Summe aus dem Nachlaß gewonnen werden. Ist er noch
länger krank, dann soll jeder ihm einen Artig, das sind ungefähr 30 Pfennige,
zu seiner Notdurft geben, und wenn er auch dann nicht besser wird, dann sollen
die Herren vom Rate gebeten werden, daß er kommt in den Heiligen Geist in
das Haus ebenda d. h. das Krankenhaus.
Allgemein gültig sind die Bestimmungen über ein ruhiges, gesittetes Verhalten
in. der Gildestübe. So heißt es in der erwähnten Schraae der Schmiedegesellen:
„Vergießt ein Bruder also viel Bier, daß man es nicht mit dem Fuße bedecken
kann, der soll das büßen mit einer Mark Wachs. Und trinkt ein Bruder
mehr, als ihm wohl bekommt, in dem Gildehause, das besehen wird von zwei
Brüdern aus unserer Kompagnie, der soll das büßen mit drei Mark Wachs.
Auf der Straße ist es seine eigne Schande. Ferner soll niemand würfeln in
unserer Kompagnie bei einem halben Liespfund Strafe und käme es vor, daß
jemand seine Kleider verwürfelte oder vertauschte oder in schlechten Häusern
schliefe in „hilgen eiden" (heiligen Stunden), wird er dessen von zwei unserer
Brüder überführt, der soll der Kompagnie eine Tonne Bier geben."
An der Spitze der Gilde stand ein Oldermann, der durch verschiedene
Bestimmungen in der Wahrung seiner Würde als Vorsitzender und als
Hüter der Ordnung unterstützt wurde. Ohne seine Zustimmung darf nicht
gesungen werden. Er hat allein das Recht, die amtliche Sitzung und die Ge¬
selligkeit zu schließen. Wenn er das Ende bestimmt, oder, wie es einmal
heißt, das 8eKaMar fallen läßt, ein Ausdruck, der noch nicht erklärt ist, dann
sollen das die Brüder mit Fröhlichkeit trinken und gehen damit zu guter
Nacht. Wer sich nicht an dem sckapkar genügen IM, der soll eine halbe
Tonne Bier geben."
Gewiß werden bei dem seßhaften Trinken und der damit verbundenen
Aufwallung der Leidenschaften manche Gewalttaten vorgekommen sein. Daher
werden bestimmte Strafen dafür festgesetzt, wenn jemand seinen Zinnkrug an
eines anderen Kopf schlägt und den Krug dabei verdenke. Darauf kommen
wir bei den Gilden der Kaufleute und der jungen Patrizier näher zu sprechen,
zu deren Schilderung ich jetzt übergehe.
Im Jahre 1354 wurde die Schraa der Gesellschaft der Kaufleute
in Riga erlassen, und diese wird die allgemeine Kompagnie „beides der
Gäste und der Bürger" genannt. Dieser Name hat seine Geschichte.
Ursprünglich bildeten die Kaufleute von Soest, Münster und Lübeck
in Riga eigene Gilden und hatten ihre eigene militärische Organisation
als Gäste d. h. Fremde. Sie kämpften bis zum Jahre 1232 unter einer
besonderen Fahne neben den Bürgern in den Kriegen, die von der Stadt ge¬
führt werden mußten, und hatten sozusagen ein Hansakontor, wie die hanseati¬
schen Kaufleute in Nowgard und Bergen. Hier in Riga, an der Seite einer
deutschen Bürgerschaft, mußten sie im Laufe der Zeit mit dieser verschmelzen,
und dieser Vorgang tritt deutlich auch in der gemeinsamen Gilde zu Tage.
Sie hat den Namen bekommen: de Hof de Kumpanei van den kopluden.
Auch hier wird auf äußere Ehrbarkeit und auf Wahrung des deutschen Volks-
tums gehalten. Keiner soll einen Gast bitten zu trinken, wenn er nicht weiß,
daß er ein guter Knappe sei, bei einem halben Liespfund Wachs. Kein
Knecht darf in der Türe stehen bei einer Mark Strafe. Keiner soll einen Gast
in die Kompagnie bitten, der für Lohn dient, bei einem halben Liespfund
Wachs. Gegenseitige Beleidigungen sind strenge verpönt. Wer mit zornigem
Mute dem andern böse Worte gibt, wie Schalk u. tgi., der soll daS mit
einer halben Mark Silber büßen. Wer „Dieb" sagt, was an seine Ehre
geht und an seine ours (wohl an seine Aufführung, seinen guten Namen),
der soll zur Strafe sogar vier Liespfund Wachs bezahlen, und noch höher ist
die Strafe für den, der den anderen schlägt. — In der Schraa der
großen Gilde in Neval ist bestimmt: „So jemand aus Zorn mit Bier über¬
gössen wird, der Täter soll jedes Mal büßen eine Mark. Ruft jemand, wenn
der Oldermann die Glocke zieht, und fällt ihm in das Wort, der soll allemal
büßen eine Mark lötigen Silbers".
Die Gilden der jungen Patrizier, der sogenannten Schwarzenhäupter, die sich in
Riga, Neval und Goldingen nachweisen lassen, aber auch wohl in anderen
Orten bestanden, stimmen in manchen Bestimmungen mit den oben genannten
Gilden überein, aber in anderen unterscheiden sie sich von ihnen. Das ist
auch ganz natürlich, denn sie waren eben Vereinigungen der jüngeren Patrizier
oder Junker, wie wir diese auch in den innerdeutschen Städten jener Zeit
finden. — Zunächst sind die Anordnungen über das äußere Verhalten in den
Versammlungen noch eingehender und strenger. Zu beachten ist, daß der Ein¬
tritt niemanden gestattet wurde, der um Lohn diente oder ein Undeutscher
war, ausgenommen die Goldschmiedegesellen und die Schiffsleute. Wer einen
Hund in die Stube einläßt und nicht sofort hinausjagt, bezahlt einen Pfennig.
Gegen das Schneiden in die Tische und das Verschrammen der Tischplatten
wird kurz und bündig der Satz aufgestellt: „So manche Schramme, so manchen
Pfennig; so manchen Spahn, so manchen Pfennig. Wenn einer ein Glas
Bier ohne Erlaubnis verschenkt oder so viel Bier vergießt, als er mit der
Hand und dem Fuß nicht bedecken kann, bezahlt einen Taler, ebensoviel, wer
während der Kollation schläft, daß man ihm dreimal vergeblich zutrinkt."
Kollation oder None scheint die Morgensprache zu sein und um neun Uhr
morgens stattgefunden zu haben. Wer da Nägel abschneidet oder ein Licht
auftut, bezahlt einen Taler.
Es scheint in dieserKollation ein recht kräftiger Trinkzwang ausgeübt worden zu
sein, aber diesem kann entgehen, wer nicht Lust hat zu trinken. Ein solcher
darf hinter der None kommen, bei einem besonderen Tische sitzen und sich den
Jungen schenken lassen, soviel ihm beliebt. Das ist jedermann frei. standes¬
gemäß ist. daß hier bei Streitigkeiten die blanke Waffe eine Rolle spielt. Daher
schreibt sich die Bestimmung: „Wenn einer den Degen oder die Wehre entblößt
(blotet) oder zu den Waffen ruft, bezahlt einen Taler." Aber im Jähzorn
ließ sich auch wohl ein junger Patrizier zum Werfen mit einem Glase hin¬
reißen. Auch dagegen findet sich eine strenge Satzung.
Den Vorsitz scheinen hier sogenannte Vögte geführt zu haben, denn in einer
Bestimmung heißt es: „Wenn sich einer in der Stube unbillig hält mit Worten
oder Werken, so sollen die Vögte oder deren Stellvertreter ausklopfen und ver¬
bieten Unlust zum ersten Male, zum zweiten Male und zum dritten Male. Will
er es sich dann nicht sagen lassen, so soll man Lukas. Marcus, Matthäus und
Johannes ansprechen, ihn zu strafen."
Besonders glänzend wurde in diesen Gilden Fastnacht gefeiert. „Den
Fastabendstrunk soll man trinken vom Mittwoch vor Fastabend an, und des
ersten Sonntags in der Fasten soll er aus sein. Die vier Tage, dieweil usu
hier tanzt mit Frauen und Jungfrauen, soll man keinen Gast einführen, wenn
nicht etwa fremde Gesellen von draußen hereinkommen." In Dorpat kauften,
wie eine Urkunde uns mitteilt, im Jahre 1445 die Schwarzhüupter zu ihrer
Kleidung „in der Schoduvelschop" d. h. zum Maskenfest (Schauteufel ist ein
Maskierter) vier Ballen blauen Tuches.
Aber auch die Pflichten gegen die Kirche wurden nicht vergessen, wenn die
ernste Fastenzeit angebrochen war. Gerade dann wurden vielfach Vigilien und
Seelenmessen gefeiert für die verstorbenen Gildenbrüder, und aus bestimmten
Stiftungen wurden die Mittel dazu bestritten. So sollen in Goldingen Vigilien
am Freitag zu Fastelabend und Seelenmessen am Sonnabend darauf gehalten
werden. Die Schäffer sollen drei Lichte dazu machen lassen und sollen Frauen
bitten, diese zu tragen. — Diese Gilden hatten infolge von großen Vermächtnissen
reichen Besitz und machten große Schenkungen an die Kirchen. So werden in
einer Urkunde des Jahres 1441 die kirchlichen Gebranchsgegenstcinde aufgezählt,
welche die Gesellschaft der Schwarzhäupter in Riga zu Se. Katharinen und
Se. Peter gestiftet haben, unter anderen in der letzteren Kirche zwei große Kannen
aus Silber, auf denen das Wappen der Gesellschaft angebracht war, ferner in
Se. Katharinen, wo sie einen eigenen Stuhl haben, zwei gemalte Glasfenster.
In derselben Urkunde findet sich auch ein Verzeichnis des Hausrates der Gilde¬
stube an Silber, Tischzeug, Möbeln. Bildern und Waffen. Die letzteren haben
zum Teil einen sehr ernsten Zweck, wie die zwei Steinbüchsen, die dem Kauf¬
manns zwischen Lübeck und Riga zur Verteidigung dienen sollen, zum Teil aber
dienen sie zum Stecken oder zu Turnieren, einem Vergnügen, das sich die jungen
Patrizier auch in den Städten des inneren Deutschlands gegen Ende des Mittelalters
gestatteten. Dazu gehören zwei Steckhelme, zwei Platen d.h. Brustpanzer, zwei Sättel
und „Stecksachen genug". Ursprünglich durften aber nur Schwarzhäupter diese
Waffen brauchen, wie es in den Göttinger Satzungen heißt: „Niemand soll in den
Turnieren springen, es sei denn ein Schwarzhaupt, bei einem Schiffspfund
Wachs Strafe."
Bei diesen im obigen wiederholt angeführten Bußen darf es uns nicht
auffallen, daß sie vielfach in Wachs bezahlt wurden, denn das geschah auch
oft bei den Gilden des deutschen Mutterlandes. Auffallen könnte um die
Menge des zu liefernden Wachses, denn wenn wir zuletzt von einem Schiffs¬
pfund hören, so beträgt dieses ungefähr drei Zentner oder 150 Kilogramm,
und das wiederholt genannte Liespfund d. i. das Livische Pfund entspricht
vierzehn Pfunden oder sieben Kilogrammen. Gewiß wurde ein großer Teil
des so gelieferten Wachses in den Kirchen zu Lichtern verbraucht; überdies aber
war Wachs schon im dreizehnten Jahrhundert das Hauptausfuhrerzeugnis der
Ostseeprovinzen. Die Massenerzeugung beweisen die vielen urkundlich bezeugten
honigtragenden Bäume, d. h. Baumstämme, in denen Gestelle für Bienenkörbe
angebracht waren. Allein Riga hatte Hunderte von diesen an Liven verpachtet,
die mit der Hälfte des gewonnenen Wachses zahlten.
Wir haben einen Einblick getan in das bürgerliche Leben und Treiben
dieser deutschen Ansiedler, die niemals durch staatliche Bande mit dem Mutter-
lande vereinigt gewesen und nie von Kaiser und Reich unterstützt worden find. In
ihrem Kampfe gegen die sie umlagernden Feinde waren sie auf die eigene Kraft
angewiesen, und sie haben diese Kraft Jahrhundertelang glänzend bewährt und
bewähren sie vor allem heutzutage in den allergefährlichsten Kampfe, den sie
jemals zu führen gehabt haben. Möchte ihrer echt friesisch-niedersüchsischen
Zähigkeit und Ausdauer der gebührende Lohn zuteil werden!
er Ursprung aller Religionen ist auch der Ausgangspunkt unserer
religiösen Sehnsucht, die der Krieg geweckt hat: Not lehrt beten.
Wie der primitive Mensch bei einer höheren Macht Schutz suchte
gegen die feindlichen und überwältigenden Naturkräfte, wie die
besten unter den Juden sich heraussehntm aus der ertötenden
Äußerlichkeit des Gesetzes, so empfinden wir das Bedürfnis nach Befreiung von
der erdrückenden Not des Krieges und suchen seelischen Halt in einer höheren,
über diese Wirklichkeit erhabenen Idee.
Es ist natürlich, daß dieses Erlösungsbedürfnis je nach dem Grade der
inneren Kraft und der Wahrhaftigkeit des betreffenden Menschen verschieden stark
und verschieden umfassend erscheint. In einem früheren Grenzbotenheft (Ur. 30,
1915), in dem ich Zeugnisse religiöser Empfänglichkeit beibrachte und diese für unsere
religiöse Zukunft bewertete, hatte ich versucht, die Steigerung des Empfindens
in drei verschiedenen Stufen des Gebets darzustellen. Das Ursprüngliche,
Triebhafteste ist der Selbsterhaltungstrieb des eigenen Leibes. Der Mensch,
in dem bezwingender Gefühl seiner eigenen Ohnmacht, klammert sich an über¬
natürliche und übermenschliche Hilfe, mit der er die Vernichtung des eigenen
Selbst zu verhindern hofft. Das zweite war ein Abwenden von der körperlichen
Not, ein Erlösungsdrang von den Schrecken der Schlacht zu geistiger Ruhe und
Glückseligkeit, ein Nichtmehrempfindenwollen der Wirklichkeit, eine Himmelssehnsucht,
der Glaube an etwas Überirdisches, ewig Feststehendes, das trotz der verwirrenden
Schrecklichkeit der umgebenden Welt bestehen bleibt. Auf der dritten Stufe endlich
steht das religiöse Gefühl, das in der eigenen Seele die Kraft findet, die Wirk¬
lichkeit aufzunehmen und zu überwinden; in dem Bewußtsein, höchste, heiligste
Pflicht zu erfüllen, in dem Sicheinsfühlen mit dem göttlichen Willen, der sich
uns in unserem Kampfe um die völkische Selbsterhaltung offenbart.
Alle drei Formen religiösen Empfindens haben als gemeinsame seelische
Grundlage die Sehnsucht nach Erhaltung des Lebens und nach Teilnahme am
Ewig-Dauernden, Unendlichen. Das ist ein urmenschlicher Trieb. „Das sieht
fast wie Trotz aus", sagt Bierbaum in seinen Reisegeschichten von den ägyptischen
Totenkammern und konservierten Leichen. „Auf alle Fälle ist es der Ausfluß
einer ungeheuren Entschlossenheit, Menschliches als das Bleibende im ewigen
Wechsel zu stabilieren."*) Den höchsten Wert für die Entwicklung der Menschheit
hat natürlich der Wille, der selbst die Opferung des einzelnen Lebens nicht
scheut und sich auf das Bestehen einer mystisch gefühlten Gemeinschaft richtet
und so die Welt bezwingt, statt sich von ihr besiegen zu lassen.
Es besteht kein Zweifel, daß wir den zuletzt angedeuteten Seelenzustand
auch in Friedenszeiten, in der unbeeinflußten Ruhe gleichmäßiger Empfindungen
als den erhabensten bezeichnet hätten; auch als den, der unserem gesteigerten
Bedürfnis nach Verinnerlichung des religiösen Gefühls und der gegenwärtigen
Auffassung von der Überwindung der Wirklichkeit am meisten entspricht.
Wir überlassen den Selbsterhaltungstrieb in seiner einfachsten Form niederen
Kulturstufen und schwächeren Naturen, wenn wir uns auch seiner als einer
Augenblicksstimmung nicht immer frei fühlen. Wir vermögen auch heute nicht
mehr dauernd in Abkehr von der Welt und in Andacht vor ewigem Frieden
und Ruhe zu versinken. Denn eine solche Nichtachtung der Welt, die alles
Irdische nur annimmt als Vorbereitung auf künftige himmlische Glückseligkeit,
würde zum Pessimismus, zur Askese führen. Einer solchen Lebensverneinung
find wir heute nicht mehr fähig. Sondern dem Zeitalter der technischen Siege,
dem gesteigerten menschlichen Kraftbewußtsein entspricht die geistige Durch¬
dringung und Besiegung der bewußtgewordencn Dinge, die „Weltüberlegenheit"
(Gucken), der Glaube an selbständiges, von aller Gegenständlichkeit freies, d. h.
ewiges geistiges Leben. In der Gestaltung der Arbeit zu einer wirkenden,
beseelten Einheit wird uns der göttliche Geist in täglicher Schöpferkraft sichtbar.
Es ist nicht zu leugnen, daß eine solche mehr philosophische Gesinnung,
der noch dazu der äußere Halt, der feste Jdeenkreis fehlt, allzu abstrakt ist, um
auf das religiöse Leben bestimmend einzuwirken. Zur werbenden Kraft und
sinnlichen Anschauung hat ihr aber der Krieg verholfen; er hat dem Drang
nach dem Unendlichen greifbare Möglichkeit und aussichtsvolle Erfüllbarkeit
ljeqeben. Denn in dem Ringen zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen
erscheint die Fortdauer des eigenen Volkes als die Ewigkeit, der wir nachstreben
können, und als Trost und Sinn des Opfers und der Ausdauer. Der Geist
der Gemeinschaft, die wir Volk nennen, ist das Überdauernde, in dem der
einzelne, der sich als Teil dieser Gesamtheit bewußt wird, seine geistige
Unsterblichkeit findet.
Es scheint mir, als ob dieses Bewußtwerden gerade der Gewinn dieses
Krieges ist, der jedem zu zeigen vermag, daß wir nicht nur um unser materielles
Leben, sondern auch um das Weiterbestehen unserer geistigen Art kämpfen, der
allen klar werden ließ — man denke an den Vaterlandsdienst der Sozialisten —,
wie eng Empfinden und Wille jedes einzelnen mit der Gesamtheit, dem Volk
verknüpft ist, und in ihm eine metaphysische Liebe wachrief, eine Liebe, die
Treue hält bis zum Tode. —
Es hat in der deutschen Geschichte schon einmal eine Zeit gegeben, in der
Volksgedanke und Gottesgedanke sich innig verbanden. Das war, als man die
napoleonische Herrschaft abschüttelte und aus stumpfer Würdelosigkeit zu tätigen
Selbstbewußtsein erwachte. Es ist kein Wunder, daß gerade der Philosoph,
der damals die Einheit unseres Ewigkeitsbedürfnisses mit den höheren Zwecken
der Nation klar erkannt und mutig bekannt hat, heute wieder wirklich volks¬
tümlich geworden ist: Fichte, der Vorbereiter und Verkünder der deutschen Einheit.
Die achte seiner Reden an die deutsche Nation ist überschrieben: „Was
ein Volk sei in der höheren Bedeutung des Volkes und was Vaterlandsliebe."
Auch er geht von dem natürlichen Triebe des Menschen aus, „den Himmel
schon auf dieser Erde zu finden und ewig Dauerndes zu verstoßen in sein
irdisches Dasein." Er veranschaulicht ihn an der Liebe zu den Kindern, in
deren veredelten und vervollkommneten Wesen die Eltern auf dieser Erde noch
fortleben wollen. Man findet, sagt er, die Gewähr für einen solchen Glauben
an die Möglichkeit, unvergänglich im Geiste zu, bleiben, in einer Ordnung von
anerkannter Ewigkeit, vorausgesetzt, daß man an einer solchen Ordnung teil hat.
Diese Ordnung ist ihm weiter nichts als die „besondere geistige Natur der
menschlichen Umgebung, aus welcher er selbst mit seinem ganzen Denken und
Tun und mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist,
das Volk, von welchem er abstammt und unter welchem er gebildet wurde."
Und indem er „Ewiges" und „Göttliches" einander gleichsetzt, steht er in der
geistigen Fortzeugung einer einheitlich fortlebenden Gemeinschaft- „den sinnlichen
Ausdruck der Offenbarungen des Göttlichen." Die Hoffnung des einzelnen
Menschen auf ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Welt gründet
sich „auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er sich
entwickelt hat." Vaterlandsliebe ist Ewigkeits-, Gottesliebe in dem höheren
Sinne, der die Nation nicht bloß als äußere Form für die Gewährleistung
allgemeiner Ordnung und Wohlfahrt, sondern „als Hülle des Ewigen auffaßt."
Es ist kein Wunder, daß diese Fichtesche Anschauung gerade in dieser
Zeit notwendiger nationaler Selbstbesinnung wieder Wurzel gefaßt hat (oder
daß ihre deutsche Ursprünglichkeit durch diesen Krieg offenbar wurde). In den?
erwähnten früheren Aufsatze habe ich es an einer Reihe von Feldpostbriefen
einfacher Soldaten gezeigt. Heute will ich die Beispiele durch Stellen aus
Schriften der neuesten Kriegsliteratur ergänzen. Professor Alfred Uckelev, der
in seiner Schrift „Wie sie im Kriege Gott fanden" (Bonn 1916, Verlag Alex
Schmidt) mit großer Vorsicht Material gesammelt und verarbeitet hat, bringt
den sehr bezeichnenden Brief eines Reserveoffiziers bei. „Als ich endlich das
Wort Mobilmachung las", heißt es da an einer Stelle, „da sagte ich zu
mir: so, nun ist dein Leben zu Ende. Was du noch weiterhin erlebst und
erleidest, das erlebst und erleidest nicht du, sondern ein Teil des deutschen
Volkes. . . Jeder Tag, der noch für dich kommt, ist jetzt ein Geschenk
Gottes. So schloß ich ab. Alles, was nun kam an Arbeit, Strapazen und
Gefahren, war auf diese Weise etwas geworden, was nicht mehr mich, sondern
eigentlich nur mehr das Vaterland und Gott anging." Dieser Brief ist aus
dem Felde geschrieben, also im unmittelbaren Erleben des Krieges. Aber
auch in den anderen, die nicht immer den Tod vor Augen haben, regt sich
derselbe Geist, wenn sie wahrhaftig und hellseherisch genug sind. Zu solchen
Klarheits- und Wahrheitsmenschen gehört Trcmb, der in seinen Kriegspredigten
abseits aller Literatur die Kraft und Tiefe seines Erlebnisses bezeugt. In
seiner Flugschrift: „Der Krieg und die Seele" (Politische Flugschriften, heraus¬
gegeben von Ernst Jucks. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin) spricht er
noch deutlicher und bewußter den Fichteschen Gedanken aus: „Heute leuchtet
die Sonne des Vaterlandes über jedem Menschenkind, das vom Morgen bis
zum Abend seine Pflicht emsiglich erfüllt und segnet ihn. Er gehört zum
Ganzen." „Was bedeutet heute ein Einzelgrab. . . Und doch liegt ein ganz
anderer Schein darüber, die Sonne des erlösten Volkes leuchtet über dem
Rain." Und weiter: „Gott ist größer als das, was wir von ihm denken,
und er stellt jetzt nebeneinander Atheisten und Katholiken, Monisten und
Protestanten, Heilsarmee und Juden, und begräbt sie unter einem Nasen. Sie
alle kämpfen um das Vaterland, das ist heute ihr Gott, ihre Welt, ihr Glück . . .
Auf diesem blutgetränkten Boden wird ein neuer Glaube aufstehen."
Unsere Feinde haben uns die Verquickung von Vaterlandsdienst und
Gottesdienst übel ausgelegt. Sie haben sich den faden Scherz gemacht, dem
deutschen Gott eine preußische Pickelhaube aufzusetzen. Dieser Hohn gehört zu
dem geistigen Feldzug, mit dem man uns in der ganzen Welt vernichten
möchte. Man will die Unwissenden glauben machen, wir beteten den Götzen
Militarismus an, die rohe Gewalt, den germanischen Gott Thor, der den Hammer
in der Faust trägt.
Diese bewußte Entstellung wird auch auf manchen Neutralen Eindruck ge¬
macht haben, der sich mit dem äußeren Schein begnügt und zu bequem ist, den
Dingen auf den Grund zu sehen. Eine Kenntnis des deutschen Geistes und
besonders des deutschen Idealismus würde ihm die Überzeugung verschaffen,
daß wir unser Deutschtum nicht nur sinnlicher Zwecke wegen lieben, weil unser
Vaterland uns die Möglichkeit materiellen Wohlergehens bietet, sondern weil
wir in ihm das Streben nach unabhängiger Wahrheit und das Werkzeug
höherer sittlicher Zwecke finden. „Dieser Krieg ist gerecht, voll gerecht", sagt
Traub in der angeführten Schrift. „Daran zweifeln ist Sünde. Trotzdem bin
ich froh, daß wir nicht auf solche Urteile unsere Sache stützen, sondern auf den
Glauben an die Gerechtigkeit der Weltordnung. Dieser Glaub- ist trutziglich
fest, er hält sich an das Unsichtbare und Ewige, was Gott in unserem Volke
niedergelegt hat. . . Hier hat die Seele ihre innere Ruhe. . . Weil wir uns
mit der Weltgeschichte eins wissen, darum sind wir siegesgewiß." Vaterlands¬
dienst ist uns nur Gottesdienst, weil das Vaterland uns nicht bloß Inbegriff
von Macht und Ordnung ist, sondern weil es Geist ist, lebendiger, tätiger
Geist, für dessen Wirksamkeit in der Welt wir unseren Willen und unser
Leben einsetzen. Wir begnügen uns aber nicht mit dem Gefühl, so sicher wir es auch
empfinden mögen. Wir wollen es auch, gewissenhaft und selbstquälerisch, wie
wir sind, verstandesmäßig vor uns verantworten können. Ist der deutsche Geist
etwas so Besonderes, daß seine Erhaltung in der Welt so großer materieller
Opfer wert ist?
Fichte hat die deutsche Eigenart in seiner siebenten Rede ungefähr so ver¬
deutlicht: das innerste Wesen des Auslandes sei der Glaube an eine feste, un¬
veränderliche Form, innerhalb derer sich das Leben bewege, ohne sie zersprengen
zu können. Die deutsche Philosophie sei durch die bloße Erscheinung zum Kern
vorgedrungen, zum ewigen, göttlichen Gedanken, durch den unser Leben erst
seinen Sinn erhält. So sehe das Ausland in der Staatskunst auch nur das
Vermögen, „alles Leben in der Gesellschaft zu einem großen und künstlichen
Räderwerk zusammenzufügen." Eine solche feste und tote Ordnung der Dinge
sei nicht das Ziel der deutschen Staatskunst. Die Sicherheit eines Staates
scheine ihr nicht so sehr in einer feststehenden Form zu beruhen, als in dem
Geist, der als ewig bewegliche Triebfeder das Leben der Gesellschaft ordnen
und fortbewegen soll. Die Geschichtsphilosophie des Auslandes glaube an ein
goldenes Zeitalter, an eine äußerste Grenze der Entwicklung, einen Kreislauf
der Geschichte. Nach der Anschauung des Deutschen aber „macht der eigent¬
liche und rechte Mensch die Geschichte selbst, nicht etwa nur wiederholend das
schon Dagewesene, sondern in die Zeit hineinschaffend das durchaus Neue."
Das Ausland kenne Freiheit nur als ein Schwanken zwischen mehreren un¬
abänderlichen Notwendigkeiten. Uns sei Freiheit Entschluß, Wille, unendliche
Verbesserlichkeit, ewiges Fortschreiten. Deutsch ist, wer das Nichtige entschieden
fallen läßt und aufmerksam hinhorcht, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen
Lebens rauscht; in dem die Schöpferkraft des Neuen hervorbricht. „Was an
Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung
dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das . . . ist unseres Geschlechts; es gehört
uns an, es wird sich zu uns tun."
Das Haupthindernis bei der Erneuerung der deutschen Nation, gegen das
Fichte ankämpfte, war die Überschätzung des Fremden, d. h. des Napoleonischen
Staates, und die Ergebung in das unabänderlich scheinende Schicksal. Des¬
halb sucht er das Deutschtum gegen das ausländische (hauptsächlich romanische)
Wesen abzugrenzen und sein Selbstbewußtsein zu heben. Wir sind inzwischen
ein Nationalstaat geworden; unser Selbstbewußtsein ist mit unseren materiellen
Erfolgen gewachsen. Und doch brauchen wir nach wie vor einen sittlichen
Halt, die Erkenntnis unserer völkischen Pflicht. Wir sind ein Weltvolk ge¬
worden. Unser Vaterlandsdienst wird nicht mehr bloß getrieben von dem
Empfinden, daß unser Volksgeist ein besonderer Geist ist, dessen Erhaltung für
uns von ungeheurem Lebenswert ist. Wir sind jetzt auch von dem Bewußtsein
erfüllt, daß er ein weltordnender ist, dessen Mitwirkung wir unter Einsetzung
von Opfern zu fördern entschlossen sind. Fichte hat die geistige Sendung des
Deutschtums prophetisch verkündigt, sicherlich ohne bei seinen Zeitgenossen das
volle Verständnis zu finden: „Wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Mensch¬
heit und. ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung." In Erinnerung
Fichtescher Gedanken schien mir ein Buch unsere von? Weltkrieg aufgeführten
Empfindungen besonders klar und treu zum Ausdruck'zu bringen. .Es ist die
Schrift von Arthur Borns. „Religion als Wille," Grundlegendes zur neuen
Frömmigkeit (Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1915). Ich will einen
Teil seiner Grundgedanken hier folgen lassen; das Buch verdient, weil es auf
wahrhaftiger innerer Erfahrung beruht, auch außerhalb eines bestimmten An¬
hängerkreises gelesen zu werden.
Jede Notwendigkeit äußeren Geschehens, gegen die wir uns anfangs
wehren zu müssen glauben, empfindet der tiefer schauende. Religiöse als
Wille, d. h. sittliche Notwendigkeit. Je länger wir uns in die Welt hinein¬
versenken, desto mehr wird uns der Zusammenhang zwischen dieser Notwendig¬
keit und dem inneren Zwang in unserer eigenen Brust bewußt. Wenn es uns
gelingt, unseren tiefsten Willen zu leben, aus dem empfundenen Sollen ein
Wollen mit Freuden und aus dem Wollen ein Können mit Lust zu machen,
so erobern wir uns selbst, gewinnen die Zuversicht, daß wir ein Teil des
Allwillens sind und damit allem Geschaffenen überlegen. Wir fühlen uns als
König über Stoff und Schicksal. Diese Wahrheit braucht eine Zeit wie die
unsere, eine Zeit schweren Kampfes, um verstanden zu werden. Welt und
Leben sind im Tiefsten nur unter dem Gesichtspunkt des schaffenden Willens
zu verstehen, und Wille hat als seine natürliche Kehrseite den Kampf gegen
das Überflüssige, Verbrauchte, Wertlose, um Neues zu gestalten.
Das Gefühl des in uns heraufdrängenden Willens, den wir alle in Gestalt
der ungeheuren Entschlossenheit empfunden haben, auch geistig nicht unterzugehen,
diese neue Frömmigkeit, die der Krieg gebracht hat, kann ein Bindemittel werden
zwischen Volk und Gebildeten, kann die drohende Gefahr einer „Auseinander-
entwicklung der Religion in Philosophie (die Religion der Gebildeten) und
oberflächlichen Aberglauben, das Zerschneiden der Zusammenhänge zwischen oben
und unten" verhüten. Die Bejahungskraft des schöpferischen Willens vermag
aus uns wieder ein Volk im besten Sinne des Wortes zu machen.
Daß wir diesen unseren Glauben und Willen über alle Entbehrungen und
Opfer hinaus empfinden, darin kann nur der Sinn gefunden werden, daß die
Erhaltung unseres Volkstums einen höheren Wert hat. Geschichtliche Be¬
weise für den Wert des Volkstums bieten die Babylonier. Ägypter. Griechen.
Römer, Juden. Daß das Volk die natürlichste, stärkste, geisterfüllteste Ideen-
Gemeinschaft ist, hat sowohl das Christentum (vergl. Galater, 3, 28: Hie ist
kein Jude noch Grieche, hie ist kein Knecht noch Freier, hie ist kein Mann noch
Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu) als auch in letzter Zeit
die Sozialdemokratie anerkennen müssen. Die internationale Organisation der
Menschheit ist nur möglich mit Hilfe in sich geschlossenen Volkstums. Wenn
ein Volk sich dann nach außen durchsetzen und dabei alle Hemmnisse beseitigen
will, d. h. Krieg führt, begibt es sich auf einen Weg, wo nur die beste Organisation
durchhält, und so fühlt es den Zwang in sich, sie zu schaffen. Die volksmäßige
Auffassung der tiefsten Lebensfragen ist der internationalen übergeordnet, weil man
nur im Nichtabstrakten, im Volksmäßigen wirklich erlebt und nur aus wirklichem
Erleben religiöse Anschauung gewinnt. „Wer sein Volk nicht liebt, das er kennt,
wie kann er die Menschheit lieben, die er nicht kennt/' Die Wissenschaft kann
wohl international sein, soweit sie das sinnlich Wahrnehmbare nach allgemein
gültigen technischen Gesichtspunkten ordnet und klärt. Die religiöse Welt¬
betrachtung, die auf dem Willen und der Erkenntnis seiner Aufgabe in der
Welt aufgebaut ist, muß volkspersönlich verschieden sein. Den Drang, Welt¬
religion zu werden, andere Völker zu überzeugen, hat jede Religion in sich, be¬
sonders aber die religiöse Idee der Deutschen. Denn entgegen einem besonders
von englischen Denkern aufgebrachten Vorbild, die den Fortschritt der Welt im
Übergang zu immer größerer Bequemlichkeit sehen (Religion ist dann ein Mittel,
diesen erwünschten Zustand herbeizuführen), drängt der Wille des deutschen Idea¬
lismus zur Tat und zur Gestaltung.
Die Gültigkeit dieser Bonusschen Worte wird jeder nach seiner persönlichen
Erfahrung und Selbstbeobachtung beurteilen müssen. Mir wenigstens scheinen
seine Sätze unseren Kriegsempfindungen den klarsten Ausdruck zu geben und unsere
zähe Entschlossenheit am besten zu deuten. Was in feiner Schrift auf die
religöse Zukunft weist, entbehrt noch einer festen Grundlage. Muß es auch;
denn alles ist ja noch im Fluß. Wie wir die „neue Frömmigkeit" verwerten
und lebendig erhalten können, ist eine nahe, schwere Frage. Nur praktische
Männer, die unser Volk von Grund aus kennen und mit ihm empfunden haben,
werden die Lösung wagen können.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
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ör^Än Nummer 38 dieser Zeitschrift hat Herr Dr. Carl Jentsch unter
der Überschrift „Wo liegt unser Kolonialland" Vorschläge ent¬
wickelt, die zweifelsohne sehr beachtenswert sind, auch nicht zuletzt
deshalb, weil sie geeignet erscheinen, die Erörterung darüber,
wie wir uns zur Frage des zukünftigen überseeischen Deutschland
zu verhalten haben, neu zu beleben und neu zu befruchten. Immerhin glaube
ich Verschiedenes nicht unwidersprochen lassen zu dürfen, nicht zuletzt auch des¬
halb, weil das koloniale Problem vielfach bei uns noch nicht genügend oder
überhaupt unzutreffend gewürdigt wird.
Als man am Ausgang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in
Deutschland begann, sich unter dem Einfluß namentlich von Dr. Hübbe-Schleiden
mit der Frage: Kolonialpolitik oder nicht? zu beschäftigen, lebten wir in einer
Zeit, die uns zwang, jährlich Hunderttausende von Deutschen an das Ausland
abzugeben, weil wir ihnen nicht Arbeit und damit Brot genug bieten konnten.
Die Frage, ob wir uns Kolonialland in Europa schaffen könnten, trat bei
der damaligen politischen Konstellation völlig zurück, und wenn es auch noch
einige Jahrzehnte dauerte, bis die Überzeugung von der Notwendigkeit eigenen
Kolonialbesitzes Allgemeingut des größeren Teils der Bevölkerung geworden
war, so herrschte doch, abgesehen von einigen politischen Außenseitern, kaum
eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß wir ohne eigenen Kolonialbesitz aus
verschiedensten Gründen nicht auskommen könnten. Der auf Übersee gerichtete
Blick hat, wie zugegeben werden muß, dabei im Verein mit anderen Faktoren
leider vielfach das Auge für die nahe liegenden Dinge getrübt, und wir wissen
es alle, wie wenig uns vor dem Krieg die Not der Deutschen in Österreich
und in Nußland gekümmert hat.
Darin hat der Krieg nun mit einmal wieder einen Wandel hervorgerufen
und man möchte sagen, in echt deutscher Weise wird dabei vielfach das Kind
mit dem Bade ausgeschüttet. Zurück schweift der Blick wieder von Übersee auf
die nahe liegenden Teile Europas, wie Kurland, Polen usw.. und die Nahrungs¬
mittelknappheit während des Krieges schafft den Erwägungen, wie wir uns
unser Brot in Zukunft schaffen, eine besondere Popularität. Dazu kommt, daß
die alten romantischen Erinnerungen an die Zeit des Deutsch-Ritter-Ordens
dem deutschen Gemüt zu nahe liegen, als daß sie nicht ihren Einfluß ausübten.
Überhaupt lassen die Erörterungen über unsere Zukunft dem Gefühl vielfach einen
fehr breiten Spielraum, während das rein Verstandesmüßige, namentlich soweit es
unsere Wirtschaft zum Gegenstand hat, leider meistens nicht die genügende Beachtung
findet. Es sei deshalb gestattet, in wenigen Zeilen hier zu erörtern, in welcher
Weise wir denn überhaupt hinsichtlich der Schaffung von Brot und Arbeit für
unsere Bevölkerung von Faktoren außerhalb unserer Grenzen abhängig waren.
Es ist bekannt, in welchem Maße wir in den letzten Jahrzehnten uns
vom reinen Agrarstaat zum vorzugsweisen Industriestaat entwickelt haben. Wenn
1882 bei einer Gesamtbevölkerung von 45,2 Millionen 29,2 gleich 42.5 Prozent
in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während auf Industrie und Handel
45,5 Prozent entfielen, fo hatte sich das Verhältnis 1907 bei einer Gesamt¬
bevölkerung von 61,7 Millionen schon so verschoben, daß auf die Landwirtschaft
nur noch 28,7 Prozent und auf Industrie und Handel aber 56.4 Prozent
entfielen. Wenn 1871 nur 2 Millionen Menschen in Städten mit über
100 000 Einwohnern und 13 Millionen in Orten zwischen 2000 und
100 000 Einwohnern lebten, so beherbergten unsere Großstädte im Jahre 1910
13,8 Millionen, also mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Betrug
1885 der Wert der Gesamteinfuhr an Rohstoffen für Industriezwecke einschließlich
der Halbfabrikate nur 1,2 Milliarden Mark, fo hatte sich dieser Betrag bis
1913 auf das fünffache, nämlich auf 6,24 Milliarden vermehrt. Umgekehrt
betrug der Wert der 1885 ausgeführten Fabrikate nur 1,3 Milliarden, während
er 1913 auf 6,4 Milliarden gestiegen war. Der Rohstoffbedarf bzw. die
Ausfuhr von Fertigwaren war somit zu einem der stärksten Faktoren unserer
gesamten Volkswirtschaft geworden. Mag man diese Entwicklung zum Industrie¬
staat nun begrüßen oder bedauern: auf jeden Fall kommen wir nicht um die
Frage herum, wie wir die Zukunft unserer Bevölkerung, die nach dem Gesagten
im wesentlichen an die sich ihr in der Industrie bietenden Erwerbsmöglichkeiten
gebunden ist, wieder Arbeit und damit Brot verschaffen. In den siebziger und
achtziger Jahren fehlte uns diese Möglichkeit noch und die Folge war die in
die Millionen gehende Auswanderung, die uns zahlreiche und nicht die schlech¬
testen Kräfte für immer entführt hat. Sollen wir in Zukunft wieder Gefahr
laufen, daß wir unserer Jndustriebevölkerung nicht mehr Arbeit geben können?
Die Antwort darauf kann doch nur ein blankes Nein sein, gerade nach dem
Verlust an Arbeitskraft, die uns der Krieg auferlegt hat und nicht zum
mindesten nach dem Elend, das der Krieg vielfach hinsichtlich des Deutschtums
im Ausland gezeigt hat.
Tatsächlich liegt aber die Gefahr vor, daß es uns an Rohstoffen für unsere
Industrie und damit an Arbeitsgelegenheit mangelt. Ich will nur an die
Baumwollfrage erinnern, die in unserem volkswirtschaflichen Dasein eine so
bedeutende Rolle spielt, daß in einzelnen Teilen Deutschlands nahezu die Hälfte
der Bevölkerung von der Sicherung der Baumwollzufuhr abhängt. Wir zahlten
in den letzten Jahren jährlich etwa 600 Millionen Mark für Baumwolle an
Amerika und England und waren, da die Baumwollernten in unseren eigenen
Kolonien noch keine sonderliche Rolle spielten, auf Gnade und Ungnade den
Preistreibereien der New Jorker Baumwollspekulanten ausgeliefert. Der Preis
für Baumwolle hat ohne Not und nur beeinflußt durch eben diese Spekulanten
im Laufe desselben Jahres häufig um die Hälfte seiner Durchschnittshöhe
geschwankt. Wenn man berücksichtigt, daß die Verteuerung der Baumwolle nur
um 10 Pfennig für das Pfund — tatsächlich sind ganz andere Preistreibereien
vorgekommen — Deutschland mit einer Mehrausgabe von jährlich 100 Millionen
Mark betastet, so wird man ermessen können, daß wir alles Interesse daran
haben, uns soweit wie möglich, von derartigen Unzuträglichkeiten frei zu machen.
Gewiß kann behauptet werden, daß ein noch so großes Kolonialreich uns niemals
gänzlich von der Abhängigkeit vom Ausland freimachen würde, aber den Grad
von Unabhängigheit könnte es uns auf jeden Fall geben, der uns erlaubt, uns
in der Zukunft nicht mehr auf Gnade und Ungnade der New Yorker Börse zu
überlassen.
Was von Baumwolle gilt, gilt übrigens ähnlich auch von anderen wichtigen
kolonialen und subtropischen Rohstoffen. Es sei hier nur an die Pflanzenseele
erinnert, die wir im Wert von mehreren hundert Millionen Mark in der Haupt¬
sache aus den westafrikanischen Kolonien Englands beziehen mußten. Die Ernte
Westafrikas an Ölrohstoffen ging zu sieben Achteln nach Deutschland. Deutschland
versorgte mit seinen Ölmühlen Amerika, England, Dänemark usw. In richtiger
Erkenntnis der Abhängigkeit Deutschlands von den westafrikanischen Ölpalmen-
beständen hat England kürzlich einen Zoll von 2 Pfund auf jede nach nicht englischen
Gebieten ausgeführte Tonne Palmkerne gelegt. Dieser Zoll kann nach Bedarf auf
-3,5 Pfund erhöht werden und ist zunächst für die Dauer des Krieges und 5 Jahre
nach ihm festgesetzt. Das bedeutet nichts anderes, als daß damit der deutschen
Pflanzenfettindustrie zu Gunsten der bisher noch völlig in den Kinderschuhen
steckenden englischen das Genick abgedreht wird. Der amerikanische Seifen¬
produzent wird in Zukunft sein Öl billiger von England beziehen als von
Deutschland, und ähnlich werden die Butterersatzmittel, die etwa Skandinavien
verbraucht, billiger von England zu beziehen sein. Was uns aber nebenbei
noch an dieser Tatsache zu interessieren hat, das ist der Umstand, daß auch
unsere Landwirtschaft dabei der leidtragende Teil ist. Wir haben in den letzten
Jahrzehnten, nachdem der Anbau von Raps und Rübsen in Deutschland zu
Gunsten anderer Kulturen aufgegeben worden war, jährlich Millionen und
Abermillionen Mark namentlich an englische und französische Kolonien zahlen
müssen, um sür unsere Viehhaltung die nötigen Kraftfuttermittel zu bekommen.
Die deutsche Ölindustrie, die bisher einen immerhin beträchtlichen Teil von
Preßrückständen an die Landwirtschaft abführte, würde bei dem obengenannten
Zoll nicht mehr dazu imstande sein und die Folge wäre einfach die, daß
England auch als Lieferant für einen wertvollen Teil der landwirtschaftlichen
Bedürfnisse in Betracht käme.
Die Gesamtmenge an tropischen und subtropischen Rohstoffen, die die
deutsche Industrie und Landwirtschaft in den letzten Jahren vor dem Krieg
brauchte, belief sich auf rund ein Drittel unserer gesamten Einfuhr, also über
3 Milliarden Mark. England als altes Kolonialland trat damit für unsere
Wirtschaft in einer Art in Erscheinung, die manche Zweige unserer Volkswirt¬
schaft völlig von ihm abhängig machten.
Nun könnte eingewendet werden, daß es uns gleichgültig sein könne, ob
wir unsere Rohstoffe von englischen oder französischen oder deutschen Kolonien
beziehen, um so mehr, da der Handel immer dem günstigsten Angebot folgt
und infolgedessen nicht mit einer absoluten Verbilligung des von uns Benötigten
durch eigenen Kolonialbesitz zu rechnen wäre. Gegen diese Auffassung kann
aber nicht scharf genug Einspruch erhoben werden. Gewiß könnte es sür die
deutsche Volkswirtschaft gleichgültig bleiben, wer ihr das Fell über die Ohren
zieht, wenn es sich nur um unbedeutende und nicht ins Gewicht fallende Beträge
handelt. Es handelt sich aber, wie gesagt, um Milliardenwerte und ein großer
Teil des deutschen Nationalvermögens geht uns einfach aus dem Grunde ver¬
loren, weil die fremden Kolonien das Prinzip der offenen Tür nicht durch¬
geführt haben. England selbst hat in seinen Selbstverwaltungskolonien seinen
eigenen Handel teilweise bis zu 33^/g Prozent begünstigt, ähnlich Frankreich,
und in allerschärfstem Maß Portugal, das für seinen Handel bzw. seine Schiffahrt
Vorzugszölle bis zu 90 Prozent kennt. Was die auf dem Papier stehende
„Offene Tür" in der Praxis bedeutet, hat uns doch das Beispiel Marokkos in
den letzten Jahren vor dem Krieg deutlich genug gezeigt, und was sich in
Marokko gezeigt hat, hat sich auch mehr oder weniger in den übrigen Kolonien
herausgestellt. Von Britisch-Indien z. B. bezogen wir im Jahre 1913 fast
ebensoviel wie von dem europäischen Frankreich, nämlich für 542 Millionen Mark.
Absetzen dahin konnten wir dagegen nur für 151 Millionen Mark. Der
Australische Bund lieferte uns für 156,1 Millionen Mark, also ebensoviel wie Italien,
nahm uns aber nur für 88^/2 Millionen Mark ab. Ähnlich ungünstig für uns
stellte sich das Verhältnis für Britisch-Westafrika (134.5 zu 16,7). Ägypten
(113.4 zu 43.4), Algerien (34.6 zu 6.2) usw. Diese Zahlen bedeuten doch
nichts anderes, als daß ein großer Teil des Bezugs von fremden Kolonien
nicht mit Waren bezahlt werden konnte, sondern in Barzahlungen ausgeglichen
werden mußte. Praktisch aber heißt doch das nichts anderes als Verlust an
Nationalvermögen.
Es sei nochmals betont, daß der Optimismus in Kolonialkreisen nicht so>
weit geht, zu erwarten, daß ein deutsches Kolonialreich imstande sei, Deutsch¬
land gänzlich unabhängig von dem Ausland zu machen. Diese Forderung
aufstellen, hieße Unmögliches verlangen, ganz abgesehen davon, daß sie praktisch
niemals durchführbar und vielleicht auch gar nicht wünschenswert ist. Aber
wie gesagt: die Tendenz scheint immer mehr dahin zu gehen, und namentlich
sind es die großen Märkte London und New Aork, die darauf hinzielen, die
großen Welthandelsgüter mehr und mehr zu monopolisieren. Auf der Pariser
Wirtschaftskonferenz hat England bekanntlich noch den Versuch gemacht, das
russische Getreide seinen Zwecken dienstbar zu machen. Was beim Getreide
mißglückt ist, ist früher den Amerikanern bezüglich der Baumwolle gelungen
und ähnlich, wenn auch nicht in solchem Umfang, den Engländern hinsichtlich
des Kautschuks und anderer wichtiger Rohstoffe. Sich mit der politischen Un¬
abhängigkeit zu begnügen, ist aber ein Unding, wenn ihre Nährmutter, die
wirtschaftliche, nicht vorhanden ist. Die deutsche Volkswirtschaft befand sich aber
tatsächlich in einer Abhängigkeit vom Auslande und namentlich von dem kolonien¬
reichen England, die einer Tributpflicht verzweifelt ähnlich sah.
So viel über die wirtschaftliche Seite der Kolonialfrage.
Fast noch dringlicher stellt sie sich, wenn wir sie unter dem national-
politischen Gesichtspunkt betrachten. Was verschaffte denn England die Kontrolle
über die Meere? Nicht die Tatsache, daß seine geographische Lage in Europa ver¬
hältnismäßig günstig ist, denn ähnlich günstig und vielleicht noch günstiger ist
die Frankreichs. Ist es nicht vielmehr der Umstand, daß England im kon-
sequenten Ausbau seines Kolonialreichs sich überall auf der ganzen Welt
Bollwerke und Vorwerke seiner Macht geschaffen hat, die teilweise gar nichts
kolonienartiges mehr an sich haben, die vielmehr darüber hinaus gewachsen,
nicht mehr untergeordnete Glieder, sondern selbstschaffende Teile des britischen
Organismus geworden sind? Den Indischen oder Stillen Ozean beherrscht
England keineswegs von England aus, sondern von den großen Landteilen,
die es sich in Südafrika und in Indien geschaffen hat. Wir haben seinerzeit
in Deutschland mit Begeisterung den Gedanken der Auslandsflotten aufgenommen
und geglaubt, etwas Großes in ihnen geschaffen zu haben. War aber nicht
der ganze Gedanke eine Halbheit? Was nützten uns die Flotten, wenn wir
ihnen die Stützpunkte nicht gaben, wenn wir ihnen nicht die Möglichkeit
schufen, in gesicherten Häfen mit entsprechend großem Hinterland einen ständigen
Rückhalt zu finden? So hoch man die Taten der Kreuzer „Emden". „Königs¬
berg" und wie sie alle heißen, einschätzen mag, im Rahmen des ganzen Welt¬
krieges waren sie doch belanglos! Stellen wir uns auf der anderen Seite
aber einmal vor, wie sich der gesamte Kaperkrieg hätte entwickeln können, wenn
Deutschland rechtzeitig aus dem Auslandsflottengedanken die Konsequenz ge¬
zogen und durch Schaffung ausreichender Verteidigungsmöglichkeiten in seinen
Kolonien dafür Sorge getragen hätte, daß die Kreuzer nicht in dem Augen¬
blick, wo sie ihre Tätigkeit beginnen sollten, zu einem zwar ruhmreichen, aber
mehr oder weniger nutzlosen Tode verurteilt waren. Man hat zwar behauptet,
daß als Stützpunkte kleine befestigte Plätze genügten. Vor einer ernsten Kritik
wird aber eine solche Behauptung gerade nach den Ersahrungen, die wir mit
Kiautschou gemacht haben, kaum standhalten können. Das englische Beispiel
jedenfalls sollte es eindringlich genug beweisen, daß Flottenpolitik ohne Kolonial¬
politik ein Unding ist.
Die Forderung eines ausreichend großen hinlänglich verteidigungsfähigen
und durch die Natur gut ausgestatteten Kolonialreichs ist somit eine Forderung
selbständiger Natur, die mit anderen politischen, vielleicht auch sehr notwendigen
Forderungen, gar nicht verquickbar ist. Gewiß brauchen wir eine Erweiterung
unseres deutschen Gebiets, um uns die Schaffung von Brot zu sichern. Geben
wir uns aber andererseits keinen Illusionen darüber hin, daß eine noch so
große Erweiterung des deutschen Gebiets in Europa diese Forderung nicht
restlos erfüllen kann. Die Hunderte von Millionen, die wir ans Aus¬
land für Brodgetreide, Fleisch usw. zahlen mußten, können zum Teil gewiß
eingespart werden, wenn uns der Krieg eine Erweiterung der Grenzen nach
dem Osten schafft. Restlos! wird das aber nicht zu erlangen sein, ebenso¬
wenig wie restlose wirtschaftliche Unabhängigkeit von dem Ausland hinsichtlich
des Rohstoffbezugs. Das Ganze nicht erlangen können, kann aber nicht dazu
verführen, auf den Wunsch, möglichst viel zu bekommen, Verzicht zu leisten.
isher hat uns die russische Kriegs-Publizistik wenig neues und tief-
grabendes über das Thema von der Zukunft Rußlands gebracht,
über das Problem, das uns Deutsche nächst unserer eigenen Ent¬
wicklung wohl am meisten angeht. Wir bringen heute unseren
Lesern die Übersetzung eines Aufsatzes von Mereschkowski. der
sowohl durch die Schönheit der Form wie die Tiefe der Gedanken allseitige
Beachtung verdient.
Zu seinem Verständnis schicken wir folgende Bemerkungen voraus.
Wir alle erinnern uns des Krieges von 1877/78 mit seinem tiefen
religiösen Aufschwung, seinen echtrussischen philosophischen Theorien. Damals
wurde die Mission Rußlands, die große Mission des völkerbefteienden und der
Welt das letzte Wort der harmonischen Weisheit bringenden Nußland gepredigt.
In der einseitig russischsten Weise kam die Missionsidee bei den Slawo-
philen zur Ausgestaltung, der Osten sollte den verrotteten Westen ablösen und
die Welt erlösen. Dostojewski näherte sich in seiner ersten Periode diesen
Ideen außerordentlich. Sie haben in Rußland seit dieser Zeit den Stimmungs¬
hintergrund für das gebildet, was wir Nationalismus nennen (die ganze
flawophile Idee ist schließlich, mit westeuropäischen Augen betrachtet, weiter
nichts als ein philosophisch-idealistischer Deckmantel für den Erobererzug Ru߬
lands, der es zum Balkan, gegen Österreich und die Türkei hin getrieben hat
und noch treibt) — später hat Dostojewski seine ursprüngliche Idee mehr, wie
das auch Solowjow getan hat, ins allgemein menschliche, allgemein christliche
umgebogen; — auch Tschaadajew bewegte sich in ähnlicher Richtung.
Allen diesen Denkern ist eins gemein — die nahe Berührung ihrer Ideen
mit der Religion. Man darf wohl sagen, daß in keinem anderen Volke auch
bei dem politischen Denken die Religion so sehr im Vordergrunde steht wie
beim russischen. Alles durchtränkt sie, sie ist Ausgangspunkt und Wegweiser.
Wie sehr sie es für Dostojewski war, ist uns allen aus seinen drei großen
Werken, dem „Idiot", den „Brüdern Karamasow" und den „Dämonen"
bekannt. Fürst Myschkin im Idiot und Schadow in den Dämonen sagen es
in gleicher Weise: „Es ist nötig, daß als Reaktion gegen den Westen unser
Christus erstrahlt, den wir uns bewahrt haben und den sie nicht kennen."
Die Erneuerung der Menschheit vollzieht sich „nur durch den russischen Gedanken,
den russischen Gott und Christus". „Gerade in Rußland wird die Wiederkunft
Christi erfolgen. Das russische Volk ist auf der ganzen Erde das einzige Volk,
das Gottes Träger ist, das die Welt durch den Namen des neuen Gottes zu
erneuern und zu retten berufen ist" — „ihm sind die Schlüssel des Lebens und
des neuen Wortes gegeben".*)
Solowjow hat im Anfang des Türkenkrieges eine berühmte Rede gehalten
über die „drei Kräfte". Es sind dies die Ideen des Ostens und des Westens
und die Idee der Vermittlung, die Rußland berufen ist, zwischen beiden einmal
zu spielen.
„Die erste strebt danach, die Menschheit in allen ihren Sphären und in
allen ihren Lebensstufen einem höchsten Lebensprinzip in ausschließlicher Einheit
unterzuordnen, sie strebt danach, die Vielheit der Einzelformen zu vermischen
und zusammenzugießen, die Selbständigkeit der Person und die Freiheit des
persönlichen Lebens zu erdrücken. Ein Herr und eine tote Masse von Sklaven —
das ist die letzte Verwirklichung jener Kraft. Wenn sie die ausschließliche Vor¬
herrschaft erhielte, so würde die Welt in toter Einseitigkeit und Unbeweglichkeit
versteinern. Aber zusammen mit dieser Kraft wirkt eine andere, gerade ent¬
gegengesetzte, sie strebt danach, die Härte der toten Einheit zu zerschlagen, den
einzelnen Formen des Lebens überall die Freiheit zu geben, Freiheit zu geben
der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit. Unter ihrem Einfluß werden die ein¬
zelnen Elemente der Menschheit die Ausgangspunkte des Lebens. Sie handeln
ausschließlich aus sich und für sich, das Allgemeine verliert die Bedeutung des
realen wirklichen Seins, verwandelt sich in irgendetwas Entferntes, Leeres, in
ein formelles Gesetz und verliert endlich jeden Sinn. Der allgemeine Egoismus
und die Anarchie, die Vielheit der einzelnen Einheiten ohne jedes innere
Band — das ist der äußerste Ausdruck jener Kraft. Wenn sie die ausgesprochene
Vorherrschaft erhielte, dann würde die Menschheit in ihre Elemente zerfallen,
das Band des Lebens würde zerreißen, und die Geschichte würde im Kriege
aller gegen alle endigen."
Die eine Kraft ist nach Solowjow im Osten verkörpert mit seiner alles
verschlingenden Einheit, die andere im Westen mit seinem alles zerreißenden
Egoismus. „Der Osten vernichtet gänzlich den Menschen in Gott und ver¬
körpert den Gott ohne Menschen, umgekehrt strebt die westliche Zivilisation
zum Menschen ohne Gott."**) Die Geschichte hat aber eine dritte Kraft gegeben,
die „über den beiden anderen steht", „die sie von jeder Ausschließlichkeit befreit,
die die Einheit des höchsten Prinzips mit der freien Vielheit der Einzelformen
und der Elemente versöhnt, auf diese Weise eine Ganzheit des allgemein
menschlichen Organismus bildet und ihm inneres stilles Leben gibt".
Diese dritte Kraft verkörpert nach Solowjow das russische Volk. Sie muß
kommen, denn „entweder ist dies das Ende aller Geschichte oder die unaus¬
bleibliche Enthüllung jener dritten unversehrten Kraft, deren einziger Träger
nur das Slawentum und das russische Volk sein kann". „Ein solches Volk ist
nicht mit irgendeiner beschränkten Spezialaufgabe betraut, es ist nicht berufen,
über den Formen und Elementen des menschlichen Daseins zu arbeiten, sondern
es ist dazu da, die lebendige Seele zu vermitteln, Leben und Ganzheit der
zerklüfteten und abgestorbenen Menschheit dadurch zu bringen, daß es sie
wiederum mit dem ewigen göttlichen Prinzip vereinigt".
In dieser „großen Synthese" zwischen Menschheit und Gott sah Solowjow
den Sinn der russischen Geschichte, den Sinn der allgemeinen Geschichte. Der
Gedanke steht ganz nahe dem der Slawophilen. Wenngleich schon damals in
anderen Werken Solowjow „das Russische bereits mit dem Universalen, allgemein
Menschlichen identifiziert", wie er es später immer mehr getan hat, so haben
wir doch bei ihm immer das bestimmte Gefühl, daß er dabei nicht seinen
Ausgangspunkt von diesem allgemein menschlichen, sondern vom spezifisch-
russischen nimmt.
Auch das Widerspiel der Slawophilen, Tschaadajew, kehrt doch im Grunde
immer zu dieser Formel des Denkens zurück. Er sieht den Unterschied zwischen
Westen und Osten darin, daß dort im Westen jede große neue Idee zur
Sensation, zur Parteisache wird, daß man sie hysterisch ergreift, um sie schließlich
wie unfruchtbaren Staub in die entfernten Sphären wandern zu lassen. Ru߬
land dagegen habe nicht „jene leidenschaftlichen Interessen, jene fertigen
Meinungen, jene festen Vorurteile". „Wir nehmen mit jungfräulichen Gemüte
jede große neue Idee auf." Und gerade aus diesem inneren Wesen des
russischen Volkes folgert auch Tschaadajew ebenso wie seine Zeitgenossen die
Mission Rußlands als die Mission des „Gewissensrichters der Menschheit".
Und wenn wir die Ideale Dostojewskis aus jener letzten Zeit nehmen,
wo er nicht mehr das Russische ohne weiteres dem Westlichen entgegensetzte,
sondern wie Solowjow das russische mit dem universalen gleichsetzte und vom
russischen Wesen geradezu verlangt, daß es nicht feindselig dem anderen, dem
westlichen gegenüberstehe, sondern „freundlich mit aller Liebe in seine Seele die
Genien der fremden Nationen in sich aufnehme", — so finden wir doch hier —
nur etwas anders formuliert, denselben Messiasgedanken wieder. Rußlands
Aufgabe wird es nach Dostojewski sein:
„danach zu streben, endgültig eine Versöhnung in die europäischen Gegensätze
zu bringen, in der russischen allmenschlichen und alleinenden Seele der euro-
päischen Sehnsucht einen Ausweg zu zeigen, in sie mit brüderlicher Liebe
alle unsere Brüder aufzunehmen, und schließlich am Ende aller Enden das
endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie, des schließlichen brüder¬
lichen Zusammenschlusses aller Völker in dem evangelischen Gesetz Christi
auszusprechen."
In den „Brüdern Karamasow" ist dieses Ideal noch näher gekennzeichnet.
Es ist die Herrschaft der Kirche auf Erden, die die Erlösung der Welt mit sich
bringen wird, aber nicht im westlichen Sinne des römischen Katholizismus, der
nach Dostojewski weiter nichts ist als die Fortsetzung des alten römischen
Reiches, als „die dritte Versuchung des Teufels" — sondern die Entwicklung
wird gerade umgekehrt kommen. Nicht die Kirche wird sich in einen Staat
verwandeln, sondern umgekehrt: „der Staat verwandelt sich in eine Kirche, geht
über zur Kirche und wird schließlich auf der ganzen Erde Kirche. Dies ist
ganz entgegengesetzt jedem Mramontanismus, ganz das Gegenteil von Rom. . . .
Es ist die große Bestimmung der orthodoxen Kirche auf Erden. Vom Osten
her wird dieses Licht erstrahlen."
Ich habe hier diese Gedankengünge wiederholt, weil sie bis zu einem
gewissen Grade für das Verständnis des russischen Denkens auch unserer Tage
noch notwendig sind. Zwar sagt man, daß das Slawophilentnm tot ist, aber
was an philosophischen Ideen während dieses Krieges in Rußland geäußert
worden ist. ist in ganz auffälliger Weise von den Denkern jener Tage beeinflußt.
Wenn Solowjow in seinem späteren Denken geglaubt hat, den Slawophilismus
ein für allemal beseitigt zu haben, so hat die Gegenwart gezeigt, daß das
keineswegs der Fall ist.
So kehrt die reine Opferidee der Slawophilen (Rußland opfert sich für
seine slawischen Brüder, für die Welt, um schließlich beide mit seinen Ideen zu
erlösen) zu Beginn dieses Krieges fast in ihren alten Formen wieder. Als
Galizien von den Russen erobert wurde und als das alte Ziel des Nusseutums:
Konstantinopel, die Hagia Sophia, so nahe schien, besann man sich auf jene
alte Begründung und besonders solche Geister wie Fürst Eugen Trubetzkoj,
denen die amoralische Idee des reinen Nationalismus ein Greuel ist, die das
„nationale Eros" ablehnen, das von einem Teil des Russentums gepredigt
wurde, glaubten durch jene alten Gedanken der „guten Sache" eine moralische,
eine religiöse Hülle geben zu können, in der Hoffnung, damit vielleicht auch den
Gedanken des reinen Egoismus zu veredeln.*)
Auch die anderen russischen Schriftsteller, die den Versuch gemacht haben,
Interpreten des letzten Wollens ihres Volkes zu sein, gehen, soweit sie nicht
Prediger des reinen Panrussismus, des krassen Nationalismus sind, wie z. B.
Muretow, der sogar die Pogrome philosophisch rechtfertigt, von ähnlichen Ge-
dankengängen aus. Ich nenne hier Bulgakow und Wolschsky.
Obgleich die Ideen von Bulgakow etwas unklar sind, insbesondere in dem,
was er über die endgültige Bestimmung Rußlands sagt, so ist doch auch bei
ihm die Verwandtschaft mit dem Slawophilentum und Solowjow unverkennbar,
insbesondere in dem, was er über das Verhältnis Rußlands zum Westen sagt.
Bulgakow sieht zwar nicht wie die Slawophilen Rußlands Heil in einer Trennung
vom Westen, Rußland soll alle geistigen Werte des Westens in sich aufnehmen.
In erster Linie ist der Westen „wichtig als technische Schule, deren Mangel
das russische geistige Schaffen paralysiert hat. Der Westen ist für Rußland
aber als Schatzkammer der geistigen Kultur der echten schöpferischen Werte not¬
wendig". Aber das ist für Bulgakow kein Endzweck, sondern nur ein Mittel
zum Zweck. Rußland soll ihn benutzen, um seine eigenen geistigen Werte voller
und reiner zum Ausdruck zu bringen. Denn gerade die westliche Kultur enthält
die Keime für die Gefahr eines Unterganges jeder Kultur, diese Gefahr möchte
Bulgakow für Nußland vermieden fehen. Den amor loci, diese Liebe zur
Technik, zum Komfort, wie er im Westen herrscht, den soll dieser Krieg über¬
winden helfen. Dieses Ergebnis, wenn es Rußland mit fördern hilft, wird an
sich schon eine große Rechtfertigung des Krieges bedeuten. Was dann noch
Bulgakow von dem anderen großen Ziele des Krieges, die Herbeiführung des
endgültigen Zusammenschlusses der europäischen Staaten spricht, ist in diesem
Zusammenhange weniger wichtig. Der erste Gedanke ist die Hauptsache. Die
Vermeidung der Ideale des Westens, die Vermeidung des Loslösens von Gott,
das ist es, was Bulgakow für sein Land wünscht.
Wolschsky vertieft sich mehr in jenen anderen Charakterzug des russischen
Wesens, der mit dem unbewußten Leben der russischen Seele mehr zu tun hat
als mit den bewußten Doktrinen des russischen Propheten, in jenen Zug des
Leidens, des Sichunterwerfens, des Nichtwiderstehens dem Leiden gegenüber, dessen
ergreifendsten Ausdruck wir in Schriftstellern wie Tolstoi finden. Der „Kreuz¬
zug bis zu Ende", das ist die russische Mission nach Wolschsky. Rußland wird
möglicherweise „das Sklavengesicht des Heilandes annehmen und sich bis zum
Tode erniedrigen. Rußland kann im Dienste für andere sich vielleicht sogar
selber schänden, kann vielleicht die Füße der Völker Europas waschen, aber nicht
um sich nachgiebig mit ihnen allen zu versöhnen, nicht um der allmenschlichen
Weltharmonie auf Erden willen, sondern zur Erhöhung seiner Standarte,
seines ewigen Ruhmes, des Ruhmes des Kreuzes Gottes".*) Es ist die alte
slawophile Opferidee, die hier in den Gedankengang des modernen Schrift¬
stellers wieder hineinspukt, aber sie ist immaterieller. Denn „wenn die Recht¬
gläubigkeit reinstes und von Interesse an irdische Abzweigungen nicht getrübtes
Christentum darstellt, so darf Rußland irgendwelche durch die Sinne wahr¬
nehmbaren Ereignisse in den irdischen Einrichtungen nicht anstreben". Zwar
hat dies nichts zu tun mit dem Siegeswillen des Volkes, denn „eine leid¬
tragende Seele ist vollkommen denkbar in einem Körper, der alle äußeren Wider¬
stände siegreich überwunden hat", aber der Wille muß rein sein. „Daher das
Leidensgesicht Rußlands, die Erwartung des Kreuzganges."
Ich habe schon wiederholt den russischen Nationalismus und seine Gedanken-
gänge erwähnt, diese kreuzen, decken und widersprechen sich mit den oben
skizzierten Idealen. Je nachdem die panslawistische Idee sich der Fahne des
Nationalismus verschreibt, mehr die messianische Richtung der alten Slawo-
philen und Dostojewskis auf ihr Banner schreibt, oder sich den rein russischen
Ideen des Duldens und Leidens verschreibt, je nachdem kann sie zu ganz ver¬
schiedenen Endpunkten des Denkens gelangen.
So unnatürlich das zu sein scheint, so natürlich ist es für den, der das
russische Denken in der Literatur und in der Wirklichkeit des Lebens verfolgt. Die
beiden Richtungen entsprechen eben durchaus den beiden Grundzügen des Russen-
tums, den beiden Wellen, die wir in ihm vorfinden, dem unbewußten. leidenden,
guten, opferbereiten und auf der anderen Seite dem bewußten, fanatischen,
selbstherrlichen, nihilistischen, doktrinär-demokratischen Rußland, dessen Ideen
am reinsten in der Losung des aggressiven Panslawismus zum Ausdruck kommen,
der die Welt bedroht.
Welche der beiden Ideen wird für die Zukunft in Rußland herrschen?
Es ist eine Schicksalsfrage für Europa, das zu wissen. Vor mir liegt das
Referat eines Vortrages, den Mereschkowski im März vorigen Jahres über das
„Vermächtnis Bjelinskis, über die Religiosität und die soziale Aufgabe der
russischen Intelligenz" gehalten hat. Damals hat Mereschkowski versucht, im
Gegensatz zum Nationalismus die Ideen Bjelinskis als Ideal für das zukünftige
Russentum zu entwickeln. „Der uns jetzt drohende Rationalismus .tierischer
Art', die Bejahung des Völkischen, dieses ungöttliche und unmenschliche, ist nach
Mereschkowski zum großen Teile die Schuld von Dostojewski." Die Lüge
Dostojewskis kann nur durch die Wahrheit Bjelinskis überwunden werden
„Verflucht soll alles Volkstum sein, das die Menschlichkeit aus sich ausschließt! —
diese Wahrheit Bjelinskis ist uns jetzt nötiger als je."
Bjelinski erachtet Mereschkowski als den ersten russischen Intelligenten, als
den Vater der ganzen gegenwärtigen russischen Intelligenz. Noch heute lebt die
russische Intelligenz nach Meinung Mereschkowskis in denselben tragischen Kämpfen,
derselben fiebernden Zerrissenheit, die das Leben Bjelinskis durchglühte und zu
Asche verbrannte. „Derselbe geheime Durst nach Religion, dieselbe Sehnsucht
nach Gott bei äußerer Verleugnung Gottes und äußerer Abkehr von Christus.
Derselbe Kampf für die soziale Idee, für die Freiheit des Menschen mit der
Empfindung der Kälte jener Freiheit ohne die brennende und sonnenhelle Figur
des Heilandes." Der Vortrag hat damals keinen Anklang gefunden. Das
russische Publikum lehnte ihn ab.
Mereschkowski ist einer von den russischen Geistern der Jetztzeit, die gewiß
am meisten über die Bestimmung des Russentums nachgedacht haben. Mit
allen Kräften seiner Seele bemüht auch er sich um eine Synthese des russischen
Lebens, wie es vor ihm die großen russischen Geistesheroen getan haben.
Wir wollen ihn heute selbst sprechen lassen. Sein Aufsatz über Gorki hat
doppeltes Interesse für uns, weil er die letzten Ideen der beiden bedeutendsten
russischen Schriftsteller über das widergibt, was sie über die Zukunft ihres
Volkes denken.
Uns scheint es, als ob nicht Mereschkowski, sondern Gorki uns das wahre
Gesicht des kommenden Rußlands zeigt, des demokratischen, nach Westen ge¬
wendeten Rußlands, das dereinst „mit furchtbarer Faust" den Sauerteig sammelt,
der den europäischen Brei in Bewegung bringt.
Ich möchte glauben, daß dieses junge und jugendfrische russische Volk
Möglichkeiten der Entwicklung in körperlicher und geistiger Beziehung in sich
birgt, die wir heute nur dunkel ahnen, die wir aber um unseres eigenen Heiles
willen begreifen müssen.
Doch lassen wir Mereschkowski selber sprechen. Sein Thema heißt „Das
unheilige Rußland (Die Religion GorkiS)".
Wohin geht Rußland? Die großen russischen Schriftsteller antworten auf
diese Frage; gleichsam wie ewige Wegweiser zeigen sie den Weg Rußlands.
Der letzte Wegweiser ist Tolstoj. Nach ihm kommt niemand, als ob die
Wege Rußland beendet seien. Nach Tolstoj kommt niemand oder Gorki.
Im Vergleich mit jenen Großen ist Gorki klein. Klein ist alles, was ge-
boren wird; groß ist alles, was erwachsen ist und seine Grenze und sein Ende er¬
reicht hat. Groß erscheint das Vergangene, klein — das Zukünftige. Deshalb
sind auch Gorki und jene Großen. — wie ein Kind zu Erwachsenen, wie ein
aus der Erde kaum ausgegangener Sprößling zu dichtbelaubten alten Eichen.
Diese gehen ihrem Ende entgegen, jener beginnt den Lauf. Diese sind Gegen¬
wart und Vergangenheit, jener Zukunft. Woher Rußland kommt —, das
kann man nach den Großen beurteilen —, wohin es geht —, das kann nach
Gorki beurteilt werden.
Das Bewußtsein, das zum Volkselement führt, ist in jenen Großen ver¬
körpert. Umgekehrt, das Volkselement, das zum Bewußtsein führt, ist in
Gorki verkörpert.
Das Bewußtsein beherrscht das Element. Ein Volk, das zum Bewußtsein
kommt, ist ein Volk, das zur Macht kommt. Erwachendes Bewußtsein des
Volkes ist entstehende Macht des Volkes, „Volksherrschaft". „Demokratie".
Gorki ist der erste und zur Zeit einzige Vertreter der im Entstehen begriffenen
russischen Demokratie.
Die Persönlichkeiten jener Großen sind genial, unnachahmbar; ahnliche
Persönlichkeiten hat es niemals gegeben, und wird es auch nie mehr geben.
Bei Gorki besteht gleichsam keine Persönlichkeit: seine Persönlichkeit ist eine
allgemeine, kollektive, volkstümliche. Aber die Wahrheit einzelner, die Wahrheit
der Persönlichkeiten (der Aristokratie im höheren Sinne) ist abgeschlossen, er¬
reicht; die Wahrheit aller, die Wahrheit der Mehrheit (der „Demokratie"
ebenfalls in höherem Sinne) ist erst im Entstehen begriffen, soll erst erreicht
werden. Die letzte größte Erscheinung der Persönlichkeit stellt sich in jenen Großen,
die kleinste Erscheinung der allgemeinen Volkstümlichkeit — in Gorki dar.
Wir schrecken vor der Unpersönlichkeit der Mehrheit zurück. Aber jeder
Keim ist unpersönlich, jeder Same gestaltlos; dennoch birgt er in sich die Mög¬
lichkeit einer neuen schönen Gestalt, einer neuen vollendeten Persönlichkeit.
Wenn der Same nicht abstirbt, dann lebt er auch nicht wieder auf: der einzelne
muß sterben, damit alle aufleben können; die Persönlichkeit muß sterben, damit
die Allgemeinheit auflebt.
Jene Großen sind zu kompliziert; deshalb streben sie zur Einfachheit, zum
allgemeinen oder einfach volkstümlichen Element. Gorki ist zu einfach, deshalb
strebt er zur bewußten oder nur halbbewußten Kompliziertheit.
AIs Erscheinung künstlerischer Schöpferkraft sind Tolstoj und Dostojewski
unendlich bedeutender als Gorki. Über sie kann man nach dem urteilen, was
sie reden; über Gorki dagegen nicht. Mächtiger als seine Worte ist das, was
er ist. Schon die Möglichkeit einer solchen Erscheinung wie er, wie sie, denn
er sind viele oder werden viele sein —. schon diese Möglichkeit ist in vitalen
Sinne nicht weniger bedeutungsvoll als die ganze künstlerische Schöpferkraft
Tolstojs und Dostojewskis.
In demselben vitalen Sinne ist er, der „Kleine", ein nicht geringeres
Zeichen der Zeit als jene Großen. Und möglicherweise müssen wir zurzeit
nicht auf jene, sondern auf diesen sehen, um unsere Zeit zu verstehen und auf
die Frage zu antworten, wohin geht Rußland?
Vor einigen Jahren prophezeite man das „Ende Gorkis". In dieser
Prophezeihung war Wahrheit und Lüge enthalten. Als Prophet eines „über¬
menschlichen Barfüßertums" ist Gorki tatsächlich abgetan. Aber es ist ein Gorki
zu Ende gegangen, ein anderer hat begonnen.
Die furchtbare Feuerprobe durch falschen Ruhm hat er bestanden, wie
wenige. Auf eine Höhe erhoben, fiel er von ihr herab, zerschlug aber nicht.
Er tat, wenn auch unbewußt, das, was nur die stärksten Russen zu tun im¬
stande sind: „er verbrannte alles, was er verehrte, und er verehrte alles, was
er verbrannte." Gerade das, was er einst als äußerste Wahrheit behauptete:
„Der Mensch ist der Hochmut selbst", der Mensch ist gegen die Menschheit,
einer gegen alle —, dies verneint er jetzt als Lüge. Er verneint sich selbst,
bekämpft sich. Wird er sich besiegen? Aber schon der Umstand, daß er sich
bekämpft, ist ein Zeichen der Kraft. Um auf diese Weise zweierlei Leben durch-
zuleben, zu Ende zu gehen und von neuem anzufangen, bedarf es einer großen
Kraft. Jetzt sind ihm keine Feuerproben mehr furchtbar: in das Feuer ging
Eisen —, Stahl kam heraus.
Die fremde Gestalt —, die üppige Maske des „Übermenschen", „Aus¬
erwählten", „Einzigen" — ist an ihm vermodert, und seine einfache Gestalt,
die Gestalt aller, die Gestalt des ganzen Volkes, ist zum Vorschein gekommen.
Das Element wird zersetzt durch unvollständiges, halbes Bewußtsein. Der
Mensch aus dem Volke, der zu einem halbbewußten, „halbintelligenten" wird,
verläßt sein volkstümliches Element. So verließ es Gorki. jener Erste, dessen
„Ende" bereits eingetreten ist. Aber dieser Zweite, „im Entstehen Begriffene",
kehrt zu ihm zurück oder will zurückkehren. Man kann jedoch zum Element
nicht zurückkehren, ohne durch das Ganze des Bewußtseins hindurchzukommen,
und dieses Ganze muß religiös sein, denn die Religion ist die absolute Grenze,
Vollendung. Ergebnis des Bewußtseins, die absolute Vereinigung aller Teile
des Bewußtseins in ein einziges Ganzes. Deshalb sucht Gorki ein religiöses
Bewußtsein, vorläufig vielleicht noch unbewußt. (So seltsam dies auch er¬
scheint, ein Bewußtsein unbewußt zu suchen —, so geschieht es doch häufig mit
solchen halbbewußten Menschen.)
Und daß dem so ist, daß es für Gorki keinen anderen Weg zum Volks¬
element gibt als durch das religiöse Bewußtsein —, ist aus seinem letzten
Buche: „Die Kindheit" ersichtlich.
Nicht nur in künstlerischem Sinne ist dies eins der besten, eins der ewigen
russischen Bücher (das zurzeit vielleicht gerade deshalb so wenig geschätzt wird,
weil es einen zu ewig bleibenden Wert hat), sondern auch in religiösem Sinne
eins der bedeutendsten. Auf die Frage, wie sucht der einfache russische Mann
Gott, antwortet die „Kindheit" Gorkis wie kein einziges von den russischen
Büchern, nicht ausgenommen Tolstoj und Dostojewski.
Von Tolstoj und Dostojewski ist unser religiöses Bewußtsein angefüllt,
nirgends können wir uns ihnen entziehen. Gorki aber hat sich von ihnen
entfernt. Er hat als erster und einziger begonnen, von einem religiösen Leben
des Volkes unter Umgehung Tolstojs und Dostojewskis und sogar gegen sie zu
reden. Bei Gorki ist auf diesem Gebiete alles neu, unerwartet, unvorher¬
gesehen, unerprobt, ein ganz neuer unbekannter religiöser Weltteil.
Konnte ein der Religion fremd gegenüberstehender Mensch so etwas tun?
Ist es nur Zufall, daß das wahrheitsgetreueste, stärkste, ewigste von allem, was
Gorki geschrieben hat, auch am meisten religiös ist?
In seinem intelligenten Bewußtsein oder Halbbewußtsein verneint er die
Religion. Aber zwischen seinem intelligenten Bewußtsein und seiner volks¬
tümlichen Wesenheit besteht ein unlösbarer Widerspruch. Gerade hier in der
Religion verneint er, bekämpft sich selbst mit größter Macht, mit größter Pein.
Gerade hier fragt es sich, ob Gorki ein wahrer Prophet dessen, wohin Ru߬
land geht, sein soll oder nicht —, nämlich des Volksbewußtseins, der Volksmacht,
der „Volksherrschaft", der „Demokratie" im wahren religösen Sinne dieses Wortes.
„Religion ist unnötig, Gott ist unnötig". — so sagt das intelligente
Bewußtsein Gorkis, seine Volkswesenheit aber sagt folgendes:
„In jenen Tagen (der Kindheit) waren Gedanken und Gefühle über Gott
die Hauptsache meiner Seele — . . . Gott war das beste, das hellste von
allem, was mich umgab" . . .
So war es in der Kindheit, im Beginn des Lebens. Wenn der Kreis
sich schließt, so kommt der Anfang mit dem Ende zusammen. Mit Gott begann
aber alles bei Gorki, — wird es nicht auch mit Gott endigen?
Sein Gott ist der „Gott der Großmutter". Die Großmutter des kleinen
Helden der „Kindheit", des Aljoscha Peschkow (Gorki verhehlt nicht, daß er
Aljoscha selbst ist), ist seine geistige Mutter, sie hat ihn geboren, geschaffen, in
die Welt eingeführt, bewahrt, gerettet in der Kindheit, und rettet ihn vielleicht
bis jetzt und wird ihn bis ans Ende retten.
„Bis zu ihrer Ankunft schlief ich gleichsam im Dunkeln; als sie aber
erschien, weckte sie mich, führte mich ans Licht, und wurde sofort der meinem
Herzen am nächsten stehende Freund meines ganzen Lebens." Für das ganze
Leben, auf ewig.
Die Großmutter ist ganz bis zum letzten Fältchen eine lebendige reale
Persönlichkeit; aber nicht nur eine reale Persönlichkeit, sondern auch ein
Symbol, und in der ganzen russischen Literatur, wiederum nicht ausgenommen
Tolstoj und Dostojewski, gibt es kein beredteres Symbol, kein in größerem
Maße synthetisches, vereinigendes Bild als dieses.
Die Großmutter ist Nußland selbst nach dem tiefsten, volkstümlichen,
religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland
selbst lossagen. Dies wird Gorki nicht tun. und wenn er es auch wollte, so
könnte er es nicht tun. Wie sehr er sich auch von der Religion lossagte, mit
welch gottlosen Reden er auch über sie redete, wie unreligiös er auch unbewußt
oder was noch schlechter ist, halbbewußt sein mochte, — so wird er sich dennoch
von seinem angeborenen „bäuerlichen", „christlichen"*) Wesen nicht lossagen.
Und wenn die Großmutter in Wahrheit Nußland ist, so ist alles, was er von
sich und ihr sagt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben und sogar mehr
als eine Beichte; es ist eine Predigt, eine Prophezeiung darüber, wohin Ru߬
land geht.
„Ihre uneigennützige Liebe zur Welt hat mich dadurch bereichert, daß sie
mich mit fester Kraft für das schwere Leben erfüllte."
„Liebe zur Welt" ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkis.
Was für eine Religion ist aber dies? Die christliche? Christen sind doch
Menschen nicht von dieser Welt! Liebe zur Welt ist Feindschaft gegen Gott.
Und die Großmutter liebt die Welt und Gott zusammen. Für Christen bedeutet
„himmlisches" soviel wie „nicht irdisches", den Himmel lieben, heißt die Erde
hassen. Und die Großmutter liebt Erde und Himmel zusammen. Wie sollte
sie auch die Erde nicht lieben, da sie selbst Erde ist?
„Du,hast eine gute Großmutter; o, welche Erde!" —sagt jemand von ihr.
„Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde," — so sagt jemand
zu ihr selbst.
Aljoscha Peschkow hörte diese Worte und Gorki behielt sie „im Gedächtnis
für ganze Leben", auf alle Ewigkeit. Ja. gerade „die Liebe zur Erde", das
Geheimnis der Erde vereinigte ihn mit der Großmutter, mit ihrem Volkswesen,
denn das Geheimnis des Volkes ist das Geheimnis der Erde.
Wenn Christus gleich'ist mit dem Christentum, wenn im Christentum alles
abgeschlossen, gesagt, getan ist und nur das vorhanden ist, was da ist, und
nichts mehr sein wird, — so ist die Religion der Großmutter nicht eine christliche
und nicht von Christus. Dann hat der Großvater, der rechtgläubigste von den
rechtgläubigen, Recht:
— „glaube ihr, der alten Närrin, nicht; sie ist von Jugend auf dumm,
ungelehrt und unvernünftig".
Wenn aber Christus mehr ist als das Christentum, wenn im Christentum
nicht nur das enthalten ist, was da ist, sondern auch noch etwas sein wird,
— so ist die Religion der Großmutter vielleicht auch keine christliche, aber in
Wahrheit von Christus.
Die Großmutter ist keine Heilige, sondern hurtig „verdammt". Sie liebt
zu tanzen, zu singen, sie schnupft Tabak, trinkt; und nachdem sie getrunken hat,
„wird ihr noch besser".
„Herr Gott! Wie schön ist alles! Nein, seht doch, wie schön das alles
ist!" sagt die Betrunkene, gleichsam betend.
Sie versteht überhaupt nicht, gehörig zu beten.
„Wie oft habe ich Dich, Du Dickkopf, gelehrt, wie man beten muß, und
Du murmelst immer das Deine, Ketzerin, verfluchte Hexe!" —
Du murmelst das Deine, nicht Kirchliches, nicht Rechtgläubiges und vielleicht
sogar nicht Christliches, so etwas Freies. Seltsames, Ungewöhnliches, sodaß diese
Gebete dem rechtgläubigen Großvater als Gotteslästerung erscheinen. Sie
spricht mit Gott, „eindringlich", bald als ob sie „Ihm einen Rat gibt", bald
als ob sie über Ihn „grollt", aufsässig wird, mit Gott kämpft:
„Herr, reicht denn bei Dir die gute Vernunft für mich, für meine Kinder
nicht aus?" Bald bemitleidet sie Gott, „den so lieben Freund alles Lebenden",
den Allgütiger, aber nicht Allmächtigen und nicht Allwissenden: Wenn Er alles
wüßte, so würden die Menschen wohl vieles nicht tun! Er sieht wohl. Väterchen,
vom Himmel auf die Erde, auf uns alle, ja, er hebt zuweilen an zu weinen,
zu schluchzen: „Ihr Meine Menschen. Meine lieben Menschen! Ach, wie
bedaure Ich Euch!" Dieser weinende Gott ist „Unsinn". „Ungelehrtheit".
Und ist das von Anfang der Welt geschlachtete Lamm nicht auch „Unsinn"?
Nur jenes ist etwas Gewohntes. Altes, und dies ist etwas Neues, Ungewöhnliches.
Die Großmutter versteht es nicht, zu Gott, dem Vater und dem Sohne
Gottes zu beten, aber es gibt in der menschlichen Sprache keine schöneren
Gebete als ihre Akathisten (Kirchengesänge) zu Ehren der Mutter Gottes.
„Unerschöpfliche Freude . . . Apfelbaum in Blüte . . . mein reines,
himmlisches Herz . . . goldene Sonne ..."
Nein, dies kann nicht wiederholt werden, man muß es selbst hören. Und
am wunderlichsten ist es, daß dieses unerhörte, im Herzen des Volkes, im
Herzen der Erde versteckt ruhende, nicht der Christ Tolstoj, nicht der recht¬
gläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki gehört hat.
Was „Mutter Gottes" ist, weiß die Großmutter selbst nicht. Wenn
jemand sie darüber fragen würde, so würde sie auf das Bild des Kasanschen.
Tichwinskischen. Feodorowskischen oder eines anderen lokalen „Mütterchens"
hinweisen. So ist es in ihrem Bewußtsein, aber nicht so ist es in ihrer
unbewußten religiösen „Kenntnis", „Gnosis".
„Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde", — könnte sie zur
Mutter Gottes sagen, ebenso wie jemand zu ihr selbst sagte. Oder wie bei
Dostojewski (in den „Dämonen") eine Scharfsinnige sagt: „Die Mutter Gottes
ist die große Mutter: kühle Erde", das Geheimnis der Mutter ist das Geheimnis
' der Erde.
In der dogmatischen christlichen Dreieinigkeit sind Vater, Sohn und Geist;
aber in der gleichsam unchristlichen, ketzerischen Dreieinigkeit der Großmutter
sind Vater, Sohn und Mutter. Die verschlossene, unbekannte, unerfüllte Person
des Geistes tritt in der Person der Mutter Erde auf.
Der Vater ist im ersten Testament, der Sohn im zweiten. Ist nicht im
letzten, dem dritten, der Geist? Die Erscheinung des Geistes ist Heiliges Fleisch,
Heilige Erde, Ewige Mutterschaft. Ewige Weiblichkeit. Wenn die Offenbarung
des Vaters — die Liebe zur Welt (das Irdische, Ungeborne. Kosmische in den
vorchristlichen Religionen), wenn die Offenbarung des Sohnes — die Liebe zu
Gott (das Unirdische, Antikosmische, nicht von dieser Welt Seiende im Christen¬
tum) ist, so ist die Offenbarung des Geistes — die Liebe zur Erde und Himmel,
die Liebe zur Welt und zu Gott zusammen. Und dies ist ja die Religion der
Großmutter. Seht, wohin sie gelangt ist, „die alte Närrin", die „Unvernünftige",
„Ungelehrte".
Lermontow, Tjutschew. Nekrassow, Wi. Solowjow, Dostojewski und die nach
ihnen folgenden russischen Leute von höherem religiösem Bewußtsein sind bei
demselben Punkte angelangt. „Das ist höchst wahr, höchst russisch". — so sagt
jemand von der Religion der Großmutter.
Hier kommt die Höhe mit der Tiefe, — die Höhe des russischen religiösen
Bewußtseins mit der Tiefe des russischen religiösen Elements zusammen: Und
wiederum ist es am wunderbarsten, daß dieses Zusammenkommen nicht der
Christ Tolstoj, nicht der rechtgläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki,
auch nur in Blindheit tastend, wahrgenommen hat.
Er haßt und verachtet die russischen intelligenten „Gottessucher", und selbst
nähert er sich ihnen, wie sonst niemand; er entdeckt in seinem Volkselement
dasselbe, was sie in ihrem intelligenten Bewußtsein entdeckt haben. Mit
verschiedenen Worten sagen sie dasselbe.
Die Großmutter ist Rußland, jedoch nicht das ganze, denn Rußland hat
„zwei Seelen", nach dem tiefsinnigen Worte Gorki's, vielleicht dem tiefsinnigsten
oller seiner Worte. Die eine Seele Rußlands ist die Großmutter, die andere —
der Großvater.
Die Großmutter ist schön, der Großvater häßlich. Der „gute Gott der
Großmutter ist ein so lieber Freund alles Lebendigen", der Gott des Gro߬
vaters ist böse. Wenn der Gott der Großmutter der wahre ist, so ist des
Großvaters Gott nicht Gott, sondern der Teufel.
So oder fast so ist es für Aljoscha Peschkow, aber nicht so oder nicht ganz
so ist es für Gorki. Er weiß schon, daß nicht die ganze Wahrheit auf Seiten
der Großmutter ist, daß auch auf Seiten des Großvaters eine gewisse Wahrheit
ist, die ebenso ewig „höchst wahr, höchst russisch" ist.
Nicht immer war auch der Großvater ein böses Scheusal.
Er war doch früher recht gut, als ihm aber dünkte, daß niemand
klüger sei als er, seitdem ist er schlecht und dumm geworden.
Er war gut und wird es vielleicht wieder sein. Möglicherweise ist er
nicht nur aus eigener Schuld, sondern zum Teil auch aus Schuld der Gro߬
mutter selbst schlecht und dumm geworden.
Mich hat der Großvater einmal am ersten Ostertage vom Mittag bis
zum Abend geschlagen; wenn er müde wurde, ruhte er aus und fing wieder
an; er schlug, er schlug mit Stricken und allem anderen.
Wofür?
Ich erinnere mich nicht mehr . . .
Die Großmutter war um das Doppelte stärker als der Großvater und
man glaubte nicht, daß er sie bezwingen könnte.
Ist er stärker als Du?
Nicht stärker, aber älter . . . Gott wird von ihm Auskunft über mich
verlangen, und mir ist befohlen, zu dulden.
Sogar der kleine Aljoscha fühlt, daß der Großmutter etwas fehlt. „Zu¬
weilen möchte man, daß sie irgend ein Kraftwort sagt, irgend etwas laut
schreit". Sie wird aber niemals etwas sagen, sie wird schweigen und dulden
bis ans Ende. Und je mehr die Großmutter dulden wird, desto mehr wird
der Großvater böse und dumm werden.
Obgleich die Großmutter keine Heilige ist, so ist sie doch „eine Art Heilige",
und ihre Hauptsünde besteht nicht in der Sünde, sondern in der Heiligkeit.
Je heiliger sie selbst ist, desto sündhafter ist alles um sie herum.
Sie weiß, — und kann nicht; sie beschaut, — und ist nicht tätig. Der
Großvater weiß und ist tätig, er weiß wenig, ist schlecht tätig; in Rußland
aber ist so viel Beschaulichkeit, so wenig Tätigkeit, daß es schon besser ist
schlecht als gar nicht tätig zu sein.
Die Großmutter ist sehr groß und hat einen weichen Körper, ist nicht
derb, nicht knöcherig. Der Großvater ist klein, derb, spitzig, wie eine Fischgräte,
und dennoch hat er eine sehr große verschluckt, ihn selbst aber wird nie¬
mand verschlucken, ohne zu ersticken.
Die Großmutter ist grenzenlos und unpersönlich. Der Umfang des Gro߬
vaters ist eng, er ist aber eine Person, allerdings eine halbtierische, aber doch
eine Person, Keim einer Persönlichkeit.
In der Großmutter ist „etwas von Dionys", in dem Großvater „etwas
von Apollo". Die Großmutter ist betrunken, der Großvater nüchtern.
Die Großmutter macht Rußland unermeßlich, der Großvater mißt es,
häuft es an, „sammelt", vielleicht in eine furchtbare Faust, aber ohne sie würde
es zerfallen, auseinandergehen, wie ein mit Hefe angerührter Teig aus dem
Backtrog.
Und überhaupt, wenn in Rußland nur die Großmutter ohne den Gro߬
vater wäre, so würden nicht Polowzer, Mongolen, Deutsche, sondern die eigene
heimatliche Fäulnis das „heilige Rußland" lebendig verzehren.
Die Großmutter ist das alte Rußland, das nach Osten gewendet ist. der
Großvater ist das neue Nußland, das nach Westen gewendet ist. Die Gro߬
mutter ist ungelehrt; der Großvater halbgelehrt. Wenn aber Rußland jemals
gelehrt sein wird, so hat es dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater
zu verdanken.
Die Großmutter ist eine „Ketzerin, Freisinnige" in Worten, in der An¬
schauung, und in der Tat ist ihr „befohlen, zu dulden". Der Großvater ist
vorläufig „rechtgläubig" und „selbstherrlich". Und er duldet auch, weil seine
Arme zu kurz sind, um zu vergelten; wenn sie aber ausgewachsen sein werden,
wird er nicht dulden. Und wenn überhaupt jemand in Rußland Aufruhr machen
wird, so wird dies natürlich nicht die Großmutter sondern der Großvater sein.
„Halte Dich fest an der Großmutter" — rät jemand dem Aljoscha.
Gorki befolgte diesen Rat: er hält sich fest an der Großmutter, aber vielleicht
noch fester am Großvater. Und wenn er als Eisen in das Feuer gegangen
und als Stahl herausgekommen ist, so hat er dies nicht der Großmutter, sondern
dem Großvater zu verdanken.
Der Großmutter Wahrheit, — „das heilige Rußland" — ist leicht zu
begreifen: sie leuchtet strahlend. Des Großvaters Wahrheit — „das unheilige
Rußland" — ist schwer zu begreifen: sie leuchtet kaum durch das tierische Antlitz
hindurch. Weder Tolstoj noch Dostojewski haben sie begriffen, weil sie sie von
der Seite, von außen betrachteten; Gorki hat sie begriffen, weil er sie von
innen aus erblickte.
Von zwei Seelen Rußlands spricht die „Kindheit". Von demselben spricht
auch ein Artikel, der von Gorki nicht zufällig fast gleichzeitig mit der „Kindheit"
eben mit der Überschrift „Zwei Seelen" verfaßt wurde.
Rußland hat zwei Seelen: eine asiatische, östliche, und eine europäische,
westliche. Im Osten herrscht die Religion, im Westen — die Wissenschaft.
Die Religion behauptet das, was nicht existiert (das Dasein Gottes, das Leben
nach dem Tode und anderen „Aberglauben", „Phantasten"); Religion ist Lüge.
Die Wissenschaft behauptet das, was existiert (die „Naturgesetze"); Wissenschaft
ist Wahrheit. Rußland geht unter oder befindet sich am Rande des Verderbens,
weil es zwischen zwei Seelen, der östlichen und der westlichen, Schwank. Um
sich zu retten, muß es zu schwanken aufhören, muß es eine Wahl treffen: sich
von Osten, von der religiösen Lüge lossagen, und sich dem Westen, der wissen¬
schaftlichen Wahrheit hingeben.
Wie fo einfach ist das, und wenn nicht von Gorki die Rede wäre, so
könnte man sagen: wie so einfältig ist es bis zur Kindlichkeit.
Lohnt es zu widersprechen? Muß denn bewiesen werden, daß zwischen
„Aberglaube", „Phantasie", Betrug der Einbildung und religiöser Erfahrung
ein Gleichungszeichen nicht gesetzt werden kann? Daß nach der Kant'schen
„Kritik" auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung oder philosophischer Vernunft
das Dasein Gottes und das Nichtdasein Gottes zu behaupten, zwei gleich un¬
sinnige Dinge sind?
Wenn Gorki ein Dogmatiker des Atheismus ist, so kann er nicht vom „wissen¬
schaftlichen Denken" als von der einzigen Art und Weise der Erkenntnis reden,
weil jeder Dogmatiker, gleichviel ob er ein negativer oder ein positiver ist, — jeder
Glaube, gleichviel ob an das Dasein oder Nichtsein Gottes — den Gesetzen des
„wissenschaftlichen Denkens" widerspricht. Ist er aber ein Positivist und Agnostiker,
wie kann er dann das „Nichterkannte" mit dem „Nichterkennbaren" verwechseln?
Er müßte einen Blick in „Die ersten Anfänge" Spencers, des Begründers des
Agnostizismus, werfen, um zu sehen, daß das „Nichterkennbare" nach dem Wesen
der wissenschaftlichen Erfahrung niemals erkannt werden kann. Derart ist die
philosophische Unwissenheit GorkiS.
Eine historische Unwissenheit zeigt er, wenn er den religiösen Osten dem
wissenschaftlichen Westen als zwei in der Weltgeschichte einander entgegen¬
wirkende Dinge gegenüberstellt. Wenn man die Religion in unserem euro¬
päischen Sinne als Theismus, Bestätigung Gottes auffaßt. — nämlich so faßt
Gorki sie auf, — so ist der größte Teil des Ostens, der buddhistische, irreligiös
atheistisch, weil der Buddhismus der reinste Atheismus ist. Nur bei Annäherung
an den Westen wird der Osten religiös in unserem europäischen Sinne, —
theistisch (Zoroasterismus. Judaismus, Islamismus); und je weiter vom Westen,
je östlicher, desto atheistischer. Alle Religion sowie übrigens auch alle wissenschaft¬
lichen Systeme (die ägyptischen, die assyro-babylonischen Grundlagen des griechisch¬
römischen Wissens) werden im Osten geboren, aber wachsen und reifen im
Westen. Dort liegt die religiöse Vergangenheit der Menschheit, hier — die
Gegenwart, die Zukunft. Das Christentum ist im Osten entstanden, im Westen
großgewachsen. Und wenn das Christentum insonderheit eine historische
Weltreligion ist. so ist insonderheit nicht der Osten, sondern der Westen
religiös.
Eine psychologische Unkenntnis zeigt Gorki. wenn er die Religion, als
absolute Beschaulichkeit, der Wissenschaft, als absolute Tätigkeit, gegenüberstellt.
Die Religion ist entweder ein Nichts, „ein Betrug der Einbildung", oder die
größte Kundgebung des menschlichen Willens, und der Wille ist die einzige
Quelle der Tätigkeit. Der Verstand beleuchtet und gibt die Richtung, der
Wille entscheidet und vollbringt die Tätigkeit. Deshalb ist eine willenlose,
untadige Religion einem nichtbrennenden Feuer gleich: das Feuer hört auf zu
brennen, wenn es verlöscht, und die Religion wird untätig, wenn sie aufhört
Religion zu fein. Umgekehrt wird die Wissenschaft tätig, nur wenn sie aufhört,
Wissenschaft zu sein und Religion wird, indem sie sich vom Verstände zum
Willen, wenn auch nur bewußtlos, hinwendet. Um tätig zu sein, muß man
das Pflichtgemäße entweder wollen oder wissen: und für die Wissenschaft gibt
es weder Gewolltes, noch Pflichtgemäßes, sondern nur Daten.
Die Religion knechtet nach Ansicht Gorkis die Persönlichkeit, die Wissen¬
schaft befreit sie. Aber schon der Begriff „der Persönlichkeit" ist unzertrennbar
verbunden mit dem Begriff der „Freiheit", und für die Wissenschaft gibt es
keine Freiheit: das Gesetz der Notwendigkeit, der Determinismus, ist das
Grundgesetz des wissenschaftlichen Denkens. Deshalb kennt die Wissenschaft
keine „Persönlichkeiten" sondern nur „unzerteilbare" Einzelwesen, unpersönliche
„Geschlechter und Gestalten". Der Begriff der „Persönlichkeit" ist ebenso wie
der Begriff der „Freiheit" keineswegs ein wissenschaftlicher, sondern ein religiöser.
Um die Persönlichkeit zu bestätigen, muß die Freiheit bestätigt, das Gesetz der
Notwendigkeit im äußersten Punkte, im Tode, überwunden werden. Das tut
auch das Christentum — die Religion der absoluten Freiheit, der absoluten
Persönlichkeit.
Aus allem, was Gorki von der Religion sagt, ist nur eins wahr, nämlich,
daß die Religion „gefährlich" sei. Aber es ist doch wohl im allgemeinen jede
Kraft gefährlich; je größer die Kraft, desto gefährlicher. Die Religion ist die
größte Kraft, die größte Gefahr. Wenn aber aus dem Feuer Feuersbrünste
entstehen, so folgt daraus nicht, daß man ohne Feuer leben müsse.
Ja, indem Gorki von der Religion spricht, weiß er nicht, wovon er redet.
Es ist aber nicht wichtig, was er weiß und nicht weiß, sondern was er will
und nicht will.
Er will nicht Religion, weil er die Welt lieben will, und jede Religion
ist Unliebe zur Welt. Wie verhält es sich nun mit der Religion der Gro߬
mutter: Liebe zur Welt und zu Gott zusammen? Diese, ihre uneigennützige
Liebe zur Welt hat mich bereichert, indem sie mich mit fester Kraft „zum Kampf
des Lebens" erfüllte —.
Die Großmutter hat er also vergessen, und wenn er sie nicht vergessen
hat, so hat er sie verflucht; ebenso wie der Großvater: „Alte Närrin, unver¬
nünftige, ungelshrte".
„Zwei Seelen" sind geschrieben worden aus Anlaß des Krieges, „einer
von der Welt noch niemals erlittenen, das Leben Europas erschütternden und
vernichtenden Katastrophe", nach den Worten Gorkis selbst. Woher kam die
Katastrophe? Von dem religiösen Osten oder von dem „wissenschaftlichen"
Westen? Es scheint klar zu sein, daß „Wissenschaft" ohne Religion, halbe
Wissenschaft, die Welt vor der Katastrophe nicht gerettet hat, sondern vielleicht
die Hauptursache derselben war. Wenn der menschliche Verstand behauptet, daß
er alles sei, und im Menschen nichts mehr nötig sei, so wird der Verstand selbst
zum Unverstand.
Er war doch früher recht gut. unser Großvater. Als er aber wähnt?,
daß niemand klüger sei als er, seitdem wurde er böse und dumm.
Welche unmenschliche Greuel und Scheußlichkeiten dieser böse und dumm
gewordene sinnlose Unverstand verrichten kann, haben wir jetzt vor Augen. Es
ist er, der Großvater, der kleine, listige, raubgierige „Iltis", der die gewaltige
Großmutter „vom Morgen bis zum Abend schlägt, bis er müde wird, und,
nachher, nachdem er ausgeruht hat, von neuem anfängt, und zwar mit Stricken
und allem anderen". Er schlägt, und sie schweigt, duldet; nur bedauert die
„Unvernünftige" den „Halbvernünstigen":
Ach Großvater. Großvater. Du bist ein kleines Stäubchen im Auge Gottes!
Die Weisheit der Großmutter hat Gorki vergessen, jedoch wird er sich
ihrer wieder erinnern: er ist von ihr gegangen, wird aber zu ihr zurückkehren.
Vielleicht hat nicht nur Rußland, sondern Gorki selbst „zwei Seelen", und
er schwankt zwischen ihnen: bald zum Osten, bald zum Westen, bald zur
Großmutter, bald zum Großvater. Welche von diesen zwei Seelen retten,
welche dem Verderben anheimgeben?
Vielleicht soll man aber keine von ihnen verderben lassen, sondern beide
retten, „zwei Seelen" in eine vereinigen. Vielleicht ist Rußland nicht Osten
und nicht Westen, sondern eine Vereinigung des Ostens mit dem Westen.
Um zu vereinigen, muß nicht vermischt werden; und um nicht zu ver¬
mischen, muß bis zu Ende geteilt werden. Das tut Gorki auch: er trennt,
zerreißt die zwei Seelen Rußlands in seiner eigenen Seele. Und wenn seine
Seele von diesem Riß verderben wird, so geschieht dies nicht umsonst: sie wird
verderben, um andere Seelen zu retten.
So treibt er, der „Gottlose", Gottes Werk. Die Trennung zweier Seelen,
— des Westens vom Osten, der Tätigkeit von der Beschaulichkeit, der Erde
vom Himmel, — ist eine unvollständige, unvollendete, unewige Wahrheit. Es
gibt aber keinen anderen Weg zur ewigen Wahrheit, als das Opfer einer von
den zwei urewigen; und man muß wissen, womit und wozu wir opfern. Gorki
weiß dies noch nicht, vielleicht wird er es einst erfahren.
Heiliges Rußland! Heiliges Rußland! — behaupteten wir gotteslästerlich.
Nein, unheiliges und sündhaftes — so sprach Gorki, wie noch niemand
je gesprochen hat.
Einst prügelte der Großvater den Aljoscha bis zum Verlust des Bewußtseins.
Seit dieser Zeit, — sagt Gorki — hat man mir gleichsam die Haut vom
Herzen gerissen: es wurde unerträglich fremdartig jeder eigenen und fremden
Beleidigung gegenüber.
Nun dieses Herz mit abgerissener Haut pulsiert immer noch in Gorki.
Einst schlug „ein Herr in der neuen Uniform", der Stiefvater des Aljoscha,
seine kranke Mutter.
Soeben sehe ich, — so erinnert sich Gorki, — diesen schändlichen langen
Fuß mit der hellen Borte längs dem Hosenbein, — ich sehe, wie er in der
Lust ausholt und mit der Stiefelspitze in die Brust der Frau schlägt.
Aljoscha ergriff ein Messer und versetzte dem Stiefvater einen Stoß.
Dieses Messer hat Gorki immer noch in der Seele: eine Beleidigung Rußlands
ist für ihn nicht in übertragenem, sondern in wirklichem, wahrem, blutigem
Sinne eine Beleidigung der Mutter:
Zwei Gefühle sind uns wunderbar nahe.
In ihnen gewinnt das Herz Nahrung:
Die Liebe zum heimatlichen Herd,
Die Liebe zu den väterlichen Gräbern-
Für Aljoscha aber ist „das väterliche Grab" — „der stinkende Djukowteich,
in dem man den Vater im Winter durch ein Eisloch geworfen hatte". Solch
ein „Vaterland" muß Gorki lieben.
Wenn der Großvater die Großmutter mit tätlichem Hiebe schlägt, und
diese schweigt, duldet, — „mir ist befohlen, zu dulden" — dann fühlen wir
Mitleid:
Heimatland der Langmut und Geduld,
Du Land des russischen Volkes!
„Heiliges Rußland, Heiliges Rußland", Gorki fühlt kein Mitleid. Möge
sie verflucht sein, diese Heiligkeit, wenn alle unsere Schlechtigkeiten aus ihr
hervorgehen.
„Indem ich an die schweren Greuel des wilden russischen Lebens denke,
frage ich mich zuweilen: Lohnt es sich wohl, davon zu reden?" Und mit
erneuter Bestimmtheit antworte ich: .Es lohnt sich!' Denn alles das ist lebendige,
schändliche Wahrheit, die bis heutigen Tages nicht erloschen ist. Es ist die
Wahrheit, die man bis auf den Grund kennen muß, um sie mit der Wurzel
aus dem Gedächtnis, aus der Seele, aus unserem ganzen schweren und schmach¬
vollen Leben zu reißen."
Niemand hat jemals von dieser Wahrheit so geredet wie Gorki, weil alle
von der Seite, von außen her geredet haben, er aber — von innen heraus.
Nach uns. nach Tolstoj und Dostojewski, istScmftmut. „Geduld". „Untätigkeit",
nach Gorki aber ist Empörung, Tätigkeit, „höchst wahres, höchst russisches".*)
Und wenn Rußland nicht nur irgend woher gekommen ist, sondern auch irgend¬
wohin geht, so hat Gorki darin mehr recht als Tolstoj und Dostojewski. Darin
ist das sündhafte Rußland heiliger als das „heilige."
Und ist nicht eine größere Liebe nötig, um ein sündhaftes Rußland mehr
zu lieben als ein heiliges? Ist nicht ein größerer Glaube nötig, um an ein
sündhaftes zu glauben? Mit solcher Liebe liebt, mit solchem Glauben glaubt
Gorki.
„Nicht nur dadurch erregt unser Leben Staunen, daß es eine so fruchtbare
und fette Schicht jeglichen viehischen Schmutzes enthält, sondern auch dadurch,
daß durch diese Schicht hindurch etwas Gutes wächst, indem die unverwüstliche
Hoffnung auf unsere Wiedergeburt zu einem hellen, menschlichen Leben erwacht".
Niemand hat jemals von dieser Hoffnung so geredet wie Gorki, weil
wiederum alle von der Seite, von außen her geredet haben, er aber — von
innen heraus. Man muß selbst durch die Finsternis der Vergangenheit und
Gegenwart Rußlands hindurchgehen, um von der leuchtenden Zukunft Rußlands
zu reden.
Ja, nicht an ein „heiliges", sanftmütiges, sklavisches, sondern an ein sünd»
Haftes, sich empörendes, sich befreiendes Nußland glaubt Gorki. Er weiß, daß
es kein „heiliges" Rußland gibt, glaubt aber, daß es ein „heiliges" Rußland
geben wird.
Eben durch diesen Glauben vollbringt er, der „Gottlose", Gottes Werk,
durch ihn ist er uns nahe, näher als Tolstoj und Dostojewski. Hier sind wir
schon nicht mehr mit ihnen, sondern mit Gorki.
^
> as jedem Menschen wissenswert erscheint, sein eigenes Werden,
Wachsen und Gedeihen, die Erkenntnis seiner Stellung zur Außen-
weit mit dem Anspruch auf Gültigkeit, das ist für ein Volk, für
einen alten Zusammenhang von Volkstum oder Staatskörper, seine
Geschichte. Um ihrer selbst willen, im Interesse der gewordenen
Formen ihres eigenen Lebens, forschen die Völker nach ihrer Vergangenheit und
ziehen aus ihr Verständnis für das Bewußtsein gegenwärtiger Macht und Größe.
Das naive Bedürfnis nach Erkenntnis der Zusammenhänge des Geschehens, so¬
weit sie uns betreffen, zeigt sich unter dem Gesichtspunkte der Welt-, europäischen
oder Volksgeschichte in wesentlich verfeinerter Form, dadurch, daß an Stelle der
individuellen Beziehungen allgemeine treten, solche, die eine Vielheit durch Gleich¬
artigkeit des Stammes und der Entwicklung zusammengehöriger Menschen an¬
gehen. Für ein Volk, sür die Gesamtheit mehrerer Völker, wird die alte Frage
„Was ist Wahrheit?" zum Urgrund alles wissenschaftlichen Forschens und
Strebens; kein geringerer als Leopold von Ranke hat das im neunzehnten Jahr¬
hundert für die Geschichte erkannt und den Grund gelegt zu einer modernen
Geschichtsschreibung uni ihrer selbst willen.
Wenn wir nun untersuchen, welche Aufgaben geschichtswissenschaftlicher und
praktischer Art es für unser Geschlecht zu lösen gilt, so fällt vor allen Dingen
ein Gebiet in die Augen, dessen Bedeutung in den letzten hundert Jahren ebenso
gewachsen ist, wie das Bedürfnis nach seiner systematischen Ordnung und Ver¬
arbeitung vernachlässigt wurde. Es hat ja nicht an Stimmen von Klang gefehlt,
die zeitig auf die Wichtigkeit der Presse hinwiesen. Aber Anregungen wie die
Spcchns und anderer Gelehrten. Wünsche, die im deutschen Reichstage laut
wurden, vermochten nicht, ihrer Überzeugung zum Sieg, ihren Absichten zur
Durchführung zu verhelfen. Daß man sich nun gerade jetzt in Deutschland
mit den Erzeugnissen der „Presse" wissenschaftlich und praktisch mehr beschäftigt
als früher, ist zum guten Teil in den Verhältnissen der Gegenwart begründet.
Es ist zweifellos gerade im jetzigen Kriege sehr fühlbar geworden, daß
unsere Diplomatie im Auslande nicht über dasjenige publizistische und jour¬
nalistische Rüstzeug verfügte, das unseren Feinden in so reichem Maße zu
Gebote stand. Schon vor dem Kriege legten England und Frankreich große
Summen in dieser Agitation an. deren Wirkungen wir überall im Auslande
spüren mußten und noch spüren. Ein Netz von Agenten überzog die Welt, und
englisches Geld wirkte bestimmend auf die Gesinnung von Völkern, die neutral
oder mit uns verbündet waren. Aus dem Kriege selbst sind uns die Leistungen
der Northcliffpresse, die vor allem in Italien den Umschwung der Volksstimmung
in einem uns ungünstigen Sinne miterzeugen half, zur Genüge bekannt. Es ist
eine Notwendigkeit für die Zukunft, die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes mit
wissenschaftlichen, journalistischen und diplomatischen Kräften so auszustatten, daß
sie sowohl alle Nachrichten vom Ausland her blitzschnell verarbeiten, tendenziöse und
falsche Meldungen richtig stellen als auch der eigenen Presse, wie der des Auslandes
in geeigneter Form die Tatsachen mitteilen kann, die geeignet sind, die deutsche
Politik wirksam zu unterstützen. Man könnte fragen, ob wir in demselben
Maße über Fachleute verfügen, wie das Ausland. An bedeutenden Publizisten
ist bei uns nie Mangel gewesen, die Schwierigkeit einer solchen Arbeit, bei der
Männer der verschiedensten Berufszweige Hand in Hand gehen müßten, dürfte
vielmehr in der Organisation zu suchen sein. Es handelt sich darum, diesem
Institut innerhalb der Reichsämter diejenige Unabhängigkeit und Schnelligkeit
des Betriebes zu geben, deren es zur erfolgreichen Durchführung seiner Auf¬
gaben bedarf, oder es zu einem selbständigen Reichsamt auszugestalten.
Frühere Wünsche und Anträge in dieser Richtung könnten hierbei berücksichtigt
werden.
Gerade der Krieg ist wie kein anderes Ereignis geeignet, das Interesse an den
Vorgängen des Tages zu steigern. Der Bedeutung der Frage aber, leistungs¬
fähige und tüchtige Männer der Gründlichkeit, nicht nur der bloßen Fertigkeit,
in den journalistischen Berufen zu sehen, hat zuerst deutscher Bürgerstnn Rechnung ge¬
tragen. Die Stadt Köln, der uralte Mittelpunkt von Handel und Verkehr am Nieder¬
rhein, hat beschlossen, nach dem Kriege an ihren beiden Hochschulen, der Handels¬
hochschule und der Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung, einen
Lehrstuhl für Zeitungswesen zu errichten. Wird ein damit verbundenes Seminar
im Sinne des engen Zusammenhanges zwischen neuerer Geschichte und Zeitungs¬
wesen geleitet, so kann eine derartige Vertiefung ihres Wissens durch geschicht¬
liches Denken für Berufsjournalisten von höchstem Nutzen sein. Erinnern wir
uns an Görres, der im „Rheinischen Merkur", an David Friedrich Strauß,
der in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung", an Heinrich von Treitschke und
Konstantin Rößler, die in den „Grenzboten" und den „Preußischen Jahr¬
büchern" schrieben, so wird uns der hohe geistige Gehalt der deutschen Publizistik
im vergangenen Jahrhundert völlig klar. Diese Männer kämpften für große
politische Gedanken, ihre journalistische Tätigkeit hatte eine starke Grundlage
geschichtlichen Interesses und wissenschaftlicher Bildung. Das gebildete Deutsch¬
land wird das Kölner Unternehmen in der Hoffnung begrüßen, neben anderen
Aufgaben auch die der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, vielleicht
auch der Schaffung eines neuen geschichtlich-politischen Stiles, an den dortigen
Hochschulen gelöst zu sehen.
So hat der Krieg auf dem Gebiete der praktischen Politik und auf
dem der journalistischen Berufsarbeit mancherlei Ansätze zutage gefördert und
alte Bestrebungen wieder in Erinnerung gebracht. Angesichts eines so tiefen
Interesses, eines so allgemeinen Bedürfnisses, ist es denn auch kein Wunder
gewesen, daß sich sofort nach Beginn des Krieges der Wunsch nach einer
Sammlung des Quellenmaterials aus den Zeitungen und Zeitschriften, der
schon vor dem Kriege von verschiedenen Seiten, jedoch ohne durchgreifenden
Erfolg geltend gemacht worden war, erneut regte. Während die Zeitschriften
meist am Ende der Jahrgänge Register bringen, die den Inhalt übersehen
lassen, fehlt ein solches Hilfsmittel bei den Zeitungen fast ganz. Der Benutzer
ist großenteils darauf angewiesen, sich durch die zahlreichen Bände, zu denen die
Einzelnummern zusammengefaßt sind, mühsam hindurchzuringen und sich seinen
Stoff zusammenzusuchen. Mancherorts hat man versucht, diesem Mangel dadurch
abzuhelfen, daß man nachträglich Register zu den Zeitungen anlegte, wie es
schon seit langem in der Stadtbibliothek zu Köln geschieht. So gewaltig dieser
Fortschritt ist, und so sehr er die Benutzung erleichtert, so muß er Stückwerk
bleiben, wenn es sich nicht um ein Sachregister für eine Mehrzahl von Zeitungen
handelt. Ein Register gewinnt eben erst dann höheren Wert, wenn es eine
Materialsammlung darstellt, die nach bestimmten Richtungen hin nutzbar gemacht
werden kann. Bei einer Sichtung des Zeitungsstoffes wird zunächst die stete Wieder¬
holung von Nachrichten und Aufsätzen in Blättern derselben Gegend oder derselben
politischen Richtung in die Augen fallen. Eine solche Fülle von Wiederholungen
aber kann für den späteren Forscher nur Ballast sein. Es handelt sich also darum,
aus den einzelnen Zeitungen den spezifischen Inhalt herauszusuchen und das vielfach
äußerst wertlose Beiwerk beiseite zu schieben. „Wenn etwas zugrunde geht",
äußerte sich Geheimrat Kaufmann auf dem Posener Archivtage von 1911, „so
ist dies eine Vorarbeit für die historische Forschung." Bis zu einem gewissen
Grade hat er damit zweifellos recht. Es kann wirklich keinen großen Wert
haben, alle Artikel zu verzeichnen oder alle Zeitungen zu sammeln, deren Inhalt nur
die Wiedergabe des Inhaltes größerer Blätter bedeutet. Man darf aber auch
'hierin nicht zu weit gehen. Wer schon in derartigen Sammelarbeiten felbst
tätig war, der weiß, daß gerade die Lokalzeitungen in den Dörfern und kleinen
Städten eine Fülle von Mitteilungen enthalten, die selten in eine größere
Zeitung übergehen. So geringen Wert eine einzelne Notiz, für sich allein betrachtet,
zu besitzen scheint, so wichtig ist sie, verglichen mit anderen derselben Art aus
anderen kleinen Blättern. Schneidet man aus einer Reihe von Zeitungen
ein und desselben Bezirkes diese spezifischen Notizen aus und ordnet sie
chronologisch, so ergibt dies ein kulturgeschichtliches Bild von größter Reich¬
haltigkeit der Farben, auf das kein Forscher gern verzichten wird.
Man hat im Laufe des Krieges an verschiedenen Orten versucht, dieses
Ausschnittverfahren zur Durchführung zu bringen. So hat die Universität
Jena eine Sammlung ins Leben gerufen, die schon eine recht stattliche Anzahl
von Bänden umfaßt. An der Universität Leipzig hat Professor Herre die
historische, Professor Eulenburg die volkswirtschaftliche Abteilung geleitet.
Beide haben gleichmäßig alle erreichbaren Zeitungen und Zeitschriften des
In- und Auslandes „verzettelt", das heißt, alle in Frage kommenden Aufsätze
in bestimmten Rubriken gesammelt. Man kann in diesem Archiv sofort alles
Material, zum Beispiel über Kriegsgreuel, über Grev, über Bulgarien oder
Rumänien greifen. Jeder Aufsatz ist auf weiße Blätter aufgeklebt und entsprechend
eingereiht. Die volkswirtschaftliche Abteilung ist ebenso gegliedert wie die
historische; z. B. gibt es folgende Rubriken: Rohstoffversorgung. Ernteergebnisse
in Deutschland, Österreich, in Frankreich u. a. in/").
Es leuchtet ein, daß eine solche Anordnung die Benutzbarkeit und Über¬
sichtlichkeit der Sammlung aufs beste gewährleistet. Ferner liegt ein nicht zu
unterschätzender Vorteil in der Möglichkeit, die auf weißem Papier aufgeklebten
Ausschnitte für lange Zeit zu erhalten, eine Tatsache, die angesichts der noch
völlig ungelösten Frage der Konservierungsmittel, unter denen zur Zeit Cellit
und Neuzapon den ersten Platz einnehmen, nicht zu unterschätzen ist.
Den Weg einer Vervielfältigung des bemerkenswerten Materials durch den
Druck hat Eberhard Buchner beschritten in seinen „Kriegsdokumenten", von denen
kürzlich der sechste Band bei Albert Langen in München erschienen ist. Hier sind
Zeitungsausschnitte, Inserate wie Meldungen von den großen Kriegsereignissen
zu einem Ganzen zusammengefügt. Es kann sich hierbei naturgemäß nur um
eine Auslese aus dem Stoffe handeln, der in einem „Zeitungsarchiv" zusammen¬
getragen werden kann. Hier eine Fülle von übersichtlichen Material, das auch
dem Fachgelehrten reich genug sein kann, dort eine Art Nachschlagewerk, das
zur schnellen Orientierung wohl manchen Vorteil bietet, aber nie den Stoff,
vor allem in kulturgeschichtlicher Richtung, auch nur annähernd vollständig
umfassen kann.
Während das Leipziger Werk vielleicht das größte Unternehmen nach allgemein
deutschen Gesichtspunkten ist, hat sich ein anderes von vornherein die Beschränkung
auf ein bestimmtes Gebiet zum Ziele gesetzt, nämlich das hessische. Das von dem
Direktor des Großherzoglichen Haus- und Staatsarchives in Darmstadt, Julius
Reinhard Dieterich, ins Leben gerufene „Hessische Kriegszeitungsarchio" hat seine
Sammeltätigkeit von vornherein nur auf das Großherzogtum Hessen erstreckt.
Maßgebend war hierbei hauptsächlich der Umstand, daß man für die Durch¬
führung des Unternehmens im wesentlichen auf freiwillige Hilfe angewiesen war.
Ferner aber war es fraglich, ob man imstande sein würde, alles in Frage
kommende Material wirklich zu erreichen. Die Leitung des Darmstädter Unter-
nehmens nahm sofort nach Beginn des Krieges den Standpunkt ein, daß eine
einheitliche Sammeltätigkeit durch das ganze Reich hin angestrebt werden müsse.
Daß dieser Plan scheiterte, lag nicht an ihr und auch nicht an dem Leiter der
Zentralnachrichtenstelle für das neutrale Ausland, Herrn Professor Weber, sondern
an anderen, hier nicht näher zu erörternden Rücksichten. Die ersten Bände des
Kriegsarchives, die auf der Darmstädter Kriegsausstellung im März 1916 vor¬
geführt wurden, dürften die grundsätzliche Nichtigkeit des eingeschlagenen Weges
bewiesen haben, wenn natürlich auch in mancher Beziehung Einwände berechtigt
sind. Der Benutzer bekommt eine große Anzahl, auf holzfreiem Papier auf¬
geklebter, nach bestimmten Gesichtspunkten chronologisch geordneter Ausschnitte
dargeboten. Tagesberichte und Meldungen aus neutralen Ländern, kurz gesagt,
allgemeine Nachrichten, fallen in dieser Sammlung ganz weg, aber Preis-
vcränderungen, Bevölkerungsverschiebungen, Vereins- und Versammlungsleben
und die Dichtkunst werden in ihren kleinen und kleinsten Äußerungen zusammen¬
gestellt. So wird dem künftigen Forscher Gelegenheit geboten, die Kultur¬
geschichte des Großherzogtums Hessen unter dem Einfluß des Krieges auf Grund
reichlicher Zeugnisse zu untersuchen. Die zahlreichen während des Krieges
erschienenen Flugschriften und Bücher werden durch eine solche Fundgrube
wesentlich ergänzt. Schon vor dem Kriege hat die deutsche Bücherei in Leipzig
sich die Sammlung aller Erzeugnisse der Presse zum Ziele gesetzt, neuerdings
ist in Berlin eine „Weltkriegsbücherei" begründet worden, die bestrebt ist. die
Erzeugnisse der Kriegsliteratur im weitesten Sinne zu sammeln; ob aber derartige
Institute in Anbetracht der ihnen gestellten anderen Aufgaben imstande sind, eine
wissenschaftlich brauchbare Verzettelung gerade des Zeitungsstoffes herbeizuführen,
muß bezweifelt werden. Gerade bei einer solchen Arbeit sprechen gewichtige
Gründe für die Dezentralisierung; einmal ist es leichter, den beschränkten Stoff
eines bestimmten Gebietes zu bewältigen, andererseits wird auch die Benutzung
an den Punkten reger sein, wo ein engeres heimatliches Interesse vorliegt*).
Für den Krieg ist ja eine einheitliche Regelung der Sammeltätgkeit un¬
möglich geworden. Gerade der Krieg hat aber das Bedürfnis nach der Be¬
gründung von Zeitungsarchiven oder einem „Zeitungsmuseum", wie Martin
spähn sich ausdrückte, erneut zu Bewußtsein gebracht. Wenn der Friede
wiederkehrt, wird sich unser Volk auch auf dem Gebiete der praktischen und
politischen Ausnutzung und der wissenschaftlichen Sammlung der Presserzeuguisse
neuen Aufgaben gegenübersehen. Es darf auch nicht vergessen werden, daß
eine nachdrückliche Bearbeitung dieses Quellengebietes im Anschluß an die
Archive und Bibliotheken Deutschlands geeignet sein kann, Kräfte zu er¬
ziehen, die im Dienste der Journalistik oder eines Reichspresseamtes ihr Bestes
leisten könnten. Schon 1911 hatte der Archivtag zu Posen den Wunsch aus¬
gesprochen, daß die Archive und Bibliotheken der einzelnen Landesteile mit
der Sammlung der Zeitungen beginnen mögen. Im Frieden muß eine
einheitliche Organisation für das ganze Reich geschaffen werden. Es nutz
vermieden werden, daß dieselbe Arbeit an verschiedenen Plätzen sich wieder¬
holt. Die Festsetzung des Stoffes und des auszuschneidenden Materials kann
man ruhig den einzelnen historischen Kommisstonen überlassen, die in dieser
Frage Berater aus den Kreisen des Handels und der Industrie hinzuzuziehen
hätten. Daß aber die seit Jahren im Gang befindlichen Bestrebungen
nicht am Mangel an Mitteln scheitern, daß endlich einmal Dinge in
Fluß kommen, über die der deutsche Reichstag schon 1906 gesprochen hat,
dafür muß eben der deutsche Reichstag sorgen. Ebenso wie eine bessere
Ausstattung des Auswärtigen Amtes mit publizistischen und journalistischen
Rüstzeug angestrebt werden muß, ist es auch notwendig, daß die Vundesstaaten
und das Reich an ihren wissenschaftlichen Instituten für die zweckmäßige
Sammlung des Quellenmaterials aus der Presse Sorgen tragen. Die Presse
ist heute als geschichtliches Hilfsmittel nicht mehr zu entbehren. Was uns
aber fehlt, ist die Möglichkeit ihrer leichten quellenmäßigen Benutzung. Dazu
könnten in den einzelnen preußischen Provinzen und den größeren Vundes¬
staaten im Anschluß an die dort bestehenden Archive und Bibliotheken Stellen
geschaffen werden, wo ein wissenschaftlicher Beamter die Arbeit eines bestimmten
Bezirks überwachen und für die zweckmäßige Aufbewahrung der Sammlungen
Sorge tragen müßte. So könnten aus der Gegenwart Werke moderner
Quellenkunde entstehen, die den Zeitgenossen zum Nachschlagen, der Nachwelt
zum Nachforschen dienen würden. Die Abgeordneten Wassermann, Pfeiffer
und spähn haben schon vor Jahren auf die Bedeutung des Gegenstandes und
auf die Notwendigkeit dauernder Einrichtungen auf diesem Gebiete hingewiesen.
Wenn nun, veranlaßt durch die Lehren des Krieges, die mit der Tagespolitik
zusammenhängenden Fragen, die das Pressewesen betreffen, wieder akut werden,
fo darf das deutsche Volk die Mühe nicht scheuen, auch die Möglichkeit zu
einer wissenschaftlichen Quellenverwertung der Zeitungen zu schaffen, deren zweck¬
mäßige, einheitliche Regelung wir jetzt so schmerzlich vermissen.
Eine Nachtigall saß, als der Abend dämmerte, in einem Busch und ließ
ihren Gesang erschallen. Andere Vögel saßen still in den Zweigen und schienen
den sanften Tönen zu lauschen. Nur eine Fledermaus flog unstät hin und her und
jagte Nachtfaltern und Käfern nach. Da schwieg die Nachtigall und sagte er¬
bittert: „Warum ansteht du nicht auf meinen Gesang, wie die Vögel ringsum?
Bist du so roh, daß er dir keine Freude macht?" „Wie gern hörte auch ich
dir zu", erwiderte die Fledermaus; „aber ich muß die Zeit ausnützen und
für meine Jungen Nahrung beschaffen."
„Ach, wie hat mich im Schlamm gefroren!" sagte ein Krebs zu einem
Knaben, der ihn gefangen hatte. „Setze mich in den Teich nebenan; dort
wird das Wasser wärmer sein!" „Du sollst es noch besser haben", sagte der
Knabe, nahm den Krebs mit nach Hause und steckte ihn in einen Topf mit
heißem Wasser. Nach einiger Zeit hielt er das Ohr darüber, lauschte und
sagte: „Jetzt muß ihm recht behaglich sein — er klagt nicht mehr."
„Sieh, wie viel nützlicher ich unserem Herrn bin, als du!" sprach ein
alter Kater zu einem Jagdhunde; „auch meine Nachtruhe opfere ich und
schleiche mich in den Garten, um die schädlichen Mäuse wegzufangen." „Nicht
auch, um bisweilen einen schlummernden Vogel zu überraschen?" entgegnete
der Jagdhund.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
i
!
^ r geht es wie einem Reisenden, der unter eine Rotte ver¬
brecherischer Gesellen geraten ist. die ihn ermorden wollen, um
sich seine Habe zu teilen ... Es ist abscheulich und schlägt aller
Menschlichkeit und allen anständigen Sitten ins Gesicht. Hat die
Welt jemals dergleichen gesehen, daß drei große Fürsten sich
zusammenrotten zur Vernichtung eines Fürsten, der ihnen nichts getan hat?
Weder mit Frankreich habe ich Händel gehabt, noch mit Rußland, noch weniger
mit Schweden (heute: England). Wenn in der bürgerlichen Gesellschaft drei Bürger
sich verabreden wollten, ihren lieben Nachbarn auszurauben, hätten sie damit
unfehlbar von Rechts wegen Rad und Galgen verwirkt. Und nun geben gar
gekrönte Häupter, in deren Namen in ihren Staaten derartige Gesetze beobachtet
werden, ihren Untertanen solch ein empörendes Beispiel! Sie, die zu Gesetz¬
gebern auf der Welt berufen sind, werden durch ihren Vorgang Lehrmeister des
Verbrechens! O Zeiten, o Sitten! Wahrhaftig, ebenso gut könnte einer unter
Tigern, Leoparden und Luchsen Hausen, wenn er in einem Jahrhundert, das
für gesittet gilt, unter solchem Mord- und Raubgesindel leben soll, solchen hinter¬
listigen Menschen, die unsere arme Welt beherrschen.
Die ungerechten Vorbereitungen (meiner Feinde) zum Kampfe zwingen mich
zu den äußersten Schritten, die ich aus Liebe zum Frieden und zur allgemeinen
Ruhe lieber vermieden hätte, und dieselben Umstände nötigen mich sehr gegen
meinen Willen, mein Heer nach Sachsen (heute: Belgien) marschieren zu lassen,
um von da nach Böhmen (Frankreich) einzudringen. Sie werden dem . . -
Kurfürsten von Sachsen erklären . . ., man werde auf seine Staaten alle schonende
Rücksicht nehmen, die die gegenwärtigen Umstände gestatten; meine Truppen
würden sich in Ordnung und peinlichster Manneszucht halten . . . Übrigens
könne Seine polnische Majestät (-Kurfürst von Sachsen) überzeugt sein, daß man
für seine Person und seine königliche Familie alle mögliche Rücksicht und Hoch¬
schätzung haben werde, die die unglückliche Zeit und meine eigene Sicherheit
gestatten. Ich persönlich wünschte nichts lebhafter als bald den glücklichen
Augenblick des Friedens herannahen zu sehen, um diesem Fürsten meine volle
Freundschaft zu bezeugen und ihn wieder in den sicheren und ruhigen Besitz
seiner Staaten zu setzen, gegen die ich niemals irgendwelche Angriffspläne
gehabt hätte.
Ganz Europa stürzt sich auf uns. Es scheint Mode zu sein, unser Feind
zu sein.
Die Lumpen von Kaisern und Königen zwingen mich zum Seiltänzer.
Ich tröste mich mit der Hoffnung, daß ich dem einen oder andern mit der
Balancierstange tüchtig eins auswischen werde.
Ich bin erstaunt über die englische Politik. Die Engländer sehen ganz
Europa sür eine lediglich zum Nutzen'Englands geschaffene Staatengemeinschaft
an. Niemals gehen sie auf die Interessen anderer ein.
Ich muß darauf gefaßt sein, daß alle meine Feinde, erklärte wie heimliche,
ihr Haupt erheben und ein jeder das Seine zu meinem Untergang beitragen
will. Unter diesen Verhältnissen werde ich der Zahl meiner Gegner Festigkeit
und Mut entgegensetzen. Sie sollen den Staat nicht niederwerfen, sie begraben
denn seine Verteidiger unter den Trümmern ihres Vaterlandes.
Politiker gängeln das Volk, und es wird beständig hinter das Licht geführt
von jedem, der Lust hat, es zu betrügen.
In der Politik ist bisweilen etwas sehr wahrscheinlich und geschieht dann
doch gerade am wenigsten. Wir gleichen den Blinden, die umhertappen. Die
sogenannte Kunst des Vermutens ist es nicht, die einem Vorschriften macht,
sondern ein bloßes Glücksspiel, worin der geschickteste Mann ebenso gut verlieren
kann wie der größte Dummkopf.
Ich handele so wie Leute, die von Fliegen belästigt, diese von ihrem
Gesicht wegscheuchen. Aber wenn eine von der Backe wegfliegt, so setzt sich eine
andere auf die Nase, und kaum hat man diese vertrieben, so fliegt eine neue daher
und setzt sich auf die Stirne, auf die Augen und sonst wohin. So wird's, glaube
ich, weitergehen, bis große Kälte diesen unerträglichen Schwarm erstarren macht.
Fürwahr, wir haben eine ganze Welt gegen uns. Nur mit äußerster
Anspannung kann man da widerstehen, und es ist nicht zu verwundern, daß
uns oft etwas fehlschlägt.-
Man muß gegen den Strom schwimmen und gegen diese sich immer
erneuernde Hydra von Feinden kämpfen, bis wir den letzten ihrer Köpfe
abgeschlagen haben.
Deutschland befindet sich zur Stunde in einer furchtbaren Krisis. Mir
ward die Aufgabe zuteil, ganz allein für seine Freiheiten, seine Rechte ein¬
zustehen. Unterliege ich diesmal, so ist es darum geschehen. Trotzdem habe
ich große Hoffnungen, und wie gewaltig auch die Zahl meiner Feinde sein
mag, ich vertraue auf meine gute Sache, auf die bewunderungswürdige Tüchtig¬
keit meiner Truppen und den redlichen Willen, der alle beseelt, vom Feld¬
marschall bis zum geringsten Soldaten hinab.
Die Herren Europas haben Gewalt anstatt der Gesetze eingeführt. Auf
dem weiten Erdenrund sieht man nur noch Unrecht und Gewalttat.
Es gilt hier einen so großen, erhabenen Kampfpreis, daß ein Stein da¬
durch beseelt werden könnte. Die Freiheitsliebe und der Haß gegen die
Tyrannen steckt den Menschen so im Blute, daß sie, abgesehen von erbärmlichen
Wiesler, gerne ihr Leben für die Freiheit hingeben.
Jch bin zu den äußersten Kraftanstrengungen entschlossen, um mein Vater¬
land zu retten.
Ich werde Mittel finden, mich aller meiner Feinde zu entledigen. Ich
werde, wenn es dem Himmel gefällt, den Staat aus der Gefahr retten.
Es wird das Jahr stark und scharf hergehen. Aber man muß die Ohren
steif halten, und jeder, der Ehre und Liebe für das Vaterland hat, muß alles
dransetzen.
Siegen oder sterben ist in meiner jetzigen Lage mein Wahlspruch.
Und wenn Himmel und Erde zusammenstürzen, ich lasse mich unter ihren
Trümmern mit derselben Kaltblütigkeit begraben, mit der ich diese Zeilen
schreibe. In solchen schicksalsvollen Zeiten muß Man sich ein eisernes Gemüt
und ein ehernes Herz anschaffen, um jedes Gefühl zu verlieren.
Hörst du, daß einem von uns ein Unglück zugestoßen ist. so frage, ob er
im Kampfe gefallen ist, und ist es so. dann danke Gott. Für uns gibt es nur
Tod oder Sieg; eins von beiden muß uns beschieden sein.
Ich sehe die Gefahren, die mich umringen. Doch rauben sie mir nicht
den Mut.
Wenn unsere Feinde uns den Krieg aufdrängen, so haben wir nur zu
fragen: Wo stehen sie? Nicht aber: Wie viel sind es? Wir haben nichts
zu fürchten, und nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit werden wir uns mit
allen erdenklichen Ehren aus dieser Falle herausretten.
Die große Kunst im Kriege besteht darin, alle Ereignisse vorauszusehen,
und die große Kunst des Heerführers ist die, alle Hilfsmittel im voraus bereit
zu haben, damit er in seinen Entschlüssen nicht behindert ist, wenn die Ent¬
scheidungsstunde naht.»
Dieser Krieg ist furchtbar; er wird von Tag zu Tag unmenschlicher und
barbarischer. Unser gelobtes Jahrhundert ist noch sehr roh oder besser ge¬
sagt: Der Mensch ist eine unbezähmbare Bestie, sobald er sich der Wut seiner
zügellosen Leidenschaften überläßt.
Welche Menschenopfer, welche entsetzliche Schlächterei! Ich denke nur mit
Schaudern daran. Was man aber auch dabei empfinden mag, es gilt, sich
ein ehernes Herz zu schaffen und sich auf Mord und Gemetzel vorzubereiten.
Das Vorurteil der Welt stempelt diese Bluttaten zwar zum Heldentum. Wenn
man sie aber aus der Nähe steht, sind sie stets grauenvoll.
Wir alle müssen uns damit trösten, daß unser Zeitalter in der Welt¬
geschichte Epoche machen wird und daß wir die außerordentlichsten Ereignisse
erlebt haben, die der Wechsel aller Erdendinge seit langem hervorgebracht hat.
Der.... hat mir ein schönes Werk übersandt, in welcher Weise der
europäische Frieden wieder herzustellen und dauernd zu befestigen sei. Die
Sache ist völlig ausführbar. Zu ihrem Gelingen fehlt nur die Einwilligung
Europas und was derartige Kleinigkeiten mehr sind.
Der Krieg ist einer der Bestandteile, die notwendig zu der Mischung
dieser unglücklichen Welt gehören.
Es wird stets Kriege, Prozesse, Verwüstungen, Pest, Erdbeben und
Bankerotte geben. Um diese Dinge dreht sich die Weltgeschichte. Da das so
ist, nutz es wohl nötig sein.
Die Weltgeschichte ist nichts als eine Kette von Kriegen, die von unseren
Tagen zurückreicht, solange wie der Mensch zurückdenken kann.
Der Krieg ist eine Geißel, aber ein notwendiges Übel, weil die Menschen
verderbt und boshaft sind, weil die Blätter der Weltgeschichte beweisen, daß
man von jeher Krieg geführt hat, und vielleicht auch, weil der Weltschöpfer
ununterbrochene Umwälzungen gewollt hat, damit die Menschen sich über¬
zeugen, daß es nichts Beständiges unter dem Monde gibt,
Es ist schlimm, daß die Handlungen der Staatsmänner der Kritik so vieler
Leute unterliegen, die sie gar nicht beurteilen können, aber unwiderrufliche Urteile
fällen, Leuten, die Müßiggang und Klatschsucht zu Staatsmännern machen.
Der Verleumdung zur Zielscheibe zu dienen ist das Los der in der Öffent¬
lichkeit Stehenden.
Es gehört nun einmal zum Wesen eines Mannes von öffentlicher Stellung,
daß Kritik und Satire und oft sogar Verleumdung ihn aufs Korn nehmen.
Wer nur je einen Staat geleitet hat, sei es ein Minister, ein General oder ein
König: Ohne Stiche ist er nicht davongekommen.
Ich liebe den Frieden und sehne ihn herbei. Aber ich will einen guten,
dauerhaften und ehrenvollen Frieden.
Ich verlange nichts weiter als Frieden, aber ich will keinen schimpflichen
Frieden. Nachdem ich mit Erfolg gegen ganz Europa gefochten habe, wäre es
allzu schmachvoll, wenn ich durch einen Federstrich das verlöre, was ich mit
dem Degen behauptet habe.
Wie werden uns solange herumschlagen, bis unsere verfluchten Feinde sich
zum Frieden bequemen.
Sie sprechen wieder von Frieden. Aber was für Bedingungen! Gewiß
haben die Leute, die sie vorschlagen, keine Lust dazu.
Wir müssen den englischen Ministern deutlich erklären, daß, wenn in den
Friedensverhandlungen davon die Rede sein sollte, Abtretungen von mir zu
fordern, ich mich mein Lebtag nicht dazu hergeben würde, auch nur ein Dorf
abzutreten.....Wir müssen ihnen erklären, daß nichts in der Welt imstande
sein würde, mich von diesem festen Entschlüsse abzubringen, daß ich den Krieg
mit Ehren geführt habe, und daß ich nicht gewillt bin, den Frieden mit
Schanden zu schließen, daß ich mich, Gott sei Dank, noch nicht so schwach und
erniedrigt fühle, daß ich meinen Feinden nicht mehr standhalten könnte.
Wenn Europa erst einmal von seinen wahnwitzigen Erregungen zu sich kommt,
wird es vielleicht selber staunen, wohin es in seiner Tollheit geraten ist.
136
Nun ist also, Gott sei dank, der Frieden in Europa wiederhergestellt.
Möchte er doch lange dauern, und möge die Nachwelt nie mehr gleiche Szenen
zu sehen bekommen, wie wir sie seit zwei Jahren erlebt haben.
Unser Feldzug ist zu Ende, und das beiderseitige Ergebnis ist der Verlust
vieler ehrlicher Leute, das Unglück so vieler zeitlebens verstümmelter Soldaten,
der Ruin mehrerer Provinzen, die Verwüstung, Plünderung und Ein¬
äscherung mancher blühender Stadt. Das sind Heldentaten, vor denen die
Menschlichkeit erschaudert, traurige Wirkungen der Bosheit und Ehrsucht einiger
Machthaber, die ihren zügellosen Leidenschaften alles zum Opfer bringen.
Ein großes Reich bringt die Kosten für einen Feldzug allemal auf.
egenüber den gewaltigen kriegerischen Geschehnissen in Ost und'
West, denen unser ganzes Sinnen und Trachten auch nach zwei¬
jähriger Dauer noch heute überwiegend gehört, spielen die inner-
politischen Fragen zur Zeit nicht die Rolle, die sie vor dem
Kriege hatten. Manchen, auch echten Menschen- und Vater¬
landsfreunden mag das als ein Vorteil des Krieges erscheinen; gab es doch
schon vor dem Kriege nicht wenige Stimmen, die auf dem Gebiete der inneren
Politik, namentlich auf demjenigen der staatlichen sozialen Fürsorge ein Ende,
eine Pause oder eine andere Richtung wünschten. Gerade aber dieser Krieg
und die von Deutschlands Söhnen vollbrachten Taten müßten auch thu
Trägern dieser Richtung die Augen darüber geöffnet haben, daß es ohne die
bisherige soziale Fürsorge nicht gelungen wäre, unser Volk trotz wachsender
Industrialisierung körperlich und geistig so zu erhalten und zu stärken, daß es
den unerhörten Anstrengungen des modernen Krieges und einer Welt von
Feinden erfolgreich widerstehen konnte. Die Persönlichkeit jedes einzelnen
deutschen Soldaten ist es, die den Sieg über die vielfache zahlenmäßige Über¬
legenheit von des deutschen Reiches Feinden erstritten hat und weiterhin er¬
streiten wirv.
Die Persönlichkeit kann sich aber nur dann entwickeln und durchsetzen,
wenn die materiellen Grundlagen zum Leben vorhanden sind. Elend, Hunger
und Not mögen für vereinzelte, besonders begabte, tatkräftige und zähe Menschen
der Ansporn zu Kraftentfaltung und Aufstieg sein, die größte Mehrzahl der
Menschen wird durch sie zermürbt und am Aufstieg verhindert -oder gar zu¬
grunde gerichtet. Die Durchsetzung der Persönlichkeit ist bei dem scharfen Wett¬
bewerbe im freien Spiel der Kräfte nur selten möglich. Wohl kann Selbsthilfe
und freie Liebestätigkeit auf manchen Gebieten nützliche und brauchbare Vor¬
arbeit leisten, aber ein durchschlagender Erfolg ist davon nicht zu erwarten.
Noch ist die soziale Gesetzgebung nicht ausreichend, um dem minder- und un¬
bemittelten Teile unseres Volkes, der weit mehr als die Hülste der gesamten
Volkszahl ausmacht, den Lebenskampf zur Durchsetzung ihrer Persönlichkeit aus
eigener Krafö übernehmen zu lqssen. Sollen die bisherigen Früchte der sozialen
Fürsorgemaßnahmen, durch welche der Staat bewiesen hat. daß er zur Lösung
des sozialen Programms berufen und befähigt ist, nicht in Frage gestellt werden,
dann muß der einmal begonnene Weg entschlossen weitergegangen werden.
Über welche Gebiete dieser Weg führen wird, ist bei der ungemein großen
Fülle der Reformvorschläge und der Verschiebung des Kräfteparallelogramms
innerhalb des politischen Lebens kaum abzusehen. Soviel ist aber gewiß, daß durch
den Krieg ein vollständiger Stillstund auf diesem Gebiete nicht eintreten darf
und nicht eintreten wird; denn je länger er dauert, desto größer und tiefer
werden die Wunden, die er schlägt, und zwar am schwersten denjenigen, die
schon vor dem Kriege der sozialen Fürsorge bedürftig waren. Andererseits
darf nicht vergessen werden, daß der gegenwärtige Krieg nicht nnr deswegen
mit solcher Hingebung, Ausdauer, Aufopferung und Zähigkeit von dem ge¬
samten deutschen Volke getragen wird, weil er uns von unseren Feinden auf-
gezwungen worden ist, sondern weil es für die Sicherung und Macht eines
Kulturstaates kämpft, in welchem es vor allem die Erfüllung seiner berechtigten
sozialen Wünsche und Forderungen erhofft. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß
durch die versprochene Neuorientierung diesen Wünschen in bestmöglicher Weise
Rechnung getragen werden wird, zumal sich durch den Krieg ein gegenseitiges
Sichverstehen der verschiedenen Volksschichten herausgebildet hat, dessen Mangel
früher so häufig beklagt wurde. Trotz alles guten Willens wird es aber in
Anbetracht der gewaltigen Mittel, die dieses Völkerringen schon jetzt ver¬
schlungen hat. kaum möglich sein, die soziale Fürsorge in dem Maße und in
der Frist durchzuführen, wie es von den Beteiligten erhofft wird und an sich
durchaus wünschenswert wäre. Soll daher Enttäuschungen vorgebeugt werden,
so ist es dringend erforderlich, daß der Staat bei seiner sozialen Fürsorge mehr
Wert legt auf Anleitung als auf direkte gelbliche Unterstützung.
Von diesem Standpunkte aus betrachtet, verdient die gesetzliche Einführung
des Sparzwanges besondere Beachtung innerhalb der sozialen Reformvorschläge.
Die Frage des Sparzwanges hat durch die bekannten Erlasse verschiedener
preußischer Generalkommandos, welche die Jugendlichen zum Sparen ver¬
pflichten, neue Anregung gefunden. Sie wurde allseits freudig begrüßt.*) Die
Bedenken, die von gewerkschaftlicher**) und sozialdemokratischer***) Seite an-
fänglich erhoben wurden, richteten sich, soweit sie sachlicher Natur waren, im
Grunde genommen auch wohl weniger gegen den Gedanken des Sparzwanges
als solchen, als gegen die vorgesehene Art der Durchführung. Im übrigen
beruhten sie auf parteipolitischer Voreingenommenheit. Die günstigen praktischen
Erfahrungen, die man schon jetzt trotz seiner Neuheit mit dem Sparzwange,
namentlich im Bezirke des Oberkommandos in den Marken, gemacht hat, und
von denen am Schluß noch kurz zu sprechen sein wird, müssen auch die
Skeptiker und Gegner zu Freunden des Sparzwanges bekehren. Die mit dem
Sparzwange erzielten Erfolge müssen um so höher angeschlagen werden, als
die Sparfrage in der Tat recht wenig vorbereitet und durchdacht war, und die
Sparerlasse nur eine Gelegenheitsregelung darstellen. Wohl finden sich hier
und da in Fachzeitschriften und sonstigen Druckschriften verstreut Hinweise auf die
Bedeutung und Nützlichkeit des Sparzwanges, und zwar gewöhnlich in Ver¬
bindung mit irgendwelchen anderen Reformvorschlägen. Von den wenigen
zünftigen Nationalökonomen, die die Sparfrage berührt haben, scheint ihr
günstig gegenüber zu stehen Professor Dr. Georg Schanz in Würzburg. Er
entwickelte in mehreren größeren Veröffentlichungen den Plan, alle nickt ander¬
weit gegen Arbeitslosigkeit versicherten Arbeiter jeglichen Alters gesetzlich zu
zwingen, 100 Mark durch Lohneinbehaltung nach und nach anzusparen, damit
sie für den Fall der Arbeitslosigkeit verwendet werden könnten. Der Alt'
meister der deutschen Nationalökonmie, Gustav Schmoller, steht dieser Art des
Sparzwanges sehr sympathisch gegenüber, ja er scheint nach einer Bemerkung
im zweiten Band seines „Grundrisses der allgemeinen Volkswirtschaftslehre"
(1904, Seite 251) in dem Sparzwang, speziell für Jugendliche, ein Produkt
der kommenden Entwicklung zu sehen. In dem Abschnitt über Sparkassen¬
wesen spricht er von dem Abholungsdienst, dessen erziehliche Wirkung er
rühmt, und von dem er dann weiterhin sagt: „der Abholungsdienst bereitet
den Sparzwang vor, den bis jetzt einzelne Fabriken für jugendliche Arbeiter
eingeführt haben". Nur Lassalle, der aus der Theorie des sogenannten
ehernen Lohngesetzes folgert, daß der Sparsinn dem wirtschaftlichen Aufstieg
des Proletariats nicht förderlich sei, steht der Sparfrage ablehnend gegenüber.
Seine Theorie ist indessen durch die praktischen Erfahrungen widerlegt. Ein
Knlturaufstieg unserer handarbeitenden Bevölkerung ist unstreitig.
Eingehende Untersuchungen über die Sparfrage als solche und nähere Vor¬
schläge über ihre praktische Durchführung waren jedoch vor dem Kriege kaum
gemacht. Der erste, der sich meines Wissens tiefergehend mit der Sparfrage
befaßte, war der inzwischen gefallene Landrat des Unter-Westerwald-Kreises.
Freiherr Marschall von Bieberstein. Er sucht in seiner Abhandlung: „Die Spar¬
pflicht für Minderjährige und die Wohnungsfrage" (Fischer-Jena, 1914) die
Wohnungsfrage mit Hilfe des Sparzwanges in der Weise zu lösen, daß der
Sparer Geschäftsanteile einer gemischt wirtschaftlichen Wohnungsnnternehmung
erwirbt. Die gleichen Ziele verfolgt der frühere Landesrat. jetzige Hochschul-
Professor Dr. Schmittmann in Köln*), nur mit dem Unterschied, daß er eine
Anlehnung an die soziale Versicherung wünscht. Ein Vorschlag, der auch meines
Erachtens aus verschiedenen Rücksichten den Vorzug verdient, ganz gleich, zu
welchem Zwecke die angesparten Gelder verwandt werden sollen, und ob sie von
vornherein für einen bestimmten Zweck angespart werden oder nicht**).
In der Tat wurzelt die Sparfrage ihrer ganzen Natur nach überwiegend
in praktischen Erwägungen und Bedürfnissen. Aus diesem Grunde kann es nicht
Wunder nehmen, daß die Literatur erst einsetzte, nachdem die Praxis bereits
vorgearbeitet hatte. Schon in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren
gab es Unternehmungen, die durch besondere Abmachungen oder durch Arbeits¬
ordnungen den Sparzwang in ihrem Betriebe eingeführt hatten. Freilich war
und ist ihre Zahl nur gering, denn es ist einleuchtend, daß nur solche Betriebe
derartige Maßnahmen wagen dürfen, die über ein zahlreiches Arbeiterangebot
verfügen und günstige Arbeitsbedingungen zu bieten vermögen. Nach von Bieder¬
stem***) sind es etwa neun Betriebe, die den Sparzwang für Jugendliche ein¬
geführt haben, und zwar in der Weise, daß den Sparpflichtigen ein Prozent
bis zehn Prozent des Lohnes in Abstufungen, je nach der Lohnhöhe steigend,
abgezogen werden. Die meisten Betriebe liegen im rheinischen Industriegebiet,
wo der frühere Regierungspräsident von Düsseldorf, der spätere Finanzminister
und jetzige Oberpräsident. Freiherr von Rheinbaben, sich lebhaft für die Ein¬
richtung interessierte und ihre Einführung durch zwei Rundschreiben von:
23. Oktober 1896 und 7. Juli 1898 empfahl. Bestimmt wurde er hierzu durch
die günstigen Erfahrungen, welche die „Bergische Stahlindustrie", G. in. b. H.
in Remscheid, mit ihrer seit dem 1. Oktober 1887 eingeführten Zwangssparkasse
für jugendliche Arbeiter gemacht hatte. Die Berichte anderer Industrieller lauten
viel ungünstiger; mehrere Fabriken haben ihre Zwangssparkassm wieder ein¬
gehen lassen müssen, weil die Arbeiter und Arbeiterinnen entschiedenen Wider¬
stand leisteten und in andere Betriebe am gleichen Orte abwanderten, wo sie
den vollen Lohn erhielten. Aus diesem Grunde ist die Neigung der Arbeitgeber
zur Einführung des Sparzwanges immer mehr geschwunden; das bestätigen auch
die Berichte der preußischen Regierungs- und Gewerberüte, denen das Thema
der Lohnzahlung an Jugendliche im Jahre 1911 amtlich zur Erörterung gestellt
war. Das Ergebnis ist also, daß die Industrie in ihrer überwältigenden
Mehrheit sich der Sparfrage gegenüber absolut passiv verhält und freiwillig aus
sich heraus nichts tut, um den Widerstand der Arbeiter zu brechen.
Erfahrene und einsichtsvolle Männer der verschiedensten Kreise betonen aber
immer wieder, daß die wirtschaftliche Hebung der handarbeitenden, minder¬
bemittelten Klassen nicht allein durch Erhöhung der Arbeitslöhne, sondern nur
in Verbindung mit einer zweckmäßigen Verteilung des verdienten Lohnes zu
erreichen sei. Immer lauter wurden die Klagen über die Lockerung des Familien¬
verhältnisses zwischen Eltern und Kindern, immer größer der Ruf nach Ein¬
schränkung der Vergnügungssucht, der Verschwendung und Trunksucht. Dem¬
gegenüber konnte sich auch die Negierung auf die Dauer nicht untätig verhalten.
In den verschiedenen Novellen der Gewerbeordnung finden sich vielfach Hinweise
auf die Notwendigkeit, hiergegen gesetzlich einzuschreiten. In der Regierungs¬
vorlage zur Novelle der Gewerbeordnung von 1891 heißt es: „In den letzten
Jahren haben sich die Klagen über die Lockerung der Zucht und Sitte und über
das Schwinden der elterlichen Autorität bei den jugendlichen Arbeitern gemehrt,
mangelnder Sparsinn, übermäßiger Besuch von Wirtshäusern und Tanzböden,
frühzeitige und leichtsinnige Heiraten ohne andere Mittel als der tägliche Ver¬
dienst sind gerade bei den jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen hervor¬
getreten, die früh das elterliche Haus verlassen oder die elterliche Zucht ab¬
geschüttelt und seit dem Verlassen der Volksschule nur die Zucht innerhalb der
Fabrik kennen gelernt haben". Die daraufhin durch Novelle zur Gewerbeordnung
vom Jahre 1891 eingeführten Maßnahmen haben jedoch irgendwelche praktische
Bedeutung nicht erlangt. Weder die neue Ordnung der Arbeitsbücher und
Arbeitszeugnisse (§Z 107 ff. R.G.O.), noch der Z 119a R.G.O.. der es ermöglicht,
durch Ortsstatut die Abführung des Arbeitslohnes Minderjähriger an deren
Eltern anzuordnen. Die § 107ff. R. G. O. können überhaupt als geeignetes
Mittel zur Festigung der Familienzucht nicht angesehen werden; und der Z 119a
R. G. O. könnte nur dann den beabsichtigten Erfolg haben, wenn sein Inhalt
obligatorisch gestaltet würde, mit der Maßgabe, daß die unmittelbare Auszahlung
des Lohnes an die Eltern oder sonstige gesetzliche Vertreter auf deren Antrag
ohne weiteres zu geschehen hätte. Es ist bezeichnend, daß nach den Jahres¬
berichten der preußischen Regierungs- und Gewerberäte in ganz Preußen nur
in zwei Jnspektionsbezirken, und auch dort nur in ganz vereinzelten Fällen, von
der Befugnis des § 119a R. G. O. Gebrauch gemacht worden ist*). Wegen
fehlenden Zwanges haben die Kommunen ein derartiges Statut nicht eingeführt,
offenbar, weil sie Unbequemlichkeiten und Nackenschläge befürchteten und auch wohl
nicht mit Unrecht voraushaben, daß eine Abwanderung der jugendlichen Arbeiter
in solche Betriebe stattfinden würde, wo ein solches Statut nicht eingeführt wäre.
Aus allem dürste sich ergeben, daß die staatliche Förderung des Sparens
unumgänglich ist. Aber, wird mancher fragen, ist denn ein Zwang zum Sparen
überhaupt notwendig? Sind nicht die achtzehn Milliarden Einlagen der gesamten
öffentlichen deutschen Sparkassen in Verbindung mit d?n zweiundzwanzig Millionen
ausgegebener Sparkassenbücher ein schlagender Beweis für den Sparsinn unserer
Bevölkerung? Diese Zahlen sind wohl geeignet, einen Beweis für die steigende
Wohlhabenheit des deutschen Volkes zu liefern, nicht aber dafür, daß nun gerade
auch die minderbemittelten, lohnarbeitenden Schichten an diesen Sparguthaben
wesentlich beteiligt sind. Irgendwelche Zahlen, die das letztere beweisen können,
sind in der Statistik nicht enthalten. Eine Vermehrung der Spargelegenheiten
und sonstige Verbesserungen im Sparkassenwesen, wie zum Beispiel Abholungs¬
system, Heimsparbüchsen, Schulsparkassen usw., würde daher auf das Sparen
der Minderbemittelten von keinem Einfluß sein. Solche Mittel und Mittelchen,
um den Spartrieb zu wecken und zu fördern, sind, so sagt von Biederstem
a. a. O. S. 19 zutreffend, für gewisse Kreise und im kleinen gewiß gut und
nützlich, aber große, bleibende Erfolge sind durch sie nicht zu erreichen. Die große
Masse der lohnarbeitenden Bevölkerung ist nur verhältnismäßig gering an den
achtzehn Milliarden Sparkasseneinlagen beteiligt. Zum Beweise dafür verweist er
auf einen interessanten Artikel des bekannten Sparkassenstatiftikers, Landesbankrat
Reusch-Wiesbaden, im Jahrgang 1910 der Zeitschrift „Die Sparkasse". S. 355.
Dieser Aufsatz macht es in hohem Grade wahrscheinlich, daß die Zahl der
systematischen Sparer, das heißt solcher, welche allmählich aus kleinen Beiträgen
eine größere Summe zusammensparen, sehr viel geringer ist, als man im Hinblick
auf die zirka zweiundzwanzig Millionen ausgegebener Sparkassenbücher annimmt.
Aber ließe sich denn nicht durch ein Prämiensystem die Vergnügungssucht
und Verschwendung beseitigen und an seiner Stelle der Spartrieb großziehen?
Ich möchte diese Frage schon mit Rücksicht auf die bisher mit Fabriksparkafsen
gemachten Erfahrungen verneinen. Das einzige, was für das Sparprämien¬
system spricht, ist, wie auch von Biederstem a. a. O. S. 12 mit Recht hervor¬
hebt, daß mit allen Zwangsmaßnahmen lange nicht das erreicht werden kann,
was die freiwillige Mitarbeit leistet. „Wie die freien Innungen den Zwangs¬
innungen, das freie Genossenschaftswesen den staatlich gebildeten Berufsver¬
tretungen der Handwerks-, Handels- und Landwirtschaftskammern mit gesetz¬
lichem Beitrittszwang überlegen sind, so würde es auch hier das Ideal bedeuten,
dem wir allerdings zustreben müssen, daß freiwillig die Summen erspart werden,
die den Minderbemittelten ein gesichertes Dasein ermöglichen. Da wir indessen
von diesem Ideal weit, sehr weit entfernt sind, so bleibt nur der Zwang."*)
Alles aber ist im Fluß, alles Gewohnheit. Mit der fortschreitenden Gesittung,
der wachsenden Einsicht, der Durchbildung sozialen Fühlens und Denkens, wird
der gesetzliche Zwang allmählich nicht mehr als solcher, sondern als das, was
er tatsächlich ist, nämlich als heilsame Wohltat empfunden werden. Die Grund¬
lage unserer heutigen Volkserziehung, nämlich allgemeine Schul-, Fortbildungs-
sehnt- und Wehrpflicht einschließlich der neueren privaten Bestrebungen zur
soldatischen Vorbereitung unserer Jugend (Jugendwehr usw.) vermitteln wohl
Wissen, Kenntnisse. Ordnung, Disziplin und soziale Einordnung; zur Ver¬
mittlung wirtschaftlicher Tugenden sind sie aber weder bestimmt noch geeignet.
Die Erziehung zur Wirtschaftlichkeit ist an sich Sache der Familie. Je mehr sich
aber die Familienbande lockern — in der Jndustriebevölkerung mehr als in der
bäuerlichen Bevölkerung —, desto mehr ist es die Pflicht des Staates, ergänzend
einzugreifen. „Man mag," so sagt von Biederstem a. a. O. S. 14 mit Recht,
„die wirtschaftliche Entwicklung, die zu solchen Ergebnissen führt, beklagen, so¬
lange man sie nicht zu ändern vermag, wird man ihr ins Auge sehen und
Mittel suchen müssen, um ihre schädlichen Folgen nach Möglichkeit zu beseitigen.
Als eine solche Maßnahme möge auch die Sparpflicht gelten. Sie soll die
Unwirtschaftlichen zur Wirtschaftlichkeit, zu vernünftigem Maßhalten anleiten und
so als Faktor der allgemeinen Volkserziehung neben Schul- und Wehrpflicht
einen neuen wichtigen Platz in der Reihe der staatlichen Erziehungsmaßnahmen
einnehmen."
So wichtig der Sparzwang als Erziehungsmittel aber auch sein mag,
mindestens ebenso wichtig erscheint er als Mittel zur Befriedigung der dringenden
Bedürfnisse der minder- und unbemittelten Volksteile. Ick erinnere nur an die
Wohnungsnot, an die Bekämpfung des Darlehenswuchers und Darlehens¬
schwindels, an die Bekämpfung der Schundliteratur, an die nötigsten Volks¬
und Erziehungseinrichtungen, wie z. B. Spiel- und Sportplätze, Versammlungs¬
räume ohne gewerblichen Wirtschafts- und Animierbetrieb, Volksbüchereien, Ver¬
anstaltung von Vorträgen, Ausflügen u. tgi. in. Niemand wird bestreiten, daß
die Bedürfnisse groß find und ihre Befriedigung von größtem Segen sein würde.
Doch scheiterte die Verwirklichung dahingehender Pläne leider gewöhnlich an
den nötigen Mitteln. Das wird nach dem Kriege gewiß in erhöhtem Maße der
Fall sein. Die Steuerschraube, so scharf und häufig sie auch immer angelegt
werden mag, wird für absehbare Zeit ihr ganzes Ergebnis zur Hebung der
unmittelbarsten Kriegsschäden hingeben müssen. Darum ist es am erfolgver¬
sprechendsten, wenn die irgendwie zu erübrigenden Mittel der Minderbemittelten
ihren eigenen, dringenden Bedürfnissen unmittelbar zugeführt werden, ohne erst
den langen, zeit- und kostenraubenden Steuerweg zu gehen. Ein Sparzwang,
der auch nur eines der dringendsten Bedürfnisse der weniger bemittelten Kreise,
z. B. die Wohnungsnot, beseitigen oder schwächen könnte, würde genügen, um
den Sparzwang zu rechtfertigen. Die geldlichen Ergebnisse des Sparzwanges
werden jedoch, wie unten noch kurz zu zeigen sein wird, so groß sein, daß man
mit Bestimmtheit auf erfreuliche Erfolge rechnen darf.
Aber wie soll die Sparpflicht durchgeführt werden? Zunächst, auf wen
soll sie sich erstrecken? Sämtliche gegen Lohn oder Gehalt angestellten Personen
ohne Ausnahme müssen dem Sparzwange unterworfen werden. Dies ist ein
Gebot ausgleichender Gerechtigkeit gegenüber den einzelnen Berufsständen, er-
scheint aber auch notwendig, um Mißstimmung unter den verschiedenen Klassen
und Abwanderungen in sparzwangfreie Berufe vorzubeugen. Andererseits ist
dies erforderlich, um die Quellen möglichst ergiebig zu machen. Aus dem
gleichen Grunde soll man den Kreis der Sparpflichtigen möglichst weit fassen,
d. h.. zwar beschränken auf den Kreis der Jnvalidenversicherungspflichtigen,
entsprechend dem H 1226 R. V. O. und Z 1 des Angestelltenverstcherungsgesetzes,
dabei aber die Lohngrenze von 2000 Mark bis zur Grenze der Angestellten¬
versicherung von 5000 Mark erhöhen. Endlich müßte freiwilliges Weitersparen
entsprechend der Reichsversicherungsordnung und dem Angestelltenversicherungs-
gesetz gestattet werden.
Schließlich müßte der Sparzwang beginnen mit dem Zeitpunkte, wo der
Betreffende gegen Entgeld beschäftigt wird. Er würde also bei ungelernten
Arbeitern schon mit dem vierzehnten Lebensjahre anfangen.
Wann soll er enden? Die bekannte Verfügung des Oberkommandos in
den Marken vom 1916 verpflichtet nur die Jugendlichen bis zum
achtzehnten Lebensjahre zum Sparen, während der Erlaß des stellvertretenden
Generalkommandos des XI. Armeekorps in Kassel vom 7. Februar 1916 den
Sparzwang bis zur Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres ausdehnt.
Beide Anordnungen folgen damit der in der Literatur herrschenden Ansicht, daß
der Sparzwang nur auf Jugendliche auszudehnen sei.*) Eine zeitliche Ab¬
grenzung nach dem Lebensalter des Sparpflichtigen erscheint mir jedoch
unbegründet. Eher könnte man abgrenzen nach Verheirateten und Unver-
heiraten, indem man nur die letzteren dem Sparzwange unterwirft, wie es
Schmittmann a. a. O. vorschlägt. Allein, das würde leicht zu verfrühten,
unerwünschten Heiraten führen. Richtiger erscheint es, sowohl im Interesse der
Erziehung als auch der Ergiebigkeit der Sparquellen, daß die Sparpflicht all¬
gemein ohne Rücksicht auf Altersgrenzen eingeführt wird. Da unbestreitbar
Verschwendung, Trunksucht und andere unwirtschaftliche, gemeinschädliche Ver¬
geudungen nicht selten auch bei Volljährigen und Verheirateten, wenn vielleicht
auch weniger häufig als bei den jugendlichen Personen, vorkommen, so ist nicht
einzusehen, warum das Sparen bei einer gewissen Altersgrenze, die keinerlei
Gewähr für wahre Wirtschaftlichkeit bietet. Halt machen soll. Auch die bis¬
herige, soziale Gesetzgebung macht in dieser Richtung keinerlei Unterschied.
Die große Mehrzahl unseres Volkes ist durch die fortwährend sich mehrenden
sozialen Gesetze und Anordnungen schon derart sozial erzogen, in solchem
Maße erfahren und einsichtig, daß sie die allgemeine Einführung des Sparens,
wenn sie zweckentsprechend eingerichtet wird, nicht als unangebrachter Zwang
empfinden wird. Unter Jugendlichen wie auch unter Erwachsenen, Ver¬
heirateten und Ledigen gibt es schöne Beispiele peinlichster Sparsamkeit und
aufopfernder Familienliebe. Sie trifft der Sparzwang in keiner Weife, dafür
haben sie aber alle Gewißheit, ihre erübrigten Barmittel nutzbringend und
sicher untergebracht zu haben. So wird also im öffentlichen und eigenen,
wohlverstandenen Interesse jedes einzelnen ein Spargesetz geradezu herbei¬
gewünscht werden. Der kleine, weniger einsichtsvolle und unzureichend sozial
erzogene Teil der Beteiligten mag den durchgesetzten Willen der größeren
Allgemeinheit ruhig solange für Zwang halten, bis er durch die Wohltat
der Maßnahmen eines besseren belehrt ist. Personen, die nicht imstande
sind, von ihrer wirtschaftlichen Freiheit einen richtigen, für sich und die
Allgemeinheit ersprießlichen Gebrauch zu machen, müssen sich gefallen lassen,
daß die Allgemeinheit für sie sorgt, und ihnen vor allem die freie Verfügung
über ihren Arbeitsverdienst ganz oder zum Teil beschränkt. Wie überall im
modernen deutschen Staate, so muß sich auch hier der egoistische, ungereiste
Emzelwille dem höher gearteten, sozialen Gesamtwillen fügen, wenn es gilt,
anerkannte, die Privat- und Volkswirtschaft gleichmäßig schädigende Mängel zu
beheben.
Diese beiden militärischen Erlasse machen ferner keinen Unterschied zwischen
männlichen und weiblichen Personen; beide sind nach ihnen sparpflichtig. An
diesem Grundsatze wird festzuhalten sein. Freilich ergeben sich hier Schwierig¬
keiten, einmal mit Rücksicht darauf, daß die jugendlichen weiblichen Angestellten
und Arbeiterinnen, z. B. gewerbliche Arbeiterinnen, Verkäuferinnen, Buchhalterinnen,
Telefonistinnen, Maschinenschreiberinnen usw. gewöhnlich nur niedrig entlohnt
werden und ihr Arbeitseinkommen nicht selten zur Beschaffung einer Aussteuer
verbrauchen. Diese gute Sitte darf nicht beeinträchtigt werden. Am besten
wäre es, für sie neben dem Sparzwang das Sparprämiensystem einzuführen;
das wird aber wohl an dem Mangel von Mitteln scheitern. Um die Einheitlichkeit
des Sparsystems aufrecht zu erhalten, werden auch die weiblichen Personen für
sparpflichtig erklärt werden müssen. Unter Umständen wird Spardispens zu
erteilen oder das Sparkassenguthaben ganz bezw. zum Teil auszuzahlen sein.
Aus Zweckmäßigkeitsrücksichten wird aber auch solchen Falles vorgeschrieben
werden müssen, daß die ganze Abhebung erst gestattet ist, wenn die Mindest¬
summe von 100 Mark erreicht ist.
Sodann fragt es sich, ob nicht auch die Allgemeinheit ihr Schärflein analog
der bisherigen sozialen Gesetzgebung zu dieser Sparordnung beitragen soll.
Dafür spricht die Hebung des finanziellen Erfolges. Indessen ließe sich ein
staatlicher, kommunaler oder Arbeitgeberbeitrag kaum rechtfertigen. Der Spar¬
zwang soll in erster Linie erzieherisch auf die unwirtschaftlichen Minderbemittelten
wirken und gleichzeitig Mittel zu ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Hebung
beschaffen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß der Staat seine Angehörigen,
die Allgemeinheit ihre Mitmenschen nur insoweit zu unterstützen Hut, als
Abwendung der äußersten Not in Frage kommt. Ein Mehr, daß der wirt¬
schaftlichen Hebung des einzelnen dienen soll, kann höchstens als freie Liebesgabe
erwartet werden. Wollte man aber auch von diesem Grundsatze wegen der
Wichtigkeit dieser Angelegenheit absehen, so würde es sich doch nicht empfehlen,
weil der zu erwartende Widerstand die ganze Sache zunichte machen könnte.
Jedenfalls erscheint es mir unbillig und unpraktisch, alle Arbeitgeber gleichmäßig
zur Beitragsleistung heranzuziehen; ein Zustand, der auch bei der bis jetzt
bestehenden sozialen Versicherung zu beanstanden ist. Unzweifelhaft wird manchem
kleinen Arbeitgeber das Aufbringen der von ihm zu leistenden Beiträge sehr
viel schwerer als manchem Arbeiter. Mehr als ein tüchtiger kleiner Arbeitgeber
wird durch die sozialen Arbeitgeberbeiträge in seinem Fortkommen recht schwer
beeinträchtigt. Ferner ist es für das Selbstbewußtsein der Minderbemittelten
wichtig, daß sie keine Geschenke empfangen. Ein Erwerb aus eigener Kraft
hat ungleich höheren und bleibenderen Wert als geschenktes Gut. Der Erfolg
und Besitz aus eigener Kraft stärkt den Stolz und den Willen zu weiterem
Erwerbe und Wohlstande. Endlich möchte ich gerade für dieses Sparsystem
eine möglichst weitgehende Selbstverwaltung empfehlen. Diese wäre jedoch nicht
durchzuführen, wenn Beiträge von dritter Seite gefordert würden. Denn wer
beisteuert, will naturgemäß über die Verwendung mitbestimmen. Die ange¬
sammelten Sparbeiträge müssen aber ausschließlich für die vornehmsten unmittel¬
barsten Bedürfnisse der Minderbemittelten verwendet werden, z. B. zur Unter¬
stützung bedürftiger Angehöriger, Erziehung der Kinder, Bau von Kleinwohnungen,
Gewährung von Darlehen usw.
Die weitere Frage ist die, wer Träger dieser Arbeiter-Spareinrichtung
werden soll. Die von Bieberstein a. a. O. S. 51 angeregte Gründung von
Garantieverbänden in Verbindung mit gemischt wirtschaftlichen Unternehmungen
empfiehlt sich vielleicht, wenn die Sparbeiträge von vornherein nur für den
Bau von Kleinwohnungen bestimmt sein sollen. Indessen ist eine Festlegung
des Sparkapitals für einen von vornherein bestimmten, einzigen Zweck nicht
wünschenswert. Der ganze Plan ist außerdem nicht einfach genug und würde
endlich die oben dargelegte Selbstverwaltung, die nicht außer Acht gelassen
werden darf, erheblich beeinträchtigen. Empfehlenswerter wäre schon die Bildung
einer Arbeiter-Spar-Genossenschaft. Am praktischsten würde meines Erachtens noch
der Anschluß an die Invalidenversicherung sein, indem die Landesversicherungs¬
anstalten Träger des Sparsustems würden/) Es bedürfte dann lediglich einer
besonderen Kasseneinrichtung, die den bisherigen Versicherungseinrichtungen anzu¬
gliedern wäre. Dadurch würde die Überführung dieser neuen Spareinrichtung
sehr erleichtert und es könnten kaum nennenswerte Mehrverwaltungskosten ent¬
stehen. Die Beiträge müßten die Arbeitgeber vom Lohn abbehalten und durch
Markenkleben auf besonderen Sparkarten entrichten. Die durch Sparkarten
beurkundeten Forderungen dürften allerdings weder pfändbar noch verpfändbar
noch abtretbar sein, da andernfalls der ganze Erfolg des Sparens leicht vereitelt
werden könnte.
Am' schwierigsten ist die Frage, welcher Betrag als Sparbeitrag vom Lohn
zurückbehalten werden soll. Der Sparerlaß des Oberkommandos in den Marken
beläßt den jugendlichen Arbeitern 18 Mark wöchentlich und ein Drittel des
18 Mark übersteigenden Wochenlohnes. Alles andere muß — abgesehen von
besonderen Verhältnissen, z. B. Erfüllung von Unterhaltungspflichten — zur
Sparkasse abgeführt werden. Andere empfehlen einen Abzug von mindestens
zehn Prozent des verdienten Lohnest) Derartige Verfahren sind ziemlich will¬
kürlich und roh. Im Gesetz selbst einen Tarif für die Höhe der zwangsweise
abzuführenden Sparbeiträge festzusetzen, erscheint mir unangebracht. Der Kaufwert
des Geldes ist verschieden nach Zeit und Ort und kaufmännischer Begabung
seines Besitzers. Durchaus verschieden sind auch Lohnhöhe und Unterhalts¬
maßstäbe in den einzelnen Gegenden. Unterschiede bestehen ferner für allein¬
stehende, auf sich selbst angewiesene Personen und solche, die mit ihrer Familie
zusammenleben; für Verheiratete und Unverheiratete; für Personen, die teils
Barlohn, teils Naturallohn beziehen; schließlich für männliche und weibliche
Personen. Alle diese Verhältnisse können nur durch Errichtung besonderer, im
Reichsgesetz vorzusehender Arbeiter-Sparausschüsse genau und billig berücksichtigt
werden. Diese Ausschüsse, die als Orts', Bezirks-, Landes- und Reichsausschüsse
zu bilden wären, hätten in erster Linie periodisch die Höhe des Spartarifs für
einen bestimmten Bezirk zu bestimmen und öffentlich bekannt zu geben. Auf
Grund dessen wären alle Sparbeiträge ohne Berücksichtigung irgendwelcher
besonderer Verhältnisse erstmal zu entrichten, abgesehen von weiblichen Sparern,
denen, wie oben erwähnt, unter Umständen Spardispens zu erteilen wäre.
Ferner hätten diese Ausschüsse dann alle Anträge von den Sparern und deren
Eltern zu prüfen. Beispielsweise solche auf Unterstützung der Eltern. Ist zu
befürchten, daß die Eltern das Spargeld vergeuden, so ist der Antrag auf
Auszahlung abzulehnen; in geeigneten Fällen wären etwaige Schulden des
versorgungsberechtigten Antragstellers vermittels Zahlungsanweisung durch den
Ausschuß unmittelbar zu tilgen. In gleicher Weise wären andere Anträge zu
behandeln. Eine weibliche Spargutinhaberin wünscht Geld zur Ausstattung
wegen Verheiratung; ein anderer Spargutinhaber will sich selbständig machen
oder ein Haus bauen. Der Ausschuß prüft, ob die Verwendung des Geldes
zweckmäßig ist. Kurzum, dieser Ausschuß hat nebenher auch die Stellung eines
wirtschaftlichen Beraters der Sparpflichtigen bei Verwendung des Sparguthabens.
Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich, eine allgemeine Klausel in das Gesetz
aufzunehmen, die dem schlichtenden und richtenden Ermessen des Ausschusses
genügenden Spielraum läßt. Auf diesen: Wege können Unzuträglichkeiten,
Härten und Schwierigkeiten leicht vermieden werden. Werden die Ausschüsse,
namentlich die Ortsausschüsse auf einen möglichst kleinen Bezirk beschränkt, so
werden sie die örtlichen und persönlichen Verhältnisse der Sparer meist aus
eigener Erfahrung beurteilen können. nötigenfalls muß allgemeine Auskunfs--
pfundt der Behörden, Arbeitgeber und sonstigen geeigneten Personen statuiert
werden. Wirklich segensreich kann ein solcher Ausschuß aber nur wirken, wenn
er mit Leuten besetzt wird, die das Vertrauen der Sparer besitzen. Männer
und Frauen aus dem Volke, welche in engster Fühlung mit den in Betracht
kommenden Bevölkerungskreisen stehen, und die zu ihrer Beurteilung gelangenden
Fragen aus eigener praktischer Erfahrung zu entscheiden vermögen. Notwendig
ist ferner, daß für genügende Vertretung der Sparer innerhalb des Ausschusses
gesorgt wird, sei es, daß sie selbst Sitz und Stimme darin erhalten, sei es,
daß sie die Mitglieder oder einen Teil derselben wählen. Der Grad des
Erfolges des Volkssparzwanges liegt in der Art, wie der Ausschuß das Programm
durchführt. Die Schwierigkeit seiner Aufgabe besteht in der Umschiffung zweier
Klippen. Einerseits muß jeder angehalten werden, soviel wie irgend möglich
zu sparen; andererseits muß aber jedermann soviel belassen werden, als zum
geordneten Lebensunterhalt notwendig ist. Der Schwerpunkt der ganzen Ein¬
richtung liegt also in der richtigen Einteilung der Bezirke, peinlichster Auswahl
der Ausschußmitglieder, und Aufstellung einer zweckmäßigen Geschäftsordnung
des Ausschusses. Als ein praktisches Beispiel für die Zusammensetzung derartiger
Ausschüsse erwähnt von Biederstem a. a. O. S. 28. das Verfahren der Wehr¬
ordnung über die Befreiung von Militärpflichtiger wegen notwendiger Unter¬
haltspflichten (Z 32 der W.-O.), gegen deren Entscheidungen zufolge einer
einfachen, unbürokratischen und selbstverständlichen Art Berufungen ungemein
felten eingelegt werden.
Die letzte, aber nicht unwichtigste Frage ist die, ob die Arbeiter denn
überhaupt sparen können. Ohne auf die Einzelheiten hier näher einzugehen,
möchte ich diese Frage ohne weiteres bejahen. Es läßt sich diese Behauptung
durch einen Vergleich zwischen der Steigerung der Arbeitslöhne und der Gegen¬
stände des täglichen Bedarfs während der letzten vier Jahrzehnte statistisch
beweisen. Ein solcher Vergleich ergibt namentlich, daß die Löhne entschieden
stärker angezogen haben als die Preise der Lebensunterhaltsgegenstände.
Damit steht im Einklang die Erscheinung zunehmender Verschwendung und
Vergnügungssucht. Große und kleine Unternehmungen der verschiedensten Art
machen glänzende Geschäfte auf Kosten der Unerfahrenheit ihrer Kunden.
Mancherlei Tingeltangel, Kinotheater, wüste Kneipen, Tanzetablisscments bieten
Vergnügungen, bei denen die Ausgaben der Besucher im umgekehrten Verhältnis
zum Genuß stehen, und trotz allem vermögen die Arbeiter und Angestellten
nicht unerhebliche Beiträge zu ihren Berufsorganisationen zu leisten. Durch
den Sparzwang brauchen keine wirklichen Lebensfreuden, keine berechtigten Be¬
rufsbestrebungen verkümmert zu werden; es kommt nur darauf an, sie in ver¬
nünftige Bahnen zu leiten.
Das Ergebnis der bisherigen Betrachtung ist also kurz zusammengefaßt
folgendes: „Es wird nicht gespart, es kann gespart werden, es muß gespart
werden." Letzteres aus erziehlichen und geldlichen Rücksichten. Zur Erreichung
dieser Zwecke ist ein gewisser Zwang, wenn er bei einzelnen Sparpflichtigen als
solcher empfunden werden sollte, ebenso unentbehrlich wie gerechtfertigt. Die
vorhandenen Schwierigkeiten sind nicht unüberwindbur, die weittragenden, grund¬
legenden Erfolge aber unleugbar. Es gilt zunächst, die Sparpflicht durch Wort,
Tat und Schrift populär zu machen. Wie ungleich günstiger für den Arbeiter
ist das Ergebnis des Sparens gegen die bisherige soziale Versicherung. Zur
Kranken- und Invalidenversicherung hat der Arbeiter seinerseits durchschnittlich
insgesamt 3 Prozent seines Lohnes zu entrichten, etwa 1 Prozent zur Invaliden¬
versicherung, etwa 2 Prozent zur Krankenversicherung. Wie oft bekommt er
nichts, weil er die Wartezeit nicht erfüllt hat! Wie oft geht die Anwartschaft
auf Leistungen verloren, weil Beiträge aus verschuldeten oder überschütteten
Gründen nicht geleistet sind. Sprechend ist das von Marschall von Biederstem
a. a. O. S. 35 gewählte Beispiel zur .Veranschaulichung der Vorteile des Spar¬
zwanges gegenüber der Invalidenversicherung. „Ein Arbeiter, der sein Lebelang
nicht krank war und neunundsechzig Jahre alt, plötzlich am Schlaganfalle stirbt,
hat von seinem sechzehnten Lebensjahre an, also mehr als ein halbes Jahr¬
hundert hindurch 3 Prozent als Beitrag zur Versicherung geleistet und bekommt,
solange er lebt, nicht einen Pfennig als Gegenleistung." Zwar ist dieses in
der Natur eines jeden Versicherungsverhältnisses begründet. Trotzdem, welch
ungeheures Eingreifen in die wirtschaftliche Selbstbestimmung liegt darin, und
doch hat sich die Bevölkerung durchaus daran gewöhnt. Das Verständnis für
den Wert der Versicherung ist überall vorherrschend geworden. Aber nicht
allein die Gewöhnung hat diese Wandlung der Anschauungen bewirkt, sondern
vor allen Dingen die fortschreitende staatsbürgerliche Reife und Einsicht unseres
Volkes, von der die gegenwärtige Zeit so glänzende Proben aufweist. Ein
Volk, das in seiner Gesamtheit mit solcher Hingebung, Ausdauer, Beharrlichkeit
und Liebe sein letztes für die Allgemeinheit hingibt, ohne dabei zu fragen:
„Was für ein Vorteil springt dabei für mein eigenes Ich heraus", wird sich
in seiner großen Mehrheit sicherlich nicht dagegen sträuben, wenn es sich darum
handelt, nach Kräften zur Durchführung einer sozialen Maßnahme beizusteuern,
die neben der Allgemeinheit in erster Linie jedem einzelnen sichtbar unmittelbar
zugute kommt. Das, was er erspart, gehört ihm, ohne jeden Abzug; er kann
davon jederzeit Gebrauch machen, wenn es zu einem wahrhaft vernünftigen
Zweck verwendet werden soll. Überaus günstig sind die zu erwartenden geld¬
lichen Sparergebnifse. Leider fehlt es an statistischen Material, das ein genaues,
zuverlässiges Zahlenbild ermöglicht. Landrat Marschall von Bieberstein berechnet
Y. a. O. S. 45 allein für die männlichen jugendlichen Sparer unter Zugrunde¬
legung eines Lohnabzuges von 10 Prozent und unter Berücksichtigung aller zu
erwartenden Spardispense ein jährliches Gesamtsparergebnis von 65 bis
90 Millionen Mark. Der mehrfach genannte Hochschulprofessor Dr. Schmitt-
mann, der nur die Ledigen zum Sparen zwingen will, indem er von ihnen
einen Beitrag verlangt, der denjenigen der Invaliden- oder Angestellten»
Versicherung entspricht, berechnet a. a. O. ein Gesamtergebnis von 131 Millionen
Mark jährlich. Diese Zahlen sind zwar nur annähernd, aber recht vorsichtig
berechnet. Bei Einführung eines allgemeinen Sparzwanges würde also auf
mehrere hundert Millionen Mark jährlich zu rechnen sein. Was das bedeutet, sieht
man, wenn man daran denkt, daß der Jahreskapitalbedarf für den Bau aller
notwendigen Kleinwohnungen auf 800 Millionen Mark geschützt wird.*) Dem¬
nach wäre die leidige, aber hochbedeutsame Frage der zweiten Hypothek durch
die Einführung des Sparzwanges mit großer Wahrscheinlichkeit zu lösen.
Während des Krieges kommt es nun zunächst darauf an, die General¬
kommandos für den Erlaß von Sparanweisungen zu gewinnen. Und zwar ist
es dringend wünschenswert, daß die Erlasse möglichst in allen Korpsbezirken
nach einheitlichen Gesichtspunkten eingeführt werden. Andernfalls ist ein Abfluten
von Arbeitern in solche Bezirke zu befürchten, in denen keine oder eine weniger
lästig empfundene Sparpflicht besteht. Das gilt namentlich für diejenigen Korps¬
bezirke, wo noch kein festgewurzelter, alter Arbeiterstamm zu finden ist. Eine
einheitliche Einführung des Sparzwanges vorerst durch die Generalkommandos,
ist umsomehr zu begrüßen, als sie es ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln und
überzuleiten zu dem dringend erstrebenswerten Ziel des allgemeinen Sparzwnnges.
Erfreulicherweise ermutigen die bisherigen, überaus günstigen Erfolge des
Sparzwanges zu der zuversichtlichen Hoffnung, daß nicht nur alle Korpsbezirke
mit gleichen Sparerlassen baldigst gesegnet werden, sondern daß der Gedanke
des Sparzwanges in geläuterter Art als bleibender Wert mit in die Friedens¬
zeit hinübergenommen wird.
Naturgemäß waren die anfänglich bei der praktischen Durchführung des
Sparzwanges sich einstellenden Schwierigkeiten nicht gerade geeignet, diese neue,
nicht besonders eingehend geregelte Maßnahme im günstigsten Lichte erscheinen
zu lassen. Zählten doch die Stellen, die vom Magistrat Berlin mit der Durch¬
führung des Sparerlasses des Oberkommandos in den Marken innerhalb Groß-
Berlins betraut wurden, in ihren Bezirken nicht weniger als 90000 spar-
pflichüge jugendliche Arbeiter. In den ersten Wochen wurden zahlreiche Anträge
auf Auszahlung aus den verschiedenen Sparguthaben gestellt, namentlich von
der Zeit an, wo der Sparzwang im Reichstage und in sonstigen öffentlichen
Versammlungen, in Zeit- und Tagesschriften von einigen Seiten ungünstig
kritisiert wurde. Trotzdem waren Anfang Juni 1916 nur etwa 11 Prozent
der insgesamt eingezahlten Sparguthaben zurückgezahlt. Zur Vereinfachung des
Geschäftsganges wurde von den beteiligten ausführenden Stellen angeregt, die
Einzahlung der Sparbeträge durch die Arbeitgeber nicht wöchentlich, sondern erst noch
einem längeren Zeitraum? vorzuschreiben; ferner die Anträge auf Auszahlung aus
den Sparguthaben bei gleichbleibenden Verhältnissen des fparpflichtigen Arbeiters
nicht bei jeder Lohnzahlung wiederholen zu lassen, vielmehr gleich für eine geraume
Zeit im voraus gelten zu lassen*). Endlich hielt man es für wünschenswert,
in Anbetracht der teueren Lebensverhältnisse in Groß-Berlin die sparfreie Lohn¬
grenze von 18 Mark auf 25 Mark heraufzusetzen. Trotz dieser Mängel hat sich
die Einführung des Sparzwanges nach der übereinstimmenden Ansicht der
maßgebenden Stellen im Ganzen als durchaus segensreiche Einrichtung erwiesen.
Sie hat vollen Erfolg gebracht. Die Praxis erlebte ganz überraschende Fälle.
Es ergab sich, daß ein siebzehnjähriger Junge wöchentlich 135 Mark verdiente
und wenn dies auch eine Ausnahme war, so waren doch Wochenlöhne von
40 Mark bis 45 Mark durchaus keine Seltenheit. Anfang Juni, also schon
nach zweimonatiger Geltung des Sparzwanges hatten 22288 jugendliche Arbeiter
ein Zwangssparguthaben bei den Berliner Sparkassen, von denen bereits viele
die stattliche Summe von 100 Mark bis 250 Mark erreicht hatten**).
as politische Verbrechen eines Neurasthemkers hat die sehr kenn¬
zeichnende jüngste Entwicklung der inneren Zustände in Osterreich,
die auf eine Kraftprobe der verschiedenen Parteien und Natio¬
nalitäten, der verfassungsmäßigen Triebkräfte im Staate gegen¬
über dem Grafen Stürgkh hinauslief, vorzeitig und ohne Ent¬
scheidung abgebrochen. Die Ermordung dieses die politischen Leidenschaften so
wenig erregenden Staatsmannes ist höchstens als Ausdruck der allgemeinen
Ungeduld, die einen kranken Menschen bis zum Herostmtenwahnsinn reizte, von
tieferer Bedeutung: im übrigen ist sie zufällig und über die reinmenschliche
Teilnahme hinaus, die sie erregt, bedeutungslos. Dieser Abschluß paßte so
gar nicht zu der zögernden und trägen Entwicklung, die ihn unmittelbar ver¬
anlaßt hat. Der bis zur Tat erfolgreiche Widerstand Stürgkhs gegen die
Einberufung des Reichsrates war weniger seiner persönlichen Kraft zum»
schreiben, als der Schwäche, Zersplitterung, Halbheit aller gegen ihn und gegen
den bestehenden Zustand gerichteten Bestrebungen. Gerade darum aber, wegen
des widerspruchsvollen Verhaltens der Parteien, der Nationalitäten, der Re¬
gierungen in den beiden Reichshälften ist diese ganze Bewegung für die Ein¬
berufung des Reichsrates so kennzeichnend und näherer Beobachtung wert.
Der Reichsrat ist im Frühjahr 1914 infolge der Obstruktion der Tschechen,
die sich ihrerseits auf die Arbeitsunfähigkeit des böhmischen Landtages beriefen,
nach Hause geschickt worden und hat seitdem als einziges Parlament aller Krieg
führenden Staaten nicht mehr getagt. Im Sommer dieses Jahres haben sich
einige Mitglieder der Hocharistokratis uuter Führung des Grafen Sylva Tarouca
und der Wiederaufrichtung des Verfaffnngslebens beschäftigt, aber ohne ge¬
nügenden Nachdruck. Durch die Debatten des ungarischen Abgeordnetenhauses
war die Frage neu in Fluß gekommen. Die Opposition hatte bekanntlich
parlamentarische Überwachung der äußeren Politik und eine Rechtfertigung
Burians gefordert. Verfassungsmäßig ist diese nur möglich vor den Dele¬
gationen. Die Einberufung dieser beiden Reichshälften gemeinsamen Körperschaft
hätte nach dem genauen Buchstaben der Verfassung den österreichischen Reichsrat
vorausgesetzt. Die ganze Bewegung richtete sich von vornherein nicht nur gegen
Burian und Tisza, sondern ebenso sehr gegen Stürgkh, gegen den die heftigsten
Anklagen wegen seiner Beziehungen zu dem verurteilten Tschechenführer
Kramarsch erhoben wurden. Die ungarischen Forderungen wirkten nach Oster¬
reich herüber: jene aristokratischen Kreise nahmen ihre Tätigkeit wieder auf,
diesmal mit mehr Energie und nicht mit so völligem Ausschluß der Öffent¬
lichkeit, wie ihn das erstemal die Zensur erzwungen hatte. Es kam zu Ent¬
schließungen aller drei Gruppen des Herrenhauses, der Konservativen, der
Verfassungsmäßigen und der Mittelpartei, die einmütig die Einberufung der
Delegationen verlangten. Für die Mitglieder des Herrenhauses war der Be¬
weggrund das Bestreben, gegen die Vorherrschaft Ungarns in der Vertretung
der Monarchie nach außen und im inneren Verfassungsleben ein Gegengewicht
zu schaffen.
Die Abgeordneten des Reichsrates forderten ebenso Einberufung ihrer
Körperschaf!, freilich nicht einheitlich. Im deutschen Nationalverband ergab sich
eine knappe Mehrheit für die Einberufung. Die neugebildete Deutsche Arbeits¬
gemeinschaft, dit eine Reihe von Abgeordneten aus dem Nationalverband mit
einigen außerhalb dieser Vereinigung zusammengeschlossen hat, trat entschieden
für die Einberufung ein. scharfen Widerspruch erhoben dagegen die Deutsch-
Radikalen unter der Führung von Wolf und Pander, die geheimnisvoll von
der Möglichkeit sprachen, die Wünsche der Deutschen in Österreich, wie sie im
sogenannten Osterprogramm zusammengefaßt sind, durch ein Oktroi zu verwirk¬
lichen. Ihre Haltung entsprach ihrer bisherigen Stellung zum Grafen Stürgkh,
den sie trotz seiner offenbar tschechenfreundlichen Haltung noch immer stützten.
Eine schwankende Haltung nahmen die Christlich-Sozialen ein: sie wollten der
Einberufung nicht widersprechen, schon um nicht unvolkstümlich zu werden,
verlangten aber Bürgschaften für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, namentlich
eine Änderung der Geschäftsordnung, und stellten damit von vornherein die
Verwirklichung ihrer theoretischen Forderung in Frage. Ganz eindeutig und
entschlossen forderten den Neichsrat außer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
nur die Sozialdemokraten. Außerdem von den nichtdeutschen die Polen, die
zugleich ankündigten, daß sie die polnische Frage in den Vordergrund rücken
würden, und die Ukrainer.
Eine besondere Stellung behaupteten die Tschechen, die tschechische Sozial-
demokratie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien. Die Gründe, die sie
gegen Neichsrat wie Delegationen anführten, waren leicht zu beschaffen und
sind im einzelnen ohne größere Bedeutung. Die Schwierigkeiten lagen ja vor
aller Augen. Um ihre demokratischen Überlieferungen zu wahren, erklärten
freilich die freisinnigen Jungtschechen wie die Sozialdemokraten, sie seien
natürlich für die Einberufung des Reichsrates an sich, aber nur dann, wenn
Freiheit der Tribüne, volle Immunität und Freiheit der Berichterstattung
gewährleistet sei: welche Bedingungen, das wußten sie selber am besten, unter
den gegenwärtigen Umständen von der Regierung abgelehnt werden mußten.
Tiefer noch ließ ihre Forderung blicken: Es müßten an der neuen Tagung
alle gewählten Vertreter teilnehmen. Das bezog sich auf die ziemlich zahl-
reichen wegen Hochverrats verurteilten oder ins Ausland geflohenen Abgeord¬
neten (u. a. Kramarsch, Raschin, Netolitzky, Vojna, Choc und Bunval,
Masarnk, der Slovene Grafenauer). Gleichzeitig verwahrten sie sich gegen eine
Mitteilung reichsdeutscher Blätter: sie Hütten sich verpflichtet, keine Opposition
zu machen. In Wahrheit fürchteten sie sich natürlich vor einer schärferen
Wiederholung der Angriffe, die das ungarische Abgeordnetenhaus erlebt hatte
und die sie unter dem Druck der gegenwärtigen Zustände und der vorliegenden
Tatsachen kaum hätten erwidern können. Vor allem galt es für sie, Stürgkh
zu stützen, der noch zuletzt im Kramarsch-Prozeß sich als ihr Freund erwiesen
hatte: auch hatte er es bisher gehindert, daß die Kreiseinteilung in Böhmen
durchgeführt werde, eine vorläufige Lösung der deutsch-tschechischen Streitfrage, die
freilich den Tschechen ein Teil ihrer „via facti", d. h. gegen die Gesetze
erreichten Eroberungen und ein gut Teil ihrer Hoffnungen auf das „Staats¬
recht" genommen, keineswegs aber etwa eine „Bestrafung" bedeutet Hütte. Was
sie an Stürgkh verloren haben, kann man am besten aus den nachrufen der
tschechischen Presse ersehen. Der Leitgedanke seiner Regierungstätigkeit sei die
verantwortliche Teilnahme von Tschechen an der Negierung gewesen, und wenn
er auch nicht alle tschechischen Wünsche erfüllt habe, so sei er doch ihren
dringlichsten nach Möglichkeit und ohne Rücksicht auf Widerspruch nach¬
gekommen.
So widerspruchsvollen Bestrebungen gegenüber hatte Stürgkh es nicht
schwer, seine Ansicht durchzusetzen: es könne höchstens die Einberufung der
Delegationen zweckmäßig erscheinen, allerdings unter gewissen Voraussetzungen,
die letzten Endes eine Lahmlegung dieser ohnehin nicht sehr wirksamen Körper¬
schaft bedeutet hätten. Zu dieser Einschränkung ihrer Forderungen waren
schließlich auch die Herrenhausmitglieder gelangt. In der Versammlung der
Parteivertreter, die der Reichsratspräsident Sylvester am 23. einberufen hatte,
vertraten die Abgeordneten des Herrenhauses nur die Einberufung der Dele¬
gationen. Die Reichsratsabgeordneten forderten die Einberufung des Neichs-
rates, aber mit allen den schon angeführten Einschränkungen, die dem Obmann
des deutschen Nationalverbanbes Groß recht zu geben schienen. Er behauptete:
vielen Volksvertretungen, namentlich aus gewissen Kreisen (konservativen und
klerikalen) sei es mit ihrer Forderung nicht ernst, sie wünschten nur die Ar¬
beitsunfähigkeit des Parlaments zu erweisen, um dann desto leichter ohne Ver¬
fassung und mit dem Oktroi wirtschaften zu können. Gemeinsam ist in der
Tat den Abgeordneten des Reichstages nur der Wunsch, eine verfassungsmäßige
Überwachung der kriegswirtschaftlichen Maßnahmen des Staates zu erreichen.
In der inneren Politik im übrigen gehen die Wünsche wie die Meinungen
darüber, ob der Reichsrat diese Wünsche zu fördern geeignet sei oder nicht,
soweit auseinander, daß wohl in der Tat eine Behandlung dieser Fragen,
namentlich der nationalpolitischen, geradezu ausgeschaltet werden müßte, wenn
man von der Regierung die Einberufung erlangen wollte.
Vor wenigen Wochen hieß es gelegentlich in der Presse: die Schuld liege
nicht an Stürgkh, sondern am System. Das Unglück sei eben, daß man in
Österreich nur lauter Stürgkhs habe. Ganz stimmt das nicht. Es fragt sich
nur: ist die Mehrheit, sind die Politiker da. die einen starken Staatsmann,
den Vertreter eines starken einheitlichen Österreichs genügend stützen könnten?
Die Unerschütterlichkeit, mit der sich Stürgkh weniger durch Handeln als durch
Verhindern behauptete, mochte pessimistisch stimmen. Immerhin würde ein weit¬
blickender und großzügiger Staatsmann gewiß eine arbeitsfähige und dauernde
Mehrheit formen können, wenn er den inneren Umbau Österreichs, der so
unbedingt nötig ist und, richtig begonnen, sehr fruchtbar wäre, entschlossen in
Angriff nähme. Die Deutsch-Österreicher, die doch die berufensten Führer der
österreichischen Politik nach ihren Opfern und Leistungen im Kriege sein müßten,
müßten bei stärkerer Einigkeit den Kern dieser Mehrheit zu bilden imstande sein.
Eines ist sicher: Die österreichische Stciatsidee, die in diesem Kriege im Bunde
mit Deutschland, im Widerstande gegen den Osten in den besten Köpfen und
im Herzen der wertvollsten Bevölkerungsteile Österreichs zu starkem Leben
erstanden ist, wird entweder jetzt, während des Krieges auf die Wirklichkeit
Einfluß gewinnen — oder nie. Es ist kaum denkbar, daß die unendlich reichen
und wertvollen Kräfte der Doppelmonarchie nach dem Kriege wieder in der
alten Weise beiseite stehen sollen; daß nach so viel unerhörten Opfern und
Leistungen der aufbauenden Elemente wieder die zerstörenden und hemmenden
Einfluß gewinnen sollten, die jener Staatsidee widerstreben — ohne eine andere
lebensfähige an ihre Stelle zu setzen. Österreich muß sich endgültig entscheiden:
ob es ein Tor des Ostens nach dem Westen werden will (wovon sich vor dem Kriege
starke Anzeichen offenbarten) oder die Vormacht Mitteleuropas gegen den Osten.
Ein Schwanken und Zögern zwischen beiden Gegensätzen ist nach dem Kriege
nicht mehr möglich. Die Entscheidung wird für Deutschland von wesentlicher
Bedeutung sein. Und anderseits: der Friede und die Stellung der Mittel¬
mächte in diesem Frieden wird bei dieser Entscheidung den Ausschlag geben.
Nach welcher Seite ein billiger Friede mit dem Osten die Wagschale senken
würde, kann für jeden, der Osterreich vor dem Kriege und während des Krieges
genauer beobachtet hat, nicht zweifelhaft sein.
Wir können es jedenfalls als einen Gewinn der bitteren Erfahrungen dieses
Krieges hundelt, daß sie uns Klarheit über unser Verhältnis zum Ausland gebracht
haben und daß wir jetzt wissen, welchem Mangel an echter Sympathie und welcher
Fülle unfreundlichen Mißverstehens unser Volk dort begegnet; und diese Erkenntnis
scheint nicht unfruchtbar zu bleiben.
Die sentimentalen nutzlosen Rechtfertigungsversuche, die reumütigen Selbst¬
anklagen, oder noch schlimmer: das kraftmeierische Auftrumpfen, mit denen wir
allzu lange und fast ausschließlich gehässige Angriffe beantworteten, beginnen zu
verstummen, nachdem selbst weitesten .Kreisen die Einsicht gekommen ist, daß die
Entstellung deutschen Wesens und deutscher Kultur im Ausland — auch während
des Friedens — mit bewußt unbelehrbarer und methodischer Feindseligkeit aus¬
geübt wurde, gegen die es nur ein wirksames Mittel gibt, nämlich ebenso bewußte
und methodische Aufklärungsarbeit. Voraussetzung für diese ist natürlich genaue
Kenntnis des Triebwerks und der Hilfsmittel der gegen uns wirkenden fremden
Organisationen.
Zur Übermittelung dieser Kenntnis trägt die soeben erschienene Schrift von
Albert Haas wichtiges Material bei: Haas untersucht zunächst das Wesen der
Aüslandspropaganda unseres ältesten und unversöhnlichsten Gegners, Frankreichs,
deren Wirksamkeit auch tatsächlich die Grundlage für die allgemeine Unbeliebtheit
des Deutschtums geschaffen hat. Dieses durch eigene Landeskinder auswärts nur
spärlich vertretene Frankreich verfügt über einen ungemein geschickt bedienten
Apparat, um überall im Ausland seinen Volkscharakter von der gewinnendsten
und liebenswürdigsten Seite vorzuführen.
Haas zeigt, wie diese von der französischen Negierung dauernd beobachtete,
unterstützte und belohnte Propaganda gleichsam spielend durch Sprachunterricht
und Pflege harmlos heiterer Geselligkeit (^Uianee 5r-in?aise) die Vorstellung, oder
besser: Illusion von der graziösen überlegenen Kultur Frankreichs zu befestigen
und zu verbreiten versteht, indem gleichzeitig der umfangreiche Kapitalexport des
Landes auf wirtschaftlichem Gebiete günstige Konzessionen in Finanz- und Presse¬
kreisen durchsetzt. Mit der leichten Geste ihrer Geselligkeit und der leichteren Hand,
mit der sie sich ihrer Geldmittel zu bedienen weiß, hat die französische Propaganda
ein Idealbild ihres Volks entworfen, als einer Luxusnation, „die nur den höheren
Gütern der Kultur und des verfeinerten Raffinements lebt, als ein Volk, das gut
erzogen ist, aristokratisch gesinnt ist, das die geschmackvollsten Kleider trägt, die
besten Manieren und die geistreichsten Gedanken hat, die feinsten Seifen und
und Parfüms gebraucht, das eleganteste Leben führt, das meiste Geld ausgibt,
keine Sorgen hat, ununterbrochen geistreiche Reden führt und wie ein Tenor mit
der Künstlerlocke herumläuft".
Und was das Wichtigste und Bewunderungswürdigste an der französischen
Propaganda ist: sie hat dieses Idealbild den Völkern derartig fest eingeprägt, daß
weder die ganz anders lautende Erfahrung, noch auch schmerzliche Enttäuschungen
es zu korrigieren vermögen und die Welt unbelehrbar, „mit rührender Naivität"
an ihm hängt.
Seinem Charakter entsprechend betreibt England seine Propaganda fast aus¬
schließlich auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Ihr Schwerpunkt ruht in
der Nachrichtenvermittelung, die — wie Haas treffend darlegt — unter Reuters
Führung die Welt durch zwei Mittel: das immer wiederholte Schlagwort und die
Lüge bearbeitet. Dabei geht die englische Nachrichtenpropaganda in durchaus
individueller Weise vor, d. h. sie paßt sich dem Fassungsvermögen und der Leicht¬
gläubigkeit der von ihr bearbeiteten Länder und Völker an und schaltet in schier
schrankenloser Willkür dort, wo sie keine Konkurrenz und mithin kein zeitiges
Dementi zu fürchten hat.
Einen wichtigen Faktor dieser energisch geführten Werbearbeit stellen die
Mitglieder der überseeischen englischen Kolonien dar, die — da England in der
Lage ist, die ärmere Auswanderung in die eigenen Siedelungsgebiete zu leiten —
vorwiegend aus Angehörigen der intelligenten, wohlhabenden Gesellschaftsklassen
stammen, die sich mit Stolz ihrer Abkunft bewußt bleiben, mit reichen Mitteln zu
repräsentieren vermögen, und hinter denen sich in jedem Augenblick schützend, nicht
selten drohend, die Weltmacht ihres Heimatlandes ausrichtet.
Ein Hauptzweck der raffiniert und energisch geleiteten Propaganda dieser
beiden Länder war es von je, das zu unbequemen Wettbewerb überall antretende
Deutschland zu verdrängen und vor allem verächtlich und lächerlich zu machen;
oder — wie es Haas ausdrückt — „eine Karikatur Deutschlands und der Deutschen
in der Welt zu verbreiten".
Das ist ihnen gelungen!
Mit kurzen sicheren Strichen zeichnet Haas die Umrisse dieser Witzblatt¬
karikatur nach, die — wie die Erfahrungen dieser Kriegszeit immer erneut
beweisen — in den der feindlichen Propaganda unterworfenen Ländern das Bild
der Wirklichkeit nachhaltig verdrängte. Freilich sieht sich Haas an dieser Stelle
zu einer Feststellung gezwungen, die zu denken gibt. Er schreibt: „Das ganze
antideutsche Arsenal unserer Feinde ist mit Geschützen aus den inneren Partei¬
kämpfen bestückt, wobei nicht nur die vormärzlichen Tage ausgebeutet worden
sind... . Alle die kindlichen Schilderungen des preußischen JimkerL, des deutschen
Absolutismus, des deutschen Spießbürgers, der Kleinlichkeit des deutschen .Bour¬
geois', der Beschränktheit der deutschen Frau sind wörtlich aus dem Deutschen
übersetzt", und zwar aus dem schmählichen Deutsch unserer Parteikämpfe.
Wir müssen ihnen recht geben. Der Deutsche nutz lernen, daß um sein
Haus auch noch Menschen wohnen und daß man ihm in die Fenster sieht. Er
muß lernen, den Blick nach außen zu richten. Und der Krieg scheint hier in der
Tat einen Wandel zu schaffen, er hat unsere Augen mit unerbittlicher Strenge auf
das gewaltige Gebiet der plötzlich im Flammenschein vor uns ausgebreiteten
Probleme der auswärtigen Politik gezwungen. Nicht die geringste der dringender
Lösung harrenden Fragen ist die: mit welchen Mitteln müssen wir diese Ver¬
zerrung deutschen Wesens berichtigen? In welche Bahnen muß unsere Propaganda
im Ausland geleitet werden, um der deutschen Arbeit und Politik dort den
Boden zu bereiten und fruchtbar zu erhalten?
Die besprochene Schrift weist hier die Richtung. Ich entnehme ihr nur
einige Hauptpunkte.
Die Grundforderung für eine wirkungsvolle Propaganda sieht Haas in ihrem
mnemotechnisch richtigen organisierten Aufbau, d. h. sie darf sich nie widersprechen
und muß in faßlicher einleuchtender Weise — wenn auch der Form nach tausendfach
variiert — die gleichen Grundsätze dem Gedächtnis einhämmern. Sie muß Lang¬
weiligkeit und Belehrung meiden. Der Verfasser drückt sich treffend aus: „Sie
muß die fremden Völker davon unterrichten, waS in Deutschland vor sich geht:
aber sie darf sie nicht darin unterrichten." Sie muß die vom Ausland bereits
verwendeten Mittel der Unterhaltung und Belehrung, wie etwa Kino, Theater usw.,
sich zunutze machen und so in direkter Weise und unaufdringlich ihre Ziele zu
erreichen suchen. Alles zu dem Endzweck aller Propaganda: „Das Ausland unter
Umgehung des fremden, deutschfeindlichen Nachrichten- und sonstigen Dienstes
über deutsche Dinge zu unterrichten."
Für diese formale Seite unserer Werbearbeit können wir von den Gegnern
viel lernen, wenn uns auch unsere Eigenart auf eigene Wege zwingt. Inhaltlich
aber bietet der gewaltige Komplex, deutscher Kultur und deutschen Wirtschafts-
lebens eine Fülle immer neuen Stoffes, den wir unverfälscht und mit Selbst¬
bewußtsein zu verwalten haben.
In einem letzten Kapitel macht Haas einige höchst lesenswerte Mitteilungen
über die Organisation unseres täglichen Nachrichtendienstes, der uns heute mit dem
nahen und fernen Ausland, trotz der fast lückenlosen Absperrung unserer Verkehrs¬
wege, verbindet.
Wir ersehen daraus, daß mit frischen Kräften auch auf diesem Gebiete der
Gegner niedergerungen wird und daß schon eifrig die Wege geebnet werden, auf
denen in künftigen Friedenszeiten das deutsche Volk zu neuer Arbeit an die alten
Plätze in der Welt schreiten soll.
Ein nützliches und leider notwendiges Buch, das aufklärend zu wirken und
den Willen zu energischer Kriegsführung gegen Frankreich zu stärken geeignet ist.
Über die Umgestaltung der Landkarte Osteuropas darf, nach dem Vorgange
unseres Reichskanzlers, heute so ziemlich alles gesagt und geschrieben werden.
Über positive Kriegsziele im Westen schweigen dagegen unsere Diplomaten und
hält die nationale Presse, Ballinisch ausgedrückt, das Maul; nur selten spricht ein
Parteiführer ein offenes Wort.
Der Quitte-Verein „Völkerrecht" z. B. predigt dem deutschen Michel den
Verzicht Deutschlands auf jede Gebietserweiterung, ausgerechnet Deutschlands, das
um sein Dasein kämpft, das, wenn niedergezwungen, erbarmungslos aufgeteilt
Wird, das, „vermag es den Krieg nicht bis zum siegreichen Ende fortzuführen",
nach Herrn von Gwinner, „völligen Ruin für Armee und Reich, Vernichtung
seines Handels und seiner Industrie, Verschwinden der Arbeitsgelegenheit und
Knechtschaft unter fremdem Joch" erleidet.
Allerweltsfreunde, Verbrüderungssüchtige, kritiklose Bewunderer westmächt,
licher Oberflächenkultur, vielgelesene Blätter mit dem Demokratenideal der
Parlamentsmehrheitsherrschaft nach westlichen Mustern, vorlaute Händler, die
überall und nirgends daheim sind, und Fmanzaristokraten, die überall durch ihr
Geld und hinter den Kulissen Einfluß ausüben, versuchen das gesunde Urteil der
Deutschen zu verwirren und suchen uns einzureden, „wir müßten diese durch
Kulturgemeinschaft mit uns verbundenen Völker" glimpflich behandeln. Durch
Großmut seien sie auf die Dauer zu versöhnen; der Krieg dürfe nach dieser Seite
unausgefochten bleiben und nicht mit allen Mitteln und Waffen geführt worden. Und
das alles, obwohl diese Feinde ihren Vernichtungswillen Tag für Tag durch
Worte und Taten beweisen, bis zum siegreichen oder bitteren Ende durchhalten
wollen, uns durch Hunger niederzuzwingen hoffen und, um mit dem „Manchester
Guardian" zu sprechen, „den Krieg nicht eher beendigen werden, ehe nicht dem
deutschen Reiche und Volke militärisch und wirtschaftlich das Rückgrat ge¬
brochen ist".
Neuerdings werden plötzlich sehr kräftige Töne gegen England geschwungen,
dagegen für Frankreichs, unseres „vornehmsten" Feindes, Schonung und relative
Unschuld auffallend häufig plädiert, als ob nicht auch sein Leterum censeo wäre:
QermAlüam esse cwlenclam; in der Unterhaltung stößt man in allen Gesellschafts¬
schichten immer wieder auf den dummschlauen Gedanken, daß die Versöhnung,
ja ein „Bündnis mit Frankreich gegen das dort bestgehaßte England" möglich
und zu erstreben sei.
Es ist das Verdienst der Schrift des Dr. Bovenschen, daß sie dem, der sehen
will, handgreiflich die Torheit und Verderblichkeit solches Denkens und Vorgehens
zeigt. Indem er mit uns einen Gang durch die Geschichte der feindlichen Be¬
ziehungen Frankreichs und Deutschland bis auf den heutigen Tag macht, legt er,
immer unter Beibringung urkundlichen Materials, unwiderleglich dar, daß der
Franzose seit jeher auf den an Geld und „Kultur" ärmeren Nachbar übermütig
und geringschätzig herabgesehen hat, daß er stets, schon aus geographischen
Gründen, unser unversöhnlicher Feind, der „Erbfeind", gewesen ist, daß er es
heute ist und, wenn die Grenzen nicht anders gezogen werden, in aller Zukunft
sein wird und sein muß; er widerlegt ferner den Irrglauben an die höhere
„Zivilisation" und an die „Ritterlichkeit" des französischen Volkes, dessen gemeine
und niedrige Gesinnung sich durch die Jahrhunderte immer wieder in Über¬
griffen, Raub- und Eroberungskriegen und im währenden Weltkriege in empörender
Mißhandlung von Zivil- und Kriegsgefangenen, in abscheulichen Arkaden, wie
dem sorgfältig geplanten Karlsruher Kindermorde, in Brutalität und Herzens-
härtigkeit, z. B. der Krankenschwester von Se. Price, betätigt hat. Frankreich ist
ihm der eigentliche Urheber des Weltkrieges; nur die geliehenen 20 Milliarden
hätten Rußlands militärische Rüstung ermöglicht; ohne diese hätte England nich
hoffen können, die Einkreisungspolitik Eduards des Siebenten durch einen Krie
mit Deutschland zu krönen. Deshalb: Kein Mitleid mit Frankreich, keine w
immer geartete Sentimentalität! Frankreichs Absicht ist nach Aves Guyot, für
den Fall unseres Unterliegens „das gleichzeitige Ende der beiden Reiche von
Habsburg und Hohenzollern". Gegen solch einen Feind sollten wir Nachsicht
üben? Ein Amerikaner, der noch im August 1914 in Frankreich war, verneint
diese Frage; er bekennt, daß ihm die Neigung der Deutschen, mit Frankreich,
von dessen Haß, Wut und Verachtung er sich überzeugt habe, glimpflich zu ver¬
fahren, unverständlich sei.
Also: Mit diesem unversöhnlichen Gegner ein für allemal abrechnen! Wie
der Verfasser sich das denkt, wie er die Grenzen des „westlichen Glacis" gezogen
sehen möchte, das hat er zu sagen versucht, die Zensur aber an dieser Stelle eine
Lücke hergestellt; der Zusammenhang ergibt, daß seine Wünsche sich mit denen
der sechs Verbände decken dürften.
Die im richtigen Augenblick erschienene Schrift wird die freudige Anerkennung
aller finden, die mit dem Verfasser übereinstimmen', sie sollte aber auch von Weich-
mütigen, Ängstlingen und Übergerechten fleißig gelesen werden, um ihnen den
Mut des Forderns zu stärken; sie sollte unseren Feldgrauen zugesandt werden,
damit sie sehen, daß es neben so manchem Flaumacher in der Heimat Männer
gibt, die offen zu sprechen sich nicht scheuen. Der Preis des handlichen Taschen¬
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Wir bitten die Freunde der :: ::
das Abonnement zum I. Quartal 1917
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Dostanstalt entgegen. Preis 6 M.Verlag der
G^euz-boten
G. in. b. S.
Berlin L>V n.
^_
!
! as Tauchboot ist gleich der Seemine die Waffe des Schwächeren
im Seekriege. Der Seegewaltige bedarf ihrer nicht — so wenig
wie ein Goliath der Schleuder des David —, sie sind ihm weit
eher verderblich als nützlich; daher die Achtung dieser Kriegs¬
mittel und die Bekämpfung auf völkerrechtlichen Tagungen durch
ihn, daher jetzt die Entrüstung Englands über diese „Pest der Meere".
Die Tauchboote unserer Gegner haben ein engbegrenztes Wirkungsfeld,
zumal nachdem unsere Handelsschiffe von den offenen Meeren verschwunden
und unsere Küsten bis auf die Ostseeküste jeglichem Handelsverkehr gesperrt
sind; unsere Tauchboote hingegen üben auf allen Meeren ihre erfolgreiche
Tätigkeit aus, weit mehr noch gegen den feindlichen Seehandel als gegen die
Seestreitkräfte des Gegners.
Allein diese lebhafte Vernichtungstätigkeit hat eine unliebsame Neben¬
wirkung politischer Natur im Gefolge, ruft sie doch leicht ungünstige Stimmung
gegen uns bei den Seehandel treibenden Neutralen hervor. Denn nicht nur
feindliche Handelsschiffe und Waren fallen unseren Tauchbooten zum Opfer,
sondern auch manches stolze Schiff der Neutralen fährt samt Ladung beklagens¬
werterweise in die Tiefe — Rechtens zwar laut Artikel 49 der Londoner See¬
kriegsrechtserklärung, aber doch zum unverminderten Schmerz und Verdruß der
an Schiff oder Ladung Beteiligten. So erklärt sich, daß Angehörige neutraler
Staaten vielfach das Vorgehen Deutschlands zur See, obschon es dem Völker¬
recht entspricht, weitaus rücksichtsloser empfinden als die Seetyrannei Englands,
die fast beim Hungerkrieg gegen einige neutrale Staaten angelangt ist. Denn
wie der Blick meist an der Erscheinung haften bleibt, ohne den Dingen auf
den Grund zu sehen, so auch hier. Über der sinnfälligen, der Phantasie sich auf¬
drängenden Zerstörungstätigkeit unserer Tauchboote bleibt unbeachtet, daß die sich
mehr und mehr steigernde Häufigkeit der Versenkung neutraler Schiffe ihren letzten
Grund in Englands völkerrechtswidriger Ausdehnung der Bannwarenliste hat.
Nachdem Deutschland — zögernd zwar, aber schließlich notgedrungen — Eng¬
lands Beispiele gefolgt ist und ebenfalls fast alle Arten von Waren, die in
dieser Zeit mangelnden Frachtenraums überhaupt noch für die Verschiffung in
Betracht kommen, für Baumgut erklärt hat, ist es dahin gekommen, daß fast
jedes Schiff eines Neutralen, das England oder dessen Verbündeten Waren
zuführt, der Wegnahme oder Zerstörung durch unsere Tauchboote ausgesetzt ist.
So richtet sich die Entrüstung gegen uns, statt gegen England.
Wohl aus solcher Stimmung heraus hat man das Tauchboot, sofern es
nicht gegen Kriegsschiffe, sondern gegen feindliche und neutrale Handelsschiffe
verwendet wird, schlechthin als völkerrechtswidriges Kriegsmittel wegen der
regelmäßig notwendig werdenden Zerstörung der beschlagnahmten Schiffe
bezeichnet. Es sei „praktisch unmöglich", heißt es in der Note der Vereinigten
Staaten an Deutschland vom 15. Mai 1915, „Unterseebote für die Vernichtung
des Handels zu verwenden, ohne dabei die Regeln der Billigkeit, der Vernunft,
der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zu mißachten, die von der modernen
Anschauung als gebietend angesehen werden."
Ob die amerikanische Regierung diese Ansicht noch aufrechterhalten mag,
nachdem England in der Ostsee den Tauchbootkrieg im Verein mit Rußland
rücksichtslos gegen deutsche Handelsschiffe führt und diese völkerrechtswidrig
sogar in den Küstengewässern Schwedens angegriffen hat, bleibe dahingestellt.
Jedenfalls ist die Ansicht unbegründet, nicht nur hinsichtlich der Verwendung
der Tauchboote gegen feindliche, sondern auch gegen neutrale Handelsschiffe.
Über die Zulässigkeit der Zerstörung von beschlagnahmbaren Kauffahrtei¬
schiffen — und zwar nur von neutralen Schiffen — handelt die Londoner
Seekriegsrechtserklärung von 1909. Sie ist zwar von den Mächten nicht
ratifiziert worden, ihre Regeln entsprechen aber, wie es in der einleitenden
Bestimmung der Signatarmächte zutreffend heißt, „im wesentlichen den allgemein
anerkannten Grundsätzen des internationalen Rechts", so daß sie trotz jenes
Mangels als geltendes Völkerrecht anerkannt werden dürfen, wie auch der
Haager ständige Schiedsgerichtshof in seinen Entscheidungen vom 6. Mai 1913
sie „für das Seekriegsrecht der Kulturstaaten als maßgebend" betrachtet.
Neutrale Handelsschiffe können danach, abgesehen von dem Fall des Blockade¬
bruchs, noch in gewissen anderen Fällen beschlagnahmt werden, nämlich in den
in den Artikeln 45 und 46 aufgeführten Fällen der neutralitätswidrigen Unter¬
stützung eines Kriegführenden und in dem praktisch besonders wichtigen Falle
des Artikel 40: wenn die von dem Schiffe beförderte Bannware nach Wert,
Gewicht, Umfang oder Fracht mehr als die Hälfte der Ladung ausmacht.
Das Schiff ist zu diesem Zweck nach altem Herkommen zunächst anzuhalten
und zu durchsuchen, dann gegebenenfalls zu beschlagnahmen. Das beschlag¬
nahmte Schiff darf von der nehmenden Kriegsmacht nicht zerstört werden,
sondern muß in einen Hafen gebracht werden, wo gehörig über die Recht¬
mäßigkeit der Wegnahme entschieden werden kann (Artikel 48). Ausnahmsweise
darf jedoch das Schiff, das der Einziehung unterliegen würde, zerstört werden,
wenn das Verbringen in einen Hafen das Kriegsschiff einer Gefahr aussetzen
oder den Erfolg der Operationen, worin es derzeit begriffen ist, beeinträchtigen
könnte (Artikel 49).
Die nehmende Kriegsmacht wird nun schon aus eigenem Interesse vor¬
ziehen, das beschlagnahmte Schiff, wo immer es angeht, einzuziehen, statt die
meist begehrenswerte Beute zu zerstören. Die Fälle der Zerstörung werden
sich aber für einen Staat mit wenigen Flottenstützpunkten, wie es Deutschland
ist, häufen, doppelt häufen, wenn das Nehmeschiff ein Tauchboot ist, das oft
nicht einmal in einen nahen Hafen das gekaperte Schiff einbringen kann, schon
weil es ihm an der nötigen Prisenbesatzung dafür gebricht. So wird der für
sonstige Kriegsschiffe als Ausnahme gedachte Fall der Zerstörung für das
Tauchboot zur Regel, was selbstverständlich das Recht der Zerstörung nicht
ausschließt. Denn hierfür ist allein entscheidend, daß die rechtlichen Voraus¬
setzungen für die Zerstörung vorliegen.
Vor der Zerstörung des neutralen Schiffes müssen nun aber, wie Artikel 59
vorschreibt, die an Bord befindlichen Personen in Sicherheit gebracht, auch
sämtliche Schiffspapiere und sonstigen Beweisstücke auf das Kriegsschiff herüber-
genommen werden. Man hat behauptet, eine wirkliche Sicherung der Schiffs¬
msassen sei bei der Zerstörung durch ein Tauchboot nicht möglich, da jene
durchweg nur in Rettungsbooten untergebracht werden könnten, deshalb -verbiete
sich die Zerstörung. Allein mit dem Ausdruck „in Sicherheit bringen" kann
nicht absolute Sicherung gemeint sein, jede Sicherung ist nur eine bedingte,
auch die Sicherung, die den Insassen des gekaperten Schiffes z. B. durch
Herübernahme auf den Kreuzer zuteil wird. Sie sind auf diesem, wenn auch
nicht den Unbilden der See, so doch den Kriegsgefahren in erhöhtem Maße
ausgesetzt, zumal der warnungslosen Torpedierung durch Tauchboote.
Aber wie man auch die Erhöhung der Lebensgefahr für die Insassen eines
gekaperten Schiffes bei der Unterbringung in Rettungsbooten einschätzen mag,
so viel ist sicher, daß die kriegführenden Staaten wegen der größeren Gefähr¬
dung jener Personen nicht verpflichtet sind, die durch die Kriegsnotwendigkeit
gebotene Zerstörung des beschlagnahmten Schiffes zu unterlassen. Bei dem
Widerstreit der Interessen geht das in der Kriegsnotwendigkeit begründete
Interesse des Kriegführenden dem des Neutralen vor, wie in der Völkerrechts-
wiffenschaft allgemein anerkannt ist, überdies aus vielen Regelungen des
Völkerrechts erhellt. Wie wäre anders z. B. das völkerrechtlich zulässige Legen
von selbsttätigen Kontaktminen auf hoher See zu rechtfertigen, das trotz aller
vorschriftsmäßig angewendeten Sicherungsmaßregeln der friedlichen Schiffahrt
die furchtbarsten Gefahren bereitet! Gefahren, die überdies nicht nur dem
Bannware führenden, sondern auch dem völlig harmlosen neutralen Schiffe
drohen, während die durch Tauchboote hervorgerufenen weit geringeren Gefahren
doch nur die Insassen eines Baumgut befördernden Schiffes treffen. Wer aber
in der Zuführung von Baumgut an eine der Kriegsparteien seinen Vorteil sucht,
der hat wahrlich keinen Grund, sich über Maßregeln zu beschweren, die die
andere Kriegspartei nur notgedrungen zur berechtigten Unterdrückung solcher
Zufuhr anwendet. Und gleich wenig Anlaß zur Beschwer hat der Fahrgast,
der seine, Person einem Schiffe anvertraut, das wegen der Menge oder des
Wertes der Bannware der Einziehung oder Zerstörung unterliegt. Nur soviel
darf man fordern, daß die Gefahren auf ein Mindestmaß beschränkt werden,
daß demnach so viel wie möglich sür die Sicherung der Schiffsinsassen gesorgt,
diese z. B. bei hohem Seegange nicht fern von der Küste ihrem Schicksale
überlassen werden und anderes mehr — Regeln, die von den Besatzungen
unserer Tauchboote stets befolgt werden.
Das alles gilt von den neutralen Schiffen und nur von diesen.
Über die Zulässigkeit der Zerstörung feindlicher Schiffe sagt die Londoner
Seekriegsrechtserklärung nichts, auch andere Völkerrechtsquellen enthalten darüber
keine Bestimmungen. Kaum erwähnenswert, weil selbstverständlich, ist, daß den
Kriegführenden erst recht gegenüber feindlichen Schiffen erlaubt sein muß, was
ihnen gegenüber neutralen Schiffen zusteht. Fraglich kann nur sein, ob gegen
feindliche Handelsschiffe ein weitergehendes Angriffs- und Zerstörungsrecht
besteht, namentlich ob ein Kriegsschiff — auch abgesehen von den Fällen des
Widerstandes und des Fluchtversuches des feindlichen Handelsschiffes — dieses
sofort, d. h. ohne Anruf und Warnung und ohne vorherige Sicherung der
Schiffsinfassen zerstören darf. Um diese Frage richtig beantworten zu können,
ist zu beachten, daß sie überhaupt erst seit der Erfindung des Unterseebootes
auftauchen konnte. Für Obersee-Kriegsschiffe, die früher allein die Nehmeschiffe
bildeten, ist ein sofortiges Zerstören durch die Kriegsnotwendigkeit nicht geboten.
Der Kreuzer wird in seiner Wirksamkeit schwerlich je beeinträchtigt, wenn er
das feindliche Handelsschiff zunächst anhält, durchsucht und — falls es nicht
weggebracht, sondern zerstört werden soll — zuvor die Schiffsinsassen in Sicher¬
heit bringt. schußbereit in angemessenen Abstand neben dem Handelsschiffe
liegend läuft er weder Gefahr, bei der AnHaltung und der durch das abgesandte
Kommando erfolgenden Durchsuchung des Schiffes von diesem angegriffen zu
werden, noch braucht er angesichts seiner weittragenden Geschütze oder seiner
überlegenen Schnelligkeit einen Fluchtversuch des Schiffes zu fürchten. Ein
sofortiges Zerstören des Schiffes ohne Warnung und Sicherung der Insassen
verbietet sich somit als zwecklose Härte von selbst; es konnte für das Obersee¬
kriegsschiff in aller Regel nicht in Frage kommen.
Anders liegen die Verhältnisse bei dem Tauchboot. Das Tauchboot besitzt
nur eine geringe Geschwindigkeit, weshalb Flucht des Gegners keineswegs
aussichtslos ist. Vor allem ist es leicht verletzbar. Ein Rammversuch, ein
Schuß aus einem versteckten Geschütz, ja das Werfen mit Handgranaten kann
ihm zum Verhängnis werden. Alle diese Gefahren vermeidet es und zugleich
sichert und vermehrt es seine Erfolge, wenn es die einzige Überlegenheit, die ihm
eignet, voll ausnutzt, d. h. wenn es sich dem feindlichen Schiff nicht nur un¬
sichtbar nähert, sondern ihm z. B. unerwartet den tödlichen Schuß aus unsicht¬
barer Stellung beibringt.
So zu verfahren erscheint vom Standpunkt der Kriegsräson als selbst¬
verständlich. Deren erstes Gebot ist, alle Eigenschaften einer Waffe zur vollsten
Geltung zu bringen, die höchstmöglichen Wirkungen durch sie zu erreichen. Das
wird auch hinsichtlich der Verwendung der Tauchbootswaffe gegenüber feind¬
lichen Kriegsschiffen allgemein zugestanden; gegen feindliche Handelsschiffe soll
es jedoch unzulässig, weder rechtlich noch billig noch mit den Geboten der
Menschlichkeit vereinbar sein, wie auch die Note der amerikanischen Regierung
an die deutsche Regierung bemerkt.
Die Unrichtigkeit dieser die sofortige Torpedierung für alle Fälle ablehnenden
Ansicht ergibt sich aus dem Wesen des Seekrieges. Im Seekriege richtet sich
der Angriff nicht nur gegen die feindlichen Seestreitkräfte, sondern auch gegen
den feindlichen Seehandel. Diesen zu treffen, dienen einerseits Blockaderecht
und Bannwarenrecht — beide auch gegen Neutrale gerichtet —, anderseits das
heute nur noch dem Seekrieg eigentümliche, sogenannte Beuterecht: das Recht,
Schiff samt Ladung eines Angehörigen des feindlichen Staates überall auf dem
Meere wegzunehmen und zu zerstören. Den feindlichen Seehandel lahm
zu legen und so die feindliche Volkswirtschaft zu schwächen, bildet sogar das
Hauptziel des Seekrieges. „Es ließe sich ein Seekrieg denken, in dem keine
andere Art von Feindseligkeit vorgenommen würde als die Jagd auf die
Handelsschiffe des Feindes." (Triepel in „Zeitschrift für Völkerrecht" 1914 S.400.)
Um dieses Hauptziel zu erreichen, muß, sofern und soweit es die Kriegsnot¬
wendigkeit erfordert, die wirksamste Verwendung, die vollste Ausnutzung eines
jeden Kriegsmittels gestattet sein — gegen die Seehandelsmacht so gut wie
gegen die Seestreitkräfte.
Die Kriegsnotwendigkeit fordert zwar nicht für das Oberseekriegsschiff, wohl
aber für das Tauchboot die grundsätzliche Zulüssigkeit sofortiger Torpedierung,
sei es zur Verminderung der ihm — besonders von einem bewaffneten Handels¬
schiff — drohenden Gefahr, sei es zur Sicherung und Vermehrung seiner Erfolge.
Nur entgegenstehende ausdrückliche völkerrechtliche Regeln könnten hieran etwas
ändern: eine Vereinbarung der Staatengemeinschaft hierüber gibt es nicht, ein
Gewohnheitsrecht ebensowenig. Ein solches etwa aus der herkömmlichen milderen
Verfahrensweise der Oberseekriegsschiffe auch für das Tauchboot abzuleiten, ver¬
bietet sich aus den früher erwähnten Gründen.
Oder läßt sich vielleicht gar die Ansicht vertreten, daß über die Zulüssigkeit
des Umfangs und der Art der Verwendung einer neuen Waffe erst das Völker¬
recht bestimmen müsse? Die Geschichte der völkerrechtlichen Vereinbarungen
lehrt gerade das Gegenteil. Ein dahin zielender Vorschlag Rußlands aus der
1. Haager Friedenskonferenz, welcher lautete, neue Feuerwaffen, Sprengstoffe,
Pulver sowie Unterseebote und Nammschiffe zu verbieten, wurde abgelehnt.
Ferner: die kaum erfundene Selbsttätige Kontaktmine — eine Seemine, die
durch bloße Berührung auffliegt —. wurde von Rußland im russisch-japanischen
Kriege von 1904 verwendet, noch dazu in der Gestalt der besonders gefährlichen
unverankerten Mine, obschon Seculum aller Art sich nicht nur gegen den Feind
richten, sondern auch neutrale Schiffe bedrohen. Auf der 2. Haager Friedens¬
konferenz ist es mühsam gelungen, wenigstens einige — keineswegs genügende —
Sicherungsmaßregeln bei dem Gebrauch dieser furchtbaren, plan- und wahllos
wirkenden Waffe zu vereinbaren.
Und um noch ein drittes Beispiel anzuführen: Über die Verwendung der
Flugzeuge und Luftschiffe als Waffe M zwar auf der I. Haager Friedens¬
konferenz eine Vereinbarung getroffen, die das Werfen von Geschossen und
Sprengstoffen daraus für fünf Jahre verbot. Aber die Erneuerung des Verbotes
ist auf der 2. Friedenskonferenz nicht gelungen. Die Folge ist nun nicht etwa,
daß die Verwendung dieses weit entsetzlicher als das Tauchboot wirkenden
Kriegsmittels unterbleiben muß, vielmehr umgekehrt: da keine besonderen ein¬
schränkenden Bestimmungen des Völkerrechts entgegenstehen, kann es nun fern
vom eigentlichen Kampfplatz überall, mitten in Feindesland und auf dem
Meere, verwendet werden mit der einzigen allgemeinen Beschränkung, die für
alle Kriegsmittel gilt, daß nämlich die Beschießung von offenen unverteidigten
Orten verboten ist. Aber selbst in diesen Orten dürfen Anlagen und Ein¬
richtungen, die für Heer und Flotte des Feindes nutzbar gemacht werden
können, beschossen werden.*)
Was der Seemine und dem Luftfahrzeug recht ist, ist dem Tauchboote
billig. Der völkerrechtlich allgemein anerkannte Satz, daß alle nicht grund¬
sätzlich verbotenen Kriegsmittel als erlaubt gelten müssen, muß auch für das
Tauchboot als unterseeisch wirkende Waffe in dem gegen den feindlichen See¬
handel gerichteten Kampfe gelten, der, wie schon bemerkt, das Hauptziel des
Seekriegs bildet. Der Kriegführende hat demnach nach völkerrechtlichen Grund¬
sätzen das Recht, Tauchboote nicht nur gegen Kriegsschiffe, sondern auch gegen
feindliche Handelsschiffe zu plötzlichem Angriffe zu verwenden, falls die Kriegs¬
notwendigkeit es gebietet, sei es zur eigenen Sicherung, sei es zur Vermehrung der
Erfolge.
Allein Deutschland hat von dieser Befugnis des plötzlichen Angriffes in
dem gegenwärtigen Kriege zunächst überhaupt keinen Gebrauch gemacht. Viel¬
mehr ist erst in einer Bekanntmachung vom 4. Februar 1915 angekündigt
worden, daß vom 18. Februar 1915 jedes in den Gewässern rings um Gro߬
britannien und Irland einschließlich des gesamten englischen Kanals angetroffene
feindliche Kauffahrteischiff zerstört werden wird, ohne daß es immer möglich
sein wird, die dabei der Besatzung und den Passagieren drohenden Gefahren
abzuwenden. In der diese Bekanntmachung erläuternden Denkschrift vom selben
Tage heißt es, daß sich Deutschland wegen der völkerrechtswidrigen Handlungs¬
weise Englands zu militärischen Maßnahmen gezwungen sehe, die das englische
Verfahren vergelten sollen. Eine Vergeltungsmaßregel (Repressalie) im eigent¬
lichen Sinne war jedoch, wie sich zeigen wird, jene angedrohte Maßregel nicht.
In merkwürdiger Verkennung des Begriffes der Repressalie nimmt die
Negierung der Vereinigten Staaten in der Note vom 23. Juli 1915 an, daß
die deutsche Regierung, indem sie zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise das
Recht der Vergeltung anführe, die Gesetzwidrigkeit dieser Handlungsweise zu¬
gegeben habe. Diese Annahme wäre selbst dann verfehlt, wenn es sich um
eine wirkliche Repressalie, eine an sich rechtswidrige Maßnahme gehandelt hätte.
Denn die Repressalie ist, wie allgemein anerkannt, ein Recht der Selbsthilfe,
vom Völkerrecht ausdrücklich zugelassen. Die an sich rechtswidrige Maßregel
wird, im Wege der Vergeltung angedroht, zu einer rechtmäßigen Handlung,
sofern sie durch das völkerrechtswidrige Verhalten des Gegners ausreichend
begründet ist — nicht anders wie im Strafrecht zum Beispiel die vor¬
sätzliche Tötung eines Menschen, die unter gewöhnlichen Umständen als
Mord oder Totschlag zu beurteilen wäre, in der Notwehr verübt, recht¬
mäßig ist, nicht etwa nur straflose aber gesetzwidrige Handlung, vielmehr eine
erlaubte Handlung, die mit dem Begriff Mord oder Totschlag nichts gemein
hat. Mag man nun über den unmenschlichen Plan Englands, die Zivil¬
bevölkerung Deutschlands dem Siechtum und dem Hungertode auszuliefern,
denken wie man will, mag man ihn sogar in seiner ganzen Entsetzlichkeit mit
den Grundsätzen des Völkerrechts für vereinbar halten wollen, so ist doch soviel
gewiß, daß die Durchführung dieses Planes auf ungesetzlichen Wege erstrebt
wird: unter Mißachtung der Grundregeln des Völkerrechts, an deren Jnne-
Haltung niemand vor dem Kriege gezweifelt hat noch zweifeln konnte. Solcher
rechtswidrigen Handlungsweise hätte Deutschland mit einer der Sachlage ent¬
entsprechenden rechtswidrigen Maßregel begegnen können, sie wäre als Ver¬
geltungsmaßregel dennoch eine rechtmäßige Handlung gewesen.
Aber Deutschland antwortete auf das völkerrechtswidrige Gebühren Eng¬
lands mit der Androhung einer Maßnahme, die schon an sich durchaus recht¬
mäßig war, die es längst und nicht nur in der bezeichneten beschränkten Zone,
sondern auf allen Meeren englischen Handelsschiffen gegenüber hätte durchführen
können. Denn schon seit Monaten war durch die allgemeine Bewaffnung eng¬
lischer Handelsschiffe eine tatsächliche Lage für unsere Tauchboote geschaffen,
die, falls diese sich nicht der Gefahr der Vernichtung durch angeblich friedliche
Handelsschiffe aussetzen wollten, sofortiges Torpedieren der Schiffe für den
Regelfall notwendig machte. Englische Reeber hatten schon vor dem Kriege
auf Anweisung der britischen Admiralität eine Anzahl ihrer großen Linien¬
dampfer mit Geschützen versehen, ohne daß diese Dampfer als Hilfskreuzer
gelten sollten. Im Laufe des Krieges wurden zahlreiche weitere Dampfer be¬
waffnet, allerdings nur zu Verteidigungszwecken, wie der britische Botschafter
in Washington der amerikanischen Regierung am 25. August 1914 versicherte.
Nach deutscher Auffassung verliert dadurch das Handelsschiff den Charakter als
friedliches Schiff, nach englisch-amerikanischer Auffassung jedoch nicht, so lange
das Schiff die Waffen bloß zur Verteidigung sührt. Der Meinungsstreit kann
auf sich beruhen*), da jedenfalls auch gegenüber dem nur zur Verteidigung
bewaffneten Schiffe den Tauchbooten nicht zugemutet werden kann, bei ihrer
großen Verletzbarkeit auf dem Wasser sich aufgetaucht dem Geschützfeuer des
aufzubringenden Schiffes auszusetzen. Denn schon im Augenblick des Angehalten-
werdens würde sich dieses im Verteidigungszustande befinden.
Aber mehr noch: jene Versicherung des britischen Botschafters erwies sich
bald als falsch. In geheimen, auf gekaperten Dampfern gefundenen Schrift¬
stücken der britischen Admiralität werden die Kapitäne der Handelsschiffe an¬
gewiesen, gegen die deutschen Tauchboote angriffsweise vorzugehen, das Feuer
mit den bis zum Angriff versteckt zu haltenden Geschützen zu eröffnen und zu
besserem Gelingen sich falscher Flaggen zu bedienen. (Wiedergabe der Schrift¬
stücke in der Denkschrift der deutschen Regierung an die neutralen Mächte vom
8. Februar 1916.) Von zahlreichen Fällen solcher heimtückischen Angriffe ver¬
bunden mit Flaggenbetrug haben Tauchbootführer, denen es gelungen ist, dem
Angriff zu entgehen, berichtet. Wie viele unserer braven Bootsbesatzungen der¬
artigen Angriffen zum Opfer gefallen sind, bleibt ein Geheimnis des sie bergenden
Meeres. Durch diese unwiderleglicher Feststellungen ist selbst der letzte Schein¬
grund, der etwa, auf die Gebote der Menschlichkeit gestützt, gegen die ZMssigkeit
sofortiger Torpedierung der feindlichen Handelsschiffe erhoben werden könnte, ge¬
fallen. Keine Rücksicht auf die friedliche Mannschaft und die Passagiere des
Schiffes darf den Tauchbootführer für den Regelfall abhalten, das Gebot der
Kriegsräfon zu erfüllen. Handelsschiffe, die zu Angriffszwecken bewaffnet sind,
sind nicht mehr friedliche Schiffe, auch nicht Kriegsschiffe, ihre Besatzungen sind
vielmehr nach Völkerrecht als Seeräuber zu behandeln. Weitgehende Milde
übend betrachtet sie die deutsche Regierung dennoch als Kriegführende. Aber
auch das unbewaffnete Schiff unserer Feinde, es sei denn als ungefährliches sofort
erkennbar, ist nunmehr dem gleichen Schicksal verfallen. Der Tauchbootführer
kann nicht stets, ohne sein Boot aufs schwerste zu gefährden, zuvor feststellen,
ob ein Schiff bewaffnet ist oder nicht, überdies sind auch die unbewaffneten
Schiffe unter Zusicherung von Belohnungen angewiesen, Tauchboote zu rannen.
So hat auch hier wiederum das völkerrechtswidrige Verhalten Englands,
dem sich seine Verbündeten wie immer angeschlossen haben, eine Lage herauf¬
beschworen, die Deutschland zu einem Verfahren zwingt, das zwar rechtmäßig,
aber beklagenswert wegen seiner etwaigen Folgen ist, — Folgen, die unseren
Gegnern freilich nicht unwillkommen sind, führen sie doch leicht zu für uns
ungünstigen politischen Verwicklungen, wie u. a. der Fall der Lusitania lehrt.
Die nächste und häufigste Folge ist die große Geführdung der Mannschaft
und der Reisenden auf feindlichen Handelsschiffen. Die amerikanische Regierung
hält es in ihrer Note vom 15. Mai 1915 für eine selbstverständliche Regel,
die, wie sie erwartet, auch die deutsche Negierung anerkennen werde, daß das
Leben von Nichtkämpfern durch die Zerstörung eines unbewaffneten Handels¬
schiffes nicht in Gefahr gebracht werden könne; sie glaubt, das Deutsche Reich
für eine absichtliche wie zufällige Verletzung amerikanischer, auf Schiffen krieg¬
führender Staaten reisender Bürger streng verantwortlich machen zu müssen.
Wie unhaltbar und ungerecht dieser Standtpunkt ist, hat schon der amerikanische
Senator W. I. Stone durch seine Bemerkung über das Schicksal der Lusitania-
Fcchrgäste beleuchtet: „Einmal an Bord eines britischen Schiffes waren sie auf
britischen Boden. War ihre Lage nicht im wesentlichen dieselbe, wie beim
Aufenthalt innerhalb der Mauern einer befestigten Stadt? Wenn amerika¬
nische Bürger innerhalb einer belagerten oder bedrohten Stadt verbleiben, und
der Feind greift an, was sollte dann unsere Regierung tun, wenn unseren
Staatsangehörigen ein Leid geschähe?" Und, so können wir weiter fragen,
vernichtet nicht auch die Seemine das unbewaffnete Schiff so gut wie das
bewaffnete, ja sogar das neutrale wie das feindliche? Und dennoch ist trotz
der Gefährdung friedlicher Reisender das Legen von Seculum innerhalb gewisser
Schranken völkerrechtlich erlaubt, und es bleibt erlaubt, auch wenn Menschen¬
leben wirklich vernichtet werden. Weit eher noch muß dies für das plötzliche
Torpedieren der feindlichen Schiffe gelten. Denn die Gefährdung der Schiffs¬
insassen hat hier in Wahrheit ihren Grund in der völkerrechtswidrigen Schiffs'
bewaffnung. Diese allein nötigt uns, jedes feindliche Schiff, auch das un¬
bewaffnete, das als solches ja nicht erkennbar ist, ohne Warnung zu zerstören.
Selbst die Anwesenheit von zahlreichen Fahrgästen, seien es Angehörige von
feindlichen oder neutralen Staaten, darf den Tauchbootführer nicht von solchem
Vorgehen abhalten, es sei denn, daß die dadurch zu erzielende Schädigung des
Feindes in gar keinem Verhältnis zu der Größe der Opfer stände. Das war
beispielsweise bei der Zerstörung des Dampfers Lusitania nicht der Fall, der
ungeheure Mengen von Munition und furchtbaren Sprengstoffen in feinem
Schiffsbauche barg, hinreichend um tausende und abertausende unserer Söhne
und Brüder zu töten und zu verstümmeln. Und wenn dieser Dampfer, vor
dessen Benutzung wiederholt ernstlich gewarnt worden war, aus falscher Rücksicht-
nahme auf die Schiffsinsassen nicht torpediert worden wäre, wäre das nicht
einem Freibriefe für alle weiteren Fahrten von munitionsbeladenen Paffagier¬
dampfern gleichgekommen? Oder mit welchem besseren Rechte hätten spätere
Dampfer zerstört werden können? Der Standpunkt der amerikanischen Regierung
läuft in Wahrheit darauf hinaus, daß durch völkerrechtswidrige Maßnahmen
des einen Kriegführenden dem andern der Gebrauch der rechtmäßigen Waffe
unmöglich gemacht werden kann, daß uns somit der Tauchbootkrieg gegen die
feindlichen Handelsschiffe vereitelt werden würde.
Jedoch nicht nur auf feindlichem Schiff sind Neutrale gefährdet, sondern
unter Umständen auch auf neutralem Schiff — eine Folge des Flaggsnbetrugs
unserer Feinde. Das Hissen einer falschen Flagge, um der Aufbringung des
Schiffes zu entgehen, ist völkerrechtlich unzulässig, das britische auswärtige Amt
bezeichnet es allerdings unter Berufung auf inneres englisches Recht als einwandfrei.
Aber England kann weder über die Benutzung der Flagge eines anderen Staates
selbstherrlich entscheiden, noch kann es mit Zustimmung dieses Staates eine
völkerrechtliche Regel in ihr Gegenteil verkehren. Immerhin wiegt diese uner¬
laubte Kriegslist unter gewöhnlichen Umständen nicht allzu schwer, da sie die
neutrale Schiffahrt nicht schädigt, vielmehr nur den Gegner zu einer mehr oder
weniger lästigen Prüfung der Nationalität des Schiffes nötigt. Allein das
Hissen neutraler Flaggen, wie es planvoll nach Anordnung der britischen
Admiralität geschieht, wird ruchlos, wenn dadurch neutrale Schiffe nebst ihren
Insassen gefährdet werden. Und das ist der Fall wegen der den feindlichen
Schiffen drohenden plötzlichen Torpedierung. Diese droht nun auch dem neutralen
Schiffe, wenn es durch die Verkettung von unglücklichen Umständen in den
ernstlichen Verdacht gerät, ein feindliches zu sein. Den Tauchbootführer braucht
hierbei kein Verschulden zu treffen. Auch hier ist der wahre Grund des das
Schiff und seine Insassen treffenden Verhängnisses das völkerrechtswidrige
Gebühren unserer Gegner. Nichtsdestoweniger glaubt die amerikanische Regierung
in ihrer Note vom 12. Februar 1915, in der irrtümlich erfolgten Vernichtung
eines amerikanischen Schiffes oder des Lebens amerikanischer Bürger schwerlich etwas
anderes wie eine unentschuldbareVerletzung neutraler Rechte seitens Deutschlands er¬
blicken zu können. Das ist nichts anderes wieVerkennung eines obersten Rechtsgrund¬
satzes, daß allein der schuldhast Handelnde für den Erfolg verantwortlich ist, nicht
der entschuldbar Jrrende. Sache der Neutralen wäre es, mit allen Mitteln den
Mißbrauch ihrer Flagge durch England und seine Verbündeten zu verhindern.
Wie nie ein Krieg zuvor zieht dieser Krieg die neutralen Länder, zumal
die Deutschland benachbarten, in Mitleidenschaft. Neben reichen Gewinnen, die
einzelnen ihrer Angehörigen zufließen, wird den übrigen Entbehrung und Leiden
reichlich zuteil. Nie erhörte Bevormundung und Eingriffe in die Selbstbestimmung
der Staaten und ihrer Wirtschaftsmächte sind an der Tagesordnung: Überwachung
der Zufuhr und Ausfuhr, selbst Zuweisung der Brotrationen und tausend andere
Ungerechtigkeiten mehr. Und all dies wird geduldig ertragen.
Auch unsere Seekriegsmaßnahmen, obwohl sie rechtmäßig sind, haben
Unbequemlichkeiten und Härten für die Neutralen im Gefolge, aber sie sind
notwendig geworden durch die Völkerrechtswidrigkeiten unserer Gegner: durch
die völkerrechtswidrige Ausdehnung der Bannwarenliste, die völkerrechtswidrige
Bewaffnung der Handelsschiffe und den völkerrechtswidrigen Flaggenbetrug.
em heutigen Geschlecht ist Leibniz nicht viel mehr als ein be¬
rühmter Name, sein Lebenswerk ist dem Bewußtsein der Ge¬
bildeten allmählich verloren gegangen, und seine Schriften werden
fast nur noch von dem Fachphilosophen gelesen. Seinen beiden
größten Nachfahren in der Welt des deutschen Denkens ist es in
dieser Hinsicht besser ergangen: Kant regt noch heute viele zum vertieften
Studium seiner sicherlich nicht leichter zu durchdringenden Werke an, und Hegels
Weltanstcht ist auch heute noch jedem geistig Weiterstrebenden wohl vertraut.
Und doch ist Leibniz der Vater der deutschen Philosophie und unseres gesamten
Bildungslebens. Aber es geht ihm ungefähr so wie Klopstock in unserer
Dichtung: jederman weiß, daß dieser nach Hebbels Wort der deutschen Poesie
die Saiten geschaffen hat, auf denen sie dann mächtig zu schlagen begann, aber
niemand hat mehr den ernsthaften Willen, seinen eigenen Tönen zu lauschen.
In der Philosophie war die große, besondere Tat des deutschen Volkes die
theoretische und praktische Neubegründung und Ausgestaltung des Idealismus,
eine Tat, deren geniale Bedeutsamkeit wir heute nur noch sehr schwer voll er¬
messen können, weil die idealistische Weltanschauung längst zu den Selbstver¬
ständlichkeiten unserer Bildungsvorstellungen gehört. Daß der Geist das be¬
herrschende Prinzip aller natürlichen Ordnungen ist, daß die Welt der Körper
und materiellen Zustände nur einen unvollkommenen Ausfluß geistiger Kräfte
darstellt, daß der eine, unendliche Geist alle Formen des Daseins bildet und be¬
herrscht, ist uns von vielen Denkern nach Leibniz wesentlich schmackhafter und an¬
ziehender gesagt worden. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Leibniz der erste war,
der diese Gedankengänge vortrug, und mehr als das, der alle diese Ideen bereits zu
einem großartigen Gesamtsystem zusammenschloß, aus dem spätere Philosophen sich
die Grundelemente ihrer eigenen Metaphysik zusammenlasen, die sie dann im
Zeitalter einer weitergeschrittenen Forschung methodischer verarbeiten konnten.
Und es ist gewiß dabei beachtenswert, daß Leibniz aus der andern großen
Quelle, aus der sich die späteren Theoretiker des deutschen Idealismus immer
neu befruchteten, aus Platon, nur sehr wenig, um nicht zu sagen, gar nichts
geschöpft hat. Als Schelling sein „System des transzendentalen Idealismus"
schrieb, als Hegel den stolzen Gedankenbau seiner metaphysischen Logik auf-
türmte, stand, durch die neuhumanistischen Studien jung belebt, Platon als
Pate da und machte der idealistischen Denkgesinnung die Arbeit noch leichter,
die an und für sich schon auf den Schultern von Leibniz und Kant ruhte.
Leibniz aber stand als ein ganz Einsamer inmitten einer völlig andern Welt.
Als er philosophisch mündig wurde, spaltete sich das europäische Denken in
zwei Hauptströmungen: auf der einen Seite stand die dogmatisch-intellek-
tualistische Richtung der von Descartes ausgehenden Franzosen, auf der andern
die sensualistische, allen spekulativen Träumereien abholde Erfahrungsphilosophie
der Engländer. Bei den skeptisch-geistreichen Fortsetzern Descartes war nirgends
ein idealistischer Lufthauch zu spüren, im Gegenteil, die französischen Aufklärer
hatten von dem Altmeister des gallischen Denkens nur die materialistischen
Züge übernommen und alles Lebendige zu einem Ausdruck des mechanisch ge¬
ordneten und bewegten Stoffes erniedrigt. Auch die Engländer, von Berkeley
abgesehen, hatten sich zu einem höheren Gedankenflug kaum aufschwingen können
und verflachten sich in praktischen Untersuchungen des Alltagslebens; wo sie aber
einmal auf die höchsten Fragen des Daseins eingingen, da ließen sie zwischen
Wirklichkeit und Idee eine Lücke klaffen, die auch ihre hochentwickelte Psychologie
nicht ausfüllen konnte. Leibniz, vielseitiger als sie alle, schuf sich sein hohes
Reich aus eigener Spekulation, in dem von einem einzigen geistigen Zentral¬
punkt aus ohne dualistische Zugeständnisse und ohne die lähmende Enge kurz¬
sichtiger Empirie ein neues, wahrhaft einheitliches Weltgebilde entstand.
Wenn man indessen Leibniz als den ersten großen Denker der Deutschen be¬
zeichnete, so tat man das früher immer nur unter recht äußerlichen Gesichtspunkten;
die Chronologie und die Lebensgeschichte des Mannes verlangten es so. Tiefere
Beziehungen zwischen Leibniz und der deutschen Nation aufzusuchen, seinen
schöpferischen Eigengeist den lebendigen Kräften der deutschen Seele vergleichend
gegenüberzustellen, darauf ist man aus mancherlei kulturpsychologisch nicht un¬
interessanter Gründen niemals verfallen. Leibniz schrieb lateinisch; das taten
die Männer der gelehrten Zunft damals freilich noch alle. Leibniz schrieb aber
auch französisch, wenn er im Auftrag irgendeines hohen Gönners seine Ge¬
danken über eine umfassende philosophische Frage niederlegte. Und er schrieb,
was bei seiner Universalbegabung nicht wunderbar war, ein so elegantes
Französisch, daß ihn die Franzosen wie zu ihren Nationalschriststellern gehörig
zählten. In Deutschland ist er darum als geistvoller Essayist, als Schriftsteller
der Nation niemals in Betracht gekommen; als sein Schüler Wolfs die vielen
„Vernünftigen Gedanken" — so begann bekanntlich fast jeder seiner Schriften¬
titel — in breitere Kreise trug, da hatte die deutsche Sprache in der deutschen
Wissenschaft vollends gesiegt, und trotz allen sachlichen Interesses an Leibnizschen
Fragestellungen und Lehrsätzen betrachtete man ihn selbst wie einen jener
europäischen Altvüter, die ihren mittelalterlich-scholastischen Mantel mit höchster
kosmopolitischer Würde um die Schultern geschlagen hatten und überall daheim
und überall fremd waren. Dazu gesellen sich nun auch Gründe, die einen
engeren Zusammenhang mit den inhaltlichen Werten von Leibnizens Lebens-
wer! haben. Er wurde nämlich zumeist mit den großen Rationalisten des
westlichen Europa, mit Descartes und Spinoza, in einem Atemzuge genannt,
wobei man fast immer übersah, daß der gedankliche Sinn der Leibnizschen
Lehren mehr Gegensätze als Übereinstimmungen mit diesen aufweist. Richtig
daran war nur, daß die Methode seines Philosophierens, also ein formaler
und daher im Gesamtbereich des Disziplinen sich vornehmlich auf die Er¬
kenntnistheorie beziehender Gesichtspunkt, tatsächlich rein rational ist. Diese
ganz in das Denken eingeschlossene Erkenntnislehre ist von Kant überwunden,
ebenso wie auch Leibnizens intellektualistische Ethik vor dem Feuer des großen
moralischen Imperativs erblaßte. Er selbst ging den Auseinandersetzungen mit
zeitgenössischen Gedankenwegen niemals aus dem Wege, er suchte sie vielmehr
in mancher streitbaren Fehde, aber es waren damals noch ausschließlich Aus¬
länder, die selbst erst sehr viel später sich in Deutschland wissenschaftliches
Heimatrecht erwarben. Ein Gelehrter von internationalem Ruf, war sein
Name an den Akademien zu Paris und London in aller Munde, aber auf die
deutsche Bildung wirkte zunächst nicht das kühne System seiner Weltdarstellung,
sondern allerlei verwässerte Nutzanwendungen, durch die seine Schüler, lauter
nüchterne Aufklärer, seine Ideenwelt zur Schulweisheit verflachten. So stieg
schließlich am philosophischen Himmel das Gestirn Kants empor. Und doch
hat der Königsberger Philosoph von ihm mehr übernommen als man ge¬
wöhnlich annimmt, auch war Kant nicht imstande, die Metaphysik seines Vor¬
gängers zu vernichten, so sehr er auch gegen die theoretisch-kritischen Voraus¬
setzungen einer solchen Metaphysik polemisierte.
In Frankreich stand Leibniz dagegen von Anfang an in hohen Ehren,
woran der Spott einzelner, wie etwa der Voltairs über seinen Kulturoptimismus
nichts änderte. Die französische Wissenschaft hat sich von seiner klaren und
dabei doch schwungvollen, bilderreichen Schreibart stets stark angezogen gefühlt
und ihm umfangreiche Spezialforschungen gewidmet. Noch kürzlich waren es
bei einer internationalen Tagung der wissenschaftlichen Akademien die französi¬
schen Gelehrten, die den Antrag stellten, eine große Gesamtausgabe von seinen
Schriften mit Beihilfe aller Nationen zu veranstalten.
Hat aber Leibniz, der Kosmopolit nicht doch Sonderbeziehungen zum
deutschen Geist, ist seine schöpferische Leistung nicht tief aus dem deutschen Kultur¬
willen geboren? Nicht als ein zum Zweijahrhunderttag seines Todes künstlich
unternommener Rettungsversuch soll diese Frage aufgeworfen sein. Hat doch
kein Geringerer als Wilhelm Wundt mit freiabwägender Gerechtigkeit das Welt¬
bild dieses Mannes im Hinblick auf seine Zusammenhänge mit der deutschen
Kulturanschauung der Folgezeit untersucht. Dabei ist er zu dem erstaunlichen
Ergebnis gekommen, daß wir bei Leibniz an dem Ausgangspunkt der spezifisch
deutschen Ideenentwtcklung stehen. Diese Bewertung bezieht sich freilich vor¬
wiegend nur auf seine Metaphysik, aber damit doch auf den Angelpunkt aller
philosophischen Prinzipienlehre. Worin liegt das Wesen alles Seins, wo liegen
die Grundmaße seiner Bestimmbarkeit? Die Philosophie aller Zeiten hat
darauf zu antworten gesucht, pluralistische und monistische, idealistische und ma¬
terialistische Systeme hatten sich abgewechselt. Demokrit und Platon hatten sich
gegenübergestanden, Spinoza und Locke traten sich entgegen. Schließlich siegte
der englische Realismus durch die mächtige Unterstützung seitens der jungen
exakten Naturwissenschaft: in das Newtonsche Weltbild wollten scheinbar idealistische
Träumereien nicht mehr passen, und Kepler hatte den Himmel entvölkert und das
göttliche Gesetz des Weltalls in dürre Formeln gefügt.
Und da tritt Leibniz auf und hat den Mut, einen neuen Idealismus zu
lehren. Hat diesen Mut nicht etwa aus der naiv-unbekümmerten Phantastik
und selbstversunkenen Kritiklosigkeit eines Jakob Böhme heraus, sondern als
kühler Kopf, der in der mathematischen Naturwissenschaft sich zum Meister ge¬
bildet und im Streit um die Probleme der Infinitesimalrechnung und das Maß
der Kräfte sich siegreich bewährt hatte. Das Merkwürdige ist nun. daß in
Leibniz' theoretischem Weltgebäude höchste Phantastik und abgeklärteste logische
Besonnenheit sich beinahe restlos verschmelzen. Die Materie wird zu einer ver¬
worrenen Vorstellung erniedrigt, das Wirkliche wird zum subjektiven Schein,
die idealen geistigen Kräfte des Weltalls werden Schöpfer und Beherrscher alles
Seienden. Dem Realismus war der Geist an sich leer, eine tabula r^a:
sein ganzer Inhalt wurde erst durch die Außenwelt vermittelt. Nach Leibniz'
Betrachtungsweise kann nun nichts in den Geist hineinkommen, was nicht schon
als Anlage in ihm vorgebildet war, alle Erkenntnis ist ein Schöpfen aus den
Tiefen des eigenen Selbst. Das Erkennen wird zu einem aktiv umformenden
Verhalten, zu einem Tätigen, einer weltbildenden Kraft. Mit der oberfläch¬
lichen Vorstellung der läsas innatae des Descartes hat diese Auffassung nichts
mehr zu tun. Wenn Leibniz freilich die vöriteg cle fair auf eine soviel
niedere Stufe stellt als die v6rien3 als rai8vn, so darf das nicht dahin mi߬
verstanden werden, daß er dem reinen Intellektualismus allein das Wort
redete. Ganz abgesehen von dem erkenntnistheoretischen Für und Wider, liegt
in der Überspannung des geistigen Prinzips die Ursprungsstunde für den Ge¬
dankengehalt unserer Klassik. Die geistigen Wahrheiten werden der Mittel¬
punkt, der Quell alles Daseinswertes und aller Daseinsbetätigung. Vöntes cle
raison, das sind zugleich alle^jene Jdeenwerte, denen der Künstler sein Leben
opfert, für die der Soldat sein Blut vergießt. Nach Leibnizens Anschauung
gehört freilich für den reinen Wert eines solchen Tuns die Einsicht in dessen
absolute Vernunftsrichtrgkeit. Was Leibniz noch von der bloßen Vernunft ver¬
langte, haben später andere wie etwa Fichte, in den Willen gelegt, aber die
Grundanschauung bleibt dieselbe: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut!"
Diese Gedanken finden sich bei Leibniz nun nicht etwa nur in der Form
gelegentlicher Aphorismen, dann wäre ihr philosophisches Ausmaß gering; er
hat sie zu einem geschlossenen System der Metaphysik ausgebaut, ein System,
das schließlich in seiner Grundlage zu dem System deutscher Metaphysik
schlechthin geworden ist. Auch wer heute als Vertreter des kritischen Realis¬
mus die deduktive Metaphysik grundsätzlich ablehnt, kann doch ihre überragende
Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Weltanschauungswissenschaft nicht
leugnen. Von Leibniz zieht sich hier eine große Linie über Schellin g, Hegel,
Lotze bis auf Wundt, sie alle sind metaphysische Systematiker der deutschen
Weltanschauung. Leibniz großes Verdienst war es, in seiner Monadologie
die untrennbare Einheit von Welt, Menschheit und Dasein als den ver¬
schiedenen Übergangsstufen des einen Geistes festgelegt und so stark ausgeprägt
zu haben, daß jeder Umsturzversuch dieser Weltbetrachtungsmaxime durch die
Jahrhunderte hindurch bei uns als nationalfremd erschienen ist. Vielleicht ist
es Leibniz zum allergrößten Teile mit zu verdanken, daß wir im neunzehnten
Jahrhundert dem englischen und französischen Positivismus gegenüber so zu¬
rückhaltend blieben. Selbst der in engster Beziehung zu den Naturwissen¬
schaften stehende Lotze besann sich auf Leibnizens Monaden zurück und prägte sich
aus der Lehre von ihrem Sein und Wirken die Grundsätze seiner Metaphysik.
Wir müssen den eigenartigen Gedankengang der Leibnizschen Monaden¬
lehre in kurzen Zügen wiedergeben, um eine Vorstellung von der geschlossenen
Methodik dieses ersten deutschen Idealismus zu vermitteln. Für Spinoza war
die Substanz noch etwas bestimmungslos Allgemeines, Leibniz faßt sie als ein
Tätiges, als eine geistig wirkende Kraft auf, er vergleicht sie einem gespannten
Bogen, der sich, sobald der Widerhalt weggenommen ist, aus eigener Energie
bewegt und ausdehnt. Die eine Kraft löst sich in eine Reihe von Kraft-
momeuten auf, das sind die lebendigen Einzelwesen, die Monaden. Es
gibt somit eine Vielheit substantieller Einzelheiten, eine Vielheit von Mo¬
naden, die gleichzeitg den Kern des physischen wie des geistigen Universums
bilden. Diese Monaden sind daher auch keine Atome, sondern ideale punktuelle
Einheiten, die sich voneinander qualitativ unterscheiden. Sie sind als „meta¬
physische Punkte" nichts Reales, sondern seelische Wesen. Jede aus der un¬
endlichen Vielzahl ist in ihrem Mikrokosmos zugleich ein Spiegel des Universums.
Von einem Geiste, der alldurchdringend wäre, könnte daher gleichsam aus einer
einzigen Monade alles gelesen werden, was auf der Welt geschieht. Die Mo¬
naden haben eine Reihe von dunkleren und helleren Vorstellungen über den
Zustand ihrer selbst und aller übrigen Monaden.
Darüber baut nun Leibniz die kühne und neue Welidarstellung auf, die
den Idealismus der Neuzeit begründete und dem deutschen Denken im europä¬
ischen Kulturkreis zum Siege verhalf. Die Welt ist die Summe aller Monaden,
also aller geistigen Kräfte, jedes Ding, jeder Körper ist ein Monadenorganismus.
Damit ist die vulgäre, im Denken der Neuzeit bis auf Leibniz geübte Welt-
betrachtung auf den Kopf gestellt: das Wesen der Dinge liegt nicht in den
Körpern und dem, was wir an diesen Körpern psychologisch wahrnehmen, sondern
in deren geistigen Urbeftandteilen, der Geist baut im einfachsten Sinne des
Worts den Körper als solchen auf, das bekannte Wort aus Schillers „Wallen-
stein" könnte direkt in der „Monadologie" stehen. Wie ist nun der innere
monadologische Zusammenhang der Welt zu denken? Er beruht eben auf
der graduellen Abstufung der erkennenden Vorstellungskraft der Monaden.
Eine Monade untersten Ranges wird eine solche zu nennen sein, die bloß vor¬
stellt, also auf der Stufe der verworrensten Erkenntnis stehen bleibt; es handelt
sich hier also um die Erscheinungen der anorganischen Natur. Auf einer höheren
Stufe wird die Monadenvorstellung als eine bildende Lebenskraft, aber noch
ohne Bewußtsein tätig, das geschieht in den Bezirken der Pflanzenwelt. Auf
einer weiteren Stufe nimmt die Monade Empfindung und Gedächtnis an, so
offenbart sie ihr Wesen in der Tierwelt. Und schließlich erhebt sich die Monade¬
seele zu immer reinerer Bewußtheit, sie wird Vernunft und ergeht sich in einer
kombinierenden und reflektierenden Tätigkeit. Endlich hat sie sich zum absoluten
Geist erhoben, der in seiner vollendeten Ausprägung ohne Störung durch den
Zusammenhang mit andern, niedern Monaden sich nur im Begriff der Gott¬
heit vorfindet. Die Berührungspunkte mit der platonischen Idee werden hier
offenbar, aber lehrreicher ist noch der Vergleich mit einem andern typisch deutschen
Denker, mit Schopenhauer. Sein Stufenreich der Ideen ist ohne Leibnizens
Vorantritt kaum denkbar, und man darf es wohl als mehr denn eine Vermutung
hinstellen, daß alle jene Gedankengänge, die sich in der breiteren Meinung der
Gebildeten als Pantheismus darstellen, auf jenes Triumvirat von Platon,
Leibniz und Schopenhauer zurückgehen. Wenn etwa Bismarck am Eingang
der „Gedanken und Erinnerungen" von einem normalen pantheistischen Ergebnis
unserer Gymnastalbildung redet, so ist damit nicht die mathematische Substanz¬
theorie eines Spinoza gemeint, sondern die methaphysische Vorstellungswelt von
Leibniz — Schopenhauer, die sich sehr viel mystischer und poetischer gibt. Vom
dunklen, verworrenen Drang steigt die Welt bis zu der farblosen Klarheit der
reinen Idee hinauf; das ist die Auffassung, die man vom Deutschen immer wieder
zu hören bekommt, wenn man ihn nach seinem metaphysischen Bekenntnis fragt.
Es hat dem deutschen Denken auch von jeher näher gelegen, nach den
Zwecken des Weltgeschehens als nach dessen Ursachen zu fragen. In dem
Zweckbegriff, den Leibniz in der philosophischen Betrachtung zu einer Zentral¬
frage erhob, wird durch die ideologische Harmonie aller Dinge das Problem
der Weltbestimmung gelöst. Nicht die Annahme einer mechanischen Abfolge von
einer ersten bewirkenden Ursache aus vermittelt uns das Verstehen alles Werdens
und Vergehens in der Natur, sondern aus der Tatsache, datz die Monaden¬
ordnung des Weltalls eine größtmögliche Harmonie verbürgt, läßt sich ein System
von Zwecken aufbauen. Diese Harmonie ist überall prästabiliert, das heißt,
sie liegt von Anfang an in der idealen Existenz der Monaden eingeschlossen.
Der Weltverlauf vollzieht sich nicht nach blinder Gesetzmäßigkeit, sondern in
der Form eines immer bewußteren Aufstiegs zu der vollkommeneren Durch¬
dringung der Welt mit geistigen Werten. Darum kann auch die Gottheit, die
höchste Offenbarung des monadologischen Prinzips, niemals der Vorwurf eines
zwecklosen oder gar zweckwidrigen Handelns treffen. Gott sah unendlich viele
Welten als möglich vor sich, aber er mußte die zweckmäßigste wählen, weil er
sich sonst mit seinem eigenen Wesen in Widerspruch befunden hätte. So ist auch
die berühmte Lehre von der besten Welt und damit der in der deutschen
Theologie durch ihn höchst fruchtbar gewordene Gedanke der Theodizee aus dieser
idealistischen Metaphnsik erwachsen. Das Böse, das Gott in der Welt duldet, ist eine
conäitio sine qua non der Zweckidee, weil ohne Böses keine Freiheit und ohne
Freiheit keine Tugend möglich ist. Die Freiheit aber, die aus der Vernunft kommt,
ist der höchste Gedanke der praktischen Philosophie, in ihr bewährt sich der
Mensch in seiner ihm im Zweckbereich der Welt zugewiesenen Selbstbestimmung.
Es spielt hier letzten Endes in den klaren Gedankenbau eine tiefe, ra¬
tional nicht auflösbare Mystik, eine innige Versunkenheit in die Wunder der
Welt und der Gottheit. Daß dieser scharfe Geist sich auch wieder in einem
fast kindlichen Hingenommensein an unerfüllbare Träumereien hing, ist, fast
wird man versucht, leider zu sagen, ein sprechender Beweis für feine echt
deutsche Stammeszugehörigkeit. Der Zwiespalt zwischen einem starken persön¬
lichen Kämpferwillen und einer durch Übermaß theoretischer Erwägungen auf
eine tatensremde Versöhnlichkeit und Ausgleichung der Gegensätze drängenden
Geistesrichtung hat ihn nie verlassen. Es steckt etwas Hamletisches in seinem
Wesen, das sich zu einer immer ungestillten innern Unruhe verdichtet und ihn
ohne Rast durch die Länder getrieben hat. Der deutsche Wandertrieb war in
ihm so mächtig, daß kein noch so lockendes Angebot ihn irgendwo dauernd
fesseln konnte, denn die nach tausend Richtungen auseinanderflatternden Inter¬
essen seines Geistes mußten immer neue Nahrung haben. Er träumte von
einer christlichen Universalreligion, er glaubte fest, daß es die Bestimmung und
das Wesen der Welt sei, alles Widerstreitende auszugleichen und darum auch
in Glaubensfragen einmütig zu werden. Er träumte auch von einem Völker¬
frühling, der alle Nationen in gegenseitiger Liebe umschlingen sollte. Aber
derselbe Mann war auch wieder eine trotzige deutsche Kämpfernatur, zu keinem
Zugeständnis in wissenschaftlichen Dingen bereit und im geistigen Kampf mit
den ausländischen Gelehrten sehr viel gröber in der Wahl der Formen als
diese. Und auch als Politiker pflegte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen,
seine flammende Streitschrift „rex Lkn8tiani88inn8« gegen den Sonnenkönig
war ein Ausdruck unverfälschten deutschen Zornes.
Leibniz als Gelehrter und Mensch war Universalist, und das Deutschtum
hat zum allergrößten Teil unbewußt aus ihm gesprochen. Aber für die
Prägung jenes besonderen deutschen Geistes, den das achtzehnte Jahrhundert
ausbildete und das neunzehnte zu immer sichtbarerer Entfaltung führte, ward
seine Lehre zum unverrückbaren Grundstein. Auch der deutsche Geist hat einen
ewigen Zug ins Kosmopolitische wie der von Leibniz, einen Hang zur Welt¬
versöhnung, bis er. einmal aus seinem theoretischen Gleichmut aufgeschreckt, zur
deutschen Schwertschrift wird. _
eilen prägt sich schon bei den Mitlebenden der Gedanke aus, daß
mit einem geschichtlichen Ereignisse ein neues Zeitalter beginnt.
Als Odoaker den letzten Kaiser des Weltreiches Romulus
Augustulus absetzte, um selbst als deutscher Heerkönig und Statt¬
halter des im Osten fortlebenden Römerreichs Italien zu be¬
herrschen, dachte kein Mensch: Jetzt ist das Altertum zu Ende, und das
Mittelalter beginnt. Und als Columbus, die westliche Durchfahrt nach Indien
suchend, auf eine amerikanische Insel stieß, oder Luther in einem Mönchsstreite
mit Tezel die fünfundneunzig Thesen an die Wittenberger Schloßkirche schlug,
lag beiden, tief in mittelalterlichen Anschauungen befangen, jeder Gedanke fern,
damit ein neues Zeitalter zu eröffnen. Doch mit Beginn des Weltkrieges
brach sich mit unwiderstehlicher Gewalt die Überzeugung Bahn: Alles, was
war, versinkt, eine neue Zeit bricht an. Glücklich werden spätere Geschlechter
die preisen, denen es vergönnt war. das Gewaltige selbst zu erleben und dabei
irgendwie mitzuwirken. Und in der Tat, von riesenhafter Größe müssen" Er¬
eignisse sein, die schon den Mitlebenden den Beginn eines neuen Zeitalters
ankündigen.
So wie es bisher war, kann es nicht bleiben, nach dem Kriege muß alles
anders werden. An dieser Tatsache ist nicht zu zweifeln, nur das Wie ruht
in der Zukunft Schoße und öffnet der Phantasie und der Prophetie weitesten
Spielraum. Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik dürfen diese sich nicht
äußern. Denn eine hochweise Negierungspolitik verbietet jede Erörterung der
Kriegsziele, abgesehen von der, daß wir uneigennützig nichts haben wollen,
und das Weltringen auslaufen soll wie das Hornberger Schießen, was natür¬
lich kein Mensch glaubt. Um so mehr kann man den phantasievollen Geist auf
dem Gebiete der künftigen inneren Politik sich tummeln lassen.
Deutscher Idealismus treibt hier die seltsamsten Blüten. Der Geist von
1914 soll auch nach dem Kriege fortwirken und erbitterte Parteikämpfe ver¬
hüten, und dazu gründet man auch noch einen Verein. Demgegenüber hatte
schon unser deutscher Lehrer in der Ober-Prima, Professor Gätke, der Vater
des bekannten vormaligen Obersten a. D. Gätke, das treffende Wort: „Be¬
geisterung ist keine Heringsware, man kann sie nicht einpökeln". Und wenn
der Reichskanzler unter lebhaftem parlamentarischen Beifalle das Wort prägte:
„Freie Bahn jedem Tüchtigen", so taucht sofort der Einwand auf, woran man die
Tüchtigkeit vor der Bewährung erkennt, und wer darüber zu entscheiden hat.
Eingehender hatten sich mit der künftigen Gestaltung der sozialen Frage zwei
Sammelwerke beschäftigt unter dem Namen „Die Arbeiterschaft im neuen Deutsch¬
land" und „Vom inneren Frieden des deutschen Volkes", die in diesen Blättern
eingehend besprochen worden sind.*) Ihnen schließt sich jetzt ein weiteres an,
das in fünfundzwanzig einzelnen Aufsätzen von Verfassern der verschiedenstenn
Parteirichtungen die künftige Gestaltung von Recht, Verwaltung und Politik im
neuen Deutschland zum Gegenstande der Erörterung macht.**)
Die größte Schwierigkeit besteht dabei allerdings zunächst darin, daß vor¬
läufig niemand weiß, wie die neuen Verhältnisse sich im einzelnen gestalten
werden, welche neuen Forderungen des Staats- und Wirtschaftslebens sich da
erheben, und welche Mittel zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehen. Es
sind alles Forderungen aus den bisherigen Zuständen und aus den bisherigen
Parteirichtungen heraus. Nichts wesentlich Neues, und alles schon dagewesen.
Vielleicht kommt doch nachher alles anders.
Nur die allgemeine Richtung der Zukunft steht wohl fest. Wir werden
nach dem Kriege mit einer sehr starken demokratischen Strömung und rin einem
allgewaltigen Staatssozialismus zu rechnen haben. Das Ideal des sozial¬
demokratischen Zukunftsstaates ist schon jetzt nicht mehr Zukunft, sondern wir
stecken schon mitten drin und werden nach dem Kriege mit unwiderstehlicher
Gewalt immer tiefer hineingetrieben werden. Während die sozialdemokratische
Partei in ihrer bisherigen Form zerbricht, werden ihre Ziele Wirklichkeit. Sie
kann sich nunmehr auf den Boden der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung stellen, weil diese selbst eine andere geworden ist, denn an den großen
Kladderadatsch, an den sich die restlose Verwirklichung des Zukunftsstaates an¬
schließen würde, glaubte schon längst kein verständiger Sozialdemokrat mehr.
Aber der geschichtliche Übergang ist gegeben.
Deshalb ist es sehr richtig, was Heinemann in dem einleitenden Aufsatze
über die soziale Kraft der Koalition sagt. Die Gewerkvereine haben während
des Krieges eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen gehabt. Noch immer ist in
jedem gesunden Staatswesen die Erlangung von Rechten abhängig gewesen
von der Übernahme von Pflichten. Die Erfüllung dieser Pflichten während
des Krieges gibt den Gewerkschaften die Anwartschaft, künstig auch in die
Organisation unseres öffentlichen Rechtslebens einzurücken. Das wirkt aber
Zurück auf die Umgestaltung des bisherigen privatrechtlich-individualistischen
Arbeitsvertrages des einzelnen Arbeiters zum Tarifvertrage der Arbeiterschaft
und seiner Einfügung in die Rechtsordnung.
Dagegen wiederholen die folgenden Aufsätze über die Ausgestaltung unserer
Rechtsordnung nur Forderungen, die bisher schon häufig gestellt worden sind,
ohne durch die öftere Wiederholung an Gewicht und Bedeutung zu gewinnen.
Der alte Vorkämpfer für Zulassung der Techniker zur Laufbahn der höheren
Verwaltungsbeamten, Professor Franz von der Technischen Hochschule zu
Charlottenburg, bricht auf diesem Steckenpferde noch einmal eine Lanze. Gewiß
wird im Wirtschaftsstaate der Zukunft die Technik eine immer größere Be¬
deutung gewinnen. Weshalb aber gerade die Fähigkeit, eine Maschine zu
bauen, die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst geben soll, während
man sich die nötige Kenntnis von Recht und Volkswirtschaft so nebenbei an¬
eignen soll, bleibt dabei unklar. Der Zentrumsmann Marx will den Richter
vor den Einwirkungen der Justizverwaltung auf seine Entscheidungen schützen,
gewiß ein Ziel aufs innigste zu wünschen, wenn diese Einwirkungen sich bisher
nur irgendwie in bedenklicher Weise gezeigt hätten. Der Sozialdemokrat Wolf¬
gang Heine hat namentlich vom Standpunkte der Klassenjustiz mehr Vertrauen zum
Volksrichter als zum Berufsrichter. Die Auffassungen darüber sind verschieden.
Nach meiner langjährigen richterlichen Erfahrung würde ich als unschuldiger An¬
geklagter die größte Furcht vor dem Schwurgerichte haben. Der Nationalliberale
Landgerichtspräsident von Campe wünscht in seinem Aufsatze über Richter, Anwalt
und Staatsanwalt den Staatsanwalt mehr zurücktreten zu lassen. Da würde
ich noch weiter gehen. Ich habe schon vor Jahren*) Rückkehr von Anklage¬
prozesse zum alten Jnquisitionsprozesse, aber mit Öffentlichkeit und Mündlichkeit
unter völliger Ausschaltung der Staatsanwaltschaft vorgeschlagen, ohne damit
gegenüber dem Gesetze der Trägheit in den überkommenen Anschauungen viel
Anklang zu finden. Riß will der Rechtsprechung eine freiere Stellung gegen¬
über dem Gesetze geben. Justizrat Bamberger verlangt Friedensrichter zur
vergleichsweisen Beseitigung verwüstender Rechtsstreitigkeiten. Das ist alles sehr
schön und brav, nur handelt es sich um alte, längst erörterte Forderungen,
die mit der neuen Gestaltung Deutschlands nach dem Kriege herzlich wenig zu
tun haben.
Eine zweite Gruppe von Aufsätzen beschäftigt sich mit der Gestaltung der
Arbeiterverhältnisse durch die künftige Rechtsordnung. Hier sind hauptsächlich
Leiter der Gewerkschaften verschiedenster Richtung zum Worte gekommen. Brauer
zeigt in einem Rückblick, der eigentlich mit dem neuen Deutschland nichts zu
tun hat, die Einwirkungen der Arbeiterbewegung auf die bisherige Rechts¬
entwicklung. Wisset fordert eine Vereinheitlichung des bisher von der Gesetz-
gebung sehr stiefmütterlich behandelten Arbeiterrechts, aber keineswegs seine
Gleichheit für alle Arbeiterklassen und zeigt namentlich am Tarifvertrage, der
später noch von Leipart besonders behandelt wird, wie wenig das geltende
Recht den Bedürfnissen der Zeit — aber schon vor dem Kriege — genügt.
Dazu kommen eine Reihe von Mängeln des Arbeiterversicherungsrechtes. Die
Ausführungen über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, die im Gegensatze
zum Jndioidualrecht der Gegenwart Eintritt in die Rechtsordnung fordern, von
Lederer berühren sich mit den einleitenden Bemerkungen von Heinemann und
sind dort bereits gewürdigt. Die Erörterung der Arbeitsnachweisfrage von
Cohen zeigt, daß angesichts der Bestrebungen der beiderseitigen Verbände, den
Arbeitsnachweis in die, Hand zu bekommen, eine gesetzliche Regelung nur auf
dem Boden des paritätischen Arbeitsnachweises zu einem befriedigenden Er¬
gebnisse führen kann. Die Aufsätze von Hoffmeister über die Landarbeiter¬
frage und von August Müller über die Konsumgenossenschaften fallen insofern
aus dem Rahmen, als sie nur die bestehenden wirtschaftlichen Zustände schildern,
aber keine neue Forderungen an das Recht der Zukunft stellen.
Doch wo sich alles erneut, kann auch die Verwaltung nicht die alte
bleiben. Datz gerade der Ingenieur statt des Juristen oder vorläufig wenigstens
neben ihm der gegebene Verwaltungsbeamte der Zukunft ist, wurde bereits in
anderem Zusammenhange erwähnt. Aber den grundlegenden Aufsatz liefert
Hugo Preuß mit seiner Neuorientierung — dies scheußliche Wort ist auch hier
unvermeidlich — der inneren Verwaltung. Um Preußen der Reichspolitik ge¬
fügig zu machen, die er sich natürlich durch einen nach links „orientierten"
Reichstag bestimmt denkt, weiß er ein sehr einfaches Mittel: der Reichskanzler
soll gleichzeitig preußischer Staatskanzler und. damit der Vorgesetzte aller
preußischen Minister werden. Der Gedanke ist verflucht gescheut, stammt dafür
aber auch nicht von Preuß, sondern vom Fürsten Bülow, der ihn freilich nicht
in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Ob die Verwirklichung in der Tat zur
Herrschaft der Reichstagsmehrheit über Reich und Preußen oder nicht vielmehr
ZU einem unerträglichen Ministerialdespotismus führen würde, müßte erst die
Erfahrung lehren. In seinen Gedanken über die Selbstverwaltung begegnet
sich Preuß mit dem besonderen Aufsatze des württembergischen Sozialdemokraten
Lindemann über den Gegenstand. Ihm ist Selbstverwaltung örtliche Ver¬
waltung, insbesondere einschließlich der Polizei, schlechthin, aus der sich demnach
der Staat zurückziehen soll. Diese Selbstverwaltung ist aber gedacht als eine
solche der Großgemeinde auch über das umliegende flache Land durch eine
einzige Versammlung vermöge von ihr abhängiger Beamten. Dann nach Aus-
schaltung der staatlichen Bureaukratie soll das goldene Zeitalter erreicht fein.
Ich fühle mich nun keineswegs gedrungen, auf die staatliche Bureaukratie ein
Loblied anzustimmen. Aber mit den Leistungen der größten Gemeinde Berlin,
die an Weisheit — ich erinnere nur an das Verhältnis zu den Vororten und
sur großen Berliner Straßenbahn — seit Jahrzehnten mit Schilds und
Schöppenstedt wetteifert, kann sie es wirklich noch aufnehmen. Im Hintergrunde
dieser Verwaltungsideale schwebt der Kampf um die Macht. Die Durchführung
würde die ganze Verwaltung dem Kapital und den Sozialdemokraten preisgeben,
die ja jetzt schon die wesentlichsten Regierungsstützen bilden. Es muß aber
billig bezweifelt werden, ob die anderen Gesellschaftsklassen, namentlich Land¬
wirtschaft und städtische Mittelklassen, die doch auch erkleckliche Leistungen für
das Gesamtwohl auszuweisen haben, sich so ohne weiteres durch die neue Ver¬
waltung unterbuttern lassen würden.
Der Katholik Dinck verlangt insbesondere noch stärkere Heranziehung der
Arbeiter, auch der Arbeiterinnen zur Selbstverwaltung unter rechtlicher An¬
erkennung der Gewerkschaften und öffentlich rechtlicher Organisation des Ar¬
beiterstandes.
Für staatsbürgerliche Erziehung erwärmt sich der Heidelberger Theologe
Niebergall, während der Jenaer Rein als Schulorganisation der Zukunft den
Unterbau der einheitlichen Volksschule für die ersten sechs Schuljahre fordert.
staatsbürgerliche Erziehung ist schon eine alte Forderung und erscheint voll
berechtigt. Die Einheitsschule liegt in dem demokratischen Zuge der Zeit und
wird schon lange von den Volksschullehrern gefordert. Die sozialen und pädagogi¬
schen Bedenken dagegen geltend zu machen, würde eine besondere Abhandlung
erfordern. Den Reichtum und die Mannigfaltigkeit in der Entwicklung deutscher
Bildungsstätten nach französischer Weise über einen Kamm scheren zu wollen,
ist aber eher Bureaukratismus als das, was man gewöhnlich dafür ausgibt.
Den Schluß bilden Aufsätze von Georg Bernhard über die Finanzwirt¬
schaft, von Otto Jöhlinger vom „Berliner Tageblatte" über die Kolonialpolitik
und von Maximilian von Hagen über die auswärtige Politik nach dem Kriege.
Schon jetzt von der künftigen Finanzwirtschaft zu reden, ist ziemlich müßig.
Denn sie wird sich nach den künftigen Bedürfnissen des Reiches richten. Und
davon wissen wir vorläufig nur so viel, daß sie eine bisher nicht geahnte
schwindelnde Höhe erreichen werden. Danach muß sich auch die Deckung ge¬
stalten. Wo sie liegen wird, kann man allenfalls andeuten, in indirekten und
in direkten Steuern und in Monopolen. Das ist ebenso selbstverständlich wie
nichtssagend. Daß sich ein Mann vom „Berliner Tageblatte" für die Fort¬
führung unserer Kolonialpolitik erwärmt, ist sehr anerkennenswert. Nur unter¬
läßt er leider den Nachweis, wie sich die Behauptung unserer Schutzgebiete in
einem künftigen Kriege ermöglichen lassen soll ohne Seegeltung, und wie See¬
geltung möglich ist ohne Stützpunkte an der Kanalküste. An demselben Mangel
leidet auch der letzte Aufsatz von Maximilian von Hagen über die auswärtige
Politik, wohl der bedenklichste des ganzen Buches. Im Interesse unserer
künftigen Weltmachtstellung sollen wir durch den Friedensschluß keinen unserer
bisherigen Gegner dauernd zurückstoßen, auch die kleinen Staaten an uns
ziehen. Belgien wird dabei ausdrücklich genannt, seine Wiederherstellung als
unabhängiges Staatswesen somit als selbstverständlich vorausgesetzt. Dann
dürfen wir auch Schweden und Norwegen gegen russische und nun gar den
niederländischen Kolonialbesitz gegen japanische Begehrlichkeit verteidigen. Diese
Proben verschrobenster Weltfremdheit genügen wohl. Man sollte es nicht für
möglich halten!
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Das gilt auch hier. Eine
Reihe zum Teil fesselnd geschriebener Abhandlungen von wertvollen Inhalte konnten
wir an unseren Augen vorübergehen lassen. Aber für das Ganze möchte ich die
Worte wiederholen, mit denen Friedrich von Raumer in einem Berichte an
den Staatskanzler von Hardenberg vom 26. August 1810 die Übersicht der
aus dem Publikum eingegangenen Reformvorschläge begleitete: „Ich gewahrte
bald, daß das Wahre nicht neu. und das Neue nicht wahr oder brauchbar
sei. Deßungeachtet war die Leserei anziehend genug, und ich erlaubte mir,
beim Mangel ernsthafter Weisheit einige der gar kuriosen Einfälle und Vor¬
schläge aufzuzählen." Letzteres ist auch hier geschehen.
Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik dürfen Kriegsziele nicht erörtert
werden, obgleich wir hier durch das militärische Ergebnis schon einigermaßen
mit festen Grundlagen zu rechnen haben. Aber aus dem Gebiete der inneren
Politik nach dem Kriege tappen wir noch in dunklem Nebel, aus dem einiger¬
maßen die ungefügen Gestalten von Demokratie und Staatssozialismus sichtbar
werden. Tiefer in dieses Nebelmeer hineinzuleuchten, um Einzelheiten zu er¬
kennen, ist noch durchaus verfrüht. Das zeigt vor allem das Buch von neuem
Deutschland, das eigentlich eins vom alten Deutschland ist.
le Erscheinungen des deutsch-englischen Seekrieges, Deutschlands
Abschließung durch England, die Taten der „Emden", „Karls¬
ruhe" und der „Möve", der Unterseebootkrieg, erinnern in mancher
Beziehung an die Ereignisse zur See im nordamerikanischen Se¬
zessionskriege, an die Blockade der südstaatlichen Küste durch den
Norden und besonders an das Auftreten der berühmten südstaatlichen Kaper¬
schiffe, wie der „Alabama", und die daraus entstandene „Alabamafrage", die
beinahe zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten
und England geführt hätte.
Während des amerikanischen Sezessionskrieges in den Jahren 1861 bis
1865 unterstützte England in offensichtlicher Weise den Süden gegen die Nord-
stallten. Diese sahen in der Auflehnung des Südens eine verbrecherische Re¬
volution. England aber erklärte offiziell, es erkenne die Südstaaten als krieg¬
führende Partei an. Und mehr noch, es gestattete ihnen, in englischen Häfen
Kaperschiffe auszurüsten, die den Handel der Nordstaaten störten und die Blockade
der südstaatlichen Küste wiederholt durchbrachen. Wie so oft, ging in England
Geschäftsinteresse Hand in Hand mit dem politischen Ziele, die dem britischen
Nordamerika gefährlichen Vereinigten Staaten durch Unterstützung der Sezession
zu schwächen und die staatliche Zersplitterung Nordamerikas zu fördern. Damals
aber erwies sich die englische Rechnung als falsch. Ein scharfer Protest der
Nordstaaten wandte sich gegen diese merkwürdige Begünstigung. Washington
verlangte, daß die englische Regierung die weitere Equipierung der Kaper und
ihr Auslaufen aus englischen Häfen verbiete. Geschehe das nicht, so werde
man Feindseligkeit mit Feindseligkeit erwidern. Die Drohung ließ an Schärfe
nichts zu wünschen übrig. War doch auch die Erregung in den Nordstaaten
ganz ungeheuer. Denn in ganz kurzer Zeit hatte das berühmteste dieser
Kaperschiffe, die „Alabama", nicht weniger als fünfundsechzig nordstaatliche
Schiffe im Werte von über 10 Millionen Dollar vernichtet, und andere, eben¬
falls in England gebaute Kaperkreuzer, die „Tellahassee" und „Shenandoah",
hatten ähnliche Erfolge zu verzeichnen. Für diese Schädigung des Handels
verlangte die Union unbedingten Schadenersatz. Zunächst kamen von England
billige Ausflüchte, und in Liverpool und anderen Häfen fuhr man ruhig fort,
weitere Kaper zu bauen, nachdem die „Alabama" im Juni 1864 durch ein
nordstaatliches Kriegsschiff endlich zerstört war. Eine zweite amerikanische Note
ging nach London ab und stellte England vor die Entscheidung: Verbot des
Auslaufens dieser Schiffe oder Krieg! Das half. Lord Russe! gab nach. Die
Ausfahrt der Kaper wurde verboten, und als bald darauf die völlige Nieder¬
werfung der Südstaaten erfolgte, erklärte England, daß es seinerseits den
Krieg nunmehr als beendet ansehe und den Konföderierten das Recht von
Kriegführenden nicht weiter zugestehe.
Damit war aber für die Union die Angelegenheit noch nicht erledigt.
Man beharrte auf den Schadenersatzforderungen und ließ sich nicht dadurch
beirren, daß England sie zunächst als unberechtigt zurückwies und dann mit
dem Vorschlage kam, ein Schiedsgericht solle über die Berechtigung der Forde¬
rung entscheiden. Diese prinzipielle Behandlung der Frage aber durch ein
Schiedsgericht wurde von der Union mit Entschiedenheit verworfen. England
müsse unter allen Umständen erst die Schuld eingestehen, neutralitätswidrig ge¬
handelt zu haben, so verlangte man. Dann könne schließlich ein Schiedsgericht
die Höhe der Entschädigungssumme festsetzen. Als England das ablehnte, brach
die Union die Verhandlungen ab. Erst nach längerer Zeit, während deren man
sich in London Amerika gegenüber sehr unbehaglich fühlte, gelang es Lord
Stanley 1871, mit der amerikanischen Regierung ein Abkommen zu erzielen,
das die Angelegenheit einer gemeinsamen Kommission in Washington überwies.
Und hier wurde England wirklich dazu gezwungen, Buße zu tun und zum ersten
Mal Neutralitätspflichten in einem Seekriege anzuerkennen, die es bis dahin
mit selbstsüchtiger Entschiedenheit abgelehnt hatte. Nach der Erklärung des Be¬
dauerns über die zugelassene Ausfahrt der „Alabama" und der anderen Kaper
in der Einleitung des Washingtoner Vertrages, mußte es sich zu der Anerkennung
des völkerrechtlichen Grundsatzes bequemen, kein neutraler Staat dürste ge¬
statten, daß auf seinem Gebiet Schiffe ausgerüstet würden, die bestimmt seien,
gegen eine der kriegführenden Mächte zu kreuzen und Krieg zu führen, ferner,
daß ein neutraler Staat auch Privatpersonen an der Verletzung dieser Pflichten
hindern müsse.
Die Festsetzung der Höhe der Entschädigung wurde einem Schiedsgericht
überwiesen, das in Genf zusammentrat und endlich am 14. September 1872
nach langwierigen Verhandlungen über den Begriff der direkten und indirekten
Schädigung des nordstaatlichen Handels bestimmte, daß England für die ver¬
ursachten Verluste einen Schadenersatz von 15^ Millionen Dollar zu leisten
habe. Damit hatten die Amerikaner gesiegt und England eine empfindliche
Demütigung zugefügt.
er Krieg, dieser große Vernichter so vieler geistiger und materieller
Werte, wirkt dennoch auf die Sprache befruchtend und schöpferisch,
und die schon im Frieden reich entwickelte Kasernensprache unserer
Soldaten hat sich an der Front, im Schützengraben und auf dem
Schlachtfelde, in ungeahnter Weise weitergebildet. Es sind zahl¬
lose Neubildungen entstanden, und nichts zeugt deutlicher von der kraftvollen,
frohen und zuversichtlichen Stimmung des Feldgrauen als diese auschavlichen
witzigen, scharf das Wesentliche kennzeichnenden neuen Wörter und Wendungen
seiner Sprache! Nicht nur mit der Schärfe des Bajonetts, auch mit der
Schärfe des Wortes sucht der deutsche Soldat dem Feinde zu trotzen.
Aber auch unsere Feinde haben eine Soldatensprache. Hier sei einmal
kurz die Feldsprache des englischen Soldaten betrachtet, wie sie uns in eng¬
lischen Schiffspost- und Feldpostbriefen entgegentritt. Die Ausbeute ist nicht
allzu groß, eine Tatsache, die in dem durchaus auf das Wirkliche, Tatsächliche
gerichteten englischen Nationalcharakter begründet liegen dürste, in einer ge¬
wissen angelsächsischen geistigen Schwerfälligkeit, die mit dem praktischen Blitzen
der Kanonen sich begnügt und aus Geistesblitze weniger Wert legt. Der
britische Soldatenslang, wie er heute im Felde gesprochen wird, besteht haupt¬
sächlich aus einer Anzahl von Necknamen (mLknames) und sehr vielen dem
sportlichen Leben entlehnten Fachausdrücken, die bildlich auf die kriegerischen
Aktionen angewendet werden.
Der auch bei uns bekannteste englische Neckname ist die Bezeichnung des
englischen Landsoldaten „Tommy Aelius" oder „Thomas Aelius", während der
britische Matrose »^ack l'ar" oder auch nur ,,^ar" (eigentlich Hans Teer)
heißt. Ursprünglich wurde Tommy Aelius das Taschenbuch genannt, das
früher jeder englische Soldat erhielt und in dem ähnlich wie in unserem
Militärpaß sein Nationale enthalten war. Damit die mit einem Vordruck
versehenen Seiten richtig ausgefüllt würden, fügte das >Var (Mich jedem Buch
ein Formular bei, in dem eine Seite beispielsweise ausgefüllt und der frei
erfundene Name Tommy Aelius hypothetisch angegeben war. Vom Buch ging
dann dieser Name bald auf den Inhaber des Buches, auf jeden britischen
Soldaten, über und wurde durch Kiplings Soldatengeschichten aus den indischen
Kolonien völlig popularisiert. Übrigens nennen auch unsere Feldsoldaten den
Engländer Tommy, wenn sie nicht den unübertrefflichen Spitznamen „Fußball¬
indianer" gebrauchen.
Vergeblich wird man in französischen Soldatenbriefen nach dem Worte
Allemant für Deutscher suchen, stets wird das herabsetzende Boche gebraucht.
Anders bei den Engländern. Hier ist der normale Ausdruck tke Qermans
durchaus vorherrschend, als Spitzname findet sich das harmlose „I^nlle Willis",
dann das derbere besonders beliebte „Lau8aZe8" (Würste) und „LauZaZe-
malcers" (Wurstfabrikanten) und nur sehr selten das den Alliierten entlehnte
„hock" oder französisch „hocke" geschrieben. Das ausgesprochene Schimpfwort
„tke leurs", das in der englischen Presse so häufig wiederkehrt, kommt in
englischen Soldatenbriefen nur ganz vereinzelt vor. Die deutschen Ulanen
werden „IZxve Jaub8" (Mutterschaflämmer) genannt, da beide Wörter in der
englischen Aussprache gleichklingen.
Die häufigsten Bezeichnungen haben Geschütze und Geschosse erhalten. So
heißen die 8 bis 9 Zoll kalibrigen Granaten der schweren Haubitzen „Loal-
ooxes" (auch die Feldgrauen sagen „Kohlenkasten" von gewissen feindlichen
Granaten) oder „LlacK IVlariss", (schwarze Marie werden von unseren Soldaten
die französischen 12 Zentimeter Granaten genannt) oder ,,^ÄcI< <1oKnson8", weil
diese Geschosse beim Zerplatzen schwarze Rauchwolken entwickeln. Für Schrap¬
nells wird wegen ihrer weißen wolligen Rauchwolke „>VooIly Naria8" gesagt.
Andere tragen je nach ihrer Wirkung auf Auge oder Ohr die Bezeich¬
nungen „V/Kj3tIinZ >ViIIic8" (pfeifende Willich), ,,V/iII-o'-tKe-V/l8v3" (Irr¬
lichter) oder „ttumminZ Virä8" (Kolibris) oder „LiZKinZ Larak8" (seufzende
Sarahs) oder „porriäZe ?ot8" (Suppentöpfe), das inhaltlich an die fran¬
zösische Benennung für Granate .Marmite" (Kochtopf) erinnert. Granaten
und Schrapnells werden auch oft mit dem friedlichen Wort „rockets" (Raketen)
getauft. Gewehrkugeln heißen ,,k-lanL0t Veau8" (Bohnen), bei uns, nicht mehr
sehr gebräuchlich, „blaue Bohnen". Der allgemeinste englische Kosename für Ge¬
schosse überhaupt ist „Souvenirs".
Das regelmäßige Feuer der deutschen Scharfschützen, die oft „pea-skooters"
(Erbsen-Schützen) genannt werden, zwischen neun und zehn Uhr abends heißt
AvoZ-niAkt Ki83" (der Gutenachtkuß) wie ja auch unsere Truppen vom
„Abendsegen" sprechen.
Eine eigenartige Bezeichnung für deutsche Geschosse ist besonders bei den
„I se Qoräon ttiZKIanäers" gebräuchlich, nämlich: „palmer'3 I^euralM Lure"
(Palmers Neuralgieheilmittel), eine Bezeichnung, die nur verständlich ist, wenn
man ihre Entstehungsgeschichte kennt. Ein britischer Soldat mit Namen Palmer,
der an heftigen Nervenschmerzen litt, wurde durch die Explosion einer deutschen
Granate zu Boden geschleudert, wo er eine Zeitlang bewußtlos liegen blieb;
als er sich wieder erhob, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß seine Neu¬
ralgie verschwunden war. Seitdem bezeichneten seine Kameraden die deutschen
Geschosse mit diesem immerhin merkwürdigen Namen.
Geschütze erhalten männliche oder weibliche Vornamen, und wie unsere
Feldgrauen von der „dicken Bertha", „schlanken Emma", dem „kurzen Gustav"
sprechen, so Tommy Atlas vom „LlacK Peter" (Schwarzer Peter), „^lamp"
(kleiner Jakob) oder „^rein'data", womit ein deutsches Geschütz bezeichnet wird,
dessen Zwillingsbruder, eine andere schwere Haubitze, den Namen des alten
englischen Heiligen „Lutribert" führt. Andere Benennungen sind: „ZtammennZ
Sam" (stotternder Sam), „^Ks V/arbler" (Sänger), „WespinA WMie" (wei¬
nender Wilhelm). Für deutsche Geschütze finden sich auch noch die Spitz¬
namen: ,,^unt Lallv" (Tante Sarah) — so heißt nämlich in England ein
beliebtes Jahrmarktsspiel, bei dem mit hölzernen Knütteln nach einem Puppen¬
kopf geworfen wird, in dessen Mund Tonpfeifen stecken, ferner ein sehr weit¬
reichendes Geschütz „Lalamitv ^ane" (Unglücks-Johanna), deren Geschosse den
Engländern den warnenden Ruf entlocken: „leere Loach ^ane!", „IZelLtiinZ
Lilly" (spukender Wilhelm), ähnlich sagt der deutsche Soldat vom Schießen
französischer Artillerie: „Joffre spukt". „XVm'stlins Kukus" (pfeifender Rot¬
kopf), ein Geschütz, das kleine Geschosse sendet. Deutsche Batterien werden
auch sehr bezeichnend „Oeatli screeeliers" („Todschreier") genannt. Zwei
englische weitreichende Geschütze werden vom englischen Jnfanteristen,Motner"
und „Lady" getauft, ein anderes heißt „7Ke Not Lro88 sur", ein schwer
zu übersetzender Ausdruck, zu dem die Beobachtung des heißen zurückschnellenden
Rohres und der Geschosse, die es wie ein Engländer Koriuthenkuchen (tun)
verschlingt, geführt hat.
Das deutsche Maschinengewehr weist eine eine Reihe von Bezeichnungen
auf, die durch das eigenartige Geräusch dieser schrecklichen Maschine verursacht
wurden. „I'ne Larpenter" (Zimmermann), „l'lie Qramopnone" und äußerst
treffend „l'ne ^karn LloeK" (Wecker) und „I^iZntninZ" (Blitz), jedenfalls
wegen der blitzartigen Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Schüsse. Der
Engländer spricht lautmalend von dem pop-pop-pop der „Naxim8".
Die Stacheldrahtverhaue vor den Schützengräben werden nach ihrem Aus¬
sehen „spiäers pey3" (Spinngewebe), nach ihrer Wirkung „tlo drap8" (Fliegen¬
fänger) und auch „muZ rack8" (Gesichtsfoltern) genannt, weil man sich
hauptsächlich das Gesicht an ihnen verletzt. Von den Schützengräben selbst
wird die äußerste Linie „ärawinZ-room" (Empfangsraum) genannt, weil die
dort befindlichen Truppen das feindliche Feuer auf sich ziehen (äraw). Die
innere Linie wird mit „reception-room" (Empfangsraum) bezeichnet, weil
hier die feindlichen Sturmwellen empfangen werden. Die Begräbnisstätte der
Gefallenen hinter den Gräben heißt „clormitorv" (Schlafsaal). '
Nähert sich eine deutsche „Taube" den britischen Linien, so wird gesagt
„lehre Loach a stormv petrol", ein Wortwitz, denn das Wort petrol----Petroleum
erinnert an petrel Sturmvogel. Unter petrol ist Benzin zu verstehen. „^ne
war is a petrol war", schreibt ein „private". Ebenfalls ein Wortwitz ist die
Bezeichnung „'l'Ke imaZinarv ration" (die eingebildete Ration) für „l'ne
emerZencv ration" (bei uns die eiserne Ration), wie auch die Bezeichnung
des Generals von Kluck „Olä One o'clock" oder auch „016 Von o'LIocK".
Die französischen Streichhölzer haben den Namen „^squittis" erhalten,
die Alliierten selbst „?arlev-ovo8", für England findet sich der mysteriöse,
vielleicht dem Hindustanischen entlehnte Name „Llitev", der kommandierende
Offizier heißt „Lope" (Kerl), der Trommler „Knocker" (Türklöppel), wie sie
an den Haustüren in England noch heute üblich sind. Von einem Erkrankten
oder Verwundeten sagt man „worKinZ in's ticlcet" (er löst sich eine Fahr¬
karte), weil er ins Lazarett transportiert wird.
Die Royal Münster Füsiliers tragen den schönen Beinamen „l'ne Oirtv
Llnrt8" (die Schnsutzhemden) und die Lincolns „Oacläv'8 Olä Lorps"
(Papachens altes Korps).
Der Engländer ist stolz aus seinen „8portinZ 8pirit", und wer das Leben
in England kennt, wird es gar nicht weiter verwunderlich finden, daß der
englische „fötaler" den Krieg als eine wenn auch blutige Fußballpartie auf
dem Kontinent ansieht. Britische Soldaten sind bei Mons mit Fußballen am
Tornister ins Gefecht gegangen, und in englischen Zeitschriften werden zahlreiche
Bilder veröffentlicht, die einbeinige, einarmige und noch andersartig verkrüppelte
kriegsverwundete Tommys zeigen, die trotz Krücken und Verbänden — iootball
spielen!
So ist denn auch die Sprache des britischen Soldaten mit vielen dem
Sportleben entlehnten tsrmmi3 teennicis gespickt, die nunmehr auf die kriege¬
rischen Aktionen sinngemäß übertragen werden, und es gibt nur sehr wenige
englische Feld- und Schiffspostbriefe, in denen nicht ein derartiger sportlicher
Fachausdruck vorkommt. Dies verleiht der englischen Soldatensprache zwar
eine gewisse Einheitlichkeit, die der der deutschen Soldaten fehlt, aber auch eine
noch größere Einförmigkeit. Diese stereotypen unveränderlichen Fachausdrücke
stehen der Prägung neuer origineller Ausdrücke hindernd im Wege. Die viel
reichere Phantasie der deutschen Soldaten dagegen wird nicht durch derartige
Hemmschuhe an der Schöpfung immer neuer und allen Lebensgebieten ent¬
nommener Wortgebilde gehindert.
Einige dieser Sportausdrücke seien hier zum Verständnis des Gesagten
angeführt. Beim Sturmangriff rufen die Royal Highlanders: „0n tre halt,
t^iZnlanZsrs!" und ,MarK pour usu!" Ebenfalls dem Fußballspiel entlehnt
sind die Wendungen „plavinZ oll 8iac", womit ein Spieler, der bei dem
Gedränge um den Ball an der falschen Seite stand, und nunmehr ein Spion
bezeichnet wird, während von Gefangenen „oräereä oll tre lieta". das ist
einer, der aus dem Felde gehen muß, gesagt wird. Von einer Seeschlacht
schreibt ein Matrose: „Ws KicKecl oft la8t ^riäav about six in tre morninA,
ana xve wor 3-nil. t<ot ba6, L0N8iäennZ, we are plavinZ,awav'. I^neir
ZoalKeepers coulä not mola U8, xve wers so not." Also die charakteristische
Schilderung eines Fußballspiels mit den Fachausdrücken KieKeä oll, anspielen,
vlavinZ awav, verspielen, Zoallceepers, Torwächter. Nur sind hier zwei
Geschwader die Parteien.
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß der „active-8ervice-sIanZ" infolge
der Berührung der englischen Soldaten mit fremden Völkern auf den ver¬
schiedenen Kriegsschauplätzen sehr häufig ein Gemisch von indischen, hollän¬
dischen, französischen und deutschen Sprachbrocken darstellt. So brachten die
„Minieh" seinerzeit ein kurzes Gespräch zweier Tommys in einem französischen
Cass nahe der Front, das dem Uneingeweihten völlig unverständlich ist. Man
liest dort die dem Französischen entlehnten Wörter: „^notner cakv vio, ma
sivou8-Mit" cakö an lait. mais . . .) oder ,,^n nee" an oui), oder „?an
6e dürr" pain ac beurre). Der Südafrikanische Krieg hatte bereits ähnliche
Erscheinungen gezeitigt und holländische Wörter wie »Kopje« (kleiner Hügel),
„commancieer", „out8van" und „in8par" sind völlig in den englischen Sprach¬
gebrauch übergegangen.
Max Hildebert Böhm: Der Sinn der humanistischen Bildung. Berlin. Reimer,
1916. 1.50 Mark.
Die Erlebnisse dieses Krieges haben zu einem lebhaften Meinungsaustausch
über den Wert der humanistischen Bildung geführt; unter den zahlreichen Er¬
örterungen des Problems nimmt die vorliegende kleine aber konzentrierte Schrift
des jungen Deutsch-Ballen einen hohen Rang ein. Ihre besondere Bedeutung
liegt darin, daß sie auf Grund einer bestimmten philosophischen Weltanschauung,
deren Umrisse überall durch die Einzelausführungen hindurch sich abzeichnen, zu
einer Klärung des Wesens und damit zu einer grundsätzlichen Würdigung der
humanistischen Bildung gelangt. Ausgangspunkt des Verfassers ist der von der
modernen Kulturphilosophie immer deutlicher herausgearbeitete Wesensunterschied
zwischen Kultur und Zivilisation. „Die Zivilisation ist der Triumph des herrischen
Verstandes über die dumpfen Gewalten der Natur, sie erstrebt größte Macht bei
geringsten Kraftaufwand", sie hat die Welt zu einer „Riesenorganisation von
Dienenden" umgestaltet, in der das Individuum ausschließlich nach seiner „Leistung"
geschätzt wird. Der Verfasser sieht, daß wir unserer hervorragenden zivilisatorischer
Tüchtigkeit unseren Sieg in diesem Kriege verdanken, er würdigt in schönen Worten,
was an Größe, Kraft und Entsagung in diesen Ideen der Zivilisation liegt; aber
um so deutlicher spricht er es immer wieder aus, daß Zivilisation nicht Kultur
ist, Tüchtigkeit nicht Bildung. „Kultur entspringt dem Willen zur Ewigkeit,
Zivilisation dient dem Zeitlichen. Kultur ist schöpferische Gestaltung, in der der
Mensch sich über seine zeitliche Begrenzung hinaushebt". Die Kultur wird objektiv
im selbstgenugsamer „Werk". Bildung aber ist nicht „jede nutzhafte Kenntnis, jede
Fähigkeit und Fertigkeit", Bildung ist der ausgeschlossene Sinn für Kultur, der
subjektive Sinn für den objektiven Geist. Je schärfer das Leben heute vom reifen
Mannesalter die Einseitigkeit beruflicher Hingabe verlangt —, und in den Jahr¬
zehnten nach dem Kriege noch mehr als bisher verlangen wird — desto entschiedener
will der Verfasser nun gerade der Jugend die zweckfreie Hingabe an die Welt des
Geistes ermöglichen. Er glaubt mit dieser Forderung auf die Zustimmung selbst
eines Teils der „Leistungsmenschen" rechnen zu dürfen, nämlich „derjenigen unter
ihnen, denen ein gütiger Gott in der Öde ihres an die Spezialisierte Arbeit ver¬
kauften Daseins doch den schwermütigen Blick für die Tragik ihrer Existenz erhalten
hat"; für die Zukunft hofft er auf die Entstehung einer deutschen gebildeten oder,
wie er auch sagt, humanistischen Gesellschaft, in der die Aristokratie der Bildung
sich mit der bürgerlich-staatlichen Aristokratie durchdringt und verschmilzt.
Wie wird aber die Kultur zur Bildung? „Die Kultur legt sich auseinander
in eine Welt von Werken, von Dichtungen, Statuen, Bildern, Kompositionen, von
moralischen, philosophischen, wissenschaftlichen Ideen und Symbolen, die alle ihren
Ursprung in schöpferischen Personen nehmen". Die übrigen. Menschen, die
„empfängerischen", können solche Werke zwar nicht schaffen, aber doch „verstehen",
und dieses Verstehen ist der Kern der Bildung. Es ist nichts lediglich Passives,
sondern erfordert eine formende Aktivität eigener Art. Es gibt aber auch eine
Kunst der Vermittlung zwischen schöpferischen und empsängerischen Menschen, eine
Kunst, in dem andern die aktiven Bildungsfunktionen zu erwecken, der Verfasser
nennt sie Psychagogie; eine wichtige Spezialität derselben ist die Pädagogie, deren
intimste Schwierigkeiten feinsinnig aufgezeigt und, wenn auch nicht gelöst, doch in
die allgemeinen Schwierigkeiten der Psychagogie ausgelöst werden. In der Bildung
findet der Mensch sich hin zu seinem eigenen Sein und Wesen, in ihr tritt er aber
auch in Gemeinschaft mit den schöpferischen und mit anderen empfängerischen
Menschen: „Die Bildung konstituiert die Menschheit als eine Gemeinschaft im Geist
verbundener Individuen". Als Sache des Menschen und der Menschheit ist die
Bildung ihrem Wesen nach humanistisch.
Es ist klar, daß Bildung in diesem Sinne im Unendlichen liegt; soll in
der empirischen Welt etwas davon verwirklicht werden, so nutz eine Auswahl
getroffen werden. Das wichtigste Prinzip, nach dem sowohl die Werke der
schöpferischen wie die Bedürfnisse der empfängerischen Menschen sich gruppieren, ist für
den Verfasser das nationale. Die nationale Sonderart „bedeutet einen gemeinsamen
Verständnisgrund für eine ganze Fülle personaler Individualitäten und ihrer Werke".
Die Gemeinschaft im Geiste konstituiert sich in der „nationalen B'ildungsgemeinde".
So reduziert sich das an sich unlösbare Problem der Bildung auf eine konkrete
und lösbare Frage, nämlich die: Welche nationalen Individualitäten sind für
eine bestimmte nationale Individualität — in unserem Fall für die deutsche —
von besonderem Bildungswert? Es versteht sich von selbst, daß bei einem Kultur¬
volk dies in erster Linie die eigene Art ist. „Das nationale Selbstverstehen ist
das Zentrum unseres Bildungszieles". Aber die eigene Art bedarf der anderen,
sowohl zur Vertiefung wie zur Ergänzung: „Wir müssen unsere kulturellen Ahnen
kennen: die Antike; unsere kulturellen Brüder: die anderen christlichen Völker
der neuen Zeit". Es sind das dieselben Nationalitäten, die auch tatsächlich die Ent¬
wicklung unseres eigenen Geistes beeinflußt haben, am stärksten und gerade an
hervorragenden Punkten unserer geistigen Entwicklung hat der Geist des Alter-
tums „an unser Innerstes gerührt". Er soll dies auch gerade heute wieder tun.
Das deutsche Volk hat aus seiner geistig größten Zeit die hellenische Aufgabe der
Geistesveredlung übernommen, es hat im neunzehnten Jahrhundert unter preußi¬
scher Führung die römische entschlossene Gewaltsamkeit des Machtgedankens sich
angeeignet und seine weltgeschichtliche Zukunftsaufgabe liegt in der Synthese des
römischen und griechischen Erbes. Ohne in der Art des älteren Humanismus
die Antike zu verabsolutieren, beweist der Versasser so in geistreicher Weise ihren
unvergleichlichen, durch keine Kenntnis moderner Kulturen zu ersetzenden Bildungs¬
wert, und mit berechtigter Berufung auf Humboldt nennt er nun sein Bil¬
dungsideal eines „national zentrierten Universalismus" humanistisch.
Die Stätte, wo diese Bildung gepflanzt werden soll, ist die Schule. Bildung
ist zwar nicht der einzige Zweck der Erziehung, nicht einmal die einzige Aufgabe
der Schule, aber doch deren Hauptaufgabe; die Schule ist ihrem Wesen nach
Bildungsanstalt. Unter den bestehenden Schulen kommt das Gymnasium nach
Ansicht des Verfassers diesem Ideal am nächsten. Freilich fordert die Er¬
weiterung und Vertiefung des Begriffs „humanistisch" auch von der humanistischen
Schule allerlei Änderungen in: empirischen Bestand auf Grund des klarer er¬
kannten Wesens. Vor allem tritt die Kenntnis des deutschen Geistes beherrschend
in den Mittelpunkt der Unterrichtsziele. Die Selbsterkenntnis unseres nationalen
Ich auf vornehmlich historisch-philologischer Grundlage, doch mit Berücksichtigung
auch anderer Werke des deutschen Geistes, z. B. in Musik und bildender Kunst,
womöglich eine Einführung in die ganze deutsche Geistesgeschichte — das ist
der feste Mittelpunkt, um den sich alles andere gruppieren muß. In den modernen
Sprachen, besonders dem Französischen, können die Anforderungen ermäßigt
werden, da zum Studium der wichtigsten Werke französischer und englischer
Kultur eine elementare Kenntnis der Sprache ausreicht. Aber auch innerhalb
der Antike ergeben sich Wert- und Stoffverschiebungen. Der Schwerpunkt wird
entschlossen auf das Altertum als Bildungsgehalt gelegt, damit innerhalb des
Altertums vom Latein auf das Griechische. Der griechische Kulturunterricht, vom
mythischen zum historischen sich wendend, ist Grundlage des ganzen antiken
Unterrichts: innerhalb des Lateinischen schieben sich die historischen, dem echt
römischen Staatsbewußtsein näher stehenden Werke vor die „akademische Advokaten¬
rhetorik" des Cicero und die „reizvolle Dekadenzerscheinung" der spätantiken
Grotzstadtpoesie des Ovid und Horaz. Der Sprachunterricht, dessen selbständige
Bedeutung der Verfasser nicht verkennt, wird doch wesentlich in den Dienst des
literarischen Verständnisses gestellt, daher weitgehender Gebrauch der Übersetzung
verlangt, andererseits wird die Fähigkeit aus dem Deutschen in die fremde Sprache
zu übersetzen unter dem neuen Lehrziel als „ein reizvoller Umweg" bezeichnet, „den
wir uns leider nicht mehr leisten können.
Über die praktischen Forderungen des Verfassers werden die Praktiker ver¬
schieden urteilen, aber der wahre und bleibende Wert seiner Schrift bleibt auch
von einer Ablehnung seiner Vorschläge unberührt. Er liegt in der außer¬
ordentlichen Fähigkeit des Verfassers, die Fülle des Empirischen mit allgemeinen
und doch konkreten Begriffen zu beherrschen und die Forderungen für das
Künftige aus einer tieferen Klärung des Wesens des Gegebenen abzuleiten. Die
Schrift ist sehr gedrängt geschrieben; von ihrem reichen Inhalt konnten hier nur
die Grundgedanken, von der Fülle geistvoller Bemerkungen, die bald blendend,
bald erleuchtend wie elektrische Funken aus dem hochgespannter Strom der Ge¬
dankenentwicklung sich ablösen, nur wenige Proben wiedergegeben werden. Eine
Kritik des Ganzen kann, da sie auf einer eingehenden Zergliederung der philo¬
sophischen Grundbegriffe des Verfassers sich aufbauen müßte, im Rahmen einer
kurzen Besprechung nicht gegeben werden. Die vorstehende kleine Skizze lM
ihren Zweck erreicht, wenn sie möglichst viele Leser und besonders möglichst viele
Lehrer veranlaßt, die Schrift selbst zu studieren, die in der schneidigen und
glänzenden Art ihrer Beweisführung oft zur Zustimmung, manchmal zum Wider¬
s
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
er es zu unternehmen wagt, ein Problem lösen zu wollen, be¬
darf, möge er ein Mann der GeisteswissensckMen sein, oder ein
Staatsmann. Publizist oder Naturforscher, vor allen Dingen
des Mutes zur Wahrheit. Denn nicht nach den guten oder
bösen Absichten eines noch so starken Willens können Probleme
gelöst werden, sondern nach der Tendenz der ihnen innewohnenden treibenden
Kräfte. Daher ist Voraussetzung jeder Lösung die Auflösung, die Analyse.
Erst wenn alle in einem Problem wirkenden Kräfte erkannt, in ihrem
Werte zueinander richtig abgeschätzt und in ihren möglichen Wirkungen
voll eingesetzt sind, dann kann damit gerechnet werden, daß eine Lösung ge¬
funden wird, die den wirklichen Kräfteverhältnissen entspricht. Dazu gehört Mut,
leidenschaftsloser, kühler Mut! Mag es sich um wissenschaftliche, oder soziale
oder wirtschaftliche handeln! erst recht, wenn es um politische geht, in denen
reine Geisteswissenschaft. Wirtschaft. Psychologie. Statistik, mit einem Worte alles
Menschliche in eins zusammenfließen! Der Lenker eines Staates müßte der
mutigste Mann seines Volkes sein, seine Diplomaten Wahrheitssucher von der
Unerschütterlichkeit der Apostel. Was sie, die Politiker, von den wissenschaft¬
lichen Forschern allein unterscheiden sollte, ist der Gebrauch, den sie von den
erkannten Wahrheiten machen. Aber niemals dürfen sie die Unwahrheit
sagen, oder sie verdienten die Bezeichnung Staatsmann überhaupt
nicht. Meist werden sie über das Ergebnis ihrer Forschungen schweigen müssen,
wo der Wissenschaftler z. B. der Naturforscher im Gegenteil um der Menschheit
willen gezwungen ist. seine Wahrheiten laut und aller Welt zu verkünden. Eine
vermittelnde Stellung nimmt der verantwortungsfreudige Publizist ein. der. selbst
wissenschaftlicher Forscher auf historisch-politischem Gebiet sein muß und meist
gezwungen wird. Kritiker der leitenden Männer im Staate zu sein. Nicht alle
seine Forschungsergebnisse oder zufälligen Entdeckungen darf er der Öffentlichkeit
unterbreiten, was seine Beweisführung ungeheuer erschwert, aber er darf —
nein, er muß im Einzelfalle mehr sagen wie der Staatsmann, und alleiniger
Maßstab für die Preisgabe seines Wissens darf ihm sein durch verantwortungs¬
bewußtes Studium geschärftes Gewissen sein.
Trete ich im folgenden an eine Darlegung des polnischen Problems heran,
so wünsche ich keiner einzelnen Partei, keinem einzelnen Staatsmann, keiner
einzelnen Fürstlichkeit oder gar einer fürstlichen Hausmacht zu dienen, sondern
ausschließlich der Gesamtheit des deutschen Vaterlandes. Sie ist ein Gebot der
Stunde. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen sollen sich von Grund
aus ändern. Die Polen sollen, dank dem Siegerwillen der verbündeten Mittel¬
mächte, wieder eintreten in die Reihe der selbständigen Nationalitäten. Das
ist ein Augenblick von höchster historischer und ethischer Bedeutung, verklärt durch
die Möglichkeit, zurückliegende Tatsachen und deren politische Folgeerscheinungen in
das grelle Licht sachlicher Kritik zu stellen und ihnen dadurch jeden Stachel für
die Zukunft zu nehmen. Das ist wenigstens der Zweck meiner Ausführungen.
Die Polenfrage ist zu einem der ernstesten Probleme der deutschen Politik ge¬
worden, nicht weil die Polen eine besonders „verwerfliche" Nation darstellten,
oder gar, weil zwischen Polen und Deutschen ein besonders tiefer Haß bestünde,
sondern weil es, um mit dem großen Friedrich zu sprechen, das Los der mensch-
lichen Dinge ist, daß kleine Interessen über die großen Angelegenheiten ent¬
scheiden. Die tausendfältigen kleinen Interessen von Fürsten, Händlern und Dema¬
gogen sind es. die es verhindert haben, daß die Hauptrichtlinien des polnischen
Problems, nämlich die seit anderthalb Jahrhunderten unbedingt vorhandene
Aufwärtsbewegung des polnischen Volkes und die seit einem Jahrhundert be¬
merkbare Tendenz zum Zusammenschluß der Völker Mitteleuropas immer wieder
in den Hintergrund treten mußten in ihrer Bedeutung als Fragen der Realpolitik.
Die Polenfrage ist vielleicht das schicksalschwerste Problem dieses Krieges,
weil es uns, falsch angefaßt, um alle nationalen und wirtschaftlichen Erfolge
bringen kann, die das Volk durch die herrlichen Taten seiner Armee und den
Opfersinn und die Ausdauer der Daheimgebliebenen errungen hat. Eine falsche
Einstellung der Polenfrage bedroht nicht weniger den sozialen Aufbau des deutschen
Volkes, wie die Landesgrenzen der preußischen Monarchie, gefährdet Habsburg,
nicht minder, wie die uns verbündeten Balkanstaaten und der Mittelmächte
Weltstellung überhaupt, — bedroht die deutsche Nationalität in gleichem Maße,
wie die polnische, würde auch alle die berechtigten und hochfliegenden Hoff¬
nungen der Polen zerstören, die sie an die feierliche Autonomie-Erklärung durch
die verbündeten Kaisermächte knüpfen können I Darum ist sie aber auch nicht
durch Traktate und Verträge zu lösen, darum darf ihre Lösung nicht erwartet
werden durch Maßnahmen, die an vorübergehende Erscheinungen, wie sie im
Kriege erstehen, anknüpfen, sondern in erster Linie durch den guten Willen
und rückhaltlose Ehrlichkeit im Verhalten der neu verbundenen Völker und
ihrer Regierungen zueinander. In der Polenfrage treffen alle Stärkepole Ost
europas zusammen wie im achtzehnten Jahrhundert und erzeugen daselbst
Spannungen von einer Höhe, daß ihre Entladung alle durch den Krieg ange¬
bahnten Beziehungen in nichts zerspringen lassen könnten. Dessen seien sich Polen,
Deutsche, Österreicher und Ungarn ständig bewußt!
Das polnische Problem zeigt dem Forscher durchaus verschiedene Gesichte,
je nachdem man es im Sinne dieses Krieges lediglich in der veränderlichen
Gestalt als Konsequenz des Zusammenbruchs der deutsch-russischen Freundschaft
betrachtet oder ob man es als eine Kulturfrage im Zusammenhang mit unseren
weltwirschaftlichen und den damit so eng verbundenen mitteleuropäischen Idealen
ansieht. Geht man vom Kriege aus, so bedeutet das polnische Problem zunächst
kaum mehr, als eine Teilfrage der militärischen Aufgaben, die in der Nieder¬
werfung Rußlands gipfeln. Mit anderen Worten: es wird Polen lediglich als
eine russische Provinz betrachtet, als ein Territorium, das man dem Gegner
abnimmt, sei es, um lediglich zeitweilige strategische Erfolge zu erzielen, sei es
um ihn politisch dauernd zu schwächen, vielleicht nur ein Faustpfand, das man
ihm zurückgibt, wenn das größere, über den russischen Kriegsschauplatz hinaus¬
gehende Kriegsziel erreicht ist. Von dieser Seite aus gesehen, erscheint das
Problem somit verhältnismäßig wenig, verwickelt. Aber über dieses Stadium sollte
die Polenfrage durch die Autonomie-Erklärung und den wirtschaftlichen Anschluß
des Gebietes an Deutschland hinaus sein. Nach Lage der Dinge können die
Polen nicht mehr ohne weiteres als Objekt der Politik der siegreichen Verbündeten
behandelt werden. Ihre Eigenheiten, politischen Wünsche und Hoffnungen und
nicht zuletzt der Stand ihres politischen Denkens bei und kurz nach Ausbruch
der Weltkatastrophe spielen eine große Rolle und heischen Beachtung. Von
dieser anderen, historisch tief durchwirkten Seite aus müssen wir im folgenden
an das Problem herantreten.
Die Teilung Polens, die so häufig sentimental ein Unrecht am polnischen
Volke genannt wird, ist die Konsequenz des Aufprallens aufstrebender Kräfte
auf niedergehende. Als Polen nach fast zwei Jahrhunderten Großmachtstellung
abzuwirtschaften begann, als die führenden Schichten des polnischen Volkes demo¬
ralisierten und der polnische Staat innerlich zerfiel, das Papsttum aber, das
doch durch Niederwerfung der Reformation in Polen einen tiefeinschneidender
Einfluß auf die Gestaltung der polnischen Kultur genommen hatte, politisch
nicht mehr imstande war. die infolge der Kirchenspaltung zwischen Byzanz und
Moskau für Polen heranrückende Gefahr zurückzuwerfen, da wollte es das Geschick,
oder historisches Walten, wie man es nennen will, daß an zwei entgegengesetzten
Grenzen dieses Staates, auf dem märkischen Sandboden und in den rauhen
Gegenden an der Moskwa junge Staaten, mit ehrgeizigen, weitblickenden Herr-
schern die Festigung ihres Daseins durch Entwicklung von Handel und Gewerbe
und Sicherung der Grenzen mit starken: Wollen und Können erstrebten. Die
moskowitischen Fürsten der Romanow-Dynastie, die sich nach langen Kämpfen
die Hegemonie über die anderen russischen Teilfürsten erworben hatten, mußten,
um ihren Staat lebensfähig nach innen und außen zu erhalten, Verbindungen
mit dem Westen anstreben. Der lag ihnen näher als die Kulturgebiete Chinas,
und alte Handelsstraßen führten zu ihm über die heutigen Ostseeprovinzen durch
Litauen und Rotrußland und Polen. Im Osten war jeder Vorstoß damals
ein Stoß ins Leere. Die Kraft der Moskowiter reichte nicht hin, um im
Osten bis an die gesicherten Marken des nächsten kultivierten Staates zu ge¬
langen. Die Vorstöße kühner Kosakenführer führten bis in die Steppen
Weststbiriens, nicht weiter. Im Westen war es anders. Da ergaben sich
solche Grenzen vor den Toren. Polens Grenzen waren wohl sichtbar genug,
um den jugendkräftigen Nachbarn zu reizen, doch keine Bollwerke gegen
energisches Drängen. Poros gaben sie zunächst dem Druck nach und gestatteten
russischen Einflüssen Eintritt in die polnischen Lande. Die nationale Rück-
ständigkeit und der wirtschaftliche Egoismus des polnischen Adels, wurden dann
bald auch Kanäle, auf denen der russische politische Einfluß über die Ukraina
und später durch Litauen sich tief nach Polen hinein e'mfraß, schließlich so weit,
daß der Nachbar im Westen, der Kurfürst von Brandenburg und König von
Preußen, diese Einflüsse politisch zu empfinden begann und somit beunruhigt
werden mußte. Polens staatliche Selbständigkeit war tatsächlich nur eine schein¬
bare, eine formale; es regierten die Agenten Katharinas der Zweiten von
Nußland. Das Bedürfnis seine Grenzen im Osten abzurunden, wirkte auf
Friedrich den Großen in der gleichen Richtung. In dem heimlichen preußisch¬
russischen Kampf um Polen, der sich aus diesen Verhältnissen entwickelte, ergriff
Maria Theresia für die Polen Partei dnrch Unterstützung der polnischen Kon¬
föderierten, die gegen Rußland Stellung nahmen, und war schließlich bereit in
Polen einzurücken, wenn nicht Josef der Zweite dies unter dem Einfluß
Friedrichs des Großen vereitelt hätte. Gleichzeitig waren Frankreichs und der
Türkei Interessen derart, daß beide Reiche ihren Vorteil darin sahen, Polen zu
unterstützen, eine Verbindung, die im neunzehnten Jahrhundert Adam Mickiewicz'
politische Auffassungen stark bestimmte und heute auf das Denken der Polen
von nicht unbeträchtlichen Einfluß ist. Friedrich sah den günstigsten Ausweg aus
den polnischen Wirren für Preußen in der Teilung Polens, mochte aber öffentlich
den ersten Schritt dazu nicht tun, sondern überließ dies Josef dem Zweiten, der
1769 die Teilungen einleitete durch Besetzung des Zipps mit Saatz und
Neumarks.
Somit war im Grunde das polnische Problem im achtzehnten Jahr¬
hundert eine russisch-preußische Angelegenheit, belastet durch den
geringeren oder größeren Widerstand, den das hinsiechende polnische
Staatswesen, gestützt von Österreich, Frankreich und der Türkei den
Expansionsbestrebungen Rußlands entgegenstellte.
Die historischen Voraussetzungen, unter denen polnische Landesteile im
Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an die einzelnen Teilungsmächte gekommen
sind, bilden dann das Fleisch um den eben gekennzeichneten Kern des polnischen
Problems. Von hier aus huben sich die Kräfte entwickelt, die das polnische
Volk durch die Stürme von anderthalb Jahrhundert lebendig erhalten konnten.
Dies Zusammenwirken hat naturgemäß die Polenpolitik der einzelnen Staaten
empfindlich beeinflußt. Für Hohenzollern blieb hinter der Polenfrage auch in
den Zeiten der wärmsten Freundschaft zum russischen Zarenhause stets die Gefahr
des russischen Ausdehnungsdranges bestehen —, im neunzehnten Jahrhundert
verstärkt durch den Anteil, den Frankreich an den polnischen Dingen nahm,
und zuletzt auf das brennendste nahe gerückt durch Rußlands Verständigung
mit England. Die Polen schlössen sich mit ihren Snmpathieen der russisch¬
französisch-englischen Verständigung an. War aber schon das alte staatliche Polen
nicht befähigt das Volk der Polen zu einem Bollwerk gegen Rußland im eigenen
staatlichen Interesse zu bilden, so war Preußen zur Sicherung seiner Grenzen
gezwungen, das polnische Volk über den polnischen Staat hinweg dazu wenigstens
für sich selbstzu machen, solange es Zeit war! Die sich daraus mit Naturnotwendigkeit
ergebenden Gegensätze im deutsch-polnischen Verkehr mußten dann um so
schärfer hervortreten, je mehr die Polen zu einem gewissen Kraftbewußtsein
erwachten, und ihre Sympathien sich immer mehr teils dem französischen Kultur¬
kreise, teils dem russischen verbanden, woher ihnen allein Hilfe gegen Germa¬
nisierung, die nun als die nächste Gefahr empfunden wurde, erstehen konnte.
Preußen wurde, obwohl der jüngste und kleinste der Teilungsstaaten, allmählich
der Hauptfeind. Österreich war von vornherein der schützende Staat, selbst
weniger bedroht von Rußland wie Preußen damals, wenn auch nur ein
schwaches Polen vor seinen Grenzen bestehen blieb und darum weniger be¬
sorgt um sein eigenes Wohl. Die Polen find aus diesem Zusammenhange
ferner den Habsburger» zu um so größerem Dank verpflichtet, als die öster¬
reichische Polenpolitik von 1866 ab die preußische Eindeutschungspolitik in ihren
für das polnische Volkstum unwillkommenen Folgen recht gründlich aufhob,
die willkommenen aber um so kräftiger sich entwickeln half.
Nun ist der Begriff Dankbarkeit im Leben der Völker höchst wandelbar,
jedenfalls kein politisches Argument. Der Nutzen ist ausschlaggebend. Es er¬
regt daher kaum Verwundern, daß in einem bestimmten Zeitpunkt nicht Öster¬
reich in erster Linie die Früchte seiner Polenpolitik erntet, sondern Rußland, —
das nunmehr mit Frankreich und England gegen Deutschland verbündete Rußland.
Österreich behielt dennoch im Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen
verschiedener seiner slawischen Völkerschaften seine besondere Bedeutung für die
Entwicklung des Gesamtproblems. Es bildete für die Polen die Brücke zum
römisch-germanischen Kulturkreise, der sich im mitteleuropäischen Wirtschaftsbunde
eine neue politische Ausdrucksform schafft. Aber es blieb doch bis in die jüngste
Zeit eine heikle Frage, ob denn die Polen nicht schon ein zu schweres russisches
Kulturgepäck mit sich schleppten, um diese Brücke als sicher zu betreten und: mehr
wie unsere Geschichte ist die polnische voll von Beweisen für die Richtigkeit
des vorher herangezogenen Wortes Friedrichs des Großen!
Ebenso wichtig wie das österreichische Interesse an Polen, wurde im Laufe
des vergangenen Jahrhunderts für die innere Entwicklung der Polenfrage die
Tatsache, daß die Teilungen Polens erst in dem Augenblick ihren Abschluß
erhielten, als bereits nennenswerte Teile der polnischen Gesellschaft die Gefahr
der Lage erkannt und sich ermannt hatten, Mittel zum Wiederaufbau des
zerfallenden Reiches ausfindig zu machen. Als die dritte Teilung ausgesprochen
wurde, befand sich das polnische Volk tatsächlich nicht mehr auf dem Wege
des Niederganges, und als der Wiener Kongreß die Teilungen besiegelte,
gab es schon deutliche Ansätze staatlicher Kristallisation. Jene Männer, die
am 3. Mai 1791 die Konstitution zuwege brachten, sind die Väter des er«
stehenden künftigen polnischen Staates. Sie haben die Keime gesteckt, die alles
Ungemach überdauerten, das seither von der Konföderation zu Targowica bis
auf unsere Tage über das polnische Volk hingebraust ist. Rückschauend unter
die Aufstände von 1830, 1831, 1863 nur noch an wie Fieberschauer, die den
kranken Leib erschütterten, aber auch wie Reinigungskrisen, durch die die schlechten
Säfte aus dem Volkskörper hinaufbefördert wurden. Von 1864 an kaum
merklich, von den 1880er Jahren ab immer deutlicher wachsen der Polen
nationale Kräfte zu einer heute beachtenswerten Macht, wunderbar in ihren
Organen, die eine schier unbegrenzte Fähigkeit besitzen, aus allen Verhältnissen
nur gerade das herauszuziehen, was dem Volke als Ganzem zur Kräftigung
gereicht.
Dies ist in großen Zügen der Rahmen, in dem sich die Polenfrage
auch weiterhin entwickeln muß. Die vergangenen hundertfünfzig Jahre haben
naturgemäß um und an die hier bloßgelegten Hauptrichtlinien vielerlei
historisches, soziales und nationales und internationales Gerank gebracht, das
sie, teils von kundiger Hand geschlungen, kunstvoll verschleiert. ' teils planlos
überwuchert. Wenn heute von der einen Seite die Judenfrage, von der andern
die ukrainische, litauische, weißrussische, evangelische oder deutsche Frage als
gleichberechtigt in den Vordergrund gerückt werden, so gilt es sich davor zu
hüten, den Propagandisten auf diese Sonder- und Nebengebiete zu folgen.
Jede Abweichung von den Hauptlinien verwirrt nur das Ganze und erschwert die
Lösung des Hauptproblems, das zunächst eine Frage der Sicherheit Deutsch¬
lands und Österreichs gegen den Machthunger des russischen Welt¬
staatgedankens, im weiteren Verlauf ein Teilproblem der mittel¬
europäischen Bundesfrage ist. In diesem weltpolitischen Zusammen¬
hange begegnen sich auch die Interessen der Polen mit den unsrigen, denn
ihnen droht von Rußland her die Auflösung im russischen Meer.
Die durch die Teilungen bedingte Tatsache, daß die Staatenentwicklung in
Europa seit dem achtzehnten Jahrhundert ohne die Mitwirkung eines polnischen
Staatswesens und unbeeinflußt durch die Bedürfnisse eines solchen vor sich
gegangen ist, hat für die sich dem Zustande der Passivität energisch wider¬
setzenden Polen zur Folge gehabt, daß sie, in dem Bestreben sich realpolitische
Freundschaften zu gewinnen, eine Unmenge von Einflüssen auf sich wirken lassen
mußten, die sich, kraft ihrer Weltzusammenhänge stärker als die spezifisch polnischen
Ideale immer wieder als Selbstzweck durchzusetzen vermochten und schließlich
das nationale Empfinden der Polen völlig aufzulösen oder doch in Bahnen zu
lenken drohten, die den ursprünglichen Empfindungen und Wünschen der Führer
der polnischen Nation entschieden zuwider laufen mußten. Aus solchen zeit¬
weiligen Einflüssen sind im Laufe der Jahrzehnte politische Richtungen und
schließlich Parteiprogramme entstanden, die je nach der Größe ihrer Gefolgschaft
jedes neu erstehende polnische Staatswesen innerpolitisch mehr oder minder
stark belasten oder beleben müssen, je nachdem in welcher Richtung der neue
polnische Staatwirtschafts' und kulturpolitischen Anschluß nimmt. Hätten die
Russen rechtzeitig ihre Versprechungen einer polnischen Autonomie eingelöst, so
hätte das an Rußland angeschlossene Staatswesen alle europäischen Neigungen
und Strömungen als unbequem empfinden und seine innere Politik entsprechend
einrichten müssen, — nun die polnischen Führer ihr Heil an Deutschlands
Seite suchen, wird sich ihre besondere Aufmerksamkeit gegen alle von Rußland
her eingewanderten Einflüsse richten.
Der Umfang und Charakter dieser russischen Einflüsse ist im Augenblick
nicht recht greifbar, da er naturgemäß hin und her schwankte; jedenfalls wird
er um so mehr zurücktreten, je gründlicher die Niederlagen sind, die wir Ru߬
land beibringen und je größer die Vorteile ausfallen, die wir den Polen bei
ihrem politischen Anschluß an Mitteleuropa gewähren können. Bei der augen¬
scheinlich starken Neigung der Polen zum Westen, die sich seit Einzug unserer
Truppen in Warschau besonders durch die Wirksamkeit der polnischen Universität
neu belebte, treten die russophilen Strömungen erheblich zurück in ihrer
politischen Bedeutung für den Augenblick. Wir erkennen sie wohl am klarsten
durch einen kurzen Überblick über den Entwicklungsgang des polnischen Denkens
seit den mißlungenen Aufständen von 1830/31 und 1861/63. Wir erkennen
denn auch den großen Anteil, den der Westen auf diesen Entwicklungsgang hat.
Der Aufstand von 1830/31 war der letzte rein nationalen Charakters, —
eine unverfälschte polnische Bewegung mit dem Ziel der Wiederaufrichtung eines
polnischen Staates auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips und starker
Hinneigung an den Westen. Schon der Aufstand von 1863 trägt diese reinen
Züge nicht mehr; in ihm schwingen, — ebenso wie bei den Bauernrevolten
von 1846 — vom französischen Sozialismus durch Emigranten übertragene
Klasseninteressen stark mit. Die Bewegung trägt anarchische Züge. Ihr fehlt
ein scharf umrissenes positives Ziel und sie bleibt kaum mehr als eine Auf-
lehnung gegen einen den veränderten Verhältnissen angepaßten Staatsgedanken,
den der Marquis Wjelovolski herausstellt, wenn er von seinen Landsleuten absolute
Loyalität gegen Rußland fordert. Im Laufe der Jahre gewinnt das Loyalitäts¬
prinzip (Trojloyalism) erst in Galizien (1866), dann in Nußland (1380) immer
mehr an Boden und scheint geeignet der politisch-geographischen Teilung des
ehemaligen Polens auch die der Geister folgen lassen zu können, wenn nicht
der Sozialismus der Polen national geworden wäre und damit zusammen¬
hängend zugleich Träger einer Mittelstandsbewegung, die stärker als alles andere
die Einigkeit und Gleichheit der Interessen der Polen in allen drei Anteilen
vor Augen führte.
Aber die Voraussetzung hierfür war eine tatsächliche innere Abkehr vom
Aufstandsgedanken und die Preisgabe aller Hoffnungen auf eine Intervention
der Westmächte zu Gunsten der Polen, lediglich um einen polnischen Staat ins
Leben zu rufen. Die Polen hatten sich auf sich selbst besonnen und gewannen
an innerer Kraft und Zutrauen in die eigenen Kräfte in dem Maße, wie sie
für die eigene Nation arbeiteten. Es ist ein schwerwiegender Mangel nicht nur
unserer zeitgenössischen Polenpolitik, sondern auch der des großen Altreichskanzlers,
daß die Bedeutung der grundsätzlichen Abschwenkung der Polen voni Aufstands-
gedankcn für die Entwicklung des Gesamtproblems bis auf den heutigen Tag
nicht genügend gewürdigt worden ist. Manche in der äußern Politik des Reichs
und in der innern Preußens gemachte Fehler sind auf diesen Mangel zurück¬
zuführen. Für die Polen gereichte er zum Segen, denn aus unsern Fehlern
wuchsen jene Faktoren empor, die den ständigen Grund und Anreiz sür sie
ausmachten, sich national zusammenzuschließen und in positiver wirtschaftlicher
und kultureller Arbeit das Heil zu suchen, allen Geschehnissen der welt¬
politischen Entwicklung aber als aufmerksame Beobachter gegenüber zu stehen.
Die Verhältnisse waren ihnen in diesem Belange besonders in Rußland und
Preußen günstig, wo durch die Behandlung einerseits der Arkaden und andrer¬
seits Bismarcks Kulturkampfpoliti! das nationale Moment mit dem religiösen
verquickt wurde und den Nationalisten das Agitationsmittel in die Hand gab,
mit dem sie auch an die dem politischen Treiben ferner stehende Masse der
bäuerlichen Bevölkerung herankonnten.
Im Kampf um die innere Wiedergeburt, dessen nächstes praktisches Ziel,
wie schon gesagt, die Schaffung eines polnischen Mittelstandes in allen drei
Teilungsgebieten sein mußte, haben sich die Beziehungen zu Rußland aus
mannigfachen Gründen, denen wir im folgenden nachgehen wollen, enger und
tiefer gestaltet, so tief, daß viele ernste Polen darin eine Gefahr für
die polnische Nationalität zu spüren begannen. Es erwies sich, daß
im russischen Anteil den Polen die nationale Arbeit leichter wurde als in
Preußen und selbst in Galizien. In Österreich vermochten zwar einzelne Polen
zu führenden Staatsstellen aufzusteigen, doch mittelstandsbildend waren die
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem industrielosen Galizien nicht.
Daneben trug jede Reform nach demokratischen Grundsatze die Gefahr der
Stärkung des stürmisch andrängenden UkrainertumS in sich und gefährdete die
Polen in nationaler Hinsicht mehr als sie ihnen zu nutzen schien.
Jn Preußen erzielten die Polen mit ihrer Mittelstand bildenden Parole
zweifellos die größten Erfolge. Dort lagen ihnen die Verhältnisse im Staat
besonders günstig. Die vielseitig ausgestalteten Bildungsstätten, die vielfachen
Fortschritte in Industrie, Handel, Weltwirtschaft, und ein daraus sich entwickelndes
ungemein kompliziertes und verästeltes soziales und wirtschaftliches Leben gab
ihnen Bildungsmöglichkeiten, wie bei keiner der andern Teilungsmüchte. Aber
der preußische Staat gab der fremden Nationalität nicht zugleich die Möglichkeit
sich auszuleben. Und das ist wohl der letzte innere Grund, wenn die Beziehungen
von Volk zu Volk in Preußen nicht in dem Maße enger geworden sind, wie
es die dank preußischer Gesetzgebung erzielten Fortschritte der Polen erwarten
lassen konnten. Unser spätes Eintreten in die Weltwirtschaft, unser später Über¬
gang zur Kolonialpolitik zwang die Deutschen hauptsächlich ihr Fortkommen im
Innern des Landes zu suchen. Da blieb nur wenig Raum für Angehörige einer
andern Nationalität. Nur die Allertüchtigsten von ihr konnten sich in Stellungen
aufschwingen, die ihren materiellen Wünschen und ihrem sozialen Ehrgeiz ent¬
sprachen. Daraus entwickelten sich weiterhin die Hemmnisse in den Polen selbst
immer stärker, die außerhalb des preußischen Staates größere Entwickelungs¬
möglichkeiten für sich erkannten. Das natürliche Hinausstreben aus der Enge des
preußischen Staates, das sie übrigens gemein hatten mit Laufenden guten
Deutschen, die ins Ausland oder in die Kolomen wanderten, machte es
ihnen nicht mehr möglich, in den Verufszweigen Befriedigung zu suchen und
zu finden, die zu den sogenannten Herrschenden gehören, was weiterhin in
einem eirculuZ vitio8us zur Verstärkung des Mißbehagens gegen den
deutsch-preußischen Staat führte. Seit Inangriffnahme unserer Ansiedlungs-
politik mit der antipolnischen Begründung konnte sich die Zahl in den
Staatsdienst tretender Polen nicht entsprechend der Bevölkerungszunahme ver¬
mehren. Die Träger polnischer Namen, die wir in der Armee noch finden,
sind meist Nachkommen aus Familien des achtzehnten oder der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts. Auch in der deutschen Verwaltung und Justiz¬
behörde verringerte sich die Zutrittsmöglichkeit für den polnischen Andrang.
Um so mehr traten sie in die freien Berufe, wurden Ärzte, Rechtsanwälte,
Agenten, Journalisten, Privatlehrer, mit einem Wort: sie schufen vor allem
jene Schicht, die in allen Ländern den Stamm jeder Opposition gegen den
Staat bildet und bemächtigten sich der Selbstverwaltung in den Städten der
Ostmark.
Gegenüber der gekennzeichneten Enge bei uns, hob sich die Weite Rußlands
und die sich darin bietenden Möglichkeiten sozialen und materiellen Aufstiegs
den Polen genau so wie vielen Deutschen um so lockender ab. In Rußland
war der Nutzen, die russische Sprache zu erlernen, offenbar. Ihre Kenntnis
vermittelte deu Zutritt zu den führenden Kreisen und verhalf zu Einfluß und
Stellung. Der Kontrast wurde um so größer, je mehr die Polen russisch lernten
und die russische Eiscnbcihnpolitik, die Industrialisierung, die Entwicklung von
Handel nach Osten und Süden den Polen die Möglichkeit bot, als überlegene
Konkurrenten neben die russischen Anwärter zu treten, während bei uns sür
jeden Posten hundert Anwärter vorhanden sind und die historische Entwicklung
den Zutritt zu den führenden Ämtern im Staat eigentlich nur ganz bestimmten
Kreisen offen gehalten hat.
Die wirtschaftliche Verbindung zwischen Polen und Moskowien hat erst
verhältnismäßig spät, jedenfalls nach dem Aufstande von 1863 mit dem Ausbau
der Verkehrsmittel und der beginnenden Industrialisierung vorwiegend unter
Mitwirkung deutscher Unternehmer in der für den sozialen Aufbau des Volkes
wirkungsvollen Weise eingesetzt; die Annäherung und Aussprache zwischen den
geistigen Führern begann dagegen schon im achtzehnten Jahrhundert; sie ist
ein Ausschnitt aus der Geschichte des Panslawismus. Während aber die wirt¬
schaftliche Verbindung der polnischen Weichselgouvernements mit dem übrigen
russischen Staatsgebiet gewaltsam durch tiefgreifende Reformen und streng gehand-
habte Verwaltungsvorschriften einseitig als eine Machtäußerung des Zaren durch¬
geführt wurde, fanden sich die geistigen Führer von hüben und drüben freiwillig
zusammen. Auf der einen Seite Agrarreform, Gerichtsreform, Universitätsstatute
und Schulverordnungen, mit ihrem mechanischen Druck auf die polnische Nationalität,
auf der andern die Namen: Alexander der Erste — Adam Czartoryski — Puschkin—
Mickiewicz, Alexander der Zweite — Wjelopolski, Kawelin — Pypin — Spasfo-
wicz — Pilz — Karejew — Switztochowski — Pogodin — Roman Dmowski —
Ossuchowski — Suworin — Lednicki und mancher andere — das sind die Mark¬
steine und Wegweiser an der Bahn polnisch-russtschenZusammenhangs, denen, woran
erinnert sei, ebensolche polnisch - europäischen Zusammenhangs gegenüberstehen,
eben diejenigen, die jetzt die Führung des polnischen Volkes in der Hand haben.
Der polnische Bauer, den Alexander der Zweite befreite, mit Land aus¬
rüstete, und in scharfen Gegensatz zum Grundherrn brachte, ist der eigentliche
Träger des russisch-polnischen Zusammenhangs. Seine mangelhafte Bildung
zusammen mit der der Bauernbevölkerung eigenen, auf das grob materielle Nächste
gerichteten Sinnesart, machte ihn besonders dazu geeignet.
Nach der Bauernbefreiung war es noch möglich, daß die Polen russische
Soldaten überfielen und das Auftreten des Marquis Wjelopolski ver¬
warfen und hintertrieben — was das Signal für die russische Regierung
wurde, die Reformen in ganz Rußland abzubrechen —, 1905 führte der Kampf
gegen den absoluten Beamtenstaat in Rußland die Polen aller sozialen Schichten
an die Seite der entsprechenden Kreise der Russen: die Intelligenz ging mit
der Intelligenz, die Arbeiter gingen mit den Arbeitern; Gutsbesitzer und Industrielle,
geführt von litauischen Magnaten, beteuerten dem Fürsten Swiatopolk-Mirski
ihre Ergebenheit für den Zaren. Die materiell zufriedengestellten Bauern
hielten sich still. 1863 überwog noch das trennende, 1907 aber schon das
einende Moment! Der Kampf gegen den absolutistischen Beamtenstaat um
die Freiheit des Jndividums hat aber nicht allein eine theoretische Aussprache
und Verständigung der polnischen mit der russischen Nationalität ermöglicht,
sondern auch das durchaus praktische Ergebnis gehabt, einen gemeinsamen Feind
zu finden, nämlich Deutschland und das Deutschtum auf der einen Seite als
den angeblichen Bundesgenossen der Reaktion, auf der andern als den Bedrücker
der Polen. Eine Massenhypnose gegen das Deutschtum, wie sie alle Welt
beherrschte, die unter den Einfluß Frankreichs und Englands geraten war.
1861/63 war es das Eingreifen Preußens durch die Alvenslebensche Kon¬
vention, 1905/07 die durch einen günstigen Handelsvertrag angeblich erkaufte
Neutralität Deutschlands gegenüber den innerrussischen Auseinandersetzungen, die
dem Deutschtum von Polen und Russen in gleichem Maße zum Vorwurf gemacht
werden. Der Herr Reichskanzler hat die damit zusammenhängende Legenden¬
bildung in seiner großen Reichstagrede am 28. September energisch zurückgewiesen.
Dennoch ist von diesen Tatsachen bei einer Beurteilung der Stimmung der
Polen auszugehen, denn nicht das was wirklich ist, ist maßgebend, sondern das
was geglaubt wird! Die Bedeutung der politischen und wirtschaftlichen Zusammen¬
hänge wird dadurch in das für die Beurteilung der Lage richtige Verhältnis
gebracht. Wir erfahren durch sie Umfang und Tiefe der inneren Hemmungen,
die unter der Oberfläche jedem Bemühen, Polen und Mitteleuropa zu verbinden,
entgegenarbeiteten und bekommen einen richtigen Begriff von der Kraft, die
außerhalb Rußlands heranwuchs und sich nun anschickt, den russischen Bann
zu brechen.
Die während der Epoche wirtschaftlicher und administrativer Zentralisation
immer schneller wachsende Zahl gleichzeitig, wenn auch unbewußt im Sinne
dieser Zentralisation wirkender Männer zeigt, wie das bindende Band zwischen
Russen und Polen breiter und fester geworden. Die polnischen Bäche rannen
feit Jahrzehnten in immer wachsender Welle ins russische Meer! Kann ihr Lauf
aufgehalten oder abgeleitet werden?
Die sozialpolitisch bedeutsamen Tatsachen, die diesem poetischen Bilde
Puschkins zugrunde liegen, offenbaren sich in dem Aufblühen zahlreicher polnischer
Kolonien im Innern Rußlands.
Zahlenmäßige Angaben, die die Entwicklung der polnischen Kolonien in
Rußland richtig wiedergeben, also auch in die neueste Zeit hineinreichen, waren
bisher nicht möglich zu erhalten; immerhin geben die polnischen Arbeiten von
Czynski und Rasinski. die im Jahre 1397 mit rund 165000 Polen in den
reinrussischen Gouvernements rechnen, einige wertvolle Anhaltspunkte.*)
Wer sind diese 165 000 Polen im Innern Rußlands, aus welchen sozialen
Schichten setzen sie sich zusammen? Es sind, abgesehen von gelernten Fabrik¬
arbeitern und Handwerkern, vor allen Dingen Kaufleute, Ingenieure, Eisen¬
bahnbeamte, Beamte der Finanzverwaltung, Juristen u. a. in. In Se. Peters¬
burg war der Pole Spassowicz durch Jahrzehnte einer der gefeiertsten Juristen
und geschätztesten Mitarbeiter des liberalen „Europäischen Boten". Im Senat,
dem höchsten russischen Gerichtshofe, sind die Männer deutscher Herkunft, die
früher daselbst stark vertreten waren, sämtlich ersetzt durch solche russischer und
polnischer Abstammung. Entsprechend war der polnische Einfluß in der russischen
Beamtenschaft, aber auch die Abhängigkeit der Polen von Rußland gewachsen.
Die polnischen Kolonien sind geistig gehobene Mittelpunkte des russischen
Lebens, so der Hauptstädte wie der Provinz. Eigene polnische Preßorgane,
Theater, Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Sportvereine u.' a. in. geben
Zeugnis von dem in ihnen pochenden nationalen Leben.*)
In den polnischen Kolonien gesellschaftlich zu verkehren, ist für die russischen
Gebildeten inmitten der sie umgebenden geistigen Öde Erholung und Förderung.
Im Gefolge der polnischen Kolonien steht die Entwicklung der katholischen Kirche
Außer diesen waren 1897 noch 48 455 Polen als Soldaten in diesen Gouvernements ein¬
gezogen. (Edward Czynski unter Mitwirkung von T. Tillinger. Ltno^rakiczino-stÄtxst^czin^
Zar^s llesebnosci i roiisiecZIenja luclnosei polskiej. II. Aufl. Warszawa 1909. E. Wende
u. Co. S. 103.)
*) Rasinski, der sich die Zusammenstellung der Verniögen von polnischen Vereinen,
Klubs, Aktien- und anderen Gesellschaften zur Aufgabe gemacht hat, macht für das Jahr 1919
folgende Angaben über die im Innern Rußlands vorhandenen Organisationen:
10 067 zusammengeschlossene Personen mit Vermögen von zusammen 4 524 822 Rubel
und Bibliotheken von 6790 Bünden. (Faustin Rasinski, ?race ststvst^esiiö. Warszawa 1913.)
Bon dem Vermögen gehörten
(Faustin Rasinski, große Tabelle 4. Hauptspalte.)
auf russischem Boden. Wo vor fünfundzwanzig Jahren noch kein Pole war,
erheben sich heute katholische Gotteshäuser mit einem oder mehreren Geistlichen,
und je größer die Kolonien werden, um so größer wird die Zahl und damit
allen Beschränkungen zum Trotz auch die Macht des katholischen Klerus in
Nußland.
Die nach Rußland übersiedelten Polen hängen fest zusammen mit ihrer
Heimat an der Weichsel. Wenn ihr Einfluß auch noch nicht stark genug war,
um auf die russische allgemeine Staatspolitik und die Polenpolitik im besonderen
einwirken zu können, so halfen sie doch im Kleinen: der polnische Eisenbahn¬
direktor schanzte Aufträge den polnischen Firmen im Weichselgebiet zu, der
polnische Beamte im Finanzministerium brachte den polnischen Banken und
Handelshäusern Kredite und Erleichterungen im Verkehr mit der Reichsbank.
In Warschau und Petersburg gibt es eine Anzahl polnischer Rechtsanwälte,
die bis zur Einnahme Warschaus durch die Armee des Prinzen Leopold von
Bayern von weiter nichts lebten und große Vermögen erwarben als von der
Vermittlung solcher „nationaler" Geschäfte. Das war praktische Mittelstands¬
politik unter russischer Herrschaft.
Die russische Politik in den Westprovinzen sorgte dafür, daß die polnischen
Kolonien im Innern Rußlands sich vermehren, freilich nicht um die Polen
voranzubringen, sondern um sie im Weichselgebiete möglichst stark durch
Russen zu durchsetzen und sie dann um so sicherer im russischen Meer
untergehen zu lassen. So ist die Regierung bestrebt gewesen, überall in
Polen und Litauen, wie auch in Wolhynien und Podolien, alle Beamten-
stellen durch Moskowiter zu besetzen. Als vor wenigen Jahren die Warschau-
Wiener Bahn verstaatlicht wurde, mußten tausende von Beamten ihre
Stellungen aufgeben und an Eisenbahnen ins Innere gehen, weil das Gesetz
die Verwendung von rechtgläubigen Russen in den bisher von ihnen besetzten
Stellen vorschrieb. Es ist richtig, daß die Polen diese Beschränkung peinlich
empfanden und daß sie jede sich bietende Gelegenheit nützten, um dagegen auf¬
zubegehren. Aber die deutschen Verhältnisse empfanden sie schwerer, seit die
preußische Ansiedlungspolitik polnischen Boden bedrohte, was die russische Methode
nicht tut, die im Gegenteil den polnischen Bauer nach durchaus demokratischen
Grundsätzen auf Kosten des Großgrundbesitzers begünstigt.
Die Bedeutung der polnischen Kolonien in Rußland, die nach Rasinski") durch
einzelne der größeren Gesellschaften und Vereine in Personalunion mit entsprechenden
Organisationen in Warschau verbunden sind, wächst für das polnische Gesamt¬
leben nicht nur mit ihrer Zahl. Die Tatsache ihrer Lebensfähigkeit inmitten
des russischen Meeres und der Anerkennung durch die russische gebildete Gesellschaft
hat das polnische Selbstgefühl erheblich gesteigert und das Selbstvertrauen der
Polen gegenüber dem russischen Stamm wächst um so stärker, je verrannter dieser
auf die Ausrottung der Deutschen bedacht ist. Der Einfluß auf die Entwicklung
der Stimmungen im Weichselgebiet konnte sich aus diesem Zusammenhange
heraus um so mehr durchsetzen, als der russische Staat schwächer geworden und
je mehr die Kreise der russischen Intelligenz, die seit fünfzehn Jahren und länger
intime direkte Beziehungen zu den Polen in Warschau und in den polnischen
Kolonien gepflegt haben, Einfluß auf die Regierung gewannen und sich ihrerseits
nach Bundesgenossen umsahen. Waren es früher in erster Linie die Magnaten
in Litauen, Weißrußland und in der Ukraina, die mit ihrem Familienanhang
Träger der sogenannten russischen Orientierung — später Ugoda — waren, so
waren es bei Ausbruch des Krieges von 1914 laufende als Beamte, Ingenieure
und Kaufleute aus den breiten Schichten eines neuen Bürgerstandes, die die
Verbindung aufrechthielten und verinnerlichten. Aber die Gesamtheit dieser
Strömungen hatte doch nur dadurch eine größere national-politische Bedeutung
für die Polen, weil sie letzten Endes emporwuchsen aus dem polnischen Bauern¬
stande, den eine zwar nicht moralische aber doch konsequente Politik dem russischen
Staate eng durch wirkliche und vermeintliche Wohltaten verpflichtet hat und —
weil in einem für die Polen höchstentscheidenden Augenblick, nämlich als Fürst
Bülow im Preußischen Landtage das Enteignungsgesetz von 1908 durchdrückte,
die russische auswärtige Politik in Bahnen einlenkte, die entschieden von Berlin
fortführten. Gelingt es dem neuen polnischen Staate, die Bauern an sich zu
fesseln, so könnte der russisch-polnische Zusammenhang, in seiner Wurzel ge¬
troffen, auch an politischer Bedeutung einbüßen.
Die politischen Konsequenzen der geschilderten Entwicklung mußte Österreich-
Ungarn am härtesten empfinden, gegen dessen Existenz die russische auswärtige
Politik immer unverhohlener gerichtet war. Die weit vorgeschrittene Entwicklung
des Parlamentarismus und die große Freiheit, denen sich die einzelnen Natio¬
nalitäten in der Habsburgischen Monarchie erfreuen, bildeten die Brücke für den
unwillkommenen russischen Einfluß.
Die Niederlagen Rußlands auf den Schlachtfeldern der Mandschurei und
die im Anschluß daran in Rußland ausbrechenden Unruhen veranlaßten die
russische Regierung den kulturellen Wünschen der nicht orthodoxen Staats¬
angehörigen, darunter den Polen, verhältnismäßig weitgehende Zugeständnisse
zu machen. Die Polen griffen, wie ihre Ergebenheitsadresse an den Nach¬
folger Plewes im Amt eines Ministers des Innern, Fürsten Swjatopolk-
Mirski, vom Spätherbst 1904 beweist, um so lieber nach der dargebotenen Hand,
als sie eine Ausschaltung Rußlands aus den europäischen Fragen und damit
eine große Stärkung des deutschen Übergewichtes über die slawische Welt glaubten
befürchten zu müssen. Sie fanden sich in dieser Beurteilung der Lage mit den
Tschechen zusammen, die im Begriff standen, den Einfluß der Deutschen in
Böhmen ans ein Nichts herabzudrücken. — Aus der russischen liberalen Ge¬
sellschaft, die in scharfer Opposition zur russischen Regierung stehend, zu Re-
formen auf breiter Grundlage drängte, erklangen gleichfalls Stimmen, die es
den Polen wünschenswert erscheinen ließen, jede nationale Engherzigkeit zurück¬
zuweisen und sich auf den Boden allslawischer Ideen zu stellen. Es entsteht in
Rußland schon 1905, in Galizien 1906 eine Bewegung zugunsten der Schaffung
einer slawischen Solidarität, mit der Spitze gegen das Deutschtum. In Peters¬
burg sammelt der Sohn des Begründers der „Nowoje Wremja" um die neu
ins Leben gerufene „Russj" die radikaleren Elemente, in Moskau Fürst Eugen
Trubetzkoj um den „Moskowski Jeshenedjelnik" die gebildeteren von hüben und
drüben. Die konstitutionellen Demokraten, zu denen Miljukow gehört, be¬
wirken Aussprachen auf den geheimen Sjemstwokongressen zu Moskau und in
den Sitzungen der Kaiserlichen ökonomischen Gesellschaft zu Se. Petersburg, in
denen Maxim Kowalewski, Herausgeber des „Wjestnik Jewropy" und späteres
Reichsratsmitglied, eine vermittelnde Rolle spielt. Man einigte sich nach Zu¬
sammentritt der russischen Volksvertretung auf der Autonomie des Weichfel¬
gebiets und Gleichberechtigung der polnischen Sprache mit der russischen in
ganz Rußland, nachdem schon 1905 dem polnischen Schulverein, der Naner?
8xlcolriA, die Genehmigung erteilt worden war, im Weichselgebiet und in
Litauen Schulen zu errichten.
Für die österreichischen Polen gewannen diese Besprechungen erst eine
realpolitische Bedeutung, als die russischen Patrioten den Panslawismus
als die Rettung Rußlands proklamierten und gleichzeitig jene Bewegung in
Petersburg die Oberhand zu gewinnen schien, die vom englischen Botschafter
mit Hilfe des russischen Historikers Pilenko in der gekauften „Nowoje Wremja"
klug genutzt, einen engeren Zusammenschluß der russischen mit der englischen
Politik mit ausgesprochener Spitze gegen Deutschland erstrebte.
In Kulan vertrat, zuerst wenig beachtet oder zurückgewiesen, der „swjet
Slowianski" die Idee der slawischen Solidarität mit wachsendem Erfolge. Sie
gewann sich die Mehrheit des Polenklubs im Jahre 1908 nach der Annahme
des Enteignungsgesetzes im Preußischen Landtage und der Zusammenkunft
König Eduards des Siebente» mit Nikolaus dem Zweiten in Reval. Daß aber
gerade diese beiden politischen Tatsachen es waren, die das polnische Denken
in Richtung auf den Panslawismus hinlenkten, und nicht etwa russische Kon¬
zessionen an die Polen auf kulturellen Gebiet, darf gefolgert werden, einmal
aus der Tätigkeit des bekannten englischen Publizisten Dillon in Nußland und
Polen und aus dem Umstände, daß nicht nur die oben erwähnten polnischen
Schulvereine längst (1907) aufgelöst waren, sondern Stolypin auch das Gesetz
der Lostrennung des Cholmer Landes vom Weichselgebiet in Vorbereitung hatte.
Wenn dennoch eine Verständigung zwischen Polen und Russen herbeigeführt
werden konnte, fo gebührt der Verdienst dafür Roman Dmowski, einen polnischen
Nationaldemokraten und Allpolen und den Polen im russischen Reichsrat.
Im Mai 1908 fanden, angeregt von einigen russischen Neichsratsmit-
gliedern Besprechungen in Petersburg zwischen Vertretern verschiedener slawischer
Stämme (Tschechen, Slowenen, Ruthenen, Polen) statt, an denen u. a. drei
österreichische Parlamentarier teilnahmen. Roman Dmowski, Graf Bobrinski,
und verschiedene Vertreter der polnischen Ugoda (Versöhnungspartei) schlugen
die Brücke zur russischen Regierung. Dmowski vertrat dabei den Standpunkt,
daß die Polen, um die antideutsche Koalition überhaupt zustande kommen zu
lassen, sich territorial auf ihren ethnographischen Besitzstand beschränken müßten;
nicht die Russen, sondern das Deutschtum sei der gemeinsame Feind der Polen
und Slawen.
Dmowskis Beweisführung fand verständnisvollen Widerhall in Galizien und
in Posen (Kurier Poznanski). Freilich, solange die konservative Partei im
Wiener polnischen Koko herrschte, verhielt sich auch die offizielle parlamentarische
Vertretung der Polen in Galizien den Petersburger und Warschauer Lockungen
gegenüber abwartend, benutzte sie höchstens zu kleinen Erpressungen bei der
Regierung. Diese Stimmung änderte sich nach Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts in Galizien, in dessen Folge die bis dahin durch die Polen fast aller
politischen Rechte beraubten Ruthenen in größerer Zahl in den österreichischen
Reichstag Eingang fanden. „Das Erscheinen der Ruthenen auf der politischen
Bühne", schreibt der österreichische Historiker Hans Übersberger in einem
.Rußland und der Panslawismus' genannten Aufsatz*), „wurde nun von der
allpolnischen Partei zu heftiger Agitation unter dem Vorwande der Bedrohung
des polnischen Besitzstandes in Ostgalizien ausgenutzt. Diese Agitation
war von Erfolg begleitet. An der Spitze des bis dahin allmächtigen
Koko Polskie im Wiener Reichsrat trat ein Allpole. Ihr Programm aber
war offen ein russophiles in allen drei Teilungsstaaten. Ihre
erste Aufgabe sahen sie in der Niederwerfung des deutschen Reiches, um
die Brüder in Posen zu befreien. Bis zur Erfüllung dieser Aufgabe
waren sie bereit, ihr endgültiges Ziel: die Ausrichtung Polens in den Grenzen
von 1772, zu vertagen, loyal die Pflichten eines österreichischen oder
russischen Staatsbürgers zu erfüllen, wobei, wie Dmowski sagte, es der
russischen oder österreichischen Regierung gleichgültig sein könne, welche Ideale
sie in der Zukunft zu verwirklichen trachten. Um dieses erste Ziel zu er¬
reichen, waren sie bereit, bezüglich Rußlands Ansprüche auf Litauen und
Kleinrußland vorläufig aufzugeben, sie verlangten dort für ihre Konnationalen
nur Gleichberechtigung, dafür aber forderten sie in Kongreßpolen volle Autonomie
mit der polnischen Sprache in Amt, Gericht und Schule. Als Äquivalent
dafür boten sie der russischen Regierung folgendes an: Überall dort, wo die
ukrainische Sprache in Amt, Gericht, niederen und höheren Schulen Geltung
erlange, solle auch die russische Sprache gleichberechtigt sein. In dürren
Worten, die Loyalität gegen Österreich hörte dort auf, wo es sich um eine
Lebensfrage des Staates handelte, um die Sicherung einer Grenzmark gegen
den rollenden Rubel. Die russische Regierung aber, die seit jeher die ukrainische
Bewegung in Rußland mit den schärfsten Repressalien unterdrückt hatte, weil
sie die Einheitlichkeit des russischen Stammes und damit die Vorherrschaft des
Großrussentums bedroht sah, war jetzt nach den Erfahrungen der Autonomie¬
bestrebungen der Nationalitäten und dem starken ukrainischen Klub der ersten
und zweiten Duma um so mehr darauf bedacht, eine solche Bewegung auch
jenseits der Grenzen zu bekämpfen. Diese ukrainische Bewegung war also das
einigende Band, das sich um die Allpolen und die russische Regierung schlang.
Kurz vor der Petersburger Tagung war gerade der Statthalter von Galizien,
Graf Potocki, der in Verkennung der Existenzinteressen des Staates, dem er
diente, die russophile Bewegung und ihre Anhänger förderte, dem Attentate
eines ukrainischen Studenten zum Opfer gefallen. Zu dem alten Gegensatze
zwischen Rußland und Österreich-Ungarn in der orientalischen Frage trat also
jetzt in aller Schärfe ein zweiter, der Gegensatz in der ukrainischen Frage. So
sehr die russische Regierung ein Interesse haben mochte, auch jenseits ihrer
Grenzen ein kulturelles Emporwachsen des ukrainischen Volkes zu verhindern,
so sehr lag es andererseits im Interesse Österreichs, die geistige und wirtschaft¬
liche Entwicklung der kaiser- und staatstreuen Ukrainer zu fördern. skrupellos
in ihren Mitteln feit jeher, hat die russische Regierung sich nicht gescheut, ihre
Abwehrmaßnahmen gegen die ukrainische Bewegung selbst auf österreichisches
Staatsgebiet zu übertragen. Mit russischem Geld und gefördert von den im
Polenklub allmächtigen allpolnischen und podolischen Gruppen hat die russophile
Bewegung nun in Galizien mit verdoppelter Kraft eingesetzt und vor allem
durch weit ausgebreitete Spionage den Boden für einen militärischen Zusammen¬
stoß für Nußland vorbereitet."
So fehr Rußland und russisches Wesen das polnische Denken in seinen
Bann gezogen haben mag, gab es und gibt es genug polnische Patrioten, die
dieser Entwicklung mit Mißbehagen und tiefster Abneigung entgegenstehen. Sie
waren vor dem Kriege über die ganze Welt zerstreut, wo sie „der Wissenschaft
auf fremder Erde dienten, sehnlich die Stunde erwartend, in welcher sie ihre
Kräfte der Pflege der vaterländischen Wissenschaft widmen können."*) Alle diese
Männer stellten sich in den Dienst des deutsch-österreichisch-ungarischen Ver¬
bündeten. In Galizien trat eine polnische Freischar ins Leben, die nach Über¬
windung gewisser innerer aus der Vorgeschichte ihres Daseins erwachsener
Krisen sich Ruhm und Bewunderung der deutschen Truppen erwarb, mit denen
sie in vorderster Reihe gestanden hatte, so daß die oberste Heeresleitung sich
genötigt sah. der Taten der polnischen Legion in ihren Berichten besonders zu
denken. — Um das Hauptquartier des Generalgouverneurs von Warschau,
Exzellenz von Beseler. kristallisierte sich bald ein Kreis von geistigen Führern
des polnischen Volkes, nachdem diese aus den Vorbereitungen zur Neubelebung
der polnischen Universität zu Warschau erkannt hatten, daß die deutschen Heere
tatsächlich nicht als Eroberer des Landes kamen, sondern als Befreier der
polnischen Kultur von der russischen. Diesen Männern ist in erster Linie die
Aufgabe zugefallen, die bereits eingetretenen Schädigungen des polnischen
Geistes durch Rußland zu beseitigen, in der Nation das Bewußtsein ihrer
kulturellen Eigenheit wieder zu erwecken und damit die Voraussetzungen politischer
Selbstbestimmung neu zu schaffen. Bei der feierlichen Eröffnung der Warschauer
Universität am 15. November 1915 gab deren erster Rektor seiner vertrauenden
Stimmung beredten Ausdruck durch seine Ansprache an die akademische Jugend:
„... Ohne gegenseitiges Vertrauen," führte Professor Dr. meat. Joseph Brudzinski
aus, „ohne Eure Arbeit, ohne Euer Verständnis für die Wichtigkeit dieser Stunde
und Euer Festhalten an dem polnischen und dem rein wissenschaftlichen Charakter
der Universität werden wir allein nichts ausrichten können. Ich fordere Euch
auf, junge Arbeitsgenossen, daran zu denken, daß, ,wer ein Volk verderben
will, die Fackel der Bildung bei ihm auslöschen soll' (Staszic), daß also, wenn
man Euch ebenso wie uns diese brennende Fackel heute in die Hand legte, es
unsere Aufgabe ist, ihr Erlöschen zu verhüten, daß es unsere und Euere Pflicht
ist, mit dieser Fackel vor dem Volke herzugehen und zu leuchten, . . ."
Von der Warschauer polnischen Universität aus hat sich der Geist des
Vertrauens ausgebreitet, der seinen Ausdruck findet in der Gewährung der
Autonomie an das bisherige russische Polen durch die verbündeten Mittemächte.
Möge sich dies Vertrauen, das zugleich eine hohe Anerkennung der Disziplin
des polnischen Volkes gegenüber den geistigen Führern ist, durch die nahe und
fernere Entwicklung des politischen Lebens rechtfertigen. Eine Lösung des
polnischen Problems bedeutet die Autonomieverleihung für das Gebiet des alten
Kongreßpolen nicht! kann es auch nicht bedeuten! Sie ist vielmehr nur ein
richtunggebender Schritt. Die Polen mögen daraus erkennen, in welcher Weise
sich die deutsche Reichsleitung die künftige Entwicklung der kulturellen Be¬
ziehungen der Völker Mitteleuropas denkt, — wir Deutsche aber wollen uns
nicht der Hoffnung verschließen, daß der Größe der hier aufgezeigten Ziele sich
bei den beteiligten Völkern und Staaten auch ein großes Geschlecht finden möge,
so daß Friedrich der Große diesmal mit seinem Pessimismus im Unrecht bliebe.
Ebenso wie die Sicherstellung unserer Zukunft das deutsche Volk zu großen
Taten zwang, so zwingt sie uns zu großen politischen Entschlüssen.
on allen Zweigen der deutschen Volkswirtschaft sind Seeschiffahrt
und der eng mit ihm verbundene Überseehandel durch den Krieg
am schwersten betroffen; eine „Umstellung", ewe Anpassung an
die neuen aus dem Kriege selbst erwachsenden Möglichkeiten sind
bei ihnen nicht gegeben. Es ist begreiflich, wenn daher unsere
deutsche Seeschiffahrt schon jetzt ihre Vorbereitungen für die doch einmal
kommende Friedenswirtschaft trifft, um Verlorenes einzuholen und vielleicht
Neues zu gewinnen. Über dieser künftigen Entwicklung aber liegt ein Dunkel
wie wieder über keinem anderen Zweige des deutschen Wirtschaftslebens; die
Zahl der in die Rechnung einzusetzenden unsicheren Faktoren ist allzugroß.
Drei Punkte sind es vor allem, die für diese Entwicklung von der größten, ja
entscheidenden Bedeutung sind: der Umfang des künftigen überseeischen Per¬
sonen- und Frachtenverkehrs, die Konkurrenz der anderen Handelsflotten, die
von den Ententeländern angekündigten Maßnahmen eines „Handelskrieges nach
dem Kriege", die sich neben dem Ausfuhrhandel in erster Linie wieder gegen
die Schiffahrt richten.
War es doch gerade die Entwicklung der deutschen Handelsschiffahrt, die
in England, dem früheren Weltfrachtführer, zum Wachstum jenes Konkurrenz¬
neides beigetragen hat, der einer der mächtigsten Hebel der Kriegsstimmung
gegen den jüngeren Rivalen wurde. In der Tat war. trotz der immer noch
vorhandenen großen Überlegenheit der englischen Handelsflotte, das Wachstum
der deutschen relativ ein viel rascheres. Nach den Berechnungen von Bernhard
Harms hatten von 1901 bis 1911 England (einschließlich Kolonien) den Be¬
stand an Dampfschiffstonnage um 42, Deutschland dagegen um 60 Prozent ver¬
mehrt. Aber das absolute Wachstum war immer noch größer bei Englands
Flotte, so daß dieses im Jahre 1913 mit über 12 Millionen Dampfertonnage
immer noch weitaus an der Spitze der Weltdampferflotte stand; erst in sehr
weitem Abstand kam als zweite die deutsche mit nicht ganz 3 Millionen. Im
Kriege ist das Verhältnis vermutlich zu Ungunsten Englands verschoben. Ge-
naues darüber ist aus einleuchtenden Gründen nicht zu erfahren. Die offizielle
englische Statistik von Llonds Register behauptet zwar, daß die Gesamttonnage
der Schiffe über 100 Tons (also einschließlich der Segelschiffe) vom 30. Juni
1914 bis 30. Juni 1916 in England nur von 18 892 000 auf 18 825 000 zu-
rückgegangen sei, in Deutschland dagegen von 5134000 auf 3 890 000; dieser
Statistik widerspricht aber auf das schärfste die allgemeine Klage der englischen
Reeber über verloren gegangenen Frachtraum. Mitte Oktober erklärte Runciman
im Unterhaus, daß England seit Kriegsbeginn durch den Feind und Seegefahr
2 Millionen Tonnen Laderaum verloren habe. So konnte es denn zu so
grotesken Vergeltungsforderungen kommen wie der, daß für jede von Deutsch¬
land versenkte Tonne aus den deutschen Schiffsbeständen eine entsprechende Ab¬
tretung erfolgen müsse, ganz zu schweigen von Heißspornen, die gleich „Kon¬
fiskation" der ganzen deutschen Kriegs- und Handelsflotte verlangen. Man
würde aber irren, wenn man glaubte, daß solche Forderungen nur von un¬
verantwortlichen Schreiern ausgingen; Organisationen wie Lloyds Verhinderer
und die Handelskammer Manchester haben sie gestellt. Und wo man die Be¬
sinnung etwas gewahrt hat, fordert man doch Maßnahmen, die der Crom-
wellschen Navigationsakte, deren letzte Reste erst vor einem halben Jahrhundert
verschwanden, ganz außerordentlich ähnlich sehen. Man will deutsche Schiffe in
englischen Häfen entweder überhaupt nicht oder doch nur unter äußerst er¬
schwerenden Bedingungen zulassen. So verlangt zum Beispiel die Handels¬
kammer Bombay, die noch nicht so weit geht wie andere, daß während der
ersten sechs Monate nach Friedensschluß kein „feindliches" Fahrzeug in irgend¬
einen britischen Hafen zugelassen werde und nachher erst in der Weise, daß die
verbündeten und neutralen Länder Vorzugsbedingungen erhielten, etwa durch
eine Sondersteuer der „feindlichen" Schiffe. Es entbehrt nicht einer gewissen
Pikanterie, daß nach Mitteilungen japanischer Blätter jetzt schon japanische
Schisse in indischen Häfen nur unter erschwerenden Bedingungen zugelassen
werden; man sieht also, was man zu erwarten hat. Wenn man auch diese
Drohungen nicht allzu tragisch zu nehmen braucht, denn auch der Weltverkehr be¬
ruht schließlich auf Gegenseitigkeit, so kann man sich doch darauf gefaßt machen,
daß, England die deutsche Schiffahrt nach Möglichkeit Manieren wird. Sein
ausgedehnter Besitz an Häfen, Stützpunkten, Kohlenstationen über die ganze
Welt gibt ihm hinreichende Mittel dazu in die Hand. Frankreich, vielleicht
auch Italien und noch die eine oder andere Macht des Zehnverbandes werden
dem Beispiel nach Kräften folgen.
Unendlich viel wichtiger aber als der Handelskrieg ist die Konkurrenz, die
nach dem Kriege mit Sicherheit zu erwarten ist. Die kriegführenden Mächte
haben alle Ursache, das äußerste zu tun, sowohl um Verluste einzuholen als
um überhaupt „im Geschäft zu bleiben". Eine gute Illustration dazu ist die
Mitteilung, die bei den Lebensmitteldebatten im Oktober im englischen Unter¬
haus gemacht wurde, daß von den über 10 000 englischen Schiffen zurzeit für
die Auslandfahrt nur 1118 zur Verfügung stehen; bei den anderen Krieg¬
führenden liegt es noch schlimmer, während die Flotten der Mittelmächte so gut
wie ganz zum Stilliegen gezwungen sind. So konnte es nicht ausbleiben, daß
die am Kriege nicht beteiligten Mächte die Gelegenheit zur Ausdehnung ihrer
Flotten nicht vorbeigehen ließen; konnten doch die „Neutralen" gar keinen
größeren Profit machen, als zu Wucherpreisen für die Ententemächte Kriegs¬
material und Lebensmittel zu führen. In welchem Umfange die einzelnen
Länder an diesem Kricgsfrachtgeschäft beteiligt sind, läßt sich zurzeit noch nicht
übersehen. Norwegen, das vor dem Kriege über eine Handelsflotte von noch
nicht ganz 1 ^ Millionen Tonnen verfügte, hat nach Angabe des norwegischen
Büros „Veritas" seit Kriegsausbruch Schiffe mit 700 000 bis 800 000 Tonnen
Ladefähigkeit bei ausländischen Schiffswerften bestellt. In Norwegen hat aller¬
dings die Ausnutzung der Konjunktur Formen angenommen, die an schlimmste
Gründerzeiten erinnern; nach Meldungen dortiger Zeitungen sind allein in der
Zeit von Juni bis Anfang September 1916 daselbst dreiunddreißig Reedereien
neu gegründet oder erweitert worden. In den anderen nentmleuropäischen
Staaten ist man auch nicht allzu zaghaft gewesen, wenn auch die deutsche
U-Boot-Tätigkeit recht unbequem wurde. Am wichtigsten sür die Zukunft aber
sind zweifelsohne die Anstrengungen, die die Vereinigten Staaten und Japan ge¬
macht haben und weiter machen werden, um ihre Flotten zu vergrößern. Die
Angaben darüber weichen ebenfalls weit voneinander ab, zweifellos aber wird
der Schiffsraum dieser Länder, von denen die Vereinigten Staaten bisher be¬
kanntlich in der Überseeschiffahrt nur eine geringe Rolle spielten, gleichfalls be¬
trächtlich wachsen. Nimmt man hinzu, daß die anderen Länder, namentlich
England, ihre Handelsflotten nach dem „barbarischen" Vorbilde Deutschlands
fester und straffer zu organisieren und in große Unternehmungen zusammen¬
zufassen beginnen, so ist es klar, daß die Konkurrenz recht groß sein wird.
Wie steht es nun mit der Beschäftigung nach dem Kriege? Kaum gibt
es eine Frage, in der die Ansichten der Praktiker soweit auseinandergehen als
hier. Der Personenverkehr über Meer zerfüllt in den Verkehr der Kajüt-
pafsagiere und den Zwischendeckverkehr. Der erstere kostet, der Auswanderer¬
verkehr bringt Verdienst. Es ist aber recht zweifelhaft, ob dieser Aus¬
wandererverkehr demnächst wieder einen größeren Umfang annehmen wird.
Die europäischen Regierungen werden bei den starken Menschenverlusten aus
dem Kriege jedenfalls einen solchen Verkehr nicht begünstigen; höchstens daß
Italien, das schon vorher seine Söhne nicht ernähren konnte, nun nach den
großen Opfern des Krieges selbst der dezimierten Bevölkerung keinen genügenden
Nahrungsspielraum mehr gewähren kann. So dürfte die Frachtschiffahrt das
wesentlichste Betätigungsfeld bleiben. Der Umfang des Frachtgutes nach dem
Kriege läßt sich aber noch in keiner Weise übersehen. Auf der einen Seite
verweist man darauf, wie stark der Bedarf und seine Deckung durch die Unter¬
brechung der Handelsbeziehungen zurückgepreßt sei, so daß sowohl Rohstoffe
wie Fertigerzeugnisse sogleich in gewaltigen Mengen zur Verschiffung kommen
müßten; dagegen behauptet man wieder auf der anderen Seite, durch den
Krieg seien solche Mengen von Rohstoffen aller Art verbraucht worden, daß in
den ersten Jahren eine ausgesprochene Knappheit herrschen müsse. Außerdem
seien die Volkswirtschaften der einzelnen Länder, nicht nur die kriegführenden,
so leergepumpt, daß sie zunächst ihre Vorräte und Produktionsmittel ausfüllen
und ergänzen müßten, ehe sie in größerem Maßstabe ausführen könnten.
Wie dem auch sei, die deutsche Seeschiffahrt bereitet sich vor. Es ist auch
während des Krieges weiter gebaut worden, soweit das neben dem Kriegs¬
schiffsbau möglich war, vor allem aber vollziehen sich wichtige und weit--
greifende organisatorische Neubildungen. Eine innige Interessengemeinschaft
zwischen Großschiffahrt und Großindustrie, deren Aufgabenbereiche sich aller¬
dings mehrfach berühren, ist im Werden. Das Schiff als solches, sein Bau,
seine maschinelle Ausrüstung, sein Brennstoffkonsum gibt der Industrie Aufgaben
ersten Ranges; umgekehrt ist die Überseeschiffahrt mit dem Gedeihen der Ex-
portindustrie aufs engste verbunden. Ansätze zu einer solchen näheren Ver¬
bindung waren schon früher vorhanden; in einzelnen Fällen waren Gro߬
industrielle wie Krupp mit seiner Germaniawerft schon direkt in den Kreis der
Schiffahrtsinteressen eingetreten. Jetzt vollzieht sich diese Entwicklung plan¬
mäßig und im großen Stil.
Krupp selbst hatte schon früher eine Verbindung mit dem Norddeutschen
Lloyd durch den gemeinschaftlichen Besitz der großen Kohlenzeche Emscher Lippe.
Diese Beziehungen sind jetzt vertieft worden, indem der Lloyd seinen Aktionären
die Wahl eines Mitgliedes des Kruppschen Direktoriums. Freiherrn v. Boben¬
hausen-Degener, in den Aufsichtsrat des Lloyd vorgeschlagen hat. Der Lloyd
kam damit zu einer Maßnahme, die aus den gleichen Erwägungen vor der
zweiten großen deutschen Schiffahrtsgesellschaft bereits durchgeführt war.
Die Hamburg-Amerika-Linie hat nämlich in ihrer außerordentlichen
Hauptversammlung vom 28. September die Herren Hugo Stinnes, Arthur von
Gwinner und Dr. Salomonsohn in den Aufsichtsrat gewählt und damit eine
enge Verbindung sowohl mit der Schwerindustrie des Westens wie mit dem
Berliner Bankwesen hergestellt. Das Interesse, das Stinnes an der Seeschiffahrt
nimmt, ist durchaus nicht erst von heut. Die Midgard-Linie, die bereits durch
Tausch von Aufsichtsratsposten mit der Hamburg-Amerika-Linie in Berührung
getreten ist, hat er zusammen mit der von ihn? regierten Deutsch-Luxemburgischen
Bergwerks-A. G. schon früher sich dienstbar gemacht, ebenso wie die Nordseewerft.
1916 ist er, als die Wörmannlinie von der Familie Wörmann aufgegeben
wurde, zusammen mit Hapag und Norddeutschen Lloyd hier eingesprungen,
desgleichen wurden von denselben Teilnehmern enge Beziehungen zu der Deutschen
Ostafrika-Linie hergestellt. So war Stinnes schon vor seinem Eintritt in den
Aufsichtsrat der Hapag einer unserer größten Reeber geworden; seine „gemischten
Unternehmungen" verbinden Kohlenproduktion und Handel, Eisenherstellung,
Schiffsbau und Seeschiffahrt in größtem Maßstabe. Übrigens hat auch ein dritter
rheinischer Jndustriemagnat, Thyssen, sich dem Schiffsbau zugewendet.
Innerhalb dieses Schiffsbaus sehen wir gleichfalls bedeutsame Neugestaltungen.
Abgesehen von Erweiterungen alter Werften sind neue gegründet worden. Die
Hamburger - Werft-A. G.. tatsächlich ein Unternehmen der Hapag, beabsichtigt
den Bau von Reihenschiffen für die freie Schiffahrt. Bisher herrschte in Deutsch¬
land im Gegensatz zu England, wo die „Trampschiffahrt" einen großen Platz
einnimmt, durchaus die Linienschiffahrt! in dem gleichen Augenblick, da England
die Linienschiffahrt nach deutschem Vorbild stärker organisiren will, wird in
Deuschland also eine stärkere Pflege der freien Schiffahrt, natürlich ohne Vernach¬
lässigung der regelmäßigen Linienschiffahrt vorbereitet. Im Gegensatz zu letzterer,
die Schiffe für bestimmte Fahrten in individueller Bauart benötigt, muß die
freie Schiffahrt über überall verwendbare Schiffe verfügen können. Dadurch ist
es möglich, diese Schiffe nach einem Typ, als „Normalschiffe" herzustellen, ein
Gedanke, der in Amerika schon lange und in England seit einiger Zeit eine
große Rolle spielt, auch in Deutschland früher schon theoretisch empfohlen wurde.
Der „Großbetrieb", die Massenfabrikation hält damit ihren Einzug in den
Schiffsbau, selbstverständlich mit dem Vorzug einer billigeren Herstellung. Eine
zweite Gründung auf der Fischerinsel Finkenwärder. deren Bewohner insgesamt
ausgesiedelt werden sollen, nachdem die Insel vom Hamburger Staat für die
Erweiterung der Hafenanlagen angekauft worden ist, plant die Allgemeine
Elektrizitätsgesellschaft, nicht ohne Fühlung wiederum mit der Hapag. Die
A. E. G. hat mit dem Hamburger Staat einen Vorkaufsvertrag abgeschlossen,
um eine umfassende Industrie- und Schiffswerftanlage zu errichten. Sie beabsichtigt
dort den Bau moderner Dieselmotorenschiffe für die überseeische Frachtschiffahrt.
Bezeichnend für die weitreichenden Folgen dieser neuen Schiffahrtspolitik ist die
Nachricht, daß die A. E. G. auch Vorsorge getroffen hat, sich die nötigen Rohstoff-
vorträge durch Erwerb von Ölquellen in den Ursprungs gebieten zu sichern.
Der Zusammenschluß der Schiffahrt mit der Großindustrie, das ist das
Charakteristikum dieser neuen Entwicklung. Was auch die Zukunft bringen
mag, die deutsche Schiffahrt ist „in Bereitschaft."
in Krieg wie der, unter dessen Eindruck wir stehen, sollte unter
allen Umständen den Wert mit sich bringen, daß man sich auf
sich selber besinnt, daß man sich über die, im Gegensatz zu fremden
Gewalten, besonders deutlich hervortretende eigene Wesenheit ins
Klare kommt, und zwar nicht bloß auf militärischem, ebensogut
auf jedem andern Gebiete. Derartiges äußert sich in zuweilen sonderbaren
Formen in dem Kleinkrieg gegen die Fremdwörter. Aber ein solches Selbst¬
besinnen sollte tiefer greifen: es sollte hinter den Worten die Begriffe und
Sachen treffen, unter deren Fremdjoch wir leiden.
Vielleicht am stärksten tritt das hervor ans künstlerischem Gebiete, wo unser
Volk seit Jahrhunderten sich mit vollem Bewußtsein einem volksfremden
Schönheitsbegriffe gebeugt hat und noch immer beugt, so sehr, daß es seine eigene
erhabene Kunst gering geachtet, ja, sie zu einer Vorstufe jener^ fremden herab¬
gewürdigt hat. Dieser fremde Schönheitsbegriff, dem wir uns unterjocht haben,
ist der klassische, d. h. der griechische mit seinen römischen, italienischen und
französischen Ablegern. So sehr ist dieser fremde Schönheitsbegriff durchgedrungen,
daß uns „klassisch" schlechthin „mustergültig" und „meisterhaft" bedeutet, daß dies
Wort nicht eine Artbezeichnung allein, sondern die höchste Wertbezeichnung
ausdrückt, derart, daß alles Nichtklassische daneben als minderwertig gilt. Wir
wollen nicht bei der sonderbaren Begriffsverwirrung verweilen, daß in deutscheu
Häusern Jean Paul, Fritz Reuter, Shakespeare in „Klasstkerausgaben" stehen.
Wir stellen auch nur im Vorübergehen fest, daß die größten Geister unseres
Schrifttums, die Dichter von Weimar, sich als Epigonen des klassischen Alter»
tuas empfanden, weil sie sich hier und da in klassische Kostüme steckten. Vom
nationalen Standpunkt jedenfalls ist es bitter zu beklagen, daß wir nicht den
Mut zu unserer eigenen Schönheit, zu unserer eigenen ästhetischen Wertung
hatten und haben, so daß wir an unserem eigenen Geschmack ganz offen
zweifeln, bloß darum, weil er nicht der Geschmack von Athen oder Paris,
sondern unserer eigener ist, auf den sich eben jener fremde nur ungenügend
und äußerlich aufpfropfen läßt, sodaß groteske Zwitterbildungen erscheinen.
Und doch haben wir einen eigenen Schönheitsbegriff, einen eigenen Stil,
eine bodenständige Art, wie nur je ein Volk sie gehabt hat, eine Art, die sich
in übertausendjährigem tragischen Kampf gegen übermächtige Fremdherrschaft
immer wieder ans Licht gerungen hat, obwohl man ihr oft genug im eigenen
Vaterlande das Bürgerrecht versagt hat. Ja, nicht einmal einen Namen hat
diese deutsche Art in der Dichtung und in der Musik; allein in der bildenden
Kunst zeitigt sie als „Gotik" ein oft nur geduldetes Begriffsdasein. Aber sie
ist auch dort, wo man sie nicht in ihrer Besonderheit erkannt hat, nicht weniger
vorhanden, und wir werden versuchen, eben das Gotische in seiner Eigenart
zu kennzeichnen und auch in jenen Künsten sein Dasein zu erweisen, wo man
es bisher nicht beachtet hat.
Um die Eigenart des gotischen Schönheitsbegriff zu erkennen, stellen wir
ihn zunächst dein klassischen Schönheitsbegriff gegenüber, der Ästhetikern wie
Laien vielfach als Schönheitsbegriff schlechthin gegolten hat. Was ist klassisch?
Worin besteht das Wesen der klassischen Form? — Zunächst in einer vollendeten
Abgeschlossenheit und Abrundung, einer inneren Ausgeglichenheit und Harmonie,
in Klarheit und Faßlichkeit aller Elemente. Das kennzeichnet das klassische
Kunstwerk jeden Gebietes. Einheit in Ort, Zeit und Handlung erstrebt das
klassische Drama, ein fester innerer Bau ist ihm eigen. Klarheit und Übersichtlichkeit
kennzeichnet das Geschehen wie die auftretenden Menschen. — Ein Muster
harmonischer Geschlossenheit ist auch der griechische TempelI Alles ist im Gleich¬
gewicht! Die Horizontalen und Vertikalen, die lastenden Massen wie die tragenden
Kräfte sind ins Gleichgewicht gebracht, mit einem Blick überschaut man die
Gliederung. — Und die gleichen Prinzipien beherrschen die griechische Plastik
und die Malerei, soweit wir sie kennen. Auch hier werden überall in sich
ruhende Geschlossenheit, Harmonie und Klarheit angestrebt. — Zu diesen rein
formalen Grundtatsachen tritt noch das Inhaltliche. Die klassische Kunst hat
als Inhalt die Darstellung der Natur und des Lebens, freilich die auf das
Typische und Idealisierte ausgehende Darstellung. Wie den griechischen Philo¬
sophen in ihrer Mehrzahl nur der Begriff, das jenseits der wechselnden Erscheinung
gleichmäßig Beharrende, die „Idee", wahres Sein zu haben schien, so suchten
die klassischen Künstler das Typische und Ideale in ihren Darstellungen heraus¬
zuarbeiten.
So kommt es, daß unzähligen Theoretikern das Herausarbeiten des
Typischen, das „Idealisieren" als das Schönheitsbilden schlechthin erschien. —
Alle diese Kennzeichen der griechischen Kunst kehren wieder, nicht bloß aus
Nachahmung, auch aus innerer Verwandtschaft heraus bei den Italienern der
Renaissance und den Franzosen der Bourbonenzeit; ja oft genug werden die
griechischen Tendenzen in diesen Ländern noch schroffer formuliert und zu
abstrakten Forderungen erhoben.
Gewiß wird niemand den Wert und die Größe dessen, was im klassische«
Geiste geschaffen ist, leugnen wollen: aber man braucht alles das nicht als das
einzige anzusehen, das möglich ist. Gerade die Gotik erbringt den Beweis,
daß sie nicht durch, nein gegen die Forderungen der Klassik zu siegen versteht,
und wir werden zeigen, daß nicht allein in der bildenden Kunst, daß ebenso¬
gut in der Dichtung wie in der Musik der gotische Geist am Werke war und
noch immer ist. Denn nichts ist falscher als jene Vorstellung von der Gotik,
als sei sie eine Art Entwicklungsvorstufe zur Renaissance: man muß sich klar
werden, daß die Gotik ihrem ganzen Wesen nach dem klassischen Geiste fremd,
ja entgegengesetzt ist, daß sie als gleichberechtigte Kunstäußerung neben der Klassik,
nicht unter oder vor ihr zu stehen hat.
Denn in gewissem Sinne verkehrt die Gotik alle klassischen Ideale in ihr
Gegenteil: An Stelle von Abrundung und Abgeschlossenheit setzt sie das Streben
ins Ungeheure und Unendliche; an Stelle innerer Ausgeglichenheit und Harmonie
setzt sie die gewaltige Steigerung, die rauschhafte Hingerissenheit; nicht Klarheit
und Übersichtlichkeit kennzeichnen ihr Formideal, sondern gerade üppigster Reich¬
tum, strömende Fülle, die sich der Übersichtlichkeit entziehen und den Eindruck des
Unbegrenzten erzielen. — Nicht weniger deutlich treten die Unterschiede in der
Behandlung des Inhaltlichen hervor. Ist dem Griechen Darstellung des Lebens
und der Natur die Hauptsache, so geht der Gotiker mit seinem Ornament, worin
sich am reinsten jede Wesensart entschleiert, von dem unorganischen Bandmotiv
aus, und seine gewaltigsten Wirkungen erreicht er in der Architektur, d. h. einer
nicht nachahmenden Kunstart. Auch dort, wo er als Plastiker oder Maler sich
mit Inhalten des Lebens auseinanderzusetzen hat, verhält er sich seinen Vorbildern
gegenüber viel freier: ein bewußtes Streben nach dem Typischen ist nirgends
zu bemerken. Sehr wohl läßt sich aber ein Streben nach dem Außerordentlichen,
Exzentrischen, ja Bizarren erkennen, denn auch in der Nachbildung geschlossener
Vorwürfe sprengt der Gotiker die feste Form, sucht überall im Irdischen das
Transzendente, im Endlichen das Unendliche. Ist das Wesen des Klassikers
also vollendete Darstellung des Irdischen und Endlichen (auch dort, wo er
Götter bildet) — so ist die Gotik eine Kunst des Unendlichen und Transzendenten,
auch dort, wo sie ihre Motive der Endlichkeit entnimmt. — Ist man sich aber
erst dieser völlig verschiedenen Wesensart der gotischen Kunst gegenüber der
klassischen klargeworden, so wird man nicht mehr wagen, sie zu einer Vorstufe
der Renaissance herabzusetzen. Mögen persönliche Anlage und Neigung einen für
die eine oder andere Kunstweise sich entscheiden lassen — daß jede in ihrer Art
ein Höchstes erstrebt, der andern nichts an Würde und Erhabenheit des Zieles
nachgibt, wird kein objektiver Beurteiler leugnen können, — Die Gefühlswirkung,
die auf gotische Weise erzielt wird, ist vielleicht nicht die des reinen Schönheits¬
genusses im klassischen Sinne, eher die der rauschartigen Erschütterung, aber
nicht minder ein Wert höchsten Ranges/')
Dieses gotische Kunstwollen ist eigentümlich germanisch nach Ausweis von
Ort und Zeit seines Auftretens. Gewiß geht seine Ausdehnung hinaus über
das Sprachgebiet germanischer Zunge, es hat sogar im nötdlichen Frankreich
viele der schönsten Blüten getrieben, aber die Vermutung liegt doch nahe, daß
es der starke germanische Einschlag unter der Bevölkerung dieser Gegenden war,
dem die Gotik ihre Entfaltung verdankt. Doch wir denken hier bei Gotik
nicht allein an die Zeit des späten Mittelalters. Gotik ist uns kein historischer,
sondern ein psychologischer Stilbegriff und als solcher weit hinausgreifend über
die gotische Epoche im Schulherr. Gotisches Kunstwollen im oben umschriebenen
Sinne finden wir im' ganzen germanischen Norden der Frühzeit, ja vorzeit¬
licher Epochen — es beherrscht die altgermanische Ornamentik, es -ringt mit
klassischen Formen im sogenannten romanischen Stil, es entfaltet sich zu wunder¬
barer Reinheit in den Zeiten der Hochgotik und Spätgotik, welch letztere man
ganz irrtümlich als Niedergangskunst ansieht, es offenbart sich in der Kunst
Holbeins, Grünewalds und Dürers, es bricht wieder durch im Barock und
erlebt einen neuen Durchbruch durch alle klassische Tradition in der Kunst
Messels und zahlreicher Zeitgenossen. Gerade in der bildenden Kunst hat sich
der gotische Schönheitsbegriff durchgerungen, hat sich seinen Platz an der
Sonne erkämpft und, wenn er auch vielfach noch selbst in Deutschland durch
die klassizistisch gefärbte Brille betrachtet wird, selbst so zwingt er sich in seiner
Größe und Erhabenheit auf. In seiner ganzen Eigenart wird man ihn aber
auch in Baukunst und Plastik erst dort erkennen, wo man ihn gar nicht mit
klassischem Maßstab mißt, sondern aus seinen eignen Tendenzen heraus versteht,
als einen selbständigen Gegensatz zur Klassik von durchaus eigenem Weltgefühl.*)
Viel wichtiger ist es, auch in den andern Künsten, in der Dichtkunst und
der Musik, das gotische Kunstwollen, den gotischen Schönheitsbegriff nach¬
zuweisen, da er hier weit weniger zum Bewußtsein gekommen ist. Speziell in
der Dichtkunst ist er durch den Einfluß der klassischen und romanischen Literaturen
immer wieder zurückgedrängt worden. Und trotzdem bricht überall auch dort,
wo man klassischen Idealen nachhängt, mit unmittelbarer Gewalt die Gotik
durch: statt klassischer Abrundung erstrebt man unerhörte Steigerung, statt auf
klassische Klarheit und Ruhe geht man auf breiten, phantastischen Reichtum,
auf wissenschaftliche Bewegung, auf unendlich flutende Fülle aus und setzt an¬
stelle der harmonischen Humanität den unbegrenzten Schwung ins Transzendente.
Statt der abgerundeten Plastik der Gestalten und ihrer typisierten Idealität
liebt man die bis ins Bizarre, Absonderliche, ja Fratzenhafte gesteigerte
Charakteristik und will im ganzen weniger in ruhigem Maße erfreut als
leidenschaftlich erregt und erschüttert sein. Alles das aber ist gotisch und
findet seine genaue Entsprechung in der bildenden Kunst.
Diese gotischen Eigenheiten offenbaren sich am reinsten in der ältesten
germanischen Kunstform: der Ballade, die auch die Bauzelle des deutschen
Heldenepos gewesen ist. In der Ballade vom Hildebrandslicd oder von den Ge¬
sängen der Edda an bis zu Bürgers Lenore, dem Goethescher Erlkönig und Mörickes
Feuerreiter haben wir die atemlose Bewegtheit, die leidenschaftliche Steigerung zu
einzelnen Stimmungsgipfeln, das Hereinbeziehen transzendenter Gewalten, was
alles zur Erschütterung durch das gotische Kunstwollen führt. Die großen
Epen, die meist wohl unter dem Einfluß Virgils oder anderer nichtgotischer
Vorbilder entstanden sind, zeigen weit weniger deutlich das echtgermanische
Kunstwollen. Und doch ist es interessant, zu beobachten, wie trotz der romani¬
schen Vorlage der größte Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach,
in seinem Parsifal ein Werk schafft, das in seiner phantastischen verwirrenden
Fülle, in seinen unplastisch-flächenhaft und doch wieder fast karrikaturhaft
scharf gesehenen Gestalten, in seinem dunkeln Drang ins Transzendente echt
gotisch ist wie das Straßburger Münster.
Gotisch in diesem Sinn ist auch das Theater des Mittelalters, die
Mysterien mit ihrer verwirrenden Fülle von Bildern und Gesichten, die zwischen
Himmel und Hölle schwanken. Aus diesem Boden ist das Theater erwachsen,
das die reinste Entfaltung germanischen Geistes ist: die Bühne Shakespeares.
Dasselbe Kunstwollen, das wir überall am gotischen Werke gekennzeichnet haben,
kehrt hier wieder: nicht Einheit, sondern berückende, verwirrende Fülle, die ihre
Form dadurch erhält, daß sie in einzelnen gewaltigen Höhepunkten gipfelt, eine
Charakterzeichnung, die nicht die typisierende Idealisierung der griechischen
Szene kennt, sondern das Charakteristische bis zum Bizarren und Fratzenhaften
liebt, ein Leben, das bei aller Kraft und Bodenständigkeit doch durchwoben ist
von transzendentalen Beziehungen zur Geistes- und Hexenwelt.
Und aufs neue bricht, trotz aller klassischen und romanischen Einflüsse, der
gotische Geist auch im Drama nochmals durch: im Drama Goethes und
seiner Zeitgenossen, am reinsten und tiefsten im Faust. Man muß den Faust
ansehen wie eine der gotischen Kathedralen, die auch nicht nach einem Wurf
und einem Plan aufgebaut wurden, die sogar klassische Elemente in sich auf¬
nehmen konnten und doch ihren gotischen Grundcharakter wahrten. Auch hier
besteht nicht Einheit im Sinne der klassischen Dramen: die Einheit dieses
Werkes ist eine transzendente; religiöse Mystik, und grotesker Teufels- und
Hexenspuk klingen zusammen zu wunderlichem Akkord, und nur der dunkle
Drang zur Höhe hält alles zusamen.
Überall, wo der deutsche Geist sich frei entfaltet, uneingeschnürt durch
klassische Regeln, tritt die gotische Wesensart heraus, oft bis zum Grotesken
konsequent. Die Romane Jean Pauls mit ihrem barocken, gewollt-chaotischen
Inhalt, mit ihrer seltsamen Mischung von transzendentalem Hochschwung und
phantastischem Arabeskenwerk, ihren flächenhaft gesehenen, teils ins Überirdische
stilisierten, teils ins Absonderliche verzerrten Gestalten sind echte Ausgeburten
des gotischen Kunstwollens, das eben nicht auf maßvolle, ausgeglichene Schön¬
heit ausgeht, sondern auf verzückten Hochschwung, gepaart mit einem Humor,
der mit den Dingen der Welt groteske Spiele treibt.
Vielleicht ist in diesen Werken der gotische Geist zu reinerer Entfaltung
gelangt als dort, wo mit bewußter Absicht die gotische Tradition aufgenommen
wurde: in der Romantik. Es ist das keine ganz unbefangene und deshalb
oft eine gefärbte und frisierte Gotik, aber einen Hauch des gotischen Form¬
willens haben auch die Romantiker verspürt. Nur ist es eben eine Wendung
ins Sentimentale und Schwächliche, den der gotische Gedanke in der Romantik
oft erhalten hat; und eben darum müssen wir uns hüten, in der Romantik das
Gegenspiel gegen die Klassik zu sehen. Das kann allein der gotische Kunst-
wille sein, dem nicht das Treibhaushaste und Unkräftige der Romantik an¬
haftet. Immerhin aber dürfen wir in allen Äußerungen des romantischen
Geistes im neunzehnten Jahrhundert wenigstens Ableger der Gotik sehen, und
so ist also auch das neunzehnte Jahrhundert durchwoben von gotischen Tendenzen,
wenn sie auch selten nur ganz frei sich zu äußern vermögen.
Nicht weniger gewaltig als in den andern Künsten hat sich der gotische
Geist in der Musik geregt. Was wir von der Tonkunst der Griechen wissen,
stimmt ganz zu dem sonstigen klassischen Kunstideal. Diese monophonen Ton¬
gebilde in ihrer durchsichtigen Klarheit strebten eine eindeutige Gefühlswirkung
an. Erst die polyphone Musik des germanischen Mittelalters erging sich in
verschlungeneren Gebilden, die in ihrer geheimnisvollen Verwobenheit an die
typische Bandornamentik des Nordens erinnert. Und die konsequente Weiter¬
entwicklung dieser Stilmittel führt dann zur Musik der Schütz und Buxtehude.
der Händel und Bach, die in so grandioser Weise einen Stil entwickelten, der
in seinein geheimnisvoll verschlungenen Linienspiel, dem allmählichen Empor¬
türmen gewaltiger Tonmassen, seinen grellen Kontrasten ein echter Ausdruck
desselben gotischen Geistes ist, der überall in der germanischen Kunst waltet.
Haydn und Mozart, stärker beeinflußt von dem benachbarten Süden, nähern
sich dem durchsichtigen, harmonischen Schönheitsideal der Klassik, aber im
späteren Beethoven bricht sich der gotische Geist wieder Bahn, der ins Unend¬
liche und Transzendente hinstrebt. Alles, was man dieser Musik und fast aller
deutschen Musik vorgeworfen hat. sind dieselben Vorwürfe, die die Klassik stets
für die Gotik hat. Mangel an Klarheit und einfacher ausgeglichener und ab¬
gerundeter Schönheit (in der Musik vertreten durch die diatonische Melodie),
Schwerfaßlichkeit des Gefühlsausdrucks zum Selbstzweck gewordene konstruktive
Gelehrsamkeit, übertriebenes Streben nach Charakteristik, der rücksichtslos das
Gleichgewicht geopfert wird. Wenn man, in vager Anlehnung an literarischen
Stil in der Musik von Romantik spricht, so meint man eben dies. Die Musik
der Schumann und Brahms, der Bruckner und Reger fällt ganz unter diese
musikalische Gotik und selbst das Mufikdrama Wagners, das allerdings seinem
Programm nach die Musik überschreitet, ist in der Tat durchaus gotisch und
von den Italienern z. B. stets so empfunden worden. Es betont den charakte¬
ristischen Ausdruck, aber die Gestalten bleiben trotzdem flächenhaft und von
metaphysischen Nebel umwoben, ja es ist die ausgesprochene Absicht des
Meisters, eben durch die Musik schon die transzendente Atmosphäre zu er¬
halten, die seit alters der Gotik eigen ist. Und die unendliche Melodie, ti
grellen Kontraste, die ekstatischen Aufschwünge, alles das ist gotisch in dem
von uns gezeichneten Sinne.
Wir lassen es bei diesen Anregungen bewenden. Sie dürften genügen,
um darzutun, daß in der germanischen Kunst ein Formwille wirksam ist, der
vielleicht dem klassischen Ideal nicht entspricht, in gewissem Sinne sogar deren
Verneinung darstellt. Aber braucht er sich darum vor jenem zu verstecken?
Wo in aller Welt ist der Klassik das alleinige Privileg der wahren Kunst ver¬
brieft? Es ist ein alter Zug der Deutschen, stets das von außen kommende
zu überschätzen und eine mehr als tausendjährige Tradition hat uns gewöhnt,
das Klassische schlechthin mit dem Vollendeten gleichzusetzen, so sehr, daß unsere
größten Dichter sich fremdes Kostüm borgten und ihren Ehrgeiz darein setzten
für „klassisch" gehalten zu werden. Aber seien wir ehrlich! Was hat unser Volk
am tiefsten auch an Goethe erlebt: etwa die „rein" klassischen Werke wie
Pandora, die Elegien, den Helenaakt im Faust oder die freiströmende, von
keinem klassischen Ideal beeinflußte Lyrik, den Wilhelm Meister, den Götz
oder Faust, der Tragödie ersten Teil? Die Antwort kann nicht schwer sein!
Und wer weiß, ob selbst Iphigenie nicht trotz statt wegen der klassischen Form wirkt,
ob nicht das Deutsche darin die tieferen Wirkungen erweckt gegenüber dem
„Klassischen". Was uns nottut, ist Selbstbesinnung nicht bloß im Hinblick auf
unsere Schwächen, auch im Hinblick auf unsere Stärke. Wir müssen den Mut
haben zu unserer eigenen Größe, zu unserer eigenen Schönheit. Dieser Krieg,
der uns unsere ungeahnte Kraft in militärischer Hinsicht gezeigt hat, wird
hoffentlich auch die Folge haben, daß wir lernen, uns kulturell auf eigene
Füße zu stellen und nicht immer von Hellas und Paris Maß und Norm
für das zu holen, was schön zu sein hat. Wahre Vollendung wird nie er¬
reicht, indem man fremde Triebe sich aufpfropft oder in fremde Kostüme sich
hüllt, sondern nur dadurch, daß man das eigene Wesen zur vollkommensten Blüte
und reichsten Frucht ausreifen läßt.
le Wiederernennung Kleins zum österreichischen Justizminister wird
weit über die schwarz-gelben Grenzpfähle hinaus freudigen Beifall
finden; hat doch das Schaffen dieses glänzendsten lebenden Ver¬
treters der österreichischen Jurisprudenz, der nicht nur eine Zierde
seines Vaterlandes, sondern einer der strahlendsten Geister der
deutschen Rechtswissenschaft überhaupt ist, vorbildgebend und befruchtend auf
Gesetzgebung und Wissenschaft vieler europäischen Staaten gewirkt.
Die Größe der römischen Juristen wird damit begründet, daß sie auch
Staatsmänner waren. Ein solcher ist auch der erlauchte Neuschöpfer des öster¬
reichischen Zivilprozesses. Aus dem Boden hervorgegangen, auf dem die ge¬
feierten Denker der Sozialreform, ein Steinbach, ein Anton Menger, gewirkt
haben, erkannte er in anwaltlicher Tätigkeit den Rechtsstreit als ein „Fall sozialer
Not"; durch den beständigen Anblick des ebenso juristisch hochentwickelten, wie
schwerfälligen und unfruchtbaren alten österreichischen Verfahrens richtete sich sein
Sinn auf die Grundfrage, was denn der Rechtsstreit überhaupt bezweckt. Und
er, der das Augenmaß für die Dinge hat wie selten einer und dem der Geist
der Geschichte die Gedanken lenkt, erkannte: „Der Prozeß ist ein Glied des
Kräfteparallelogramms unserer Volkswirtschaft geworden, aus seiner abstrakten
Höhe herabgestiegen in die hastende Atemlosigkeit von Handel und Wandel, auf
allen Seiten umspült von finanziellen Kalkulationen. Er ist für den Geschäfts¬
mann eine Tagesfrage, die bald von anderen Tagesfragen verdrängt werden
wird." In der Schrift „pro kuturo" veröffentlichte er als Privatdozent in
Wien Betrachtungen über die Probleme der Prozeßreform. In den nächsten
zwei Jahren veröffentlichte er Entwürfe zu Prozeßgesetzen; schon 1893 gingen
sie dem Parlament zu und 1895 wurden sie Gesetz.
Klein, inzwischen zum ordentlichen Professor und alsbald zum Sektionschef
im Justizministerium ernannt, wurde 1901 Justizminister.
Kaum sah Klein die Durchführung der Prozeßgesetze gesichert, als er sich
zahlreichen weiteren gesetzgeberischen Problemen zuwandte. Vor allem waren
es einige der wichtigsten Gebiete des Wirtschaftslebens, denen sein schöpferischer
Geist neue Bahnen wies. Dem neuen Scheckgesetz, den Gesetzen für das land¬
wirtschaftliche Entschuldungswesen, die G. in. b. H., die Jugendfürsorge und das
Jugendstrafrecht hat er die Züge seines Geistes aufgeprägt. Er war es auch,
der den Grund für den österreichischen Strafgesetzentwurf legte, und der dafür
sorgte, daß Angers Anregungen einer zeitgemäßen Umgestaltung des alten
bürgerlichen Rechts durchgeführt wurden, wobei vor allem die Stellung der
Frau und des unehelichen Kindes eine erhebliche Verbesserung erfuhr. Immer
neue Arbeiten zeugen von Kleins Gedankenreichtum und Gestaltungskraft; er¬
innert sei nur noch an den umfangreichen, allgemein zu den bedeutsamsten
Werken der Sozialwissenschaftlichen Literatur gezählten Grundriß „Das Organi-
sationswesen der Gegenwart" (Berlin, Vahlen 1913), und an die jüngst er¬
schienene Studie „Amerika und der europäische Krieg" (Wien. Manz). Der
Deutsche Juristentag erkannte Kleins leuchtende Wirksamkeit für das gesamte
deutsche Rechtsleben durch seine Wahl zum Präsidenten an, und die vor kurzem
entstandene, die tunlichste Annäherung der Mittelmächte in Gesetzgebung und
Verwaltung anstrebende „Waffenbrüderliche Vereinigung" feierte in ihm einen
ihrer Gründer und Führer.
So zeigt sich der neue österreichische Justizminister als ein Mann, dessen
maßgebender Einfluß auf die geistige und wirtschaftliche Entwicklung Österreichs
und des Deutschen Reiches in reichem Maße segenbringend ist. In seiner be¬
zwingender Frische und ungebrochenen Kraft möge er unseren Waffenbrüdern
und uns lange erhalten bleiben, zum Heile fortschreitender geistigen Annäherung
und kulturellen Verschmelzung beider Reiche.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden our.
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Gren2boten
G. in. b. S.
Berlin 3>V n.
ir haben einen kranken Mann auf dem Halse, einen sehr kranken
Mann", diese von Zar Nikolaus dem Ersten am 9. Januar 1853
an den englischen Gesandten Seymour gerichteten Worte haben
das klassische Wort von dem kranken Mann am Bosporus ge¬
prägt, und nicht nur Rußland, sondern auch seine heutigen Ver¬
bündeten haben alles getan, um diesen Kranken allmählich sterben zu lassen,
ja seinen Tod zu beschleunigen. Der letzte Balkankrieg sollte ihm den Gnadenstoß
versetzen, und als dieser mißlang, sollten die Gallipolikämpse von 1915 mit
ihrem beabsichtigten Durchbruch der Dardanellenstraße dem Patienten, der eben
erst seiner Genesung entgegenging, den tödlichen Rückfall bringen.
Rußland, England und Frankreich hatten in Friedenszeiten ja bereits gute
Vorarbeit getan. Ägypten, ein türkischer Vasallenstaat, war zum Genick des
englischen Koloß geworden, Frankreich legte immer mehr seine Hand auf das
Palästina vorgelagerte fruchtbare Libanongebiet, und der türkische Osten wurde
immer mehr durch die Aufteilung Persiens zwischen Rußland und England,
aber auch durch das russische Armenien bedroht.
Keinem der türkischen Landesteile aber brachten die europäischen Gro߬
mächte solch allgemeines Interesse entgegen wie dem nur 28 000 Quadratkilo-
Meter großen und von nur einundhalb Millionen bewohnten rauhen Küstenlande
Palästina. Während jedoch Deutschland auch hier sich als der uneigennützige
Freund der Türkei erzeigte, ließen unsere Feinde sich mehr oder weniger von
Eroberungsgelüsten leiten, um dieses Glied am Körper des kranken Mannes
für sich abzutrennen. Ist doch Palästina für das christliche Europa das Heilige
Tand, dessen Besitz für jedes christliche Volk in höchstem Maße erstrebenswert
ist, und noch immer ist dies Land die Völkerbrücke zwischen Afrika und Asien wie
das Einfallstor nach Ägypten, Grund genug für den Wunsch, es sein Eigen nennen
zu dürfen. So waren denn auch fast in allen größeren Städten des Landes, vor
allem in Jerusalem und den Hafenorten Jaffa und Halfa, die europäischen
Großmächte durch ihre Konsuln vertreten, die wie sonst nur die Gesandten das
Recht der Exterritorialität genossen. Ja sogar ihre Schutzbefohlenen nahmen
kraft der von den Großmächten mit der Hohen Pforte geschlossenen Kapitulationen
an demselben teil. So durften sie nicht zur Steuer herangezogen werden, nur
der Grundbesitz und landwirtschaftliche Betrieb wurden hiervon ausgenommen,
ebenso waren die Nichtemheimischen ihrer Konsulatsgerichtsbarkeit unterstellt,
während Streitigkeiten zwischen Ausländern und Einheimischen unter Hin¬
zuziehung des betreffenden Konsulatsdragomans vor dem türkischen Gerichtshof
zum Austrag gebracht wurden. Auch durften nur in Begleitung oder mit
ausdrücklicher Erlaubnis des Konsuls türkische Beamte die Wohnung eines
Fremden betreten. Zur Aufrechterhaltung eines geordneten Verkehrs mit der
Heimat wurden in Jerusalem, Nazareth, Jaffa und Halfa, den eigentlichen
Pilgerzentren, heimische Postämter errichtet, die bei dem nach Tausenden
zählenden alljährlichen Pilgerverkehr einen empfindlichen Aderlaß des türkischen
Staatssäckels zur Folge hatten. So war es denn einfache Notwehr, wenn die
Türkei die bis in das Mittelalter hineinreichenden Kapitulationen zu Beginn
des Weltkrieges aufhob, um Herr im eigenen Lande zu bleiben.
Die den europäischen Großmächten eingeräumten Sonderrechte erweckten
bei unseren Feinden den Appetit nach mehr. Am unverfrorensten trat der»
selbe bei den Franzosen hervor, die Syrien als das „Frankreich des Orients"
betrachteten. So wurden die Beziehungen zu den christlichen Maroniten Syriens
Jahrhunderte hindurch gepflegt; schon während der Kreuzzüge fochten die
Maroniten auf Seiten der Franken, und Ludwig der Neunte schrieb in seinem
Dankesbrief für die gewährte Hilfe „Wir sind der Ansicht, daß die Maroniten
einen Bestandteil der französischen Nation bilden". Syrien aber ist das
Hinterland von Palästina, von dem aus Frankreich seine Fühlhörner nach
dem Lande Jesu ausstreckte. nennenswerte Erfolge hatte es hier gerade auf
wirtschaftlichem Gebiet in dem letzten Jahrzehnt zu verzeichnen. Nachdem
1892 die 3c>List6 6u nucum cle ter 6e la palsstme die Bahn Jaffa—
Jerusalem gebaut und in Betrieb genommen hatte, war 1912 der Ausbau
des dem Güterverkehr dieser Bahn dienenden Hafens von Jaffa, der durch
seine berüchtigten Klippen ein starkes Verkehrshindernis bot, einem Konsortium
französischer Aktiengesellschaften übertragen worden, und die SoLiöt6 ZLriLmw
6'Entreprise clans I'empire Ottomar, die mit vier Millionen Franks Kapital
arbeitet, hatte die Ausbesserung und Unterhaltung der Straßen Jaffa—Jerusalem,
Jaffa—Radius und Jerusalem—Radius zugewiesen erhalten. Vor allem aber
hat Frankreich seine Siege auf kulturellen Gebiet erfochten. Kein euro¬
päischer Staat hat nämlich so viel für die Einrichtung von Schulen im Orient
getan wie der französische: nicht weniger wie fünfhundertunddreißig französische
Schulen mit vierunofünfzigtausend Schülern zählte man vor Ausbruch des
Krieges, deren Leiter undLehrer als Träger und Verbreiter französischen Geistes ihrem
Vaterlande unschätzbare Dienste geleistet haben. Die Schrittmacher für Palästina
waren die seit 1876 arbeitenden froren 6hö öeoleg ckr6dienne8, die in
Syrien und Palästina neunzehn Schulen mit etwa dreitausend Schülern hatten,
die sich etwa zu gleichen Teilen auf beide Länder verteilten. Allerdings hat
das durch die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich hervorgerufene
Vereinsgesetz der an und für sich verdienstvollen Tätigkeit der Schulbrüder wie
anderer auf diesem Gebiet arbeitender Orden tiefe Wunden geschlagen, doch
wurden die Schulen mit freilich geringeren Beträgen auch fernerhin vom Staate
unterstützt. Doch nichts hat Frankreichs Position in Palästina so gefestigt, wie
die Inanspruchnahme des Protektorates über die römisch-katholischen Christen
Palästinas, ihre Ordensniederlassungen. Gemeinden, Schulen, sowie über die
mit Rom unierten syrischen Kirchen, aber auch über den Besitz der heiligen
Stätten. Französisch hieß soviel wie katholisch. Der französische General¬
konsul nahm als weltlicher Vertreter Roms in höchster Gala mit dein gesamten
Konsulatspersonal an den feierlichen Messen, so der Ostermesse in Jerusalem
und der Weihnachtsmessc in Bethlehem, teil, und. wenn der neugewählte
Patriarch zum ersten Mal die Grabeskirche betrat, so nahm der Vertreter der
Republik neben demselben seinen Platz ein, um damit die Schirmherrschaft
Frankreichs über die Katholiken des Landes zu dokumentieren. Die voll¬
kommen politische Wertung des Protektorates ergibt sich auch aus der Auf¬
rechterhaltung desselben noch nach dem Bruch mit dem Vatikan. Der „Marin",
das Regierungsblatt, wies damals ausdrücklich darauf hin, daß das Schutz¬
recht Frankreichs sich auf Verträge stütze, die ebenso für den Sultan wie für
die sieben Mächte, die den Berliner Vertrag unterzeichneten, verbindliche Kraft
besäßen, daß sie also mit den Beziehungen Frankreichs zum Vatikan in keiner
direkten Verbindung ständen. Freilich hat „die Mutter der Kirche" nie viel
Freude an ihrem mühsam erkämpften Schutzrecht gehabt. Gerade die Ver¬
bündeten, die griechisch-orthodoxen Russen, beanspruchten nicht weniger das
Schutzrecht auf die heiligen Stätten, und die Kirchengeschichte Palästinas ist
von Kämpfen zwischen „Lateinern" und „Griechen", in denen Frankreich dem
allierten Nußland zu Liebe immer weniger die Rechte seiner Schutzbefohlenen
wahrnahm, voll. Vor allem aber hat Deutschland das französische Protektorat
arg geschmälert. So versicherte der deutsche Kaiser anläßlich der 1898 durch
ihn erfolgten Schenkung der Dormition, der traditionellen Sterbestätte der
Jungfrau Maria, an die deutschen Katholiken Jerusalems dieselben „seines
kaiserlichen Schutzes, wo und wann sie desselben bedurften", und als Frank¬
reich im Jahre 1901 als Entschädigung für den durch die Kaiserreise von uns
in Palästina erlangten Vorsprung die gesetzliche Anerkennung seiner Schulen
im türkischen Reich wie aller Wohltätigkeits- oder Kultanstalten, deren Zoll-
freiheit zugleich gewährleistet wurde, und die volle Berechtigung zu Neu-
gründungey erlangt hatte, wurden ein Jahr später ähnliche Zugeständnisse auch
dem Deutschen Reich gemacht, so daß das französische Protektorat für die
deutsch-katholischen Niederlassungen mit ihren Arbeitern völlig illusorisch
wurde.
In ähnlicher Weise ist auch die Invasion Rußlands in Palästina erfolgt;
sie ist freilich neueren Datums, da sie erst Ende des vorige« Jahrhunderts
einsetzte, aber Staat und Kirche arbeiteten sich von vornherein ungleich intensiver
in die Hände, um bei der „friedlichen Eroberung" Palästinas durch die
Großmächte nicht die Rolle des betrübten Gerbers spielen zu müssen, dem die
Felle weggeschwommen sind. Eine nicht übel geleitete Schulpolitik sollte auch für
den Moskowiter die Bresche schlagen. Während es im Jahre 1898 in Syrien
und Palästina vierundsechzig russische Schulen mit sechstausendsiebenhundertfünf-
unddreißig Kindern gab, war die Zahl derselben zehn Jahre später bereits
auf einhundertundeins resp, zehntausend gestiegen und ist seitdem immer weiter
gewachsen. Vor allem sind Mädchenschulen eingerichtet. Die Lehrkräfte sind
durchaus ihrer Aufgabe gewachsen, sie werden in Seminaren des Landes aus¬
gebildet, nach bestandenen Examen auf einige Jahre nach Rußland geschickt und
kehren dann als „russische" Araber in die Heimat zurück, um die ihnen anver¬
trauten Kinder mit russischer Bildung zu beglücken und sie so für den ältesten
und schlimmsten Feind der Türkei zu erziehen. So findet man nicht nur in
den russischen Schulen, was erklärlich ist, Bilder des Zarenpaares, sondern
auch vielfach in den Wohnungen der früheren Zöglinge. Mit an erster Stelle
steht auf dem Stundenplan der Religionsunterricht der griechisch-orthodoxen
Kirche, so daß die Kinder römisch-katholischer, aber auch mohammedanischer
Eltern durch denselben auch in religiöser Beziehung russtfiziert werden.
Der Verherrlichung des orthodoxen Glaubens dienen aber auch die zahl¬
reichen russischen Kirchen und Kapellen. Die prächtige Kathedrale der heiligen
Dreieinigkeit in Jerusalem wie die nicht minder schöne Magdalenenkirche am
Fuß des Ölberges, die Gotteshäuser an der Küste wie in Jaffa und in der
Jordanaue in Jericho, die Klöster und Kapellen mit ihren weiten, vortrefflich
bebauten Ländereien geben einen imposanten Eindruck von der Macht des großen
nordischen Reiches, das sich auf diese Weise zugleich als Großgrundbesitzer im Lande
festgesetzt hat. Jahr um Jahr füllten sich diese Gotteshäuser und die geräumigen
Herbergen der Klöster mit Tausenden von russischen Pilgern, die ihr Staat als
Reklameschild für seine selbstsüchtigen Interessen den weiten Weg aus der nor¬
dischen Heimat nach Palästina machen ließ, das namentlich um die Osterzeit
infolge des starken russischen Pilgerandrangs einen fast russischen Eindruck zu
machen schien. Die „Russische Handels- und Dampfschiffahrtsgesellschaft" be¬
förderte mit staatlicher Unterstützung die Pilger von Odessa bis Jaffa für den
geringen Preis von 130 Mark hin und zurück, und für 10 Pfennige erhielten
sie täglich Nahrung und Obdach in den Pilgerhäusern, in denen mächtige
mannshohe Samoware auch für die Stillung des bekannten russischen Durstes
sorgten.
Wie sehr dem russischen Staat selber an seinem Machtzuwachs in Palästina
gelegen ist, geht aus der am 4. Mai 1882 aus das Betreiben des Prokurators
des Heiligen Synods, des ebenso bekannten wie berüchtigten Pobjedonoszew,
erfolgten Gründung der „Kaiserlich orthodoxen Palästina-Gesellschaft" hervor,
die unter der Aufsicht dieser staatlichen Kirchenbehörde und vor allem des
Russischen Auswärtigen Amtes arbeitet. Ihre Mitglieder gehören der ersten
Gesellschaft an. So erklärt sich auch die Höhe ihrer jährlichen Einnahmen, die
sich auf etwa 300000 Rubel, also 650000 Mark belaufen. Die erste ihrer
drei Abteilungen befaßt sich mit „gelehrten Arbeiten und Forschungen", die
zweite mit „der Unterstützung der orthodoxen Pilger", die dritte mit „der Pflege
des orthodoxen Glaubens im heiligen Lande".
Welches sind nun aber die Pläne Rußlands? Als immer machtvoller
auftretender Beherrscher des „schismatischen" von Rom losgelösten Orients gilt
es den Christen griechisch-orthodoxer Konfession wie den nicht der römisch¬
katholischen Kirche angehörenden katholischen Orientalen als der Befreier vom
Türkenjoch und hat darum auch, dieser günstigen Konjunktur Rechnung tragend,
durch die Errichtung von Schulen, Hospitälern, Kirchen und Klöstern die ge¬
hegten Erwartungen zu einem guten Teil befriedigt. So ist denn auch in einer
Kriegssitzung der Palästinagesellschaft auf das heilige Land für Rußland Beschlag
gelegt worden, um es in ein russisch-christliches zu wandeln. Aber die Pläne
Rußlands gehen viel weiter! Sie liegen wie bei Frankreich auf politischem
Gebiet. Palästina ist für Rußland nur eine Etappe auf seinem Eroberungs¬
zuge durch den ganzen christlichen Orient, soweit er nicht der Interessensphäre
der römisch-katholischen Kirche angehört. Die alte Neftorianische Kirche Palästinas
hat es sich darum dienstbar gemacht, den vor den Türken flüchtenden Armeniern
hat es aus demselben Grunde bereitwilligst Unterschlupf gewährt, und den
arabischen Syrern bietet es die Freundeshand, um. wenn einst die endgültige
Abrechnung mit dem Herrn seiner Schutzbefohlenen, der Türkei, kommen sollte.
Zwischen diese und ihren südlichen Untertanen einen Keil zu treiben und zugleich
von Asten her auf geebneter Bahn gegen Konstantinopel zu marschieren.
Zugleich geht aber Rußland auf Eroberungen im eigenen kirchlichen Lager
aus. Die griechische Kirche Palästinas mit ihrem Jerusalemer Patriarchat ist
ihm ein Dorn im Auge, den es durch einen sich immer steigernden Ausbau
seiner palästinensischen Machtstellung zu vernichten sucht, um an ihre Stelle zu
treten. Jedes Mittel ist ihm hierzu Recht. Wiederholt hat es dem Patriarchat,
um es seinen Plänen gefügig zu machen, die Geldkalamität der hohen Kirchen¬
behörde ausnutzend — im Jahre 1905 beliefen sich ihre Schulden auf 6550000
Franken —, die aus dem russischen Besitz ihm zufließenden Einkünfte von jährlich
210000 Rubeln, also fast einer halben Million Mark, gesperrt, während es
durch seine Schulen und Kirchen wie Klöster zu den griechischen Gemeinden
die freundschaftlichsten Beziehungen unterhielt, um dieselben für seine selbst¬
süchtigen Zwecke sich dienstbar zu machen. Die Gemeinden selbst ergriffen nur
zu bereitwillig die ihnen entgegengestreckte Hand, da sie in ärgster Weise von
der griechischen meist nicht einmal ihre Sprache lernenden Geistlichkeit vernach¬
lässigt wurden. Ja, als es im Jahre 1908 zu einem offenen Bruch zwischen
Hirten und Herden kam, stellte sich Rußland völlig auf letzterer Seite. Der
russische Archimandrit Leonidas Sentsow schürte immer wieder das Feuer, und
der russische Generalkonsul stachelte immer wieder die aufgeregten Araber gegen
die Griechen auf.
Auch England hat seine Missionare in Palästina, deren Arbeit in der
1841 erfolgten Errichtung eines anglo-protestantischen Bistums in Jerusalem
eine starke Rückendeckung hat, und unter dessen zweiten Inhaber, dem rühmlichst
bekannten Bischof Gobat, sich die LnureK M88ionurv Society der Evangelisation
vor allem der griechisch-orthodoxen Christenheit zuwandte, die es auch zu einer
Reihe von Gemeindegründungen bis in das Ostjordanland hinein gebracht hat.
Dieselbe Misstonsgescllschaft ist zugleich auch diejenige, die weitaus am um¬
fassendsten und planmäßigsten Mohammedanermission treibt, seit dem Jahre 1823
ist die Londoner Intermission als einzige ihrer Art vor allem in Jerusalem
tätig. Irgendwelche politische Absichten liegen den Missionaren bei ihrer
Tätigkeit fern, wenn sie auch bei ihrem hochgespannter Nationalgefühl nicht zu
unterschätzende Pioniere ihrer Heimat auf palästinensischen Boden sind. Auch
unterstützt der englische Staat gerade diese Mission mit nicht unbeträchtlichen
Geldmitteln, während er z. B. in Indien und im Sudan die missionarische
Tätigkeit zu hemmen sucht.
Doch weiß der Brite auch ohne seine Missionare sein Schäfchen ins Trockene
zu bringen. Der durch den genialen jüdischen Schriftsteller Theodor Herzl ins
Leben gerufene Zionismus hat Tausende von Juden in das Land der Väter
gerufen, die es wieder Israel zurückgewinnen wollen. Aber ihre Anstedlung,
ihre Schulen und gemeinnützigen Anstalten, ihre Industrie kostet Geld, viel
Geld, und die Geldquellen fließen in — England. Die Londoner jüdische
Nationalbank, das eigentliche „finanzielle Instrument" des Zionismus, ihr
Töchterinstitut, die /mZIo palestine LompaZnv und die Paladine I^ana Deve¬
lopment Lompanv sind englische Institute, die vor allem in den jüdischen
Kolonien mehr oder minder Kapital untergebracht haben, so daß der englische
Staat ein gewisses jüdisch-zionistisches Protektorat auszuüben berechtigt ist. Wie
weit dahingehende Bestrebungen schon verwirklicht sind, geht aus einer von
Zangwill, dem Führer der englischen Zionisten, auf dem siebenten zionistischen
Kongreß gehaltenen Rede hervor, in der er der britischen Regierung als der
regen Förderin der zionistischen Bestrebungen höchste Anerkennung zollt. Auch
die Sympathien der palästinensischen Judenheit selber, soweit sie sich wenigstens
aus den aus Europa eingewanderten Elementen, den sogenannten Aschkenasim,
zusammensetzt, entsprechen ganz denen der englischen Zionisten trotz alles Hasses
gegen die englische Intermission. Als die Krönung König Eduards infolge
Krankheit verschoben werden mußte, beteten viele Aschkenasim für seine Ge-
nesung, und während des Burenkrieges zirkulierte unter ihnen ein besonderes
Gebet für einen Sieg Englands. Auch der Aufschwung des englischen Handels
in Palästina ist ein Werk der Juden.
Nicht minder weiß aber England die arabisch eingeborene Bevölkerung für
sich zu gewinnen. Die auf die Loslösung vom Osmanenreich oder wenigstens
auf Zusicherung gewichtiger Konzessionen gerichteten Bestrebungen der Araber,
die mehr und mehr auch nach Palästina übergriffen, wo es in den letzten Jahren
zu blutigen Erhebungen der ostjordanischen Beduinen um Maar und Kerak kam,
haben bei dem Gebieter des benachbarten Ägypten mit seiner arabischen Be¬
völkerung nur freudigen Widerhall gefunden, bedeutet ihre Verwirklichung doch
die Errichtung eines unter englischem Protektorat stehenden arabischen Kalifates
in Mekka. So empfing nach der Niederschlagung des Drusenaufstandes im
Jahre 1911 die Führer desselben Lord Kitchener, der ungekrönte König Ägyptens,
in öffentlicher Audienz, und gleich nach Beginn des Tripoliskrieges tauchten in
den Grenzorten Palästinas zahlreiche ägyptische Spione und Emissäre auf. die
für ein unter ägyptischer, also englischer Führung stehendes arabisches Kalifat
zu wirken suchten.
Doch Englands Palästinapolitik ist schließlich doch nur von der Errichtung
eines britisch-into-afrikanischen Weltreiches aus verständlich. Gewaltige Fort¬
schritte hat es zu seinem Aufbau in den letzten Jahren vor dem Kriege gemacht,
so vor allem durch die Dreiteilung Persiens. Eine direkte Beeinträchtigung
seiner Interessen hatte es nur noch von der Türkei zu fürchten und zwar, da
dieselbe sonst völlig von der englischen Macht umschlossen ist, durch einen
etwaigen Aufmarsch türkischer Truppen an der ägyptisch-palästinensischen Grenze
und einem Vormarsch gegen Ägypten und den Suezkanal,, um so den
britischen Löwen an seiner verwundbarsten Stelle zu treffen. So wurde auch
in den letzten Jahren die Sinaiprooinz der ägyptischen Landesverwaltung ent¬
zogen und als MilitärgeSiet direkt dem englischen Oberbefehlshaber des ägypti¬
schen Heeres unterstellt, um einer vordringenden türkischen Armee vor dem
Kanal ein kampsbereites Heer entgegenstellen zu können. Der Weltkrieg mit dem
türkischen Operationsgebiet auf der von den englischen Truppen geräumten
Sinaihalbinsel wie ihren Kämpfen am Kanal haben der englischen Palästina¬
politik Recht gegeben.
So hatten denn unsere Feinde mit Ausnahme von Italien, das keine
nennenswerten politischen Interessen in Palästina hat. einen nachhaltigen Einfluß
auf die Zukunft dieser einzigartigen türkischen Provinz erlangt, der in stetem
Wachsen begriffen war und eventuell zu einer Katastrophe hätte führen können,
die Türkei selber aber konnte aus Mangel an Machtmitteln dieser Räuberpolitik
ihrer jetzigen Feinde keinen Einhalt tun. Der Krieg hat mit einem Schlage
eine völlig veränderte Situation geschaffen: Palästina ist wie mit eisernem
Besen von seinen vermeintlichen Freunden befreit worden. Schon bei Beginn
des Weltkrieges, noch vor dem Eintritt der Türkei in ihn, reisten die
meisten Engländer, Russen und Franzosen nach Schließung ihrer Anstalten ab.
Später, nach Eintritt der Türkei in den Krieg wurde mit Ausnahme einiger
Wohltätigkeitsanstalten jede Tätigkeit der feindlichen Nationen untersagt, deren
Gebäude nun teilweise militärischen Zwecken dienen, auch auf Kirchen wurde
Beschlag gelegt. Die Schulen wurden vielfach in mohammedanische Unter¬
richtsanstalten umgewandelt wie das Kloster und Seminar der „Weißen
Väter" von der „Mission von Algier" in Jerusalem. Nur die orthodoxe
und die griechisch-unierte Kirche wie die Deutsche Mission beider Konfessionen
blieben von diesen Zwangsmaßregeln verschont, sie dürfen auch weiterhin ihre
Tätigkeit ausüben. Durch die Aufhebung der Kapitulationen wurden die
Sonderrechte der Europäer gestrichen. Von einschneidender Bedeutung für
die fernere Gestaltung des Schulwesens sind die Dezember 1914 erlassenen
Schulverordnungen geworden, die sämtliche fremde Unterrichtsanstalten der
Staatsaufsicht unterstellen, die Einreichung der Lehrpläne an die türkische Unter-
richtsbehörde, den obligatorischen Unterricht in der türkischen Sprache, sowie
die türkische Unterrichtssprache in türkischer Geographie und Geschichte
fordern, vor allem aber verbieten sie den Religionsunterricht der in den
Schulen aufgenommenen Fremdgläubigen, also der Muhammedaner, so daß sie
den Missionscharakter verlieren. Neugründungen dürfen nur für die Orte mit
einer entsprechenden starken Bevölkerung vorgenommen werden, so daß jede
fortschreitende fremde religiöse Tätigkeit nach Kräften unterbunden wird.
Alle diese Verordnungen bedeuten für unsere Feinde bei einem siegreichen
Ausgang des Krieges für die Türkei einen außerordentlich empfindlichen Rück¬
schlag in ihrer Tätigkeit und damit in ihrer friedlichen Eroberungspolitik, ganz
abgesehen davon, daß nach einer etwaigen Wiederaufnahme ihrer kulturellen
und kirchlichen Arbeit dieselbe von vornherein beschnitten und vom türkischen
Staat doppelt aufmerksam verfolgt werden wird.
er Begriff der Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort um¬
faßt mehrere Arten von Verträgen Kriegsgefangener mit dem
Sieger. In älteren Zeiten konnte der einzelne Ergreifer über
seinen Gefangenen verfügen und kraft eignen Rechtes Verträge,
z. B. über die Höhe des Lösegeldes, mit ihm abschließen. Seit
dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts etwa ging die Entwicklung jedoch immer
mehr dahin, daß der Truppenführer, dann der Kriegsherr, endlich in der neu¬
zeitlichen Kriegführung der Nehmestaat die Verfügung über den Gefangenen
allein in Anspruch nahm. Seitdem ist es der kriegführende Staat, der durch
seine Truppenführer ehrenwörtliche Verträge mit den Kriegsgefangenen seiner
Heere abschließt.
Die Verpfändung der Ehre sowie eine Reihe weiterer Merkmale sind
diesen Verträgen der Gefangenen mit dem Sieger gemeinsam und rechtfertigen
die Zusammenfassung, die diese Verträge bisher stets im Schrifttum unter den:
Ausdrucke „Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort" erfahren haben.
Die Verträge sind gegenseitige, sie begründen sowohl auf der Seite des Kriegs¬
gefangenen, als auch auf der Seite deS Siegers voneinander abhängige Rechte
und Pflichten. Die Eingehung des Vertrages ist auf beiden Seiten freiwillig,
durch keine internationale Vorschrift oder Gewohnheit wird der Sieger verpflichtet,
den Gefangenen gegen Ehrenwort zu entlassen, ebensowenig kann auch der
Gefangene zur Abgabe des Ehrenwortes gezwungen werden. Nach Eingehung
des Vertrages aber hat der Gefangene das Versprechen, das er unter Verpfändung
der Ehre abgegeben hat. mit peinlicher Treue bei Verlust seiner Ehre zu halten,
der Sieger seine Verpflichtungen aus dem Vertrage ebenfalls treu zu erfüllen,
wenn anders er das gleiche von der Gegenpartei erwarten will.
Im einzelnen können wir drei Arten solcher ehrenwörtlichen Verträge
unterscheiden, die ihre gesonderte Geschichte und Entwicklung durchgemacht
haben, nämlich je nachdem durch solchen Vertrag die endgültige oder die vor¬
läufige Entlassung oder endlich nur eine Erleichterung des harten Loses der
Gefangenschaft angestrebt wird. Je nach der Art dieser Verträge ist auch der
Inhalt der gegenseitigen Verpflichtungen verschieden: Bei der endgültigen Ent-
lassung übernimmt der Gefangene die Verpflichtung, in Zukunft für eine längere
oder kürzere Zeit, gewöhnlich für die Dauer des Krieges, nicht mehr die Waffen
gegen den Sieger zu trcigen oder nicht einmal das Geringste zu dessen Schäden
zu unternehmen. Bei vorläufiger Entlassung oder Beurlaubung pflegt das
Versprechen abgegeben zu werden, zur bestimmten Zeit zurückzukehren. Erleichterung
der Gefangenschaft, freie Bewegung, erreicht der Gefangene meistens durch das
ehrenwörtliche Versprechen, sich auf keine Pläne zur Flucht einzulassen und den
ihm vorgeschriebenen Bezirk nicht zu überschreiten. Der Sieger übernimmt in
den ersten beiden Fällen die Verpflichtung, den Gefangenen zu entlasten, im
Falle der freien Bewegung gegen Ehrenwort den Gefangenen nicht einzusperren,
oder sonst hart zu behandeln. Die ehrlose Nichterfüllung der durch das Ehren¬
wort gesicherten Verpflichtungen zieht für den Gefangenen schwere Strafe nach
sich: Er verfällt nach altüberliefertem Kriegsrecht sowohl als auch nach den
meisten bestehenden Landesgesetzen der Ehrlosigkeit und dem Tode. Das neuere
Völkerrecht droht dem Wortbrüchigen den Verlust der Rechte eines Kriegsgefangenen
an. Der Nehmestaat ist befugt, ihn nach seinen Landesgesetzen aburteilen zu lassen.
Nach deutschem Rechte steht der Kriegsgefangene unter Militärgerichtsbarkeit,
das Militärstrafgesetzbuch bestimmt im § 159: „Ein Kriegsgefangener, welcher
unter Bruch des gegebenen Ehrenwortes entweicht, oder auf Ehrenwort entlassen,
die gegebene Zusage bricht, wird mit dem Tode bestraft." Ähnliche Vorschriften
enthalten die französischen, griechischen, amerikanischen, italienischen und dänischen
Militärstrafgesetze.
Die Geschichte der ehrenwörtlichen Verträge Kriegsgefangener mit dem
Sieger ist uralt, sie ist verknüpft mit den besten Überlieferungen germanischer
ritterlicher Kampfesart und Kriegführung. Erst neuere Forschungen des Verfassers
haben diese Entwicklung aufgedeckt, während bisher die Entstehung und Ver¬
breitung des Kriegsbrauches der Entlassung Kriegsgefangener als eine Frucht
neuzeitlicher Gesittung, und Menschlichkeit im Kriege angesehen wurde. Ein
näheres Eingehen auf die außerordentlich reizvolle ältere Entwicklungsgeschichte
der ehrenwörtlichen Verträge Kriegsgefangener mit dem Sieger bis zu ihrer
allgemeinen Verbreitung und Anerkennung im Völkerrecht, von der man etwa
seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sprechen kann, würde den Rahmen
dieses Aussatzes weit überschreiten. Eine kurze Zusammenfassung des Ergebnisses
der soeben erschienenen Untersuchungen*) möge hier genügen.
Es ist das Verdienst Otto v. Gierkes."") die germanische Herkunft und
die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Ehrenworts aus dem altgermanischen
Treugelübde festgelegt zu haben. Das Treugelübde war im alten germanischen
Rechte das durch Treuwort und Handgelübde vollzogene Haftungsgeschäft, durch
das jemand für den Fall der Nichterfüllung eigner oder fremder Schuld seine
Person dem Zugriffe des Gläubigers unterwarf. Gierke weist nach, daß das
Treugelübde im ganzen Mittelalter überall in Deutschland und in anderen von
germanischer Rechtsauffassung beeinflußten Ländern in lebendigster Übung war,
daß es sich aber aus einem Haftungsgeschüft zur Haftungsverstärkung entwickelte,
endlich in Verbindung mit Ehrenklauseln, deren Hinzufügung im Mittelalter
aufkam, sich im Leben mit großer Zähigkeit erhielt und noch bis heute im
Versprechen unter Ehrenwort fortlebt. Das Treugelübde spielte nicht nur bei
den Vorgängen des bürgerlichen Rechtslebens, sondern auch im Fehde- und
Kriegsrecht unsrer Vorfahren eine große Rolle, sind doch Ehre und Treue die
Grundlagen der deutschen Heeresverfassung und Kriegsführung seit den Zeiten
des Lehnswesens und des Rittertums. Ganz besonders diente es seit alters
zur Sicherung der Verpflichtungen Kriegsgefangener aus ihren Vertrügen mit
dem Sieger, die sämtlich schon in alter Zeit weit verbreitet und auch
im deutschen Rechte schon zur Zeit des Sachsenspiegel als gültig anerkannt
waren.
Ehe der in den Fehden und Kriegen unserer Vorfahren Gefangene seine
endgültige Entlassung erreichte, pflegte der Überwinder ihm das Versprechen
der Urfehde abzunehmen. Die Urfehde war das alte, aus dem urgermanischen
Rechte überkommene, durch Treugelübde und Eid gesicherte Friedens- und Sühne¬
gelöbnis, das Versprechen, in Zukunft Frieden zu halten, nichts gegen den Sieger
zu unternehmen und die Unbilden der Gefangenschaft nicht zu rächen. Seit
den Zeiten der Merowinger sind solche Sühnegelübde in den Berichten der
Geschichtsschreiber über Fehden und Kriege unserer Vorfahren nachzuweisen;
seit dem dreizehnten Jahrhundert ist auch eine Fülle von Urkunden erhalten,
die uns den Wortlaut der Urfehdebedingungen, auch „Verschreibungen" genannt,
überliefern, da über die Verhandlungen Protokolle aufgenommen und oft noch
besondere Bestätigungen, Urfehdebriefe, ausgestellt zu werden pflegten.
Als eine Abspaltung der Urfehde kann man das Versprechen, nicht mehr
gegen den Sieger zu kämpfen, bezeichnen. Die Urfehde mit ihren altüberlieferten
Formeln war nur für die von alten germanischen Rechts- und Kriegsgewohn¬
heiten beherrschten Kampfessitten geschaffen, für die großen Kriege mit fremden
Völkern mußte eine kurze, allen verständliche Formel von höchster Bindungskraft
angewandt werden: das war der Eid oder das unter Verpfändung der Krieger-
und Mannesehre gegebene Wort, in Zukunft nicht die Waffen gegen den Sieger
zu tragen. Schon Prokop berichtet aus den Vandalen- und Gotenkriegen, daß
germanische Heerführer Kriegsgefangene gegen solches Versprechen entlassen haben.
Die Urfehde starb denn auch mit der ritterlichen Kampfesart Mitte des sech¬
zehnten Jahrhunderts aus, sie lebte fort in der Kriegsgeschichte der neueren Zeit
w dem Brauche der Entlassung Kriegsgefangener gegen das Versprechen, nicht
mehr gegen den Sieger zu kämpfen.
Schoir aus den Kriegen des Altertums berichteten Schriftsteller Fälle von
vorläufiger Entlassung Kriegsgefangener gegen das eidliche Versprechen, zum
Feinde zurückzukehren, falls sie einen Auftrag des Siegers in der Heimat nicht
sollten nach Wunsch erledigen können. Ähnliches wird auch aus der deutschen
Geschichte des frühen Mittelalters berichtet. Seitdem aber im Mittelalter die
Gewohnheit des Lösegeldes das Kriegsgefangenenrecht beherrschte, wurde die
vorläufige Entlassung des Gefangenen zum Zwecke der Beschaffung des Löse¬
geldes gegen das durch Treugelübde und Eid gesicherte Versprechen der Rückkehr
eine allgemein geübte Sitte, besonders in den Kriegen und Fehden des Rittertums.
Auch die Kriegsführung der neueren Zeit bis gegen Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts ging von dem Grundsatze aus, daß die Gefangenen des Lösegeldes
wegen gemacht würden. In den Verträgen, sogenannten Quartieren, Kartellen
oder Traktaten, über die Auswechslung der Gefangenen wurden für jede einzelne
Rangstufe des Heeres ein besonderer Lösegeldsatz aufgestellt. Es wurde Sitte,
die vorläufige Entlassung der gefangenen Offiziere gegen Gelübde, Parole,
Ehrenwort zu verabreden, bis die verwickelten Verhandlungen über die
gegenseitige Auswechslung beendet waren. Dieser Brauch der vorläufigen Ent¬
lassung war bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in ganz Europa und
auch in den Kolonialkriegen ein überall verbreiteter Kriegsbrauch. Seitdem
aber der Krieg als eine Beziehung lediglich zwischen den Staaten als solchen
aufgefaßt wurde und demgemäß nicht der einzelne Bürger, sondern nur der
Staat als Feind betrachtet wurde, fiel jede Entschuldigung für die Erpressung
des Lösegeldes von dem einzelnen Gefangenen fort. Der von wahrhafter Ge¬
sittung und Menschlichkeit erfüllte Vertrag zwischen Preußen und den Vereinigten
Staaten von 1785 weiß schon nichts mehr vom Lösegeld, und seitdem vollends
das Frankreich der Revolutionskriege sich weigerte, Lösegeld für seine gefangenen
Truppen zu zahlen, hörte die Sitte ganz auf. Nur bei kürzeren Beurlaubungen
kennt die Kriegführung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts noch
vereinzelt die vorläufige Entlassung gegen das Versprechen der Rückkehr.
Schon bei den alten Germanen kam es wohl vor, daß sie dem tapferen
Feinde Sicherheit gelobten für den Fall der Ergebung. Für den Ritter galt
es nicht als eine Schande, sich dem Feinde zu ergeben, wenn er sah, daß jeder
weitere Kampf aussichtslos war. „Ich sicher", rief er dann aus. Dadurch
wurde der Kampf beendet, der Sieger hieß den Überwundenen sich auf ein Pferd
setzen, und so wechselten beide das Gelübde der Sicherheit. Der Besiegte gelobte
mit Hand und Mund, als Gefangener dem Sieger zu folgen und nicht zu ent¬
fliehen, der Sieger versprach Schonung des Lebens und ehrenvolle Behandlung.
Dies Treugelöbnis des Gefangenen wurde im späteren Mittelalter unter der
Bezeichnung Feldsicherheit zum ritterlichen Ehrenwort des^ Gefangenen schlechthin,
die ritterliche Haft nannte man auch „Feldgefüngnis". In den Berichten und
Urkunden über die Fehden und Kriege des fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hunderts nimmt das ritterliche Gefängnis, die freie Bewegung des gefangenen
Ritters gegen Ehrenwort, einen breiten Raum ein. Auch die freie Bewegung
gegen Ehrenwort ging in die neuere Kriegsführung über; es setzte sich seit der
Verwischung der deutschen Militärsprache etwa zur Zeit des Dreißigjährigen
Krieges fort in dem Brauche des Erbittens und Gewährens von „Quartier"
und in dem Brauche der Gewährung freier Bewegung der Gefangenen auf
Parole, d. i. gegen das Ehrenwort, nicht zu entfliehen.
Die napoleonische Zeit brachte eine gänzliche Umwandlung der Kriegs¬
führung, Napoleon räumte mit dem Schlendrian der matten Art des achtzehnten
Jahrhunderts gründlich auf, aber in den erbitterten Kämpfen um das Dasei»
der Völker bildete das Fortbestehen des Brauches, Kriegsgefangene gegen Ehren¬
wort zu entlassen, einen ritterlichen, versöhnenden Einschlag. Das neunzehnte
Jahrhundert übernahm die endgültige Entlassung gegen das Ehrenwort, nicht
gegen den Sieger die Waffen zu tragen, sowie die freie -Bewegung Kriegs¬
gefangener gegen das Ehrenwort, nicht zu entfliehen. Napoleon wandte die
endgültige Entlassung gegen das Ehrenwort, nichts gegen sein Interesse zu
unternehmen, sogar auch bei politischen Gefangenen gelegentlich an.
Das Zeitalter der großen Volksheere erweiterte insofern sogar die An¬
wendung der Entlassung gegen Ehrenwort, als es auch den einfachen Soldaten
dieser Vergünstigung für fähig erklärte, während das achtzehnte Jahrhundert
sie nur den Offizieren zubilligte. Ja die neueste Kriegsgeschichte des neun-
zehnten Jahrhunderts kennt sogar einen Fall, in dem die Kriegsgefangenschaft
der Offiziere gefordert, die ehrenwörtliche Entlassung der Soldaten dagegen an¬
geboten wurde. Der Fall ereignete sich bei der Übergabe von Wei-hai-wei
im japanisch-chinesischen Kriege, wo Admiral Jto dem chinesischen Unterhändler
des Admirals Ting diese Bedingungen stellte. Ting zog es dann allerdings
vor, Wei-hai-wei bedingungslos zu übergeben. Die vorläufige Entlassung
gegen Ehrenwort hat dagegen weder im neunzehnten noch im zwanzigsten Jahr¬
hundert irgendwelche Bedeutung wieder erlangt.
Wohl in keinem Kriege des neunzehnten Jahrhunderts ist der Brauch,
Kriegsgefangene gegen Ehrenwort zu entlassen, so freigebig gehandhabt worden,
wie ini deutsch-französischen Kriege 1870/71 auf deutscher Seite. Schon im
Anfang des Krieges wurden viele französische Offiziere von den Deutschen ent¬
lassen gegen die ehrenwörtliche Versicherung, während der Dauer des Krieges
nicht mehr die Waffen gegen Deutschland zu tragen. Es stellte sich heraus,
daß diese Verpflichtung nicht umfassend genug war, denn viele französische
Offiziere fanden bei den Depots, beim Ausbilden von Soldaten usw. wieder
Anstellung zum Nachteil der deutschen Truppen. Man sah sich daher ge¬
zwungen, die Verpflichtungsformel dahin abzuändern, daß außerdem versprochen
werden mußte, „in nichts gegen das Interesse Deutschlands zu handeln", so
lautete denn die Verpflichtung, die bei der Kapitulation von Sedan im großen
Umfange angewandt wurde. Es ist bekannt, daß Moltke „Kriegsgefangenschaft
der ganzen Armee" verlangte, wogegen Wimpffen bat, man solle sie unter der
Bedingung abziehen lassen, daß sie während des Krieges nicht mehr gegen uns
diene und nach einer ihr bestimmten Gegend Frankreichs oder Algiers mar¬
schiere. Es blieb bekanntlich bei der Moltkeschen Forderung, doch wurden auf
Anregung und durch die Gnade des Königs angesichts der tapferen Verteidigung
der Armee von der Kriegsgefangenschaft ausgenommen alle Generale, Offiziere
und höhere Beamte, die sich auf Ehrenwort schriftlich verpflichteten, weder die
Waffen gegen Deutschland zu tragen, noch in irgendeiner Weise gegen dessen
Interesse bis zum Ende des gegenwärtigen Krieges zu handeln. Die Offiziere,
die diese Bedingungen annahmen, behielten ihre Waffen und ihr persönliches
Eigentum. Fast den gleichen Wortlaut hatte die Kapitulation von Metz am
27. Oktober 1870, und ebenso erlaubte die Kapitulation von Straßburg am
28. September 1870 den Offizieren und im gleichen Range stehenden Beamten
sämtlicher Truppen, nach einem von ihnen zu wählenden Aufenthaltsort ab¬
zureisen, wenn sie einen Revers auf Ehrenwort aufstellten. Ähnliche Be¬
dingungen erhielten die Besatzungen von Laon, Soissons und anderen Festungen.
Die deutsche Großmut wurde schmählich mißbraucht; unter anderen be¬
gingen sogar die Generäle Ducrot, Barral, Cambriels und Cremer, die in
Straßburg und Metz kapituliert hatten, die Ehrlosigkeit, trotz des gegebenen
Ehrenwortes weiter in der französischen Armee zu dienen, im ganzen
haben sich nachweislich huudertsünfundvierzig französische Offiziere, darunter
die oben genannten Generäle, ein Oberst, zwei Oberstleutnants, drei Kom¬
mandanten und dreißig Kapitäne des Ehrenwortbruchs schuldig gemacht. Teilweise
veröffentlichten sie entrüstete. Proteste gegen die Beschuldigung, die aber meist
durchaus nicht stichhaltig und voll knifflicher Wortklaubereien waren.
Die Generäle Barral und Ducrot begaben sich möglichst bald nach ihrer
Entlassung wieder zur französischen Armee. Barral reiste, nachdem er nach
Straßburgs Fall sogar zweifach das schriftliche Ehrenwort gegeben hatte, nach
Kolmar und von dort zur Loire-Armee, und Ducrot befehligte später den
großen Dezember-Ausfall der Pariser Truppen auf die Marne zu, aus dem
er trotz seines heiligen Schwures, nur als Toter oder Sieger nach Paris zu¬
rückzukehren, lebendig und besiegt heimkehrte.
Die Wortbrüchigkeit der französischen Offiziere erregte laute, lang nach¬
hallende Entrüstung, besonders nachdem bekannt worden war, daß die Regie¬
rung der Nationalverteidigung und Gambetta als Kriegsminister den Wortbruch
guthießen, ja die in Belgien und Deutschland internierten Offiziere durch
Drohungen und Aussetzung von Prämien dazu anhielten und die wortbrüchigen
Offiziere wieder in die Armee einreihten.
Bismarck machte diese unerhörten Zustände zum Gegenstand geharnischter
Noten.*) Es mag auf diesen tatkräftigen Widerspruch, gewiß aber auch auf die
ehrenhaften Elemente im französischen Heere zurückzuführen sein, daß die
Nationalversammlung später das Verfahren der Regierung heftig rügte, so daß
im einzelnen Falle gegen die wortbrüchigen Offiziere vorgegangen wurde.
Kein Krieg in neuerer Zeit hat wohl fo nachhaltigen Einfluß auf die
Fortentwicklung des Völkerrechts geübt, wie der von 1870/71. er regte zu
weiteren internationalen Zusammenkünften und zu Versuchen an. die Gesetze
und Gebräuche des Landkrieges festzulegen. Auch die Erfahrungen mit der
Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort wurden in den am Kriege be¬
teiligten Ländern viel erörtert; kaum ein Handbuch des Völkerrechts überging
sie mit Stillschweigen. Die Franzosen suchten die Haltung der wortbrüchigen
Offiziere zu beschönigen oder wenigstens als durch die Umstände entschuldbar
hinzustellen.
Die Ersahrungen von 1870 veranlaßten den deutschen Generalstab in der
von ihm im Jahre 1902 herausgegebenen Schrift „Kriegsgebrauch im Land¬
kriege" auszuführen, daß Entlassung ganzer Truppenteile auf Ehrenwort nicht
üblich sei, daß vielmehr mit jedem einzelnen verhandelt werden müsse und
jede derartige Verhandlung „sehr genau zu formulieren und der Wortlaut aufs
sorgfältigste zu prüfen sei". Besonderes Gewicht wird darauf gelegt, daß genau
ausgedrückt werde, ob der Entlassene nur verpflichtet sei, in dem gegenwärtigen
Kriege nicht mehr mit den Waffen gegen den entlassenden Staat zu kämpfen, ob
er dagegen seinem Lande in anderweitigen Stellungen oder in Kolonien usw.
Dienste leisten könne, oder ob ihm alle und jede Dienstleistung untersagt sei.
Auch in den weiteren Kriegen des neunzehnten und in den kleineren des
zwanzigsten Jahrhunderts wurde der Brauch der ehrenwörtlichen Entlassung Kriegs¬
gefangener geübt. Dabei blieb die umfassende Verpflichtungsformel, die bei den
großen Kapitulationen des Jahres 1870 angewandt war, vorbildlich. Im Buren¬
kriege mußten bei der Übergabe von Bloemfontein die gefangenen Buren
folgenden Eid leisten: „Ich schwöre, während der Dauer des jetzigen Krieges nicht
die Waffen gegen die englische Regierung wieder zu ergreifen, und den Re¬
publikanern weder Beistand leisten, noch ihnen Nachrichten über die englischen
Streitkräfte zu bringen", sowie: „Ich schwöre bis zum Ende des Krieges ruhig
zu Hause zu bleiben. Ich weiß übrigens, daß ich mich durch Verletzung meiner
Eide nach Kriegsrecht strafbar mache".
Bei Übergabe von Port Arthur am 7. Januar 1905 mußten die russische::
Offiziere, Beamten und Freiwilligen sich schriftlich auf ihr Ehrenwort hin ver¬
pflichten, bis zur Beendigung des Krieges nicht die Waffen zu ergreifen und
keine gegen die japanischen Interessen verstoßende Handlung zu begehen. Nach
dem Kampfe vom 10. August 1904 im selben Kriege wurde die Besatzung der
russischen Schiffe, die nach Kiautschou geflüchtet waren, gegen ihr Ehrenwort,
w Tsingtau bis zum Ende des Krieges zu bleiben, entlassen.
So machte die Praxis des Kriegsrechts von alters her bis in die neueste
Zeit umfangreichen Gebrauch von der Entlassung Kriegsgefangener mit dem
Sieger. Wie immer folgte die Rechtswissenschaft nur zögernd und unter
mannigfachen Zweifeln der praktischen Anerkennung unseres Brauches. Seit
den Zeiten der italienischen Rechtslehrer des dreizehnten Jahrhunderts beschäftigte
sich die Rechtswissenschaft mit unseren Verträgen. Das römische, das kanonische
Recht und endlich das Naturrecht des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts
mußten zur Begründung und zur Ablehnung der Rechtsgültigkeit der Verträge
dienen, und erst die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts erhob sich über
alle Zweifel zur rückhaltlosen Anerkennung der lange geübten Kriegsbrauche.
Eine alte Streitfrage, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer von
neuem aufgeworfen wird, und erst in unseren Tagen endlich durch internationale
Vereinbarung gelöst ist, ist die Frage, ob und wie weit der Kriegsherr, die
Obrigkeit der gefangenen Soldaten, gebunden ist an das Versprechen der
Gefangenen, nicht gegen den siegreichen Feind seines Vaterlandes die Waffen
zu tragen oder bei der vorläufigen Entlassung nach Ende eines Urlaubs in
die Gefangenschaft zurückzukehren. Einer der ersten Schriftsteller, der diese
Frage erörterte, Paride dal Pozzo, im fünfzehnten Jahrhundert maßgebend in
der Lehre des gerichtlichen Zweikampfes, geht vom Lehnswesen und dem
Vasallitätsverhältnis aus; er spricht dem Vasalleneide die stärkere Kraft
gegenüber dem Rechte des Feindes aus den Versprechen des gefangenen
Vasallen zu. Nur wenn der Lehnsherr selbst den Vasallen zur Heeresfolge
aufgefordert hat, muß das Recht aus dem Lehnsetde dem Rechte deZ Siegers
weichen. Schriftsteller des sechszehnten Jahrhunderts geben dem Untertanen-
und Fahneneide den Vorzug vor dem Versprechen gegen den Feind. Erst am
Ende des sechszehnten Jahrhunderts lehrt Gentilis, der große Rechtslehrer in
Oxford, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Hugo Grotius in seinem Buche
„lie jure belli ac pALÜ8", daß die Obrigkeit des Gefangenen nicht nur an
dessen Versprechen gegen den Sieger gebunden ist, sondern ihre Untertanen
auch anhalten muß, dem Feinde die Treue zu halten. Spätere Gelehrte unter¬
scheiden wieder zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen und wollen den
Gefangenen seines Wortes ledig sprechen, wenn das Vaterland in Gefahr ist.
Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts endlich herrschte auch in der Wissen¬
schaft Einigkeit darüber, daß der Staat des gefangenen Soldaten an dessen
Versprechen gebunden sein müsse. Erst in neuester Zeit erfolgte ein Rückschlag
gegen die rückhaltlose Anerkennung der Bindung des Staates durch das Ver¬
sprechen des Angehörigen seines Heeres. Die allzu freigebige Anwendung der
ehrenwörtlichen Verträge erhielt nicht zum wenigsten durch die Erfahrungen
des deutsch-französischen Krieges einen argen Stoß. Man hob die Schatten¬
seiten des Versprechens, nichts ferner gegen das Interesse des Siegers zu
unternehmen, hervor; man erklärte das Versprechen für unvereinbar mit dem
Fahneneide und mit der Natur des neuzeitlichen Militärdienstes, dem man sich
nicht einseitig entziehen kaun; man verurteilte es, daß Offiziere in bedrängter
Lage ihr Schicksal von dem ihrer Untergebenen trennten, und wies endlich aus
die zweideutige Lage eines Offiziers hin, der nach seiner Entlassung aus feind¬
licher Kriegsgefangenschaft in seinem Vaterlande durch sein Ehrenwort ge¬
bunden, untätig den Opfern seiner Kameraden und seines Volkes zusehen
müsse. Aus solchen Gründen treten neuerdings Gesetze, Kriegsartikel und
auch die öffentliche Meinung der Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort
entgegen, ja nach österre.chischem Gesetze ist Offizieren und Soldaten gänzlich
verboten, die endgültige Freiheit gegen Ehrenwort anzunehmen.
Diese Sachlage fanden die großen internationalen Zusammenkünste im
Haag, die über das Völkerkriegsrecht berieten, vor. Es blieb bei der Frage
des Widerstreites zwischen der Obrigkeit des Kriegsgefangenen und dem
Rechte des Feindes aus dem Versprechen nichts anderes übrig, als dem Staats¬
recht den Vorrang zu lassen, und nur für den Fall völkerrechtliche Bestimmungen
festzusetzen, daß die Gesetze des Heimatsstaates die Entlassung auf Ehrenwort
gestatten.
Daher stellt sich das internationale Recht der ehrenwörtlichen Entlassung
aus der Kriegsgefangenschaft heute in den Artikeln 10—12 der im Haag 1899
und 1907 festgelegten: „Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkrieges"
folgendermaßen dar:
„Kriegsgefangene können gegen Ehrenwort freigelassen werden, wenn die
Gesetze ihres Landes sie dazu ermächtigen. Sie find dann bei ihrer persön¬
lichen Ehre verbunden, die übernommenen Verpflichtungen sowohl ihrer eigenen
Regierung als auch dem Staate gegenüber, der sie zu Kriegsgefangenen ge¬
gemacht hat, gewissenhaft zu erfüllen. Ihre Regierung ist in solchem Falle
verpflichtet, keinerlei Dienste zu verlangen oder anzunehmen, die dem gege¬
benen Ehrenwort widersprechen."
„Ein Kriegsgefangener kann nicht gezwungen werden, seine Freilassung
gegen Ehrenwort anzunehmen; ebensowenig ist die feindliche Regierung ver¬
pflichtet, dem Antrag eines Kriegsgefangenen auf Entlastung gegen Ehren-
wort zu entsprechen."
„Jeder gegen Ehrenwort entlassener Kriegsgefangener, der gegen den
Staat, dem gegenüber er die Ehrenverpflichtung eingegangen ist, oder gegen
dessen Verbündete die Waffen trägt und wieder ergriffen wird, verliert das
Recht der Behandlung als Kriegsgefangener und kann vor Gericht gestellt
werden".
Es können demnach nicht nur Offiziere sondern auch Soldaten der Ver¬
günstigung teilhaftig werden. Kein Kriegsgefangener aber kann zur Abgabe
des Ehrenworts gezwungen werden. Ebenso hat jeder Staat das Recht zu
bestimmen, ob er Entlassungen gegen Ehrenwort vornehmen will oder nicht;
'
er kann daher die Rechtswohltat auch auf Offiziere beschränken (wie Frankreich),
er kann auch den Angehörigen seines Heeres verbieten, die ehrenwörtliche Ent¬
lassung anzunehmen. Beim Fehlen eines Gesetzes oder einer entsprechenden
Dienstvorschrift wird man anzunehmen haben, daß nur der oberste Kriegsherr
von Fall zu Fall die Lösung vom Kriegsdienste gestatten kann.
Die zweite Haager Friedensversammlung von 1907 hat zum ersten Male
im elften Abkommen über die Beschränkung des Beuterechts im Seekriege Grund¬
sätze über ehrenwörtliche Entlassung Kriegsgefangener im Seekriege aufgestellt.
Darnach soll, wenn ein feindliches Handelsschiff, das nicht an den Feindselig¬
keiten teilgenommen hat, in die Hand des Feindes gerät, die Mannschaft, soweit
sie einem neutralen Staate angehört, nicht kriegsgefangen werden. Neutrale
Offiziere und Kapitäne sollen dies Vorrecht nur genießen, wenn sie ein förm¬
liches, schriftliches Versprechen abgeben, während der Dauer des Krieges auf
keinem feindlichen Schiffe Dienste zu leisten. Auch die feindliche Mannschaft
samt Kapitän und Offizieren ist freizulassen gegen das förmliche, schriftliche
Versprechen, während der Dauer der Feindseligkeiten keinen Dienst zu über¬
nehmen, der mit den Kriegsunternehmungen im Zusammenhang steht.
Die Haager Kriegsartikel ordnen nur die endgültige Entlassung Kriegs¬
gefangener gegen Ehrenwort. Nur in dem Abkommen über die Rechte und
Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Landkriege wird die freie
Bewegung gegen Ehrenwort erwähnt, indem den Neutralen freigestellt wird,
Offiziere freizulassen, wenn sie sich auf Ehrenwort verpflichten, das neutrale
Gebiet nicht ohne Erlaubnis zu verlassen. Das Schweigen über die Erleichterung
der Gefangenschaft gegen Ehrenwort ist aber nicht so aufzufassen, daß diese
Verträge nicht die Billigung des Völkerrechts haben; vielmehr bleibt es hier bei
den bisherigen Grundsätzen und Gewohnheiten des Völkerrechts, denn die
Mächte haben in der Einleitung zu den Bestimmungen über die Gesetze und
Gebräuche des Landkrieges ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in den Fällen,
die in den Bestimmungen nicht vorgesehen sind, die Bevölkerungen und Krieg¬
führenden unter dem Schutze und der Herrschaft des Völkerrechts bleiben, wie
sie sich aus den unter gesitteten Staaten geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen
der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens heraus¬
gebildet haben.
Dies sind in großen Zügen die Grundlinien, in denen Übung und Wissen¬
schaft der Verträge Kriegsgefangener mit dem Sieger bis zum heutigen Völker¬
kriege sich bewegt haben.
Und nun der große Krieg. — In einem solchen Ringen, in dem unsere
Feinde sich unter dem Feldgeschrei „Vernichtung des deutschen Namens in aller
Welt" auf uns gestürzt haben, ist kaum ein Platz für die Anwendung der alten
ritterlichen Bräuche. So ist denn bisher auch kein Fall der endgültigen Ent¬
lassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort aus dem europäischen Landkriege
zur öffentlichen Kenntnis gekommen, wenn auch theoretisch solche Fälle, z. B.
bei gegenseitigem Austausche hervorragender Gefangener, wie ein solcher zwischen
Rußland und den Mittelmächten vorgekommen sein soll, denkbar wären. Der
Kaiser von Nußland hat noch am 31. Oktober 1914 einen Ukas an die
Militärverwaltung erlassen, nach dem die Entlassung gegen Ehrenwort möglich
ist. Aus dem Kreuzerkriege jedoch und dem Kolonialkriege sind eine Reihe von
Füllen endgültiger Entlassung gegen Ehrenwort berichtet worden. Im Seekriege
werden diese Fälle meistens in Nachachtung des angeführten elften Haager
Abkommens geschehen fein. Im See- und Kolonialkriege aber wird der Sieger
öfter als im Landkriege auch durch die Kriegslage veranlaßt werden, von der
Entlassung der Gefangenen gegen Ehrenwort Gebrauch zu machen, dann näm¬
lich, wenn die Einbringung der Gefangenen, sei es wegen Ernährungsschwierig¬
keiten, sei es wegen der Unmöglichkeit der Fortschaffung zum Ausgangspunkt
der Unternehmung nicht geraten erscheint.
In umfangreicheren Maße ist im heutigen Kriege von der freien Be¬
wegung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort Gebrauch gemacht. Zwar nicht
mehr so uneingeschränkt wie 1870/71, wo die freie Bewegung der gefangenen
Offiziere in Deutschland fast die Regel war. In Rußland, wo die Behandlung
Kriegsgefangener auf so eigenartigen, ganz willkürlich durchgeführten Grund¬
sätzen beruht und von vielen Zufällen abhängig ist, hat man wenigstens zu
Beginn des Krieges deutschen Offizieren und Reserveoffizieren den freien Aufenthalt
in bestimmten Bezirken gegen Ehrenwort angeboten und hat diese Art der Unter¬
bringung gefangener Offiziere in dem erwähnten Befehle vom 31. Oktober 1914
ausführlicher geordnet. Auch in Frankreich ist im Anfang des Krieges Offizieren
eine gewisse Bewegungsfreiheit gegen Ehrenwort gestattet gewesen, jedoch später
nach einer Nachricht der „Agence Havas" aufgehoben worden.
Der Wortbruch eines französischen Offiziers hat wiederum in diesem
Kriege unliebsames Aufsehen erregt, um so mehr, als das Ehrenwort einem
neutralen Staate gegenüber gegeben war. Im August 1915 veröffentliche
das Pressebureau des Schweizer Armeestabes. daß der französische Fliegerleutnant
Gilbert, der in der Schweiz interniert gewesen war, unter Bruch des Ehren¬
wortes entflohen sei. Auch hier versuchte er und die französische Presse die Tat
mit Spitzfindigkeit und List zu entschuldigen. Gilbert hatte nämlich, wie be¬
richtet wird, im letzten Augenblick sein Ehrenwort schriftlich zurückgezogen, jedoch
wohlweislich so spät, daß dies erst nach gelungener Flucht zur Kenntnis der
Bewachungsbehörde gelangen konnte.
Wenn wir in die Zukunft der ehrenwörtlichen Verträge Kriegsgefangener
mit dem Sieger einen Blick werfen wollen, so ist es nicht schwer vorauszusehen,
daß der Brauch der endgültigen Entlassung wohl bald der Geschichte angehören
wird, abgesehen von den Fällen, in denen die Kriegslage es dem Sieger vor¬
teilhafter erscheinen lassen wird, von der Entlassung der Gefangenen Gebrauch
zu machen. Nach den Erfahrungen, die Deutschland mit der freien Bewegung
Gefangener gegen Ehrenwort gemacht hat, wird auch dieser Brauch nur aus-
nahmsweise und eingeschränkt geübt werden, jedenfalls in Kriegen, die mit solcher
Erbitterung, mit solcher Anspannung aller Kräfte geführt werden, wie der
heutige, bei denen die Auffassung Englands von Treue, Ehre und Recht ma߬
gebend ist.
Man mag es bedauern, daß die Zeit dieser alten ritterlichen, menschen¬
freundlichen Kriegsbrauche, die den Sieger ehrten und den Gefangenen vor der
äußersten Härte seines Loses bewahrten, vorüber ist. Aber wenn auch deutsche
Sitte und Gesittung immer ein Hort dieser milden Kriegsbrauche gewesen ist,
heute, wo die Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch Baralongtaten,
durch das Vorgehen gegen die Schiffbrüchigen von U 41 und durch die Leiden
unserer Landsleute in Rußland bezeichnet wird, müssen auch wir endlich lernen,
daß germanische Ritterlichkeit und Treue unangebracht sind Feinden gegenüber,
deren Worte zwar von Zivilisation, Humanität, Kultur und ewigem Völker¬
frieden überfließen, deren Taten aber die schönen Worte Lügen strafen und
voller unerhörter Grausamkeit und Verbrechen gegen das Völkerrecht sind.
Möge eine spätere Zeit, die mehr Verständnis für deutsches Wesen, für deutsche
Ehre und Treue hat, die alten Bräuche durch erneute Übung ehren.
röße und Grenze der Leistung der jüngst verflossenen Jahrzehnte
sind bestimmt durch ihren Positivismus. Die nüchterne und ent¬
sagende Beschränkung auf die greifbaren Wirklichkeiten des äuße¬
ren Daseins, diese entschlossene Konzentration des Geistes auf ein
bisher nur unzulänglich beackertes Feld hatte jenen gewaltigen
Aufschwung des modernen Technizismus zur Folge, den wir im Augenblick
um so weniger mißachten dürfen, wo er unser wirksamster Bundesgenosse in
diesem großen Erhaltungskampfe ist.
Dies Zeitalter des Positivismus, an dessen Grenze wir stehen, meisterte
die Welt, indem es sie auf Gesetze zog und damit das Kommende der Berech¬
nung erschloß. Praktisch anwendbare Seinerforschung stand im Vordergrund
des Interesses, nutzfreie Erforschung anderer (so historischer) Seinssphären ließ
man gelten, ein Hinabsteigen unter die Schicht des Gegebenen, eine Deutung
des Sinnes, ein Aufgraben der Ideen mißachtete man. So heftete sich an
das Wort Ideologie, darüber hinaus aber M Mythos, Mystik, Metaphysik usw.
jener üble Beiklang, mit dem ein Zeitalter relativistischer Beschränkung sich an
den überragenden, ihm jedoch verschlossenen Zielen menschlicher Geisügkeit rächte.
Ein Plädoyer für diese verkümmerten geistigen Mächte ist heute nicht mehr
nötig. Zu deutlich zeigt sich allenthalben das Wiedererwachen des „Sinnes fürs
Ewige", wie Fichte einmal den metaphysischen Grundtrieb des Menschen ver¬
deutscht. Der forschende Geist leidet wieder an dem Ungenüge einer bloßen
kausalen Aufreihung der Tatsachen. Hinter den positiven Gegebenheiten der
Geschichte und des unmittelbar gelebten Lebens sucht er wiederum die großen
Ideen, die deren tragenden Urgrund bilden. Den Ideen eignet nicht die kühle
Temperatur der einfach hinnehmbaren wissenschaftlichen Hypothesen. Ideen
rufen die leidenschaftlichen Antriebe des Für und Wider wach, der Kampf wird
wieder als der Vater aller Dinge begriffen, und selbst das allgemeine Bewußt¬
sein gewinnt allmählich aufs neue ein Verständnis für die so lange mißachtete
Dialektik, die diesen inneren Widerstreit der Ideen geistig zu bewältigen sucht.
Ideologien nehmen eine merkwürdige Zwischensiellung an der Grenze der
großen Kultnrprovinzen ein. Am ehesten scheinen sie der Philosophie verwandt.
Aber sie verharren nicht abseits im Theoretischen, sondern sind immer geneigt,
als bestimmende Mächte in das geistige Gesamtleben einzugreifen. Ein Herrscher¬
zug des Geistes kommt in ihnen zum Durchbruch, ein Wille, die Wirklichkeiten
zu lenken, statt sich geduldig und entsagend ihrer Erforschung hinzugeben. So
werden die Ideologien leicht extrem unwissenschaftlich. Wenn schon die Philo¬
sophie vom einzelwissenschaftlichen Pathos abrückt: bei der Ideologie wird die
Wesensentfremonng unzweideutig offenbar. Daher denn diese erst jetzt langsam
abebbende Flutwelle von Beschimpfung und Mißachtung, die im verflossenen
Triumphzeitalter der Wissenschaftlichkeit sich über das königliche Haupt des
größten deutschen Ideologen Hegel ergoß. Daß auch Philosophieprofessoren
durch solche Fußtritte gegen den toten Löwen sich in den Geruch unantastbarer
Wissenschaftlichkeit zu setzen versuchten, wird immer ein trauriges Merkzeichen
für den kulturellen Tiefstand dieser wissensstolzeu Zeit bleiben.
Wenn so die ideologische Halmng dem Positivismus wissenschaftlicher
Einzelforschung verhaßt ist, so nähert sie sich dafür vielfach der Kunst. Fr. A. Langes
bekanntes Wort von der „Begriffsdichtnng" der Metaphysiker sollte ja wohl
eine verhüllte Form des Aburteils sein. Man kann es aber auch lediglich als
Feststellung nehmen, daß gewisse Annäherungen zwischen Ideologie und Dichtung
sich dadurch ergeben, daß in beiden die individuelle Subjektivität sich zu größerer
Geltung bringen darf als in der rein objektiven Forschung. Daß der Willkür
dadurch Tür und Tor offenstünde, wird freilich wiederum nur der beschränkte
Nationalismus folgern wollen, der alle Dinge mit seinem kümmerlichen Ma߬
stab der Allgemeingültigkeit abmißt. Sicher ist die ideologische Deutung auch
w irgendwelchem Betracht Ausdruckserscheinung. Aber ebenso wenig wie- die
Kunst erschöpft sie sich in dieser Rolle. Immerhin steht doch noch in gewissem
Zusammenhang damit ein weiteres Wesensmerkmal: daß sie nämlich auch als
Verkündigung aufzufassen ist und damit einerseits zur religiösen Prophetie, an¬
drerseits zum Moralistentum in verwandtschaftliche Beziehungen gelangt. Wie
ihre Annäherung an die Philosophie bei Hegel offenbar wird, so verdeutlicht
sich ihre Nähe zur Prophetie und zur Kunst bei Nietzsche, der vielleicht als
unser letzter Jdeologe größeren Stiles gelten kann. Sein offener oder versteckter
Einfluß auf alle gegenwärtigen Ideologien ist denn auch ganz ungeheuer. Erst
der spätere Historiker wird ihn voll zu ermessen vermögen.
Daß die ideologische Begabung dem Deutschen nicht fehlt, zeigen bereits
zur Genüge die genannten Namen, denen noch u. a. Herder, Schiller und die
Romantiker hinzuzufügen sind. Auf eine merkwürdige Grenze des deutschen
Geistes, die ein Durchdrungen dieser Ideologien hintanhält, wird man jedoch
aufmerksam, wenn man — etwa an Hand des verdienstvollen Masarykschen
Werkes Rußland und Europa (Jena, Verlag Eugen Diederichs 1913) — sich
den Einfluß vor Augen stellt, den diese deutschen Ideologen außerhalb des
Deutschtums, nämlich in Rußland, ausgeübt haben. Das Rußland des neun¬
zehnten Jahrhunderts kann man beinahe als das klassische Land der Ideologien
bezeichnen, und zwar trotz der offenkundiger Tatsache, daß die meisten Grund¬
gedanken der russischen Ideologien ihrem gedanklichen Urbestande nach dem
deutschen Geiste entstammen. Dieses deutsche philosophische Material hat das
Russentum dann entschlossen in die ideologische Form umgeprägt und damit in
einer Breite zur Wirkung gebracht, die in Deutschland ganz ausgeschlossen war.
So eröffnet sich unseren Blicken die merkwürdige Tatsache, daß in Deutsch¬
land einer Fülle ideologischer Einzelbegabungen nicht eine Intelligenz gegen¬
übersteht, die dafür das eigentliche Organ besäße, wie das in Rußland in weit höherem
Maße der Fall ist. Völkischen Nutzen und Schaden dieser Erscheinung abzuwägen,
ist ein kompliziertes Problem für sich. Zweifellos trägt bet uns neben der
naturgemäßen Gleichgültigkeit des wirtschaftlichen und bürokratischen Praktikers
der traditionelle Einfluß unserer Universitäten auf das geistige Leben der Nation
wesentlich dazu bei, das Mißtrauen gegen die verdächtige Ideologie in weite
Kreise zu tragen. Sind doch die meisten der deutschen Ideologien am Rande
des akademischen Geistes, vielfach im Gegensatz zu ihm entstanden. Auch neigt
der zweifellos tief im deutschen Wesen verwurzelte metaphysische Sinn bei uns
zu einer Überbetonung der theoretischen Seite im Ideologischen, während dessen
werbende Kraft beim Russen an den selbstzerstörerischen nihilistischen Aktivismus
appelliert. Wo, wie bei uns, die Ideologie im wesentlichen eine Ausdeutung
der mit sich selbst einigen völkischen Instinkte ist, kann die Ideologie eine Art
Liebhaberei der Wenigen bleiben, weil sie die allgemeine nationale Entwicklung
nicht herumreißen, sondern sie nur rational verklären, sich selbst in ihrer ganzen
Tiefe zum Bewußtsein bringen will. Der leidenschaftliche, von der breiten
Menge der Intelligenz getragene ideologische Kampf in Rußland ist dagegen
in seiner besonderen Ausprägung ein Anzeichen dafür, daß der Nationalgeist
von tiefen Zwiespalten durchfurcht, von inneren Kämpfen aufgewühlt wird, die
er nicht nur mit brudermörderischer Bomben und Revolvern, sondern auch im
Felde des Geistes blutig auszufechten entschlossen ist. Europa, der Westen, ist
für Rußland das unendlich erregende nationale Lebensproblem, und es ist er¬
schütternd anzusehen, wie die Vertreter nationaler Hingabe wie nationaler Selbst¬
behauptung in gleicher Weise die Munition des ideologischen Kampfes aus dem
fragwürdigen Westen beziehen müssen.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging trotz leichter, kaum bemerkter Schwan¬
kungen der deutsche Mensch seinen Weg, der ihn schließlich in diesen schreckens¬
reichen Krieg hineingeführt hat. Schon vorher freilich war auch bei uns einer
aufgestanden, der den furchtbaren Zwiespalt der kommenden Jahrzehnte in
seinem schweren Leben bereits auszutragen hatte: Friedrich Nietzsche. Aber er
wurde bei uns mehr angestaunt, mißtrauisch hier, bewundernd da, als in der
Tiefe recht eigentlich verstanden. Sein Blick reichte weiter als der unsrige, erst
jetzt gelangen wir allmählich an den Punkt, wo er, der zu früh Geborene, der
Last seiner Gesichte nicht Gewachsene, schon damals stand, bis er unter fürchter¬
lichen intellektuellen Zuckungen zusammenbrach. Ja, selbst noch der Anfang
dieses Krieges, der Schlußstein einer langen Entwicklung des deutschen Geistes,
schien eine glänzende Probe auf die innerlich geschlossene, tief in sich selbst be¬
friedigte Selbstversöhntheit des deutschen Geistes und Wesens. Aber schon der
Fortgang des Krieges macht dem aufmerksamen Ohr das unterirdische Grollen
einer nahenden Selbstentzweiung vernehmlich. Der Traum vom inneren Frieden
naht seinem Ende. Unruhig wälzt sich schon der Schläfer. Und während wir
in mustergültiger Disziplin und Selbstbeherrschung noch die unzerteilte völkische
Kraft an die Austragung des äußeren Streites gegen den zum unnatürlichen
Bunde vereinten Westen und Osten wenden, bewegen uns schon die Ahnungen
gewaltiger innerer Kämpfe, die der deutsche Geist mit sich selbst auszufechten
haben wird, wenn er — wir hoffen: siegreich — den Kampf nach außen be¬
standen hat. Wir glaubten, nur für Rußland gäbe es ein Problem „der
Westen". Nun dämmert den Besten unter uns die Einsicht: auch für uns wird
der Westen das gewaltige Problem sein, an das alle geistige Kampfkraft des
Deutschtums nach diesem Krieg gewandt werden muß.
Es ist nicht meine Absicht, diese Problematik hier bereits auseinander
zu legen, so deutlich ihre Grundzüge schon heute überschaubar sind. Hier kommt
es mir lediglich auf den Hinweis an, daß die deutsche Intelligenz nicht länger
einer in die Tiefe gehenden politischen Ideologie entraten kann. Es ist ohne
jeden Belang, wenn ängstliche Gemüter in halbbewußter Voraussicht der
kommenden Kämpfe jetzt intellektuelle Toleranzedikte erlassen und die Schalmeien
eines geistigen Pazifismus blasen. Der Kampf kommt mit unentrinnbarer Not¬
wendigkeit. Worauf es vielmehr ankommt, ist dies: daß er nicht in der Schicht
kleinlicher parlamentarisch-parteipolitischer Zänkereien ausgefochten wird, sondern
vielmehr mit der edlen Waffe der Ideen, die des Deutschen allein würdig ist.
Und zwar mit jungen triebkräftigen Ideen. Was hat denn die Sozialdemokratie
in ihr Dilemma, in ihre tragikomische Ratlosigkeit während des Krieges gestürzt?
Auch ihre Gegner müssen zugeben, daß sie sich vorteilhaft vor anderen Parteien
der letzten Jahrzehnte dadurch auszeichnete, daß sie eine den Parteienkampf
vertiefende Doktrin besaß, in deren Kern durch alle Verschlackung hindurch die edlen
Erzadern hegelischer Dialektik glänzten. Nicht daß sie eine solche Doktrin besaß,
führte zu ihrer Katastrophe, sondern vielmehr der Zwiespalt, der sich zwischen
dieser und den lebenskräftigen politischen Instinkten der Partei aufgetan hatte.
Ihre Führer waren der Versuchung erlegen, diese Ideen, zur lockenden utopischen
Phrase aufgeputzt, auch dann noch agitatorisch zu verwenden, als sie selber nicht
mehr zu innerst an sie glaubten. Daher denn die Spaltung, die der Krieg
zwischen den halsstarrig reaktionären Dogmengläubigen und denen innerhalb der
Sozialdemokratie aufreißen mußte, die sich in später Stunde zum ehrlichen Be¬
kenntnis einer Entfremdung von dieser heiliggehaltenen Ideologie bekannten:
auf dem edelsten Wege sich dazu bekannten, nämlich durch die Tat, durch den
entschlossenen Einsatz der eigenen Person für die bisher steifnackig verleugneten
vaterländischen Ideale. Ludwig Franks Gestalt ist das leuchtende Symbol für
diesen Vorgang eines Triumphes der lebendigen Sozialdemokraten über die in
der Idee erstarrende Sozialdemokratie. Denn dies letztere konnte auch bei ihr nicht
ausbleiben. Wie alle Parteien hat eben auch die Sozialdemokratie an dem
Verhängnis der letzten Jahrzehnte teilgenommen, deren Posttivismus weder die
schöpferische noch auch nur die fortbildende ideologische Kraft besaß, um dem
neuen Hineinwachsen in die nationalen Aufgaben in der Idee gerecht zu werden.
Es ist ein müßiger Streit, ob eine solche der Wirklichkeit entfremdete Ideologie
das größere Übel sei oder das gänzliche Fehlen einer solchen. Wenn man
von Naumanns Schriften absieht, die doch übrigens auch mehr Programm als
eigentliche Ideologie bedeuten, fehlte auch den anderen Parteien eine weltan¬
schauliche Begründung ihres Parteiprogramms, die den letzten Jahrzehnten ent¬
sprossen wäre, so gut wie vollkommen. Während in Rußland Dostojewski und
seine Freunde der aufkommenden nationalistischen Bewegung einen hinreißenden
ideologischen Ausdruck verliehen, beschäftigte sich der deutsche Geist damit, über
den toten Hegel herzufallen, sowie den Kantianismus auf Erkenntnistheorie zu
reduzieren und die Aufklärung zurückzuinterpretieren. Politik wurde mehr und
mehr geistlos. Sie beschränkte sich auf wirtschaftliche und organisatorische
Probleme, in deren Grenzen vor allem die Bürokratie Hervorragendes leistete,
während der Parlamentarismus dem führenden Staatsmann Bismarck allerhand
Steine in den Weg warf. Vom lebendigen politischen Interesse wandten sich
die geistigsten Köpfe immer mehr ab, da ihnen das ideenlose, in Nutzhastig-
keiten verstrickte Parteigezänk intellektuell wie moralisch in gleichem Maße
widerstand.
Soll nach dem gewaltigen Aufflammen der politischen Anteilnahme unseres
ganzen Volkes nach dem Krieg wieder alles ins alte Gleis zurück? Niemand
natürlich wird die nüchterne politische Überlegung der Kundigen durch ein all¬
gemeines unklares Schwärmen in Ideen ersetzen wollen. Aber sollen Programm
und Taktik, soll der politische Positivismus wieder in seine kümmerlichen Allein¬
herrschaftsrechte eingesetzt werden, abseits von der Anteilnahme der besten Kräfte
unserer Intelligenz? Auch das wird niemand wünschen. Wenn das aber so
liegt, dann erwächst dringend und unabweisbar die Forderung, auch das politische
Leben und seine Parteiung mit Ideen zu durchdringen und so der doktrinären
Phrase den Kampf zu erklären, die sich als dürftiger Ersatz an deren Stelle
geschoben hatte. Wir brauchen wieder — diese Einsicht sollte in weiteste Kreise
dringen — eine geschichtsphilosophisch unterbaute ideologische Deutung der Gegen¬
wart in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft und zu dem ewigen
Born unserer Geschichte: dem unergründlichen deutschen Wesen.
Prüfen wir an Hand der so gewonnenen Gesichtspunkte die zahlenmäßig
so ungeheure Kriegsliteratur Deutschlands, so ist die ideologische Ausbeute nicht
überaus groß. Daß die akademische Philosophie unserer Universitäten im großen
und ganzen dieser Aufgabe fremd gegenüberstehen mußte, war Zu erwarten.
Nur wenige ihrer Vertreter wie Troellsch, Gucken, Theobald Ziegler und einige
andere wandten die philosophische Besinnung auf die Probleme der Stunde.
Schelers Genius des Krieges, der hinreißende philosophische Ausdruck der
kriegerischen Aufbruchsstimmung, fand wenige Nachfolger. Einzelne Reden, so
die von Joel und Borchardt, erhoben sich weit über das niedere Niveau einer
gutgemeinten, aber ideell höchst dürftigen politischen Erbauungsprosa, in der die
apologetische Lobpreisung des deutschen Geistes einen allzu breiten Raum ein¬
nahm:. Im übrigen wurde in der Kriegsliteratur auf die diplomatische Aus-
bruchsform des Krieges, die leidige und im Grunde so gegenstandslose „Schuld¬
frage" viel peinliche Forschung verwandt; aber eine Deutung des Sinnes dieses
Krieges, seine Einstellung in den philosophisch erfaßten Gesamtzusammenhang
der deutschen Geschichte, sein Bezug auf die Zukunft des deutschen Geistes wurde
nur selten und meist unvollkommen versucht. Hier seien einige neuere Er¬
örterungen in dieser Problemrichtung behandelt.
Sehr merklich kleben die Eierschalen des Posttivismus an Mathieu
Schwarms „Sinn der deutschen Geschichte" > (Verlag von Georg Reimer, Berlin
1916). Gleich zu Beginn beruhigt uns der Verfasser darüber, daß er sich und
uns nicht mit „abstrakter Ideologie" belästigen wolle. In der Tat ist das
geschichtsphilosophische Prinzip, das er seiner ganzen Darstellung zugrunde
legt, der Begriff der „Existenzsicherung", ein so dürftiges und unzulängliches
Instrument der Sinndeutung, daß die ganze Darstellung gänzlich an der Ober¬
fläche der politischen Geschehnisse bleibt und nicht einmal deren immanente
Logik auch nur entfernt mit der gleichen Schärfe und Überzeugungskraft heraus¬
arbeitet, wie das etwa Kjell6n in seinen bekannten Schriften gelungen
ist.*) Denn verstünde man unter Existenzsicherung bloß das, was der Wortstnn
besagt, nämlich Schutz- und Abwehrmaßnahmen gegen äußere Gefahren, dann
läßt sich die Spannweite der politischen Ereignisse nicht ohne Verkümmerung
in dies doktrinäre Prokrustesbett zwängen. Das sieht Schwann recht wohl und
interpretiert nun solange alles mögliche, z. B. auch die Entfaltung, in die
Existenz hinein und aus der Sicherung alles Anpasserische heraus, bis Existenz¬
sicherung zu einem ganz vagen und inhaltsleeren Begriff verschwimmt, mit dem
alles und nichts anzufangen ist. Nun zeigt der Verfasser an der Entwicklung
der politischen Probleme Deutschlands etwa seit der großen Revolution, worin
die führenden Geister dieser Epoche die „Existenzsicherung" Deutschlands sahen,
und glaubt auf diesem Wege den Sinn dieser deutschen Geschichte rückblickend
aus den Geschehnissen abgelesen zu haben. Dabei schwankt seine Methode so
unruhig zwischen historischem Bericht und eigner programmatischer Setzung hin
und her, daß keinem dieser Gesichtspunkte eigentlich Genüge geschieht. Wenn
so auch selbstverständlich, besonders nach der Seite ideengeschichtlichen Berichts
manche interessante Bemerkung abfällt, so stellt die Arbeit als Ganzes doch einen
Versuch dar, der an der Unzulänglichkeit seiner begrifflichen Mittel gescheitert ist.
Bemerkenswert ist aber an dieser Darstellung, wie sie sich zeitlich ihre
Aufgabe abgrenzt. Um an die Schwelle der Gegenwart und ihrer Probleme
hinzuführen, scheint es Schwann vor allem wichtig, die Epoche etwa seit dem
Tode Friedrichs des Großen ideengeschichtlich darzustellen. Ungleich schärfer
und bewußter erkannt zu haben, daß in der Tat das Jahr 1914 eine Zeiten¬
wende wie das Jahr 1789 der großen Revolution ist, das ist das wesentliche
Verdienst des Münsterer Staatswissenschaftlers Johann Plenge. Seine Schrift
„1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen
Geistes" (Verlag von Julius Springer Berlin 1916) bedeutet einen höchst
beachtenswerten Versuch, nun in der Tat mit den geschärften Vegriffsmitteln
einer philosophisch unterhandelt Ideologie die Ideen von 1914 denen von 1789
gegenüberzustellen und beide in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu untersuchen.
Hier schämt sich der Deutsche Geist nicht mehr der Tiefendimension einer ideolo¬
gischen Konstruktion, und während bei Schwann noch die bislang üblichen an¬
maßend-distanzlosen Anwürfe gegen den großen Hegel unterlaufen, bedient sich
Plenge in gründiger Weise der Methode hegelischer Dialektik und erweist damit
ihre Unentbehrlichst auch für die heutige ideologische Gedankenführung.
Sehr bedeutsam ist auch der methodologisch-geschichtsphilosophische Neben«
ertrag des Buches in seinen Ausführungen über die Rolle geschichtlicher Ideen
überhaupt. Auch ist es interessant, wenn schon manchmal etwas hemmend für
den Verlauf der Lektüre, daß Plenge überall den Zusammenhang mit den Ge¬
danken seiner früheren Schriften aufweist. Hier beschäftigt uns aber nur der
ideologische Grundgedanke des Buches. Der weist nun der ganzen Veröffent¬
lichung einen dauernd bedeutsamen Platz in der deutschen Jdeengeschichte an.
Denn Plenge nimmt als erster mit vollem Bewußtsein den Kampf mit einer
allmählich fast lautlos einsetzenden Bewegung an. die man als Restauration
des westlichen demokratischen Liberalismus in Deutschland bezeichnen könnte.
So ist denn auch der unmittelbare Anlaß des Buches ein Weihnachtsartikel
der Frankfurter Zeitung, in dem unter spöttischer Anspielung auf Sombart,
Kjellön usw. die allgemein-menschlichen Ideen von 1789 gegen die neuen von
1914 in Schutz genommen werden. Mit wahrhaft glänzendem polemischem
Geschick wird jener Artikel, der übrigens in vollständigem Abdruck dem Buche
beigegeben und so als interessantes literarisches Symptom der Vergessenheit
entrissen ist, auf seine letzten ideologischen Motive zurückgeführt. So spitzt sich
der Kampf zum Gegensatz des aufklärerischen Individualismus Kants und des
Kollektivismus Hegels zu. Und dem abstrakt-gleich macherischen kategorischen Im¬
perativ Kants wird das neue Gebot: „Schaffe mit, gliedere dich ein. lebe im
Ganzen" entgegengesetzt. Und es ist die Idee der Organisation, die als echte geschicht¬
liche Synthesis noch die ausgehobenen Ideen von 1789 in sich aufnimmt, sie aber nach
der positiven Seite ergänzt und damit weit über sich selbst hinausführt.
Im Licht dieser Ideologie stellt sich also 1914 als eine Versöhnung des
Staatsgedankens mit dem Sozialismus und darüber hinaus als ein voll¬
kommener Sieg dieses Staatssozialismus über den liberalen Individualismus
dar. Wie konseqent dieser Grundgedanke in all seinen Verzweigungen zu Ende
gedacht ist, muß man in der geistvollen tiefbohrenden Schrift selber nachlesen.
Dann freilich wird aber auch klar werden, daß das Problem der Überwindung
des Westens in der Ideologie damit bloß angeschnitten, aber doch noch keineswegs
gelöst ist. Der hier beherrschend in den Vordergrund gerückte Gedanke der
Organisation behält eben doch in sich die Spannung des organischen und
mechanischen Prinzips. Und der Gedanke des Sozialismus neigt so sehr nach
dem letzteren Pol, daß die liberale Erbschaft, das aus allen Bedingungen los¬
gelöste Einzel-Ich als Willensatom. auch in dieser neuen Moral so außer¬
ordentlich stark betont bleibt, daß der Gegensatz Plengcs zu der Meinung des
angezogenen Artikels in der Tat geringer ist, als er scheint.
An diesem Punkt rächt sich vielleicht doch die auch bei Schwann bemerkte
Beschränkung auf den Zeitraum der letzten 125 Jahre. Das demokratische
Moment einigt den Plengeschen entschlossenen Staatssozialismus und die liberale
Restauration so eng. daß beide zusammen erst den großen Protest wachrufen
werden, der sich auf den aristokratischen Gedanken der sozialen Stufung auch
unabhängig vombloßen Tüchtigkeitsmomentberufen und damit hinter die Aufklärung,
vielleicht noch hinter die Reformation zurückgreifen muß. Je gewaltiger die Zeiten¬
wende empfunden wird, desto weitere Spannen wird die Ideologie zu übergreifen ver¬
mögen, um den Sinn der Zukunft zu deuten. Es soll nicht behauptet werden, daß all
solche weiter ausschauende Versuche ideologischer Art den Plengeschen Grundgedanken
ablehnen werden. Ganz zweifellos sind durchaus reale und zukunftssichere Tendenzen
in ihm gedeutet. Aber ohne eine wesentliche Einschränkung ihres Wirkungsbereiches
auf den Umkreis des Wirtschaftlich-Politischen dürfte es kaum abgehen.
Daß die gewaltige Erregung der Zeit längst verschollen geglaubte ideolo¬
gische Motive wieder aufrührt, erweist sich an dem seltsamen Buch von Alfons
Paquet „Der Kaisergedanke" (Verlag von Rütten und^Loening, Frankfurt 1915).
Der positivistischen Ideologie Schwarms und der philosophisch-rationalistischen
Ideologie Plenges tritt in dieser dunklen und tiefen Schrift ein dritter ideolo¬
gischer Typ, der mystisch-religiöse, zur Seite. So fehlt dem Büchlein auch ein
eigentlich durchlaufender Gedankengang, zumal es schon in seiner Darstellungs¬
form in lose zusammenhängende Einzelaufsätze zerfällt. Aber auch bei einer
anderen Gliederung des Stoffes würde sich eine solche Einheitlichkeit der dis-
kursiven Gedankenführung schwerlich aufweisen lassen, weil eben hier ein visio¬
näres Ahnen zum Ausdruck drängt, das sich in merkwürdigem Wechsel den
positiven Gegebenheiten bald eng zu nähern, dann wieder tief in den Abgrund
formlos verfließender Träume zu versinken scheint. Was sich aus diesem
gotischen Jdeengeranke als Grundmotiv herauslösen läßt, ist die ungeklärte
Sehnsucht, die mitten aus der absoluten politischen Zerstückung der Welt die
Zukunftshoffnungen mit einer Wiedererweckung des alten Weltgedankens vom
Universalreich verknüpfen möchte. Im Grunde sind es nicht politische, sondern
kulturell-religiöse Motive auf föderalistischer Grundlage, die sich für Paquet mit
seinem ins Metaphysische sich verwurzelnden Kaisergedanken verbinden. Es wird
immer ein Merkzeichen für die Tiefe bleiben, in der das deutsche Volk diese
ungeheure Selbstzerfleischung der Erde erlebt und erleidet, baß gerade in dieser
Zeit so wirklichkeitsferne Ideen mit solch inbrünstiger Gläubigkeit sich im all¬
gemeinen Bewußtsein durchringen konnten. —
Der Zufall eines zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Erscheinens gab
den äußeren Anlaß, diese drei Schriften hier miteinander zu würdigen. Auf
dem Hintergrund unserer allgemeinen Überlegungen über die Notwendigkeit
einer deutschen Ideologie «is allgemein in ihrem Recht anerkannter Geisteshaltung
mußten sie gewissermaßen als drei methodische Typen erscheinen, die die Vielgestaltig¬
keit der Ideologie am lebendigen Beispiele dartun. Unabhängig vom jeweiligen
Gelingen bietet doch schon das Vorhandensein solcher Schriften und das In¬
teresse, das die Leserwelt an ihnen nimmt, eine freudige Gewähr dafür, daß
wir auf das Wiedererwachen des ideologischen Triebes und die ihm inne¬
wohnende Tendenz zur Vertiefung der allgemeinen Fragen wohlbegründete Hoff¬
nungen zu setzen berechtigt sind.
in Januar und März 1915 erschien im „Figaro" eine Reihe von
Briefen, die ein Pariser Arbeiter vom Schützengraben aus an
seine Schwester geschrieben hatte. Diese in unverfälschten Slang
geschriebenen Briefe zeigten den Parisern eindringlich wie noch
nie. daß an der Front eine ihnen unverständliche Sprache ge¬
sprochen wurde, eine Schützengrabensprache (arZot nie3 tranckees). in deren
Verständnis sich ohne Hilfe eines Wörterbuches schwer eindringen ließ. Und
so muß es auch manchem Polin selbst ergangen sein, denn offenbar um einem
Bedürfnis abzuhelfen, veröffentlichten die beiden Frontzeitungen c?e8
1V!armite8" und „KiZolbocKe" ein „Voeabulaire 6s la Auerre" und ein„I^exiqus
Polin-k?l-an<?-u8«, die das Verständnis des Argot Polin erleichtern sollen.
Obgleich diese französische Schützengrabensprache in Wirklichkeit nur ein
Bruchstück des Pariser Argot, der Sprache der untersten Klassen und haupt¬
sächlich der Apachen darstellt, ist doch der Franzose auf diese durch den Krieg
hervorgerufene, neuartige soziologische Erscheinung sehr stolz und sieht in ihr
ein bedeutungsvolles Moment der Einheit und des engen Zusammenschlusses
des gesamten französischen Volkes im Kriege.
Es ist verständlich, daß unter den vielen Hunderten von Wörtern und
Redewendungen des Argot Polin sich viele sprachliche Bezeichnungen befinden,
die bereits im Frieden der Soldaten- und Kaserneusprache angehörten. Aber
eine ganze Reihe von ihnen hat im Kriege einen neuen Sinn angenommen,
und schließlich ist auch eine Anzahl von Neubildungen entstanden, denn
gänzlich neue Dinge und Geschehnisse verlangten auch nach neuen sprachlichen Be¬
zeichnungen. Hauptsächlich von diesen letzteren sei im folgenden kurz die Rede.
Das den Deutschen bekannteste Wort der französischen Soldatensprache ist
wohl der Schimpfname „Locke", mit dem nicht nur der französische Soldat,
sondern das ganze Volk vom Gelehrten bis zum Straßenjungen uns benennt
und in dem sich eine blinde ohnmächtige Wut kundtut. Über die Herkunft
dieses Wortes gibt es bei uns wie in Frankreich zahlreiche Hypothesen.") Im
Kriege 1870/71 war es jedenfalls noch nicht gebräuchlich, da nannte man die
Deutschen durchweg „?rü83im8". Um 1874 herum soll die Bezeichnung Boche
bereits auf deutsche und flämische Setzer angewandt worden sein. Was der
Franzose alles in dies Wort hineinlegt, zeigen am besten die Worte des fran¬
zösischen Generals Zurlinden: „Boche ist wie das elsässische .Schwob' das
Synonym für Betrüger, Lügner, Trunkenbold, Barbar, unwürdig, grausam,
geworden." Es kehrt in den Wörtern wieder: VoLnonnerie, LocKene (die
Tat eines Deutschen), IZocKonnie, Loebie (Deutschland), IZoLbi3me (deutsche Ge¬
lehrsamkeit), bocki8er (germanisieren), Loebonnaille (-- boenonriaille, Schweine¬
fleisch), bocber (wie die Deutschen handeln). Neben Boche ist noch Alboche
oder Alleboche, eine Verquickung von Allemant und Boche gebräuchlich. Harm¬
losere aber auch seltenere Bezeichnungen für die deutschen Soldaten sind?neck-
rick, ?rit^ Va, Va (oder auch Ja, Ja) und 1"aupe3 (Maulwürfe), während
mit tod oder taube die deutschen Flugzeuge benannt werden. Von den
Alliierten heißen die Engländer nach ihren Uniformen Je3 KaKis, der Russe
dagegen wird I^Iicolas genannt. Für die schwarzen Truppen wird Diables
noirs gesagt (les äiables bleu8 dagegen sind die Alpenjäger) und die marok¬
kanischen Truppen sowie die senegalesischen Schützen heißen, gleichfalls nach ihrer
Hautfarbe, „les ebocolats".
Das französische Wort, das dem deutschen „Feldgrauen" entspricht und
ihm an Popularität gleichkommt, ja, es sicherlich noch übertrifft, heißt poilu
(behaart), worunter ganz allgemein jeder französische Frontsoldat verstanden
wird. Dies Wort findet sich bereits 1834 in einem Roman von Balzac, wo
es den Sinn des Mutigen, Unerschrockenen hat. Die banale Beobachtung, daß
im Schützengraben Bart und Haare wachsen, da sie nicht rasiert oder ge¬
schnitten werden, in Verbindung mit der Vorstellung, daß ein reicher Haar-
und Bartwuchs stets das Charakteristikum des Männlichen, Kraftvollen war
(Simson!), chüele dem Wort Polin den Weg und machte es in Kürze so be¬
liebt wie kein anderes. Bezeichnenderweise wird von allen, die fern dem
Feuer sind, 6piI6 (enthaart) gesagt. Die französischen Landstürmer (territonaux)
werden scherzend terribles-tauriaux (-- terrible8-taureaux, schreckliche Stiere)
oder einfach tauriaux getauft, während die jungen Rekruten sich ^arie-
I^oui8L, wie bereits 1815 die Freiwilligen hießen, oder nach der neuen fran¬
zösischen Felduniform w8 bleu8 nennen. Für Beamte der Intendantur findet
sich die leicht verständliche Bezeichnung ri3-pain-8el (Reis. Brot, Salz). Eine
traurige Berühmtheit und häufige Anwendung hat das Wort embu8c>ne
(s'embu3quel- sich in einen Hinterhalt legen) in Frankreich erlangt, es ent¬
spricht genau unserem „Drückeberger".
Joffre, der französische Generalissimus, wird von den Soldaten außer
Mya ^okkro und notro .lokkre noch ANAnoteur (ZnAnotsr, knabbern) ge¬
nannt, wobei daran gedacht wird, daß wie eine Ratte langsam ihre Beute
zernagt, so Joffre die deutsche Front langsam aber sicher zernagen werde. Mit
Bezug auf feine Tätigkeit als Verleiher der möäaille union-s hat er auch den
Beinamen möckailleur erhalten.
Besonders häufig sind naturgemäß die Bezeichnungen für Waffen und
jegliches Kriegsgerüt. So sind für Gewehr (5u8it) die Ausdrücke gebräuchlich:
lance-pierres (Schleuder), arbalete (Armbrust), serinZue (Spritze) und haupt¬
sächlich nouZat. jedenfalls wegen der neusilbernen Umhüllung der französischen
Gewehrkugeln so genannt, die an den Nußkuchen erinnert. Das Bajonett
trägt dieSpitznamen: cure-derw (Zahnstocher), wurcnette (Gabel), tue-donde
(Deutschentöter), aiAuille ä tricoter (Stricknadel), Kosalie, ^o8öpbine und
Victor. Jacqueline dagegen bedeutet den Kavalleriesäbel.
Die schwere Artillerie hat den Beinamen Zueularäe (Schreihals) erhalten,
für Kanonen im allgemeinen wird brutal gesagt, taire ton88er le brutal
(den Grobian husten lassen) bedeutet mit der Kanone schießen, während unter
canori selbst verre cle vin (Glas Wein) verstanden wird. Die furchtbare Wir¬
kung der Artillerie spiegelt sich in der Bezeichnung boucbers iroirZ (schwarze
Schlächter) für Artilleristen wieder, die eine schwarze Uniform tragen, sie werden
auch arrv8cur8 (arro3er, besprengen) genannt, und das 75 um Geschütz, das
bei den Kolonialtruppen petit krancai8 heißt, trägt den entsprechenden Namen
arro8vir (Gießkanne).
Das eigenartige regelmäßige Geräusch, das das Maschinengewehr verursacht,
hat zu den Bezeichnungen moulin ä cake (Kaffeemühle), moulin a poivre
(Pfeffermühle), maenine ä äecouäre (Nähmaschine) geführt. Sehr viele und
ausdrucksvolle Spitznamen finden sich sür die verschiedenen Arten von Ge¬
schossen. So wird für ohn8 (Granate) ciZare gesagt, womit auch die Zeppeline
bezeichnet werden, für die übrigens auch einfach ^ gesagt wird, während
Zigarre cibiclie heißt. Der Fesselballon wird nach seiner Form 8anni88e
(Wurst) genannt, denselben Namen tragen aber auch die länglichen von den
französischen Schützengrabenmörsern geschleuderten Geschosse. Nach der schwarzen
Rauchentwicklung beim Zerplatzen heißen die Granaten auch mscavoue (Kater),
wobei an die meist schwarze Farbe der Kater gedacht wird und Aw8 noir8
oder ebenfalls nach der Farbe des Rauches Zro3 verk. Der gebräuchlichste
Spitzname für Granate ist aber marmite. ein Wort, das eigentlich den Koch¬
topf des französischen Soldaten bezeichnet. Für Fliegerbomben wird nach dem
von ihnen verursachten Geräusch treffend coucou (Kuckuck) gesagt, womit auch
das bombenwerfende Flugzeug selbst benannt wird. Handgranaten heißen nach
ihrer eigenartigen Form tortue8 (Schildkröten). Für Kugeln und Granat¬
splitter finden sich die Ausdrücke: ckraZee (Zuckererbse). abeille8 (Bienen).
Praline (gebrannte Mandel), marron (Kastanie), pruneaux (Backpflaumen).
Sehr witzig sind oft die Spitznamen, die sich die französischen Soldaten
untereinander geben und die aus eine bestimmte Tätigkeit oder auf das
menschliche Äußere abzielen. Die Scharfschützen der Senegalneger und Alpen¬
jäger, die gern von den Bäumen auf die Deutschen Herunterschossen, erhielten
den Beinamen permquet (Papagei), die bei den Verpflegungszentren, Stationen,
Magazinen, Bahnhöfen und Stäben verwendeten Leute heißen «draine-patte
(einer der den Fuß nachschleppt); Lra8 ca33ö werden die Fouriere, Köche und
solche Mannschaften genannt, die sich gewöhnlich nicht in der Feuerlinie auf¬
halten. Unter aviateur wird ein Dieb verstanden, da voler sowohl fliegen
als auch stehlen heißt. Lurieux (neugierig) wird ein Aufklärer und auch ein
aufklärendes Flugzeug genannt.
Ein Mensch von kleiner Figur heißt ba3 ein cul> rase terre, loin nu
ciel, von großer Figur Uralte-ciel (Wolkenkratzer) clouble-metre, ein magerer
fil cle ter (Eisendraht) kams ä'acier (Stahlklinge), ein dicker prL8Le-papier.
Der französischen Soldatensprache eigentümlich ist eine Anzahl von
algerischen Wörtern, die von den nach Europa in die Schützengräben beförderten
farbigen Truppen übermittelt, schon ihres originellen Klanges wegen sich großer
Beliebtheit bei den Poltus erfreuen, sprachlich jedoch dem Französischen angepaßt
wurden. So werden die Unterstände der Offiziere, der Reservetruppen und der
Truppen der zweiten Linie Zuitoune oder auch Zourbi genannt. Im Ara¬
bischen bezeichnet Kitoun das Reisezeit und Zourbi eine aus Zweigen und
Erde hergerichtete Hütte der Kabylen. Auch das Wort caZna ist für Unter¬
stand gebräuchlich und wurde während dieses Krieges aus Nordafrika nach
Frankreich importiert. Diese cagna8 tragen übrigens sehr bezeichnende Namen
wie Villa clef Obu8> ach NarmitsZ, ach Lourants ä'air, Villa <les pie68
Zeiss etc. Füri^romaZe wird gern unter Benutzung des algerischen LuMxe8
ji fromZi gesagt. Durch die vielfache Berührung mit den englischen Truppen
sind auch mancherlei englische Wörter in den französischen Sprachgebrauch über¬
gegangen, z. B. das Wort doxon, das eine Kneipe niedersten Ranges und
auch Bordell bezeichnet.
Damit seien der Kostproben genug gegeben. Es liegt nahe, das ^rZor
poilu mit der Sprache unserer Feldgrauen zu vergleichen. Eine solche Be¬
trachtung aber läßt den zweifellos größeren Reichtum an Phantasie und an¬
schaulichen Ausdrücken der deutschen Soldatensprache erkennen, eine Tatsache,
die in der weitaus größeren Geschmeidigkeit und Entwicklungsfähigkeit der
deutschen Sprache überhaupt begründet ist.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
er Name Jaures hat dem französischen Sozialismus einen Ruf
verschafft, ^der seine realpolitische Bedeutung weit übertrifft. Es
war nicht nur die Einbildung der deutschen Sozialisten, die fran¬
zösische Internationale könne (besonders auch außerpolitisch) be¬
stimmend und ausschlaggebend wirken, werde bei der Frage, ob
Krieg oder Frieden, ein entscheidendes Wort mitreden; und selbst heute wird
jede Äußerung und jede Entwicklungsmöglichkeit jener Seite mit gespannter
Aufmerksamkeit belauscht und beobachtet. Insofern allerdings Kenntnis der
geistigen und sozialen Strömungen eines Landes, richtige Einschätzung ihrer
Bedeutung, Tragweite und materiellen Grundlage die Voraussetzung für
eine gesunde Außenpolitik bedeuten, sicher mit Recht. Mit Unrecht, sobald
man schon aus der Existenz der französischen Sozialistenpartei die erwartungs¬
vollsten Schlüsse zieht.
In Frankreich nennt sich alles mögliche Sozialist. Mindestens drei sozia¬
listische Parteien gibt es. International und wirklich sozialistisch nach unseren
Begriffen sind oder waren freilich nur die Socialisten unikiös, während die
raclieosocialistes kaum mehr als einen besonders schattierten Flügel der Radi¬
kalen, der stärksten Bourgeoispartei des Landes darstellen, und die socialstes
incZSpenäants zwar noch etwas weiter links stehen, aber mit dem Namen
Nationalsozialisten höchstens in ihrem Gegensatze zur Internationale, nicht aber
w ihrem wirklichen Charakter richtig bezeichnet würden.
Es ist keine Schande in Frankreich, Sozialist zu sein,- eher fast eine Ehre.
Sozialistische Ideen, Männer und Taten sind mit der großen Revolution und
den Staatsumwälzungen des neunzehnten Jahrhunderts viel zu innig verbunden,
um nicht eine gewisse historische Pietät zu genießen. Die Masse nennt sich gerne
sozialistisch. Das gehört mit zur französischen Geste. Frankreich hat das Wort
und den Begriff LZsUte erfunden. Kein Franzose läßt sich den Glauben nehmen,
daß sein Land sich mit starken Schritten dem Ideal wenigstens nähere. Man
huldigt der Idee, man verehrt und bejubelt sie, ist freilich in der Praxis weit
davon entfernt, sie in die Wirklichkeit umzusetzen oder es auch nur ernstlich zu
wollen. Aber man bestaunt und schätzt sich schon darum, daß man es wagt,
an solche Gedanken heranzutreten. Es ist jener Zug des französischen Geistes,
mit allem Neuen und Modernen zu spielen, immer wenigstens dem Worte nach
vornean zu sein und für fortschrittlich zu gelten, jener Drang nach schönem
Schein, letzten Grundes eine gewisse Eitelkeit, andererseits auch wieder der
Ausfluß des französischen Formgefühls, des Dranges, überall die Fassade zu
zu wahren.
So nimmt denn die sozialistische Diskussion breiten Raum ein. So beugen
sich vor dem Worte Sozialismus auch weite Kreise der radikalen Bourgeoisie
— schon aus politischer Klugheit und Wahltaktik. Es ist eins ihrer Schlagworte
für die breite Masse. Wie wenig das für die praktische Politik bedeutet, zeigt
die Tatsache, daß schon die Forderung nach Verstaatlichung der Eisenbahnen,
die unserem Empfinden ganz selbstverständlich ist, in Frankreich als eminent
sozialistisch betrachtet wird und z. B. einen Hauptprogrammpunkt derlrMpen-^
klares darstellt. Augagneur, einer ihrer Führer, der als Minister die West¬
bahn in staatlichem Besitz überführte, wurde dafür zum Teil von eigener
Parteiseite aufs heftigste angegriffen. Was sonst von dieser Partei als sozialistische
Forderung aufgestellt wird, könnte gerade so gut in irgendeinem anderen
Parteiprogramm stehen. Es kommt äußerlich den Bedürfnissen der Masse ent
gegen, läuft aber meist indirekt auf eine Stärkung des Großkapitals hinaus.
So z. B. die Forderung nach möglichster Verbilligung der Lebensmittel und
Materialien, die folgerichtig zur Unterstützung der Großbetriebe. Waren¬
häuser usw. führt, allerdings aber die Masse zunächst blendet durch die offen¬
sichtliche Wendung gegen Handwerk und Kleingewerbe.
Von Revolutiomsmus ist bei ihnen nichts zu spüren, ein wissenschaftliches
System, wissenschaftliche Theorien sind nicht zu finden. Sie sind Opportunisten,
vertreten im übrigen die üblichen demokratisch-antiklerikalen Forderungen der
Radikalen und haben nationalpolitisch ebensosehr den nationalistischen Strö¬
mungen nachgegeben wie jene. Sie sind im Grunde eine Bourgeoispartei,
allerdings mit stark Humanitären und kosmopolitischen Interessen ganz im Sinne
der Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts. Sie spielen wohl mit Völker¬
frieden, internationalen Verständigungen und anderen:, ähnlich etwa wie ein
Llond George, ohne aber auch nur im entferntesten die Wucht der Beweis¬
führung des marxistischen Sozialismus aufweisen zu können.
Von den Unifizierten (80Liali3te3 uniüe8) wurden sie seit langem aufs
leidenschaftlichste bekämpft. Nicht nur aus theoretischer Gegensätzlichkeit, nicht
nur weil sie nach der Ansicht jener ihre sozialistische Aufschrift zu Unrecht
führten und als unehrlich, halb, prinzipienlos entsprechend verhöhnt und ver-
achtet wurden. Sie waren auch die natürliche Zuflucht aller jener Elemente,
die mit den unifizierten Sozialisten aus irgendeinem Grunde zerfallen waren.
Bei ihnen landeten — fürs Auge wenigstens, als Güste — ein Briand, ein
Millerand, ein Viviani und mit ihnen auch ein Teil von deren ehemals
unfizierter Wählerschaft. Sie waren, mittels ihrer Deckmarke und jener freilich
bald durchaus eigenwegigen Hospitanten, Rivalen, die zum mindesten geistige
und moralische Verwirrung anrichten konnten, wenn sie nicht gar bei der Masse
der Nichtorganisierten Proletarier Gefolgschaft fanden. Aus diesem Grunde
interessieren sie uns.
Vom internationalen Standpunkte bieten sie kein Interesse. Wäre eine
Partei nur nach ihrer Bedeutung als geistige Strömung zu beurteilen, dann
käme von den sozialistischen Fraktionen als einzig selbständige nur die der
Unifizierten in Betracht. Sie nennen sich selbst internationaux. Sie sind die
einzigen Vertreter eines sozialistischen Systems, die einzigen Vertreter des inter¬
nationalen und marxistischen Sozialismus. Sie haben als einzige den Inter¬
nationalismus als Prinzip angenommen, bekämpften seit Jahren die Revanche¬
idee und den französischen Nationalismus und spielten mit dem Gedanken des
Generalsstreiks als Mittel zur Verhinderung jedes, insbesondere jedes deutsch¬
französischen Krieges. Sie genossen internationale Achtung und galten neben
der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie als die bedeutendsten Ver¬
treter der Internationale. Ihr Einfluß auf die Masse galt der deutschen
Sozialdemokratie durchaus als gleichwertig dem ihrigen, ihr Dasein für den
Fall internationaler Verwicklungen als ausschlaggebend und unschätzbar.
In jedem parlamentarisch regierten Lande ist zwischen der parlamentarischen
und der realen Bedeutung einer Partei streng zu scheiden. An jener fehlte es
der französischen Internationale tatsächlich nicht. Diese möchte ich zum guten
Teile schreiten. Der Einfluß und die Kraft einer Partei mißt sich an der
Zahl ihrer Wähler, an ihrer Organisation, an der Einheitlichkeit ihrer Wähler¬
schaft und an der Geschlossenheit und Wucht ihrer Gedanken.
Die Zahl der sozialistischen Wähler wuchs allerdings bei den letzten
Wahlen 1914 auf über eine Million, und dementsprechend war die Partei mit
einigen achtzig Abgeordneten im Parlament vertreten. Wir sind geneigt, solche
Ziffern nach deutschen Maßstäben zu beurteilen. Wir vergessen zumeist, daß
die französische Volksvertretung gegen sechshundert Deputierte zählt, daß also
von einem ähnlichen Verhältnis von Sozialisten und Nichtsozialisten wie in
Deutschland nicht die Rede sein kann. Noch viel weniger, wenn wir nur das
Verhältnis der Stimmen zu Grunde legen, das in Deutschland eins zu drei,
in Frankreich aber im günstigsten Falle eins zu neun beträgt. Dieser aber
immerhin nicht ganz unbedeutenden äußeren Macht entspricht in keiner Weise
die Organisation, das heißt also die innere Kraft. Spricht es nicht Bände,
daß diese Emmillionpartei bis zum Kriege nur ein einziges täglich, er¬
scheinendes Parteiblatt, die ttumanitö, aufwies! Verrat es große Kraft, wenn
selbst dieses sich nur mit größter Mühe und eine Zeitlang nur mit Unterstützung
der Sozialdemokratie Deutschlands halten konnte, ^ wenn es eine einigermaßen
bedeutende Zahl von Abonnenten nicht aufzuweisen vermag! Eine sozia¬
listische Lokalpresse gar existiert nirgends. Wohl erscheint hin und wieder
ein Wochenblatt, da und dort auch eine Halbwochenzeitung. Lange vermögen
sie ihr Dasein nie zu fristen. Sie verschwinden meist so schnell wieder wie
sie gekommen. Die große Industriestadt Lyon z. B. erfreute sich eine Zeit¬
lang des „/^venir", eines vollkommen unbedeutenden Ablegers der t^lumanitö,
der nur jeden Mittwoch und Sonnabend und, wie fast alle französischen
Zeitungen, selbstverständlich nur vierseitig erschien. Selbst so sparsame sozia¬
listische Kost fand jedoch bei dem Arbeiterpublikum keinen Zuspruch. Das
Blatt ging schon im Winter 1912/13 wieder ein, zu einer Zeit, als doch die
bevorstehende Präsidentenwahl, die Frage der Einführung der dreijährigen
Dienstzeit, der europäische Generalstreik anläßlich der Balkanwirren u. a. in.
das politische Interesse gerade der sozialistischen Arbeiterschaft in schärfster
Weise hätten in Anspruch nehmen müssen. Wenn die „Querre sociale" Gustav
Heros's jeden Mittwoch Abend eifrigen Zuspruch und Absatz fand, so verdankte
sie es ihrer Eigenschaft als Pariser Blatt und vor allem der Persönlichkeit
ihres Herausgebers. Dasselbe war fraglos in mindestens gleichem Grade auch
bei der ttumanitö der Fall, deren Bedeutung mit ihrem Leiter James stand
und fiel. Die Käufer waren vielleicht ebensooft Bürgerliche wie Sozialisten,
rekrutierten sich aus allen Parteien und in großer Anzahl besonders aus der
jede Persönlichkeit schätzenden Intelligenz.
Das wichtigste Hilfsmittel eines klassenbewußten Sozialismus, die
Abonnementspresse, fehlt der französischen Partei. Man kann daher behaupten,
daß die Parteigesinnung über die nationale Sitte (in Frankreich ist Abonnement
und ständiger Gebrauch derselben Zeitung unbekannt) nicht zu siegen vermochte,
daß also Parteidisziplin und innere Kraft sehr zu wünschen übrig lassen und
mit den Verhältnissen in der deutschen Bruderpartei gar keinen Vergleich aus¬
zuhalten vermögen. Wenn man aber weiter beobachtet, daß auf die Million
sozialistischer Wähler nur etwa sechzigtausend parteipolitisch Organisierte kommen,
während Deutschland deren auf viereinhalb Millionen etwa eineinhalb Millionen
zählt, wenn man steht, daß, wiederum im Gegensatz zu Deutschland, sozialistische
Wahl- und sonstige Vereine in weiten Gegenden fehlen, daß in vielen Wahl¬
kreisen nicht einmal ein Kandidat der Partei aufgestellt wird, so kommen wir
an die Wurzel der Schwäche, kommen zugleich an die Wurzel der Frage nach
der Bedeutung der unifizierten Sozialisten für das französische Staatsleben und
damit auch für den Internationalismus.
Die französische Sozialdemokratie ist nicht eine Arbeiterpartei wie etwa die
deutsche. Die Einheitlichkeit der Wählerschaft fehlt ihr. Zu weit höherem Pro¬
zentsatz als jene setzt sie sich aus Angehörigen anderer Berufsklassen zusammen.
Nichts ist charakteristischer hierfür als eine Wahlversammlung oder ein Partei-
fest. Man glaubt durchaus in klein- und mittelbürgerlichen Kreisen zu sein.
Die Mütze und der kragenlose Hals, so typisch für reine Arbeiterversammlungen
etwa aus syndikalistischen Kreisen, fehlen fast völlig. Diese Beobachtung kann
man gerade auch in Industriestädten machen.
Nirgends ist die Arbeiterschaft vielleicht so zerklüftet wie in Frankreich.
Die Anziehungskraft des bourgeoisen Sozialismus also besonders der „Unab¬
hängigen" auf einen nicht unbeträchtlichen Teil derselben wurde schon erwähnt.
Lyon wählt höchstens zur Hälfte (e. 4) Unifizierte. Die andere Hälfte mit
Ausnahme eines einzigen Klerikalen ist „Unabhängig". Der Mittelpunkt des
zentralfranzösischen Kohlenbeckens, Se. Etienne, eine reine Arbeiterstadt auch im
ganzen äußeren Habitus, entsendet Briand, den meistgehaßten und meistbe¬
kämpften Abtrünnigen, und neben ihm meist nur einen Internationalen. Der
im ganzen kleine Teil klerikaler Arbeiter mag nur eben erwähnt werden.
Schlimmer und schwerwiegender vielleicht als dieses Auseinandergehen
weltanschaulich verschieden orientierter Richtungen ist der Widerstreit im wirklich
klassenbewußten Proletariat selbst. Der Gegensatz von sozialdemokratischer Partei
und Gewerkschaften (Syndikate) ist bekannt. Er ist weit schärfer als in
Deutschland, hat vor allem auch eine ganz andere und für die Partei bedenk¬
liche Grundlage. Er ist mehr als ein Gegensatz der Mittel, er erstreckt sich
bis in die Ziele. Während bei uns die Gewerkschaften das gemäßigte Element
darstellten, sind sie in Frankreich gerade umgekehrt die Vertreter des schärfsten
Revolutionismus, und während sie in Deutschland den Zusammenhang mit
der Partei trotz allem nie verloren, steigerte sich dort der Gegensatz zu offener
gegenseitiger Bekämpfung.
Die Begriffe ZMälcaliLtes und socialistes werden keineswegs als identisch
angesehen. Die Weite der Entwicklung von einem zum andern zeigt am besten
das Beispiel Heros's. Hero6 der Sozialist war sich sehr wohl bewußt, welche
Schwenkung er durch seine offizielle Beteiligung an sozialistischer Parteiarbeit
vollzogen hatte. Bald nach der bekannten Baseler Parlamentarierzusammenkunst
suchte er in Lyon anläßlich eines Vortrags über diesen Kongreß vor einer
größtenteils syndikalistischen Zuhörerschaft sich und die Partei nachdrücklich zu
rechtfertigen, fand aber nur tumultuarischen Widerspruch.
Die Syndikate stehen durchaus unter dem Einfluß anarchistischer Gedanken.
Ihre geistigen Leiter sind im Grunde Gegner jeder parlamentarischen Tätigkeit
und Vertretung, Feinde sogar jeder, insbesondere jeder parteipolitischer Organi¬
sation. Sie sehen das Heil des Proletariers und die Möglichkeit der Ver¬
besserung seines Loses allein in der revolutionären Tat. ihre Gewerkorganisation
betrachten sie mehr oder weniger nur als Mittel zu ihrer besseren Durchführung.
Ihr eigentliches Ziel ist die gewaltsame Loslösung vom Staate, die Vernichtung
jeder Staatsorganisation, ganz gleichgültig ob Republik oder Monarchie. Sie
sind theoretisch Vertreter der schärfsten Mittel und haben sie zum Teil auch in
der Praxis anzuwenden versucht. Ihnen verdanken Sabotage, Generalstreik,
militärische Gehorsamsverweigerung ihren berüchtigten Namen. Die C. G. T.
(die LoiiföäLration Zönörale ein travail), die Zentralinstanz der Gewerk¬
schaften, und ihre Treibereien standen eine Zeitlang im Mittelpunkt des poli¬
tischen Lebens, und noch wohl in Erinnerung sind die scharfen Matzregeln eines
Clömenceau und eines Briand gegen ihre bedrohliche Staatsfeindschaft.
Der offizielle Sozialismus ruht auf einer weit optimistischeren Welt¬
anschauung. Der Zukunftsstaat mit besserer und glücklicherer Organisation ist
für ihn umrissene Wirklichkeit, nicht unbestimmter Nebel wie für den Pessimismus
des Syndikalisten. Mit dem Gegenwartsstaat vermag er sich bis zu einem gewissen
Grade abzufinden. In der Form einer demokratischen Republik unterstützt er
ihn sogar, da sie ja auch die Grundlage seines Zukunftsstaates und ihm jeden¬
falls lieber als eine etwaige andere Staatsform ist. Verständnis für die Be¬
dürfnisse des Staates und gleichzeitig ein gewisser Opportunismus sind die
unmittelbare, wenn auch ungewollte Folge.
In schärfster Zuspitzung zeigt sich der Gegensatz von Syndikalismus und
Parteisozialismus in ihrer Stellung zur Nationalidee. Der Sozialismus ist oder
war zwar international, aber doch nicht antinational. Der Syndikalismus war
bewußt antipatriotisch und in strenger Konsequenz durch und durch antimili¬
taristisch. Ein Griffuelhes, ein Jouhaux und in seiner anarchistischen Zeit ein
Hervä fanden Worte wildesten Hasses gegen Militär und Trikolore. Die C. G. T.
zog sich wegen Aufreizung zu Meuterei und Militärrevolte schärfste Verfolgung
zu. Auch bei den Unifizierten fiel das Wort Antimilitarismus gelegentlich
sogar ebenfalls mit recht scharfer Betonung. Ihre Heeresfeindschast richtete sich
jedoch gegen das augenblickliche Kasernenheer, vermochte aber, wie Jaurös be¬
deutendes Buch über die Miliz beweist, sehr wohl die Notwendigkeit einer
nationalen Verteidigungsarmee zu bejahen.
Es ist klar, daß ein bedeutender Teil der Arbeiterschaft durch die Syndikate
in Spannung mit der Partei geriet. Wenn auch die französischen Gewerk¬
schaften bei weitem nicht die Bedeutung der deutschen hatten, wenn ihnen (bei
ihrer geistigen Grundlage naturgemäß!) auch deren Geschlossenheit fehlte, so
entzogen sie doch der Partei starke Kräfte und trugen ein weiteres zur geistigen
und politischen Zerklüftung des französischen Proletariats bei. Die Syndikalisten
wählen wohl zum Teil sozialistisch, aber ohne in die Partei einzutreten und ohne
ihr ihre Kräfte zu widmen. Grollend und mit bitterer Kritik stehen sie bei¬
seite, und ebensoviel Übel wie Gutes sehen sie von der parlamentarischen Ver¬
tretung seinen Ausgang nehmen. Zwischen den beiderseitigen Führern be¬
standen allerdings mehr oder weniger lose Beziehungen, besonders seit die
Sozialdemokratie im Gefolge des Kongresses zu Nancy wieder näher an den
Syndikalismus heranrückte. Aber die Wucht der Geschlossenheit fehlt dem
Proletariat Frankreichs.
Diese Zersplitterung der französischen Arbeiterschaft ist zum guten Teile
die Folge der nationalen Anlage und der nationalen Verhältnisse. Der Ab-
stand von Proletarier und Kleinbürger ist ein weit geringerer und weit leichter
zu überwinden als in Deutschland. nationaler Svarsamkeitsdrcwg. Mitarbeit
der Frau, Einkindersystem und anderes ermöglichen vielen Arbeitern ein Alter
als kleiner Rentner. Der Rahmen des Lebens ist demokratisch. Jeder ist
Monsieur, jede Madame; das Selbstgefühl wird weit mehr geschont als bei
uns. Es existiert zwar nicht Gleichheit des Besitzes, aber Gleichheit der Be¬
handlung. Die Lebensformen der Besitzenden sind — in der Provinz wenig¬
stens — nicht so differenziert und aufreizend. Der reine Industriearbeiter ist
relativ selten, verfügt weit häufiger als in Deutschland über einen kleinen
Grundbesitz oder betreibt ein Nebengewerbe. Der Klassenhaß ist darum nicht so
stark entwickelt. Andererseits blickt der Individualismus in jeder Form in
Frankreich auf eine zu lange Tradition zurück, um nicht schon tief in die
unteren Schichten gedrungen zu sein. Dazu die Überpolitisierung der ganzen
Nation, das Mißtrauen gegen jede Politik, Parteien und Parlament. Man
glaubt sich schon zu oft „truquö". Der Glaube fehlt. Gleichgültigkeit und
Anarchismus sind damit gleichmäßig Tür und Tor geöffnet. Eine straffe
Organisation ist auf solcher Grundlage unmöglich.
Der Partei strömen dafür andere Elemente zu und gewinnen bei dem
ungenügenden Zusammenschluß und der infolgedessen schwachen Widerstandskraft
des Proletariats rasch an Einfluß. Neben dem Kleingewerbe, vor allem die
kleinen Angestellten, die schlechtbezahlten unteren und mittleren Beamten. sozial-
demokratische Eisenbahner, Postbeamten und besonders Lehrer machten der
Staatsgewalt eine Zeitlang viel zu schaffen und schienen sogar die Grundlagen
des Staates ins Wanken zu bringen. Sie gebärdeten sich zum Teil sehr
revolutionär. Trotzdem brachte ihnen die Arbeiterschaft bezeichnenderweise
starkes Mißtrauen und Abneigung entgegen, und ihr steigender Einfluß in der
Partei war sicher ein weiteres Moment der Spannung zwischen Syndikaten
und Unifizierten. Beim Herannahen des Dreijahrdienstgesetzes versuchte man
Zwar zusammenzuarbeiten. In den Arbeitsbörsen fanden gemeinschaftliche Ver.
Sammlungen der Arbeitersyndikalisten und der Beamtenvereinler statt. Jene
suchten ihren Anhängern den proletarischen Charakter der Beamtenunionen
mundgerecht zu machen. Diese wetteiferten in Beweisen ihres gewerkschaft-
lichen Charakters. Bei der Masse der Handarbeiter blieb indes das Gefühl
der Fremdheit. Äußerlich freilich gewann die Partei, und zweifelsohne stammt
aus diesem kleinbürgerlichen Zuwachs die starke Steigerung der sozialistischen
Stimmenzahl in den letzten Jahren. Ein Gewinn für die Organisation war
das nicht; ebensowenig für die Geschlossenheit und Wucht der Überzeugung.
Das starke Abflauen dieses Beamtensozialismus in der letzten Zeit vor dem
Kriege gab zu denken. Von einer sozialistischen Weltanschauung konnte bei der
Mehrzahl nicht die Rede sein. sozialdemokratische Betätigur-g war ihnen viel¬
mehr nur ein Mittel zum Zweck, war ihnen nur die beste Art des so beliebten
Revolutionismus, die beste Methode auf die Negierung zu drücken zur Er-
reichung ihrer Sonderzwecke, zum schnelleren Aufsteigen zur Bourgeoisie. Sie
waren ein unsicheres Element, der Sozialismus für sie ein Durchgangsstadium.
Das lag im Wesen der Sache. Persönliche Eindrücke zum Teil sehr krasser
Art sind mitbestimmend für dieses Bild. Die Lebenskurve eines Briand oder
Millerand hat sich im Kleinen schon unendlich oft wiederholt, sogar bis auf die
Hinschwenkung zum Nationalismus.
Für uns Deutsche ist ja eine solche öffentliche Beteiligung der Beamten¬
schaft an sozialdemokratischen Bestrebungen sehr merkwürdig, und leicht ziehen
wir daraus zu weit gehende Schlüsse. Man konnte Frankreich vielleicht für
sozialistisch ganz durchseucht halten. Besonders wenn man die Sachlage nach
den Gesprächen in den Salons, den Reden und Diskussionen, der Stimmung
unter der Jugend und gewissen Erscheinungen unter der Intelligenz beurteilte.
An jedem Lyzöe konnte man ja einen oder den andern sozialdemokratischen
Professor im Amte finden. Auch sozialistische Richter fehlten nicht, und die
Universitäten weisen Sozialisten von internationalem Ruf auf wie z. B. den
Verwalter des Jaurösschen Nachlasses, den Professor der Rechte an der
Universität Lyon, L6op-Brühl. Sozialistische Studentenvereme waren inte¬
grierender Bestandteil zahreicher Universitäten. Zahlreichen Politikern bedeutete
der internationale Sozialismus Anfang der politischen Laufbahn. Staat¬
liche Behinderung war nur gerade so weit vorhanden, daß sie die Lebens¬
existenz keineswegs gefährdete und doch die Aureole des Heldentums und
damit Befriedigung der Eitelkeit gewährte. Spielen mit der Revolution und
der revolutionären Phrase gehört zu den Lsbensnotwendigkeiten des Franzosen.
Für die Jugend war es ein Lebensstadium, die Zeit des Sturmes und
Dranges, des Glaubens an das 1789er Ideal der Gleichheit. Für die In¬
telligenz vor allem. Diese sprach mit einer gewissen wohlwollenden Achtung
vom Sozialismus, so wie man etwa von seinen Jugendtorheiten spricht. Es
gehört überdies zu den Eigentümlichkeiten des Franzosen, Überzeugungen zu
respektieren, so lange sie seine eigene Ruhe nicht stören, — eine gewisse negative
Toleranz. Am meisten aber wirkte wohl in achtunggebietender Richtung gerade
bei der Intelligenz der Einfluß der Persönlichkeit von Jaurös.
Großer Redner, geistreich, radikal zwar, aber immer Vertreter der Welt
des Gedankens, immer Vertreter der Idee, hochgebildet, Franzose im besten
Sinne, nie demagogischer Schwätzer, nie gewöhnlicher Maulheld, wahr und
ehrlich und doch von starkem Pathos und nicht frei von französischer Geste,
entsprach er gerade in dieser Mischung französischer Art und französischer
Geistigkeit, wußte er immer wieder felbst die schärfsten parlamentarischen
Gegner zu bezaubern oder doch Interesse für seine Sache zu wecken und Platt¬
heiten seiner Genossen zu verdecken, hob er seine Fraktion auf eine auch der
Intelligenz entsprechende Stufe, chüele ihr unter Jugend und Gebildeten nicht
unerheblich den Weg. Durch ihn unmittelbar und mittelbar durch die In¬
telligenz kam in die französische Sozialdemokratie das geistig Bewegliche, das
sie von der starren deutschen Genossin so merklich unterschied. Daher stammt
großenteils auch die Überschätzung ihres Einflusses und ihrer Macht. Literatur
und Presse, Rednerpult und Salon waren ihr offen, und „ttumanite" und
„Ouerrs sociale" wurden auch von den Gebildeten verschlungen.
Jaurös hat überdies die Partei erst zu einer parlamentarischen, wenn
auch nicht geistigen Einheit zusammengeschweißt. Der überragende Schwung
seiner Persönlichkeit und die führende Kraft seines Geistes vermochten alle Be¬
denken und Einwände mindestens im entscheidenden Moment zu lähmen und
abzuschwächen, die Compere-Morel und Sembat, die Guesde und Vcüllant in
gleicher Weise an seinen Wagen zu spannen und — beim französischen Indi¬
vidualismus ein Wunder — geschlossene Abstimmungen der Fraktion zu er¬
zielen. Er war oft die Partei, wie ja auch die ttumamtö das sozialistische
Zentralorgan, er war. Über alle Gegensätze der schärferen Guesdisten und der
opportunistischeren Jaurösisten hinaus wußte er die parlamentarische Ge¬
schlossenheit der Partei aufrecht zu erhalten und gab damit dem französischen
Parlament, wenigstens seinem republikanischen Teil, die einzige einigermaßen
organisierte und geschlossene wirkliche Partei. Auf dem Boden eines so zerklüfteten
Volkshauses, wie des französischen, mußte im Rahmen eines so ausgeprägten
Parlamentarismus, in friedlichen Zeiten, Zeiten der parlamentarischen Taktik
und Intrige, politischer Manipulationen und Zufallsabstimmungen, eine
solche Partei, mußte ein so packender Redner und so überlegener Taktiker
wie Jaurös großen Einfluß haben, mußten die Sozialisten oft das Zünglein
an der Wage bilden und eine Bedeutung erlangen, die über die Zahl ihrer
Wähler weit hinausging. Jaurös ist auch der Vater der langjährigen Taktik
seiner Partei, der Schöpfer der nächstwichtigen Grundlage dieses Einflusses.
Auf ihn geht das Zusammenwirken mit der republikanischen Linken und damit
die Anerkennung der demokratischen Republik zurück. Was das bedeutete, zeigte
sich erst, als diese Taktik verlassen wurde, als man sich im Streite über Post¬
beamtenausstand und Eisenbahnersabotage trennte, als die Unifizierten ihre
eigenen Wege gingen und damit nie facto die Rechte parlamentarisch
stützten. Da konnte der Nationalismus täglich mehr an Boden gewinnen, da
konnte das Dreijahrsgesetz durchgehen, der Nationalist Poincarö gegen den
Radikalen Pans gewählt werden und die Bekämpfung der Syndikate der C.G.T..
des Sozialismus in Beamtentum und selbst Intelligenz mehr und mehr be¬
trieben werden, da zeigte sich, daß die Partei, auf sich selbst gestellt, zu einer
ausschlaggebenden parlamentarischen Aktion an Zahl lange nicht stark genug war.
Vermochte Jaurös die Partei parlamentarisch zu einigen, so gelang ihm
das zwar auch geistig bis zu gewissem Grade, aber doch nicht vollständig.
Daß er sich und die Partei bewußt auf den Boden des Parlamentarismus
stellte, deutet an, daß er dem deutschen Standpunkt von der Möglichkeit einer
friedlichen Entwicklung zum Zukunftsstaat hin durchaus nicht so fern stand. Der
logische Widerspruch zwischen einer positiven parlamentarischen Betätigung und
einem revolutionären Ziele, ein Widerspruch, aus dem die Syndikalisten die
radikale Folgerung zogen, dürfte ihm nicht entgangen sein. Trotzdem ver¬
mochte er die Tendenz zur Revolution in der Partei nicht zu überwinden. Sie
ist dem französischen Sozialismus eine Naturnotwendigkeit. Nicht nur aus an¬
geborener Rassenanlage. Der Deutsche kann an die friedliche Erreichung seines
Zukunftsstaates auf dem Wege der Entwicklung glauben. Der Franzose auf
die Dauer nicht. Wie soll denn ein bäuerlich kapitalistischer Rentnerstaat, wie
es Frankreich ist, ein Staat ohne überragende Industrie, ohne Geburten¬
überschuß, ohne jede Neigung zur Industrialisierung auf friedlichem Wege je
die Herrschaft der Arbeiterklasse bringen! Etwa durch Organisation? Die
mageren Ergebnisse der parteipolitischer Organisation mußte man sich selbst ge¬
stehen. Sie waren nicht ermutigend. Die einzige wirkliche Proletarier¬
organisation, die Syndikate, huldigten dem Ideale der Revolution. Die Be¬
einflussung konnte nicht ausbleiben, schon aus praktisch-parteipolitischer
Wahlrücksichten nicht. So kommen neben parlamentarischer Intervention und
Agitation Massenstreik und Aufstand aufs sozialdemokratische Parteiprogramm.
Und die revolutionären Mittel, die Demonstrationen, Straßentumulte, re°
volutionüreu Aufrufe und Flugblätter überwogen bei der Partei oft derart, daß
man sich manchmal unmittelbar vor der Revolution glauben konnte. Sie waren
einfach Zeichen der Ohnmacht, da man sich zur Organisation unfähig fühlte
und keine andere Möglichkeit sah, seine Ideen geltend zu machen. Das Ideal
auf mangelnder Grundlage machte immer radikaler. Gerade während der
Balkankriege und der damit in Zusammenhang stehenden Agitation gegen den
Krieg, dann während des Kampfes gegen das Dreijahrdienstgesetz hatte ich
als Beobachter des französischen Lebens und Gast eines sozialistischen Studenten-
vereins Gelegenheit genug, den inneren Gehalt solcher Mittel zu würdigen
und das vielfach spielerische und Zufällige, meist Unfertige, Unzusammen¬
hängende und Unorganisierte, das keineswegs Imponierende dieser Mani¬
festationen kennen zu lernen.
Syndikate und Partei marschierten getrennt. Gebildete und Beamte
waren zu Handsester Revolution teils geistig, teils moralisch unfähig. Es fielen
aroße Worte. Man hegte starke Erwartungen. Die Taten blieben aus. Der
„große" Generalstreik im Winter 1912/13, der Protest gegen die Europa vom
Balkan her drohende Kriegsgefahr, waren weiter nichts als eine Farce. Die
Industriestadt Lyon brachte einen armseligen, aber desto lauter gröhlenden
Demonstrationszug von etwa zweitausend Teilnehmern zusammen und schloß
den Tag mit einer Revolte, die durch eine Kompagnie Kürassiere leicht im
Zaum gehalten wurde und der man als unbeteiligter Zuschauer ganz gefahrlos
beiwohnen konnte. Anderwärts war es nach Zeitungsberichten und dem eigenen
Geständnis der Sozialisten noch trauriger. Ideal und Wirklichkeit zeigen sich
in ihrer nüchternen Gegensätzlichkeit. Wenn schon der parlamentarische Einfluß
der Partei auf recht unsicheren und zufälligen Füßen stand, so noch viel mehr
die reale Macht, im Sinne ihres Ideals also vor allem die Macht zur Revo¬
lution, bei ihrer ganzen materiellen und geistigen Struktur, ihrem Mangel an Einheit¬
lichkeit und Geschlossenheit, an Organisation und materieller Kraft, wie wir sahen,
gar kein Wunder.
Nichts hat das so sehr gezeigt wie der Ausbruch dieses Krieges. Das
laut verkündete Prinzip des Syndikalismus, den Generalstreik und die Revolution
auch gegen Militärgewalt und Heer anzuwenden, jeden Krieg damit grund¬
sätzlich durch die Tat zu bekämpfen und möglichst zu verhindern, hatte auch in
der Partei einen starken Anhang, dem selbst Jaurös Konzessionen machte. Es
brach kläglich zusammen. Nicht einmal die Syndikate vermochten sich auch nur
zu rühren. Ihnen machte der Mangel an Organisation einen nachdrücklichen
Widerstand unmöglich. Die Partei aber hemmt diesmal nicht nur die mangelnde
Macht, sondern ebenso sehr der fehlende Glaube. Das Verhältnis zur deutschen
Sozialdemokratie war schon seit langem kein klares. Schon nach dem bekannten
Baseler Kongreß ließ Heros in jener Lyoner Rede sein Mißtrauen gegen die
deutsche Partei offen und scharf durchblicken. Er bekannte sich auch damals noch
theoretisch zum Programm der Verhinderung des Krieges mit allen Mitteln, stellte
aber als Bedingung gleiches Handeln von deutscher Seite und machte dadurch, wie
er wissen mußte, jenes vollkommen illusorisch. Er wußte ganz genau, daß die
Deutschen nichts anderes versprechen konnten und nichts anderes versprochen
hatten, als „aufklären und Licht in die Köpfe bringen, agitieren und organisieren"
zu wollen. Ihm war der theoretische Gegensatz zwischen deutschem und franzö¬
sischem Gedanken völlig klar. Er vermied es aber, schon damals theoretisch
die Konsequenz zu ziehen, wie er es dann nach Ausbruch des Krieges für die
Praxis getan hat. Er vermied es, weil er, der den konsequenten Syndikalismus
für die Partei verlassen hatte, sich wohl den Widerspruch zwischen jenem Programm
der Untergrabung des Staates und zwischen der Forderung positiver Mitarbeit
zur Verbesserung des Arbeiterloses, aus der allein die Daseinsberechtigung einer
sozialistischen Partei hergeleitet werden konnte, nicht gestehen oder vor seiner
meist syndikalistischen Zuhörerschaft verbergen wollte, weil er nicht zugeben
wollte, daß konsequenter Internationalismus mit parlamentarischer Beendigung
im nationalen Parlament unverträglich war und bei Anerkennung des nationalen
Staates in irgendeiner Form im Ernstfall unbedingt Fiasko machen mußte.
Wie weit bei den andern Führern der Glaube schon unterwühlt war und
wie weit sie schon klar sahen, entzieht sich meiner Beurteilung. Auf jeden Fall
waren sie noch viel weniger fähig und geneigt, ehrlich und klar auf die Phrase
zu verzichten, die Unmöglichkeit der Revolution besonders für den Kriegsfall
anzuerkennen und sich auf jden deutschen Standpunkt zu stellen. Daß gerade
Hero6, der radikalste unter ihnen, der einst als Syndikalist die Trikolore in den
Mist hatte schmeißen wollen, als erster vielleicht die Fahnen des rücksichtslosen
Internationalismus verließ, als erster Kautelen stellte, ist nicht ohne pikanten
Beigeschmack, übrigens aber typisch für die Entwickelung vieler französischer
Geister. Jaurös hätte vielleicht für sich selbst und für die Partei den Konflikt
besser überwunden, vielleicht sogar wirklich den Versuch eines revolutionären
Widerstands gemacht. Seine minder bedeutenden Genossen verwirrte das
durchaus konsequente Verhalten der Deutschen derart, daß sie sogar von Verrat
sprechen konnten, jedenfalls deren Standpunkt durchaus nicht begriffen und die
geistige Verwirrung in der Partei durch ihren Eintritt in das bourgeoise
Ministerium vollendeten. Sie ließen also im Ernstfalle den nationalen Staat
doch nicht im Stiche trotz vorheriger gegenteiliger Äußerungen. Sie gingen
damit noch einen guten Schritt über den deutschen Gedanken hinaus, den
nationalen Staat bei Kriegsfall zwar anzuerkennen, aber unter Abwälzung
jeglicher Verantwortung auf die kapitalistischen Klassen. Ich möchte für diesen
Schritt Heros bestimmenden Einfluß zuschreiben. Er scheint mir durchaus den
geistigen Konflikt für sich in der Weise gelöst zu haben, daß er den unmittel¬
baren Internationalismus aufgab zugunsten eines bedingten, mittelbaren, der
— etwa im Sinne des deutschen Idealismus — durch das Medium der
Nation sich betätigt. Wenn er seiner Partei von der Pflicht redet, „Frankreich
als den Herd der Freiheit zu verteidigen", erkennt er unzweifelhaft den Wert
seiner Nation für die Menschheit an, gelangt damit schon zu einer positiven
Wertung des Nationalstaates und zu einer Ablehnung jenes Internationalismus,
der diesen Staat vernichten will und seinen Nutzen leugnet. Wie weit ihm die
Partei hierin folgen wird, dürfte sich erst nach dem Kriege beurteilen lassen.
Eine starke Minderheit sucht allerdings schon jetzt den alten Internationa¬
lismus wieder zum Leben zu erwecken trotz des geistigen und materiellen Schiff¬
bruchs, den er erlitten. Aber eine wirkliche Kulturmacht kann er wenigstens
in seiner alten Form nicht mehr werden. Ein irgendwie bedeutender Faktor
für die Gestaltung und Herbeiführung des Friedens gar erst recht nicht. Dazu
fehlt ihm — in seiner parlamentarischen Form wenigstens — die Konsequenz
und die geistige Wucht ganz abgesehen von der realen Macht und der
materiellen Kraft.
Die Mehrheit aber hat sich selbst in der elsaß-lothringischen Frage, dem
nationalen Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland, der Forderung des
nationalen Staates und der Nation nach Rückgabe der beiden Provinzen an¬
geschlossen. Auch hier war Heros der Schrittmacher. Während die Partei und
selbst Jaurös auch hier sich scheu um die Frage herumdrückten und — ganz
entsprechend ihrem unklaren Internationalismus — nicht zu gestehen wagten,
daß sie auch ihnen im Grunde nicht gleichgültig war, schaute er der Realität
mutig ins Gesicht und offenbarte schon 1913 die innersten Gefühle und geheimen
Wünsche auch des französischen Sozialismus. Während die Mehrheit nur eine
Abstimmung des elsaß-lothringischen Volkes für wünschenswert erklärte, um der
Revancheströmung den Boden abzugraben, dabei aber freilich die Hoffnung auf
einen für Frankreich günstigen Ausgang nicht unterdrücken mochte, forderte
Herve in einer 1913 erschienen Schrift klipp und klar die Rückgabe Lothringens
als der Rasse und Sprache nach französisch, während er das Elsaß als in der
Hauptsache deutsch beim Reiche belassen wollte. In seiner Lyoner Rede gestand
er sogar offen, daß vorher an eine dauernde deutsch-französische Verständigung
nicht zu denken sei.
Das war die erste mutige Bejahung der nationalen Frage, gleich¬
zeitig aber auch der erste offene Schritt weg von dem allem nationalen
gegenüber gleichgültigen Internationalismus. Die Begründung entnahm er
damals noch dem Gedankenschatz des rationalistischen Nationalitätsgedankens
und vermied mit ihm die aggressive Spitze. Heute verlangt er bereits beide
Provinzen und stellt sich damit auf den Boden des historischen Rechts und
— als unmittelbare Folge — der unversöhnlichen Feindschaft gegen Deutsch¬
land. Jaurös der kosmopolitische Sozialist ist tot. Der ehemalige Anarchist
und Fanatiker ist tonangebend in der Partei. Hero6's Internationalismus
aber ist bis auf das Wort zusammengeschmolzen. Wie lange wird es dauern,
bis auch dies verschwindet, bis er und seine Partei nicht mehr scheinen wollen,
was sie nicht mehr sind, bis die Tatsache einer national-sozialen Partei offen
und ehrlich von ihnen anerkannt wird?
er ungarische Staatssekretär Szterenyi hat kürzlich bei einer Ge¬
legenheit öffentlich darauf hingewiesen, daß im gegenwärtigen
Weltkriege unter sämtlichen Völkerschaften Ungarns kein Volks-
stamm größere Opferwilligkeit bekundet habe, als die Sieben
bürger Sachsen. Sie stehen nicht nur hinsichtlich der sreiwillgen
Gaben, die für Kriegszwecke eingesammelt wurden an erster Stelle, sondern
haben auch den größten Prozentsatz Soldaten gestellt. Die zahlreichen Aus¬
zeichnungen, die sächsische Mannschaften und Offiziere vom einfachen Freiwilligen
bis hin zu Arz von Straußenburg, dem heldenmütigen Sieger von Limanova
und erfolgreichen Führer der siebenbürgischen Ostarmee, erhalten haben, be¬
weisen, daß es diesen Truppen in keiner Weise an soldatischer Tüchtigkeit
fehlt. Unverhältnismäßig groß sind denn auch die Verluste der siebenbürger
Sachsen. Mancher treue Volksfreund konnte nur mit ernster Sorge an die
Zukunft denken, wenn er all der blühenden Menschenleben gedachte, die in
diesem blutigen Ringen dahingerafft wurden. Und doch war der Kelch der
Leiden noch nicht gefüllt. Erst der verräterische Einbruch der Rumänen hat
das Maß des Unglücks voll gemacht.
Plötzlich und gänzlich unvorbereitet mußten weite, vorwiegend von Sachsen
bewohnte Gebiete vor dem herannahenden Feinde geräumt werden. Was nur
irgend konnte, suchte zu entkommen. Aus der Geschichte vergangener Jahr-'
Hunderte glaubte man zu wissen, was von den „Blonden" (-Walachen) zu er¬
warten sei. In alten Chroniken wird uns von dem walachischen Fürsten
Wlad dem Dritten (1457—1504), der den Beinamen Teych, d. i. „der Pfähler"
erhalten hat, berichtet, daß er bei einem Überfall auf Kronstäbe eine große An¬
zahl sächsischer Gefangener aufspießen ließ und mitten unter ihnen zu Tisch
gesessen sei „und sein fremd daselbst gehabt" habe. Und er war nicht
der einzige in seiner Art. Noch der letzte rumänische Bauernaufstand im
Jahre 1906 hatte gezeigt, daß bei aller sonst zu Tage tretenden Gutmütigkeit
des Rumänen doch auch furchtbar grausame Instinkte in diesem Volk leben.
Es ist nur natürlich, daß ein großer Teil der Bevölkerung Süd- und Ost¬
siebenbürgens beim Nahen der rumänischen Heere zu entfliehen suchte. Die
Bilder, die uns von dieser Flucht berichtet werden, sind teilweise geradezu er¬
schütternd. Und wie schwer wurden die besetzten Ortschaften durch die Willkür
der rumänischen Truppen und durch Ausschreitungen der zurückgebliebenen ein¬
heimischen rumänischen Bevölkerung betroffen! Wie viel Arbeit, wie viel auf¬
opfernde Mühe wird es nun — nach der Befreiung des Landes — kosten, bis
aller Schade wieder ausgeglichen sein wird!
Jedenfalls versteht man es, wenn sich in diesen Tagen die Teilnahme
weiter Kreise in Deutschland dem kleinen Brudervolke in Siebenbürgen zu¬
wendet, das seit siebeneinhalb Jahrhunderten dort im äußersten Osten der Väter
Art und Sprache sich so treu bewahrt hat. Die Geschichte der siebenbürger
Sachsen — von den Sachsenbischöfen G. D. Teutsch und seinem Sohne D. Fr.
Teutsch ergreifend dargestellt — ist tatsächlich eines der interessantesten
Kapitel aus der Vergangenheit des Deutschtums im Auslande. Und ins¬
besondere bietet die Geschichte der deutschen Einwanderungen in Siebenbürgen
eine Fülle anziehendsten Materials dar. Es sei darum gestattet, hierüber im
folgenden einiges zu erzählen.
Im Volksliede der siebenbürger Sachsen heißt es:
Was da gesagt ist, ist nicht etwa poetische Übertreibung. Siebenbürgen
ist reich an Schätzen und Schönheiten der Natur. Wer auf dem Wege von
Budapest nach Klausenburg die Höhen der Karpathen erreicht hat und nun im
ersten Morgenlichte hinunterschaut auf all die Berge und Hügel, die vor ihm
liegen, auf all die Fluren, die sich dort ausbreiten, dem bestätigt sich sofort die
Wahrheit jener Liedworte.
Solch eine Fahrt durch Siebenbürgen gehört tatsächlich zu den schönsten
Eindrücken, die man empfangen kann. Vorüber an dem stolzen, einst rein
deutschen Klausenburg, führt uns der Zug zwischen freundlichen Hügeln hin¬
durch, an fruchtbaren Ebenen und Tälern entlang über anmutige Ströme
hinweg. Rechts und links sehen wir zum Teil recht ärmliche Dörfer mit
strohgedeckten Hütten, unregelmäßigen Gassen, unansehnlichen Kirchen, wenig
gepflegten Friedhöfen. Aber plötzlich blicken wir verwundert auf. Ein statt¬
liches Dorf liegt vor uns; von der altersgrauen Kirche sieht man nur Dach
und Turm, weil der übrige Teil durch eine zwei bis dreifache Ringmauer ver¬
borgen wird, die wieder von massiven Verteidigungstürmen unterbrochen ist.
Die Mauern und Türme, selbst der Kirchturm sind mit Schießscharten und
Pechnasen versehen: die erste sächsische Kirchenburg, deren es in Siebenbürgen
so viele gibt! Die Häuser des Dorfes sind aus Ziegeln gebaut, selbst die
Dächer der Scheunen mit Ziegeln gedeckt; die breiten Gassen sind regelmäßig
angelegt, sauber gehalten, zum Teil mit Obstbäumen bepflanzt. Und wie
anders die Bebauung der Felder im Vergleich zu dem, was man bis dahin
gesehen; man merkt es sofort: ein deutsches Dorf liegt vor uns. Und nun
wiederholt sich der herzerquickende Anblick immer häufiger; bald sehen wir das
schöne, freundliche Mediasch mit seinem schlanken, hochragenden „Tramiterturm"
(Trompeterturm), bald erblicken wir das hochgetürmte, urdeutsche Schäßburg:
Kirche und Schule hoch oben auf dem Berge, Stadtmauern, mittelalterliche
Dachgiebel, der prächtige Studenturm, einer der schönsten Bauten Sieben¬
bürgens, darunter; dann wieder das anmutige Komitatsgebäude in herrlicher
malerischer Lage. — Und weiter geht's. Dort in der Ferne sehen wir die
mächtige Reyher Burg ragen. Nun sind wir im Geisterwald, in welchem sich
der Altfluß dahinschlängelt, und jetzt geht es hinein ins herrliche Burzenland.
Ob es wohl viele ebenso schöne Ländchen geben mag? Die Dörfer und
Fabriken erzählen von ungebrochener Bauernkraft und von regem Gewerbsfleiß,
die Burgen und Kirchenkastelle von harten, schweren Kämpfen. Und wie stolz
ragen dort der düstere Butschetsch und der vornehme Königstein, der kahle
Krähenstein und der freundliche Schulter, wie würdig grüßen sich dort die zwei
uralten Zwillingsbrüder Zinne und Zeidnerberg. — Jetzt macht der Schienenweg
eine große Biegung nach Osten. Die romanische Bartholomäerkirche in der
„Altstadt" taucht auf, das Kastell auf dem Schloßberg schaut ernst zu uns
hernieder. Die Lokomotive pfeift — wir sind in Kronstäbe. Schnell auf die
Trambahn! Sie führt uns durch die BIumenau zum Nudolfsring und auf den
Marktplaß, wo wir neben dem interessanten Rathausbau halten. — Die Stadt
liegt zwischen mächtigen Bergen eingebettet. Man muß den Kopf hoch heben,
um das Blau des Himmels zu sehen. Die Häuser erscheinen angesichts dieser
Umgebung kleiner als sie sind, nur die wuchtige gotische „schwärze Kirche"
nimmt sich selbst hier noch imposant aus. Wieder sind wir in einer deutschen
Stadt. Man fühlt es, trotz all der fremden Laute, die an das Ohr schlagen.
Deutsch ist die Bauart, deutsch die Lebensführung, deutsch auch die Verwaltung.
Und wie deutsch! Ich habe einmal das aufgeregte Treiben einer Ab¬
geordnetenwahl in Kronstäbe mitgemacht. Einem früheren Abkommen gemäß sollten
die Ungarn eine von den vier Abgeordnetenstellen mit ihren Kandidaten besetzen
dürfen; sie wollten aber zwei Stellen haben. Da versteiften sich die Sachsen:
soll es einen Wahlkampf geben, dann sollt ihr keinen Abgeordneten durchbringen!
Und alle Mann wurden aufgeboten. Trotz aller Einschüchterungsversuche, trotz
aller Drohungen seitens der Vertreter der Behörden blieb keiner weg. Manche
Bürger schleppten ihre neunzigjährigen Väter in den Wagen und führten sie
zur Wahlurne, die Kaufleute lachten der Boykottandrohungen ihrer ungarischen
Kunden, die Handwerker ihrer Staatsaufträge, deren Entziehung man ihnen in
Aussicht stellte. Und bald kam aus dem ersten Bezirk, bald aus dem zweiten,
dritten und spät abends auch aus dem vierten Bezirk die Siegesnachricht. Das
war ein Jubeln! Alles eilte auf den Marktplatz. Dort waren bereits die
Wahlgegner beisammen und pfiffen und zischten und drohten. Aufgeregt sprengten
berittene Polizisten hierhin und dorthin. Da plötzlich stimmt jemand an:
„Siebenbürgen, Land des Segens." Hunderte, Tausende von Stimmen fallen
mit ein. Und nun hört man nichts mehr von all dem wüsten Lärmen, mächtig
übertönt der alte Kraftgesang alles umher. Etwas Großes ist es um
das Nationalgefühl! Wer es sonst nicht kennt, in Siebenbürgen lernt er es
kennen. — Das ist so ein Bild aus früheren nationalen Kampftagen. Heute,
da Deutsche und Ungarn den schweren gemeinsamen Kampf um ihre Existenz
durchringen müssen, heute, da beide Völker einsehen gelernt, wie sehr sie auf¬
einander angewiesen sind, stehen Deutsche und Magyaren einmütig beisammen,
und nur in vereinzelten überhitzten Journalistengemütern spielt noch der alte
Gegensatz eine gewisse Rolle. Im allgemeinen wird wohl der Weltkrieg auch
in Ungarn die Einsicht geweckt haben, daß der Deutsche in Ungarn seine Existenz¬
berechtigung hat, ja daß er der einzige wirklich zuverlässige Bundesgenosse des
von fremden Nationen umspülten Magyarentums sein kann.
Viel ließe sich noch von schönen Kreuz- und Querfahrten in Siebenbürgen
erzählen. Unvergeßlich sind mir wiederholte Ausflüge nach der lieben „Haupt-
Hermannstadt", die gerade jetzt der Schauplatz so schwerer Kämpfe gewesen
ist. Sie ist heute noch wie vor alters mit ihren Schulanstalten, ihrer Nations¬
universität, ihren Sammlungen. Bibliotheken, ihren Vereinen und Banken, und
vor allem auch als Sitz des Bischofs der evangelischen Landeskirche der Mittel¬
punkt des Deutschtums in Siebenbürgen. Als Sitz des Kommandanten des sieben-
bürgischen Armeekorps fällt ihr auch große militärische Bedeutung zu. — Er¬
wähnt sei endlich als wichtigstes Zentrum des Deutschtums im nördlichen
Siebenbürgen die freundliche Stadt Bistritz. in deren Nähe jetzt gleichfalls heftige
Kämpfe toben. Auch Bistritz besitzt, wie Hermannstadt, Kronstäbe, Schäßburg
und Mediasch ein voll aufgebautes deutsches Gymnasium. Hermannstadt be¬
herbergt außerdem eine Oberrealschule und ein Lehrerseminar, Schäßburg ein
Lehrerinnenseminar usw.. wie denn das deutsche Schulwesen in Siebenbürgen
außerordentlich entwickelt ist.--
Siebenbürgen ist etwa 955 Quadratmeilen groß und zählt gegen 2^/2 Mil¬
lionen Einwohner. Davon sind etwa 1 350000 Rumänen. 800 000 Magyaren,
etwa 230 000 evangelische Deutsche („Sachsen"); der Rest entfällt auf Armenier
und andere Nationalitäten. Klein ist, wie man sieht, die Zahl der Deutschen,
aber sie haben dem Lande doch in erster Linie das Gepräge aufgedrückt. Man
kann sagen: in Siebenbürgen steht der kulturelle Einfluß der einzelnen Be¬
völkerungsschichten im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Volkszahl. Bei weitem
voran marschieren die Deutschen, dann folgen die Ungarn und zuletzt die
Rumänen, die der Zahl nach das Übergewicht besitzen. Ist das noch in
der Gegenwart so, so war es in früheren Jahren in noch erhöhterem Maße
der Fall.--
Um die Zeit des Beginnes unserer Zeitrechnung herrschten in Sieben¬
bürgen und im Gebiete des heutigen Rumäniens die Daten. Sie waren ein
kriegstüchtiges, auch in Gewerbe und Handel nicht ganz zurückgebliebens Volk.
Den Höhepunkt ihrer Macht hatten sie unter Decebalus erreicht. Doch wurde
dieser von dem römischen Kaiser Trajan in zwei Feldzügen besiegt. Decebalus
nahm sich das Leben und ganz Dacier wurde 106 n. Chr. römische Provinz.
Ulpia Trajana wurde die Hauptstadt derselben. Heute noch finden sich Trümmer
dieser Stadt, die mit ihren Überresten von Tempeln und Zirkussen und Wasser-
leitungsanlagen, ihren Bildwerken und Inschriften einen Eindruck geben von der
römischen Kultur, die auch hier Boden gefaßt hatte. — Dem Andrängen der
benachbarten Barbaren konnte das römische Volk freilich nicht standhalten. Im
Jahre 274 (n. Chr.) räumte Aurelian das Land und siedelte die Truppen und
Provinzialen in Moslem am rechten Donauufer an. Die etwaigen Reste römi¬
scher Bevölkerung wurden durch die Wirren der Völkerwanderung vernichtet.
Goten, Gepiden, Longobarden und Avaren (letztere durch zweihundert Jahre
hin) wechselten sich in der Herrschaft ab, bis schließlich gegen Ende des neunten
Jahrhunderts die wilden Petschenegen den maßgebenden Einfluß gewannen.
Vielleicht schon um diese Zeit siedelten sich die Szekler, ein magyarischer
Volksstamm, im Osten des Landes an, während im Westen die Magyaren erst
im elften Jahrhundert auftauchten. Diese hatten ihre ursprüngliche Heimat im
Altatgebiet verlassen und sich in „Atelkuzu" (zwischen Dniepr und Sereth)
niedergelassen. Als aber 895 die Petschenegen Atelkuzu verwüsteten, da ver¬
ließen die Magyaren das Land, um sich in der ungarischen Tiefebene nieder¬
zulassen. Die zahlreichen Raubzüge, die sie von hier aus in den nächsten
Jahrzehnten unternahmen, sind aus der Weltgeschichte allgemein bekannt.
Nachdem aber die Magyaren 933 bei Merseburg und 955 auf dem Landseite
bei Augsburg entscheidende Niederlagen erlitten hatten, mußten sie, um sich
allmählich zu erholen, des Friedens pflegen. Unter Geysa und Stephan dem
Heiligen konsolidierte sich ihr Staatswesen. Das Christentum wurde eingeführt,
deutsche Einwanderer wurden ins Land gerufen, Bistümer und Kirchen wurden
gegründet. 1021 besiegte Stephan die durch Siebenbürgen nach Ungarn ein¬
brechenden Petschenegen. Jedoch erst gegen Ende des elften Jahrhunderts
wurde Siebenbürgen zu einem mehr oder weniger gesicherten Besitztum des
ungarischen Reiches, besonders nachdem Ladislaus der Erste (der „Heilige")
die Kumanen in zwei Feldzügen (1034 und 1089) besiegt und das Bistum
von Weißenburg am Mieresch errichtet hatte. Seit der zweiten Hälfte des
zwölften Jahrhunderts finden wir in Siebenbürgen auch die Einteilung in
Komitate, an deren Spitze Obergespane standen. Über die Komitatsobergespane
war der Woiwode gesetzt, der das Land im Namen des Königs verwaltete.
Jedenfalls wurden auch mehr und mehr Magyaren in Siebenbürgen an¬
gesiedelt. Doch waren diese ungarischen Siedelungen hauptsächlich auf die
Gebiete des Szamoschflusses beschränkt. Im Osten und Süden bildete der
Mieresch (magyar.: Maros) ihre Grenze. Weiter südlich war das Land nach
einer Äußerung des päpstlichen Gesandten Gregorius ein cieizerwm, d. h. eine
unbewohnte Einöde. Das Land war nur nominelles Besitztum des Königs
von Ungarn.
Traurig stand es damals um die Kultur des Landes. Ungarn war dem
alten deutschen Geschichtsschreiber Otto von Freisingen fast wie eine Wildnis
vorgekommen. In den Dörfern und Marktflecken gab es über alle Maßen
elende Häuser, die aus Rohr gebaut waren, im Sommer wohnte man unter
Zelten. In Siebenbürgen gab es, abgesehen von einer dünnen slawischen
Schicht, überhaupt keine seßhafte Bevölkerung, somit auch kein Gewerbe, keinen
Ackerbau, kein Geld, keine Kultur. Die spärlichen Bewohner lebten in der
primitivsten Weise, insbesondere von der Jagd. Die Abgaben an Kirchen und
Klöster, die man hie und da anfing zu gründen, bestanden in Salzsteinen,
Marderfellen, Lederriemen, Bärenhäuter und Auerochsenhörnern, die hier damals
noch reichlich erbeutet werden konnten.
Einzelne Teile Siebenbürgens waren übrigens schon vor der Einwande¬
rung der Sachsen von Deutschen bewohnt: so Chrapundorf, Karako, Raus und
Dees. Auch Rodna wird als „eine große teutonische Stadt im Gebirge" er¬
wähnt. Wie schon der Name dieser Stadt besagt, so wurde hier vor allem
Bergbau betrieben.
Über die Rumänen findet sich noch keine urkundliche Erwähnung (vgl.
Röslers „Rumänische Studien", Leipzig 1875). Was die rumänischen Historiker
von angeblicher historischer Priorität ihres Volkes behaupten, gehört dem Ge¬
biet der Phantasie an.
In der Regierungszeit Geisa des Zweiten (1141 bis 1162), und zwar
in den ersten Jahren derselben, als noch freundschaftliche Beziehungen zwischen
Ungarn und Deutschland bestanden (man denke an die Verlobung einer
Schwester Geisas mit dem Sohne des deutschen Kaisers Konrad des Dritten),
erfolgte die massenweise Heranziehung von Deutschen nach Siebenbürgen.
Aus welchen Teilen Deutschlands wohl die siebenbürger Sachsen einge-
gewandert sein mögen?
Urkunden, die uns über diese Frage genaue Auskunft geben könnten, sind
nicht vorhanden. So ist es erklärlich, daß seit jeher mancherlei willkürliche
Kombinationen über dies Thema angestellt wurden.
Bekannt ist die Sage vom Rattenfänger von Hameln. Einen brauchbaren
Fingerzeig bezüglich der Urheimat der Sachsen enthält sie aber nicht. Daß
jene Kinder, die dem Rattenfänger folgend angeblich in einer Bergöffnung
verschwunden waren und nach monatelangem Wandern in Siebenbürgen auf¬
getaucht seien, die Vorfahren der Deutschen in Siebenbürgen sein sollten, ist
von vornherein ins Gebiet des Märchens zu verweisen. Wohl hat man im
Mittelalter unschuldige Kindlein das heilige Land erobern lassen wollen, aber
man weiß ja, mit welch kläglichem Erfolg. Kinder hätten die Kolonisierung
Siebenbürgens gewiß nicht durchführen können. Zu dieser Arbeit bedürfte es
ganzer Männer. Dafür hat man auch in Deutschland eine Empfindung, was
schon aus der schlestschen Redensart hervorgeht, die man ungeschickten Menschen
gegenüber anzuwenden pflegt: „Du würdest dich in Siebenbürgen nicht zurecht¬
finden".
Die älteren sächsischen Schriftsteller (aber auch Melanchthon) vertraten die
Meinung, daß die Sachsen die Überbleibsel der alten gotischen Einwohner
Siebenbürgens seien, die sich dann später mit den neu hinzugezogenen deutschen
Pflanzvölkern vermischt hätten, so z. B. Czirner, Frank von Frankenstein,
Hauer, Kely, Mafia, Töppelt u. a. Diese Pflanzvölker sollten entweder unter
Karl dem Großen, nach andern unter Herzog Geisa, dem Vater Stephans des
Heiligen ins Land gezogen sein; nach den dritten sollten sie die Nachkommen
der deutschen Hilfsvölker fein, die Stephan der Heilige im Kampfe gegen den
heidnischen Herzog Gyula herangezogen.
Da jedoch Siebenbürgen nachweislich erst später zu einem bleibenden Be¬
sitztum der ungarischen Krone geworden ist, so wird es doch wohl bei der An¬
gabe des Andreanischen Freibriefes sein Bewenden haben, wonach die Sachsen —
wie bereits erwähnt wurde — unter König Geisa dem Zweiten ins Land ge¬
rufen wurden.
In zwei alten Urkunden werden die Sachsen „Flandrer" genannt. Dem¬
nach müßten sie aus der Gegend südwestlich von der Rheinmündung stammen,
aus jenen heute noch vorzugsweise von Vlamen bewohnten Gebieten, die teils
zu Holland, teils zu Belgien gehören und gegenwärtig teilweise durch deutsche
Truppen besetzt sind. Lange Zeit hindurch galt tatsächlich dies Gebiet als die
Urheimat der Sachsen, und manches schien für die Nichtigkeit dieser Annahme
zu sprechen. Haben doch von hier aus gerade im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert zahlreiche Auswanderungen nach Holstein, Mecklenburg und Bran¬
denburg stattgefunden, ja bis hin nach den Ostseeprovinzen. Eben dieser Um¬
stand mochte jenen päpstlichen Legaten Gregorius, der die in Rede stehenden
Urkunden verfaßt hat, dazu verleitet haben, die gleichfalls vom Rhein stammenden
Sachsen „Flandrer" zu nennen. Übrigens wurde noch in späteren Jahren das
alte vlämische Auswandererlied gesungen:
Zu beachten ist auch die alte siebenbürgische Sage, wonach die Sachsen
am Meere wohnten, wo vier Flüsse einmünden, die aber alle aus einem
kommen. Sie würde auch auf die Rheinmündung als Urheimat der Sachsen
hinweisen. — Auffallend ist ferner, daß das alte Siegel des Hermannstädter
Gaues, das aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt, drei Seeblumenblätter
führt. Endlich darf hier eine Redensart erwähnt werden, die man manchmal
in Kronstäbe hören kann, wonach Menschen, die sich sehr verdutzt zeigen, ge¬
sagt wird: „Du machst ein Gesicht, als wärest du gestern aus Holland ge¬
kommen". Doch ist diese Redensart vielleicht erst später entstanden und hat
ihren Ursprung eben erst der Theorie von der holländischen Abstammung der
Sachsen zu verdanken.
Der offizielle Namen der Einwanderer lautet jedoch nicht „Flandrer",
sondern „Teutonici" und „Saxones". Auch diese Benennungen besagen aller¬
dings nichts über die Herkunft, da sie allgemeine Kolonistennamen in Ungarn
waren.
Genauere Auskünfte über die Urheimat der Sachsen geben uns jedoch die
Dialektforschungen. Man hat gefunden, daß der siebenbürgisch-sächsische Dialekt
unter allen Mundarten Deutschlands die größte Verwandtschaft mit dem mittel¬
fränkischen Dialekt hat, der zwischen Trier und Düsseldorf, also in Köln, Bonn,
Koblenz, Trier und Aachen sowie im nordwestlichen Teile Deutsch-Lothringens
und im heutigen Luxemburg gesprochen wird. Demnach muß der größte Teil
der „Sachsen" aus dieser Gegend stammen. Die neuesten Forschungen auf diesem
Gebiete haben hierfür tatsächlich den deutlichsten Erweis gebracht. Sind doch
für einzelne Gegenden sogar Ortsbenennungen, Personen--, Fluß- und Riednamen
nachgewiesen, die einfach nach Siebenbürgen übernommen wurden. Auch Rechts¬
gewohnheiten, Sitten und Bräuche, Sagen, Märchen und Mythen aller Art
deuten hierher. Geradezu ergreifend, in wissenschaftlicher Hinsicht aber durch¬
schlagend zu nennen ist die folgende Begebenheit, die uns einer unser hervor¬
ragendsten sächsischen Dialektforscher (Stadtpfarrer v. Schullerus in Hermann¬
stadt) erzählt. Droben im Luxemburgischen war es, wo er und seine Genossen
gelegentlich einer wissenschaftlichen Forschungsreise in einer einfachen Dorfschenke
eingekehrt waren; sie saßen mit einigen schlichten Leuten zusammen und unter¬
hielten sich, jeder in seinem eigenen Dialekt. Man verstand sich vorzüglich. Nach
einer Weile fragt Schullerus: „Was meint ihr, sind wir aus dieser Gegend?"
„Ja", wird ihm geantwortet, „aber ihr seid lange aus dieser Gegend hier
weg". — „Gewiß", sagt Schullerus, „es sind 760 Jahre her". Ein neu¬
gieriges Aufsehen. Schullerus erzählt nun und es zieht wie ein stilles Erinnern
durch den Raum.
Weniger sicher als über die Herkunft sind wir über den Weg orientiert,
den die Auswanderer nach Siebenbürgen genommen. Der Sage nach sollen
sie über Oberungarn gekommen sein, wo eine Anzahl Familien, ermüdet von
den Anstrengungen der Wanderschaft, zurückgeblieben seien. Von ihnen stammen
angeblich die „Zipser Sachsen", die von den Siebenbürgern eben deshalb, aber
auch wegen ihrer nicht allzu strammen nationalen Gesinnung die „Marode-
Sachsen" genannt werden. — Der Weg der Einwanderer dürfte dann —
vorausgesetzt, daß dieser Sage ein historischer Kern eignet — über Szatmär-
Nömeti und durch Nord-Siebenbürgen hinunter in die Gegenden von Hermann¬
stadt, Leschkisch und Groß-Schenk geführt haben. Noch heute heißt dieses Ge¬
biet das „alte Land"; aus strategischen Gründen war es notwendig, hier die
ersten Kolonien anzulegen. Wenig später wurde Reps, Schäßburg, Broos,
Mühlbach und Reußmarkt begründet. — Ob der nördliche Teil mit Bistritz
und Sächsisch Regen schon früher, oder erst um diese Zeit besiedelt wurde, ist
eine Streitfrage. Daß es aber im Norden Siebenbürgens schon ältere deutsche
Kolonien gab, z. B. das bereits erwähnte Nodna, steht außer Zweifel. —
Die Besiedlung Mediaschs und Schellers fällt ins dreizehnte Jahrhundert,
ebenso diejenige des Burzenlandes.
Die Ursachen der Auswanderung gibt uns ein sächsischer Dichter (Fr.
Marienburg) folgendermaßen an:
Um sich die verlorene Freiheit wieder zu retten, um dem Steuerdrucke
durch Feudal-Adel und Hierarchie zu entgehen, von Mißwachs und Hungersnot
getrieben, zogen sie fort nach Siebenbürgen, wo sie Freiheit und Überfluß sich
schaffen konnten. Vielleicht spielte auch der deutsche Wandertrieb dabei eine
große Rolle, der eben damals zur Kolonisierung des ganzen Ostens Europas —
Böhmens, Mährens, Österreichs, der deutschen Ostseeprovinzen — führte. Eine
der größten Taten des Deutschtums, die wie wenig andere Zeugnis ablegt von
der inneren Kraft, die in diesem Volke wirksam ist. — Eine Welle dieses ge¬
waltigen Auswandererstromes ist auch das Sachsenvolk Siebenbürgens. Und
Geisa hatte Recht, diese Welle hierher zu lenken. Das Land war „wüste",
eine verlassene Einöde, in der sich nur räuberische Horden umhertrieben. Geisa
wußte, daß nur deutsche Auswanderer es der Kultur gewinnen konnten,
überall stand ja deutsche Treue, deutsche Ausdauer und Tapferkeit hoch im
Ansehen. (Schluß folgt)
ur wenige Wissenschaften haben in neuerer Zeit eine so rapide Ent¬
wicklung erlebt wie die Psychologie. Im Jahre 1859 formulierte
Fechner das erste auf exakter Beobachtung beruhende „psycho-
phystsche" Gesetz, im Jahre 1872 rief Wundt das erste psycho¬
logische Laboratorium ins Leben, unter der humoristischen War¬
nung Fechners: Wenn man die Psychologie so im Großen betriebe, würde wohl
bald das Gesamtgebiet erschöpft sein. Aber wie weit ist die Psychologie noch
heute von diesem Mangel an ungelösten Problemen entfernt, obwohl dem
Wundtschen Institut bald zahlreiche andere folgten, und obwohl die Psychologie
besonders in Amerika mit noch viel größerem Nachdruck und Aufwand an
Kräften und Geld betrieben wird, als sie in jenen grauen Zeiten spor vierund-
vierzig Jahren I) das Wundtsche Institut aufbringen konnte.
Die Psychologie ging von allgemeinen Problemen aus. Schon hier müssen
wir ein anderes Wissensgebiet erwähnen und voller Dankbarkeit der Astronomie
gedenken, die zwar nicht geradezu die Anregung für die Aufstellung desWeber-
Fechnerschen Gesetzes gegeben hat, so doch seine erste empirische Bestätigung
lieferte, eigentlich noch bevor es scharf formuliert war: die Einteilung der
Sterne in Größenklassen und das Verhalten dieser scheinbaren Helligkeitsstufen
zu den photometrisch sich ergebenden ist noch heute das geeignetste Beispiel zur
Veranschaulichung jenes Gesetzes, daß, um gleichgroße (additive) Zuwüchse an
Empfindungsintensitäten zu erzielen, die Neizintensitäten um gleiche (multiplika-
tioe) Vielfache vermehrt werden müssen.
Jahrelang beschäftigten Psychologie und Psychophysik sich mit der Durch¬
führung dieses Gesetzes auf verschiedenen Sinnesgebieten, mit seiner näheren
Bestimmung und der Festlegung- seiner Grenzen und mit anderen solchen allge¬
meinen Gesetzmäßigkeiten. Zu dem Gebiete der Psychophysik, das die für alle
Menschen gültigen gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung
behandelt, trat bald auch das des Gedächtnisses, für das zuerst Ebbinghcms im
Jahre 1885 experimentell gewonnene allgemeine Gesetzmäßigkeiten formulierte.
Er stellte u. a. die Schnelligkeit des Lernens als eine Funktion der Länge des
Lernstoffes, das Behalten als eine Funktion der Anzahl der auf die Einprägung
verwendeten Wiederholungen dar.
Es dauerte jedoch nicht allzulange, bis man bei den mit mehreren Personen
angestellten Experimentalbeobachtungen auf gewisse Verschiedenartigkeiten des Ver¬
haltens verschiedener Personen aufmerksam zu werden begann, d. h. bemerkte,
daß in die Funktionsgleichungen, die ein allgemeines psychologisches Gesetz zum
Ausdruck bringen, Konstanten eingehen, deren Größe von Person zu Person ver¬
schieden ist. Wiederum ist es die Astronomie, die als erste eine solche indivi-
dualpsychologische Gesetzmäßigkeit erkannt hatte. Argelander machte im Jahre
1861 weitere Kreise auf die sogenannte „persönliche Gleichung" der Astronomen
aufmerksam, nachdem die Tatsache den Astronomen selbst schon 1799 durch
Maskelyne bekannt geworden war: daß verschiedene Beobachter den Zeitpunkt
des Durchganges eines Sternes durch einen Visierfaden verschieden bestimmen,
beruht nicht auf einer mehr oder weniger genauen Beobachtung, sondern auf
der jedem Beobachter eigentümlichen Reaktionsgeschwindigkeit.
Auch auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie lieferten die psycho¬
logischen Experimentaluntersuchungen eine Fülle allerdings meist gelegentlicher
Ergebnisse, die zum ersten Male Stern im Jahre 1900 systematisch zusammen¬
faßte. Es zeigte sich, daß auf sehr vielen, wenn nicht allen, Gedecken des
psychischen Verhaltens, die Menschen sich in gewisse Typen sondern lassen —
eine Scheidung, die auch schon die frühere, nicht exakte Psychologie in ihren
Charakterologien mehrfach und mit verschiedenem Glück versucht hatte. So
unterscheiden wir z. B. den visuellen und den auditiven Anschauungstypus:
der visuelle bevorzugt in seinen Vorstellungen das optische Gebiet, merkt sich
Gesichtseindrücke leichter und besser als Gehörseindrücke, und beachtet an kom¬
plexen Erlebnissen vorwiegend ihre optischen Qualitäten; dieselbe Rolle spielen
für den Auditiven die Gehörseindrücke, sodaß es also z. B. für ihn eine
wesentliche Erleichterung des Einprägens ist, wenn er laut lernen kann. —
Auf dem Gebiete der Charakterlehre wird die uralte Lehre von den vier Tem¬
peramenten noch heute diskutiert, teilweise unter Heranziehung experimentell
gewonnener Befunde über die Reaktion auf Reize.
Neben dieser Erkenntnis, daß die einzelnen Menschen gewisse typische Ver¬
schiedenheiten ihres psychischen Verhaltens zeigen, begann man bald auch der
ja an sich nicht neuen Tatsache Beachtung zu schenken, daß auch das Verhalten
größerer Gruppen von Menschen, auch wenn die Gruppierung nach zunächst
nicht psychologischen Gesichtspunkten vorgenommen war, sich mehr oder weniger
deutlich differenziert. Man begann zu untersuchen, wie das Kind als solches
sich gegenüber psychologischen Fragestellungen verhält. Als eine der ersten
systematischen Bearbeitungen einer solchen Frage sei hier die Untersuchung von
Schwabe und Bartholomäi über den „Vorstellungskreis der Berliner Kinder
beim Eintritt in die Schulen" (1870) erwähnt.
Damit war auch das Gebiet der differentiellen Psychologie angeschnitten,
das weiterhin durch eine Fülle von Arbeiten über die Psychologie des Kindes
(vgl. z. B. Stern, Psychologie der frühen Kindheit 1914), die psychischen
Unterschiede der Geschlechter (z, B. Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede
1916), die Psychologie der Primitiven (z. B. Thurnwald, Ethnopsychologische
Studien an Südseevölkern, 1913), der Geisteskranken (z. B. Gregor, Leitfaden
der experimentellen Psychopathologie, 1910), der Berufe (z. B. Lipmann, Zur
psychologischen Charakteristik der mittleren Berufs, Zeitschrift für angewandte
Psychologie 1916) bereichert wurde.
Mit dieser Einleitung, welche die Teilgebiete der theoretischen Psychologie
behandeln sollte, aber doch schon mehrfach auf die Gebiete der angewandten
Psychologie abschweifte, haben wir gleichzeitig auch die Unterabteilungen dieser
letzteren aufgezählt. Auch in der angewandten Psychologie haben wir es sowohl
mit allgemein-psychologischen Fragen wie auch mit individuell- und differentiell-
psychologischen zu tun.
Um zunächst einige Themata der allgemeinen angewandten Psychologie
aufzuzählen, so hätten wir neben vielen andern z. B. die Gesetzmäßigkeiten des
Lernens, der Aufmerksamkeit, der Übung und Ermüdung zu erwähnen, die
vielfache Anwendungen auf Probleme des Unterrichts und der Schulorganisation
gestatten. Es zeigte sich z. B., daß es im allgemeinen ökonomischer ist, einen
Stoff von gewisser Lange „im Ganzen" zu lernen als ihn in Abschnitte zu
teilen und jeden Abschnitt besonders einzuprägen; die Untersuchungen über die
Ermüdungswirkung verschiedener Unterrichtsfächer führen zu einem psychologisch
fundierten Aufbau des Stundenplanes usw. Die Theorie der Suggestion findet
ihre Anwendung in der Psychotherapie, die Psychologie des Gedächtnisses und
der Aussage fordert Berücksichtigung beim Zeugenverhör, die Lehre von den
latenten Nachwirkungen interessebetonter Erlebnisse beim Verhör und für die
Überführung eines Angeklagten, Eigenschaften des Gedächtnisses und der Auf¬
merksamkeit bilden das Wirkungsprinzip der Reklame.
Neben diesen Problemen der allgemeinen Psychologie aber sind es ganz
besonders Fragen der Jndividual- und differentiellen Psychologie, mit denen
die angewandte Psychologie sich beschäftigt. Während die allgemeine Psycho¬
logie neben anwendbaren auch eine große Zahl von Ergebnissen aufweist, die
mehr oder weniger nur theoretisches Interesse haben, gibt es kaum ein indi-
vidual- oder differentiell-psychologisches Resultat, das nicht zu anderen Ge¬
bieten der Wissenschaft und des Lebens in Beziehung steht oder doch in
Beziehung gesetzt werden könnte. So ist es gekommen, daß „angewandte"
Psychologie gewöhnlich mit der Jndividual- und differentiellen Psychologie
geradezu identifiziert wird, und daß diese beiden Teilgebiete der Psychologie
meist stillschweigend der angewandten zugerechnet werden, (so rechnet man z. B.
auch die Tierpsychologie gewöhnlich mit zur angewandten Psychologie) obwohl
es auch hier natürlich Fragen gibt, die zunächst wenigstens mehr theoretischer
Art sind.
Die beiden Hauptmethoden der Jndividual-Psychologie sind die Psycho-
graphie und die Test-Prüfung. Die Psychographie. deren Ziel die möglichst
vollständige psychologische Beschreibung eines Individuums ist — das erste Voll¬
ständigkeit anstrebende psychographische Schema wurde im Jahre 1909 durch das
Institut für angewandte Psychologie veröffentlicht —, findet ihre Anwendung
zunächst einmal in der Erziehung von normalen und besonders von patho¬
logischen Kindern in der Form von „Personalienbogen", „Jndividualitäts-
listen" und tgi. Psychographische Methoden sind ferner anzuwenden bei der
Erforschung der für die Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften (vergl.
Hylla, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1916). Die Psychographie hat
sich endlich auch für die Charakteristik sowohl von hervorragenden Persönlich¬
keiten der Geschichte und Literaturgeschichte (z. B. E. T. A. Hoffmann und Hebbel)
als auch von Verbrechern gut bewährt.
Die Test-Prüfung andererseits ist das Hauptmittel zur Erkennung einer¬
seits der übernormalen, andererseits der unternormalen Leistungsfähigkeit. Durch
eine verhältnismäßig einfache Prüfungstechnik gelingt es z. B., diejenigen
Kinder auszusondern, deren Überweisung in eine Hilfsschule erforderlich .ist.
(Vgl. z. B. Bobertag, über Jntelligenzprüfungen, „Zeitschrift für angewandte
Psychologie" 1912; die für derartige Prüfungen erforderlichen Materialien
werden vom Institut für angewandte Psychologie herausgegeben und sind
bereits in Hunderten von Exemplaren im Gebrauch.) Auch in der Psychiatrie
wird naturgemäß von solchen Prüfungsaufgaben ein weitgehender Gebrauch ge¬
macht. Die Herausgabe eines Handbuches der psychologischen Hilfsmittel der
psychiatrischen Diagnostik wird im Institut für angewandte Psychologie vor¬
bereitet. Auf der anderen Seite wird man aber auch bei der Diagnose der
Begabten, deren „Aufstieg" ja eine Forderung des Tages ist, solche Prüfungen
mit Nutzen anwenden können.
Handelt es sich bei der Jndividual-Psychologie um Einzel-Untersuchungen,
so ist die differentielle Psychologie, die ja Gruppen von Individuen mitein¬
ander vergleicht, auf Massenbeobachtungen angewiesen. Ihre Hauptmethoden
sind also statistischer Art. Mit Hilfe statistischer Methoden versucht man, „den"
Verbrecher, „den" Musiker, den Unterschied zwischen Mann und Frau zu
charakterisieren und legt damit die Anwendung der Ergebnisse auf die Kriminalistik,
die Ästhetik, das pädagogische Koedukationsproblem nahe. Auch hier findet
übrigens eine der Psychographie ähnliche Forschungsweise Verwendung, indem
z. B. die Ethnopsychologie es versucht, das Seelenleben gewisser primitiver
Völker zu analysieren und zu beschreiben, wobei natürlich auch das psycho¬
logische Experiment mit herangezogen wird.
Faßt man den Begriff der angewandten Psychologie enger, und hält man
sich schärfer an die Verwertbarkeit in Wissenschaft und Praxis, so zeigt sich,
daß die Anwendung der Psychologie sich in zwei Richtungen bewegt. Wir
unterscheiden die Psychognostik, die praktisch verwertbaren Ergebnisse, und die
Psychotechnik, die Methoden liefert. Die Psychognostik fragt z. B., wie lernt
das Kind, welche Aussagefehler sind die häufigsten, wie unterscheiden sich der
Prosarythmus Goethes und Heines; die Psychotechnik dagegen untersucht die
Frage der zweckmäßigsten Lernweise, der geeignetsten Form der Reklame, der
besten Form des Zeugenverhörs, usw.
Was die Teilung nach Anwendungsgebieten betrifft, so sei wiederum ein
kurzer historischer Abriß zugrunde gelegt.
Daß die Astronomie das erste Wissensschaftsgebiet war, in dem psycho¬
logische Tatsachen sich geltend machten und das zuerst eine exakte Formulierung
dieser Gesetzmäßigkeiten verlangte, haben wir bereits erwähnt.
Für die Psychopathologie läßt sich ein bestimmter Zeitpunkt ihres Auf¬
tretens schwer fixieren, da in psychiatrischen Kliniken ja schon lange Zeit hier
und da psychologische Methoden verwendet und psychologische Ergebnisse zur
Erklärung pathologischer Befunde herangezogen wurden. Als eines der ersten
äußeren Anzeichen des ausdrücklich auf moderne psychologische Methoden ge¬
richteten Interesses der Psychiater ist vielleicht dies zu nennen, daß Kraeplin im
Jahre 1896 die Zeitschrift „Psychologische Arbeiten" ins Leben rief.
Für die pädagogische Psychologie reichen die Vorläufer wohl mindestens
ebensoweit zurück wie für die Psychopathologie. Wenn wir von der ver¬
einzelten, bereits erwähnten Untersuchung von Schwabe und Bartholomäi ab¬
sehen, so wird der Zeitpunkt des Eintretens eines intensivierten Interesses an
Problemen und Methoden der modernen Psychologie hier vielleicht durch die Be¬
gründung der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie" im Jahre 1899 gekenn¬
zeichnet.
Etwa seit dem Jahre 1900 begann man in Berlin auf Anregung Stumpfs,
systematisch Musikstücke nichteuropäischer Völker phonographisch aufzunehmen.
Das Phonogrammarchiv der Berliner Universität und seine Veröffentlichungen
dienen zugleich der Musikwissenschaft wie der Ethnopsychologie. Eine weitere
Etappe auf dem letzteren Forschungsgebiete bedeuten dann die „Vorschlüge zur
psychologischen Untersuchung primitiver Menschen", die das Institut für an¬
gewandte Psychologie im Jahre 1912 veröffentlichte: hier werden Methoden
und Fragestellungen gegeben zur psychologischen Charakteristik z. B. des Raum¬
sinnes (von Tschermak), des Farbensinnes (Guttmann), des Gedächtnisses
(Lipmann), der Zeitschätzung (Stern), des Zeichnens und der Kunst der Pri¬
mitiven (Vierkandt).
Im Jahre 1901 wandten Thumb und Marbe zum ersten Male ex-
perimentelle Methoden auf Fragen der Sprachwissenschaft an. Es zeigte sich
hier, daß die Gesetze der sprachlichen Analogiebildung ganz oder jedenfalls in
hohem Grade identisch find mit den Gesetzen der assoziativem Verknüpfung
zweier Vorstellungen.
Es folgte die forensische Psychologie, deren eines Problem, die Psycho¬
logie der Zeugenaussage, schon früher durch Alfred Binet in Paris und Groß
in Prag angeschnitten, in Deutschland durch Stern im Jahre 1902 eingeführt
wurde. Das Problem ist hier nicht, wie man zunächst vielfach meinte, nur
dies, zu zeigen, daß die zusammenhängenden Erzählungen eines Menschen über
ein Erlebnis meist sehr lückenhaft, und daß die Antworten auf Verhörsfragen
meist sehr fehlerhaft sind, sondern vielmehr in erster Reihe dies, wie man eine
Zeugenvernehmung zu gestalten hat, wie z. B. die Fragen zu formulieren sind,
um möglichst vollständige und richtige Aussagen zu erzielen (vgl. z. B. Livmann,
die Technik der Vernehmung vom psychologischen Standpunkte, „Monatsschrift
für Kriminalpsychologie 1909; Livmann, „Die Wirkung von Suggestivfragen"
1908). Ein anderes Problem der forensischen Psychologie, die Psychologie
des Angeklagten, die sogenannte Tatbestandsdiagnostik oder Spurensymptomatho-
logie wurde zuerst von Wertheimer und Klein im Jahre 1904 in Angriff ge¬
nommen. Die Fragestellung lautet hier: ist die Auffassung, die Aufmerksamkeits-
richtung, das Gedächtnis eines Menschen, der mit großer innerer Anteilnahme
ein bestimmtes Erlebnis gehabt hat, so verändert, daß sich aus seinen in ver¬
schiedenen Experimenten zu beobachtenden Reaktionen auch gegen seinen Willen
seine Teilnahme an diesem Erlebnis ergibt? (Vgl. Livmann, „Die Spuren
interessebetonter Erlebnisse und ihr Symptom" 1911). Das Interesse an der
Kriminalpsychologie, der Psychologie des Verbrechers und des Verbrechens, eine
psychognostische Frage, wurde in Deutschland im Anschluß an die Vorarbeiten
Lombrosos, insbesondere durch Sommer 1904 und Aschaffenburg 1905 angeregt.
(Vgl. z. B. Wulffen, „Psychologie des Verbrechers".)
Die forensische Psychologie blieb übrigens nicht das einzige Anwendungs¬
gebiet der Aussageforschung. Um nur noch ein weiteres zu nennen, so zieht
natürlich auch die Geschichtswissenschaft ihre Konsequenzen aus den Feststellungen
über die Fehlerquellen von Berichten. (Vgl. z. B. Bernheim, „Das Verhältnis
der historischen Methodik zur Zeugenaussage." Beiträge zur Psychologie der
Aussage 1903.)
Die Religionspsychologie fand ihr erstes Zentralorgan in der „Zeitschrift
für Religionspsychologie", die im Jahre 1907 durch Brester und Vorbrodt be¬
gründet wurde. Von den Problemen der Religionspsychologie sei hier nur das
des Ursprungs der Religion angeführt, mit dem sich z. B. Wobbermin in einem
Aufsatze in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1915 beschäftigt.
Wirtschaftspsychologische Forschungen wurden zum ersten Male im Jahre
1908 durch Weber angeregt; doch wurden weitere Kreise erst durch Münster¬
bergs Buch über Psychologie und Wirtschaftsleben, das im Jahre 1912 er¬
schien, und durch Piorkowskis Beiträge zur psychologischen Methodologie der
wirtschaftlichen Berufseignung (1915) für diese Fragen interessiert. Neuerdings
sind hier besonders die Unternehmungen der Berliner „Zentralstelle für Volks¬
wohlfahrt" zu nennen, die auch ein berusspsychologisches Laboratorium ins
Leben gerufen hat. (Vgl. Livmann, „Psychische Berufseignung und psycho¬
logische Berufsberatung", „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1916). Wie
es möglich ist, als wesentliche Eigenschaft des Fliegers das schnelle Reagieren
auf kleine Gleichgewichtsstörungen, als eine wesentliche Eigenschaft des Kraft-
Wagenführers eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit zu bezeichnen, so werden
sich auch für eine Reihe weiterer Berufe diejenigen Eigenschaften finden lassen,
bei deren Vorhandensein man eine tüchtige Berufsleistung erwarten kann, deren
NichtVorhandensein es aber geraten sein läßt, dem Bewerber von dem Ergreifen
gerade dieses Berufes abzuraten.
Die Literaturgeschichte erhält wertvolle Anregungen und verwertbare Ergeb¬
nisse durch die im Jahre 1909 durch Groos inaugurierten Forschungen, deren
Gegenstand es ist, statistisch nachzuweisen, daß ein Dichter in den von ihm ver¬
wendeten Worten, Vergleichen usw. bestimmte Sinnesqualitäten regelmäßig be¬
vorzugt. — So fand Groos, daß Schillers Lyrik mehr optische Qualitäten
(z. B. Farbenbezeichnungen) enthält als die Lyrik Goethes, daß aber besonders
akustische Qualitäten bei Schiller außerordentlich häufig sind. — Andere Unter¬
suchungen über den individuellen Stil eines Schriftstellers wurden schon 1904
durch Marbe eingeleitet; doch beziehen sich diese Forschungen nicht auf die inhaltliche,
sondern auf die formale Charakteristik eines Schriftwerkes oder Autors, nämlich auf
den ihm eigentümlichen Rhythmus, den Wechsel zwischen betonten und unbetonten
Silben; nach der Regelmäßigkeit dieses Wechsels stehen z.B. Hülsens „Naturbetrach¬
tungen auf einer Reise durch die Schweiz" der Poesie nahe und Goethes Briefe
ihr fern. Je nach der Häufigkeit der betonten Silben sind ferner Goethes
Gespräche als besonders pathetisch und Goethes Briefe an Zelter als besonders
„gleichgültig" zu betrachten. — Daß die Methode der Psychogmphie hier eben¬
falls ein besonders fruchtbares Betätigungsfeld findet, wurde bereits erwähnt.
Im Jahre 1911 veröffentlichte Margis als erste „vsychographische Jndividual-
analyse" diejenige von E. T. A. Hoffmann.
Daß die Psychologie auch sür die Zwecke der Heeresverwaltung mannigfache
Anwendung findet, kann zur Zeit nur angedeutet werden.
Nachdem wir so kurz die hauptsächlichsten Anwendungsgebiete der Psychologie
aufgezählt haben, wobei selbstverständlich von einer auch nur annähernden
Vollständigkeit nicht die Rede sein kann, seien nun zum Schluß noch einige Worte
über die Organisation der angewandten Psychologie angefügt. Sie findet ihre
Pflege in einer großen Zahl von Vereinen (für pädagogische, medizinische, forensische
Psychologie) und Spezialzeitschriften. Von Instituten, in denen Teilgebiete der
angewandten Psychologie behandelt werden, sind nur die an mehreren Orten
meist durch Lehrervereine begründeten Institute für pädagogische Psychologie zu
nennen.
Die Zersplitterung der angewandten Psychologie nach ihren Anwendungs¬
gebieten hat zwar natürlich ihren berechtigten Grund in der Verschiedenheit der
Interessentengruppen, ist aber methodisch nicht gerechtfertigt: ein und dasselbe
Psychologische Problem — es sei nur beispielsweise an die Psychologie der Aussage
erinnert — kann für die verschiedensten Anwendungsgebiete von Wichtigkeit sein.
Dieser Gesichtspunkt führte im Jahre 1906 dazu, daß die Gesellschaft für
experimentelle Psychologie, auf Anregung Sterns und des Verfassers ein Institut
für angewandte Psychologie ins Leben rief, das sich 1907 ein eigenes Organ
in der Zeitschrift für angewandte Psychologie schuf.
Der Staat hat sich bisher um die Pflege der angewandten Psychologie
wenig bekümmert; nur die staatlichen psychologischen Institute in Würzburg
und Hamburg sind in erwähnenswerter Weise auf dem Gebiete der angewandten
Psychologie tätig. Es wäre zu wünschen, daß auch von feiten des preußischen
Staates einmal etwas auf diesem Gebiete, am besten durch Gründung eines
Forschungsinstitutes für angewandte Psychologie, geschähe. An Problemen,
welche die wichtigsten Ergebnisse für mannigfaltige Gebiete der Wissenschaft
und des Lebens — ich erinnere nur an das im Vordergrunde des Interesses
stehende Gebiet der Berufspsychologie — erwarten lassen, dürfte es nicht fehlen.
Aber ein gedeihlicher weiterer Fortschritt der angewandten Psychologie hat eine
gewisse Zentralisation der Forschung und systematisch verwendbare größere
Forschungsmittel zur Voraussetzung.
Der Barde. Die schönsten historischen Gedichte von den Anfängen deutscher Ge¬
schichte bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Walther Eggcrt - Windegg,
C. H. Beck. München. Preis (> Mark.
Gar selten in der Welt kommt die rechte Aufgabe in die rechte Hand und schafft
ein Werk zur rechten Zeit. Und wie alles was meisterhaft gemacht wird leicht
aussieht, so fragen wir uns verwundert: warum haben wir dies Buch nicht schon
lange? Wir blättern im Inhaltsverzeichnis, lesen die Namen unserer Besten,
finden jede Epoche unserer Geschichte, Zeit und Vorzeit, fast lückenlos. Ja, wer
wußte denn, daß wir das alles haben, daß dies ganze Werden, Wachsen und
vielfältige Ringen unseres Volkes sich so vollkommen in den Werken unserer Dichter
spiegelt? Nur aus jahrelanger Beschäftigung mit dem Plane konnte diese Sammlung
entstehen.
Sehen wir zu, wie der Herausgeber sein Werk aufgebaut hat. Es ist in
zehn Bücher und sechsunddreißig Kapitel gegliedert und beginnt mit unserer Los¬
lösung aus römischem Joch: Germanen und Römer. Hermann Linggs Spartacus
ist der kraftvolle Prolog: „Der Menschheit ganzes Herz erwache!"
Ein paar Beispiele mögen zeigen, wie die einzelnen Epochen dargestellt sind.
Die Zeit der Völkerwanderung: Börries von Münchhausens „Hunnenzug" gibt
Schauplatz, Zeit und Stimmung, und wie Korr. F. Meyer, Hermann Lingg,
Wilhelm Hertz von ihm singen und sagen, steht ein gewaltiges Bild Attilas vor
uns. Oder: Uhland und Detlev von Liliencron und Strachwitz geben uns, jeder
in seinem Ton, lebendige Kunde vom Roland.
Unter die glänzenden Partien des Buches gehören, wie später das Zeitalter
Friedrich des Großen, so in der Frühzeit die Hohenstaufen mit all den verlockenden
Vorwürfen, an denen freilich ein mittelmäßiger Dichter nur scheitern kann. Es
ist aber wohl das größte und neue Verdienst dieser Sammlung, daß sie ihr Material
nicht mit Notbehelfen, die mit der Poesie nichts zu tun haben, ergänzt, sondern
das Versprechen des Titels löst und uns „die schönsten historischen Gedichte" an¬
einander reiht.
Neben den Dichtern unserer Zeit vernehmen wir auch ältere Klänge. Walther
von der Vogelweide kann nicht fehlen, Zeitlieder, deren Dichter man nicht kennt
und vieles, was Winterfelds verdienstreichem Buch: „Die deutschen Dichter des
lateinischen Mittelalters" entnommen ist. Solche Stücke sind sozusagen die Stimm¬
gabel, die Reinheit des Tones bei den Neueren zu prüfen. Und wir erkennen
z. B.. daß die späteren Dichtungen in Eggert-Windeggs Auswahl mit den Versen
Rollers und des Mönchs von Kloster Bobbio in gutem Einklang stehen.
Die Überleitung von einer Epoche zur anderen ist meist sehr glücklich. So
zeigt es von tiefem historischen Verstehen, daß zwischen die Gedichte aus der
fredericianischen Zeit und jene aus der Revolution Schubarts ergreifendes Kaplied
gestellt ist. Diesem Aufstöhnen der Unterdrückten folgt befreiend das rächende:
„Auf Trümmer der Bastille". Ähnlich erschüttert uns an anderer Stelle Strachwitz'
„Hie Wels" als Vorbote von Konradins Schicksal.
Auf die Revolution folgt reich vertreten die napoleonische Zeit, ihrerseits
wieder als starker Hintergrund der Befreiungskriege. Von Mosers: „Zu Mantua
in Banden" über Arndts Lied vom Schill zu Lissauers scharf geschnittenen
Silhouetten, wieviel singt und jubelt da aus den Tagen, deren wir jetzt so gern
gedenken: die Arndt, Körner, Schenkendorf, jeder zugleich ein Sänger und ein Held.
Zu den schönsten dieser Gedichte gehört eines aus neuer Zeit, Alice von Gaudys
„Gruß des Feldherrn", wie überhaupt die Frauen in der Sammlung mit Ehren
bestehen. Lulu von Strauß und Torney und Alice von Gaudy, beide durch
Knappheit und Prägnanz besonders ausgezeichnet, auch Ricarda Huchs „Wiegen¬
lied" (Mjähriger Krieg) nicht zu vergessen. Von überraschender Wirkung war
mir, daß ihr „Frieden" mit Hermann Linggs „Der Friede" (der westfälische) den
schönsten Einklang männlichen und weiblichen Empfindens ergeben.
Daß Fontane, der Sänger der Mark Brandenburg und Preußens, ausgiebig
zu Wort kommt, liegt sowohl nach der Trefflichkeit seiner Verse und seiner Dar¬
stellung, als auch nach dem historischen Inhalt seines Werkes aus der Hand; drei
prophetische Gedichte Geibels aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts zeigen uns,
vielleicht jetzt zum erstenmal, diesen Dichter in seiner wahren Wesenheit, nachdem
sich alles erfüllt hat, was er in ahnender Sehnsucht voraussah, nun auch aus der
„Londoner Konferenz" das Wort:
„Dann werdet ihr mit Grausen
Die Welt in Flammen seh'n."
Die neue Zeit von 1870 an ist breit behandelt, auch das politische Lied ist
nicht ausgeschlossen, „so weit es ein aus der Überzeugung entstandenes wirkliches
Gedicht ist." In Hinblick auf die Kolonien kann ich nicht versäumen, Detlev von
Liliencrons kraftvolles „Der Kampf um die Wasserstelle" zu nennen.
Von Hermann Lingg über Detlev von Liliencron bis auf Lissauer erklingt
auch ein realistisch'idealistischer Hymnus auf die Arbeit der deutschen Fabriken
und Hämmer, denn nun ist auch für diesen Lebenskreis, in dem man früher etwas
der Poesie Unwertes sah, der Ton gefunden, der die Symphonie deutschen Wesens
erst voll dahinbrcmsen läßt.
Wenn man das Bardenbuch, wie es mir Kritikerpflicht war. von Anfang
bis Ende liest, so tut man das mit wachsender Bewegung, Selbsteinkehr, Stolz,
Verantwortungsbewußtsein, Zuversicht. Es ist eine Schatzkammer des deutschen
Hauses und des deutschen Volkes, und, nicht zuletzt, der deutschen Schule.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
türmers Zeit in Rußland könnte man eine Zeit der schwindenden
Illusionen nennen. Dies gilt für die Kriegführung Rußlands,
es gilt für seine äußere und innere Politik.
Die Vrussilowschen Offensiven mit ihren negativen Ergebnissen
ließen die krampfhaften Hoffnungen der Russen, es werde möglich
sein, im Bogen um Luzk herum oder nach Lemoerg zu die deutsch-öster¬
reichische Front wanken zu machen, allmählich schwinden. Immer bescheidner
und bescheidener wurden die Frontberichte der russischen Generalstabsobersten,
die in den Blättern der Residenzen schreiben. Sie zogen es vor, sich mit der
Somme zu beschäftigen, wo den Winken der englischen Presse gemäß jeder
Gewinn eines Dorfes zu einem entscheidenden Ereignis aufgebauscht wurde.
In der Dobrudscha wurden die russisch-rumänisch-serbischen Armeen durch den
glänzenden Mackensenschen Frontalangriff bis hinter Tschernawoda-Konstanza
zurückgedrängt, und die deutsch-bulgarischen Streitkräfte erwiesen ihre un¬
bestrittene Überlegenheit. Die anfänglichen Jubelhymnen über das Vorrücken
der rumänischen Armee nach Siebenbürgen verstummten bald, als Falkenhayns
Truppen die Rumänen durch die schwierigen Gebirgspässe in einem Gelände,
das größere Hindernisse bot, als der Alpenkriegsschauplatz, mit der ganzen
Kraft der deutschen Schläge hindurch und in die kleine Walachei hineintrieben.
Stürmers Abgang von der Bühne fällt zusammen mit Mackensens Übergang
über die Donau, mit der Abschneidung der letzten rumänischen Truppen bei
Orsowa und Turm Severin, mit der Gewinnung des Altflusses durch Falken-
hayn und der endgültigen Aufgabe der kleinen Walachei durch Rumänien.
Die rumänischen Niederlagen sind aber in erster Linie russische Nieder¬
lagen, denn jeder Zoll breit Bodens, den die Rumänen aufgeben müssen, ent¬
fernt die Russen weiter von ihrem Ziele: Konstantinopel, und nähert die
deutsch-österreichischen Heere dem russischen Süden. Die Erkenntnis dieser durch
keine Schönrederei aus der Welt zu schaffenden Tatsachen bildete der düstere
Hintergrund für das Wirken Stürmers in der äußeren und in der inneren Politik.
Stürmers einzige festen und folgerichtigen Maßnahmen auf dem Gebiete
der äußeren Politik waren das Ultimatum an Rumänien und die Entlastung
Sasonows. Durch das Ultimatum an Rumänien sollte der letzte Anstoß an
Bratianu gegeben werden, der im Grunde nur auf diesen Druck auf den Knopf
wartete, um die lange vorbereitete Maschinerie spielen zu lassen. Rumäniens
Kriegserklärung kam und Stürmer konnte den Erfolg als ein Plus hundelt.
Über die Entlassung Sasonows ist viel gesprochen, sie ist auch in diesen
Heften erörtert worden. Ungewiß ist, ob die Haltung Sasanows beim Abschluß
des russisch-japanischen Vertrages, ob sein Entschluß, in der polnischen Frage die
Initiative zu ergreifen, oder endlich ob Stürmers Überzeugung bei der Entlastung
Sasonows maßgebend war. daß dieser in seiner Politik allzu sehr mit ge¬
wissen Überlieferungen belastet war, von denen er sich nicht frei machen konnte.
Sei dem wie ihm sei. Sasonows Entlassung wurde von England als eine
unfreundliche Handlung empfunden und Stürmer hatte sich durch diesen Akt eine
tödliche Gegnerschaft zugezogen. Schon seine ersten Erklärungen, trotzdem sieSchimpf-
worte auf die deutsche Kultur enthielten („Deutschland hat den Krieg veranlaßt
und führt ihn mit renommistischer Verachtung aller Kultur"), wurden von der
liberalen russischen Presse schlecht aufgenommen. Stürmer hatte in seiner ersten
Proklamation, vielleicht auf Anraten des ihm befreundeten Pitirim, Töne ange¬
schlagen, von denen er eine gewisse Einwirkung auf dasjenige Rußland hoffte,
das in den Überlieferungen des orthox - gläubigen Kirchentums erzogen war.
„In der diplomatischen Welt bin ich ein Neuling — die Fragen der
äußeren Politik haben mir aber stets sehr nahe gestanden, und während ich
mich mit ihnen beschäftigte, habe ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf all
das konzentiert, was das Herz eines guten Russen höher schlagen läßt.
In den Dokumenten des siebzehnten Jahrhunderts befindet sich ein Brief von
A. L. Ordin-Naschtschokin. des Leiter des damaligen Auswärtigen Amts. In
diesem Briefe heißt es: Das Auswärtige Amt ist das Auge des ganzen großen
Rußlands und sorgt für die Ehre undGesundheit des Reichs in der Furcht Gottes."
Dieser Ausspruch ist auch in unseren Tagen nicht veraltet.
Ich schließe mit dem Hinweis auf eine eigenhändige Anmerkung des
Zaren Alexis Michailowitsch zu den Berichten eines Gesandten, der die Interessen
des Zaren und der Heimat nicht sorgsam genug gewahrt hatte.
„Wer den Ruhm und die Ehre Rußlands nicht wahrt, hat abzutreten
und erntet an Stelle des Ruhmes Vorwürfe."
Stürmer, der den Kreisen der hohen Bürokratie nahestand, durfte sich
keinen Illusionen darüber hingeben, daß in diesen Worten, so sehr sie den
gläubigen und vaterlandsergebenen Russen nach dem Herzen gesprochen scheinen,
nichts lag, was ihn in den Kreisen der liberalen Intelligenz, deren Führer
Miljukow dein verabschiedeten Sasonow besonders befreundet war, populär
machen konnte. Auch seine mehrfachen Erklärungen, daß er dem Verbündeten
Rußlands Treue halten werde, wurden angezweifelt.
Die polnische Frage, die mit seinem Eintritt in das Ministerium des
Äußeren auch in Rußland in ein besonders akutes Stadium gekommen war,
wurde als Agitationsstoff gegen ihn benutzt. Bekannt ist das Memorandum,
das Stürmer in der polnischen Frage an die russischen Gouverneure schickte.
Es bezeichnete die Polen offen als deutschfreundlich und enthielt die Sätze:'
„Die Mehrzahl der Polen in Rußland ist schon jetzt geneigt, das öster¬
reichisch-deutsche Anerbieten anzunehmen. Nur die Nationaldemokraten
zögern noch, sich den andern anzuschließen . . . Die österreichisch-deutsche
Agitation hat also ihr Ziel erreicht. Zunächst hintertrieb sie die beginnende
Verschmelzung der Polen in russophiler Richtung .... jetzt bereitet sie
sich auf ihren endgültigen Sieg vor, der alle Sympathien der russischen
Polen für eine Einigung Polens unter russischem Protektorat vernichten soll."
Dieses Zirkular, daß wirklich von einer selten guten Kenntnis der wahren
Verhältnisse spricht und dessen Verfasser klar sah, daß es für Rußland zurzeit
nicht möglich war, den Polen etwas zu bieten, wurde von der „Nowoje Wremja",
d. h. dem britischen Botschafter als maäo in Zerman^ bezeichnet. Die Ant¬
wort des Polenkolos in der Duma und das Verlangen Lednitzkys. des Vor¬
sitzenden des Moskaner Polenkomitees, nach einer „feierlichen Bestätigung der
polnischen Hoffnungen und Rechte auf eine freie nationale Existenz
und eine wirtschaftliche Wiedergeburt" sind bekannt. Stürmer sah auch
in der polnischen Frage die Unmöglichkeit für Nußland etwas zu tun.
Die Polen hatten, selbst in der zensurierten Petersburger Presse, schon
lange erklärt, daß eine Autonomie nach russischem Muster weiter nichts sein
würde, als „ein übertünchtes Grab". Was aber konnte Rußland den Polen
mehr geben und konnte es ihnen überhaupt auch dieses Wenige geben, da kein
Quadratmeter polnischen Bodens mehr in russischem Besitze war? Während
Stürmer ins Hauptquartier fuhr oder dem Grafen Wjelopolski statt einer
bindenden Unterhaltung über Polens Zukunft die Gemälde seiner Amtswohnung
erklärte, handelten Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Ergebnisse sind
bekannt. Sie wurden in Rußland als ein Peitschenhieb empfunden und aller
Groll der doch nur über die eigene russische Ohnmacht aufgeregten öffentlichen
Meinung entlud sich auf Stürmer.
Das Verhältnis zwischen Rußland und England hat während der ganzen
Dauer der Stürmerschen Regierung nicht aufgehört, eine Rolle in der russischen
Presse zu spielen. Bekannt find die Auseinandersetzungen, die der russische
Journalist Bulatzell mit dem englischen Botschafter hatte, bekannt ist die Karikatur
der „Nowoje Wremja". die einen russischen Schriftsteller von einem Engländer
geprügelt darstellt, bekannt ist das Bankett der „Gesellschaft der englischen
Flagge", auf dem Rodsianko und Buchanan auftraten, um unter dem Deck¬
mantel der „deutschen Agenten" gewisse als schädlich erkannte Strömungen der
russischen Öffentlichkeit zu bekämpfen. Der englische Botschafter führte dabei
wörtlich folgendes aus:
„In Rußland bemühen sich die Agenten Deutschlands, die öffentliche
Meinung gegen England aufzuhetzen. Im Laufe des letzten Jahres haben
diese Deutschfreunde auf die von ihnen zu Anfang des Krieges mit Vorliebe
aufgestellten Fragen, wo sich die englische Flotte befindet, und was eigentlich
die englische Armee geleistet hat, sehr schlagfertige Antworten erhalten. Jetzt
predigen diese russischen Deutschfreunde einen Kreuzzug gegen England nicht
darum, weil England zu wenig, sondern weil England zu viel geleistet hat (!).
Jetzt behaupten sie, daß England Rußland in diesen Krieg hineingezogen hat.
Die russischen Deutschfreunde behaupten sogar, daß England absichtlich den Krieg
in die Länge zieht, um die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen, und
um das erschöpfte Rußland später ausbeuten zu können. Sie be¬
haupten, daß die Armee, welche von jenem Kitchener geschaffen wurde, der
während seiner Reise nach Rußland, wo er die größtmögliche Hilfe in der
Frage der Munitionsversorgungen leisten wollte, den Tod fand, daß diese
Armee eines schönen Tages gegen Rußland selbst angesetzt werden
wird. Rußland, so sagen die deutschen Agenten, hätte schon längst unter
günstigen Bedingungen einen Frieden schließen können, wenn Eng¬
land dies nicht zu verhindern gewußt hätte. Rußland würde, wenn es
den Krieg fortsetzt und weitere Opfer bringt, nichts erreichen, während England
für sich den größten Nutzen aus dem Kriege ziehen wird."
Man erkennt aus diesen Äußerungen, die man nur in Zusammenhang zu
bringen hat mit den Ausführungen Asquiths in der Gildhall, wie groß und offen
zutage tretend diese Strömungen in der russischen Gesellschaft gewesen sein müssen,
die auch ein Erwachen aus Illusionen bedeuteten. Es war natürlich, daß auch diese
Einsichten gewisser Eninüchterter Stürmer in die Schuhe geschoben wurden.
Und schließlich bot die innere Lage Rußlands ein immer größeres Bild
trauriger Zerfahrenheit und Ordnungslofigkeit. Das Durcheinander der Lebens-
nnttelorganisation, die Verpflegungsschwierigkeiten, die in einzelnen Gouverne¬
ments bis zum Hunger gingen, die allmählich wachsende Unruhe der Arbeiter-
kreise, von denen der Aufruf des Moskaner kriegsindustriellen Arbeiterkomitees
Zeugnis ablegt, beschäftigten in niemals dagewesenen Maße die Öffentlichkeit.
Dazu kam die Ratlosigkeit der Regierung und die inneren Kämpfe innerhalb
der Regierung selbst. Protopopow und Bobrinsky konnten sich nicht darüber
einigen, wer die Lebensmitteldiktatur in die Hand nehmen sollte. Protopopow
war der liberale Mann, dessen Ernennung die oppositionellen liberalen Kreise
wohl hatte milder stimmen sollen, aber gerade den entgegengesetzten Effekt
hatte. Man wünschte bei den Führern des Blocks keinen Minister des
Innern als Regulator des wirtschaftlichen Lebens, und Chwostow, dessen Witz
nicht ohne ist, konnte seine früheren Dumakollegen darauf hinweisen, daß es
ganz gleich sei, wer auf dem Sessel sitze, ob er, ein Ultrarechter, oder Proto¬
popow, der Semstwooktobrist, der Sessel bleibe doch immer derselbe. Auch
Protopopow vermochte also nicht die Mißstimmung der Opposition gegen
Stürmer zu beseitigen. Er vermochte es nicht, den Karren der Verpflegung
wirklich in Gang zu bringen. Es wurde nichts getan und das Mißtrauen
gegen die Regierung als Folge davon wurde immer größer.
So war die Stimmung des Landes, als die Duma wieder einberufen
wurde. Die Reden, die in den Sitzungen gehalten worden sind, sind soweit
sie wirklich interessant sind, von der russischen Zensur gestrichen. Aber was noch
übrig geblieben ist, genügt, um zu erkennen, was die Macher wollten. Rodsianko
fing mit Trompetenstößen an. „Die erste Notwendigkeit ist die Entfernung
dessen, was nicht sein darf und was das Land an der Erreichung seiner Ziele
hindert. Die Negierung soll von uns erfahren, was nötig ist für die Ruhe
des Landes, sie darf nicht auf einem Wege gehen, der entfernt ist von dem
des Volkes." Und dann als Motto: „was es auch immer kosten möge, der
Krieg muß auf jeden Fall zu Ende geführt werden." Dasselbe Thema wurde
dann vom progressiven Blocke variiert, ein glattes Mißtrauensvotum der Re¬
gierung ausgestellt und hätten nicht die Mitglieder des Blockvorstandes ge¬
fürchtet, daß die ganze Duma nach Hause gejagt werden würde, so hätte wohl
die Erklärung noch ganz anders gelautet. Dies andere zu sagen, blieb Mil-
jukow. dem Führer der Kadetten, vorbehalten. Wir kennen seine Rede nicht,
wir wissen aber, daß er eine „vernichtende" Kritik an der Stürmerschen Außen-
Politik übte und nach innen parlamentarisches Regime verlangte, Ver¬
antwortlichkeit der Minister vor der Duma und ein Ministerium,
getragen von dem Vertrauen der Dumamehrheit.
Miljukows Äußerungen mögen den „Sphären" nicht angenehm geklungen
haben. Was war aber zu tun? Ein Ventil mußte geöffnet, ein Schuldiger
gefunden werden. Wo soviele Illusionen zerstört waren, wo die Angst der
Duma, wie die „Rjetsch" feststellt, sogar den siegreichen Ausgang des Krieges
in Frage gestellt sah, da mußte ein Opfer dargebracht werden und was lag
näher, als daß Stürmer dieses Opfer sein sollte? „Wir haben," so sagte
der „Kökökök", der sich schützend vor Stürmer stellte, „kein Recht, irgend
jemand die Schuld zu geben. . . Wir haben keine Tatsachen, wir können
nicht verurteilen. Es gab einmal eine Zeit, wo wir die Hoffnung hatten auf
eine leuchtende Zukunft, wo wir uns und andere damit beruhigen konnten,
daß unsere inneren Schwierigkeiten nur zeitweise durch den Krieg hervorgerufene
Übel seien, daß nur Männlichkeit und Geduld dazu gehörten, das Leben von
neuem in das gewohnte Geleise zu schieben..."
Solche Hoffnungen und Illusionen scheinen die einsichtigen Russen jetzt
verloren zu haben. Es gibt aber noch einige, die glauben, die Sache könnte
geändert werden, — wenn ein anderer Mann auf denselben Sessel gesetzt wird.
Diesen Leuten mußte geholfen werden. Der neue Mann heißt Trepow anstatt
Stürmer. Wahrscheinlich betrachtet Chwostow auch ihn mit lächelnd philo¬
sophischem Auge und konstatiert, daß der Sessel derselbe geblieben ist.
ir verlieren uns nicht in weltvergessene Romantik zu den Zeiten
der Ottonen, Salier und Hohenstaufen, wenn wir Belgien als
unentbehrlich für das Deutsche Reich beanspruchen. Denn Belgien
gehörte dem alten Reiche bis zum Luneviller Frieden von 1801
an und wurde erst vor hundert Jahren durch den Wiener Kongreß
endgültig von Deutschland getrennt. Was das alte Reich in den Zeiten seines
tiefsten Verfalls, fast im Verenden noch festhalten konnte, das wird auch das
neue Reich in voller Kraft und Blüte ergreifen und behaupten können. Denn
der belgische Staat selbst ist für die Zukunft unmöglich. Wer sollte sein Erbe
sein? Eine künstliche Schöpfung Englands und Frankreichs war er trotz seiner
Neutralität vom Geschicke dazu verdammt, englischen und französischen Interessen
zu dienen. Über kurz oder lang wäre er in sozialer Revolution untergegangen
und im Zwiespalts der Nationalitäten auseinandergerissen, wenn ihm das deutsche
Schwert nicht ein Ende bereitet hätte. Von einer Wiederherstellung Belgiens
kann nicht die Rede sein. Es fragt sich nur: Was soll aus dem Lande werden?
Fanatiker des Nationalitätsprinzips könnten die Antwort geben: die
vlämischen Landesteile an die Niederlande, die wallonischen an Frankreich, das
kleine deutsche Sprachgebiet an Luxemburg. Bei ernsthafter Betrachtung kann
hier von Anwendung des Nationalitätsprinzips nicht die Rede sein. Die Ver¬
einigung der südlichen Niederlande mit den nördlichen, ist trotz der überwiegend
niederdeutschen Bevölkerung auch der südlichen in dem Halben Menschenalter
von 1815 bis 1830 so übel angeschlagen, daß er vor jedem Wiederholungs¬
versuche abschreckt. Die Lehre der Geschichte ist in dieser Hinsicht deutlich genug.
Die wallonischen Landesteile würden sich allerdings bei dem Stamm- und sprach¬
verwandten Frankreich sehr wohl fühlen. Aber es grenzte an Wahnwitz und
politischen Selbstmord, wollte Deutschland jemals die Maaslinie mit Lüttich und
Namur an Frankreich preisgeben. Und vollends das ungeheuerliche Zerrbild der
Nation luxernboul-ALdise durch Gebiet mit Bewohnern deutscher Sprache zu
erweitern, liegt erst recht kein Anlaß vor.
Der Fortbestand Belgiens als Staat wie die Aufteilung seines Gebietes
nach dem Nationalitätsprinzip sind in gleicher Weise unmöglich. So bleibt nur
die Vereinigung mit dem Deutschen Reiche.
Zur Beruhigung jener ängstlichen Gemüter, die beinahe vor Schrecken vom
Stuhle fallen bei dem Gedanken, daß etwa sechzig belgische Abgeordnete ihren
Einzug in den deutschen Reichstag halten und dort ihre Spektakelstücke auf¬
führen sollen, sei von vornherein bemerkt, daß kein vernünftiger Mensch an eine
Vereinigung etwa nach Art derjenigen Elsaß-Lothringens mit dem Deutschen
Reiche oder daran denkt, den Belgiern jetzt oder für absehbare Zeit das Reichs-
lagswahlrecht zu verleihen. Es gibt andere Mittel und Wege der militärischen,
politischen und wirtschaftlichen Beherrschung. Wenn Deutschland Belgien behält,
so geschieht das nicht, um den Belgiern eine Freude zu machen, oder eine
Wohltat zu erweisen, obschon sie allmählich die Zugehörigkeit zu einem großen
Gemeinwesen schätzen lernen werden. Wir belasten uns mit einem Lande, das
innerhalb des festgefügten Organismus des Reiches vorläufig als Fremdkörper
empfunden werden muß. nur aus bitterer Not, weil wir das Land nicht ent¬
behren können und deshalb seine Bewohner mit in Kauf nehmen müssen. Für
die staatsrechtliche und politische Behandlung des Landes können daher auch
nur die Bedürfnisse des Reiches maßgebend sein. Auch Rom hat die Poebene
und Sizilien, die es zum Abschlüsse der politischen Einigung Italiens brauchte,
Menschenalter hindurch als Provinzen anders behandelt als das übrige Italien,
bis sie endlich unter Caesar und Augustus in die volle Rechtsgemeinschaft auf¬
genommen werden konnten.
Deutschland braucht Belgien militärisch.
Verhältnismäßig leicht ist diesmal trotz der Maasbesestigungen und Ant¬
werpens die Überwältigung geglückt. In einen, künftigen Falle würde man sich
besser vorsehen, und die Maaslinie ebenso von Befestigungen starren, wie die
französische Ostgrenze. Dieses Belgien, eine Schöpfung Englands und Frank¬
reichs und durch die Leiden des jetzigen Krieges verbittert, stände aber immer
Deutschlands Feinden zur Verfügung. Ungedeckt liegt die deutsche Westgrenze
an der Rheinprovinz, die man bisher durch die belgische Neutralität geschützt
glaubte. Dieser Schutz hat versagt, wir bedürfen einer strategischen Grenze.
Diese kann nicht etwa bloß an der Maaslinie liegen. Sie würde allen¬
falls für die Verteidigung der Rheinprovinz genügen. Aber über Ostende und
Antwerpen bliebe immer die deutsche Stellung in der Flanke und bei weiterem
Vorgehen im Rücken bedroht. Damit ergäbe sich die Notwendigkeit einer neuen
Militärischen Eroberung. Und wahrscheinlich würde man sich auch hier besser
vorsehen, als das erstemal und Antwerpen wirklich zu einer uneinnehmbaren
Festung machen.
Denn darüber dürfen wir uns nicht täuschen. Nicht durch Edelmut und
Schonung, namentlich in Gebietsfragen, werden wir unsere Feinde gewinnen.
Sie werden, selbst besiegt, wie das Frankreich von 1870/71 Zeit und Gelegenheit
zur Revanche erwarten. Dagegen hilft nur eins, eine militärische Stellung
Deutschlands, die einen neuen Angriff als aussichtslos erscheinen läßt.
Und für diese militärische Stellung kann einzig und allein Belgien dienen.
Es bildet gewissermaßen eine vorgeschobene Redoute der deutschen Festung gegen
Frankreich und England. In einer langen Linie zieht sich das Land an der
französischen Nordgrenze entlang. Frankreich wird damit von Deutschland an
seiner empfindlichsten Stelle, in seinen reichen Nordproninzen und in der Nähe
seiner Hauptstadt, Paris, wie mit einer Zange gepackt. An eine französische
Offensive nach diesen beiden Seiten, nach Oft und Nord, ist niemals mehr zu
denken. Frankreich wird durch die Natur der Dinge auf die Verteidigung be¬
schränkt. Und das kühlt von selbst alle Rachegedanken ab. Und andererseits:
England ist auf das äußerste bedroht durch ein deutsches Antwerpen und eine
deutsche Kanalküste. Hat man Antwerpen eine Pistole genannt, auf das Herz
Englands gerichtet, so ist das in noch höherem Maße der Fall bei einem
deutschen Flottenstützpunkte im Kanal. England wird daher, selbst besiegt, das
äußerste tun, um die Wiederherstellung Belgiens zu erreichen, schon zu Re¬
vanchezwecken. Gerade deshalb brauchen wir Belgien. Die beständige Be¬
drohung Englands, die in einem deutschen Belgien liegt, nötigt England, nur
an seine Verteidigung zu denken und die Revanche zu vergessen.
Nur der militärische Besitz von ganz Belgien deckt nicht nur Deutschlands
Westgrenzen, sondern bedroht Englands und Frankreichs militärische Sicherheit
in dem Maße, daß sie an keinen Angriffskrieg mehr denken können. Deutsch¬
land hat in vierundvierzigjährigem Frieden bewiesen, daß es nicht kriegslustig
ist, und dabei wird es auch weiter bleiben. Damit sichert der militärische Besitz
Belgiens durch Deutschland allein den Weltfrieden.
Wir brauchen Belgien ferner maritim, sowohl für die Kriegs- wie für die
Handelsflotte. Die längste deutsche Küste liegt an der Ostsee, nur durch die
dänischen Meerengen und durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal mit dem offenen
Meere in Verbindung stehend. Unsere Nordseeküste ist auffallend verkümmert
und umfaßt eigentlich nur die allerdings leicht zu verteidigende, aber auch leicht
abzuschließende Helgoländer Bucht. Wir müssen heraus aus dem Winkel, hat
daher schon Ballin gesagt, der gewiß als Sachverständiger betrachtet werde»
muß. Dagegen gäbe es nur eine einzige Widerlegung, die ein englischer Reeber
versucht, Deutschland werde nach dem Kriege keine Flotte mehr haben. Da
aber Deutschland gewiß nicht untergehen wird, kann es auch nie auf feine See¬
geltung verzichten. Denn seine Zukunft liegt auf dem Wasser. Dazu bedarf
es aber weiterer Zugänge zum offenen Weltmeere. Diese sind vorläufig nur
durch Belgien zu haben.
Die belgischen Häfen leben überdies zum großen Teile von Deutschland.
Lothringen, die Rheinprovinz und ein Teil von Westfalen ist von der deutschen
Nordseeküste zu weit entfernt und auf die belgische Küste angewiesen. Die
belgischen Häfen sind ein Hausschlüssel für Deutschland, und den steckt jeder
in die eigene Tasche. Ihre volle Blüte werden aber die vlämischen Häfen erst
erleben, wenn sie ohne Zollschranke an das große deutsche Hinterland angeschlossen
sind. Deutsche und belgische Interessen gehen hier restlos ineinander auf. Man
hat oft gesprochen und geplant von einer deutschen Rheinmündung. um für
Deutschlands größten Strom einen eigenen Zugang zum Weltmeere zu gewinnen.
Eine solche Mündung im Dollart bei Emden, die bisher allein möglich gewesen
wäre, lag viel zu weit ab von den großen Straßen des Weltverkehrs. Jetzt
haben wir sie in dem herrlichen Hafen von Antwerpen. Die Flußsysteme des
Rheins und der Schelde, durch ein ausreichendes Kanalnetz miteinander und mit
der Donau verbunden, bieten das großartigste mit dem Weltmeere in Verbindung
stehende Gebiet der Binnenschiffahrt, das sich denken läßt.
Belgien ist endlich sür Deutschland wirtschaftlich unentbehrlich.
Das gilt zunächst für die deutschen wirtschaftlichen Unternehmungen, die
sich unmittelbar in Belgien niedergelassen haben. Gerade weil Belgien mit
seiner Küste das Vorland eines der reichsten Teile Deutschlands bildet, mußten
deutsche wirtschaftliche Unternehmungen oder wenigstens Zweigniederlassungen
in großer Anzahl und von hoher Bedeutung das belgische Gebiet aufsuchen.
In einem selbständigen Belgien wäre das für die Zukunft in dem Maße wie
bisher unmöglich. Mag man sich noch so sehr durch vertragsmäßige Bestimmungen
zu sichern suchen, es gibt tatsächlich kein Mittel, wenn eine feindliche Bevölkerung
und eine feindliche Regierung den Deutschen den Aufenthalt im Lande zu
verekeln sucht. Wie soll man sich z. B. gegen den Boykott schützen, zu dem
nicht einmal öffentlich aufgefordert zu werden braucht? Und der Deutschenhaß in
einem wiederhergestellten selbständigen Belgien würde zunächst ungeheuerlich sein.
Dagegen schützt nur die eigene deutsche Verwaltung. Sonst wären deutsche
Unternehmungen in Belgien für die Zukunft fast vogelfrei. Und das siegreiche
Deutschland müßte dies, solange kein förmlicher Rechtsbruch vorliegt, über sich
ergehen lassen, hätte seine Angehörigen jedenfalls in eine schlechtere Wirtschafts¬
lage versetzt, als vor dem .Kriege.
Dazu kommen die Bedürfnisse der deutschen Gesamtwirtschaft. Unbeschadet
der deutschen Einfuhr- und Ausfuhrinteressen, hat gerade der Krieg auf das
klarste gezeigt, daß nur eine im Notfalle auch sich selbst genügende deutsche
Volkswirtschaft großen Weltkrisen gewachsen ist. Damit wird das Ideal von
Fichtes geschlossenem Handelsstaat zu einer Forderung der Gegenwart. Noch
sind wir von diesem Ideale weit entfernt, aber wir müssen ihm im Interesse
unserer nationalen Unabhängigkeit auch auf wirtschaftlichem Gebiete immer
mehr nachstreben. Unsere weltwirtschaftlichen Bestrebungen können ruhig daneben
hergehen.
Für diese in sich geschlossene deutsche Gesamtwirtschaft bieten Industrie und
Bergbau Belgiens in ihrer hohen Entwicklung die notwendige Ergänzung. Wie
wir diese Ergänzung nach der anderen Seite nicht nur in intensiver Landwirt¬
schaft, sondern auch in neuen Ackerbaugebieten suchen müssen, soll hier nicht
weiter ausgeführt werden. Indem Deutschland eines der ersten Industrieländer
der Welt an seine Volkswirtschaft anschließt, steigt es selbst zu einer unbestrittenen
ersten Industriemacht der Welt empor, ohne doch gleich England der Gefahr
ausgesetzt zu sein, seine Landwirtschaft zu vernichten. Auch hier begegnen sich
wieder die Interessen Deutschlands mit denen des belgischen Wirtschaftslebens.
Denn ein reicherer Gewinn kann den belgischen Industriellen nicht in den Schoß
geschüttet werden, als der freie Markt für ihre Erzeugnisse in einem Reiche
von siebzig Millionen, statt in dem bisherigen Kleinstaate.
Es handelt sich nur darum, für den Anschluß Belgiens an das Deutsche
Reich die geeigneten staatsrechtlichen Formen zu finden, die freilich außerhalb
des Nahmens unseres bisherigen Reichsstaatsrechts liegen müssen.
Belgien ist durch völkerrechtliche Eroberung (äebellatio) untergegangen
und völkerrechtlich d. h. im Verhältnisse zu andern Staaten der Völkerrechts¬
gemeinschaft Bestandteil des Deutschen Reiches geworden. Nach Untergang der
eigenen belgischen Staatsgewalt, besteht in ihm keine andere Staatsgewalt, als
die des Reiches. Damit wäre es vorläufig etwa in den Rechtszustand eines
deutschen Schutzgebietes versetzt.
Darin soll es aber nicht bleiben. Es ist wie Elsaß-Lothringen und
Helgoland durch ein den Art. 1 der Reichsverfassung änderndes Gesetz auch
staatsrechtlich dem dort verfassungsmüßig feststehenden Bundesgebiet einzuverleiben
und tritt ihm hinzu. Damit wird es auch staatsrechtlich Reichsland. Die
bisherigen Belgier werden daher deutsche Reichsangehörige und zwar nur Reichs¬
angehörige, da es eine ergänzende Landesstaatsgewalt nicht gibt — es sei denn,
sie beantragen ihre Entlassung und wanderten binnen Jahresfrist nach der
Entlassung aus. In diesem Falle wären sie aber binnen der Frist eines
weiteren Jahres verpflichtet, auch ihren im Inlande befindlichen Grundbesitz
und Gewerbebetrieb bei Vermeidung der Enteignung aufzugeben. Daraus
ergeben sich weitere Folgen für Land und Bewohner.
Das Land ist in jeder Beziehung als Reichsinland zu betrachten. Ins¬
besondere wird es, vorbehaltlich eines Freihafenbezirks bei Antwerpen, in das
deutsche Zollgebiet einbezogen. Es gehört auch zum Reichsgebiete. Die sonst
für die Reichskasse erhobenen Abgaben fließen ihr auch hier zu.
Die Bewohner, mit Ausnahme der ausländischen Staatsangehörigen, sind
Reichsangehörige mit deren Pflichten und Rechten. Sie unterliegen demnach
der allgemeinen Wehrpflicht. Da aber besondere belgische Truppenteile nicht
gebildet werden, können sie ihrer Wehrpflicht nur in der bestehenden bewaffneten
Macht des Reiches genügen. Bis auf weiteres ist es auch ausgeschlossen, daß
sie ihrer Wehrpflicht in den in Belgien stehenden Truppenteilen genügen. Sie
werden in Alt-Deutschland eingestellt. Damit lernt die männliche Jugend nicht
nur die deutsche Sprache, sondern auch deutsche Verhältnisse und Zustände kennen.
Belgier, die in Alt-Deutschland ihren Wohnsitz nehmen, können hier als Reichs¬
angehörige ohne weiteres zum Reichstag wählen, haben auch Anspruch auf
Verleihung der Einzelstaats-Angehörigkeit. In dem bisherigen Belgien selbst
ist die Ausübung des Reichstagswahlrechts ausgeschlossen, da es nicht in Reichs¬
tagswahlkreise geteilt wird. Darin liegt aber keine besondere Zurücksetzung der
Belgier. Denn die in Belgien wohnhaften Alt-Deutschen befinden sich in der¬
selben Lage. Es ist derselbe Zustand, der auch sür die in den deutschen Schutz¬
gebieten angesiedelten Reichsangehörigen besteht, ohne daß sie sich dadurch
benachteiligt gefühlt hätten. Nur in dieser einen Beziehung wird das Land
auf derselben Stufe wie die Schutzgebiete behandelt.
Die Staatsgewalt übt der Kaiser im Namen des Reiches ans — vor¬
läufig unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und in besonderen Fällen,
namentlich bei finanzieller Belastung, solange noch keine eigenen verfassungs¬
rechtlichen Organe im Lande selbst entwickelt sind, unter Zustimmung von
Bundesrat und Reichstag.
Verfassungs- wie verwaltungsrechtlich wird das Land unter Beseitigung
des pseudogeschichtlichen Namens Belgien nach der Sprachgrenze in zwei gänzlich
voneinander unabhängige Reichsländer geteilt, Vlamland mit der Hauptstadt
Brüssel und Wallonei mit der Hauptstadt Lüttich. Das Staatsvermögen wie
die Staatsschulden werden zunächst nach dem Verhältnisse der vom Reiche
unmittelbar übernommenen Verwaltungszweige, wie Heer, Post und der übrigen
zwischen dem Reiche und den beiden Reichsländern und dann der letztere
Vermögensbestandteil zwischen den beiden Reichsländern nach der Kopfzahl der
Bevölkerung verteilt.
Die Aufstellung in zwei Reichsländer entspricht zunächst dem gesunden
politischen Grundsatze des: „Oiviäe et impera".
Sie liegt aber auch in der Richtung der bisherigen politischen Entwicklung,
die das belgische Volk bei Fortdauer seiner Selbständigkeit angesichts des
Zwiespalts der Nationalitäten selbst eingeschlagen haben würde. Vlamen und
Wallonen, beide in der Kunstschöpfung des belgischen Staates zusammengeschweißt,
wollten nichts mehr miteinander zu tun haben. Namentlich die Wallonen
verlangten, wenn die Vlamen die unbedingt notwendige sprachliche Gleich¬
berechtigung erhielten, die administrative Trennung. So wird denn den Belgiern
als Geschenk der deutschen Herrschaft nur das. was sie selbst erstrebten, aber
vielleicht nur auf dem Wege der Revolution erzielt hätten.
Die Teilung in zwei Reichslünder, Vlamland und Wallonei, ist aber auch
durch die sprachlichen Verhältnisse geboten.
Ist Zweisprachigkeit unter Umständen ein notwendiges Übel, so wird Drei¬
sprachigreit, in einem ganzen Lande gleichmüßig durchgeführt, zur Ungeheuer¬
lichkeit. Die in Art. 23 der belgischen Verfassung grundrechtlich gewährleistete
Gleichberechtigung der landesüblichen Sprachen, ist aber auch nie zur Wahrheit
geworden. Die deutsche Sprache in Luxemburg hat daher nie Gleichberechtigung
erlangt, sondern die Deutschen find französisch regiert worden. Das Vlämische
hat die Gleichberechtigung nur allmählich und niemals vollständig errungen.
Erst das deutsche General-Gouvernement hat mit der Gleichberechtigung aller
drei Sprachen ernst gemacht.
Mit der von den Belgiern selbst erstrebten Zweiteilung des Landes ver-
chwindet die Notwendigkeit der Dreisprachigkeit ganz von selbst. Es bleibt
nur Vlamland mit deutscher und vlämischer, und die Wallonei mit deutscher
und französischer Staatssprache. In beiden Reichsländern verkehren die Be¬
hörden in den beiden Staatssprachen, öffentliche Anzeigen und Inschriften sind
nur in einer der beiden Sprachen des Landes zulässig, Zeitungen dürfen nur
in diesen Sprachen erscheinen und zwar vlämisch in Vlamland, französisch in
der Wallonei mit beigefügter deutscher Übersetzung, Unterricht wird in beiden
Landessprachen erteilt, deutsch ist überall Zwangsfach. Vlamland erhält eine
deutsch-vlümische Universität in Gent und die Wallonei eine deutsch-französische
in Lüttich, die freien Partei-Universitäten, die katholische in Löwen und die
liberale in Brüssel, werden als mit dem deutschen Staatsgedanken unvereinbar
aufgehoben.
Abgesehen von dem Vorteile der Zweisprachigkeit vor der Dreisprachigkeit
für das ganze Land, ergeben sich durch die Teilung in zwei Neichsländer auch
noch besondere sprachliche Vorzüge für Vlamland. Der französische Firnis, der
seit den Zeiten der burgundischen Herzöge das niederdeutsche Sprachgebiet des
bisherigen Belgien überzogen, verschwindet ganz von selbst. Die französische
Sprache hat in Vlamland kein H'eimatrecht mehr. Wer nur des Französischen
mächtig ist, oder es für vornehmer hält, sich seiner zu bedienen, muß sich eben
der Landessprache anbequemen oder uach der Wallonei überwandern. Außer¬
dem wird, wenn die vlämischen Soldaten im Heere, die vlämischen Kinder in
der Schule die deutsche Staatssprache lernen müssen, wenn alle öffentlichen Be¬
kanntmachungen und Inschriften, auch die Zeitungen nicht nur vlämisch, fondern
gleichzeitig deutsch erscheinen, die hochdeutsche Schriftsprache ihre natürliche
Überlegenheit über die niederdeutschen Mundarten auch hier beweisen. Ist
doch die Volkssprache diesseits und jenseits der Grenze überhaupt nicht ver¬
schieden, und nur die Erhebung der niederländischen Volkssprache zur Schrift¬
sprache hat eine Schranke gezogen. Mag die vlämifche Volkssprache fort¬
bestehen wie westfälisches oder mecklenburgisches Platt, am reichen Baume
deutschen Volkstums soll kein Ast abgeschnitten werden. Die gebildeten Klassen
Vlamlands, denen das Französische genommen wird, werden es von selbst vor¬
teilhafter finden, sich der Schriftsprache eines Achtzigmillionen-Volkes zu be¬
dienen, als eines vereinzelten deutschen Volksdialekts. So kann Vlamland,
von Jahrhunderte altem französischen Überzug befreit, unmittelbar hinein¬
gezogen werden in deutsches Sprachgebiet und deutsches Kulturleben.
In beiden Reichsländern übt der Kaiser die ihm übertragene Staatsgewalt
durch dem Reichskanzler unterstellte Statthalter zunächst diktatorisch aus. Die
bisherigen Provinzen werden aufgehoben. Sie sind einerseits zu groß für eine
intensive deutsche Verwaltungsarbeit, andererseits, da jedes Reichsland ungefähr
nur die Hälfte des bisherigen Staatsgebietes umfaßt, neben und unter der
Statthalterei überflüssig. Wohl aber empfiehlt sich die Durchführung der
preußischen Kreiseinteilung mit Landräten, unbeschadet der Sonderstellung der
größeren Städte. Kommunale Aufgaben und Vermögen der bisherigen Pro¬
vinzen sind auf die Kreise zu übertragen. Zwischen Reichsland und Gemeinde
findet sich daher der Kreis als einzige Mittelinstanz.
Die erste und vorzüglichste Aufgabe der Diktatur wird es sein, die ge¬
samte Reichsgesetzgebung in den beiden Reichsländern durchzuführen. Daß
dies Jahre langer Arbeit bedarf, versteht sich von selbst. Für die Zukunft
treten allgemeine Reichsgesetze für beide Neichsländer unmittelbar in Kraft.
Es bleibt den Statthaltereien überlassen, vom Reichs gesetzblatte in Vlamland
eine vlämische, in der Wallonei eine französische Übersetzung erscheinen zu
lassen, auch von wichtigeren älteren Werken der Gesetzgebung wie von den
Justizgesetzen, der Gewerbeordnung, der Neichsverstcherungsordnung, vlämische
und französische Übersetzungen zu veranstalten. Für die ganzen älteren Jahr¬
gänge des Reichsgesetzblattes ist das natürlich nicht möglich.
Die zweite Aufgabe der außerhalb des Gebietes der Reichsgesetzgebung
auch mit gesetzgebender Gewalt ausgestatteten Diktatur, ist die Entwicklung ver¬
fassungsmäßiger Einrichtungen in beiden Reichsländern.
Eine geeignete Grundlage dazu ist schon jetzt vorhanden. Wie nahe ver¬
wandt die öffentlichen Rechtszustände Belgiens denen des benachbarten Frank¬
reichs sein mögen, in einem Punkte hat sich doch das germanische Element
Vlamlands durchgesetzt, in der Gemeindcfreiheit. Sie war schon bisher gegen¬
über dem französischen System der Bürgermeistereien und ihrer Abhängigkeit
von den höheren Staatsbehörden der charakteristische Zug in dem öffentlichen
Rechte Belgiens. Diese Selbstverwaltung der Gemeinden zu erhalten und
fortzuentwickeln, ist eine der ersten Aufgaben der deutschen Verwaltung. Nur
eine Schranke ist der Gemeindefreiheit zu ziehen: alle deutschfeindlichen Be¬
strebungen in der Gemeindeverwaltung sind auf das entschiedenste zu unterdrücken.
Läßt sich feststellen, daß die Gemeindeverwaltung weiter ihren ruhigen
und sicheren Gang geht, so läßt sich darauf nach dem Vorbilde der Gemeinde
die Selbstverwaltung des Kreises aufbauen. Er hat alle diejenigen Aufgaben
zu übernehmen, die über die Kräfte der einzelnen Gemeinde hinausgehen.
Erst wenn auch die .Kreisverfassung im Gange ist, wird ein Landtag für
Vlamland und ein solcher für die Wallonei zu bilden sein, am besten durch
Wahl der Kreistage und der Gemeindevertretungen der kreisfreien Städte.
Dieser Landtag hat zunächst nur die kommunalen Interessen des betreffenden
Neichslandes wahrzunehmen. Zeigt sich die Bevölkerung mit den bestehenden
Zuständen einigermaßen ausgesöhnt, so kann man auf die Diktatur der Gesetz¬
gebung verzichten und deu Landtagen ein Zustimmungsrecht zur Gesetzgebung,
soweit sie außerhalb der gemeingültigen Reichskompetenz liegt, also zur so¬
genannten Landesgesetzgebung gewähren.
Nach späterer Erwägung muß es vorbehalten bleiben, ob man einige Abge¬
ordnete, die von den Landtagen aus ihrer Mitte zu wählen wären, erst bloß
mit Redebefugnis und schließlich auch mit Stimmrecht im Reichstage zu¬
lassen will.
Die stetige Förderung dieser Entwicklung ist aber die Aufgabe langer
Jahre. Deshalb empfiehlt es sich, die Diktatur überhaupt nicht zeitlich zu be¬
grenzen, sondern ihr die Wahl des Zeitpunktes zu überlassen, den sie zur Ent¬
wicklung verfassungsmäßiger Zustände für geeignet hält. Besteht man aber
auf einer zeitlichen Beschränkung der Diktatur, so dürfen es nicht weniger als
zehn Jahre sein.
Eine besondere Schwierigkeit der deutschen Verwaltung bietet dabei das
Verhältnis zur katholischen Kirche. Die absolute Kirchen« und Unterrichts
freiheit stößt hier zusammen mit den Lebensbedingungen des paritätischen
Staates. Und darüber darf von vornherein kein Zweifel herrschen, daß der
katholische Klerus, der in Belgien sein Paradies verliert, aufs äußerste deutsch¬
feindlich sein wird. Andererseits wird jeder Versuch, die katholische Kirche
Vlamlands und der Wallonei der Staatshoheit zu unterwerfen, nicht nur im
Innern der beiden Reichsländer den Deutschenhaß neu entflammen, sondern
auch dem Widerspruch des deutschen Zentrums begegnen.
Hier empfiehlt sich für die deutsche Verwaltung ein abwartendes Ver¬
halten. Die Kirchen- und Unterrichtsfreiheit bleibe vorläufig unangetastet unter
entschiedenem Einschreiten gegen deutschfeindliche Bestrebungen. Selbstverständ¬
lich darf der Staat für kirchliche Schulen keine Unterstützungen bezahlen. Will
die Kirche eigene Schulen unterhalten, so muß sie auch die Mittel dafür auf¬
bringen. Und die kirchlichen Schulen unterliegen andererseits der staatlichen
Aufsicht, die namentlich dafür zu sorgen hat, daß den Anforderungen für den
Unterricht in deutscher Sprache Genüge geschieht. Auch Klöster mögen sich
in diesem Eldorado der Mönche und der Nonnen bilden so viel sie wollen.
Doch der Staat kann nicht auf sein Recht verzichten, lästige Ausländer aus¬
zuweisen, auch wenn sie in einem Kloster sind. Und der allgemeinen Wehr¬
pflicht darf man sich auch nicht dadurch entziehen, daß man Mönch wird.
Wenn deutsche Diplomatie und deutsche Verwaltung festzuhalten verstehen,
was das deutsche Schwert gewonnen, dann wird das um Belgien vergossene
Blut nicht umsonst geflossen sein. Und daß der Friede Deutschland Sicherheit
bringt gegen erneute Überfälle seiner Feinde, ist der unerschütterliche Wille des
deutschen Volkes. Diese Sicherheit kann nach Westen nur durch Belgien ge¬
bracht werden. Indem die Feder den Gewinn des Schwertes festhält, ist auch
die Einheit von Volk und Regierung verbürgt und inneren Gefahren vor¬
gebeugt, wie sie vor hundert Jahren der faule Frieden nach den Befreiungs¬
kriegen notwendig mit sich bringen mußte.
Kamen die Ansiedler einzeln oder gruppenweise ins Land? Die Frage
erledigt sich wohl unschwer. Da es sich um die Kolonisierung und Verteidigung
weiter Landstrecken handelte, so muß zweifellos angenommen werden, daß die
Einwanderungen massenweise erfolgten. Einzelne dieser Gruppen sind heute noch
nachweisbar. So werden die Bewohner der Dörfer Karako, Chrappendorf und
Raus als „erste Gäste des Königs" bezeichnet; auch die Orte Winz und
Borberek scheinen eine ähnliche Einheit gebildet zu haben, ebenso der sogenannte
„Unterwald" westlich von Hermannstadt, sodann die Gebiete Schäßburg-Reps,
Mediasch-Schelk, die Gemeinden des Komitatsbodens usw. Im wesentlichen
mögen diese Gruppen den heutigen kirchlichen „Kapiteln" entsprochen haben.
Auch aus der alten urkundlichen Unterscheidung zwischen „frühern" und
„spätern" Flanderern geht hervor, daß die Niederlassungen nacheinander in
einzelnen größeren Komplexen erfolgten. Innerhalb der einzelnen Gruppen
hat dann zweifellos auch eine weitere Jnnenkolonisation stattgefunden. So
berichtet uns die Sage, daß Neustadt im Großkokler Komitat von Neithausen
aus begründet wurde. Infolge eines Streites hätte ein Teil der Bevölkerung
eines Tages erklärt: „Wir wollen ausziehen aus der Stadt des Neides und
uns eine neue Stadt gründen". Daher habe auch Neustadt seinen Namen
erhalten. Auch von Neustadt im Burzenlande heißt es in der Tradition, es
sei eine Tochtergemeinde von Rosenau.
Die meisten Ansiedlungen lagen nicht auf dem Komitatsboden, sondern
auf dem „Königsboten", d. h. auf dem den Einwanderern zur Verfügung
gestellten Gebiete, das diese frei verwalten sollten und über dem außer dem
König niemand Oberhoheitsrechte ausüben sollte. Die Grenzen des Königs-
bodens waren nicht klar umschrieben, denn es war ja Land genug zur Ver¬
fügung, diesseits wie jenseits der Karpathen. Tatsächlich sind schon frühzeitig
viele Auswanderer sogar bis über die „Schneeberge", ins Gebiet der heutigen
Moldau und Walachei ausgeschwärmt.
Der Kampf mit den benachbarten Völkerschaften machte es von vornherein
nötig, die einzelnen Gehöfte möglichst nahe aneinander zu rücken, weil auf
diese Weise die Verteidigung gegen feindliche Überfälle leichter durchzuführen
war. So entstanden in geschützten Waldtälern, dort wo Wasser war, wo
sonnige Höhen den Weinbau ermöglichten und der Boden für den Ackerbau
geeignet schien, geschlossene Reihendörfer, von denen aus nun der Urwald mit
Axt und Feuerbrand gerötet wurde.
Jede Familie erhielt hier durch Auslosung einen Platz für Haus und Hof
und anschließend daran Ackerboden für die Feldwirtschaft. Die einzelnen Lose
oder „Höfe" waren gleich groß. Ihr oberster Eigentümer war grundsätzlich
die Gemeinde, die z. B. den Verkauf eines Hofes an Nichtdeutsche durch den
jeweiligen Inhaber verbot. Der herrenlose Hof fiel an die Gemeinde zurück.
Jeder Besitzer eines Hofes hatte gleichzeitig das Recht auf Benutzung des
der Gemeinde gehörigen Waldes, der Weide und des Wassers; Privatpersonen
durften Wald und Fluß nicht besitzen. Arm und Reich — ein Unterschied, der
in den ersten Jahren der Einwanderung allerdings kaum bestand — hatte so
die Möglichkeit, das Vieh aufs Feld zu treiben, Fischfang und Jagdrecht aus¬
zuüben. — Übrigens wurde auch ein Teil der Wiesen und Äcker als „Gemein-
Landt", d. h. als Eigentum der Stadtgemeinde ausgeschieden und von Zeit
zu Zeit an die Dorfinsassen zu privater Nutznießung verteilt. In vielen Ge¬
meinden gibt es noch heute den gemeinsamen Krautgarten, wo jeder Bewohner
ein Teilchen bebauen darf. Weg und Steg, Lehmgruben und Steinbrüche waren
gleichfalls Besitztum der Gemeinde. Sogar über die Zeit des Anbaus und der
Ernte wurde auf Zusammenkünften der Dorfmark Beschluß gefaßt, der dann
für alle Bewohner bindend war. Wir haben in alledem ein Stück mittelalter¬
lichen Kommunismus vor uns, wie er in Deutschland zu jener Zeit kaum
irgendwo fo ungebrochen anzutreffen war.
Neben den Einzelgemeinden waren auch die großen Gruppenverbände mit
Vermögensrecht ausgestattet. Sie hatten Landstrecken, Dörfer, Einkünfte aller
Art zu gemeinsamem Freitum. Ging etwa eine Gemeinde zu Grunde, so teilten sich
die Nachbargemeinden in ihre Feldmark; sie war eben Eigentum der Gesamtheit.
Natürlich diente ein Teil dieses gemeinsamen Besitzes gleichzeitig zur Be¬
streitung der Ausgaben für allgemeine Kulturzwecke. So waren z. B. bestimmte
Grundstücke für die Erhaltung der Kirche bestimmt. Sie hießen „Meddem"
und wurden an die Bewohner verteilt, die dafür die Verpflichtung übernahmen,
einen Teil der Ernte der Kirche zu überlassen.
Rasch verwandelte sich das Land unter der Arbeit der Deutschen. Es
wurde durch sie der deutschen Kultur gewonnen, sowie es auch durch sie seinen
deutschen Namen „Siebenbürgen" erhielt. Ob er auf die „sieben Stühle" oder
auf die wichtigsten sieben Burgen der Sachsen zurückzuführen sei, ist zweifelhaft;
am wahrscheinlichsten scheint mir die zuerst von Graffius in seiner Schrift „ve
1>an8ylvama" (Altdorf, 1700) vertretene Ansicht zu sein, daß er von der alten
Zibinsburg abzuleiten sei, die ihrerseits den Namen vom Zibinsfluß bezw. von
der Zibinsebene erhalten hat (vergl. auch das rumänische Sidin-Hermannstadt).
Verstand man doch früher unter „Siebenbürgen" vorzugsweife das Hermann¬
städter Gebiet; heute noch sagt der Burzenländer Bauer, wenn er nach Hermann»
stadt reist, er fahre „gen Siebenbürgen".
Über die Zahl der Einwanderer läßt sich wohl kaum etwas Bestimmtes
sagen. Man hat die Zahl der ursprünglichen Höfe auf fünfzigtausend schätzen
wollen. Sicher ist das eher zu hoch als zu niedrig gegriffen. — Umsomehr
Bewunderung verdient die Leistung der Einwanderer. Nicht nur die rund 300
Ortschaften Siebenbürgens, die heute noch deutsch sind, sondern wohl auch die
meisten Orte, die heute entnationalisiert sind und bei denen nur noch ein vor
den Namen gesetztes „Szaß" oder „N6met" (----der Deutsche) verrät, daß hier
einst Deutsche die Herren waren, sind von ihnen gegründet worden. Die zahl¬
reichen Kämpfe, die über das Land gebraust sind, Mongolen- und Türken¬
einfälle, Seuchen und sonstige Nöte brachten es mit sich, daß hier der deutsche
Laut erstarb. An die Stelle der alten Bewohner traten dann später Rumänen
und Maygaren.
„^6 retinLnäam eoronam", zum Schutze der Krone waren die Sachsen
berufen worden, wie die Inschrift des Hermannftädter Wappens besagt. Heute
meh erinnert ein alter Volksbrauch im Dorfe Nadesch daran. Alljährlich treten
an einem bestimmten Tage die Burschen gegürtet, die Tasche an der Seite, den
Streitkolben in der Hand, ihre Fahne vorantragend einen Umzug durch die
Straßen der Gemeinde an. An ihrer Spitze schreitet ein alter Bauer, die
Trommel schlagend. Fragt man aber die Burschen nach der Bedeutung ihres
Tuns, so antworten sie: „Also sind einst unsere Vorfahren, freie Leute, nicht
Jobagyen (-Hörige), wie wir waren, aus Saxonia in dies Land gekommen
hinter der Fahne und der Bunge (---Trommel) her, die Waffen in der Hand
und haben Kriegsdienste getan." (Vgl. Müllers „siebenbürgische Sagen",
Hermannstadt.) Tatsächlich haben diese Kolonien das Gepräge eines einzigen
großen Heerlagers getragen. Ihr Dasein war zwischen schwerer Friedensarbeit
und noch schwereren kriegerischen Tun geteilt. Und wenn es wahr ist, was
Geisas Sohn und Nachfolger, Bela, einmal rühmte, daß er allein von seinen
sächsischen Kolonisten fünfzehntausend Mark Silbers an Abgaben erhalte, so
wäre diese sür damalige Zeiten außerordentliche Summe ein glänzender Beweis
dafür, wie sehr es die Ansiedler verstanden, trotz der gefahrvollen Umstände
den Wohlstand des Landes zu heben.
Andreas der Zweite, Bolas Nachfolger, ist für die Sachsengeschichte insofern
von Bedeutung geworden, als er ihnen den sogenannten „Goldenen Freibrief"
verlieh (1224). Durch ihn wurde das Dasein der Sachsen auf eine erweiterte
und rechtlich gesicherte Grundlage gestellt.
Durch das „Andreanum" wurden sämtliche Kolonien des „alten Landes"
zu einem Gau vereinigt und so die Verschmelzung der Ansiedlergruppen zur
„sächsischen Nation" vorbereitet. An die Spitze des Gaues wurde der „Sachsen¬
graf" gestellt, den der König zu ernennen hatte, der aber seit Mathias Corvinus
von der Stadtgemeinde Hermannstadt gewählt wird; er war der oberste Richter
der Sachsen im Frieden, ihr Heerführer im Kriege. Die Institution des
„Sachsengrafen" besteht auch heute, er hat seinen Sitz in Hermannstadt. —
Im übrigen besaßen die Kolonisten das Recht freier Beamtenwahl, selbständiger
Verwaltung und eigene Gerichtsbarkeit. In Gauversammlungen berieten die
Vertreter des Gesamtgaues über die Angelegenheiten desselben. Ähnlich war
es auch bei den Untergauen oder „Stühlen". Unter freiem Himmel wurde
nach altem deutschen Gewohnheitsrecht Gericht gehalten und Recht gesprochen.
Auch in kirchlicher Hinsicht waren die Sachsen selbständig. Sie wählten
(so wie es noch heute der Fall ist) ihre Pfarrer selbst und zahlten den Zehnten
an sie, nicht an den Bischof, wie das sonst in Ungarn seit Stephan dem Heiligen
Vorschrift war. Die Versuche des Bischofs von Weißenburg (das heutige
Karlsburg in Siebenbürgen) sie seiner Diözese einzuverleiben, hatten schon BSla
den Dritten zur Gründung der Hermannstädter Propstei veranlaßt (1191). Ihr
gehörten die Kapitel von Leschkisch und Schenk an. Diese sowie das Burzen-
land (Umgebung von Kronstäbe) unterstanden demErzbischof von Gran, während
die übrigen Kapitel dem Bischof von Weißenburg untergeordnet blieben. Doch
lag die ordentliche Kirchenregierung in den Händen der Geistlichen und der
von ihnen frei gewählten Dechanten, die bischöfliche Rechte besaßen.
Außer dem bisher Angeführten verlieh das Andreanum den Sachsen
Handels-, Zoll- und Marktfreiheit und befreite sie von den Schädigungen durch
die königlichen Münzwechsler.
Endlich erhielten die Ansiedler das ausschließliche Bürgerrecht auf dem
Königsboten, wodurch sie in den Stand gesetzt wurden, Fremdnationale aus
ihrer Mitte fernzuhalten. Untereinander besaßen sie volle Rechtsgleichheit.
Alle diese Rechte haben die Sachsen mit äußerster Zähigkeit allen Angriffen
gegenüber verteidigt. Sie sind bis heute das Vorbild einer wahrhaft demo¬
kratischen Organisation geblieben. — Wo die Gefahr bestand, daß durch wirt¬
schaftlich überlegene Kräfte in ihrer Mitte soziale Abhängigkeit der Dorfbewohner
sich einstellen könnte, da wehrten sie sich mit aller Gewalt dagegen. Schon im
Andreanum werden die „nach der Weise der Adligen lebenden" Sachsen ge¬
nannt. Diese Feudalen haben zwar Bedeutsames für die Ausbreitung des
Deutschtums in Siebenbürgen geleistet, aber sie gefährdeten andererseits die
Freiheit der Kolonien. Darum war es berechtigt, wenn man mit allen Mitteln
gegen jeden Feudalismus ankämpfte und alle Versuche von Übergriffen ge¬
gebenenfalls mit Gewalt unterdrückte.
Die Pflichten, die den Sachsen durch das Andreanum auferlegt wurden,
waren im Vergleich zu den Rechten sehr gering. Sie mußten 500 Mark Silbers
(---1854 Silbergulden) an jährlichen Abgaben entrichten; außerdem waren sie
verpflichtet im Kriegsfalle innerhalb des Reiches fünfhundert Mann, außerhalb
desselben hundert, oder falls nicht der König das Heer befehligte, fünfzig Mann
für das Heer zu stellen. In gewissen Fällen mußten sie endlich den König oder
seinen Stellvertreter, den Woiwoden von Siebenbürgen, bewirten.
Das Andreanum ist von den späteren ungarischen Königen immer aufs
neue bestätigt worden. Galt es auch anfangs nur der „Hermannstädter Pro-
vinz", so wußten die Sachsen es später doch durchzusetzen, daß das ganze Volk
die gleichen Rechte erhielt. Das ganze Volk ward eins, politisch wie rechtlich.
In wellig mehr als zwei Menschenaltern war die Besiedlung Sieben¬
bürgens einschließlich des Burzenlandes, über das im nächsten Kapitel berichtet
werden soll/erfolgt. Das sächsische Volk ward neben Magyaren und SMern
zur dritten ständischen Nation. Die Leistung, die in diesem kurzen Zeitraum
vollbracht wurde, ist in jeder Weise eine außerordentliche zu nennen. Sie bildet
den würdigen Anfang einer ruhmvollen Weiterentwicklung.
Es läßt sich heute noch verfolgen, in welch planmäßiger Weise die An-
siedlungen in Siebenbürgen erfolgten. Es handelte sich darum, das Land all¬
mählich gegen feindliche Überfälle zu sichern und seine Grenzen allmählich von
Norden nach Süden und von Westen nach Osten bis an den Gebirgsrand oder
gar darüber hinaus vorzuschieben. Demgemäß wurden auch die späteren
Niederlassungen, die durch die Übervölkerung einzelner Muttergemeinden her¬
vorgerufen wurden, in den angedeuteten Richtungen vorgetragen. So ent
standen jene vorgeschobenen Posten des Deutschtums in Siebenbürgen, wie z. B.
Freck und die Abtei Kerz im Alttale. So erwarb sich auch Graf Colardus
Besitzungen im Notenturmpaß und gründete etwas später Johannes Lakmus
an der Kosdbachquelle die „villa Latina" (Voldorf), und es erscheint nicht
ausgeschlossen, daß man allmählich den ganzen Notenturmpaß, dessen strategische
Wichtigkeit auch in den letzten Kämpfen gegen die Rumänen deutlich genug
zur Geltung kam, bis tief hinein ins heutige Rumänien in seinen Besitz zu
bringen suchte.
Unter dem gleichen Gesichtspunkte wurde schließlich das ganze Burzen-
land an die „Deutschen Ritter" vergabt; sie sollten dies Grenzgebiet im
äußersten Südosten des Reiches mit seinen wichtigen Pässen, dem Törzburger,
Temescher und dem Bozapaß, die auch in den gegenwärtigen Kämpfen so viel
genannt werden, verteidigen.
Wie aber kamen die Deutschen Ritter hierher? Aus der Weltgeschichte ist
bekannt, daß sie nach dem Falle von Akkon im Jahre 1191 im Morgenlande
mehr und mehr die Aussicht auf erfolgreiche Betätigung im Sinne ihres
Ordensgelübdes verloren hatten. Sie mußten sich nach einem neuen Wirkungs¬
kreise umsehen, und da ihnen nun Andreas der Zweite, König von Ungarn,
im Jahre 1211 das schöne Burzenland als Lehen anbot, so griffen sie freudig
zu, wohl jetzt schon erkennend, daß sich ihnen hier ein mächtiges Arbeitsgebiet
eröffnete. Wir werden bald sehen, daß es ihnen hier ebenso wenig wie später
in Ostpreußen und Kurland an Ideenreichtum und großen, weit ausschauenden
politischen Gedanken gefehlt hat, wenn ihnen hier auch der letzte, bleibende
Erfolg versagt geblieben ist und somit ihr Wirken in diesen Gebieten mehr nur
den Charakter eines Zwischenspieles an sich trägt.
Die deutschen Ritter zogen sofort nach der Fertigstellung der Lehens¬
urkunde zahlreiche deutsche Kolonisten nach dem Burzenlande, teils aus Deutsch¬
land, teils aus den bereits kolonisierten Teilen Siebenbürgens. Zum Schutze
der Ansiedler und zur Verteidigung der Grenzen erbauten sie in dem vom
König genau umschriebenen Gebiete eine Anzahl „hölzerne Burgen", d. h. Pfahl¬
bürger, in deren Nähe nun die einzelnen Ortschaften des Burzenlandes an¬
gelegt wurden. Es waren im wesentlichen die heute noch blühenden deutschen
Ortschaften in der Umgebung von Kronstäbe.
Bald mußten freilich die Ritter erkennen, daß die Behauptung dieses neu
gewonnenen Besitztums so lange nicht als gesichert gelten konnte, so lange man
den heidnischen Kumanen nicht in ihrem eigenen Lande entgegentrat. Sie
richteten daher ihr Bestreben dahin „jenseits der Schneeberge" selbst festen
Fuß zu fassen. Darum sandten sie zahlreiche deutsche und wohl auch magyarische
Ansiedler ins Gebiet der Kumanen, siedelten sie dort an und errichteten zu
ihrem Schutze starke Festungen.
Es handelt sich dabei vor allem um CÄmpulung am südlichen Ausgange
des Törzburger Passes und um die Lewtea I^eamtului. — In Cumvulung,
das noch auf der von dem siebenbürgischen Reformator Johannes Honterus
ausgeführten ältesten Karte von Siebenbürgen den ursprünglich deutschen Namen
Langenowe (Langenau) führt, haben die Sachsen nachweislich noch im vierzehnten
Jahrhundert eigene „Grafen" gehabt. Heute noch führen die Ruinen eines
uralten Klosters, dessen Gründung auf die deutschen Ritter zurückgeführt wird,
bei der einheimischen rumänischen Bevölkerung den deutschen Namen „cloaZtsr".
Die Bürger von Wmpulung wählten noch später ihre Richter selbständig aus
der Reihe der „Geschworenen". Mit dem Rufe: „Es lebe unser Richter!"
hoben sie den von ihnen erkorenen in die Höhe. Der Fürst der Walachei
hatte nach der zum Ausdruck gebrachten Willenskundgebung der Stadt¬
gemeinde nur das Recht der Bestätigung. — Der Richter war oberster Ver¬
waltungsbeamter und zugleich höchster Vertreter der Gerichtsbarkeit. Markt¬
verkehr, Festsetzung von Maß und Gewicht, Bestätigung von Verträgen und
Testamenten, die Eintreibung der Steuern und Strafgelder lag in seiner
Hand; ja sogar das Strafrecht für „große und kleine Vergehen" (mit Ausnahme
der Todesstrafe) stand ihm zu. — Die deutsche Bevölkerung CLmpulungs hatte
zudem ausschließliches Bürger- und Eigentumsrecht. Auch dies, wie es im
Andreanischen Freibrief festgesetzt war und auch in den sächsischen Städten
Siebenbürgens in Geltung war.
Ähnlich mag es auch in anderen Orten Rumäniens, die von den Deutschen
gegründet waren, gewesen sein, so vor allem in Neamtu, Baja u. v. a. —
Neamtu im besonderen lag bereits im Gebiet der Kumanen. Dem entsprechend
war auch die Burg sehr stark ausgebaut. Ihre Ruinen stehen noch heute. Man
hat in ihnen Steinmetzzeichen aufgefunden, die deutlich darauf hinweisen, daß
wir es hier mit einer Gründung der Deutschen Ritter zu tun haben. Be-
stimmte Eigenarten der Burg, z. B. das Vorhandensein eines langen gemauerten,
über steinerne Torbogen hinführenden Verteidigungsganges außerhalb des eigent¬
lichen Burgvierecks, der sich sonst nur bei syrischen Burgen der Deutschen Ritter
und vor allem bei der Marienburg in Ostpreußen vorfindet, erhärten noch diese
Annahme. Übrigens heißt heute noch der ganze Distrikt und seine Haupstadt
Neamtu, d. i. der Deutsche. Die zahlreichen Orts- und Flußnamen dieser
Gegend, die entweder das Wörtchen „sag" („Sachse") oder neant („Deutscher")
enthalten, z. B. Scisca, Sasesci, Sasisoara, Sasoul, Nemtisor usw.. zeigen
uns zudem, wie ausgebreitet die hierher verpflanzte sächsische Kolonie einst ge¬
wesen sein muß. Leider hatte sie unter den Unbilden der Folgezeit nicht so
dauernden Bestand wie die Burzenländer Siedelungen, die sich bis auf diesen
Tag deutsch erhalten haben.
Zweifellos haben bereits jetzt die Deutschen Ritter begonnen, auch ihre im
Burzenland errichteten Befestigungen in Steinburgen umzuwandeln. Es war
dies durchaus notwendig, wenn sie wirklichen Schutz gegen die feindlichen An¬
griffe bieten sollten; denn abgesehen von allen anderen Mängeln waren die
Pfahlbauten gegen Brandpfeile, die der Feind gewöhnlich verwendete, wehrlos.
So entstanden jene schönen, von den Bergeshöhen weit ins Land hinauslugenden
Burgen, deren Trümmer zum Teil heute noch eine Sehenswürdigkeit des an Natur¬
schönheiten so außerordentlich reizvollen Burzenlandes bilden, so die Marienburg
bei der gleichnamigen Ortschaft im Norden von Kronstäbe, die Brassoviaburg auf
dem Kapellenberge bei Kronstäbe, die freilich bis auf geringe Reste abgetragen
wurde; ferner die Kreuzburg bei Tartlau, die Rosenauer- und die Törzburg.
Dies selbstherrliche Vorgehen der Ritter erweckte die Eifersucht und die
Besorgnis Andreas des Zweiten. — Es kam zu langwierigen Verhandlungen
und erst unter dem Druck beunruhigender Nachrichten von einem bevorstehenden
Angriff der heranziehenden Tataren kam es zur Versöhnung: Andreas der Zweite
bestätigte den Ordensmagister Hermann und seine Ritter nicht nur in ihrem bis¬
herigen Besitztum, sondern er schenkte ihnen außerdem noch alles Land bis zur
Grenze der Brodniker (zwischen Seret und Prut wohnender slawischer Be¬
völkerung) und bis zur Donau! Zugleich erteilte er ihnen die Erlaubnis, in'
dem ganzen Ordensgebiete steinerne Burgen (früher sprach er immer von
„hölzernen") zu errichten und Städte zu gründen. Auch sollten sie das Recht
freien Durchgangs durch das SMerland im Osten Siebenbürgens und durch
die „tsi-ra, Llacorum" (^ das „walachische Land") besitzen. Allerdings erließ
Andreas gleichzeitig den Befehl, daß künftig niemand von seinen „Untertanen
oder Gästen" ins Ordensgebiet auswandern dürfe; die Ritter sollten Zuwider¬
handelnde ihm ausliefern.
Damit war der Deutsche Orden im diplomatischen Kampf mit Andreas
dem Zweiten Sieger geblieben. Zwar erhielt er sein Gebiet auch jetzt als
Lehen aus des Königs Hand, doch er hatte zugleich durch diese Einsetzungs-
urkunde vom Jahre 1222 so große Selbständigkeit errungen, daß es nur
einiger Machtzunahme oder nachdrücklicher Unterstützung von außen her be¬
dürfte, um aus diesen Besitzungen ein unabhängiges Staatswesen zu schaffen.
Und dahin ging tatsächlich das Streben des Ordens!
Zunächst ließ er seinen Besitz im Jahre 1222 auch durch Papst Honorius
den Dritten bekräftigen. Schon im folgenden Jahre bewilligte der Papst ein
Gesuch der Deutschen Ritter, in dem sie um eine geeignete Person als Dekan
des „Burzenlandes und des Landes jenseits der Schneeberge" baten. Honorius
bestimmte, daß dieser Dekan sonst niemandem Untertan sein solle als dem römi¬
schen Stuhl. In Streitfragen sollten sich die Geistlichen des Ordensgebietes an
ihn wenden, bis sich das Volk dieses Gebietes so weit gemehrt habe, daß ihm
ein eigener Bischof gegeben werden könne. Es ist dies der auf kirchlichem
Gebiete vorbreitete erste Schritt zur erstrebten Selbständigkeit gegenüber Ungarn.
Die Bevölkerung und die Kleriker werden in dieser bedeutsamen Urkunde zu
einmütigem Gehorsam gegen den Dekan ermahnt, da durch Einigkeit die kleineren
Dinge wüchsen und die großen in ihrer Größe erhalten würden.
Der Papst hatte mit dem Ordensgebiete wirklich große Dinge vor und stellte
es darum 1224 direkt unter seinen Schutz. Er tat es, um so der Aus¬
wanderung hierher einen neuen Aufschwung zu verleihen und die Bevölkerung
zu vermehren — zum Nutzen und Gewinn der Christenheit und des heiligen
Landes. Diese letzte Bemerkung des Papstes läßt uns einen tiefen Einblick tun
in seine Gedankengünge. Wenn sein Plan gelang, so wurde die Entwicklung
des südöstlichen Europa tatsächlich „in neue Bahnen" gelenkt. Ein deutscher
Balkanstaat in nächster Nachbarschaft Ungarns, unter päpstliche Oberhoheit ge¬
stellt und einzig und allein den Zwecken des Heiligen Stuhles dienend, ein
Staatswesen, das vielleicht bis Byzanz hinunter vordrang, mußte nicht nur die
so lange vergeblich erstrebte Union mit der griechischen Kirche gewaltig fördern,
sondern schließlich auch die Eroberung des heiligen Landes in greifbarere Nähe
rücken. Vielleicht konnte auf diesem Wege das Ziel erreicht werden, das einst
den Kreuzfahrern vorgeschwebt hatte!
Aber wurde durch eine derartige Politik nicht zugleich die Macht des ungarischen
Staates wesentlich gefährdet? Andreas der Zweite merkte die Gefahr, in der er
schwebte und machte sich daher mit ungewohnter Energie an ihre Bekämpfung.
Eine Handhabe zum Einschreiten gegen die Ritter bot ihm jenes oben erwähnte
„Auswanderungsverbot" vom 7. Mai 1222. Die Ritter hatten sich nicht daran ge¬
halten. Im Gegenteil! Sie hatten gerade darnach gestrebt, möglichst viele Kolo¬
nisten aus Siebenbürgen nach Kumanien zu ziehen. Bei diesem Punkte konnte
der König die Ritter fassen. — Er erhob Vorwürfe gegen sie. Die Ritter da¬
gegen betonten ihre für die Christenheit so heilsamen Absichten. Von Honorius
wurden sie dabei zum Ausharren ermutigt und mit allerlei schönen Hoffnungen
hingehalten. Da eine Einigung unmöglich war, entschloß sich Andreas zum
bewaffneten Einschreiten. An der Spitze eines großen Heeres drang er im
Burzenlande und in Kumanien ein und besiegte die Ritter und ihre Gefolgs-
M
lente unter den Mauern einer ihrer „sehr starken Burgen". — Wir verzichten
auf den Versuch die Frage zu entscheiden, wo die große Entscheidungsschlacht
zwischen Andreas und den Rittern stattgefunden, ob bei Cümpulung oder bei
Neamtu? Jedenfalls wurde das ganze Gebiet nun mit einem Schlage den
Rittern entwunden und damit wurden auch all die kühnen Kombinationen des
Papstes und der Ritter vernichtet.
Zwar wurde alles versucht, das Ordensland wieder zu gewinnen. Lang¬
wierige Verhandlungen zwischen den Päpsten und der ungarischen Krone wurden
über diese Frage angeknüpft. Allerdings ohne Erfolg. Einerseits waren
nämlich weder Andreas noch sein Sohn B6la zur Nachgiebigkeit geneigt,
andererseits wieder konnte der Ordensmeister Hermann von Salza der Sache
nicht mit genügendem Nachdruck sich widmen, da er 1226, einem Rufe des
Herzogs Konrad von Masovien folgend, seine Ritter an die untere Weichsel
geschickt hatte und hier durch seine kolonisatorische Tätigkeit sowie durch seine
Eroberungskämpfe gegen die heidnischen Preußen vollständig in Anspruch ge¬
nommen war. So geriet dann der einstige Besitz des Burzenlandes schließlich
doch in Vergessenheit.
Dort droben im Norden aber haben die Deutschen Ritter unter unsäglichen
Mühsalen und in unvergleichlichen Heldenkämpfen ihre große weltgeschichtliche
Aufgabe, die sie zuerst im Südosten Europas in Angriff nehmen wollten, wirk¬
lich erfüllt. Was Preußen heute ist, verdankt es zu einem großen Teile ihrer
aufopferungsvollen Tätigkeit. — Noch heute aber finden wir — vorwiegend
allerdings im eigentlichen Burzenlande — die Spuren ihres Wirkens. Dort
stehen noch die stolzen Trümmer ihrer Burgen, dort blühen noch die Ortschaften,
die sie einst gegründet, dort klingt noch die altertümliche deutsche Mundart, die
ihre Gefolgsmannen einst gesprochen und in manchem Hause erzählt noch der
Vater den aufhorchenden Kindern von den deutschen Helden, die hier in grauer
Vorzeit so Großes gewollt.
Im Jahre 1912 sollte im großen Stil die siebenhundertjährige Erinnerungs¬
feier an die Einwanderung der Deutschen im Burzenlande begangen werden.
Aus verschiedenen Gründen wurde die Feier verschoben und dann kam der große
Weltkrieg, und der Gedanke an das große Jubelfest mußte fallen gelassen werden.
Aber an die Stelle der Erinnerungsfeier trat in unseren Tagen das große Er¬
leben. Wieder stehen deutsche Helden auf jenem Boden, da einst Schild und
Speer der Ritter erklungen waren. Als Befreier ihrer fast vergessenen Brüder
als Retter in ihrer Not sind sie gekommen. Wer mag sich die überwallende
Freude, die tiefe, dankbare Begeisterung vorstellen, die die Sachsen beim Anblick
der feldgrauen Brüder aus dem „Reich" erfüllt hat? Ja, das gesamte Deutschtum
darf sich der großen Siege in Siebenbürgen freuen. Denn sie zeigen, daß der
Geist treuen, zähen, unerschrockenen Vorwärtsstrebens, von dem einst die Deutschen
Ritter beseelt waren, auch heute noch in unserem Volk mit ungeschwächter Kraft
fortwirkt
es stehe vor eitlem grünen Baume. Ich erkenne ihn und urteile:
dieser Baum ist grün. Der Philosoph interessiert sich bei diesem
Tatbestand vor allem für zwei Dinge: erstens für die Wirklichkeit
des Baumes, zweitens für die Wahrheit des Urteils über ihn.
Zwei Auffassungen stehen hier einander gegenüber.
Erste Auffassung: Ich bin überzeugt, daß wenn ich die Augen schließe,
mich abwende oder weggehe, der Baum doch noch „da" ist. Ich bin über¬
zeugt, daß der Baum nicht zu existieren aufhört, auch wenn niemand ihn wahr¬
nimmt. Ich merke, daß — wenn ich fortgegangen war und den Baum von
neuem wahrnehmen will — ich ungefähr die gleiche Situation wieder herstellen
muß, wie bei der früheren Wahrnehmung. Der Baum zeigt sich dann oft
ohne mein Zutun und vielleicht sogar gegen meinen Willen und gegen mein
Wünschen verändert. Blätter sind abgefallen, Äste geknickt usw. Alle diese
Erfahrungen nötigen mich, dem Baum eine von mir und meinem Zutun, von
meinem Wahrnehmen, Erkennen, Denken usw. völlig unabhängige, selbständige
Wirklichkeit zuzuschreiben. Diese Wirklichkeit nennen wir reale Wirklichkeit und
bezeichnen die Auffassung, daß alle Wirklichkeit reale Wirklichkeit sei, als
(extremen) Realismus. Da die Wirklichkeit sich von mir und meinem Zutun
unabhängig erweist, so kann auch die Wahrheit meiner Erkenntnisse von dieser
Wirklichkeit nicht von mir und meinem Zutun abhängig sein. Ob mein Urteil:
dieser Baum ist grün — wahr oder falsch ist, hängt nicht von mir, dem
erkennenden Subjekt, sondern von dem Baume, dem erkannten Objekt ab. Ich
will nicht im Sinne der gewöhnlichen und überlieferten Auffassung behaupten,
daß die Wahrheit meines Urteils in dessen Übereinstimmung mit seinem Gegen¬
stand (Baum) bestehe. Denn das würde voraussetzen erstens, daß ein Urteil
auch nicht mit „seinem" Gegenstand übereinstimmen kann und zweitens, daß unser
Erkennen die Aufgabe und Möglichkeit habe, das Wirkliche vorstellungsmäßig
abzubilden, gleichsam Photographien des Wirklichen in unserem Bewußtsein zu
entwerfen. Zwei sehr anfechtbare Voraussetzungen! Aber behaupten will ich,
daß die Wahrheit meines Urteils nicht bloß für mich subjektiv gilt, sondern
daß sie eine vom Objekte (Baum) bestimmte, von ihm irgendwie abHangende,
objektive Geltung hat. Meinem Realismus im Wirklichkeitsproblem entspricht
mein Objektivismus im Wahrheitsproblem.
Zweite Auffassung. Wenn ich von dem „wirklichen" grünen Baum rede,
so kann ich damit vernünftigerweise nichts anderes meinen, als den grünen
Baum, den ich wahrnehme. Der Baum, den ich wahrnehme, existiert aber
lediglich in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein — in seinem „Wahr¬
genommenwerden", wie Berkeley sagte. Also existiert der „wirkliche" grüne
Baum nur in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein, in seinem Wahr¬
genommenwerden. Seine Wirklichkeit ist eine von meinem Bewußtsein, speziell
meinem Wahrnehmen abhängige, eine ideale Wirklichkeit. Ich bezeichne die
Auffassung, daß alle Wirklichkeit ideale Wirklichkeit sei, als (extremen) Idealismus.
Da die Wirklichkeit sich von mir und meinem Bewußtsein abhängig erweist,
so muß auch die Wahrheit meiner Erkenntnisse von dieser Wirklichkeit von mir,
dem erkennenden Subjekte, irgendwie abhängig sein. Ob mein Urteil: dieser
Baum ist grün — wahr oder falsch ist, hängt lediglich von mir ab und von
den subjektiven Erkenntnisbedwgnngen, unter denen ich stehe. Die Wahrheit
meines Urteils hat nur subjektive Geltung. Meinem Idealismus im Wirklich¬
keitsproblem entspricht mein Subjektivismus im Wahrheitsproblem.
Eine dritte, moderne Auffassung kritisiert die beiden traditionellen ersten.
Sie sagt: Realismus-Objektivismus und Idealismus-Subjektivismus greifen
die in Frage kommenden Probleme viel zu plump an und gehen nicht in die
Tiefe. Es genügt nicht, zwischen dem wirklichen Baum einerseits und meinem
Baumwahrnehmen, Baumerkennen andererseits zu unterscheiden. Die Tatsache,
daß mein Baumwahrnehmen eben ein Baum wahrnehmen ist und sich insofern
vom Stuhlwahrnehmen, Bergwahrnehmen usw. unterscheidet, die Tatsache also,
daß mein Wahrnehmen (und mein Erkennen überhaupt) einen bestimmten
Inhalt hat, nötigt mich, neben wirklichem Baum und Baumwahrnehmen noch
ein drittes anzunehmen. Nämlich jenen Inhalt. Der Baum, so wie er Inhalt
meines Bewußtseins ist, so wie er von mir wahrgenommen wird, so wie er
mir „erscheint", ist etwas anderes als der realwirkliche Baum. Ich muß
zwischen die Welt der real-wirklichen Dinge und die Welt meiner Erlebnisse,
meiner Bewußtseinsfunktionen (Wahrnehmens, Erkennens usw.) noch gleichsam
eine Zwischenwelt schieben: die Welt der Erscheinungen, der Phänomene.
Damit habe ich die grundlegende Überlegung einer Auffassung grob
skizziert, die in der Gegenwart — in immer anderen und anderen Wendungen —
eine wachsende Schar von Anhängern gefunden hat. Ich will sie den Phäno¬
menalismus nennen, wobei ich mir bewußt bin, einen vieldeutigen Ausdruck,
den viele in anderem Sinne verwenden, so wie es eben mir paßt, verwendet
zu haben. Der in diesem Sinne verstandene Phänomenalismus kann als eine
Auffassung des Wirklichkeitsproblems angesehen werden, die weder Realismus
noch Idealismus ist. Was entspricht ihm im Wahrheitsproblem? Hier kann
es kein Zwischending zwischen Objektivismus und Subjektivismus geben. Eine
Wahrheit, die weder vom erkennenden Subjekt noch vom erkannten Objekt
bestimmt werde, weder von diesem noch von jenem abhänge, also weder sub-
jektive noch objektive Geltung haben könnte, ist ein Unding! Der Phänomenalist
im Wirklichkeitsproblem muß konsequenterweise den Wahrheitsbsgriff überhaupt
ablehnen. Das erkennende Subjekt kommt nicht an die Wirklichkeit heran, die
Wirklichkeit dringt nicht bis zum Subjekt. Zwischen beide schiebt sich die Mauer der
„Erscheinungen". Alles Wahrnehmen, Erkennen, Urteilen usw. geht auf Erschei¬
nungen. Eine Wahrheit aber, die nicht für das Subjekt, nicht für das Objekt, son¬
dern nur für die Erscheinung gilt, ist keine Wahrheit mehr, sondern — Fiktion.
Wenn mein Urteil: dieser Baum ist grün — weder für mich noch mit
Bezug auf den wirklichen grünen Baum Geltungswert besitzt, dann kann von
seiner Wahrheit oder Falschheit überhaupt nicht mehr die Rede sein. Das
wahre oder falsche Urteil wird zur zweckmäßigen oder unzweckmäßigen Fiktion.
Dem Phänomenalismus im Wirklichkeitsproblem entspricht der Fiktivismus im
Wahrheitsproblem.
Vaihingers „Philosophie des Als-Ob" wurde bereits im Jahrgang 1912
der „Grenzboten" kurz besprochen. Inzwischen ist (1913) eine zweite Auflage
des umfangreichen und gehaltvollen Werkes erschienen. Den großen äußeren
und inneren Erfolg erkläre ich mir teilweise dadurch, daß Vaihinger als erster
die von mir skizzierte dritte Auffassung wirklich vollständig und konsequent
durchführte. Die Phänomenalisten haben bisher nicht klar genug erkannt, daß
sie im Wahrheitsproblem FMvisten sein müssen. Vaihingers Als-Ob-Ein¬
stellung hätte sich ihnen von selbst ergeben müssen. Der naive Mensch lebt in
der Welt der Erscheinungen, er verhält sich aber in seinem Denken und Handeln
so, „als ob" diese Welt der Phänomen« die wirkliche Welt wäre. Freilich ist
er sich dessen nicht bewußt. Erst der phänomenalistische Erkenntnistheoretiker
durchschaut diesen Tatbestand. Er gelangt zur bewußten Als-Ob-Betrachtung,
zur Fiktion. Unser Wahrgenommenes, Erkanntes, Gedachtes (als Inhalt) usw.
ist nicht — wie der Naive meint — das Seiende; aber wir müssen es — und
zwar bewußt — so betrachten, als ob es das Seiende wäre. Wer sich einmal
zu diesem Standpunkt bekannt hat, für den gibt es eigentlich gar keine Grenzen
für die Fiktionen. Deren Reich erstreckt sich so weit wie das Reich der Er¬
scheinungen d. h. ins Grenzenlose! Kein Wunder daher, daß Vaihinger seine
Philosophie des „AIS-Ob" in breitester Ausspinnung und mit großem Arbeits¬
erfolg auf-alle theoretischen und praktischen Gebiete, auf Mathematik, Natur¬
wissenschaften, Kulturwissenschaften ausdehnen kann und daß er geschichtliche
„Bestätigungen" in reichstem Maße beizubringen vermag. Besonders wertvoll
find die Erörterungen über den methodologischen Gegensatz zwischen Fiktion
und Hypothese, die der Verfasser selbst den Kern des ganzen Buches nennt.
Eine immanente Kritik wird gegen die Lehre von den Fiktionen schwerlich viel
einwenden können. Der Als-Ob-Standpunkt ist von Vaihinger folgerichtig,
weitausgreifend und teilweise in glänzender Dialektik durchgeführt. Die allzu
große Breite der Darstellung und die häufigen Wiederholungen werden durch
die außergewöhnliche Entstehungsgeschichte des Werkes entschuldigt.
Anders wie die immanente hat sich die transzendente Kritik zu verhalten.
Der „idealistische Positivismus" — wie Vaihinger seinen Standpunkt nennt
— unterliegt meines Erachtens grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Be¬
denken. Ich weiß, daß Vaihinger mir nicht zugeben wird, dieser Standpunkt
sei mit dem identisch, was ich „phänomenalistischen Fiktivismus" nannte. Ich
vermag jedoch hier keinen Unterschied zu sehen. Dann aber lautet mein Be¬
denken kurz: Vaihingers Philosophie des Als-Ob ist selbst eine Als-Ob-Be¬
trachtung, seine Lehre von den Fiktionen ist selbst eine Fiktion. Eine solche
von hohem erkenntnistheoretischen Arbeitswert freilich — aber doch nur eine
Fiktion. Nach Vaihingers eigner Lehre sind alle echten Fiktionen widerspruchs¬
voll. Seine Philosophie des Als-Ob ist eine echte Fiktion. Also ist sie
widerspruchsvoll. In Diallelen, Zirkeldefinitionen und petitiones pnneipii
treten diese unvermeidlichen Widersprüche zu Tage. Als Beispiel hierfür er¬
wähne ich nur den grundlegenden Begriff des ganzen Werkes: den der Fiktion.
Was ist eine Fiktion? Produkt der fiktiven Geistestätigkeit. Was ist fiktive
Geistestätigkeit? Eine solche, die logische Methoden benutzt, welche mit Hilfs¬
begriffen arbeiten. Was ist ein Hilfsbegriff? Eine Fiktion!
Nach Vaihinger sind es die Merkmale jeder echten Fiktion, daß sie wider¬
spruchsvoll und doch zweckmäßig ist, daß sie vom Bewußtsein ihrer Fiktivität.
begleitet ist und daß sie im Laufe der Denkrechnung wegfällt. Daß die
Philosophie des Als-Ob eine äußerst zweckmäßige, weil fruchtbare erkenntnis¬
theoretische Arbeitsfiktion (ich sage absichtlich nicht: Arbeitshypothese) ist, habe
ich Vaihinger oben bereits anerkennend zugestanden. Erklärt er mir nun seiner¬
seits, auch das Bewußtsein der Fiktivität zu haben d. h. seine Philosophie des
Als-Ob nur als Fiktion und nicht als Wissenschaft von den sachlichen Grund¬
lagen unseres Erkennens anzusehen, so ist zwischen uns keine Meinungs¬
verschiedenheit mehr. Allerdings noch unter einer Voraussetzung: Vaihinger
muß mir zugeben, daß auch dieser Widerspruch im Laufe der Denkrechnung
herausfallen muß! Jede Wissenschaft, also auch die Philosophie und speziell
die Erkenntnistheorie darf sich — ja muß sich sogar — der Fiktionen
bedienen. Aber sie ist darum doch keineswegs selbst ein Inbegriff von
Fiktionen. Was aber Vaihinger „Philosophie" des Als-Ob nennt, ist selbst
ein Inbegriff von Fiktionen. Ich meine aber: die Wissenschaft, die Philosophie
kann sich zwar — ja, sie muß sich — der Als-Ob-Betrachtung bedienen, sie
ist aber nicht selbst ein Inbegriff von Als-Ob-Betrachtungen. Diese müssen
vielmehr im Laufe der Denkrechnung wegfallen. Das tun sie, wenn man die
Voraussetzung aufhebt, als deren unvermeidliche Konsequenz sie sich ergaben.
Das ist die im Phänomenalismus steckende Voraussetzung.
Die grundlegende Voraussetzung eines philosophischen Systems steckt alle¬
mal — versteckt oder offen — im Wirklichkeitsproblem. Was für eine Philo¬
sophie einer wähle — fo kann man in Abänderung eines bekannten Fichte-Wortes
sagen —, hängt davon ab, wie er sich zum Wirklichkeitsproblem stellt. Ein
philosophisches System steht und fällt mit seinem Wirklichkeitsbegrtffe. Der
Wirklichkeitsbegriff der Philosophie des Als-Ob kann meines Erachtens kein
anderer sein, als der des Phünomenalismus. Dieser Wirklichkeitsbegriff aber
muß fallen. Und mit ihm eine besondere „Philosophie" des Als-Ob. Das
methodische Hilfsmittel der Als-Ob-Betrachtung in der Philosophie dagegen
darf — ja muß sogar — bestehen bleiben. Diese letztere Erkenntnis den
Philosophen aller Richtungen — Realisten und Idealisten — energisch zum
Bewußtsein gebracht zu haben, ist das bleibende, große Verdienst des Vai-
hingerschen Werkes.
Warum aber muß der Wirklichkeitsbegriff des Phänomenalismus fallen?
Weil es unerlaubt ist, eine Welt der Phänomen« zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit aufzubauen. Zwischen meinem Baumwahrnehmen und dem wirk¬
lichen Baum drängt sich kein „Baum als Erscheinung". Nichts zwingt uns,
anzunehmen, daß unser Wahrnehmen, Erkennen usw. nicht an die wirklichen
Gegenstände „herankönne". Die Schlacken des Idealismus hasten dem
Phänomenalsten noch an. Er macht sich von ihnen frei, wenn er einsieht, daß
Baumwahrnehmen und Baumwahrnehmen (Inhalt und Funktion des Be¬
wußtseins) nicht verschiedene Realitäten sind, sondern lediglich Unterschiede der
Betrachtungsweise. Vergleiche ich das Baumwahrnehmen mit dem Baumerinnern,
Baumeinbilden, Baumdenken, so fasse ich es als Baumwahrnehmen. Vergleiche
ich dagegen das Baumwahrnehmen mit dem Bergwahrnehmen, Stuhlwahr¬
nehmen usw., so lerne ich es als Baumwahrnehmen kennen. Es ist aber ein
Unterschied, ob eine und dieselbe Wirklichkeit sich auf zwei verschiedene Weisen
betrachten läßt, oder ob es sich um zwei realiter verschiedene Wirklichkeiten
handelt. Bewußtseinsfunktionen und Bewußtseinsinhalte sind ein und dieselbe
(psychische) Realität und es läßt sich aus den Inhalten nicht eine neue
phünomenologische Realität herausklauben, die sich zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit schöbe. Für den kritischen Realismus kann die Philosophie nicht
ein Inbegriff von Fiktionen, sondern sie muß ein Inbegriff wahrer Erkenntnisse
von wirklichen Dingen sein.
Der junge Graf Franz Flayn ist von seiner großen Ausfahrt aufs hohe
Meer des Lebens enttäuscht und ratlos heimgekehrt. Er hat Städte und Länder
gesehen, Menschen kennen gelernt, ernstliche Mühe auf Malen und Experimental-
Vsychologie verwandt, aber seine Mühen und Leistungen find in Fachkreisen nicht
ernst genommen worden, weil er's als vermögender Graf nicht nötig hat. Er
weiß nun nicht mehr, wofür und wozu er weiter leben soll, und fragt den Onkel
Domherrn. Der weltkluge Prälat spottet über die Modeschrullen der heutigen
jungen Herren. „Weit ist es mit euch gekommen. Und spürt ihr denn nicht,
daß ihr damit abbaute? Ein Flayn, der das Gefühl hat, sich durch irgendeine
Tat, durch irgendein Werk erst so zusagen rechtfertigen zu müssen, ist kein Flayn
mehr, denn wodurch unterscheidet er sich dann noch von einem Herrn Meier
oder Müller? Selbst ist der Herr Meier nichts, er ist nur die Person seiner
Leistung ...... Die Meier und Müller müßten sich, sobald es ihnen nur erst
einmal bewußt wird, doch aufhängen. Daher die tiefe Sehnsucht aller Völker in
allen Zeiten nach Menschen, die nicht bloß Mittel, sondern um ihrer selbst willen
da sind, nach Menschen, die nicht das Rad zu drehen haben, sondern für die
das Rad gedreht wird......Der größte Narr aber ist ein zweckloser Mensch,
der sich zum bloßen Mittel degradiert; die größte Dummheit des Adels ist es,
wenn er auf einmal ein schlechtes Gewissen hat. Habt ihr die Kraft nicht mehr,
das den Völkern unentbehrliche Bild des reinen, zwecklosen, schönen Seins zu
geben, dann packt nur ein und werdet Meier und Müller." Das römische
Glaubensgericht würde, wenn Zingerl denunziert würde, seine These vom zweck¬
losen Adel kaum zum Dogma erheben, aber er kann sich auf eine Autorität be¬
rufen, die bei den Weltlenker mehr gilt als das unfehlbare Lehramt. Wilhelm
Meister definiert in dem Briefe an Werner (3. Kapitel des 6. Buches der Lehr¬
jahre) den Unterschied zwischen dem adligen und dem bürgerlichen Dasein un¬
gefähr ebenso. Gewöhnliche Leser werden sagen, Hermann Bahr lasse in seinem
neuesten Romane zu wenig geschehen und zu viel raisonnieren und reflektieren; er
hätte an mehreren Stellen, wie Bulwer an einer Stelle des Disowned, dem
Mr. Reader raten sollen, ein paar Seiten zu überschlagen. Abgesehen jedoch
davon, daß Bahr mit besserem Geschmack als Bulwer nicht als Autor philo¬
sophiert, sondern seine Personen philosophieren läßt, ist ihm der Leser, der aus
Romanen gerne auch etwas lernt, für diese Abhandlungen dankbar, denn sie ent¬
halten nicht allgemeine Psychologie wie die des großen Briten, sondern enthüllen
(vorausgesetzt, daß Franz Flayn nicht ein Einzelfall, sondern ein Typus sein soll)
eine Krise des österreichischen Adels. Dieser war im vorigen Jahrhundert leicht-
ledig und gleich der internationalen Intelligenz teils religiös indifferent teils
irreligiös. Der Klerus war verachtet (worüber sich die Geistlichen aus Preußisch-
Schlesien, die in den böhmischen Bädern ihre dortigen Konfraters kennen lernten,
nicht gewundert haben). In den nationalen Kämpfen der achtziger Jahre steigerte
sich beim deutschgesinnten Teile der Vornehmen die Irreligiosität zum Kirchenhaß.
Dieser Adel scheint nun also jetzt die Umkehr antreten zu wollen, die in Deutsch
land vom Kölner Konflikt (1836) an die ganze Oberschicht der katholischen Be¬
völkerung ergriffen und im Kulturkampf ihren vorläufig definitiven Abschluß
gefunden hat. Die Monologe des Grafen und seine Gespräche mit dem Dom¬
herrn bewegen sich nämlich nicht um das Adelsthema, sondern um das religiöse
Problem, und zwar nicht um dessen tiefsten Sinn, sondern um die Gestalt, die
es in den Köpfen österreichischer Aristokraten und Prälaten annehmen mag. In
der protestantischen Welt leben Millionen, die Gott finden, ohne in den Beicht¬
stuhl zu kriechen (in diesem endet die Himmelfahrt, die ihr Symbol und Omen
darin erhält, daß die Fahrt vom Bahnhof zum gräflichen Schlosse scherzhaft
Himmelfahrt genannt zu werden pflegt, weil die daneben liegende Gastwirtschaft
der gräflichen Brauerei „der Himmel" heißt); und die katholischen Modernisten,
die der Domherr verurteilt, denken nicht daran, mit der moderer Philosophie das
Dasein Gottes und ihres eigenen Ichs zu bezweifeln.
Für die Spärlichkeit der Geschehnisse entschädigt die Qualität der beiden
wichtigsten. Das eine ist eine höchst originelle Liebesgeschichte: er bildet sich ein,
er suche die Annäherung nur, um sich von ihr zu Gott führen zu lassen, und
sie nimmt ihn nicht, weil sie ihn liebt und fürchtet, durch die leidenschaftliche
Liebe zu ihm von Gott getrennt zu werden. Und das andere Ereignis: der
Kutscher Bläst, der wie ein Verbrecher aussieht und der durch passive Resistenz
gegen billige Wünsche der Herrschaft — ob aus Stupidität oder aus Tücke be¬
bekommt man nicht heraus — die Leute zur Verzweiflung bringt, demaskiert sich
Die deutsche Okkupation im Osten hat uns mitten hineingestellt in das Leben
der Ostjuden, deren Umgangssprache größtenteils der „Jargon" ist. Hier wurde
nun im mündlichen Verkehr mit der jüdischen Bevölkerung als auch bei der Be¬
schäftigung mit der jüdischen Literatur und Presse der starke Mangel eines brauch¬
baren Wörterbuchs für diese Sprache fühlbar. Ein auch nur den geringsten
Anforderungen entsprechendes deutsches Jargonwörterbuch existierte überhaupt
nicht. Ein jüdisch-englisches oder jüdisch-russisches Wörterbuch konnte, abgesehen
von seiner Unzulänglichkeit, natürlich auch keinen Ersatz bieten. Da ist es nun um
so mehr zu begrüßen, daß uns im September d. I. ein jüdisch-deutsches Wörter¬
buch aus der Feder des berühmten Gelehrten, Universitätsprofessors Strack, be-
schieden worden ist.
Als bewährter Kenner des Judentums und namentlich auch der ostjüdischen
Verhältnisse, hat Strack hier ein Werk geschaffen, in dem er sich nicht mit der
bloßen Aufführung der jüdischen Wörter und ihrer deutschen Bedeutung begnügt.
Er geht vielmehr dem Ursprung der einzelnen Vokabeln nach. Soweit sie nicht aus
dem Deutschen stammen, ist in den meisten Fällen angegeben, ob sie dem Hebräischen,
Polnischen oder Russischen entlehnt sind. Dies ließen die bisherigen Arbeiten
gänzlich vermissen. Erwähnt sei noch, daß, soweit dies nötig war, kurze sachliche
Erläuterungen gegeben werden.
Die der jüdischen Schriftzeichen nicht Kundigen finden in der Einleitung das
jüdische und hebräische Alphabet sowie kurze Bemerkungen zur jüdischen und
hebräischen Grammatik. Hierdurch wird der Gebrauch des Werkes jedermann er¬
möglicht. Auch die wichtigsten Literaturangaben fehlen nicht.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die vorliegende Arbeit nicht den ge¬
samten jüdischen Wortschatz erschöpfen kann. Denn eine lebende Sprache, wie es
das Jüdische ist, bringt täglich Neubildungen hervor, ist in stetem Flusse. Aber
einmal mußte ein Abschluß gefunden werden, und der Verfasser wollte noch
während des Krieges den in Polen tätigen Deutschen mit seiner Arbeit dienen.
Weiter ist in diesem Werk der erste Anfang mit der wissenschaftlichen Bearbeitung
eines Jargonwörterbuches gemacht. Aller Anfang aber ist schwer. Leichter wird
es sein, auf dem gelegten Grunde aufzubauen.
Eine kurze Chrestomathie soll als Anhang zum Wörterbuch in Kürze folgen.
Sie wird eine Anzahl jüdischer Texte in lateinischer Transskription enthalten.
Jeder, der intensiv mit der jüdischen Presse im östlichen Okkupationsgebiet
zu tun hat, wird die Riesenarbeit, die in den vorliegenden 204 Seiten steckt, zu
schätzen wissen.
Möchte das Buch sich recht viel Freunde erwerben und neue Anregung bieten
für die Lektüre der jüdischen Presse und Literatur, die bisher viel zu wenig Be¬
achtung gefunden hat. L. Bosse
Eine Sammlung, die eine ganze Reihe hervorragender Arbeiten enthält,
geschichtliche und politische Schriften, die in den durch den Weltkrieg veranlaßten
Fragen der Weltpolitik und Weltkultur Wege und Ziele zeigen sollen. Hervor¬
ragende Historiker, Nationalökonomen und Politiker haben sich zur Mitarbeit ein¬
gefunden, und man kann Wohl sagen, daß diese Sammlung die meisten anderen
Veranstaltungen ähnlicher Art weit übertrifft. Nebeneinander erscheinen eine
deutsche und eine österreichische Schriftenfolge, die erstere von dem bekannten
Orientschriftsteller Professor Ernst Jacks, die österreichische vom Wiener Institut
für Kulturforschung herausgegeben.
Von der deutschen Folge sind bisher zehn Hefte erschienen. Professor Veit
Valentin wirst im ersten Hefte: „Belgien und die große Politik der Neuzeit" die
Frage auf: Was soll aus Belgien werden? und er kommt zu dem Ergebnis, daß
es wie früher ein militärisches Bollwerk werden muß und zwar jetzt zum Schutze
des Deutschen Reiches und Hollands gegen englisch-französische Gefährdung. Mit
einer anderen belgischen Frage: Was wird aus Antwerpen? beschäftigt sich Professor
Kurt Wiedenfeld. Aus seinen Untersuchungen, die im einzelnen nicht dargelegt
werden können, zieht er den Schluß, daß eine Loslösung Antwerpens aus seiner
belgischen Besonderheit gleichbedeutend wäre mit einer Untergrabung seiner Wirt-
schastlichen Bedeutung für Deutschland.
Im zweiten Hefte schildert Arnold Oscar Meyer die vielfach falsch aufgefaßte
„deutsche Freiheit und englischen Parlamentarismus", Hermann Muthesius spricht
im vierten Hefte von dem, „was „der Deutsche nach dem Kriege" erstreben soll,
während Walter Riezler im siebenten Heft „die Kulturarbeit des deutschen Werk¬
bundes" dem Leser vorführt. — Ein ganz ausgezeichnetes Werk enthält das fünfte
Heft. Unter dem Titel „Macht und Wirtschaft" läßt der Braunschweiger Professor
Friedrich Lenz hier den ersten Band einer Arbeit erscheinen, die durch ihre um¬
fassende Gründlichkeit die größte Beachtung verdient. Wir können leider im Rahmen
dieses Sammelreferates nicht näher auf das Buch eingehen, werden jedoch noch
an anderer Stelle darauf zurückkommen. — Das sechste, neunte und zehnte Heft
sind historischen Themen gewidmet. „Die Vernunft in der Geschichte" untersucht
Professor Karl Joel, Dr. Maximilian von Hagen gibt die „Geschichte und Be¬
deutung des Helgoland-Vertrages" und Professor Johannes Haller eine aus¬
gezeichnete Arbeit über „Bismarcks Friedensschlüsse", die gerade jetzt von großem
Interesse ist. Den klaren Ausführungen des Verfassers über das, was wir von
Bismarck in der Politik der Friedensschlüsse lernen sollten, können wir vollauf
beistimmen. Zum Schluß sei noch das achte Heft erwähnt, in dem Nachum Gold¬
mann „Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums" spricht.
In der österreichischen Folge sind bisher nur vier Hefte erschienen. Eine
lesenswerte Studie über „die weltpolitische Bedeutung Galiziens" veröffentlicht
der Lemberger Universitätsprofessor Dr. Tomaschiwskyj. Wenn wir auch nicht in
allen Punkten die Auffassung des Verfassers teilen, so mag doch festgestellt werden,
daß seine Ausführungen, zu denen auch eine sehr kurze, aber klare Darstellung
der bewegten Geschichte Galiziens gehört, für jeden von Interesse sein werden, der
den inneren Ursachen des Weltbrandes nachgehen möchte. — Die drei folgenden
Hefte enthalten eine sehr wertvolle Arbeit von Professor E. Hanslik, die der Ver¬
fasser unter dem Titel „Die neue Weltkulturschaft" zusammengefaßt hat. Es ist
sehr zu hoffen, daß die angekündigte Fortsetzung dieser Sammlung, der wir eine
große Verbreitung wünschen, nicht lange aus sich warten läßt, und daß die folgenden
Hefte in ebenso klarer Form dieselbe Fülle von interessantem Stoff bieten mögen
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
le am 5. November in Aussicht gestellte Selbständigkeit Galiziens
hat eine lange Vorgeschichte. Es handelt sich um nichts Neues,
wie Fernerstehenden scheinen könnte, sondern um den weitere»
Ausbau der Sonderstellung, die Galizien schon längst erlangt
hat. Deutsche Interessen waren und sind damit eng verbunden,
so daß die Betrachtung dieser Verhältnisse für uns von hoher Bedeutung ist.
Wie der gegenwärtige deutsche Krieg, so hat auch schon unser Krieg von
1866 für die galizischen Polen einen Umschwung zu ihren Gunsten hervor¬
gerufen: hat ihre langgehegten Wünsche mehr gefördert, als all ihre Auf¬
stände und Verbindungen mit auswärtigen Mächten. Die Niederlage Öster¬
reichs kam ihnen sehr gelegen; mit der Ausscheidung Österreichs aus Deutschland
war die Vorherrschaft der Deutschen gebrochen und damit für die Slawen und
Magyaren die Möglichkeit geschaffen, ihre Forderungen durchzusetzen. Als
Österreich während der deutsch-französischen Verwicklung Wiedervergeltungs--
absichten hegte, trat der Pole Ziemialkowski dagegen auf: „Ich nehme — so
führte er am 9. August 1869 in der Delegation aus — keinen Anstand, die
Ursachen ganz offen hier zu sagen. Ich würde natürlich nicht wünschen, daß
Österreich dabei den Kürzeren ziehe, aber ich würde den Sieg über Preußen
vielleicht noch mehr fürchten, eben weil der Sieg über Preußen, Österreich zur
deutschen Politik nötigen würde, zu jener Politik, welche die Ursache zur Unter¬
drückung der nichtdeutschen Völker Österreichs war."
Nach 1866 war tatsächlich die Zeit gekommen, daß Osterreich seine
„deutsche" Politik aufgab, und davon haben die galizischen Polen reichlichen
Nutzen gezogen. Es gelang ihnen in kurzer Zeit eine Sonderstellung Galiziens
zu erlangen, die den deutschen Einfluß völlig ausschaltete.
Galizien war früher von der Wiener Zentralregierung im deutschen Sinne
verwaltet worden. Deutsche Sprache herrschte, soweit es die Bedürfnisse des
Staates erforderten, in Amt, Schule und öffentlichem Leben. Die Universitäten
in Krakau und Lemberg waren deutsch. Die Nuthenen und die Deutschen
wurden berücksichtigt.
Das alles sollte sich nun rasch ändern. Ihre Absicht, eine Sonderstellung
zu erringen, haben die Polen schon vor 1866 geäußert: als der Aufstand von
1863 gescheitert und die Mißstimmung der Wiener Regierung wegen der Teil¬
nahme der galizischen Polen etwas geschwunden war, begannen sie mit ihren
Resolutionen und Deputationen hervorzutreten. Schon einige Monate vor dem
Kriege hatten sie den ersten Versuch gemacht: Der galizische Landtag forderte
Garantien der nationalen Rechte durch Einführung der 1815 zugesagten
nationalen Institutionen, volle Autonomie der Landesverwaltung, Schaffung einer
galizischen Hofkanzlei, Berufung eines Polen zum Statthalter, Besetzung aller
Ämter im Lande mit Polen u. tgi. in. Schon damals erhoben die Ruthenen gegen
diese Forderungen Protest, und die Polen erreichten zunächst auch gar nichts.*)
Sobald dann nach dem Kriege Österreich zur Änderung seines Kurses sich
genötigt glaubte und dle Magyaren den Ausgleich erzwangen, hielten auch die
Polen ihre Zeit für gekommen. Der galizische Landtag begann damit, daß er
im Dezember 1866 unter scharfem Widerstand der Ruthenen die Verdrängung
der deutschen Sprache aus den Schulen und die Beschränkung des Unterrichts
im Ruthenischen beschloß und durchführte. Im Reichstag begannen die Polen
aber sofort mit ihrer Forderung nach einer größeren Autonomie und Selb¬
ständigkeit Galiziens, indem sie auf die Anerkennung der historischen Rechte
Ungarns durch den Ausgleich hinwiesen. Sie führten Klage, daß die Thron¬
rede nichts von den historischen Rechten der übrigen Königreiche und Länder
erwähnt habe. Nachdruck verlieh diesen Forderungen der galizische Landtag,
der 1868 die Einführung der polnischen Sprache in Ämter und Gericht und
die Polonisierung der Landesuniversitäten forderte, zugleich die Anträge der Ru¬
thenen auf Vermehrung des ruthenischen und deutschen Unterrichtes ablehnte.
Die Regierung entsprach im Verordnungswege den polnischen Wünschen bezüglich
der Krakauer Universität und damit begann die lange Reihe der Konzessionen.
Am 24. September 1368 beschloß der galizische Landtag die „galizische
Resolution", die die weitgehenden Wünsche der Polen zusammenfaßte.
Daraus möge« hier die wichtigsten Sätze herausgehoben werden: „Der Landtag
erklärt, daß der durch die Staatsgrundsätze vom 21. Dezember 1867 geschaffene
Organismus der Monarchie unserem Lande nicht so viel legislative und
administrative Selbständigkeit gewährt, als demselben mit Rücksicht auf dessen
historisch-politische Vergangenheit, dessen besondere Nationalität,**) den Grad
der Zivilisation und der territorialen Ausdehnung gebührt."
Der Landtag stellt folgenden Antrag: „Dem^ Königreich Galizien und
Lodomerien samt dem Großherzogtum Krakau wird die nationale Selbstver¬
waltung in dem seinen Bedürfnissen und den besonderen Landesverhältnissen
entsprechendem Maße zuerkannt, vor allem:
Der Landtag wird ausschließlich den Modus der Reichsratswahlen zu be¬
stimmen haben.
Die galizische Landtagsdelegation wird an den Beratungen des Reichsrates
nur bezüglich der diesem Königreiche mit den anderen im Reichsrate vertretenen
Teilen der Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten teilnehmen.
Zur Bedeckung der Auslagen der Administration und des Gerichtswesens,
des Kultus und Unterrichtes, der öffentlichen Sicherheit und der Landeskultur
in Galizien wird aus dem Staatsschatze zur Verfügung des Landtages eine
dem wirklichen Bedarfs entsprechende Quote ausgeschieden und in betreff der
Details die Verwendung der reichsrätlichen Kompetenz entzogen.
Die Salzwerke im Königreiche werden ohne Bewilligung des Landtages
dieses Königreiches weder verkauft noch eingetauscht oder belastet.
Das Königreich Galizien und Lodomerien samt Krakau wird einen eigenen
obersten Gerichts- und Kassationshof erhalten.
Das Königreich wird eine dem Landtag verantwortliche Landesverwaltung
in Sachen der inneren Verwaltung, der Justiz, des Unterrichts, der öffentlichen
Sicherheit und der Landeskultur, sowie einen Landesminister im Rate der
Krone erhalten."
In einem besondern Abschnitt werden die zahlreichen Gegenstände auf¬
gezählt, über die der Landtag selbst zu entscheiden hat. Man ersieht daraus,
daß die Polen Galizien schon damals zu einer von Österreich völlig un¬
abhängigen Provinz zu machen beabsichtigten, nur daß sie des österreichischen
(d. h. deutschen) Geldes nicht entraten konnten: mit diesem wollten sie aber
ganz nach eigenem Gutdünken wirtschaften.
Ihr eigentliches Ziel war aber die Loslösung Galiziens von Österreich.
Darüber läßt die Debatte im Landtage vom Herbst 1868 gar keinen Zweifel
übrig. „Alle Konzessionen der Polen hatten nur gedient ihre Aspiration zu
steigern."
Es ist begreiflich, daß die Vorgänge im galizischen Landtage und die ge¬
faßte Resolution in Wien nicht geringe Mißstimmung erregten. Ministerium
und Reichstag verhielten sich ablehnend. Die Polen drohten und drängten und
der Erfolg blieb nicht aus. Es genügt hier zu bemerken, daß zufolge der Er¬
lasse vom 5. und 11. Juni 1869 die deutschen Beamten in Galizien entlassen
oder versetzt wurden, die Lemberger Universität wurde polonisiert und 1871 das
Ministerium für Galizien geschaffen, wodurch die Sonderstellung Galiziens be-
sonders scharf zum Ausdruck kam. In der Folge wurde in diesem Sinne weiter
gearbeitet; es mag hier genügen zu bemerken, daß man es auch zustande
brachte, die für die Sicherheit des Eisenbahndienstes vorgeschriebene deutsche
Dienstsprache zu vernachlässigen, was militärischerseits oft gerügt wurde.
Wie man sieht, hat Galizien schon seit fünf Jahrzehnten eine Ausnahms¬
stellung in Österreich. In welcher Richtung sich der von den Polen gewünschte
Ausbau der Sonderstellung weiter entwickeln soll, ist aus dem eben Angeführten
zu ersehen. Unzweifelhaft wird man das zu erlangen suchen, was von den
Wünschen von 1868 noch nicht verwirklicht ist.
Wie wurden und werden die Interessen der Deutschen durch die Entwicklung
seit 1866 beeinflußt?
Schon nach dem oben Angeführten ist zu entnehmen, daß die für Galizien
errungenen Sonderrechte nur den Polen zugute kommen, daß die Deutschen und
Ruthenen schwer geschädigt wurden. Wir haben gesehen, wie die deutschen
Schulen, die deutschen Universitäten, die deutsche Amtssprache rasch beseitigt
wurden. Die deutschen Beamten und Professoren mußten außer Landes gehen.
Die polnischen Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten wurden Polonisierungs-
stätten für die deutsche Jugend. Den Deutschen wurden zumeist ihre deutschen
Lehrer und Priester genommen; die Jugend wuchs, wo keine deutschen Privat¬
schulen bestanden, in Unwissenheit auf und wurde sogar hier und da von den
polnischen Lehrern gequält. In den Städten verloren die Bürger und Beamten
infolge dieses Druckes ihr deutsches Volkstum. Ebenso wurden viele Dorf¬
bewohner, besonders in den kleineren Anftedlungen im Westen durch polnische
Kirche und Schule entnationalisiert. Der Bestand von zweihundert lebens¬
kräftigen dörflichen Ansiedlungen wurde totgeschwiegen. Bei den Volkszählungen
trachtete man die Zahl der Deutschen durch allerlei Kunstgriffe herabzudrücken;
ganze deutsche Dörfer wurden für polnisch ausgegeben. Auch bei der neuen
Landtagswahlrcform wurde den Deutschen jede Vertretung im Landtag versagt.
Bei ihren darauf gerichteten Bestrebungen verhielten sich auch die Ruthenen
ablehnend, obgleich diese von den Deutschen im politischen Leben wiederholt
unterstützt wurden und auch sonst den Wert des deutschen Kulturelementes zu
schätzen wissen. So konnten hunderttausend Deutsche in Galizien kein Mandat
erringen, während auf je fünfundzwanzigtausend Polen ein Mandat entfällt.
Aber auch sonst werden die Rechte der Deutschen auf Schritt und Tritt mi߬
achtet und sie um ihre staatsgnmdgesetzUchen Rechte gebracht. Im Oktober 1909
ist eS geschehen, daß das K. K. Bezirksgericht in Jaworow die Frau des
deutschen Landwirtes Schönhofer zu 48 Stunden Arrest verurteilt hat, weil sie
unter Hinweis auf ihre sehr mangelhafte Kenntnis der polnischen und ruthenischen
Sprache eine Zeugenaussage in deutscher Sprache machen wollte. Die an¬
gesehene Frau mußte schließlich sofort 24 Stunden im Arrest zubringen, obwohl
sie darauf verwies, daß sie ein drei Monate altes Kind zu stillen habe. Ebenso
kerkerte man den deutschen Ansiedler Josef Massinger aus Münchental vier
Wochen ein, weil er jene Deutschen nicht verraten wollte, die gegen den Befehl
des polnischen Pfarrers deutsch sangen. Erwähnt muß werden, daß die
galizischen Behörden die Selbsthilfe und Organisation der Deutschen stören,
indem sie in einzelnen Fällen Versammlungen und Feste unter allerlei Vor-
wänden zu vereiteln suchen, vor allem aber die gemeinnützigen wirtschaftlichen
Verbände nicht unterstützen, während ähnliche Vereinigungen der Polen reich¬
liche Beträge aus Landesmitteln erhalten. Ebenso wird geklagt, daß polnische
Vorgesetzte ihre deutschen Untergebenen veranlassen, nationalpolnische Zwecke zu
fördern. Die Deutschen dürfen überall beschimpft und besudelt werden. Plakate,
die gegen die Deutschen Hetzen, wurden selbst auf Bahnhöfen geduldet.*) So
konnte es geschehen, daß kurz vor dem Kriegsausbruch in verschiedenen Orten
Galiziens die Deutschen überfallen, Geschäfte, Schulen und Wohltätigkeits¬
anstalten beschädigt wurden. Wie grundlos dieser Angriff war, mögen folgende
Ausführungen einer polnischen Zeitung beweisen. „Wiek Nowy" vom 7. Juli
1914 schreibt: „Außerhalb Biala haben wir in Galizien keine deutsche Frage
und sollten eine solche auch nicht künstlich hervorrufen. Lemberg und Krakau
haben sogar in der Zeit ihres deutschem Charakters sehr viel deutsches Bürger¬
tum aufgenommen. Deutsche waren es, die an Stelle der schmutzigen Einkehr¬
häuser ordentliche Hotels errichteten; sie entwanden dem Verfalle unsere Drucker¬
kunst und den Buchhandel; sie gaben uns die großen polnischen Politiker wie
Franz Smolka und andere, die polnischen Industriellen, wie Schlenkier, die
polnischen Künstler, wie Brand. Ihnen verdanken wir eine ganze Reihe
tüchtiger Agrarier, die großen Gelehrten Liste und Hirschband und die Schrift¬
steller, wie Josef Kremer und Vinzenz Pohl. Die Grundlagen des polnischen
Bürgertums in Lemberg und in Krakau sind die verschiedenen Fischer, Stadt¬
müller und andere. Die antideutsche Demonstration, welche sich gegen Kauf¬
leute mit deutschen Namen oder selbst gegen deutsche Kaufleute in Lemberg
richtete, ist ein Absurdum. Lemberg droht eine Ruthenisterung oder Russifizierung,
niemals eine Germanisierung."
Aus dem Mitgeteilten ist zu ersehen, daß die Stellung der Deutschen in
Galizien durch die seit 1866 gewährten Sonderrechte überaus schwierig ge¬
worden ist. Niemand kann bezweifeln, daß durch den weiteren Ausbau der
Sonderstellung Galiziens die Lage der hunderttausend galizischen Deutschen noch
mehr gefährdet werden wird; denn der alte Haß gegen die Deutschen, der seit
dem 13. Jahrhundert bemerkbar ist und schon im Mittelalter blühendes Deutsch¬
tum vernichtet hat, wird gewiß nicht in der Zukunft schwinden, solange die
Führung der Polen in denselben Händen verbleibt.**)
Die Deutschen haben also schon wegen der hunderttausend Deutschen
in Galizien großes Interesse an der weiteren Gestaltung der Dinge in diesem
Lande. Dieses muß aber um so größer werden, wenn man bedenkt, daß mit
dem Schicksal dieser Deutschen auch jenes der fünfundstebzigtausend Deutschen
in der Bukowina*) eng zusammenhängt und auch das Deutschtum in Nord¬
ungarn nur über Galizien wieder belebt werden könnte. Kann es dem deutschen
Volke gleichgültig sein, wenn dieses Deutschtum gerade in der Zeit geopfert
werden würde, da unser Interesse sich dem Osten zuzuwenden beginnt? Sollen
diese Brückenpfeiler nach dem Osten gerade jetzt unterwühlt werden.
Es ist ebenso klar, daß der Zusammenbruch der Karpathendeutschen
eine Gefahr für die Deutschen im Hinterland bedeutet; auf dieses werden sich
alle feindlichen Kräfte stürzen, die jetzt durch den Kampf im Grenzgebiet ge¬
bunden werden. Man kann das nicht oft genug betonen, daß das Aufgeben
des Ansiedlungsgürtels unbedingt die Verlegung des Kampfes in die dahinter
liegenden Gebiete zur Folge haben würde. Nach Galizien würde zunächst
Schlesien fallen. Aber auch andere Gebiete sind schon jetzt bedroht und die
Gefahr wird steigen, sobald weiter im Osten keine deutschen Güter auszulaufen,
deutsche Vereine zu bekämpfen, deutsche Schulen durch Trutzschulen zu beseitigen
sein werden.
Ebenso bedeutet die Zurückdrängung der Deutschen in Galizien und der
Bukowina eine Schwächung Österreichs, das doch ein deutscher Staat ist und
bleibt. Für uns Deutsche ist ein starkes, kräftiges Österreich unbedingt not¬
wendig. Was von Österreich abbröckelt, fällt feindlichen Mächten zu. Ein
starke's deutsches Österreich ist der beste Bundesgenosse.**)
Aus allen diesen Gründen ist es für die Deutschen nicht gleichgültig, wie
sich die Verhältnisse in Galizien gestalten. Galizien war und bleibt ein Einfallstor
für die Völker des Ostens; für uns ist es daher wichtig, wer dort Herr ist.
Daran ist nicht nur Österreich und Deutschland, sondern auch Ungarn sehr beteiligt.
Galizien in unsicheren oder feindlichen Händen, bedeutet auch für das Reich der
Stefanskrone eine erhöhte Gefahr. Der Karpathenkamm läßt sich ohne ein
Vorfeld nicht leicht halten; das hat der jüngste Einbruch der Rumänen nach
Siebenbürgen bewiesen. Im Interesse der verbündeten Staaten und der Deutschen
liegt es daher, daß in Galizien Verhältnisse geschaffen werden, die uns vor
Überraschungen sichern.
Wer mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, wird nun zuerst dafür
eintreten, daß die Deutschen überhaupt gegen die Sonderstellung Galiziens
Stellung nehmen müßten. Das ist aber aus besonderen Gründen nicht durchführbar.
Der Einfluß der polnischen Abgeordneten auf die Zentralregierung und im
Wiener Parlament ist seit den 1870er Jahren so stark und unbequem, daß
die Schönerianische Partei schon 1882 im Linzer Programm die Lostrennung
beziehungsweise Sonderstellung Galiziens und der Bukowina forderte. In
dieser allgemeinen Fassung ist diese Forderung von einem anderen Teile der
völkischen Deutschen (besonders von den Führern des Karpathendeutschtums)
auf das entschiedenste bekämpft worden, weil damit die zahlreichen Deutschen
in diesen Ländern aufgegeben worden wären und die Interessen des Gesamt¬
staates nicht gewahrt würden. In den letzten Jahren hat sich die österreichisch¬
deutsche Anschauung dahin geeinigt, daß Polnisch-Galizien und die etwa da¬
zukommenden Teile Polens nach einem Übergangsstadium unter militärischer
Verwaltung eine Sonderstellung erhalten, die den Polen ihr nationales Aus¬
leben ermöglicht, die Interessen der Gesamtmonarchie und der Deutschen.aber
schützt. Daher haben die österreichischen Deutschen das Handschreiben vom
ö. November einerseits mit Genugtuung begrüßt, andererseits aber sofort mit
Beratungen begonnen, die den Schutz der Deutschen in Galizien bezwecken.
Am 19. und 20. November haben die Vertreter der Karpathendeutschen in Wien
getagt und die deutschen Reichsratsparteien zu kraftvollem Eintreten für die
Wahrung der deutschen Rechte in Galizien aufgerufen.
Da die Gestaltung der Verhältnisse in Galizien vielfach von dem Ver¬
hältnis der Polen zu den Nuthenen beeinflußt werden, so müssen wir auch
diesen unser Augenmerk schenken. Darüber ist in dieser Zeitschrift schon in
Ur. 39 d. I. gehandelt worden. Hier sei nur kurz bemerkt, daß eine Fort¬
dauer der Spannung zwischen beiden Völkern unbedingt für die russische Wühl¬
arbeit den besten Boden bildet. Die bereits verlautbarten Proteste der Nuthenen
gegen die nach polnischen Wünschen geplante Sonderstellung Galiziens be¬
deuten leider eine Verschärfung des schädlichen Widerstreites. Von deutscher
Seite hat man daher den Wunsch der Nuthenen, den östlichen Teil Galiziens
zu einer besonderen österreichischen Provinz zu gestalten, mit Recht gefördert.
Freilich bietet auch diese Teilung manche Schwierigkeiten, wie schon in dem
oben angeführten Artikel der „Grenzboten" ausführlicher dargelegt worden ist.
Daher wurde für diese Gebiete zunächst Militärverwaltung gefordert, unter der
der Übergang zur neuen Ordnung der Dinge möglich geworden wäre.
Wie man sieht, sind die Verhältnisse Galiziens zumindestens ebenso
schwierig wie jene in Polen. In beiden Gebieten stehen für die Deutschen
wichtige Interessen auf dem Spiele. Ein Mißlingen der Neuorganisation kann
unendlichen Schaden zur Folge haben, da Nußland jede Gelegenheit benutzen
wird, seine Wühlarbeit fortzusetzen.
UM! ngland ist mit wachsendem Erfolge unablässig darauf bedacht, uns
>von dem Handelsverkehr mit den Neutralen abzuschneiden, und
wir sind dadurch gezwungen, die Hilfsmittel des eigenen Landes
iund der mit uns verbündeten Staaten so weit es irgend geht,
^intensiv auszunutzen. Mit welchem Erfolg uns dies bisher ge¬
lungen ist, beweist die Tatsache, daß wir die Ernährung unseres Volkes und
die Erzeugung des gesamten Kriegsmaterials in der Hauptsache aus eigenen
Mitteln bewirk! haben. Wir haben uns die Schätze des Bodens und der Luft
bis zu einem Grade dienstbar gemacht, den wir vielleicht geahnt, bisher aber
auch nicht annähernd in Wirklichkeit umgesetzt hatten. Die Körner- und die
Hackfruchte des Bodens, Eisen und Kohle sowie der Stickstoff der atmosphäri¬
schen Luft haben uns in erster Linie in dem wirtschaftlichen Kampfe geholfen
und werden uns noch weiter helfen.
Es stehen uns aber auch noch andere Schätze unserer Heimat zu Gebote,
die wir bisher noch nicht genügend ausgebeutet haben, Schätze, die weniger
direkt zu unserer Ernährung oder zur Beschaffung unseres Kriegsmaterials
dienen, als vielmehr imstande sind, die Produktion und den Transport der
Nahrungs- und Kriegsmittel wesentlich zu verbilligen und zu erleichtern, ich
meine damit unsere Wasserschätze, auf die ich in folgendem um so lieber etwas
näher eingehen möchte, als die große Masse des deutschen Volkes von ihrer
Bedeutung, so offensichtlich sie auch ist, noch immer eine nur recht ungenügende
Vorstellung besitzt.
Schier unerschöpflich sind ja die Fäden, die zwischen dem Wasser und
dem Wirtschaftsleben des Menschen hin und herlaufen, und der Staat ist
glücklich zu preisen, der es versteht, diese Fäden so zusammenzuhalten und
zusammenzuziehen, daß daraus der größte Nutzen für die Allgemeinheit entsteht.
Auf die bloße Menge des in Strömen, Bächen, Seen, Quellen offen dahin
fließenden Wassers und des in der Erdrinde vorhandenen Grundwassers kommt
es, so wichtig sie auch ist, allein nicht an, wesentlich vielmehr für die Hilfe,
die uns das Wasser leisten soll, ist seine Verteilung und die Form seiner Be¬
wegung. Ich will hier auf den Nutzen einer rechtzeitigen Aufspeicherung des
himmlischen Wassers für trockene Zeiten und Gegenden in großen und kleinen
Stauweihern und auf alle diejenigen Maßregeln, welche zu ergreifen sind, um
einen vorzeitigen Abfluß des Wassers unserer Ströme in den unersättlichen
Ozean vorzubeugen, an dieser Stelle nicht eingehen, sondern mich vielmehr hier
auf einen Punkt in der Wasserwirtschaft beschränken, der gerade jetzt ein
Problem größter Bedeutung geworden ist. die möglichst vollkommenste und un¬
eingeschränkteste Ausnützung unserer einheimischen Wasserkräfte.
Die gewaltige volkswirtschaftliche Bedeutung des Ausbaues der Wasser¬
kräfte sowohl für Handel, Gewerbe und Landwirtschaft, durch Verteilung von
billiger Kraft und billigem Licht, als auch für-die Elektrisierung von Klein-
und Vollbahnen, schließlich für die Entwicklung neuer chemischer und metallurgi¬
scher Industrien ist allgemein anerkannt. Es mag nur daran erinnert werden,
daß die Wasserkräfte Werte schaffen ohne andere Werte dadurch zu vernichten,
und damit in scharfem Gegensatz zu denjenigen Kräften stehen, welche Stein¬
oder Braunkohle verzehren und dadurch nach und nach notwendig unsere
natürlichen Heizvorräte erschöpfen, und es mag betont werden, daß die Ver¬
teuerung gegenüber der durch Kohle gewonnenen Energie wegfällt, sobald die
Tilgung des Anlagekapitals für Wasscrkraftanlagen beendigt ist, weil dann
bloß noch die relativ geringen Kosten für ihre Verwaltung und Unterhaltung in
Frage kommen, während bei der Dampfkraft auch nach Tilgung der dann
steckenden Kapitalien, die Kosten für die Kraftquelle, die Kohle, dauernd be¬
stehen bleiben. Endlich ist der Verbrauch von Felder und Ölen bei den mit
Dampfkraft arbeitetenden Anlagen mindestens fünfzigmal größer, als bei
Wasserkraftanlagen, ein Umstand, der bei der jetzigen und auch nach dem
Kriege gewiß noch lange anhaltenden Knappheit an Felder aller Art, sehr in
die Wagschale fällt. Von der Verminderung der Rauchplage und anderen Vor¬
teilen des Wasserkraftbetriebes wollen wir ganz schweigen.
Man sollte nun meinen, daß Deutschland, das ja sonst auf wirtschaftlichen
und technischen Gebieten andern Ländern vorangeht, auch im Ausbau der
Wasserkräfte an der Spitze marschieren müßte, aber diese Vermutung trifft
leider, wie wir gleich näher auseinandersetzen werden, durchaus nicht zu. Ob¬
wohl Deutschland in seinen Wasserkräften seine dauerhaftesten Naturschätze
besitzt, die ohne allen Zweifel berufen sein werden, bei der Selbstversorgung
des Staates eine sehr bedeutsame Rolle zu spielen, ist uns das Ausland im
Ausbau der Wasserkräfte weit vorangeeilt. Frankreich hat, wie aus den Ver¬
öffentlichungen des französischen Wirtschaftsverbandes, welcher unmittelbar vor
dem Ausbruch des Krieges in Lyon tagte, nahezu 500 000 ?3. hauptsächlich
für elektrochemische Zwecke eingerichtet, Italien hat allein in den Jahren
1904-1909 525 000 ?3. konzessioniert und seitdem weitere 600 000 ?S.
Wasserkräfte erschlossen, die Schweiz hat 500 000 ?3. installiert.
In Norwegen waren im Jahre 1914 306 Wasserkraftwerke im Betrieb
mit einer Leistung von 400 000 Kilowattstunden ^ 544 000 ?3., welche ein
Kapitalwert von 3 Milliarden Kronen repräsentieren, wenn man die Einkünfte
von 300 Millionen kapitalisieren wollte. In Schweden waren bis Ende 1911
640 000 ?L. Wasserkräfte nutzbar gemacht und schon drei Jahre darauf wurden
sie auf 000 000 PS. geschätzt, wobei man beachten möge, daß in Schweden
im Jahre 1908 der gesamte Kraftverbrauch für Industrie, Bergbau und Hand¬
werk nur 950 000 ?3. betrug, also nur wenig mehr, als heute allein durch
Wasserkraft geleistet wird. In dem „zurückgebliebenen" Nußland sollten für
eine Wasserkraftanlage am salina-See kurz vor Ausbruch des Krieges allein
360 000 ?3. Wasserkraft ausgebeutet werden.
Auf den Quadratkilometer kamen 1905 in der Schweiz 9.27, in Italien
1.70. in Frankreich 1.20. in Deutschland nur 0.54 ?3. aufgebaute Wasser¬
kräfte. In den letzten zehn Jahren ist Deutschland mit neuen Wasserkraft¬
anlagen kaum über 100 000 l?Z. hinausgekommen, und die führenden deutschen
Turbinenfirmen zählen unter ihren Lieferungen an Wasserturbinen im Gesamt¬
betrage von nahezu 7 Millionen ?3., nur wenig mehr als den funfzigsten Teil
solche deutschen Auftrags!
Im Jahre 1910 machten in Deutschland die bereits ausgenutzten Wasser¬
kräfte noch nicht ganz 5 v. H. des gleichzeitig durch Dampfkraft gedeckten Kraft¬
bedarfes aus, in Frankreich dagegen 40 v. H.I
Dabei führte Deutschland im Jahre unmittelbar vor dem Kriege an
Stoffen, welche im Lande selbst unter Anwendung von Wasserkräften Hütten
erzeugt werden können, für über 400 Millionen Mark ein, darunter allein
Salpeter für 200 Millionen Mark. Die Herstellung und Lieferung dieser
Stoffe im Kriege wurde, um die Lücken ohne Rücksicht auf die Kosten mög¬
lichst schnell wieder auszufüllen, einheimischen Dampfanlagen zugewiesen, die
dabei aber doch nicht imstande waren, den Ausfall völlig zu decken. Hätte
Deutschland damals bereits mindestens eine Million ?8. aus seinen Wasser¬
kräften zur Verfügung gehabt, so wären der deutschen Volkswirtschaft dadurch
Nachteile entgangen, deren Geldwert sich nur mit zehnstelligen Ziffern aus¬
drücken läßt. — Auf alle Fälle müssen wir dafür sorgen, daß wir nach dem
Kriege in Bezug auf viele unentbehrliche Stoffe, wie z. B. den Salpeter, nicht
wieder auf das Ausland angewiesen find, und die dazu nötigen Betriebe
müssen sich in der Hauptsache auf die einheimischen Wasserkräfte stützen. —
Nun wird dem Vorwurf, daß Deutschland im Vergleich mit feinen Nachbarn
viel zu wenig Wasserkräfte ausgebaut habe, gewöhnlich mit dem Argument be¬
gegnet, Deutschland sei eben arm an Wasserkräften und könne infolgedessen
auch nicht viel Wasserkräfte ausbauen.
Es haben aber die Untersuchungen der Preußischen Landesanstalt für Ge¬
wässerkunde ergeben, daß allein im Berg- und Hügellande Preußens und be¬
nachbarten Staatsgebieten mit Ausschluß des Königreich Sachsens, auf einem
Gebiete, das nur 92 000 Quadratkilometer, also nur etwa den sechsten Teil
des ganzen Deutschen Reiches umfaßt, nicht weniger als rund 1 800 000 ?S.
mittlere jährliche Wasserkraft vorhanden waren, von denen über ein Drittel
neun Monate lang im Jahre nicht unterschritten waren, also mindestens diese
Zeit über disponibel waren. Auf einen Quaratkilometer dieser Fläche treffen
also im Durchschnitt etwa 20 PZ. In diesen Wasserkräften waren im Jahre
1909 rund 446 000 PZ., also etwa ein Viertel bereits ausgebaut, oder auf
einen Quadratkilometer rund 5 PS., also sehr viel mehr, als aus obiger
Gegenüberstellung Deutschlands mit anderen Ländern hervorgeht! In einigen
Flußgebieten, namentlich des rheinisch-westfälischen Industriegebietes war schon
ein viel größerer Bruchteil der vorhandenen Wasserkraft wirklich ausgenutzt,
in anderen Gegenden allerdings erheblich weniger. Man hat berechnet, daß
die in jenem Bezirk vorhandenen Wasserkräfte, wenn sie vollständig ausgenutzt
würden, ebensoviel leisten würden, wie die am 1. April 1913 in ganz Preußen
vorhandenen Dampfmaschinen und Dampfturbinen!
Im Königreich Sachsen waren im Jahre 1913 bereits dreiviertel aller
vorhandenen Wasserkräfte, deren Zahl auf rund 260 000 geschätzt werden,
technisch ausgenutzt, also bedeutend mehr als im preußischen Hügelland. Auch
in Württemberg ist das Verhältnis günstiger, denn von etwa 135 000 PS. sind
bereits 59 000, also zweifünftel im Betrieb. In Bayern soll nach Mit¬
teilungen des Ministerilllrat Hensel, Direktor des Hydrotechnischen Bureaus in
München, der Staat im ganzen 328 000 PZ. besitzen, von denen 114 000,
also 35 v. H. im Jahre 1910 ausgebaut waren. Falls die in Aussicht stehenden
Schiffahrtskanäle verwirklicht werden sollten, würden sich die Zahl der vor¬
handenen Pferdekräfte der Wasserläufe auf etwa 375000 PZ. erhöhen. Endlich
sei noch zum Vergleich die Schweiz herangezogen, deren Wasserkräfte aus rund
2^4 Millionen PZ. geschätzt wird, also im Verhältnis zur Fläche erheblich
mehr als in Mitteldeutschland, während das Verhältnis der ausgenutzten zur
vorhandenen Wasserkraft etwas ungünstiger ist, nämlich nur etwa 20 v. H. be¬
trägt, obwohl die Schweiz mehr als Deutschland alle Ursache hätte, seine Wasser¬
schätze nach Kräften auszubauen, da es ja an Kohlen ärmer als dieses ist.
Daß sowohl in Bayern, wie in andern bisher noch nicht namentlich an¬
geführten Gegenden Deutschlands die wirklich vorhandenen Wasserkräfte weit
größer sein müssen, als man bisher allgemein angenommen hatte, folgt aus einer
einfachen Betrachtung. Die Größe einer Wasserkraft ist einmal von der Nieder¬
schlagsmenge und dann von dem Gefäll abhängig, mit welchem diese in den
Flüssen nach dem Meere zuströmen. Von den Niederschlägen fließt eben immer
nur ein gewisser Prozentsatz ab, über dessen Größe in den verschiedenen Teilen
Deutschlands man jetzt ganz gut orientiert ist. Da auch die Niederschlags¬
inengen im ganzen bekannt sind und man auch über das Durchschnittsgefäll in
den einzelnen Flußgebieten, nach dem Vorbilde der Untersuchungen der Preußi¬
schen Landesanstalt für Gewässerkunde einer der Wirklichkeit sich gewiß einiger-
maßen auschmiegende Vorstellung besitzt, so hält es nicht schwer durch einfache
Rechnungen, die wir hier übergehen wollen, die Gesamtzahl der theoretisch
möglichen Wasserkräfte Deutschlands in Pferdestärken auszudrücken.
Wir gelangen da zu einer Gesamtzahl von rund 12 Millionen ?L.
Selbstverständlich ist die Zahl der wirklich brauchbaren Wasserkräfte erheblich
kleiner, schon aus dem Grunde, weil immer ein Teil des Gefälles für die Zu¬
leitung des Wassers zur Kraftquelle im Oberkanal und für die Rückleitung des Flusses
im Unterkanal behufs Erzeugung der notwendigen Wassergeschwindigkeit verbraucht
wird. Außerdem spielt noch die größere oder geringere Durchlässigkeit des
Bodens eine erhebliche, die Wirkungsfähigkeit des Wassers herabsetzende Rolle.
Die wirklich verwendungsfähigen Wasserkräfte lassen sich danach bei vor¬
sichtiger Schätzung auf 4 Millionen ?L. feststellen, von denen höchstens ein
Viertel bereits ausgenutzt, 3 Millionen also noch nicht ausgebeutet, also unserer
Volkskraft indirekt bisher verloren gegangen sind.
Wie ist nun der gewaltige Unterschied zwischen der so ermittelten Zahl
und der bisher angenommenen zu erklären? Ganz einfach so, daß man bei
den früheren Zahlungen nur die sogenannten Niederwasserkräfte, d. h. die
unter allen Umstanden vorhandenen Wasserkräfte und ebenso auch die Wasser¬
kräfte der durch die Schiffahrt bereits beanspruchten Hauptströme im Großen und
Ganzen als praktisch unausnutzbar einfach bei Seite ließ.
Der Begriff der „natürlichen" Wasserkräfte hat unstreitig im Laufe der letzten
Jahrzehnte erhebliche Wandlungen erlebt, dank der unaufhaltsamen Fortschritte
der Technik, ein Umstand, der gerade unserer Heimat zum größten Vorteil ge¬
reicht hat und noch mehr gereichen wird. Ursprünglich verstand man uuter
natürlicher Wasserkraft nur diejenige, welche zustande kommt, wenn ein Fluß
in seinem Laufe senkrecht abfällt und das abstürzende Wasser unmittelbar in
eine Rohrleitung gefaßt und der am Fuß des Absturzes oder in unmittelbarer
Nähe gelegenen Wasserkraftmaschine zugeführt werden konnte. Später ging
man daran, hochgelegene einem Stromgebiet zugehörige Seen' anzuzapfen und
das ihnen entnommene Wasser durch Stollen und Rohrleitungen in das tief¬
gelegene Tal zu schaffen. Aber noch war das eigentliche Hügel- und flachere
Land vom Segen dieser Kraft ausgeschlossen, bis man auf den Gedanken kam,
ein ganzes Flußtal auf eine Länge von zehn, zwanzig und noch mehr Kilo¬
metern durch eine Sperrmauer abzuschließen und so das Gefälle der ganzen
Flußstrecke zu einem einzigen Absturz zu vereinigen, dessen Kraft einer so¬
genannten natürlichen Wasserkraft im früheren Sinn des Wortes im wesent¬
lichen gleichkam oder sie sogar noch übertraf. Leider bringt es dieser gewaltige
Fortschritt in der Verwendung der Wasserkräfte mit sich, daß große Ländereien
dauernd unter Wasser gesetzt werden müssen, die bisher der Kultur dienten,
und daß unter Umständen ganze Dörfer und Städte der Vernichtung einheimfallen.
Außerdem ist der Untergrund mancher Täter nicht fest genug, um sie in Stau¬
becken umwandeln zu können.
Im allgemeinen wird man daher von der Einrichtung solcher Staubecken,
die ja natürlich auch sehr große Kosten verursachen, nur da Gebrauch machen,
wo das Terrain wirtschaftlich von geringem Werte und das Tal nur wenig
oder gar nicht bewohnt ist. Solche Flußtäler besitzen wir aber in Deutschland,
man darf wohl sagen Gott sei Dank, nur sehr wenig, und da ist mit hoher
Freude zu begrüßen, daß in allerneuster Zeit ein deutscher Ingenieur, der
rühmlichst bekannte Münchener Wasserbautechniker Th. Hallinger, es durch Ver¬
vollkommnungen in der Technik dahin gebracht hat, geringere Gefälle eines
Flusses auch ohne den Bau größerer Talsperren und die Vernichtung wert¬
vollen Landes zusammenzufassen und technisch zu verwerten. Die Vervoll¬
kommnungen, welche Hallinger im Wasserbau eingeführt hat, bestehen in der
Hauptsache in der Zusammenfassung kleinerer Stauwehre in ein größeres, in der
Verminderung des Wasserwiderstandes durch Herrichtung der Kanalwände aus
Stampfbeton statt aus Erde oder Kies, endlich in der Ausbildung der Nieder¬
druckturbine als Großkraftmaschine. wodurch allein im Durchschnitt 50 Prozent
der bisherigen Kosten erspart werden. Diese Verbesserungen gewähren die
Möglichkeit, Niedcrwasserlräfte auszunutzen, welche bisher unbeachtet geblieben
waren, und daher lassen sich allein im südlichen Bayern nach Hallinger doppelt
so viel Wasserkräfte nutzbringend verwerten als die staatliche Untersuchung für
das ganze Königreich Bayern angenommen hatte. Dementsprechend steigt
natürlich nun auch der Wert der Flüsse im übrigen Süddeutschland und im
mitteldeutschen Hügelland, und es liegt hier ein Schatz einheimischer Wasserkräfte
noch verborgen, welchen zu heben eine ungemein wichtige Aufgabe der aller¬
nächsten Zukunft sein muß. Besonders fällt noch ins Gewicht, daß die Kosten
der Arbeit in einem fehr günstigen Verhältnis zu den Vorteilen stehen, welche
man aus ihnen ziehen kann, und daß sie, je nach den vorhandenen Mitteln
und der Zahl der vorhandenen Arbeitskräfte, nach und nach ausgeführt werden
können. — In seinen Veröffentlichungen „Die großen staatlichen Niederdruck-
wafserkräste in Süd-Bayern" und „Zwei deutsche Großkraftquellen", beide in
Dießen bei München vor kurzem erschienen, sowie in einem kürzlich vor dem
bayerischen Bezirksverein deutscher Ingenieure in München gehaltenen Vortrag
lenkt Hallinger das besondere Augenmerk auf die gewaltigen Kraftquellen des
Jnn und des Rhein. Das Jnngebiet besitzt nach ihm noch 400000 PS. unver¬
brauchter Wasserkraft in Jahresmittelleistung und dazu noch den großen Vorteil
der Lage, mitten im Land, weitab von der feindlichen Grenze, sowie der
günstigen Wasserführung in der trockenen Jahreszeit. Der Rhein hat allerdings
den Nachteil, daß er unserer Westgrenze naheliegt, dafür sind seine Wasserkräfte
aber auch ungleich mächtiger als die des Jnn. Während die großherzogliche
Regierung in der badischen Kammer am 19. März 1914 die Leistungsfähigkeit
der Rheinwasserkräfte oberhalb Straßburgs auf 200000 ?L. angegeben hatte,
liefert nach Hallinger zwischen Basel und Straßburg allein die höchste Aus¬
beutung der Gefälle eine Durchschnittsleistung von 600000 ?3. und dazu noch
unterhalb Straßburg auf der badischen Seite weitere 200000 PZ.
Obwohl ich sonst die Kostenfrage der Wasserkraftanlagen hier absichtlich
aus dem Spiel lasse, will ich doch hervorheben, daß nach Hallinger die völlige
Wasserkraftausnutzung des Oberrhein von Basel bis Straßburg in Verbindung
mit der Einführung der Großschiffahrt auf dieser Strecke die Kosten der Kraft
auf einen Satz herabdrückt, welcher den billigsten Werken in Norwegen min¬
destens gleichkommt und uns dadurch in den Stand setzt, den Luftstickstoff um
den dritten Teil des Preises herzustellen, den das bisher in Deutschland an¬
gewandte Betriebsverfahren fordern mußte, um auf seine Kosten zu kommen.
Da Deutschland bisher jährlich 500000 bis 600000 Tonnen Salpeter aus
dem Ausland bezogen hat im Preise von 200 Millionen Mark, läßt sich die
finanzielle Wirkung der völligen Kraftausnutzung des Rhein und anderer großer
Ströme Deutschlands leicht daraus ableiten.
Um noch ein Beispiel aus Bayern anzuführen, so wurden bisher beinahe
drei Vierte! der in industriellen und gewerblichen Betrieben arbeitenden
1^/2 Millionen ?3. durch Verbrennungsmotoren erzeugt, wofür jährlich 7 bis
8 Millionen Tonnen Braun- und Steinkohlen im Werte von 200 bis 300 Mil¬
lionen Mark erforderlich waren, welche zum Teil auf den schlechtesten Wegen
in die abgelegensten Gegenden verfrachtet wurden, während nebenan die Wasser
nutzlos zu Tal liefen. Ferner sind zur Herstellung von jährlich 40000 bis
60000 Tonnen Aluminium als teilweisen Ersatz für das aus dem Ausland
nicht zu beschaffende Kupfer etwa 200000 ?L. erforderlich, für welche Bayern
mit Leichtigkeit, ohne seine übrigen wirtschaftlichen Aufgaben zu vernachlässigen,
die Hälfte aufbringen könnte. Man sieht, welche Beträge jährlich aus Bayern
ins Ausland wandern, die recht gut dem Lande Hütten zugute kommen und
zur wirtschaftlichen Stärkung hätten beitragen können.
Liegen nun auch die Wasserverhältnisse unseres deutschen Vaterlandes nicht
überall so günstig wie in Oberbayern, so leidet es doch nicht den geringsten
Zweifel, daß die Arbeitsleistung derjenigen Wasserkräfte, die bisher brach ge-
legen hatten, weil wir der irrtümlichen Ansicht gewesen waren, daß zur Her¬
stellung gewisser chemischer und metallurgischer Produkte nur Hochdruckwasser¬
kräfte verwendet werden könnten, uns in den Stand setzen wird, die stärksten
wirtschaftlichen Ringe zu zerbrechen, welche unsere Feinde um unser Land legen
wollen, uns zur dauernden wirtschaftlichen Befreiung und Unabhängigkeit vom
Ausland verhelfen und endlich auch zum militärischen Sieg über unsere Feinde
beitragen kann. Diese Einsicht muß in den Köpfen aller auf Deutschlands zu¬
künftiges Wohl Bedacht nehmenden Männer Eingang finden, und zu ihrer
Verbreitung beizutragen, ist der Zweck dieser Ausführungen.
Nach Abfassung dieses Aufsatzes wird bekannt, daß mit
Unterstützung der Bayerischen Staatsregierung bei Mühldorf am Jnn eine ge¬
waltige, etwa ein Drittel von Deutschlands Aluminiumbedarf deckende Fabrik
der „Bayerischen Aluminiumwerke G. in. b. H." errichtet werden wird, die sich
aus die erstmalige großzügige Erschließung eines kleinen Teiles der Wasserkräfte
des Jnn im Betrage von rund 55000 ?3. aufbauen soll. Dadurch wird in
einem sehr wichtigen Produktionzweig Deutschland, das besonders aus Frank¬
reich Aluminium bezog, wieder vom Ausland unabhängiger.
ußland betrachtet die Balkanstaaten als seine natürlichen Ver¬
bündeten, einmal im Sinne des Panslawismus vom Standpunkte
der Stammesgemeinschaft und, soweit das wie bei Griechen und
Rumänen nicht ausreicht, vom Standpunkte der Religions¬
gemeinschaft. Daher schulden die Balkanstaateu Nußland blind¬
lings Heeresfolge und, soweit sie diese verweigern oder sich gar auf die feind¬
liche Seite schlagen, begehen sie Verrat an der slawischen Sache und an der
Orthodoxie. Dabei ist Nußland aber keineswegs geneigt, den Balkanstaaten
Gleichberechtigung zuzugestehen. Es betrachtet sie nur als seine Vasallen.
Die beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei unter türkischer
Oberhoheit waren seit dem Vordringen Rußlands an das Schwarze Meer unter
Kaiserin Katharina der Zweiten mehr und mehr unter russischen Einfluß ge¬
raten, der im Frieden von Kutschnk-Kainardje von 1774 geradezu als eine Art
Schutzgewalt Rußlands über die Fürstentümer gegenüber der Pforte anerkannt
wurde. Diese Beschützerrolle hinderte Rußland freilich nicht, der Moldau 1812
Bessarabien mit der Donaumündung wegzunehmen. Der Friede von Adrianopel
von 1829 regelte die Stellung der Fürstentümer zur Pforte von neuem. Da
Rußland die Rechte der Fürstentümer gewährleistet hatte, wurde es neben der
Türkei gewissermaßen die zweite Schutzmacht.
Erst der Pariser Frieden von 1856 machte dieser Stellung Rußlands ein
Ende. Die Fürstentümer blieben türkische Vasallenstaaten, und die Moldau
erhielt sogar einen Streifen von Bessarabien zurück, um Nußland von der
Donau abzudrängen. Bald darauf vereinigten sich die beiden Fürstentümer
unter dem Obersten Cusa zum Fürstentum Rumänien und wählten 1866 den
Prinzen Karl von Hohenzollern zu ihrem Fürsten.
Der russisch-türkische Krieg mußte 1877 mit dem Einmärsche der Russen
in Rumänien beginnen, das ja völkerrechtlich als türkischer Vasallenstaat noch
zum türkischen Reiche gehörte, zumal das unmittelbare türkische Staatsgebiet in
Europa keine Landgrenze mit Rußland hatte. Die Rumänen ließen diesen
Einmarsch geschehen und erklärten ihre Unabhängigkeit, konnten jedoch ihre
Zulassung als Bundesgenossen von Rußland nicht erreichen. Erst in der
großen Not nach den Niederlagen von Plewna drahtete der russische Ober¬
befehlshaber, Großfürst Nikolaus, an den Fürsten Karl: „Die christliche Sache
ist in Gefahr!" Nunmehr folgte das rumänische Heer über die Donau, und
unter Führung des Fürsten Karl wurde Plenum genommen. Die Belohnung
blieb nicht aus. Rußland ließ sich beim Friedensschlüsse unter Gewalts¬
androhungen gegen Rumänien den 1856 abgetretenen Teil von Bessarabien
zurückgeben, wofür Rumänien die damals ziemlich wertlose Dobrudscha bis zu
einer Linie nördlich von Silistria erhielt. Wenigstens wurde Rumänien auf
dem Berliner Kongresse von 1878 für unabhängig erklärt, und Fürst Karl
nahm 1881 die Königswürde an.
Daß sich Rumänien nach den gemachten Erfahrungen auf das entschiedenste
von Rußland abwandte, ist selbstverständlich. Es trat gleich Italien in ein
Bundesverhältnis zu Deutschland und Österreich. Diesen Mächten verdankte es
denn auch größtenteils seine wirtschaftliche Blüte. Namentlich war ein großer
Teil der rumänischen Anleihen in Deutschland untergebracht. Rumänien zog
Jahrzehnte lang die Vorteile ans dem Bündnisse, um in der Stunde der Ge¬
fahr zu versagen.
Der Wandel der rumänischen Politik beginnt schon einige Jahre vor dem
Kriege. So ließ sich Rumänien in dem zweiten Balkankriege zu dem heim¬
tückischen Überfälle auf das von allen Seiten angegriffene Bulgarien be¬
stimmen, womit es durch einen militärischen Spaziergang die südliche Dobrudscha
erlangte. Der Vorwand war die Erhaltung des Gleichgewichtes auf dem
Balkan, und Rumänien glaubte nach den Worten seines Königs dort die be¬
stimmende Macht geworden zu sein. Doch auch hier galt das Wort: „Du
glaubst zu schieben, und Du wirst geschoben". Rumänien besorgte Rußlands
Geschäfte gegen Bulgarien, das durch seine Machterweiterung anfing, für Ru߬
land selbst lästig zu werden, und begründete damit eine Todfeindschaft zwischen
Rumänien und Bulgarien, die auch nur im russischen Interesse lag.
Doch das Band sollte noch enger werden. Der damalige Thronfolger
und jetzige König Ferdinand von Rumänien warb für seinen ältesten Sohn
Karl um eine russische Kaisertochter und reiste zu diesem Zweck mit ihm nach
Se. Petersburg. Aber die Kaisertochter fahen sich den Jüngling an und
gaben ihm einen Korb. Andererseits ließ sich Kaiser Nikolaus herab, kurz vor
dem Kriege einmal einen Balkanfürsten zu besuchen, allerdings nicht in seiner
Hauptstadt, sondern in Konstanza. Dort wurde mit schönen Reden die russisch-
rumänische Waffenbrüderschaft gefeiert, während doch Rumänien — was auch
für Rußland kein Geheimnis war — mit Deutschland und Österreich im Bundes¬
verhältnisse stand.
Im Hintergrunde schwebte dabei den Rumänen wie den Italienern der
Gedanke vor, daß sie keineswegs gegen Deutschland zu kämpfen haben würden.
Vielmehr dachten sie an eine Lösung des deutsch-österreichischen Bündnisses und
an eine Aufteilung Österreichs im gemeinsamen Einverständnis von Deutsch¬
land und Rußland. Gegen Deutschland, dem gegenüber kein feindlicher In¬
teressengegensatz bestand, wollten sie überhaupt nicht Krieg führen. Daher hat
Italien die Kriegserklärung über ein Jahr nach der an Österreich unter¬
lassen, und Rumänien hat sie deutscherseits überreicht erhalten. Es kam eben
alles anders.
Der Beginn des Weltkrieges zeigte die Festigkeit des deutsch-österreichi¬
schen Bündnisses. Nunmehr wollte König Karl, dem Bundesvertrage getreu,
auf der deutsch-österreichischen Seite kämpfen. Doch er konnte damit nicht
durchdringen, es war schon zu spät, Rumänien hatte sich mit voller Billigung
des Königs Karl, dem der Raubzug gegen Bulgarien zur Last fällt, bereits
zu tief mit Rußland eingelassen. So blieb nur der Bundesbruch und vor¬
läufig die Neutralität. Vielleicht war es gut so, nicht für Rumänien, aber für
uns. Denn dadurch wurde erst das Bündnis mit Bulgarien möglich.
Die verschiedensten Gründe trieben die Neigungen der Rumänen auf die
andere Seite. Die gebildeten Klaffen fühlten sich als Romanen zu Frankreich
und Italien, die Bauern als Orthodoxe zu Rußland hingezogen. Der Vier¬
verband konnte schon deshalb die größeren Versprechungen leisten, weil im
österreichischen Kaiserstaate mehr Rumänen wohnen als in Rußland. Die
englisch-russischen Bestechungsgelder kamen hinzu. Die Königin, Tochter eines
englischen Prinzen und einer russischen Großfürstin, beherrschte den charakter¬
schwachen, geistig unbedeutenden König. Dazu trat endlich der stetig zu¬
nehmende militärische Druck Rußlands in Bessarabien.
Mit seiner Neutralität meinte Rumänien keineswegs dauernd am Kriege
unbeteiligt zu bleiben. Es wollte nur abwarten, auf welche Seite sich der
Sieg neigte und dann das Zünglein in der Wagschale werden — ein an sich
verflucht gescheuter Gedanke, wenn er nur gescheut ausgeführt worden wäre,
im übrigen nicht neu, sondern alte gemeine Räubermoral. Zuerst wartete
Rumänien nämlich viel zu lange, und dann schlug es doch noch viel zu früh
los. Vor der Durchbruchsschlacht von Tarnow-Gorlice. als die Russen vor
Krakau standen und schon die Karpathen überschritten hatten, hätte eine Be¬
teiligung Rumäniens ebenso wie Italiens am Kriege in der Tat für Österreich
und damit auch für Deutschland höchst gefährlich werden können. In diesem
Abschnitte des Krieges zögerten aber sowohl Italien wie Rumänien. Es muß
späterer Untersuchung vorbehalten bleiben, inwiefern darin ein Erfolg der viel¬
geschmähten deutschen Diplomatie zu sehen ist. Jedenfalls hatte das erfolg¬
reich vordringende Rußland damals noch nicht das Interesse. Rumänien solche
Versprechungen zu machen, um es unbedingt auf feine Seite zu bringen. Als
aber Rumänien sich endlich zum Kriege entschloß, war es noch viel zu früh,
um durch einen bloßen Siegesspaziergang nach Art des zweiten Balkankrieges
riesige Beutestücke heim zu bringen.
Da spielte nun nach Brussilows Erfolgen gegen die Österreicher in Wolhynien
die von Rußland genährte Sorge Bratianus eine Rolle, wenn Rumänien sich
nun nicht am Kriege beteilige, werde es überhaupt nichts mehr von der Beute
abkriegen. Denn dann werde Rußland auf die rumänische Bundesgenossen-
schaft überhaupt keinen Wert mehr legen. Tatsächlich brauchte man Rumänien
dringend zu einem letzten Versuche, Bulgarien zusammenzudrücken und den
Balkan zu unterwerfen.
Dieser Versuch kann jetzt schon als gescheitert betrachtet werden. Das
rumänische Heer hat vollständig versagt. Man kann damit weder Bulgarien
besiegen noch die Straße Berlin-Konstantinopel unterbrechen. Damit ist aber
das Interesse des Vierverbandes an Rumänien in der Hauptsache erschöpft. Es
hat nur noch Wert, indem es Truppen auf sich zieht und selbst für Rußland
Hilfstruppen liefert. Im übrigen kann man es seinem Schicksale überlassen.
Daß es nur noch dazu da ist, für Nußland Soldaten zu liefern, findet seinen
äußeren Ausdruck im russischen Oberbefehle über die rumänischen Truppen.
Das eigene Interesse Rumäniens fordert, wie der rumänische Staats¬
mann Carp offen ausgesprochen hat, daß es nebst seinem russischen Ver¬
bündeten besiegt wird. Denn von der Niederlage kann es sich vielleicht
allmählich wieder erholen, ein Sieg würde es dauernd zum russischen Vasallen¬
staate machen. Wahrscheinlich wird Rumänien nach dem Kriege vom russischen
Bündnisse dauernd geheilt sein, ist es vielleicht schon jetzt.
Eine ganz andere Frage ist es, ob damit die Freundschaft zu Österreich
und Bulgarien wieder hergestellt wird. Nach dieser Richtung wird vielleicht
lange die Todfeindschaft fortdauern. Die Fehler der ungarischen Nationalitäten¬
politik haben schon bisher viel Unheil angerichtet und werden sich nach der
militärischen Niederlage Serbiens und Rumäniens noch verstärken. Der von
Deutschland abgekehrte Versuch Österreichs, nach dem zweiten Balkankriege den
Bukarester Frieden einer Nachprüfung durch die Großmächte zu unterwerfen,
zeigte auch schon einen Gegensatz Rumäniens zu Österreich, während ein solcher
zu Deutschland nicht bestand. So wird Rumänien nach der russischen Ent¬
täuschung voraussichtlich den Weg zu Deutschland sehr schnell zurückfinden und
in ihm seinen natürlichen Beschützer sehen. Das bewahrt aber gleichzeitig auch
Österreich und Bulgarien vor rumänischen Rachegelüsten.
iß
ernten und Teuerung Hut es zu allen Zeiten und bei allen
Völkern gegeben, seitdem sagenhafte und geschichtliche Über¬
lieferungen berichten. Bei den mangelhaften Wege- und Trans-
portoerhältnissen und der dadurch bewirkten Unmöglichkeit einer
schnellen Zufuhr und Verteilung von Lebensmitteln mußte aller¬
dings in früheren Jahrhunderten die Not in den von Mißernten betroffenen
Landstrichen oft die schlimmsten Formen annehmen. Wir aber, die wir vor
dem Kriege und vor der Abschließung Deutschlands durch Englands Blockade¬
politik eine gleichmäßige und stetige Nahrungsmittelzusuhr durch Hunderte von
Schiffen und Eisenbahnzügen aus allen Ländern der Erde erhielten, wußten
gar nicht mehr, was Teuerung eigentlich bedeutete. Und doch liegen die Zeiten
so sehr weit noch nicht zurück, als Deutschland und ein großer Teil Mittel¬
europas von der letzten großen Not und Teuerung heimgesucht wurden. Ge¬
rade jetzt jährt sich diese Zeit zum hundertsten Male/')
Noch war Europa nach dem endgültigen Sturze des korsischen Eroberers
nicht ganz zur Ruhe gekommen, noch standen die Besatzungstruppen der Ver¬
bündeten in Nordfmnkreich, noch hatte man erst kaum begonnen, sich in die
neuen Verhältnisse einzuleben, da trat im Jahre 1316 eine furchtbare Mi߬
ernte in Mitteleuropa ein. Bei dem Mangel an Arbeitskräften in den
am Kriege beteiligten oder vom Kriege betroffenen Ländern war vielfach die
Feldbestellung nur sehr notdürftig vorgenommen worden. Nun brachte der
Sommer 1816 unendlichen Regen und kalte Witterung, wie man sich ihrer
seit 1794/95 nicht mehr erinnerte. Noch im September stand in manchen
Gegenden der Roggen unreif auf den Feldern. Unendlich viel verdarb in der
Nässe. So waren die Ernteergebnifse äußerst dürstig. Zwar waren die Er¬
träge in Rußland, den Ostseegebieten und Polen nicht schlecht, zum Teil sogar
gut. Aber umso schlimmer stand es in Nordwest- und Süddeutschland, Ober¬
italien, Frankreich, den Niederlanden und in England. In Deutschland
insbesondere waren Westfalen mit dem Sauerland, die Bezirke am Niederrhein,
Hessen, Württemberg und die an und für sich schon armen Gegenden Sachsens,
das Vogelart und das Erzgebirge, am schlimmsten betroffen. Nicht genug mit
dem Unglück der Mißernte, folgte auf den ebenfalls verregneten Herbst schon
im November ein früher und kalter Winter, sodaß in England und Westdeutsch¬
land noch ein Teil der Kartoffel- und Haferernte erfror. Mit dem Fort¬
schreiten der Zeit wuchs das Elend, und die unvermeidlichen Begleiterschei¬
nungen stellten sich ein. Die Lebensmittelpreise stiegen, und der Wucher
verschlimmerte allenthalben die Not in den von den jahrelangen Kriegs¬
lasten wirtschaftlich darniederliegenden Ländern. Aus Rußland, Dänemark,
Holland, Frankreich, Italien, Österreich und aus fast allen Gegenden Deutsch¬
lands liegen Berichte über die damalige Getreideteuerung vor. So waren in
Odessa schon im November 1816 die Kornpreise um über hundert Prozent
gestiegen. In Warschau kostete Ende November der Scheffel Roggen
7V2 Gulden, Weizen 10V2 Gulden, in Toulouse das Hektoliter 32 Francs, in
Hamburg Ende Dezember der Zentner Roggen ungefähr sechs Taler, Weizen
sieben Taler. In Holland war der Preis der Kartoffeln um das Dreifache ge¬
stiegen. Mit dem allmählichen Schwinden der Vorräte erreichte die Not im
Frühjahr und Sommer 1817 ihren Höhepunkt.
Unendlich viel ist in diesen Zeiten geleistet worden, um dem Unglück zu
steuern. Einzelne, vereinte und staatliche Hilfe wetteiferten miteinander. So
wurden auf private Anregungen hin in den weniger unter der Not leidenden
Gegenden aus freiwilligen Sammlungen betrachtliche Summen aufgebracht, um
den Armen in den am ärgsten betroffenen Ländern zu helfen. Um nur ein
Beispiel anzuführen: Hamburger Bürger sandten wiederholt größere Beträge
nach der Schweiz und dem sächsischen Vogtlande und Erzgebirge.
Wo der Wille zur Hilfe über die Kraft des einzelnen hinausging, schloß
man sich zusammen, um gemeinsam die Not zu bekämpfen. Aus den sächsischen
Bergwerksgegenden wird berichtet, wie die Belegschaften einzelner Zechen in
Überstunden arbeiteten, um von dem verdienten Gelde andere bedürftige Kame¬
raden zu unterstützen.
Den größten Segen aber stifteten die sogenannten „Vereine gegen Korn¬
teuerung", die sich zum Teil schon vor dem Aufruf im „Allgemeinen Anzeiger
der Deutschen" zur Gründung von „Vereinigungen gegen Kornteuerung in
Stadt und Land" in zahlreichen Orten gebildet hatten, und in denen wohl¬
habende Bürger Summen von 100000 bis 200000 Taler zusammenbrachten.
Dafür wurden Vorräte an Korn, Mehl und sonstigen Lebensmitteln angekauft
und den Bedürftigen allmählich zum Einkaufspreise abgelassen. Oder aber die
Vereine ließen Brot backen und verteilten dies zum billigsten Preise oder gar
umsonst an die Notleidenden. Auch Volksküchen, sogenannte „Suppenanstalten"
wurden eingerichtet. Die bedeutendsten dieser Vereine entstanden in Elberfeld,
Frankfurt a. M., Berlin, Hannover, Hamburg und Wien. Vielleicht noch
wichtiger als die direkte Unterstützung, die von diesen Vereinigungen aus¬
ging, ist ihr Einfluß auf die allgemeine Festsetzung der Getreidepreise gewesen.
Denn es ist klar, daß durch sie den schlimmsten Preistreibereien und dem
furchtbarsten Wucher Einhalt getan wurde. Einer der ersten und erfolgreichsten
war der Elberfelder Verein. Er wurde bereits im Sommer 1816 gegründet.
Anfang Dezember hat er anscheinend die ersten „Brotmarken" eingeführt. Sie
wurden geprägt, um dem Mißbrauch zu steuern, daß das auf Kosten des Ver¬
eins gebackene billige Brot aus Elberfeld ausgeführt und so den Bedürftigen
der Stadt entzogen würde. Jeder Arme erhielt soviel Brotmarken, als ihm
nach dem Satz von ^ Pfund für den Kopf und Tag zukamen. Diese Marken
kosteten das Stück 5 Stüver. Man gab sie den Bäckern zu diesem Werte in
Zahlung. Dieser wieder konnte mit ihnen den von der Vereinsdeputation ge¬
lieferten Roggen kaufen.
Unendlich wichtiger noch als die Tätigkeit dieser Vereine waren die Ma߬
regeln, die die einzelnen Staaten und Regierungen zur Bekämpfung der Not
ergriffen. Ganz allgemein war die Verfügung von Ausfuhrverboten und die
Befreiung der Getreideeinfuhr von Abgaben und Zöllen. So erfolgten Aus¬
fuhrverbote in den Niederlanden. Luxemburg, Frankreich, Marokko und zahlreichen
deutschen Staaten. Frankreich ging sogar noch einen Schritt weiter. Es setzte schon
im November 1816 Prämien fest für die Einfuhr von Getreide: 5 Francs für
den Zentner Weizen, 3^ Francs für Roggen und 2^/» Francs für Gerste. Es
erfolgte daraus eine ziemlich beträchtliche Einfuhr von Odessa und. nach der
Aufhebung des Ausfuhrverbotes von Marokko, auch von dort über Marseille
nach Frankreich. Ein Teil davon (40000 Tonnen) durste mit besonderer Ge¬
nehmigung der französischen Regierung nach der notleidenden Schweiz durch¬
geführt werden. Von vielen Regierungen wurde das Bierbrauen ganz oder
teilweise untersagt, ebenso das Brennen von Korn- und Kartoffelschnaps. In
der Schweiz ging man in einzelnen Kantonen soweit, das Backen von Kuchen
und das Abhalten von Lustbarkeiten einschließlich des Theaters zu verbieten,
um unnützes Geldausgeben zu verbinden.
In Deutschland fehlte es bei der durch den Wiener Kongreß neu geschaf¬
fenen Zersplitterung im Deutschen Bunde an der notwendigen Einheitlichkeit
der zu ergreifenden Maßregeln. Zwar ist von Preußen versucht worden, auf
dem Bundestag ein Übereinkommen mit den andern deutschen Staaten zu
schließen, um alle Hindernisse zu beseitigen, die dem freien Verkehr mit Ge¬
treide und sonstigen Lebensmitteln im Wege standen.*) Ob ein solch allge¬
meines Abkommen wirklich erzielt worden ist, läßt sich aus den vorliegenden
Quellen nicht ermitteln. Anscheinend ist nur jedesmal von Fall zu Fall
Mischen den in Betracht kommenden Bundesstaaten ein Übereinkommen erreicht
worden. Immerhin haben die einzelnen Regierungen alles versucht, die Herr-
scheute Not zu lindern. Der König von Württemberg ließ als erster das Wild
in seinen Forsten abschießen und die Tiergärten schließen, um die dafür aufge¬
stapelten Vorräte dem Volke zugute kommen zu lassen. Das Fleisch der ge¬
töteten Tiere wurde zu billigsten Preisen verkauft. Der Pferdebestand der
Kavallerie wurde beträchtlich vermindert. Wichtiger aber noch als solche, auch
in einigen anderen Bundesstaaten erlassenen Anordnungen, war der Ankauf
größerer Mengen Getreide durch die einzelnen Regierungen in den russischen
Ostseeprovinzen und in Polen. So sicherten sich Württemberg. Bayern, Hessen
und vor allen Sachsen und Preußen große Vorräte, die allerdings meist erst
im Frühjahr 1817, nachdem die russischen und preußischen Flüsse eisfrei ge¬
worden waren, zur Ablieferung kommen konnten, um den besonders notleidenden
Gegenden zugeführt zu werden. Allein in Preußen wurden wett über zwei Mil¬
lionen Taler dafür ausgesetzt und ein besonderer Kommissar mit der Angelegen¬
heit betraut.*) Der größte Teil des von Preußen aufgekauften Getreides ging
über Holland, den Rhein und den Münsterschen Max-Clemenskanal, ferner
über Eins und Weser nach dem Niederrhein und Westfalen. Aus dem Rhein¬
land ist noch eine Einrichtung bemerkenswert. Für Köln wurde, um den Vor¬
ankauf von Lebensmitteln und den damit verbundenen Wucher zu verhindern,
ausdrücklich bestimmt, daß alles zum Verkauf bestimmte Getreide auf dem
Fruchtmarkt zum öffentlichen Verkauf gebracht werden müsse. Die Zufuhr des
auf den Flüssen angelieferten Getreides in die weiter abgelegenen Bezirke er¬
folgte teils durch freiwillige Fuhren, oder, wie in Sachsen, auf Kosten der
Landeskassen. Die weitere Verteilung wurde durch Beratung mit den Kreis¬
behörden geregelt und durch Kommissionen vorgenommen, die aus Mitgliedern
der Kreisbehörde, den Ortspsarrern und Abgeordneten der „Kornvereine", oder
sonst angesehenen Männern bestanden. Neben dieser direkten Versorgung mit
Lebensmitteln wurde aber auch nicht vergessen, den Arbeitslosen Arbeit und
Beschäftigung zu verschaffen.
So ist man, so gut es bei den damaligen Verhältnissen ging, über die
schwierige Zeit hinweggekommen, und der furchtbarsten Not konnte nach Mög¬
lichkeit Einhalt getan werden. Daß hier und dort Mißstände nicht ganz be¬
seitigt werden konnten, ist aus den überaus schlechten Transport- und Wege¬
verhältnissen zu erklären. Jedenfalls haben freiwillige Hilfe von einzelnen und
den „Kornvereinen" und die Regierungen getan, was in ihren Kräften stand,
um der Not Herr zu werden.
Daß in dieser Zeit die Auswanderung besonders stark einsetzte, ist nicht
zu verwundern. Von Mainz wird Anfang Mai 1817 berichtet, daß seit
Januar desselben Jahres bereits über 10000 Auswanderer aus Süddeutschland
die Stadt passiert hätten. Eine ähnlich starke Auswanderung scheint über
Hamburg erfolgt zu sein.
Bis auf einige wenige Vorkommnisse in Süddeutschland, wo man in er¬
regter Weise gegen eine Kornausfuhr nach der Schweiz protestierte, ist es an¬
scheinend nirgends in Deutschland zu Unruhen gekommen. Die Ruhe und Be¬
sonnenheit des Deutschen fand sich nach Möglichkeit mit den schwierigen Ver¬
hältnissen ab. In England und Frankreich besonders kam es wiederholt zu
schweren Tumulten. Von London berichteten die Zeitungen schon im November
1816, daß der Pöbel die Bäckerladen gestürmt habe. Noch schlimmere Vor¬
kommnisse spielten sich in Frankreich, in Toulouse und Rouen ab, wo die Volks¬
massen wiederholt die Getreidespeicher zerstörten, sodaß die Regierung Kavallerie
einschreiten lassen mußte.
Die in jeder Beziehung günstige Ernte des Jahres 1817 machte aller
Teuerung ein Ende. Die Getreidepreise sanken, erst langsam, dann schneller,
bis sie 1823 den für lange Zeit niedrigsten Preis erreichten und alles Elend
und alle ausgestandene Not vergessen ließen.
prachwissenschaft ist Kulturwissenschaft. sprachlich wird bezeichnet
nur was sachlich vorhanden ist, für den gesamten Kulturbesitz eines
Volkes ist ausreichende Deckung in seiner Sprache unerläßlich.
Beide Kräfte, Kultur und Sprache, stehen nicht still, sondern leben in
beständigem Fortwachsen. Da Gründe und Wesen ihres Wachstums
verschiedenartig sind, geraten sie immer aufs neue in Spannung gegeneinander.
Jeden Tag entstehen neue Kulturgüter, für die zunächst sprachlich keine Deckung
vorhanden ist. Wie vollzieht sich hier der notwendige Ausgleich?
Ein Beispiel aus der einfachsten sinnlichen Umwelt des Deutschen mag den
Vorgang erläutern. Das germanische Haus hat keinen Schornstein, die alte
deutsche Sprache konnte demgemäß keinen Namen dafür haben. Wie sich später
mit der Sache die Notwendigkeit einer Benennung ergab, half man sich auf
dreierlei Weisen. Von den Römern lernten die Deutschen den Kamin kennen,
das lateinische Wort caminus wurde in althochdeutscher Zeit entlehnt und ist
Zur Herrschaft gelangt in dem Bereich, den lateinische Lehnwörter dieser Zeit
in durchdringen pflegten: in allen oberdeutschen Mundarten bis Tirol und
Schlesien im Osten, bis Luxemburg und zur Main—Eger-Linie im Norden.
Durch Bedeutungswandel wurde aus dem Schürstein (altnordisch sKorLteinn)
des germanischen Nauchhauses, auf dem das Feuer entzündet und geschürt wurde,
der Schornstein, durch den der Rauch abziehen konnte. Dieses Wort gilt in
wechselnden Formen in ganz Niederdeutschland, im mitteldeutschen Westen bis
an den Rhein überall, vom Rhein ostwärts im nördlichen Baden, in Hessen,
Thüringen, Anhalt und Nordschlesien. Das übrige Schlesien teilt mit Österreich
den Namen Rauchfang, der gleichfalls aus seiner Verwendung im alten Rauch¬
haus durch Bedeutungswandel in seine geltende Bedeutung übergeführt ist. Auf
dem gleichen Weg ist drittens Esse aus dem „Feuerherd des Metallarbeiters"
zum Schornstein auch des Wohnhauses geworden und dafür jetzt der gangbare
Ausdruck im Königreich Sachsen und seiner Nachbarschaft. Durch Metapher
endlich wurde mittelhochdeutsch 8lLte „Rohr, Schilf" zum einzeln ragenden
Schornstein, es gilt in der Form Schlot vor allem im Ostfränkischen und hat
sich von da aus verbreitet.
Drei Wege tun sich hier auf, die Spannung zwischen Kultur und Sprache
zu entfernen: Entlehnung, Bedeutungswandel und Metapher. Von diesen Dreien
ist die Metapher eine mehr gelegentliche Auskunft, nur da anwendbar, wo in
glücklicher Stunde der Phantasie eine Kombination gelingt, die so schlagkräftig
ist, daß sie Tausenden von Sprachgenossen einleuchtet und darum Dauer gewinnt.
So ist es schwer, das Wirken der Metapher in feste Gesetze zu fassen. Da¬
gegen Entlehnung und Bedeutungswandel sind stetig wirkende Kräfte, von
höchster Bedeutung in dem Verhältnis zwischen Kulturfortschritt und Entwicklung
des Wortschatzes.
Entlehnung der Wörter vollzieht sich Hand in Hand mit der Entlehnung
der Sachen. Unsere Wörter Spiegel und Münze sind entlehnt aus lat. Zpeculum
und monsta. Bodenfunde in Westdeutschland zeigen, daß römische Spiegel
und Münzen der Kaiserzeit ins alte Deutschland eingeführt worden sind, Cäsar
und Tacitus erzählen, daß römische Kaufleute die Germanen besucht haben, und
wie ein Denkmal steht in unserer Sprache das Wort kaufen, zu lat. eaupo
„Schankwirt, Händler" gebildet, ein Beweis dafür, daß die alten Deutschen die
Formen des geordneten Handelsverkehrs den Römern abgelernt haben. Sprach¬
liche und kulturgeschichtliche Kenntnis ergänzen sich hier zum geschlossenen Bilde.
Wo wir keinen solchen glücklichen Reichtum an Nachrichten besitzen, dürfen wir
nach Erfahrungen wie den hier gewonnenen die Lücken unseres kulturgeschicht¬
lichen Wissens aus dem sprachlichen ergänzen. Ein moderner Sprachforscher*)
hat mit Recht gesagt: „Hätten wir keine anderen Nachrichten, würden wir
trotzdem aus den Lehnwörtern die verschiedenen Kulturbeziehungen der Völker
Europas in den Hauptzügen nachweisen können." Wir wüßten aus Lehn¬
wörtern wie Mauer, Pforte, Ziegel, Söller, Speicher, Keller, daß der deutsche
Hausbau in früher Vorzeit einen starken Anstoß von der römischen Kulturwelt
her erfahren hat. Wir wüßten aus Worten wie Anker und Kette, daß zu
gleicher Zeit die gleiche Anregung der deutschen Schmiedekunst und durch sie
der Schiffahrt, aus Speise und Kochen, Spinat und Essig, daß sie der deutschen
Küche zuteil geworden ist, und wir erführen aus Brief, Siegel und Schreiben,
daß zu gleicher Zeit die Deutschen von den Römern die Schreibkunst über¬
nommen haben.
In alter Zeit ist es die tiefgehende Kraft einheitlicher Kulturanstöße, in
neuer Zeit die Buntheit der weltumspannenden Einflüsse, die uns überrascht.
Da steht der arabische Kaffee neben dem annamitischen Tee. der indische Zucker
neben dem malaischen Sago und dem amerikanischen Tabak, wenn wir uns zu¬
nächst rein auf die äußerliche technische Kultur und ihren gangbarsten Wortvorrat
beschränken. Aber all das gilt eben auch von der Herübernahme geselliger, sitt¬
licher und geistiger Kultur. Wenn im Deutschen des siebzehnten Jahrhunderts
eine Welle spanischer Lehnwörter auftritt, Galan, Dame. Baselman „Handkuß"
aus span. Miau, äanm, beso las manos „ich küsse die Hände", ohne sichtbare
Spuren der sonst üblichen französischen Vermittlung, auch nicht zuerst an der
Westgrenze des deutschen Sprachgebiets, sondern viel früher weit im Osten, in
Österreich, wenn zudem alle diese Wörter in die Welt höfischer Geselligkeit weisen,
so lenkt sich der Blick auf den Wiener Hof der spanisch-östereichischen Habs¬
burger, der in der Tat hier die vermittelnde Rolle gespielt hat. Zugleich wird
sichtbar, welche Bedeutung und Macht das Hofleben jener Zeit gehabt, wie stark
es auf die Entwicklung der Sprache eingewirkt hat. So spiegeln die Lehnwörter
die verschiedenen Kulturströmungen wieder und zeigen in ihrer Gesamtheit, was
ein Volk vom anderen gelernt hat.
Aber man darf, wenn man diese Einflüsse abmessen will, nicht bei den
Wörtern stehen bleiben, die fremdes Lautgewand tragen. Wolkenkratzer ist
äußerlich rein aus deutschen Sprachmitteln gebildet, und doch würden wir das
deutsche Wort nicht gebrauchen, wäre nicht mit Kenntnis und Nachahmung der
himmelhohen Häuser aus Nordamerika das englische Wort öl^ scraper über
den Ozean gelangt. In der Form der Lehnübersetzung ist das Wort zu
Franzosen, Dänen, Russen und in alle europäischen Sprachen gedrungen. Auch
aus diesem Gebiet wieder nimmt geistige Kultur an der Entwicklung bedeut¬
samen Anteil. Zu einer Zeit, da die Germanen aus Eigenem noch nicht zu
den sittlichen Begriffen Gewissen und Mitleid gelangt sein konnten, sind die
Worte, die beide so trefflich bezeichnen, den lateinischen Kirchenwörtern Lonscientia
und compas8w nachgebildet und als Gaben der christlichen Mission zu allen
Germanen und Slawen getragen worden, genau wie vorher die lateinischen
Wörter ihren griechischen Vorbildern -zvv-iZ?,--^ und vo^«'»-!« Silbe um Silbe
nachgebildet worden waren.
Ja, noch schärfer muß man zusehen. Nicht immer ist es nötig, daß die
Lehnübersetzung neue Wörter schafft — auch neue Bedeutungen können ein¬
heimische Wörter unter ihrem Einfluß entfalten. Unser Wort Stimme hat neben
seiner alten gemeingermanischen Bedeutung ,.vox" die jüngere „votum" entwickelt
als Lehnübersetzung aus französisch voix: Parlamentarismus und Volkssouveränität
sind in Westeuropa älter als bei uns. Anderseits ist es deutsche Entwicklung,
wenn durch und seit Luther das Wort Beruf seinen heutigen vertieften Begriffs¬
inhalt bekommen hat. Die protestantische Welt des Nordens hat in dänisch
Kala, schwedisch knalle (zu Kalla „rufen") eine grundlegende Bereicherung ihrer
sittlichen Kultur in heimische Formen gekleidet, die sie doch dem Ausdruck wie
der Sache nach der deutschen Anregung verdankt.
So führt schon der Weg der Entlehnung in feine und schwer greifbare
Beziehungen hinein. Fast noch reicher und feiner entwickelt ist die Welt des
Vedeutungwandels. Hier ist alles in raschem Fluß. Wir meinen zu wissen,
was Stuhl und Bank sind und am greifbaren einfachen Gegenstand die klar
gegebene Grundlage sprachlicher Vorstellungen zu besitzen. Aber was haben
Stuhl und Bank des zwanzigsten Jahrhunderts noch gemein mit denen der
vorkarolingischen Zeit? Im Grund ist's hier wie bei jedem lebenden Organismus,
der sich in jedem Augenblick Zelle sür Zelle verändert und nur durch die
Langsamkeit, mit der dieser Austausch das Ganze umwandelt, den Schein des
Beharrens vortäuscht. Weil die Kultur Neues schafft, Altes abstößt, sind die
Wortbedeutungen ständigen Wandel unterworfen. Die Sitte, aus der Hirn¬
schale erschlagener Feinde zu trinken, ist uns abhanden gekommen, darum ist
denk Worte Kopf seine alte Bedeutung „Trinkschale, Becher" verloren gegangen
und nur die jüngere „Schädel" erhalten geblieben. Wir winden die Wände
unserer Häuser nicht mehr aus Stroh und Flechtmerk, das Wort Wand, aus
jener alten Technik allein übrig geblieben, ist in seiner heutigen Bedeutung
dem Lehnwort Mauer synonym geworden.
Oft deckt nur ein leiser Mangel an Parallelismus in der Sprache einen
Fortschritt in der Kultur auf. Beim Schuh steckt zwischen Leder und Haut
noch der Strumpf, das Leder des Handschuhs liegt der Haut unmittelbar auf.
Der Parallelismus war vollkommen in der noch nicht für alle Deutschen ver¬
gangenen Zeit, in der auch die Schuhe am bloßen Fuß getragen wurden.
Hemd schlechthin bezeichnet uns das Taghemd, das Nachthemd kann des
bestimmenden Zusatzes nie entbehren. Die sprachliche Ungerechtigkeit weist
zurück auf die Sitte der alten Zeit, in der selbst Könige ohne Nachtgewand
im Bett lagen.
Man steigt zu Pferde, aber auf das Fahrrad, sitzt hoch zu Roß, aber in
der Eisenbahn, fährt zu Wagen, aber mit der Kutsche oder dem Automobil,
liegt zu Bett, aber auf dem Sofa, geht zu Biere, aber läßt sich zu einer Bowle
einladen: nur die seit Jahrhunderten festgefügten Wendungen können des Artikels
entbehren, die mit Artikel folgen der jüngeren Sprachregel, wie sie kulturell
jüngeres Wortgut miteinander verknüpfen.
Ein Wandel unserer Kulturgewohnheiten kann eine Unsicherheit in unsern
Sprachgebrauch tragen. Das alte Heilmittel des Aderlasses ist uns fremd
geworden, wir verstehen nicht mehr den ursprünglichen Sinn der Redensart
„jemandem an der Ader Blut lassen" und darum wissen wir nicht recht, heißt
es: „er läßt mir zur Ader" oder „mich zur Ader"? Ein Schulaltertum aus
vergangenen Tagen birgt die Wendung durch die Bank. Unsere Schüler sitzen,
wenigstens in der Stadt, nicht mehr auf langen gemeinsamen Bänken — in
einem Satz wie „sie wußten durch die Bank nichts" wirst die Vorstellung noch
nach, daß man die Gesamtheit trifft, wenn man die Insassen der einen Bank
ausruft. Wir schreiben nicht mehr mit dem Gänsekiel, aber mit der Funktion
hat die Stahlfeder auch den sachlich überlebten Namen geerbt. Englisch nrite,
das von Haus aus „reißen" bedeutet, ist gar von der Technik des Runen-
ritzens über die des Schreibens mit Tinte und Stift auf die moderne Schreib¬
maschinentechnik übergegangen: hier zeigt sich ein zähes Sprachleben allem
Wandel der Kultur gewachsen.
Kenntnis der Sprache ist Kenntnis der redenden Menschen, ihrer Kultur
und Denkweise. Seit undenklichen Zeiten von Geschlecht zu Geschlecht über¬
liefert, birgt die Sprache zahllose Zeugnisse vom Leben und Treiben der Vor¬
fahren und vermag oft Aufschluß zu geben, wo jede andere Quelle kultur¬
geschichtlicher Kenntnis versagt.
W. von Bremen, Oberstleutnant und Chef des Stabes im Heeresdienst: Die
Kriegsereignisse in West und Ost 1914. Mit 8 Kartenskizzen M. —.80. Berlin,
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Sprache schreibt er eine lebensvolle Zeitgeschichte. ^ . „
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der Marneschlacht bis zum Fall Antwerpens, III: Der Stellungskrieg bis zur
Frühlingsschlacht in Flandern (19^5). Mit Kartenskizzen. Jedes Bändchen M. 1.—.
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Als Adjutant durch Frankreich und Belgien. M. 1.—. Berlin, Aug. schert.
Blumenthal und von Goldberg geben prachtvolle Augmblicksbilder vom Ausmarsch bis
zum Beginn des StellungSknmPfes.
Briefe aus dem Felde 1914/15. Für das deutsche Volk im Auftrage der
Zentralstelle zur Sammlung von Feldpostbriefen im Märkischen Museum zu Berlin
herausgegeben von Professor Dr. Pniower, Geh. Archivrat Dr. Schuster, Professor
Dr. Sternfeld u. a. M. 7,50 geb. Oldenburg i. Gr., Gerh. Stalling.
Die vorliegende erste Veröffentlichung der Zentralstelle umfaßt über 600 Briefe und
Berichte von Mitkämpfern. „Das ganze deutsche Gemüt entfaltet sich da mit seiner Gradheit,
seinem Zartsinn, seinem Humor, mit seiner Kampflust, Zähigkeit und dem Willen zu siegen
oder zu sterben," heißt es in der Einleitung; und nicht nur das finden wir in den Briefen
bestätigt, — eine glühende Vaterlandsliebe durchweht das ganze Buch.
Paul Hildebrandt: Vorm Feind. Kriegserlebnisse deutscher Oberlehrer.
M. 3.—. Leipzig, Quelle u. Meyer.
Nur ein auserwählter Kreis der Philologen an der Front kommt hier zum Wort, nur
Inhaber des Eisernen Kreuzes I. Klasse, die in zum Teil sehr ansprechender Form bemerkens¬
werte Episoden aus ihren Erlebnissen wiedergeben.'
Arthur Kutscher: Kriegstagebuch. I. Band M. 3.—, II. Band M. 2.25.
München, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung.
Der Verfasser, der bekannte Münchener UniverMtsProfessor, bietet uns mit seinen form¬
schönen Tagebuch-Aufzeichnungen eine prächtige Gabe.
Aus den Kämpfen um Lttttich. Von einem Sanitätssoldaten. M. 1.—.
Berlin. S. Fischer.
Das Büchlein versetzt uns sehr anschaulich in die allererste, hochgemute Zeit des Vorwärts-
stürmens.
Kurt Mayer-Leiden: Bon der Maas bis an die Memel. M. 2.—. Berlin,
E. Fleischel u. Co.
Ähnlich wie Blumenthal und von Goldberg schildert Mayer-Leiden in Augenblicks¬
bildern die großen und kleinen Dinge des Kriegerlebens der ersten Monate.
Wilhelm Miesmer: Am Feinde. Der Augustfeldzug in Ostpreußen. MI —
Heilbronn, Eugen Salzer.
Gehaltvolle Skizzen aus den ersten Kämpfen in Ostpreußen.
Harald Nielsen: NordschleSwigsche Soldatenbriefe aus dem Weltkrieqe
Übersetzt von Carta Hoffmann-Sylwan. M. 3.—. Jena, Eugen Diederichs.
Interessante Briefe unserer dänischsprechenden Feldgrauen.
Hans Paasche: Fremdenlegioniir Kirsch. Eine abenteuerliche Fahrt von
Kamerun in den deutschen Schützengraben. M. 1.—. Berlin, August schert.
Fast wie ein Märchen unter die Erlebnisse Kirschs an. Er setzt alles daran, die Heimat
zu erreichen, was ihm nach vielen Mühen auf dem Umweg über die französische Fremden¬
legion auch gelingt.
Rohr, Adolf: Siebcnbiirger Sachsen im Weltkrieg. Feldbriefe und Krieos-
skizzen. M. 2,40. Wien, Seidel u. Sohn.
Von deutscher Treue und deutschem Heldenmut erzählt uns das Büchlein, dem Pro¬
fessor N. Eucken ein Geleitwort widmet.
Riebicke, Otto: Als Schipper in der Front. M. 1.—. Magdeburg, Creutzsche
Verlagsbuchhandlung.
Niebickes, des jungen Buchhändlers, Skizzen aus dem Leben der Armierungssoldaten
wird kein Leser ohne inneren Gewinn aus der Hand legen.
Rifat Gozdovic Pascha: Im blutigen Karst. M. 3.—. Am Col ti Lana.
M. 2.50. Stuttgart, K. Thienemann.
Der eigenartige Kleinkampf und den Bewohnern der schwarzen Berge erregt unser
höchstes Interesse. An die italienische Front versetzt uns der zweite Band. Beide Bücher
sind auch für die Jugend geeignet.
Hr. G. von Robben: Zwei Brüder. Feldpostbriefe und Tagebuchblätter.
I: Leutnant Gotthold von Ryoden. M. 1.—. Tübingen, I. C. B. Mohr.
Von einem jungen Helden, dessen Leben das Vaterland forderte, lesen wir Briefe voll
tiefen Verständnisses für oaS Große unserer heutigen Zeit.
Hans Sammereyer: Mit den Blumcnteufeln gegen die Russen. Drei Monate
Winterfeldzug in Südpolen und den Karpathen. M. 2.—. Wien, Wilh. Brau-
Müller. — Helmnt Unger: Sturm im Osten. An Österreichs Seite in den Kar¬
pathen und in Galizien. M. 1.—. Chemnitz, Gottl. Koezle.
Die beiden Bücher ergänzen einander. Das des Österreichers schildert die Winter¬
kämpfe 1914/es um Galizien, das andere die glänzenden Tage von Gorlice bis nach der
Wiedereroberung Lembergs.
Dr. Willi Warstat: Das Erlebnis unserer jungen Kriegsfreiwilligen. Heraus¬
gegeben im Auftrage des Deutschen Bundes für Erziehung und Unterricht. M. 1.—.
Gotha. F. A. Perthes, A.-G.
Von der Schulbank in den Krieg! Wie der Krieg auf die Seele unserer jungen
Kriegsfreiwilligen einwirkt, wie trotz des rauhen Kriegerhandwerks die deutsche Jugend ihre
Ideale hochhält, zeigt uns der den Grenzbotenlcsern wohlbekannte Herausgeber in den geschickt
zusammengestellten Feldpostbriefen, Schilderungen und Gedichten.
^ Kapitänleutnant Aust: Die Kriegsfahrten S. M. S. „Karlsruhe". M. 1.—.
Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdr. — Graf Dohna - Schlodien: S. M. S.
„Möwe". M. 1.—. Gotha, F. A. Perthes, A.-G. — Kapitänleutnant von Mücke:
„Centen", „Ayesha". 2 Bändchen je M. 1.—. — Kavitänlentnant Freiherr
?on Spiegel: Kriegstagebuch „N 202". M. 1.—. Berlin. August schert,
G-in. b. H.bo¬
Hoch schlagen unsere Herzen, wenn wir uns in die Prächtigen, leensvllen Schilde
rungen unserer Seeoffiziere vertiefen. Das gefahrvolle Leben der Kreuzer- und U-Boot-
Besatzungen, die hingebende Treue von Offizieren und Mannschaft kommt uns hier so recht
ZUM Bewußtsein.
Auto» Fendrich: An Bord. Kriegserlebnisse bei der schwimmenden und
legenden Wehrmacht Deutschlands. M. 1.—. Stuttgart, Franckhsche Verlagsh.
In das Bord - Leben unserer blauen Jungens führt uns der Verfasser, mit dem
""r Fahrten auf, über und unter dem Wasser vornehmen.
Emil Ludwig: Die Fahrten der „Emden" und „Ayesha". Nach Berichten
von Teilnehmern geschildert. M. 1.—. Berlin, S. Fischer.
Gewissermaßen eine Ergänzung der v. Mückeschen Bücher.
"
„Skagerrak. Der Ruhmestcig der deutschen Flotte. M. 1.—. Berlin,
Ullstein u. Co.
Eine zusammenfassende Schilderung der ersten großen Seeschlacht im Weltkrieg.
Sven Hedin: Ein Volk in Waffen. Geb. M. 10.—; gekürzte Feldausgabe
M. 1.--. Leipzig, F. A. Brockhaus.
In gewohnter Meisterschaft führt Sven Hedin der Wahrheit zur Ehre Feder und Stift,
und in ebenfalls gewohnter Gediegenheit hat der Verlag dem Buche eine glänzende Aus¬
stattung gegeben. Text und Bild wetteifern miteinander, unser ungeteiltes Interesse zu be¬
anspruchen.
Georg Wegener: Der Watt von Eisen und Feuer. Geb. M. 10.— ; ge¬
kürzte Feldausgabe M. 1.—. Leipzig, F. A. Brockhaus.
Wegener legt, im Gegensatz zu Sven Hedin, mehr Gewicht auf die Schilderungen der
einzelnen Kampfhandlungen. "Die unerhörte Beanspruchung des menschlichen Geistes und Körpers
findet in Wegener einen vorzüglichen Beobachter. Textliche und bildliche Ausstattung ist
ebenso vorzüglich wie beim Hedinschen Band.
Heinrich Binder: Mit dem Hauptquartier nach Westen. M. 3.—. Stuttgart,
Deutsche Verlags - Anstalt.
Die ersten sich überstürzenden Ereignisse im Westen, die mit der Eroberung Ant¬
werpens einen gewissen Abschluß erreichten, sind Gegenstand der Binderschen Beobachtungen.
Text und Bilder ergänzen einander aufs beste.
Anton Fendrich: Mit dem Auto an der Front. M. 1.- . Stuttgart,
Franckhsche Verlagshandlung.
Man merkt aus jeder Zeile, daß der Verfasser mit vollem Herzen bei den Truppen
da vorn Umschau gehalten hat.
Rudolf Presber: An die Front zur deutschen Kronprinzen. M. 1.—.
Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt.
Die Früchte eines kurzen Aufenthalts beim kronprinzlichen Heerführer.
Karl Rosner: Der graue Ritter. M. 1.—. Berlin, Aug. schert, G. in. b. H.
Prächtige Skizzen aus den Stellungskämpfen im Westen.
Otto Eduard Schmidt: Eine Fahrt zu den Sachsen an die Front. M. 1.20.
Leipzig, B. G. Teubner.
Bilder von einem Besuch bei den sächsischen Truppen der Westfront.
Sven Hedin: Nach Osten. Geb. M. 10. ; gekürzte Feldausgabe M. 1.......
Leipzig, F. A. Brockhaus.
Mehr noch als dem Westen gehört Hedins Interesse dem Osten. Sein Aufenthalt an
der deutschen Ostfront hat seine Bewunderung für das deutsche Heer, die deutsche Organisation,
die deutsche Kultur noch erhöht. Hedins wahrheitsgetreue Angaben über russische Ver¬
heerungen in Ostpreußen werden manchem Neutralen die Augen öffnen. Prächtige Bilder,
vielfach nach Skizzen des Verfassers, schmücken den Band.
Wilhelm Conrad Gomoll: Im Kampf gegen Rußland und Serbien. Geb.
M. 10.—; gekürzte Feldausgabe M. 1.—. Leipzig, F. A. Brockhaus.
Was das Wegenersche Buch für den Westen ist, ist das Gomollsche für den Osten.
Wie alle die bisher erwähnten Bände des Brockhausschen Verlages ist auch dieser in text¬
licher und bildlicher Ausstattung mustergültig.
Dr. Wilhelm Feldmann: Mit der Heeresgruppe des Prinzen Leopold von
Bayern uach Weißrußland hinein. M. 1.80. München, C. H. Beck.
Feldmann schildert die große Zeit des Vormarsches in Polen, von Warschau und Nowo-
Georgiewsk.
Norbert Jaques: In der Schwarmlinie des österreichisch-ungarischen Bundes¬
genossen. M. 2.—. — Aage Madelung: Mein Kriegstagebuch. M. 2. - . Berlin,
S. Fischer.
Die beiden Neutralen Madelung und Jnques haben ihre Liebe zu unserer heiligen
Sache in vorliegenden Büchern niedergelegt, die beide in der Front unserer österreichisch-
imgarischen Waffenbrüder entstanden sind,
Major Tänner: Frontberichte eines Neutralen. I: Polen und Karpathen,
II: Galizien und Bukowina, III: Ostwärts. Jeder Band M. 3.—. Berlin, Aug.
schert, G. in. b. H.
Die mit vielen interessanten Abbildungen nach eigenen Aufnahmen des Verfassers ver¬
sehenen Bände machen uns nicht nur mit den rümpfenden Truppen, die Tänner mit dem
snchtritischen Auge des Offiziers betrachtet, sondern auch mit Land und „Leute in den Kampf¬
gebieten vertraut. Doppelt wertvoll erscheinen uns die freimütiger Äußerungen des Ver¬
fassers, weil er als Schweizer die Vorkommnisse völlig unparteiisch ansieht und dabei
zu einer vorbehaltlosen Anerkennung der deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegs¬
führung kommt.
Frih Wertheimer: (I.) Im polnischen Winterfeldzug. (II.) Bon der Weichsel
bis zum Dnjestr. (III.) Kurland und die Diinafront. M. 3.—, M. 2.—, M. 3.—.
Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.
Eine sehr anschauliche Schilderung der Kämpfe im Osten vom Einmarsch in Polen
bis zur Eroberung Kurlands. Eine Anzahl vortrefflicher Abbildungen unterstützt das ge¬
schriebene Wort.
Rudolf Dämmert: Der serbische Feldzug. Mit 67 Abbildungen. M. 2.—.
Leipzig, Bernhard Tauchnitz. — Wilhelm Hegeler: Der Siegeszug durch Serbien.
M. 1. -. Berlin, Aug. schert, G. in. b.H.
Beide Verfasser führen uns in die Gebirgswelt Serbiens, die unsere Truppen in der
Gemeinschaft mit den tapferen Bulgaren, Österreichern und Ungarn im letzten Viertel des
vorigen Jahres im raschen Siegeslauf durchzogen. Beide schließen mit den Nischer Kaiser¬
tagen ab.
E. Serman: Mit den Türken an der Front. M. 1.—. Berlin, Aug.
schert, G. in. b. H. — E. Bleeck-Schloenbach: Allah it Allah. Mit den Sieges¬
fahnen an den Dardanellen und auf Gallipoli. M. 1.—. Leipzig, O. G.
Zehrseld.
Serman und Bleeck-Schloenbach führen uns zu unseren türkischen Bundesgenossen.
Ersterer schildert den Vormarsch zum Suezkanal und streift kurz die Kämpfe im Kaukasus
und auf Gallipoli, letzterer beschränkt sich auf die Ereignisse an den Dardanellen.
Graf Scapinclli: Von der Adria bis zum Ortler. M. 2.50. München,
C. H. Beck.
Mit der italienischen Front unseres österreichisch-ungarischen Bundesgenossen macht uns
Scapinelli in ansprechender, packender Darstellung bekannt.
Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung. Aus Anregung und unter
Mitwirkung des Zentralkomitees vom Roten Kreuz herausgegeben von Ernst Jacks.
I. Band M. 10.—. Gotha, F. A. Perthes. A.-G.
Eine Fülle von längeren und kürzeren Aufsätzen hervorragender Vertreter von Wissen¬
schaft, Literatur und Kunst, die den Krieg als Erlebnis und Erfahrung in der Heimat be¬
handeln, umrankt den Kern des Buches, die von Professor Witkop zusammengestellten Stimmen
aus dem Felde.
Freifrau v. Dalwigk: Erinnerungen eines preussischen Generals in russischer
Kriegsgefangenschaft. M. 1.—. Oldenburg i. Gr., Gerh. Stalling.
"
Dieses Büchlein zeigt so recht den Tiefstand der russischen „Kultur.
Aus dentschen Kriegsgefangenenlagern. Herausgegeben vom Ausschuß für
Rat und Hilfe (Vermißtensuche für Ausländer). Zwei Bändchen M. —.50 und
M. 1.—. Frankfurt a. M, Rütten u. Loening.
Daß die Gefangenen bei uns in jeder Beziehung menschlich behandelt werden, zeigen
die gut illustrierten Bändchen jedem Unbefangenen.—
I. Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. M. 2.. Letpztg, C. F. Amelang.
Verfasserin schildert ihre Erlebnisse während der Belagerung und der Russenherrschaft.
Professor Dr. A. Penck: Von England festgehalten. M. 1.20. Stuttgart.
I. Engelhorns Nachf.
Beobachtungen und Eindrücke des bekannten Geographen in Australien, das er kurz
vor Kriegsausbruch als Gast der australischen Regierung aufsuchte und auf seiner Rückreise
in England, wo er widerrechtlich monatelang festgehalten wurde.
Erwin Rosen: Der große Krieg. Drei Bände je M. 3.—. Stuttgart,
Robert Lutz.
Rosen hat mit vielem Geist allerlei Schilderungen, Anekdoten, Gedichte usw. aus dem
Kriege geschickt zusammengestellt."
„Um Vaterland und Freiheit. In Bänden zu je M. 2.—. Siegen, Her¬
mann Montanus."
Ein empfehlenswertes Bilderwerk. Die Bände „Österreich - Ungarn im Weltkrieg,
„Die Kriegsgefangenen in Deutschland", „Deutschlands Eroberung der Luft" werden be¬
sonderes Interesse finden.
C. Willich: Kricgstage in Süd - West. M. 1.—. Oldenburg i. Gr.,
G. Stalling.
Läßt uns einen tiefen Einblick tun in den Heldenkampf unserer wackeren Südwest-
Afrikaner.
Teubners Kriegstaschenbuch, ein Handlexikon über den Weltkrieg. Von
Ullrich Steindorff. M. 3.—. Leipzig, B. G. Teubner.
Gibt auf alle die vielen Fragen, die der Krieg gebiert, gewissenhaft Auskunft; alle
Kriegs- und mit dem Krieg zusammenhängende Ereignisse bis Mitte 1916 sind hierbei berück¬
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Wir bitten die Freunde der^>
das Abonnement zum I. Quartal 1917
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanstalt entgeaen. Preis 6 M.Verlag der
G?en2boten
G. in. b. S.
Berlin 3V/n.
i ol8 pa,Lein, para bellum! Das alte lateinische Wort, daß wer
den Frieden haben wolle, für seine Kriegsvereitschaft sorgen solle,
entspricht nur in erweiterter Auslegung unseren gegenwärtigen
ZeitverhMnissen. Dem deutschen Volke lag der Gedanke an den
nahenden Weltenbrand vor dem Kriege so fern, daß die hin und
wieder auftretenden literarischen Kriegspropheten als unverbesserliche Schwarz¬
seher gescholten wurden. Wir wollten den Frieden und glaubten daher an seine
Aufrechterhaltung, obgleich manche bedrohliche Wetterwolke über den politischen
Himmel dahinzog. An der Kriegsbereitschaft haben wir es trotzdem nicht fehlen
lassen. Der Mahnung des alten Lateiners sind wir eingedenk gewesen. Bereit
sein ist alles! Und in der Stunde, da die aufgespeicherten Leidenschaften der
Feinde mit elementarer Wut losbrachen, standen wir wohlgerüstet alsbald zur
Abwehr und zum Angriff auf dem Plan. Was militärisches Können, opfer-
mutiges Wollen und von sittlicher Energie beseeltes Handeln zu leisten ver¬
mögen, haben die hinter uns liegenden bald zweiundeinhalb Jahre hundert¬
fältig bewiesen. Unsäglich Schweres haben wir in dieser Zeit gelitten und über¬
wunden, am ersehnten Ende sind wir aber noch nicht angelangt. Wir wissen
nicht, welche Bitternisse im Trübsalkelch des Krieges Noch enthalten sind und
welche Hindernisberge wir noch werden übersteigen müssen.
Während wir also noch in den Niederungen eines unbekannten Schicksals mutig
vorwärtsschreiten, werden auf den Höhen doch die verheißungsvoller Anzeichen eines
uns beglückenden Frühroth wahrnehmbar. Im Kräfteaufwand unserer Gegner zeigt
sich häufiger eine erfreuliche Erschlaffung und ihre wirtschaftlichen Nöte wachsen
stetig an. Noch ist aber bei den Drahtziehern der feindlichen Mächte der Glaube
nicht geschwunden, daß durch zähes Ausharren eine Wendung im Kriegsglück zu
ihren Gunsten sich werde herbeiführen lassen. Ihre Zukunftshoffnung ist doppel-
seiüg. Sie wollen ihre eigenen, teilweise seur! erschöpften Kampfesreihen durch
Zufuhr neuen Menschenmaterials zu erneuten Kraftäußerungen befähigen und
wollen noch riesenhafte Mengen Munition mit Unterstützung dienstbeflissener,
angeblich neutraler Staaten sich beschaffen. Das ist die eine Seite ihrer Rech¬
nung, Auf der anderen Seite wähnen sie, daß die Widerstandsfähigkeit Deutsch¬
lands aus Mangel an frischen Streitern und ergänzenden Kriegsmaterial im
Niedergang begriffen sei, außerdem die wirtschaftlichen Sorgen bei den Mittel¬
mächten dem Höhepunkte ihrer Erträglichkeit sich bedenklich nähern. Es soll
auch nicht geleugnet werden, daß die furchtbaren Anstrengungen der wüsten
Kriegszeit den militärischen und wirtschaftlichen Organismus Deutschlands er¬
heblich mitgenommen haben. Stellen wir aber Vergleiche zwischen unserer und
der gegnerischen Lage an, so können wir unsere Überlegenheit mit gutem Ge¬
wissen behaupten. Käme es daher lediglich darauf an, durchzuhalten, bis der
eine oder andere Gegner zum Eingeständnis seiner Schwäche sich bequemen
muß, so würden wir eine solche Kraftprobe getrost auf uns nehmen können.
Doch müssen auch unserseits zwei Erwägungen angestellt werden. Die
Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß es den Feinden gelingt, in den künftigen
Monaten mit gesteigerten Kraftleistungen den Feldzug fortzusetzen. Ferner ist
unser Verlangen naheliegend, zur Verkürzung der Kriegsdauer so starke Schläge
der Schuldbeladener Verschwörergemeinschaft zu verabfolgen, daß ihre Hoffnungs¬
träume auf spätere kriegerische Erfolge zerflattern. Aus der Überlegung in
der einen wie in der anderen Richtung ergibt sich die Notwendigkeit, alle
Faktoren zu stärken und auszugestalten, auf denen unsere militärische und wirt¬
schaftliche Sicherung beruht. Um den tückischen Angriffen, welche irr feindlichen
Kriegsrat vielleicht noch ausgeheckt werden, in ungeschwüchter Waffenrüstung
zu begegnen, müssen wir unser Rüstzeug vervollständigen. Und um die schmäh¬
lichen Aushungerungsattentate gegen die gesamte Bevölkerung Deutschlands mit
sieghafter Gewißheit zu vereiteln, müssen wir den Schwächen der Volksernährung
nach Möglichkeit abzuhelfen bestrebt sein. Wehr und Waffen, Pflug und Schraub¬
stock bilden die alten und im Hinblick auf die Zukunft in erhöhtem Maße an¬
zuwendenden Elemente unserer Kriegführung. Unsere Gedanken beschäftigen sich
gegenwärtig lebhafter als zuvor mit den Kriegszielen. Diesen Kriegszielen, die
den Friedensschluß bedingen, kommen wir aber um so näher, je eifriger wir
die Kriegsarbeit betreiben. 3i vÜ8 pacem, para bellum! Auf diesem Boden
ist das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst entstanden.
Mit hochgespannter Teilnahme find alle politisch orientierten Kreise der
Nation dem parlamentarischen Werdegange des Gesetzes gefolgt, als dieses aus
der einfachen Verkündung der allgemeinen Dienstpflicht für alle männlichen
Deutschen von 17 bis 60 Jahren zu einem mit eingehenden Ausführungs¬
bestimmungen ausgestatteten Gesetzgebungsakte sich auswuchs. Der Reichstag
hat sich selbst als mitwirkender Faktor bei der Durchführung der zivilem Dienst¬
pflicht durch Einsetzung eines Ausschusses von fünfzehn Mitgliedern eingeschaltet.
Die von den Konservativen geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken
gegen einen solchen Ausschuß, der auch während der Reichstugsvertagung als
exekutives Organ sich betätigen soll, kann man durchaus würdigen, und doch
die Entscheidung willkommen heißen, weil durch sie der einheitliche Volkswille
eindrucksvoller sich ausprägt, als wenn das Hilfsdienstwerk lediglich auf bundes¬
rätliche Verordnungen aufgebaut werden würde. Die Volksvertretung hat ein
gutes Recht darauf, gehört zu werden, wenn so tief einschneidende Eingriffe,
wie es hier der Fall ist, in die Arbeitsfreiheit und Privatwirtschaft in Aussicht
stehen. Auch ist kaum anzunehmen, daß der Ausschuß als unbequemer Hemm¬
schuh bei der Verwirklichung der als notwendig befundenen Arbeitsziele sich
erweisen werde. Zwar ist seine Zustimmung erforderlich, wenn der Bundesrat
allgemeine Verordnungen zu erlassen, also gesetzgeberische Fragen zu lösen beab¬
sichtigt, einem störenden Dreinsprechen der Herren Parlamentarier in die mili¬
tärischen Verfügungen aber wird dadurch vorgebeugt, daß das Kriegsamt nur
verpflichtet ist, den Ausschuß über alle wichtigen Vorgänge auf dem Laufenden
zu halten, ihm auf Verlangen Auskunft zu geben, seine Vorschläge entgegen¬
zunehmen und vor Erlaß wichtiger Anordnungen allgemeiner Art seine Meinungs¬
äußerung einzuholen. Da die Interessenvertretungen der Industrie und gewert-
. schaftliche Organisationen in Angelegenheiten, die sie nahe berühren, zu Rate
gezogen werden sollen, so erscheint es uns nur als ein Akt der Billigkeit, daß
auch die Vertreter des einen gesetzgebenden Faktors nicht gänzlich übergangen
werden.
Mit größerer materieller Berechtigung ließe sich die Einführung ständiger
Arbeiterausschüsse in allen für den vaterländischen Hilfsdienst tätigen Be
trieben, falls in ihnen in der Regel mindestens fünfzig Arbeiter beschäftigt
werden, anfechten. Die Reichstagsmehrheit folgte mit ihrer Entschließung der
Erwägung, daß den Arbeitnehmern gewissermaßen ein Äquivalent für die Be¬
schränkung ihrer Freizügigkeit durch die Überweisung an einen bestimmten Betrieb
gewährt werden müsse. Für die Vertreter der Heeresleitung mochte außerdem
der Wunsch maßgebend sein, für die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens in
den für Kriegszwecke in Anspruch genommenen Betrieben Sorge zu tragen.
Diesem Zwecke sollen die Arbeiterausschüsse dienen, indem ihnen aufgetragen
wird, das gute Einvernehmen innerhalb derArbeiterschafr des Betriebes und zwischen
der Arbeiterschaft und dem Arbeitgeber zu fördern. Demgemäß haben sie solche
Anträge, Wünsche und Beschwerden der Arbeiterschaft, die sich auf die Betriebs¬
einrichtungen, die Lohn- und sonstigen Arbeitsverhältnisse des Betriebes und
seiner Wohlfahrtseinrichtungen beziehen, zur Kenntnis des Unternehmers zu
bringen und sich darüber zu äußern. Dieselben Befugnisse liegen den An¬
gestelltenausschüssen ob, die beim Vorhandensein von mehr als fünfzig An-
gestellten zu errichten sind. Dem Wunsch nach einem friedlichen Ausgleich etwa
vorkommender Konflikte trägt weiterhin die Ermächtigung Rechnung, beschwerde¬
führend sich an eine Schlichtungskommission zu wenden, die in der Regel
für jeden Bezirk einer Ersatzkommission zu bilden ist und aus einem Beauf¬
tragten des Kriegsamts als Vorsitzenden sowie aus je drei Vertretern der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht.
Die löbliche Absicht der Friedensvermittlung in allen Ehren, immerhin
wird mit den Arbeiterausschüssen und der Beschwerdeiustanz eine Streitfrage
kurzer Hand entschieden, die seit einem Jahrzehnt und länger die Parlamente
wiederholt beschäftigt hat, ohne daß eine befriedigende Lösung der wider¬
streitenden Interessen sich hätte erreichen lassen. Ein großer Teil der Industrie
hat von jeher den Standpunkt eingenommen, daß die Ausschüsse eine Mit¬
regierung auch in solchen BMebsangelegenheiten für sich beanspruchen könnten,
in denen einzig und allein die Betriebsleiter das entscheidende Wort sprechen
müßten. Der Abg. Stresemann ist allerdings den Besorgnissen, daß die
Autorität und Selbstbestimmung der Industriellen durch die Einsetzung von
Arbeiterausschüssen beeinträchtigt werden könnten, entgegengetreten, wird aber
die gegnerischen Meinungen schwerlich überzeugt haben. Vielleicht ist es den
Arbeitgebern aber nicht einmal unlieb, daß mit der neuen Maßnahme ein
praktischer Probeversuch gemacht wird, denn nur um einen solchen kann es sich
handeln, da die Geltung des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst zeitlich
begrenzt ist und nur auf diejenigen Betriebe sich erstreckt, die für die Kriegs-
arbeiten tätig sind. Was jetzt gesetzgeberisches Stückwerk ist, wird nach den
Erfahrungen der Kriegszeit späterhin erst neu zu ordnen sein. Alsdann werden
auch die sachlichen Gründe für die einzelnen Bestimmungen eingehenoer geprüft
werden als es beim Hasten nach Erledigung des keinen Aufschub duldenden
Dienstpflichtgesetzes geschehen konnte.
Die hier erwähnten Punkte hängen mit dem eigentlichen Wesen des Gesetzes
nur lose zusammen, sind Reglementierungen, die ebenso gut wegfallen könnten,
ohne den Geist, dem der Dienstpflichtgedanke entstammt, abzuschwächen. Die
„Firma Deutschland", wie von berufener Seite das Kriegsamt genannt worden
ist, bietet alle ihr ungehörigen Männer und Jünglinge auf zur Abwendung
von äußeren Gefahren, von denen sie durch eine feindliche Übermacht sich be¬
droht sieht. Sie vertraut darauf, daß das sittliche Pflichtbewußtsein in der
Nation stark genug sein wird, um die persönlichen Interessen dem Allgemein¬
wohl unterzuordnen. Das Prinzip der Freiwillig tett wird daher als
Eckstein des vaterländischen Hilfsdienstes dem Aufgebot zur Arbeit vorangestellt.
Über die praktischen Wirkungen eines Ausrufs zur Arbeitsbetätigung darf man
sich freilich keinen Illusionen hingeben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ein
Überangebot von freiwilligen Helfern mit einem Fehlbetrag an erforderlichen
Arbeitskräften zusammentrifft. Das ist nur scheinbar ungereimt. Die zu¬
vörderst notwendigen Arbeiten erfordern eben fachlich vorgebildete Arbeits¬
kräfte, die sich zumeist bereits in festen Stellungen befinden und daher bis auf
weiteres keine Veranlassung haben, nach einer neuen Beschäftigung sich umzutun.
Hingegen dürften viele, mutmaßlich viele Tausende in patriotischem Drange
bereit sein, ihre Dienste dem Kriegsamt zu widmen, ohne daß letzteres in der
Lage ist, die Scharen der Freiwilligen in einer ihren Kräften und Kenntnissen
entsprechenden Weise zu verwenden. Die Arbeitswilligkeit allein kann hier nicht
den Ausschlag geben, sondern es muß vor allem die Eignung zu ganz be¬
stimmten Arbeitsleistungen vorhanden sein. Daraus ergibt sich die Regel, daß
bei Aufforderungen zu freiwilligen Meldungen eine Sonderung nach Berufs¬
klassen wird erfolgen müssen, wobei selbstverständlich solche Berufe zu be¬
vorzugen sein werden, nach denen der größte Bedarf sich kundgibt. Im
Hinblick auf die Munitionsbeschaffung wird voraussichtlich die Nachfrage nach
gelernten Metallarbeitern zunächst am dringlichsten hervortreten. Gleichzeitig
könnten alle anderen Betriebe einen Mehrbedarf an Arbeitern beanspruchen,
die zu der Munitonsfrage in irgendwelchen Beziehungen stehen. In welchen
Betriebsgruppen die Tätigkeit erweitert werden soll, wird die Heeresleitung
freilich ebensowenig ausposaunen wie die Zahl der neu einzustellenden Arbeiter.
Ein Gesetz, das eine Mobilmachung von Hunderttausend«:!: für Arbeits¬
dienste im Auge hat, kann natürlich erst im Verlauf eines angemessenen Zeit¬
raums zu der erstrebten Breite sich entwickeln. Der ihm vorgezeichnete Wirkungs¬
kreis aber ist so umfangreich, daß nach und nach wohl auch solche Berufskreise
in Anspruch genommen werden dürften, deren Mitarbeit nicht sofort verwendet
werden kann. Das Arbeitsprogramm des Kriegsamts gipfelt ja nicht aus¬
schließlich in der Besetzung von Arbeitsstellen in neubegründeten Unternehmungen,
sondern bezweckt auch einen großartigen Verschiebungsprozeß im wirtschaftlichen
Organismus. Ein Teil der jetzt noch hinter der Front mit zivilem Arbeits-
aufgabsn beschäftigten Wehrpflichtigen wird vielleicht zu anderen Leistungen
herangezogen werden, während die zum Hilfsdienst aufgerufenen Personen in
die Lücken einrücken könnten. Ferner ließe sich die Zahl der jetzt noch als
unentbehrlich „Reklamierten" zweifellos beträchtlich verringern, wenn Arbeits¬
kräfte in genügender Menge zur Verfügung stehen. In den Betrieben der Ver¬
waltung, in den kriegswirtschaftlichen Organisationen, Banken und vielen anderen
Geschäftszweigen kriegswirtschaftlichen Charakters gibt es schon jetzt, wie jeder¬
mann beobachten kann, genug unbesetzte Posten, die zu aushilfsweiser Be¬
kleidung Anlaß geben könnten. Also auch ohne Kenntnis des vom Kriegsamt
entworfenen Verteilungsplans darf damit gerechnet werden, daß die Mobilisie¬
rung der Heimarmee keineswegs auf die Indienststellung der Arbeiterschaft für
industrielle Betriebe sich beschränken wird.
Nach den Bestimmungen für die Erfüllung der allgemeinen Dienstpflicht
wird, wie dargelegt, zunächst vom Grundsatz ausgegangen, daß die Heranziehung
der erforderlichen Arbeitskräfte durch einen Ausruf zu freiwilligen Meldungen
erfolgen soll. Inwieweit dieser erste Schritt zur Mobilmachung der Heimarmee
den Bedarf decken wird, läßt sich nicht voraussagen. Entscheidend werden der
Umfang der Bedürfnisse, und zwar gesondert nach Berufsarten, und die Zahl
der Meldungen, wiederum nach beruflichen Kategorien geschieden, sein. Im
Gesetz mußten daher die weiteren Maßnahmen zur Befriedigung der An¬
forderungen vorgesehen werden. Dem Aufruf an die Allgemeinheit oder
einzelne Berufsklassen folgt die Aufforderung an die einzelnen Personen.
Hierbei wird der Arbeitsfreiheit weitester Spielraum gewährt. Die Arbeits¬
pflicht wird den betreffenden Individuen zwar auferlegt, sie haben aber freie
Wahl in der Art ihrer Betätigung, wenn sie nur einem Betriebe des vater¬
ländischen Hilfsdienstes sich widmen. Das ist unseres Erachtens ein äußerst
glücklicher Gedanke, denn er verbindet die größtmögliche Rücksichtnahme auf
persönliche Neigungen mit einer wesentlichen Vereinfachung der Obliegenheiten
an den leitenden Stellen. Letztere sind dadurch der ungeheuren Belastung
enthoben, vielen Hunderttausenden den Posten nachzuweisen, der ihren Kennt¬
nissen und Wünschen am ehesten entspricht. Sehe jeder, wo er nutzbringend
sich einordnen kann, nachdem an ihn das Aufgebot zur Pflichtleistung ergangen.
Das Kriegsamt aber dürfte in seinem eigenen Interesse die Vorsicht üben, nur
solche Berufstätige anzufordern, deren Verwendung zu der gegebenen Zeit
zweckmäßig erscheint. Andernfalls könnten die anrückenden buntgemischten
Scharen von arbeitswilligen, für die besonderen Aufgaben aber ungeeigneten
Personen dem Kriegsamt arge Verlegenheiten bereiten.
Der Rahmen des Hilfsdienstwerkes ist übrigens so weit gespannt, daß, wie
anzunehmen, den „Einberufenen" reichlich Gelegenheit sich bieten wird, ihre
Kraft in den Dienst der vaterländischen Sache zu stellen. Denn als tätig für
diese gelten alle Personen, die bei Behörden, in der Kriegsindustrie, in der
Land- und Forstwirtschaft, Krankenpflege, in kriegswirtschaftlichen Organisationen
jeder Art oder in sonstigen Berufen oder Betrieben, die für Zwecke der Krieg¬
führung oder der Volksversorgung unmittelbar oder mittelbar Bedeutung haben,
beschäftigt sind, soweit die Zahl dieser Personen das Bedürfnis nicht über¬
steigt. — Mit dem im Nachsatz angefügten Vorbehalt soll ein Riegel den
Drückebergern vorgeschoben werden, die, vielleicht gar gegen Entgelt, ihre Auf¬
nahme in irgendwelche befreiende Arbeiterlisten bewirken, vielleicht ohne an den
betreffenden Arbeitsstätten auch nur einen Finger zu rühren, vielmehr einzig
zu dem Zweck, ihrer zwangsweisen Einfügung in die Arbeiterkolonnen durch
Vorweis einer Freistellungs-Bescheinigung vorzubeugen. Die amtlichen Organe
sollen daher zur Verhütung solcher Täuschungsversuche prüfen, ob nicht die
Zahl der als beschäftigt angemeldeten Personen das tatsächliche Bedürfnis
übersteigt. Die Dienstpflicht darf eben nicht als eine Theaterspielerei, der man
nach Belieben sich entziehen kann, aufgefaßt werden.,
Erst wenn die Aufforderung zu selbständigem Eintritt in die Reihen der
Heimarmee innerhalb vierzehn Tagen keinen Erfolg gehabt hat, soll der Arbeits¬
zwang platzgreifen, also die Überweisung zu einer Beschäftigung seitens des
beim Kriegsamt errichteten Allsschusses, der in der Regel für jeden Bezirk
einer Ersatzkommisston gebildet wird und aus einem Offizier als Vorsitzenden,
einem höheren Beamten und je zwei Vertretern der Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer besteht. Der hiermit in Aussicht gestellte Zwang scheint besonders den
Vertretern der Gewerkschaften im Reichstag einen Schrecken eingeflößt zu haben,
zu dessen Besänftigung die Wortführer des Kriegsamts eine Fülle beredter
Worte aufwandten. Um den Besorgnissen vor einer Beeinträchtigung der
Arbeiterinteressen zu begegnen, mußte die Zusicherung einer wohlwollenden
Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse durch Bestimmungen über die
materielle Sicherung der Arbeiter ergänzt werden. Da die Bewegungs¬
freiheit der Arbeiter einigermaßen eingeschränkt ist durch ihre Gebundenheit an
einen bestimmten Betrieb, der nur verlassen werden darf, wenn der Arbeit¬
geber zustimmt oder die Beschwerdeinstanz das Ausscheiden aus wichtigen
Gründen billigt, so wird im Gesetz ausdrücklich vermerkt, daß „insbesondere
eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen" als Rechtfertigung für
den nachgesuchten Stellenwechsel dienen soll.
In einer anderen Bestimmung wird dem Ausschuß die heikle Frage zur
Prüfung zugeschoben, ob der Arbeitslohn dem Beschäftigten und seinen
Angehörigen ausreichenden Unterhalt ermöglicht. Ein schwer ausführbares An¬
sinnen I Ist es schon ein bedenklicher Schritt, die Lohnsätze im privaten Jn-
dustriewerken im allgemeinen amtlich reglementieren zu wollen, so gerät man
vollends aufs Glatteis mit der Zusage, Arbeitslohn und Lebensunterhalt
dauernd im Gleichgewicht zu erhalten. Da eine Verständigung darüber,, welche
Lohnhöhe als „ausreichend" zu erachten sei, nur selten sich wird herbeiführen
lassen, ohne entweder den an höhere Lcbensansprüche gewöhnten Lohnempfänger
zu enttäuschen oder den lohnzahlenden Arbeitgeber zu Aufwendungen über die
Durchschnittslöhne des Arbeitsmarkts hinaus zu nötigen, so ist durch jene
kautschukartige Klausel ein den Arbeitssrieden gefährdender Konfliktsstoff in das
Gesetz verpflanzt worden. Dem Kriegsarbeitsamt wird es nicht leicht fallen,
bei Zerwürfnissen den objektiven Standpunkt einzuhalten. Es kann den Unter¬
nehmern nicht zumuten, Lohnsteigerungen, die eine Vergrößerung der Pro¬
duktionskosten betragen, auf sich zu nehmen, ohne entsprechende Aufschläge auf
die von der Heeresleitung bewilligten Lieferungspreise zu befürworten.
Die deutsche Industrie wird durch das Gesetz vom 4. November dieses
Jahres an einen kritischen Wendepunkt gestellt. In ihr muß sich eine grund¬
legende Scheidung in zwei große Teile vollziehen, je nachdem ihre Betriebe
dem vaterländischen Hilfsdienst unterliegen oder nicht. Die für Kriegsarbeiten
jeglicher Art benötigten gewerblichen Unternehmungen werden einer weitgehenden
positiven Begünstigung sich erfreuen können, während es den außerhalb des
gesetzmäßig veranlagten Umkreises verbleibenden Betrieben anheimgegeben wird,
schlecht und recht über die Kriegszeit sich hinwegzuhelfen. Die zweiseitige
Stellungnahme wird allerdings nicht erst jetzt eingeleitet, sondern ist schon bei
Ausbruch des Krieges aus natürlichen Ursachen wirksam geworden und bei der
Fortdauer des Völkerringens schärfer hervorgetreten. Daß der Rüstungs¬
industrie als dem wichtigsten Gliede der industriellen Betätigung von An-
beginn ein Vorrang bei der Versorgung mit Rohstoffen und bei der Beurlaubung
von wehrpflichtigen Facharbeitern eingeräumt wurde, entsprach den elementaren
Bedürfnissen der Kriegführung. Doch auch allen anderen industriellen Unter¬
nehmungen ließ man gern eine angemessene Förderung zuteil werden, um
katastrophale Störungen des Erwerbs- und Wirtschaftslebens fernzuhalten.
Bekanntlich ist vom Unternehmertum das Entgegenkommen der Heeresverwaltung
mit einer vortrefflichen Anpassung an die gegebenen außerordentlichen Zeit¬
verhältnisse beantwortet worden. Daß die Triebkraft hierbei weniger selbstlose
Begeisterung als wohlverstandenes Gewinnstreben war, schmälert nicht den aus
geistiger Intelligenz und technischer Leistungsfähigkeit erwachsenen Nutzeffekt.
Solange es ging, hielten auch die den kriegsgemäßen Arbeitsgebieten wesens¬
fremden Unternehmungen wacker mit und ließen die Flügel erst hängen, als
ihr Bewegungsspielraum durch den Mangel an Rohmaterialien und allerlei
Umsatzbeschränkungen mehr und mehr eingeengt wurde.
Infolge des vaterländischen Hilfsdienstes nun wird eine schärfere Scheidung
zwischen den beiden Jndustriegruppen sich bemerkbar machen. Die den Kriegs¬
zwecken zugewandten Industriezweige können auf jede zulässige Unterstützung
rechnen, damit sie imstande sind, auch den höchstgespannten Anforderungen nach¬
zukommen. Ihren industriellen Stiefschwestern will zwar gleichfalls niemand
mit Vergewaltigungen zu Leibe gehen, ihre Existenz ist aber gerade durch die
gesetzgeberischen Zugeständnisse bedroht, die man den auf der Sonnenseite des
Krieges befindlichen Industrien in Form der Überweisung von Arbeitskräften
in Aussicht stellt. Bei der Entziehung von Arbeitern müssen vermeidbare
Härten selbstverständlich möglichst vermieden werden. Daß das geschehen wird,
ist nicht zu bezweifeln, nachdem in den Beratungen des parlamentarischen Aus¬
schusses wiederholt zugesichert worden ist, es solle alle gebührende Rücksicht auf
solche Betriebe genommen werden, denen bestimmte Arbeitskräfte' entzogen
werden müssen, weil ihre Verwendung für kriegsnotwendige Aufgaben un¬
erläßlich erscheint. Kann ein Teil der in Mitleidenschaft gezogenen Betriebe
trotzdem in der bisherigen Weise nicht fortgeführt werden, so wird ihre Existenz-
sähigkeit vielfach dadurch sich erhalten lassen, daß man ihnen Arbeiten auf¬
trägt, die für den vaterländischen Hilfsdienst notwendig sind. Ist jedoch auch
dieser Ausweg nicht angängig, so muß durch die tatkräftige Selbsthilfe der
beteiligten Jndustrieverbände für eine Milderung der aus der Stillegung sich
ergebenden Schäden Rat geschafft werden. Die Vorarbeiten hierzu sind bereits
im Gange. Diese Bestrebungen werden um so erfolgreicher fein, wenn das
bisherige rege Verständnis der militärischen Gewalten und staatlichen Organe
für die Wirtschaftsnöte hinter der Front unvermindert andauert. Es soll plan¬
mäßig aufgebaut, nicht willkürlich zerstört werden.
Die angebahnte Umschattung in der Volkswirtschaft kann aber
auch gar nicht allein durch den militärischen Absolutismus bewirkt werden.
Die erstaunliche Promptheit, mit der die Eingliederung der zu den Fahnen
einberufenen Millionen Wehrpflichtiger in den Heereskörper sich vollzieht, hat
das Vorhandensein eines militärischen Organismus zur Voraussetzung, dessen
Einzelheiten wie das Räderwerk einer Niesenmaschine auf ein genaues Ineinander¬
greifen eingestellt sind. Die Heimarmee dagegen stellt, um einen bergmännischen
Ausdruck zu gebrauchen, ein ungeordnetes Haufwerk dar, dessen Elemente zu
einem organischen Ganzen erst umzuformen sind. Was ist natürlicher, als daß
der grüne Tisch, von dem die Verfügungen zur militärischen Mobilmachung
ergehen, Anlehnung an die schon bestehenden Organisationen der Hilfsdienst¬
pflichtigen zu gewinnen sucht. Ein solches Zusammenarbeiten ist in dem Maße
bereits gesichert, daß der Anmarsch der neuen Heerscharen nicht in unübersicht¬
lichen Durcheinander einer Volksmenge, sondern in beruflicher Gliederung der
Mannen mit bestimmten Marschlinien erfolgen wird. Diese Vorarbeit leisten
die wirtschaftlichen Verbände der Industriellen, Gewerbetreibenden und Arbeiter.
Sie machen durch ihre selbstverständliche Mitwirkung sich um das Vaterland
verdient und dienen zugleich den Interessen ihrer Angehörigen, denen ein plan¬
loses Herumsuchen nach den geeigneten Arbeitsstätten durch die Vermittlung
von berufenen Zielrichtern erspart werden kann.
Das gemeinwirtschaftliche Prinzip gelangt durch das Kriegsnotgesetz über
die Reglementierung der Produktion auf deutschem Boden zu seiner
höchsten Ausbildung. Auf dem Gebiete der Volksverpflegung haben die staat¬
lichen Eingriffe zugunsten einer gleichmüßigen Verteilung der Lebensmittel uns
bereits kommunistischen Grundsätzen angenähert. Der freie Marktverkehr ist
für die wichtigsten Bedarfsartikel der großen Masse unterbunden. Durch
behördliche Preisfestsetzungen und Konsumbeschränkungen wird die private Wirt¬
schaftsfreiheit in vielen Richtungen in enge Grenzen gebannt. Von der Ein¬
führung eines Produktionszwangs bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln
aber haben wir bisher Abstand genommen, weil der durchgreifende Erfolg
eines solchen Schrittes mit Recht angezweifelt wird. Nunmehr werden auch
für die Produktion Richtlinien insofern vorgezeichnet, als für bestimmte Zweige
derselben durch ein Fürsorgegesetz die Produktionsmittel in Gestalt von Arbeits¬
kräften bereitgestellt werden. Man darf annehmen, daß in diese Absichten der
Produktionsförderung auch die erleichterte Beschaffung von Rohmaterial ein¬
geschlossen ist. und man darf nach den Zielpunkten des Gesetzes erwarten, daß
zu gegebener Zeit eine Unterstützung der Lebensmittelerzeugung gleichfalls statt¬
finden wird. Ein eigentlicher Zwang auf die Produktion wird trotzdem nicht
ausgeübt, denn es steht jedem Unternehmer frei, seinen Betrieb der Reichs¬
industrie dienstbar zu machen oder nicht, sowie es auch den einzelnen Land¬
wirten anheimgegeben ist, welche Gewächse sie anbauen und wieviel Vieh sie
halten wollen. Die Beeinträchtigung der privatrechtlichen Freiheit geht mithin
nicht bis zur Nötigung der Erzeugung vorgeschriebener Güter in zugemessenen
Mengen. Der Mechanismus der Produktion bleibt also auch fernerhin grund¬
sätzlich unberührt, zumal der kapitalistische Produktionsfaktor in Privatbauten ruht.
Die vielfach verbreitete Behauptung von einer Umwälzung der bestehenden
Wirtschaftsordnung trifft demnach nur sehr bedingt zu. Indem die Staats¬
gewalt die dem privaten Erwerbsstreben ohnehin angelegten Zügel straffer
anzieht, hebt sie nicht das kapitalistische System aus den Angeln, schiebt aber
den Staatssozialismus ein beträchtliches Stück vorwärts. Der Unternehmer¬
gewinn behält seine Geltung, selbst wenn ihm durch Kriegsgewinnsteuern und
Festsetzung der Preise bei Lieferungen an die Heeresverwaltung etliche Daum-
schrauben angelegt werden, ja er wird gerade jetzt zum Vorspann für verstärkte
Anspannung der Kriegsindustrie benutzt. Anderseits empfängt der Kriegs¬
sozialismus eine ungleich schärfere Ausprägung durch die Erweiterung der
staatlichen Aussichtsrechte über die kriegsuotwendigen Betriebe, ihre Arbeits¬
bedingungen und Lohnverhältnisse, kurz über die innere Gestaltung der
Betriebstechnik. Den Arbeitgebern werden damit Einschränkungen ihrer
Selbstherrlichkeit auferlegt, die sie oft genug recht unliebsam empfinden
werden, mit denen sie sich aber im Hinblick auf die Interessen
der Allgemeinheit abfinden müssen. Zu anderer Zeit würde das
selbstbewußte deutsche Unternehmertum in Heller Entrüstung aufbegehren,
wenn eine so weitgehende Einmischung amtlicher Organe in seine Betrtebs-
verhä'ltnisse ihm angesonnen würde. Jetzt ist gegen die mit dem vaterländischen
Hilfsdienst verknüpften Einengungen kein Widerspruch von jener Seite erhoben
worden. Wirtschaftsverbände, Handelskammern und industrielle Organisationen
sind vielmehr wetteifernd bemüht, die erforderlichen Anstellungen in der Volks¬
wirtschaft, soweit in ihren Kräften steht, der militärischen Oberleitung zu
erleichtern. Das der Nation innewohnende hochentwickelte Gemeinschafts¬
gefühl läßt alle Bedenken und Besorgnisse in den Hintergrund treten. Die
Militarisierung eines großen Teiles der deutschen Volkswirtschaft wird als
Gebot einer schweren Zeitenwende aufgefaßt und daher willig hingenommen.
Durch das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst ist zu einem organi¬
satorischen Riesenbau der Grund gelegt worden. Seine Umfassungsmauern
sind so weit ausgedehnt, daß man sagen darf: das ganze deutsche Volk ist
wenigstens mittelbar in sie einbezogen. Selbst Frauen und Kinder nicht aus¬
genommen, denn scheiden die zum Arbeitsdienst einberufenen Männer aus ihrem
bisherigen Wirkungskreise aus, so werden vielfach weibliche Personen und
Jugendliche an die verlassenen Stellen treten. So muß es auch sein. Die
allgemeine Dienstpflicht bedeutet nicht die Aushebung etlicher gesonderter
Schichten der gesamten Heimarmee, sondern ihrem tiefern Sinn nach die Er¬
hebung aller zur Verteidigung des Vaterlandes. Das Vaterland ruft die
Gesamtheit zur Pflichterfüllung und freiwilligen Hingabe auf. Daher ist der
Arbeitszwang als letzter Notweg hintangesetzt, das Prinzip der Freiwilligkeit
vorangestellt. Mit der materiellen Leistung soll eine erhöhte Staats¬
gesinnung sich verbinden. „Es ist der Geist, der sich den Körper baut." Im
Kriege und durch den Krieg hat der Staatsgedanke eine vordem kaum für
möglich gehaltene Belebung erfahren. Die demokratische Auffassung vom Staat
als Vollstrecker eines chimärischen Volkswillens hat durch die tatsächlichen Vor¬
gänge Schiffbruch erlitten und der Staat ist von der ihm zugemuteten Nacht¬
wächterrolle zu gebietendem Herrscher aufgestiegen. Diesen sichtbaren Umschwung
verdanken wir dem Kriegsgeist, der zur Unterordnung der Individuen unter
die Gemeinschaftsziele zwingt. Um alle Gemeinschaften aber spannt sich der
eiserne Reifen der organisierten Staatsmacht. Die starke Hand von oben her
wäre freilich längst ermattet, wenn nicht die inneren Kräfte der Nation durch
Anpassung und Nachgiebigkeit den Volksorganismus auf den Führerwillen ein¬
gestellt hätten. Im Vertrauen auf dieses Zusammenwirken von Staatsräson
und Nationalgefühl ist auch bei der Einführung der allgemeinen Dienpflicht
ausgegangen. Wir erhoffen von ihr auch eine aufrüttelnde moralische
Wirkung, denn wer wollte es leugnen, daß es in unserer Mitte noch allzu
viele gibt, die dem großen Geschehen des Krieges mit stumpfen Sinnen bei¬
wohnen, vielfach sogar einzig darauf bedacht sind, aus den verwirrten wirtschaft¬
lichen Ausnahmezuständen wucherischer Gewinn zu ziehen. Diesen Leuten ist
die volle Erkenntnis der unabsehbaren Tragweite der in Blut und Glut vor
unseren Augen sich abspielenden Schicksalstragödie überhaupt noch nicht auf¬
gegangen. An ihnen mag der Arbeitszwang für Reich und Volk als
Zwangserziehung sich bewähren.
meer der Überschrift „Belgiens Zukunft" veröffentlicht Professor
Bornhak in den „Grenzboten" (1916 Ur. 49) einen Aufsatz, dem
man einen Widerhall in den weitesten Kreisen unseres Volkes
wünschen möchte. In dem Augenblick, wo die deutsche Fahne
stegreich über Bukarest weht, wo unsere Siegeszuversicht nach
langen Monaten schwerer Kämpfe glänzend gerechtfertigt dasteht, da scheint es
mehr als früher Zeit zu sein, daß über unsere Ziele an der Westmark des
Reiches mit klaren Worten gesprochen wird. Aus militärischen, maritimen,
wirtschaftlichen und historischen Gründen dürfen wir Belgien nicht wieder aus
unserer Hand lassen. Rücksicht auf England brauchen wir nicht zu nehmen.
Wir wissen, daß wir von England gutwillig keinen annehmbaren Frieden zu
erwarten haben. Waren schon Asquith und Grey zu keinen Verhandlungen
bereit, so dürfen wir um so weniger auf Entgegenkommen rechnen, je aus-
schließlicher die entschlossensten Vertreter des absoluten britischen Imperialismus,
Leute wie Llovd George und Carson, das Staatsruder an sich reißen. Ist
darum Antwerpen die Pistole, die auf das Herz Englands gerichtet ist, so
wollen wir auch nach Kräften aus ihr schießen und demzufolge mit Ruhe frei
heraussagen, daß wir entschlossen sind, ganz Belgien, Maaslinie und Kanal¬
küste, freiwillig nicht wieder herauszugeben.
Belgien soll nach Bornhaks Vorschlag aufhören zu bestehen, und sein
Gebiet soll, nach der Sprachgrenze geschieden in zwei Reichsländer. Vlamland
und Wallonei, in den Verband des Deutschen Reiches eintreten. Die Be¬
völkerung müßte sich entweder damit abfinden oder gegen die Reichsangehörigkeit
optieren und dann binnen Jahresfrist auswandern, binnen weiterer Jahresfrist
aber auch ihren gesamten Besitz an belgischen Grund und Boden, Jndustrie-
und Handelskapital veräußern. Dies letzte darf ihr nicht erlassen werden.
Wir haben diesen Fehler 1871 in Lothringen gemacht, wo das ländliche Grund¬
eigentum großenteils nicht in den Händen der ansässigen Bauern war, sondern
Rentnern in Paris oder Nancy gehörte, deren wirtschaftlicher Einfluß dann
vierzig Jahre lang dem Fortschritt deutscher Gesinnung entgegenarbeiten konnte.
Wir wollen den Fehler nirgends wiederholen, am allerwenigsten in Belgien.
Wenn man ein Land gewinnen will, so muß man seine Menschen an der
Seele packen, d. h. man muß die Mächte in seinem Sinne wirken lassen, die
über die Seele des Volkes Gewalt haben. Jede Annexionspolitik, die diesen
Grundsatz nicht anerkennt, ist von vornherein zum Tode verurteilt. Die Seele
jedes Volkes, also auch die des vlämischen und wallonischen, wird zunächst be¬
herrscht durch seine materiellen Interessen. Man muß darum das Volk von
Antwerpen und Lüttich, von Brüssel und Charleroi so behandeln, daß es durch
den Anschluß an Deutschland kein schlechtes Geschäft macht, und man muß auch
verhindern, daß deutschfeindliche ausgewanderte Optanten ökonomischen Einfluß
im Lande behalten und mit diesem ein hervorragendes Machtinstrument, die
„Kultur" der Weltmächte durch tausend Kanäle immer wieder neu in die Ge¬
sinnungen des Volkes zu leiten. Aber vergessen darf man zweitens auch nicht,
daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Neben den wirtschaftlichen Inter¬
essen werden die Seelen des vlämischen und wallonischen Volkes in weitem
Umfange beherrscht von der Kirche, mit der man sich darum von vornherein
abfinden muß. Das Gebiet der Kirchen- und Kulturpolitik ist das einzige, auf
dem der Aufsatz von Bornhak ein klares Programm vermissen läßt. Deshalb
unternehme ich es, ihm diese Zeilen hinzuzufügen.
Das vlämische und wallonische Volk war bisher ideell doppelt gebunden:
einmal an den belgischen Staatsgedanken und durch diesen an den größeren
Gedanken der weltlichen politischen Kultur Westeuropas, und zweitens an die
katholische Kirche. Unsere Aufgabe ist, die Machtstellung des westeuropäischen
politischen Gedankens in den Gesinnungen der Belgier zu brechen. Wir würden
einen groben Fehler begehen, wenn wir unsere Kräfte in diesem Kampfe irgend-
wie verzetteln wollten und es für unsere Ausgabe hielten, die jetzige Stellung
der Kirche im Lande gleichzeitig in irgendwelchen Punkten zu schmälern. Man
muß das eine von vornherein ganz tun und das andere ganz lassen. Bornhak
rechnet mit dem erbitterten Widerstand des Klerus gegen die Eingliederung
ins Reich. Bei diesem Widerstande darf es aber nicht bleiben. Wir müssen
im eigenen Interesse alles tun, um die Kirche mit dem Anschluß an Deutsch¬
land zu versöhnen, ja sie womöglich sogar für uns zu gewinnen. Mit gutem
Grunde tritt Bornhak für eine Teilung Belgiens in ein Mimisches und ein
wallonisches Reichsland ein. Aber das Prinzip „viviäs et impera!" bedarf
auf belgischen Boden noch einer viel vollkommeneren Anwendung. Gibt man
einmal zu, daß außer den materiellen Interessen zwei Ideenkreise in Belgien
mächtig sind: der der westeuropäischen politischen Kultur, also der englisch-
französischen Ideen von 1688 und 1789, und der der katholischen Kirche, so
folgt daraus nach klarer politischer Logik, daß derjenige, der den einen dieser
Jdeenkomplexe bekämpfen muß, die Bundesgenossenschaft des anderen zu suchen
hat. Unser Todfeind in Belgien ist die französisch-englische Kultur, der politische
Gedanke des durch seine Revolutionen geschaffenen Westeuropa. Dieser Gedanke
hat ja überhaupt den ganzen belgischen Staat ins Leben gerufen. Durch ge¬
schickten rechtzeitigen Anschluß an die Bewegung von 1830 verstand es der
Katholizismus, sich neben dem westlichen Liberalismus in einflußreicher Stellung
in Belgien zu behaupten. Seitdem kämpfen beide Geistesmächte um die Seelen
des Volkes. Es kann gar kein Zweifel sein, daß die Kirche im Kampf gegen
den französisch--englischen Einfluß auf das politische Denken in Belgien der ge¬
gebene und einzig leistungsfähige Bundesgenosse ist.
Wer hat in Rom, wer hat in Bukarest gegen uns gehetzt und geschürt?
Weh Geistes Kinder sind denn die Kriegspoliliker in ganz Europa, die den
Kreuzzug gegen den deutschen Militarismus mit so vielem Erfolg gepredigt
haben? Überall finden wir diese westeuropäischen Liberalen, die von der
Kultursonne an der Seine unheilbar geblendet wurden. Wer war Salandra, wer
ist Bratianu, wer Venizelos? Alles Männer, die ihre Überzeugungen -7- unter
dem Vorbehalt, daß sie welche haben! — aus dem Born der politisch-kulturellen
Ideen des nachrevolutionären Frankreich geschöpft haben. Wer ist Wilson? Ein
Professor, der uns eine Lektion über englisch-liberales Völkerrecht erteilen möchte.
Wo sitzen die unverbesserlichen Deutschenfeinde unter der Intelligenz Norwegens
und Schwedens? In den politischen Gruppen, die ihre Staatsweisheit aus
England beziehen. Vermag jemand das noch für Zufall zu halten? Das
politische Bündnis zwischen Frankreich und England hat das alte Pmitanerideal
des Gottesreiches auf Erden unter englischer Flagge mit dem ererbten kulturellen
Ansehen Frankreichs zu einem gefährlichen Jdeenkomplex verschmolzen, der neben
dem englischen Gelde gewiß nicht das wenigste dazu beigetragen hat. fast in
ganz Europa einen Feind nach dem andern wider uns zu erwecken. Wenn
wir klug sind und unter dem Zwange des Weltkrieges die großen Zusammen-
hänge, das „planetarische" politische Denken uns zu eigen gemacht haben, dann
werden wir gegen diese westliche politische Kultur ihren alten Todfeind in den
Schranken rufen: die katholische Kirche. Das katholische Irland ist eine Geißel,
die wir nur fest in die Hand zu nehmen brauchen, um den Engländern das
Leben gründlich sauer zu machen. Ein klerikales Italien, das leicht entstehen kann,
wenn der Papst den Katholiken die Teilnahme an der italienischen Politik gestattet,
kann einst wieder deutschfreundlich sein. Denn die römischen Freimaurer, die
politischen Schüler Frankreichs, sind die Leute, die den Dreibund verraten haben.
Und so liegen die Dinge auch in Belgien: der kulturelle westeuropäische Libe¬
ralismus Brüssels ist der Erzfeind des Deutschtums wie der des eingesessener
germanischen Vlamentums, er, der Ableger der französischen Revolution, der
bewundernde Jünger aller Pariser Weisheit.
Nun ist allerdings kein Zweifel, daß die heutige belgische Kirche nicht
minder deutschfeindlich ist. Sie ist es geworden im Wettkampf mit dem west¬
lichen Liberalismus um die Seelen des Volkes. Aber sie braucht es unter
veränderten Verhältnissen ganz und gar nicht zu sein. Man muß dafür sorgen,
daß, sobald es der natürliche Gang der Dinge gestattet, auf den Erzstuhl von
Mecheln und an andere einflußreiche Stellen geeignete Männer kommen. Für
das vlämische Volkstum ist die katholische Kirche in schweren Zeiten die beste
und oft fast die einzige Stütze gewesen. Die Brüsseler Fransquillons hätten
ihm noch übler mitgespielt, wenn nicht die Kirche die fromme Volksart der
Manier geschützt hätte. Man darf nicht vergessen, daß hervorragende vlämische
Patrioten zugleich klerikale Männer gewesen sind. In Deutschland ist am be¬
kanntesten von ihnen wohl immer noch der Dichter Hendrik Conscience, der
Verherrlicher des „Löwen von Flandern". An diese Vergangenheit des
belgischen Katholizismus wird man, das nötige politische Geschick vorausgesetzt,
mit Erfolg appellieren. Eine außerordentlich wichtige Rolle für die Gewinnung
der belgischen Gläubigen fällt natürlich unserer deutschen, speziell der rheinischen
Kirche zu. Das niederrheinische Volkstum ist dem vlümischen eng verwandt,
das wallonische greift wenigstens in dem kleinen Zipfel von Malmedv. auf das
Rheinland über, und die politischen Zentren des deutschen Katholizismus,
Köln und München-Gladbach, liegen dem belgischen Lande benachbart. In
diesen Kreisen wird das Reich die Männer finden, die die belgische Kirche richtig
behandeln können. Um Gotteswillen soll man sich hüten, protestantische Assessoren
aus Magdeburg oder Frankfurt a. O. nach Belgien zu schicken! Wozu haben
wir denn unsere KatholikenI
Wenn Bornhak einer Aufhebung der katholischen Universität in Löwen
das Wort redet, so ist vor solchem Beginnen dringend zu warnen. Mag sie
mit dem deutschen Staatsgedanken vereinbar sein oder nicht, jedenfalls besteht
sie und ihre Aufhebung wäre eine ganz unnötige feindselige Handlung gegen
die katholische Kirche. Wir haben keinen „Staatsgedanken" doktrinär in Belgies
zu verwirklichen, sondern wir haben das Land nach Möglichkeit für Deutsch-
laut zu gewinnen. Daß die freien katholischen Schulen und die Klöster
unbehelligt bestehen bleiben müssen, sieht Bornhak ja selber ein. Warum also
nicht auch die katholische Universität? Dagegen fallen muß natürlich die
liberale Universität in Brüssel, dieser Hort der deutschfeindlichen französischen
Kulturpropaganda. Mit ihrer Vernichtung würden wir der katholischen Kirche
schon einen Gefallen tun, den wir uns durch politische Gegendienste bezahlen
lassen können.
Darum noch einmal: Divicie et impera! Unser Feind in Belgien ist
der Geist jener westeuropäischen politischen Kultur, der fast in allen Haupt¬
städten Europas den heiligen Krieg gegen uns gepredigt hat. Wollen wir
diesen Geist wirksam bekämpfen, fo brauchen wir jene einzige Macht, die außer
ihm noch auf die Seelen der breiten vlämisch-wallonischen Volksmassen Einfluß
hat: die katholische Kirche zum Bundesgenossen. Wer vorurteilsfrei denkt, wird
sich der Logik dieses Gedankenganges nicht entziehen können. Soll also Belgien
annektiert werden, wie Bornhak mit überzeugenden Gründen fordert, so lasse
man auf die Annexion gleich die richtige Politik folgen.
Ich kenne wohl das warnende Wort: „()ni munZe an pupe en meurt".
Aber wir haben keine Wahl und brauchen nicht mehr vor dem Jesuwiterhütlem
zu erbleichen. Deutschland ist ja selber zum nicht geringen Teile ein katholisches
Land, und nach der Geburtenstatistik wird der Prozentsatz der Katholiken eher
steigen als fallen. In unserer mitteleuropäischen Zukunftspolitik wird der
Katholizismus ohnehin eine noch weit wichtigere Rolle spielen als in der bis¬
herigen inneren Reichspolitik, weil Österreich-Ungarn katholisch und die Kirche
der Donaumonarchie als Ausgleichsfaktor unter den Nationalitäten längst be¬
währt ist. Das wäre eine kluge und wahrhaft staatsmännische Annexions¬
politik, die aus der alten Not der konfessionellen Zerrissenheit Deutschlands eine
neue Tugend zu machen verstünde. Wir sollten in Belgien ebenso im Bunde
mit der katholischen Kirche austreten wie im protestantischen Kurland, das doch
hoffentlich auch deutsch wird, im Bunde mit der norddeutschen protestantischen
Kultur. Nützen wir aus, was wir haben und lernen wir überall den eigent¬
lichen Feind, die Staatskultur Englands und Frankreichs, nicht bloß militärisch
und wirtschaftlich, sondern auch in den Gesinnungen Europas zu bekämpfen!
in Laufe dieses Jahres sind drei Werke, in welchen Deutsch¬
lands auswärtige Politik jüngster Zeit behandelt wird, in neuer
Auflage erschienen: Graf ner-entlows „Deutschlands auswärtige
Politik 1888 bis 1914", Fürst Bülows „Deutsche Politik" und
Hermann Ouckens „Vorgeschichte des Krieges". Drei Persönlich¬
keiten recht verschiedener Lebensstellung behandeln hier das gleiche Thema je
nach ihren Erfahrungen und ihrer Lebensauffassung. Fürst Bülow hat fast
die Hülste der in Frage kommenden Zeit als leitender Staatsmann die von
ihm geschilderte Politik selbst gemacht, Sein Werk ist daher mehr ein Quellen¬
werk zur Charakteristik derselben. Ähnlich Bismarck in seinen „Gedanken und
Erinnerungen" wollte Bülow in seinem Rückblick und Ausblick die großen
Linien seiner Politik verständlich machen und uns für die Fortsetzung seiner
leitenden Ideen gewinnen. Er kennt das Qucllenmaterial unserer auswärtigen
Politik wie kein anderer, aber er darf von seinen Kenntnissen nur beschränkten
Gebrauch macheu und muß auch aus Gründen persönlichen Taktes mit dem
Urteil über die Politik nach seinem Ausscheiden zurückhalten, da die Haupt¬
beteiligten noch fast alle im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehen. Bismarck
war da in günstigerer Lage, weil seine Amtszeit eine weit geschlossenere Epoche
bildete und in der Hauptsache zeitlich weiter zurücklag, auch waren die Erfolge
seiner auswärtigen Politik unbestritten. Seine Bündnispolitik hatte den
Frieden bewahrt, und es war daher nicht schwer für ihn, sie zu verteidigen
und vor ihrem Verlassen zu warnen. Bülow verteidigte 1914 seine Politik
der freien Hand, ohne das; günstige Ergebnisse vorlagen, außerdem mußte er
sich nach seinen eigenen Worten in der Vorrede der neuen Auflage Zurück¬
haltung gegenüber dem Ausland auferlegen. 1916 konnte er in dieser Hinsicht
deutlicher sein. Er meint im übrigen, er habe „nirgends auf dem Felde der
auswärtigen Politik Veranlassung, Grundsätzliches von seiner Auffassung der
Verhältnisse anderer standen zum deutschen Reiche zu ändern. Die Ereignisse
hätten ihm im wesentlichen Recht gegeben."
Solche Rücksichten brauchte Graf Reventlow als unabhängiger, konservativer
Publizist nicht zu nehmen, andererseits fehlte ihm Bülows Quellenkenntnis. Er
wollte 1914 in einer für den gebildeten Nichtfachmann berechneten Darstellung
eine anschauliche Schilderung der deutschen Politik des nachbismarckischen
Zeitalters bieten, mit dem Bestreben, weniger zur Kritik als zum Verständnis
anzuregen. In der neuen Auflage nahm er umfangreiche Änderungen vor;
ähnlich Bülow begründete er sie damit, daß ihm 1914 politische Rücksichten
auf deutsche und ausländische Leser zur Vorsicht im Urteil nötigten, um
Nationen nicht zu kränken, die noch nicht den Beweis geliefert hatten, daß
verletzende Äußerungen nichts mehr verderben konnten, außerdem habe der
Krieg manche Frage erledigt, die damals noch nicht abgeschlossen war.
Der Heidelberger Historiker Oncken hat in dem Sammelwerk „Deutschland
und der Weltkrieg", das die Stellung der am Kriege Beteiligten, Vorgeschichte
und Ausbruch des Krieges mit den Mitteln der Wissenschaft objektiv behandeln
soll, die Vorgeschichte des Weltkrieges als Fachhistoriker unter Benutzung aller
ihm erreichbaren Quellen geschrieben. Er verweilt zwar nicht solange bei der
Geschichte der 90er Jahre, aber in der Hauptsache geht seine Darstellung doch
parallel mit der von Bülow und Reventlow. Vor diesen hat er voraus, daß er
nach Ausbruch des Krieges geschrieben hat, als das diplomatische Spiel der
vergangenen beiden Jahrzehnte zu jähem Abschluß gekommen war, sich über
die Stellungnahme der Staatsmänner ein bestimmteres Urteil fällen ließ und
in Gestalt der verschiedenen Farbbücher und amtlichen Mitteilungen der Regie¬
rungen ein verhältnismäßig reiches Quellenmaterial vorlag. Die neue Auflage
hat auf Grund der inzwischen bekanntgewordenen belgischen Gesandtschafts»
berichte und anderer amtlicher Berichte stellenweise entsprechende Zusätze und
Erweiterungen erfahren.
Gegen das Reventlowsche Buch haben sich nun zuerst Theodor Wolff im
„Berliner Tageblatt" und dann der Universitätsprofessor Veit Valentin in einem
Aufsatz der „Preußischen Jahrbücher" „Graf Reventlow als Geschichtsschreiber",
der von Valentin später mit Reventlows Erwiderung und einem Schlußwort
Valentins in zahllosen Exemplaren als Sonderabdruck verbreitet worden ist, ge¬
wandt. Beide behaupten, Reventlow habe in der dritten Auflage seines Buchs die
Dinge so verarbeitet, daß der Eindruck, England habe seit langen den europäi¬
schen Krieg geplant, unabweisbar werde. Theodor Wolff erklärt in zwei
Punkten Reventlows Darstellung für irrtümlich, freilich ohne daß er in dem
Zweiten Punkt (den deutsch-englischen Verhandlungen über die portugiesischen
Kolonien) beweist, daß seine Information die richtigere ist, und verspottet
Reventlow wegen mehrerer falscher, politischer Urteile. Er bleibt aber völlig
sachlich und nennt Reventlow den begabtesten einflußreichsten und bestinformierten
Politiker des Nationalismus, der mehr Einblick in die Dinge als die anderen
habe, auch in seiner Arbeitsleistung große Energie zeige. Valentin dagegen
schmäht Reventlow persönlich und tadelt ihn. weil er „den Krieg samt den
billigen ex homo Urteilen des ephemeren Stimmungsrausches in seine Dar¬
stellung völlig eingearbeitet habe" und meint, die schriftstellerischen Mittel, mit
denen er sein Buch umgearbeitet habe, seien zum Teil sehr bedenklich und
Mit der heiligen Pflicht eines Geschichtschreibers unvereinbar. Aus dem Buche.
wie es heute vorliege, lasse sich kein auch nur einigermaßen zutreffendes Bild
gewinnen. Zur Erhärtung seiner Vorwürfe stellt Valentin eine Anzahl Sätze
der ersten und dritten Auflage einander gegenüber.
Zunächst ergibt die nähere Prüfung der Zitate ein für die Beurteilung
von Valentins Arbeitsweise höchst unerfreuliches Bild. Er entnimmt sie sämt¬
lich dem Teil des Buches, von dem Reventlow in seiner Vorrede sagt, er sei
bis zum Ende neu geschrieben worden. In diesem Teil sind nun die einzelnen
Abschnitte so umgearbeitet, daß sich nicht mehr überall Parallelen ziehen lassen.
Einzelne Absätze haben allerdings den gleichen Wortlaut mit oder ohne Ein-
schiebungen behalten, andere sind aber so erweitert oder verkürzt, auch zur
Verbesserung der Chronologie und Stilistik an andere Stellen gesetzt, daß leicht
falsche Sätze nebeneinander gestellt werden und die Parallele ein falsches Bild
ergibt. So stimmen besonders die Vergleiche nicht, aus denen Valentin ein
„Abrücken" Reventlows von Bülow und dem verstorbenen Staatssekretär
von Kiderlen-Wächter in der dritten Auflage folgert. Seite 6 sagt Valentin,
daß die Anerkennung, die Reventlow in der ersten Auflage Bülows Politik in
der böhmischen Krise gezollt hat: „Die seitdem verflossenen Jahre haben,
das muß mit Nachdruck ausgesprochen werden, diese Politik des Fürsten
Bülow gerechtfertigt" in der dritten Auflage, Seite 366 ganz anders klänge,
und „in folgender gnädiger Form erteilt" werde: „Angesichts der deutsch¬
österreichischen Ruhe und Festigkeit, ja, man kann sagen, daß diesmal auch
Zielbewußtsein vorhanden war . . . !" Valentin übersteht, daß Reventlow schon
Seite 364 sagt: „Wie gesagt, ließ Fürst Bülow aber von vornherein keinen
Zweifel über den deutschen Standpunkt und dessen Festigkeit. Dadurch wurde
die Krisis zur Lösung gebracht und zwar zur friedlichen und im Sinne der
Politik der Mittelmächte." Dieser Satz war weit eher in Parallele zur ersten
Auflage zu stellen. Zwei Seiten lang beschäftigt sich Valentin dann damit,
daß Reventlow sein Urteil über die Politik Kiderlens offenbar geändert hat.
Er vergleicht aber wiederum sehr oberflächlich und spitzt die sachlichen Ände¬
rungen auf das Persönliche zu. Z. B. begründet Reventlow, dritte Auflage,
Seite 391, sehr ausführlich sein verändertes Urteil über das Potsdamer Ab¬
kommen zwischen Rußland und Deutschland 1910. Valentin teilt nur einen
Satz davon mit, der so herausgerissen allerdings eine persönliche Spitze gegen
Kiderlen zu enthalten scheint. Valentin tadelt die Weglassung zweier Gespräche
Reventlows mit Kiderlen. Ich gestehe zu, daß ich die Änderungen vom Stand¬
punkte historischer Forschung aus auch bedauere; denn der Ouellenwert, den die
Gespräche in der ersten Auflage hatten, geht in der Bearbeitung der dritten,
die nur das sachliche Ergebnis resümiert, verloren (auch die Mitteilungen
über Kiderlens Kongozukunftspläne fehlen hier). Da Reventlow aber an
anderen Stellen Gespräche mit Kiderlen unverändert wiedergibt (was Valentin
nicht mitteilt), kann ein persönliches Abrücken jedenfalls nicht gefolgert werden.
Vor allem hätte Valentin aber nicht verschweigen dürfen, daß Reventlow in
der dritten Auflage, Seite 455 bis 456, eine ausführliche Charakteristik Kiderlens
und feiner Politik gibt, aus der zur Genüge hervorgeht, weshalb er sein Urteil
über Kiderlen geändert hat. Ähnlich fehlerhaft setzt Valentin Reventlows
„treffendem Urteil" der ersten Auflage über die Haltung der Tripleentente in
der böhmischen Krise, „daß sie damals zwar kein leerer Schein gewesen sei,
wohl aber außerstande war, die Machtfrage wirklich zu stellen," „die kühnen
Worte" der dritten Auflage, Seite 369 gegenüber, „so betrachtet, stellt sich
die von Großbritannien inszenierte böhmische Krisis als eine Art Generalprobe
der Tripleentente dar, die zeigen sollte und zeigte, wie weit man gehen könnte."
Seite 364 schreibt aber Reventlow: „Keine der beiden Festlandmächte wünschte
einen Krieg, welcher ihnen damals schwerstes Risiko gebracht hätte, nicht aber
dem britischen Reich, welches unter verhältnismäßig geringen Kosten und Ver¬
lusten Deutschland seines Handels und seiner Kolonien usw. hätte berauben
können." Ein Satz, der vor den Satz S. 369 gesetzt, allein schon die Über-
einstimmung der grundsätzlichen Anschauung in der ersten und dritten Auflage
Zeigt. Auch über Deutschlands Friedensliebe in der Marokkokrise 1905 soll
Reventlow 1916. Seite 272, ein absprechenderes Urteil als 1914, Seite 267.
abgegeben haben. Valentin bemerkt wiederum nicht, daß Reventlow an anderer
zur ersten Auflage weit passenderer Stelle, 1916. Seite 268, auch die Nach¬
teile hervorhebt, welche damals der Krieg für Deutschland gehabt hätte, wo
Landwirtschaft. Industrie und Geldwirtschaft lange nicht fo leistungsfähig wie
Sehn Jahre später waren. Die schlimmste Leistung Valentins ist aber: Reventlow
wirft in seiner Erwiderung Valentin vor, Valentins Behauptung, Reventlow
glaube, England habe nichts als den Krieg gewollt, sei „bewußt unrichtig."
Dem stellt Valentin zum zweiten Mal angeblich wörtlich folgenden Satz als
Reventlows „abschließendes Urteil" gegenüber: „England hat seit Jahren die
Welt organisiert und in Bewegung gesetzt, um den Vernichtungskrieg gegen ein
friedliebendes Volk- zu führen." Den Satz hat Reventlow garnicht ge-
schrieben. Der nur in Frage kommende Satz, Seite 479, lautet bei ihm:
„Britische Herrschsucht und Handelseifersucht sind die Triebfedern
gewesen, welche die Welt organisiert und in Bewegung gesetzt haben, um
den Vernichtungskrieg gegen ein friedliebendes Volk zu führen." Und dabei
behauptet Valentin noch „mit aller wünschenswerten philologischen Exaktheit"
Zu handeln!
Mit weit größerer philologischer Exaktheit hätte er seinem Zweck ent¬
sprechende Zitate finden können, wenn er sich die Mühe genommen hätte, den
ersten Teil des Buches durchzuarbeiten, wo bei sonst gleichem Wortlaut einzelne
Zusätze und Auslassungen in der dritten Auflage, die veränderte Ansicht
Reventlows scharf hervorheben. Im Grunde bedeuten die Änderungen, die
«ach Valentinscher Methode sogar teilweise eine Abschwächung der gegen Eng¬
land gerichteten Tendenz beweisen würden, garnichts. Die Anschauungen
Reventlows wird der aufmerksame, unvoreingenommene Leser in ganz anderen
Sätzen und vor allem viel früher als in dem von Valentin berücksichtigten
Teil verankert finden, und sie lauten durchweg in beiden Auflagen wörtlich
gleich. Einige von ihnen lasse ich hier folgen: „Die kurze Zeitspanne, welche
diese diplomatischen Verhandlungen (Mandschureivertrag zwischen Rußland und
China, Dangtsevertrag zwischen England und Deutschland) einschloß, ist wahr¬
scheinlich für die Richtung der deutschen Politik der kommenden zehn Jahre
und besonders für die deutsch-englischen Beziehungen entscheidend geworden.
Es handelt sich um die Frage und um die Entscheidung, ob das deutsche
Reich im Verein mit Großbritannien und mit Japan gegen die russische
Mandschureipolitik, insbesondere gegen den beabsichtigten Vertrag mit China
protestieren wollte oder nicht. In England erwartete man mit Bestimmtheit,
daß dies der Fall sein werde.....Fürst Bülow wollte unter keinen Um¬
ständen von der britischen Politik gegen Rußland ausgenützt werden . . . Seit
den Befreiungskriegen hatte Großbritannien mit seinem Handel und als Be¬
herrscherin der Ozeane eine souveräne Stellung eingenommen, lange Jahrzehnte
hindurch auch auf dem europäischen Festlande .... Die überlegene Kunst und
Energie Bismarcks hatten mit einer Großbritannien überraschenden Schnelligkeit
plötzlich ein mächtiges deutsches Reich in das Zentrum von Europa hinein¬
gesetzt. Man hatte sich ihm gegenüber wohl oder übel freundschaftlich gestellt.
Nach Bismarcks Abgang hatten die britischen Staatsmänner gehofft, sich das
Deutsche Reich „als dummen und starken Kerl auf dem' Festlande" dienstbar
zu machen. Es war nur kurze Zeit gelungen. (Erste Auflage, Seite 168, 174,
205, dritte Auflage, Seite 170, 177, 208.)" Übrigens hätte Valentin schon
aus der Vorrede der dritten Auflage den Schluß ziehen können, daß beide
Auflagen die gleichen Gedanken verfechten; denn schon hier wendet sich Re-
ventlow gegen Besprechungen, die einseitig als Leitmotiv „England ist der
Feind" hervorhoben. Die erste Auflage erklärt ja aber Valentin „als eine
Darstellung, die im wesentlichen sachlich einwandfrei, als gute, gründliche Arbeit
eine Verbreitung in allen Kreisen verdiente."
Ich denke die Haltlosigkeit seiner Kritik ist zur Genüge dargetan. Sein
Verfahren, bei dem er sich nicht scheut, seine angefochtene Wisienschaftlichkeit mit
einem inkorrekten Zitat zu verteidigen, ist umso verwerflicher, als es geeignet
ist, die Geschichtswissenschaft in Mißkredit zu bringen.
Wie haben es denn Fürst Bülow und Oncken gemacht? Fürst Bülow
schreibt 1914 über Italien und den Dreibund (Seite 31): „Es gibt Politiker,
die der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund einen rechten Wert nicht zu¬
sprechen wollen. Selbst wenn dieser Zweifel begründet wäre, was bei der
Loyalität der maßgebenden Faktoren in Italien und der politischen
Klugheit des italienischen Volks nicht der Fall ist, würde damit gegen
den Wert der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund noch nicht alles bewiesen
sein .... Die böhmische Frage und das Tripolisunternehmen, die
Osterreich und Italien in Gegensatz zu der uns befreundeten Türkei
brachten, haben den Dreibund nicht schwächen können." Die ge¬
sperrten Worte fehlen 1916. Dafür schreibt Bülow 1916 an anderer Stelle
(Seite 60) neu: „Durch die böhmische Annexionskrise wurde weder der Krieg
entfesselt, noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt." Da¬
gegen fehlen hier wiederum in dem Satze: „Kaiser Nikolaus gab der Welt
einen neuen Beweis seiner Friedensliebe, indem er sich für einen
gütlichen Ausgleich entschied," die gesperrten Worte. Obwohl Bülow nach
seiner eigenen Mitteilung in der Vorrede 1916 vorgeworfen worden ist, er habe
1914 unser Verhältnis zu England zu sehr grau in grau gezeichnet, hat er doch noch
verschiedentlich zu optimistisch gesehen. So fehlt 1916 der Satz: „Die englische
Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise
vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands
erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik 1908 denkt England aber
nicht mehr daran, seine gesamte, internationale Politik oder auch jede Einzel¬
heit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland
abhängig zu machen." Auf andere geänderte Stellen, wie „Es wäre töricht,
die englische Politik mit dem zu Tode gehetzten Wort vom perfiden Albion
abtun zu wollen" hat schon Leopold von Wiese („Berliner Tageblatt" vom
22. Juni) hingewiesen. Fürst Bülow hat überall da Änderungen vorgenommen,
wo die Ereignisse seinem politischen Scharfblick nicht recht gegeben haben. Will Va¬
lentin Bülow auch vorwerfen, er habe „denKrieg fand den billigen ex everitu Urteilen
des ephemeren Stimmungsrausches in seine Darstellung völlig eingearbeitet?"
Sachlich wiegen Bülows Änderungen viel schwerer; denn er verwischt hier die
Ideen, welche seiner eigenen Politik zugrunde lagen. Aber es war von ihm nicht
-M verlangen, daß er die Sätze, welche offenbar unrichtige Urteile enthielten,
stehen ließ; es war nur Sache des persönlichen Empfindens, ob er sein Werk, das
eine Verteidigung seiner Politik darstellt, nochmals erscheinen lassen wollte.
Auch bei Oncken finden sich selbstverständlich in der neuen Auflage Ände¬
rungen. Kein geschulter Historiker wird sie unterlassen, wenn neues Quellen-
Material und der Gang der Ereignisse die Überzeugung in ihm reisen lassen,
daß er seine frühere Darstellung nicht mehr vertreten kann. Die belgischen
Gesandtschaftsberichte, deren unschätzbaren Quellenwert Oncken gebührend hervor¬
hebt, haben zwar ähnlich wie bei Reventlow in der Hauptsache nur seine Auf-
sassung bestätigt, aber andere inzwischen bekannt gewordene diplomatische Akten¬
stücke haben ihn z. B. zu Änderungen über die Rolle Englands in der
böhmischen Krise und zu einer neuen Darstellung von Lord Haldanes Reise
nach Berlin im Jahre 1912 veranlaßt. Hervorzuheben ist auch der neue Satz
über England-Japan S. 592: „Die Kriegsentschlossenheit der englischen Regie-
wng (1911) geht auch daraus hervor, daß sie wenige Tage vor der Rede
von Lloyd George am 13. Juli einen neuen Vertrag mit Japan geschlossen
hatte, in dem die englische Gegengabe anscheinend in der zukünftigen Auslieferung
von Kiautschou im Kriegsfalle bestand."
Was hätten auch Neuauflagen für einen Zweck, wenn den Autoren,
ex eventu zu urteilen und sachliche Änderungen ihrer Ansicht wiederzugeben,
verboten wäre? Sollen sie sich etwa auf stilistische Verbesserungen beschränken?
Welcher Historiker urteilt nicht ex evsntu und ändert nicht auf Grund neuer
Tatsachen seine Darstellung? Verwerflich ist es in. E. nur, wenn jemand
von einer Persönlichkeit, um mit Valentin zu reden, abrückt, weil der Erfolg
ihrer an sich richtigen Handlungsweise infolge unvorhergesehener Ereignisse aus¬
geblieben ist. Das hat Reventlow nicht getan. Sein Urteil über die Fehler
und die Erfolge Bülowscher Politik ist in beiden Auflagen gleich, und die
veränderte Einschätzung des Staatssekretärs Kiderlen hat er sachlich ausreichend
begründet. Valentin möge sich doch mir die Änderungen in den verschiedenen
Auflagen von Treitschkes Deutscher Geschichte und Meineckes Weltbürgertum
und Nationalstaat ansehen und aus ihnen lernen, daß auch unsere bedeutendsten
Historiker sich neuen Tatsachen nicht verschlossen und in Neuauflagen geändert
haben.
In der Gesamtdarstellung weichen die drei Autoren in Einzelheiten des
Urteils und der Auffassung selbstverständlich voneinander ab. Erklärt doch
Reventlow einen so wesentlichen Bestandteil Bülowscher Staatskunst wie die
Marokkopolitik für in den Wurzeln fehlerhaft und insbesondere die Konferenz von
Algeciras für einen Mißerfolg, während Fürst Bülow nach wie vor von ihrem
Ergebnis befriedigt ist. In manchen Punkten beurteilte Reventlow unsere Lage
entschieden richtiger als Bülow. Bülow meinte noch 1914, nirgends habe die nord¬
amerikanische Union während des letzten Jahrhunderts besseres Verständnis und
gerechtere Anerkennung als in Deutschland gefunden. Solange die Politik
hüben und drüben von ruhigen Händen geleitet werde, brauchten wir für unsere
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nichts zu befürchten. Reventlow
machte schon damals auf die dortige feindselige Stimmung gegen uns auf¬
merksam, die nicht zum wenigsten dank den Einflüsterungen der englischen
Presse bei jedem Zwischenfall deutsche Eroberungspläne in Süd- und Mittel¬
amerika argwöhnte und warnte vor Illusionen, die in Amerika schon einen
künftigen Helfer bei einem Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien
erblickten. Bülow geht über die Bedeutung Kiautschous für unser Verhältnis
zu Japan hinweg und meint nur 1916: „Durch den japanischen Vorstoß sind
dem japanischen Volk die Sympathien verloren gegangen, die wir ihm lange
entgegengebracht haben. Es wird an Japan sein, das Vertrauen des im Welt¬
kriege siegreichen Deutschen Reiches wiederzugewinnen." Reventlow meint,
nur das Einverständnis mit Japan hätte uns Kiautschou sichern können. Er
sagte schon 1914 mit Bezug auf die Ratifizierung der Londoner Seerechts¬
deklaration voraus, sie dürfte kaum erfolgen, weil das britische Volk darin
einmütig sei, auch nicht den Schein einer Rechtsverpflichtung für das Verfahren
im Seekriege auf sich zu nehmen, weil es glaubt, der nächste Seekrieg werde
mit der deutschen Flotte ausgefochten werden, und weil es dann gelten solle,
den deutschen Seehandel zu vernichten. Andererseits erinnern auch bei Reventlow
manche falsche Voraussagen, daß ein Publizist und kein Historiker das Buch
geschrieben hat. Den Zusammenschluß von Rumänien, Serbien und Griechen¬
land nach dem zweiten Balkankrieg erklärte Reventlow 1914 für uns günstig,
weil er meinte, die durch unser Eintreten für den Bukarester Frieden für uns
gewonnenen, ersteren beiden Staaten würden einen für uns vorteilhaften Einfluß
aus Serbien ausüben. Er fügte aber hinzu, die Verhältnisse ragten so stark
in die Gegenwart hinein, daß sie sich nur schwer beurteilen ließen. Kiderlcns
Marokkopolitik scheint auch Bülow zu verwerfen und ebenso wie Reventlow der
Ansicht zu sein, daß der Abfall Italiens nicht unbedingt eintreten mußte.
Freilich deutet er in beiden Punkten nur vorsichtig an und bemerkt bezüglich
Italiens, er wolle unerörtert lassen, ob und auf welche Weise beim Beginn des
Krieges der Abfall Italiens vom Dreibund hätte verhindert werden können,
während Reventlow die Schuld gerade auf Bülow zurückführt, der s. Zt. die
Politik der kleinen Geschenke zu wenig betrieben habe. Fürst Bülow legt dar,
daß seine Politik mit Rücksicht auf den Flottenbau die einzig mögliche gewesen
wäre: „Wir durften uns weder von einer grundsätzlich gegen England gerich¬
teten Politik das Gesetz unseres Eutschließens und Handelns vorschreiben lassen,
noch durften wir uns um der englischen Freundschaft willen in englische Ab¬
hängigkeit begeben. Beide Gefahren waren gegeben und rückten mehr als
einmal in bedenkliche Nähe." Auch sucht er, wie wir es heute noch so oft
lesen, nachzuweisen, daß es zwischen uns und den anderen europäischen Gro߬
mächten eigentlich keine „wirklichen" Gegensätze gäbe. Leider zeigt der Krieg,
daß diese „in Wirklichkeit" anderer Ansicht waren und sind. Es sei hier auch
an König Eduards Wort erinnert: „stiere are no frictions betwosn us,
lkere exi8t8 ont^ rivalr^."
Onckens Thema lautet etwas anders und dementsprechend steht nicht die
deutsche Politik im Mittelpunkt, sondern es mußte für die Vorgeschichte des
Krieges die Politik der sämtlichen in erster Linie ym Krieg beteiligten Mächte
gleichmäßig in ihren Zusammenhängen untersucht und dargestellt werden und
sich dann von selbst ergeben, daß die Politik derjenigen Mächte in den Vorder¬
grund rückte, welche mehr oder minder konsequent auf den Krieg hingezielt
und damit am stärksten an der Vorgeschichte des Krieges gearbeitet hatten.
Bei Oncken ist im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren die Idee scharf
herausgearbeitet, daß im letzten Stadium der Einkreisungspolitik nicht mehr
die englischen Staatsmänner den sichtbar führenden Anteil hatten, vielmehr der
Panslawismus um anderer Ziele willen als die englische Weltpolitik als Erbe
König Eduards dessen Geschäfte übernommen hatte.
In der Darstellung der Grundzüge unserer politischen Geschichte von 1914
und. was fast gleichbedeutend ist, unseres Verhältnisses zu England weichen
die drei Autoren aber nur unwesentlich voneinander ab. Sie stimmen in
der Ansicht überein, die Reventlow in den Worten zusammenfaßt: „Durch die
ganze Geschichte dieser 26 Jahre zieht sich die deutsche Flotte teils als Frage,
teils als Stein des Anstoßes, teils als Ansporn, teils als Hindernis hindurch.
Es läßt sich kaum ein Ereignis politischer Natur innerhalb dieses Zeitraumes
nachweisen, das nicht irgendwie mit der deutschen Flotte oder dem Fehlen
einer solchen direkt oder indirekt in ursächlichen Zusammenhang stände."
Sie sind einig in dem Urteil über die gegen uns gerichtete Politik
Englands, daß eine Verständigung mit England nur möglich war, wenn
wir auf unsere Stellung als gleichberechtigte Macht verzichteten und uns
zum Werkzeug englischer Pläne machten, stellen aber ebenfalls einstimmig
fest, daß England die Ziele seiner Einkreisung auch auf friedlichem Wege
erreichen konnte und vermutlich zeitweise auch wollte, besonders betont
Reventlow die bedingte Friedensliebe Eduards. Neuerdings behauptet
Hans Delbrück im Oktoberheft der „Preußischen Jahrbücher", es sei nicht ganz
klar, ob wirklich England als der eigentliche Anstifter des Krieges anzusehen sei.
Oncken drücke sich zum wenigsten zweifelhaft darüber aus und selbst Graf
Reventlow habe seine These „England hat seit Jahren die Welt organisiert" usw.
nicht aufrecht erhalten, sondern sie nachträglich durch den Zusatz „Krieg oder
deutsches Nachgeben" eingeschränkt oder vielmehr ausgehoben, da Krieg oder
Nachgeben ja schließlich der Inhalt jeder Politik sei und alles darauf ankomme,
was und worin nachgegeben werden, sollte. Da Delbrück als Beweis für seine
Behauptung Valentins oben erwähntes Zitat, von dem Delbrück ja nicht ahnen
konnte, daß es inkorrekt ist, und eine Bemerkung aus Reventlows Erwiderung an
Valentin anführt, ist wohl anzunehmen, daß er nur Valentins Pamphlet, nicht
aber das Buch selbst vorgenommen hat. In diesem teilt Reventlow zur Genüge mit,
was und worin nachgegeben werden sollte und Delbrück hätte im Zusammen¬
hang sehen können, daß Reventlow seine These keineswegs aufgehoben hat;
denn Reventlow hat stets erklärt, daß unter Bedingungen, die das Deutsche
Reich herabwürdigten, eine Einigung mit England zu haben gewesen sei.
Ebensowenig spricht sich Oncken über Englands Urheberschaft am Kriege
zweifelhaft aus, er sagt ausdrücklich: „Seit 1911 Hütten die englischen Staats¬
männer nicht mehr den sichtbar führenden Anteil gehabt."
Das Werk des Heidelberger Universitätsprofessors ist, wie zu erwarten
war, weit mehr über den Dingen stehend geschrieben, als es dem Staatsmann
und den Politiker möglich war, desto schwerer fällt es ins Gewicht, daß gerade
er, der, soviel bekannt, auch nicht zu den Altdeutschen zu rechnen ist, als Er¬
gebnis feiner Forschung weit schärfer als Reventlow die Richtigkeit dessen be¬
jahen muß, was Valentin „die Legende von der englischen Verschwörerkonsequenz"
nennt. Oncken schreibt in der neuen Auflage S. 551/52: „Fortan (nach den
Bündnisversuchen Chamberlains um die Jahrhundertwende) entwickelte sich aus
dem Vorspiel der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen das Hauptspiel einer
gegen Deutschland gerichteten Bttndnispolitik, deren Verlauf im einzelnen nicht
von vornherein feststehen konnte . . . Wer heute mit dem Auge des Historikers
die Kausalzusammenhänge dieser zwölf Jahre überblickt, ist wohl geneigt, den
Entschluß des englischen Kabinetts vom August 1914 als das unvermeidliche
Schlußergebnis einer langen und folgerichtigen Entwicklung zu bewerten."
Valentins Verdammungsurteil trifft also in allen Punkten in gleicher Weise
wie Reventlow, wenn nicht schwerer, einen unserer hervorragendsten Staats¬
männer und einen unserer bedeutendsten Historiker. Will Valentin auch über
sie den Stab brechen, und „mit allem Nachdruck und in vollem Bewußtsein der
Schwere dieser Vorwürfe" vor ihren Büchern warnen?
l itten in den Weltkriegssorgen, in einem Gegenwartsleben, das
alle Kräfte und Gedanken für sich verlangt, dürfen wir nicht
verlernen, unser gegenwärtiges Dasein als Gewordenes und
Werdendes innerhalb einer bestimmten Entwicklung, als Aufgabe
von der Zeit vor dem Kriege her und über den Krieg hinaus
zu sehen. Wir dürfen nicht vergessen, welche Hoffnungen in uns lebten, bevor
der Weltsturm über uns hereinbrach und wie diese Hoffnungen gerade durch
ihn gestärkt und geläutert wurden. Gerade in den letzten Jahren vor dem
Kriege war eine geistige innere Läuterung im deutschen Volke vor sich gegangen,
die uns von der Zeit zwischen 1870 und 1900 sehr scharf zu scheiden schien,
von der freilich erst nur die innersten Kreise des Deutschtums, die Feinhörigsten
und am tiefsten Unbefriedigter, nicht zuletzt die Jugend wußten, deren Quelle
und Urkraft aber doch auch in den jetzigen schweren Erschütterungen unsere
Zuversicht speist. Das Neue, das ich meine, hatte noch keinen Namen, dazu
war es noch zu innerlich und zu frei, zu vielfältig und ungeformt. Es hatte
sich als Reform- und Kulturarbeit, als Bedürfnis nach sozialer, wirtschaftlicher,
kultureller Neugestaltung bis an die Praxis herangewagt, es war in der
Jugend radikal und unklar als „freideutsche Bewegung" und ohne solche
Namen lebendig geworden, es hatte sich in Werkbund-, Heimatschutz- und
Dürerbundbewegungen, als Erziehungs- und Lebensresorm. in Städtebau,
Gartenstädten, Bodenreform, schließlich in dem Streben nach Durchgeistigung
der Politik, nach tieferem Erfassen der nationalen Einheit und nach organischer
Gestaltung unseres gesamten deutschen Lebens, nach dem deutschen Stil im
tiefsten und weitesten, durchaus nicht nur im ästhetischen Sinne geäußert.
Heute wissen wir, wie bedeutsam und verhängnisvoll das alles auch mit
unseren nächsten Gegenwartssorgen zusammenhängt. Jeder von uns erinnert
sich an Gespräche mit nicht ganz übelwollenden Ausländern, mit Holländern,
Skandinaviern oder Schweizern, die uns das Kraftprotzentum unserer Gründer¬
zeit vorwarfen, und Deutschland eben nur als das Land dieser unerfreulichen
Entwicklung, der seelenlosen Arbeit und des kulturlosen Vergnügens sahen, der
kapitalistisch auftrumpfenden und innerlich unsicheren Emporkömmlinge. Wenn
man ihnen dann von jenem neuen, inneren, werdenden Deutschland sprach,
dann horchten einige erstaunt auf, andere schüttelten ungläubig den Kopf: wo
war es? Nicht links beim Politischen- und Jnteressentenliberalismus und nicht
rechts bei den ebenso von Interessen gebundenen und irregeleiteten politischen
Parteien, nicht bei den hervorragenden einzelnen, die einander bekämpften und
deren innerlichste Übereinstimmung für den Ausländer, zumal ja dieser selten
guten Willen zum näheren Erkennen mitbrachte, schwer erkennbar war, und
nicht in den freien Organisationen, die allzuwenig Einfluß auf die breiten Volks¬
massen gewannen. Wir boten, von außen gesehen, ein widerspruchsvolles, ver¬
wirrendes und Mißtrauen erweckendes Bild und jene werdende innerste Einheit
lag tief darunter verborgen.
Aber sie war da, sie wirkt sich jetzt in geschichtlichen Taten aus und sie
wird, allen bösartigen Hemmungen zum Trotz, im Wiederaufbau nach dem
Kriege, freilich nicht im Sinne vorzeitig geprägter Schlagworte, lebendig fein.
Späte Geschlechter jenseits des Krieges werden an der Pflege dessen arbeiten,
was in den Jahrzehnten vorher gesäet worden ist. Der Krieg, der jetzt viel¬
leicht nur Ablenkung von dieser Arbeit scheinen mag. hat sie nur in Zusammen¬
hang mit dem gebracht, was das Geschlecht vor dem Kriege, und gerade oft
die besten in ihm, allzuwenig erkannten: mit unserem Dasein in der Welt,
zwischen den Nationen. Zu ausschließlich sahen diese Kulturarbeiter vor dem
Kriege nur die inneren Notwendigkeiten: jetzt greift eines ins andere, unser
Leben nach außen hin und unser Leben im Innern muß in Wechselwirkung er¬
faßt und durchgebildet werden.
Vor Mir liegt ein erfreulich schlichtes und gediegenes Büchlein, das den
Blick auf diese Zusammenhänge von einer ganz bestimmten Stelle aus über¬
raschend unmittelbar öffnet, das Avenariusbuch. das W. Stapel zum Ge¬
burtstag des Kunstwartherausgebers zusammengestellt hat (Verlag von Georg
D. W. Callwey - München 1916). Man kann es nicht besser rühmen,
als wenn man sagt: es hat das Beste von der Art, in der Avenarius
die Werte, auf die es ihm ankam, zu zeigen und lebendig zu machen
verstand. Nach einer knappen Einleitung bietet es eine feinsinnige Aus¬
wahl aus seinen Aufsätzen und Gedichten, in denen das nicht leicht über¬
sehbare Wirken dieses Kulturförderers und -Helfers sehr deutlich wird. Mit
Recht ist dem Dichter ein besonders großer Raum zugewiesen, ein größerer,
als die breite Öffentlichkeit vielleicht im allgemeinen von sich aus tun würde.
In der Tat wurzeln die besten Kräfte auch des praktische« Kulturarbeiters
Avenarius im Dichterischen und Künstlerischen und es wird immer auch ein
Wahrzeichen der Zeit vor dem Kriege bleiben: daß die Organisationsaufgaben
aus dem Chaos der deutschen Kulturzustände her gewaltig genug drängten, um
einen an sich künstlerisch überaus reichen Mann zu einer so vielseitigen Lebens¬
arbeit wesentlich praktisch-ethischer Art. gewiß oft wider seinen innersten
Willen, aufzurufen. Es ist der eigentümlichste Reiz dieser Persönlichkeit, wie
die beiden Kraftrichtungen in ihm, die künstlerische und die ethische, beständig
miteinander ringen, einander verdrängen, sich wiederum harmonisch vereinigen
und ergänzen, um neuerlich in fruchtbaren Widerstreit zu geraten, wie aus
seiner künstlerischen Welt, die in guten Stunden die abgeschlossenste Heiligkeit
echter Natur- und Weltnähe atmet, immer wieder kraftvoll geöffnete Wege ins
männliche Wirken führen, und wie aus dem lauten Vielerlei der Tagesarbeit
immer wieder sich die reinen, ruhevollen, weitab ins Unendliche tauchenden
Blicke auf das Ewiggültige sich auftun. Diese einzigartige Mischung setzte ihn
an die Stelle, an der er uns, gerade in jenen Zusammenhängen unserer
deutschen Entwicklung, so bedeutsame Werte schuf und darstellte. Er kam aus
der Gründerzeit, gegen die er von seiner Jugend her einseitigen Abscheu mit¬
brachte, und er ging in die Zeit hinein, zu der das Tor durch den Weltkrieg
aufgestoßen wurde. Auf diesem Wege bedeutet er einen der sichtbarsten Träger
und Repräsentanten der Kräfte, die nach Läuterung und durch Läuterung nach
Herrschaft im deutschen Wesen dieser Zeit rangen. In der Kunstwart- und
Dürerbundarbeit spiegelt sich dieser Kampf um Echtheit, Ganzheit gegen die
Surrogate in allen Einzelheiten. Oft einseitig und karg nach der Meinung der
Tadler und Neider. Man schalt, namentlich in den letzten Jahren, da sich
die praktischen Arbeiten immer weiter vom Zentrum seiner eigensten Begabung
entfernten, auch über Unklarheit und Unsicherheit. Schließlich hat ja der
Strom des deutschen Wollens alle Grenzen persönlichen Könnens und Be°
greifens gesprengt, und was jetzt mit uns geschieht, vermag kein einzelner
urteilend zu übersehen. Auch wenn ihn nicht die Erfahrungen begrenzen, die
notwendig das Geschlecht der jetzt sechzigjährigen bestimmen und die vor-
zugsweise jenem inneren werdenden Deutschland der letzten dreißig Jahre zu¬
gewendet sein mußten. Übrigens haben nur wenige von dieser Generation
unmittelbareren und lebendigeren Anschluß an die jüngste Jugend gefunden
als Avenarius, und wer ihn ganz kennen will, muß ihn unter dieser Jugend
gesehen haben. In ihr fühlte er mit Recht die echteste Betätigung seines
besten Wollens.
Nun ist diese Jugend zu einer Erprobung ihrer Ideale aufgerufen, an
deren Ernst kein Schaffen und Wollen der Zeit vorher heranreicht. Dieser
tiefste Ernst, diese Bewährung des Deutschtums im Kampfe mit der Welt
scheidet die Arbeit vor dem Kriege von aller späteren. Aber wie viel von der
Kraft, die uns jetzt trägt und nachher tragen soll, aus der Sammlung und
Läuterungsarbeit vorher stammt, das können vielleicht erst sehr späte Beurteiler
erkennen. Nicht der Zufall allein, daß dieser sechzigste Geburtstag in eine
Zeit füllt, in welcher der Blick sich immer wieder von allem Persönlichen
hinweg ins Allgemeine lenkt, tiefere wesentliche Gründe vor allem führen vom
Individuellen dieser Gelegenheit immer wieder hinweg zu unser aller Schicksal.
So viel von persönlichsten, aus Künstlergaben quellenden Wirken, hat sich hier
in dreißig Jahreen entpersönlicht, ist zum objektiven Besitztum der Generation
vor dem Kriege geworden. Die Verantwortung gerade dieser Generation vor
der Geschichte ist nicht gering: von dem Erbteil, das sie der Zeit nachher ge¬
schaffen und bewahrt hat, wird unser weiteres Dasein als Volk nicht viel
weniger abhängen, wie von den ernsten Entscheidungen dieser Tage selbst.
Die Frage: Was ist echt an euch gewesen? wird dann über ihre ästhetische
Bedeutung hinaus erst in ihrem Schicksalswert erkannt werden. Der jetzt
sechzigjährige stellte und stellt sie immer und immer wieder. Möge sie nie
unter uns verstummen.
er Name Constanza weckt mancherlei Erinnerungen bei dem, der
sich in vergangene Zeiten zu vertiefen, Menschen- und Völker¬
schicksale zu überdenken gewohnt ist.
Der kühne Unternehmungsgeist griechischer Kaufleute aus
I Milet hat im Laufe des achten und siebenten Jahrhunderts v. Chr.
die unwirtlichen Küsten des Pontus mit einem Kranz rasch aufblühender Städte
besiedelt, die dem gefürchteten Meere den Namen des „Gastlichen" (Euxinus)
einbrachten. Auch im Süden des Jstros, an der Küste der Dobrudscha, faßte
der milesische Kaufmann bald Fuß; eine seiner Gründungen erhiel den Namen
Tönens (Tomi). Es ist das heutige Constanza (Küstendsche). Aus der
älteren Geschichte der Stadt wissen wir wenig; im dritten Jahrhundert ge¬
wann sie, die ein Zankapfel zwischen Byzanz und Kallatis gewesen war,
ihre Unabhängigkeit wieder, eine jener griechischen Handelskolonien fern im
Barbarenlande, deren Selbständigkeit vielfach durch Prägung eigener Münzen
bezeugt wird. Durch den Zug des Lucullus im Jahre 72 v. Chr. kommt
sie unter römische Herrschaft. Seit den Zügen des jüngeren Crassus, 29 v. Chr.,
finden wir sie als Haupt des griechischen Fünfstädtebundes in der späteren
Provinz Niedermösien, dem sich unter Kaiser Trajan als sechste Stadt Marcianopolis
hinzugesellt. Welch gefährdeter Außenposten dies Tomi war, mag die Tatsache
zeigen, daß sie zurzeit von Cäsars Diktatur (44 v. Chr.) und ebenso während
des großen pannonisch-dalmatischen Aufstandes (6—9 n. Chr.) von den um¬
wohnenden Goten überrannt und schwer heimgesucht wurde. Zu größerer
Blüte kam sie erst wieder im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr., als be-
deutendster Handelsplatz der „Linken" des Schwarzen Meeres, bis sie in der
ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts als eine der ersten dem Ansturm der
Goten erlag.
Dem modernen Menschen freilich, der wähnt, daß mit dem jetzigen Welt¬
kriege eine ganz neue Epoche der „Kultur" begonnen habe, dürften diese Dinge
kaum der Erwähnung wert erscheinen, wenn nicht in diesen weltverlorenen
Winkel des Pontus zurzeit des Augustus ein Poet verschlagen worden wäre,
dessen Worte noch heute so vernehmlich an unser Ohr klingen, als sei er einer
der Unsern, als sei es gestern gewesen.
Die Verbannung des römischen Dichters Ovid ist es, die der Stadt die
Unsterblichkeit gebracht hat.
Eben noch ein gefeierter Dichter in der Hauptstadt der Welt, wegen seiner
vielgewandten Muse, seiner weltmännischen Manieren wie seiner fast sprichwört¬
lichen Vertrautheit mit allen Geheimnissen der „Liebe" selbst bei Hofe hier und
da gern gesehen, viel beachtet, bewundert, beneidet, war er plötzlich von dem
Kaiser nach Tour verbannt worden, aus unbekannter Ursache, wenn es auch —
auf Grund seiner eigenen Andeutungen — sicher ist, daß seine vielberufene
„Liebeskunst" hierzu mitgewirkt hat, ein laszives Werk, an manchen Stellen von
einer Schamlosigkeit, die selbst in dem kaiserlichen Rom unerhört war und bei
Augustus, der eine religiöse und sittliche Wiedergeburt seines Volkes erstrebte,
den schwersten Anstoß erregt hatt?.
Der Dichter selbst war durch den jus herniederfahrenden Strahl der kaiser¬
lichen Ungnade aus allen Himmeln gestürzt. Eben noch in dem Brennpunkt
der griechisch-römischen Weltkultur mit all seinen Genüssen und Herrlichkeiten
— und nun fern von der Heimat, fern jeder höheren Gesittung an den
äußersten Rand der „bewohnten Erde" verwiesen! Trost blieb ihm allein die
Poesie. Hatte doch auch ihm ein Gott gegeben, zu sagen, was er litt. In
ungezählten Gedichten hat er daher seiner oft verzweifelten, oft trostlosen, nur
selten Hoffnung schöpfenden Stimmung ergreifenden Ausdruck verliehen, nicht
nur in den Trauerliedern (l^iZtm), sondern auch in vielen seiner „Briefe aus
dem Pontus" Gattin und Freunde wie auch hohe Gönner angefleht, all ihren
Einfluß aufzubieten, damit der Herr des Erdkreises sein Exil aufhöbe oder
doch an einen freundlicheren Ort verlegte; ja, er hat sich nicht gescheut, selbst
zu würdeloser Schmeichelei seine Zuflucht zu nehmen — und doch alles um¬
sonst! Bis zu seinem Tode hat er dort freudlose Tage ohne Zahl ver¬
bringen müssen.
In Tomi erst sieht er, welche Welt er verloren hat. Wilde Sehnsucht
will ihm oft das Herz zerreißen*):
Bald erscheinen von fern der Freunde liebe Gesichter,
Dann taucht wieder mir auf Gattin und Tochter zugleich . . .
Wieder von Hause lehr' ich zu den Stätten der göttlichen Roma:
Alles betrachtet der Geist, was ihm so innig vertraut:
Bald das Forum, die Tenipel, die marmorgedeckten Theater,
Jegliches Säulenportal, weil nicht gehemmt ist der Blick.
Bald auf dem Felde des Mars den Rasen, von Gärten umwoben,
Weiher und spiegelnde Seen oder den Jungfrauenquell.
All das liegt nun in unendlicher Ferne. Verzweiflung will ihn oft über¬
mannen, trostlos ist seine Stimmung; was könnte den noch erfreuen, der aller
Güter des Lebens beraubt ist?
Was die See, was das Land, was immer die Lüfte erzeugen —
Gibt es doch nichts auf der Welt, was noch die Sinne mir reizt!
Nektar, Ambrosia selbst, den Trank und die Speise der Götter:
Böte die Jugend sie mir lächelnd mit lieblicher Hand —
Dennoch vermöchten sie nicht den stumpfen Gaumen zu reizen;
Selbst den himmlischen Trank weigerten Lippen und Mund.
In welche Umgebung war der Dichter verschlagen! Schneidendere Gegen¬
sätze als Rom und Tomi lassen sich schwerlich denken.
In der Ode bin ich am Rande der Welt hier vergessen,
Wo die Erde versinkt Sommer wie Winter im Schnee.
Äpfel und liebliche Kräuter — sie wachsen zu Lande hier nirgends,
Nirgends die Weide am Bach oder die Eiche am Buhl.
Auch das Meer bietet nichts, denn stündig tobt hier die Woge,
Der die Sonne nie lacht, unter der Stürme Gewalt.
Wohin auch immer du blickst: nur Ödland, ohne Bcbauer,
Steppen verlassen und wüst, Felder, die niemand begehrt.
Oft steigern sich seine Klagen zu größter Bitterkeit:
Nimmer siehst du den Lenz, das Haupt von Blumen umkränzet,
Nie der Schnitterin Arm, tief von der Sonne gebräunt,
Niemals bringt dir der Herbst der Rede feurige Gabe,
Dafür jegliche Zeit Kälte und Frost ohne Maß.
Bäche schlafen vereist, ja selbst im Meere die Fische
Drängen vergeblich zum Licht, unter dem Dach von Kristall.
Nirgends ein labender Quell, es sei denn am Strande die Brake.
Aber man weih es nicht recht: löscht oder reizt sie den Durst?
Selten nur raget ein Baum, verkümmert, im weiten Gefilde,
Und auf dem Lande die See siehst du in anderer Gestalt.
Häßlich starrt nur die Staude des Wermuth im toten Gelände,
Die nur bitteren Saft, gleich ihrem Boden, dir bringt.
Und die Eingeborenen solchen Landes?
Stets von Feinden umringt, von tausend Gefahren -- so leb' ich:
Mit der Heimat zugleich ward mir der Friede geraubt.
Hat doch der Feind, um den Tod auf doppeltem Wege zu bringen,
Jedes Geschoß in das Gift greulicher Viper getaucht.
So gerüstet, umstreift er zu Rosse die angstvollen Mauern,
Wie der Wolf in der Nacht lauernd die Hürde umkreist.
Aber sobald von der Sehne des Rosses gespannet der Bogen,
Der von der Fessel nie frei, hell im Gefilde erklingt,
Starren die Häuser von Pfeilen, als ob sie von Stacheln umpanzert;
Kaum der Riegel des Tors wehrt noch der Feinde Gewalt.
Der Schmerz, der die Seele dieses so jäh ins „Elend" Gestoßenen durch¬
bohrt — er ist echt. Und mag er viel gesündigt haben, er hat viel gebüßt.
So rührt auch uns noch die unlösbare Verstrickung von Schuld und Sühne in
dem Leben dieses Römers, der die ihm von den Musen verliehenen Gaben so
schwer mißbraucht hat. aber doch nie den Musen untreu geworden ist.--
Von den Tagen des Kaisers Augustus überfliegt der Gedanke Zeit und
Raum bis an die Schwelle der Gegenwart. Es- war im Jahre 1837, da
stand ein ferner Nachkomme jener Germanen, die unter Arminius die Haupt¬
stadt der Welt in Schrecken versetzt hatten, an jener Stätte, wo einst der
römische Dichter gelitten — ein preußischer Generalstabsoffizier in türkischen
Diensten, Helmut!) von Moltke. Mit Entsetzen sah er die Spuren des russisch-
türkischen Krieges, der hier vor acht Jahren gewütet. „Man glaubt, die Russen
seien gestern erst abgezogen; die Städte sind buchstäblich Steinhaufen, nur in
einzelnen Hütten, aus den Trümmern zusammengebaut, Hausen die Einwohner,
und an den überall gründlich geschleiften Werken liegt noch ein Minentrichter
neben dem andern, als ob sie eben gesprengt. Küstendsche selbst ist von den
Russen so gründlich zerstört, daß zwischen den alten römischen und neutürkischen
Trümmern nur etwa vierzig oder fünfzig Menschen wohnen."*)
Mit mehr Freude betrachtet Moltke die auch hier unvertilgbaren Spuren
der Römerherrschaft, die noch heute, nach 2000 Jahren, eine gewaltige Sprache
reden. Da sind die mächtigen Trajanswälle, die noch deutlich erkennbaren
römischen Castra, der Wall von Constanza, das Fundament eines Rundturmes
am Hafen, Säulenreste, Steintrümmer, die zierlichen Reste eines römischen
Hauses und — einige Stunden landeinwärts — die mächtigen Ruinen von
Adamklissi, die den tiefgeschichtlichen Sinn des preußischen Offiziers in hohem
Maße fesseln.
Aber der Geist dieses einzigen Mannes bleibt nicht an den Zeugen einer
altersgrauen Vergangenheit haften; ebensosehr gilt er der Gegenwart und der
Zukunft. Oberhalb Cernawoda biegt die bis dahin westöstlich fließende Donau
scharf nach Norden ab, um in einem gewaltigen Bogen schließlich in dreifacher
Mündung das Schwarze Meer zu erreichen. Zu Schiff ist daher der Weg von
Cernawoda nach Küstendsche etwa 70 Meilen, während die Luftlinie nur
7 Meilen beträgt. Dieser Umstand und die Tatsache, das sich längs dieser Linie
eine Reihe von Seen, Kara-Suj, bis auf 4 Meilen an Küstendsche heranzieht
und der Niveauunterschied zwischen dem Ausfluß des letzten dieser Seen in die
Donau und Küstendsche, wie Moltkes Kamerad, der Hauptmann von Vincke,
durch Vermessungen feststellte, nur 166 Pr. Fuß (d. h. etwa 50 Meter) beträgt,
ließ bei Moltke den Gedanken aufkommen, ob nicht längs dieser kürzesten Linie
ein Schiffahrtskanal möglich sei, der nicht nur den Wasserweg von Cernawoda
nach Küstendsche um neun Zehntel verkürzen, sondern auch die schon damals von
den Russen völkerrechtswidrig in Besitz genommene und dauernd in ihrem
Bereich liegende Sulinamündung aus dem Verkehr ausschalten könnte. Diese
Frage erschien ihm, der die Donau, „diese wichtige Lebensader Deutschlands";
voll zu würdigen wußte, der im Jahre 1837 aussprach, daß Österreich betreffs
der Freihaltung der Sulinamündung voll russischer Kontrolle und der Schiffbar¬
haltung dieses DonauarmeS „das Interesse von ganz Deutschland verträte",
von solcher Bedeutung, daß er sie nicht nur an -zwei, Stellen seiner Briefe aus
der Türkei, sondern auch in einer besonderen Abhandlung untersucht hat.**)
Freilich ist Moltke zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Kanalbau Cernawoda-
Küstendsche ungeheure Erdmassen bewältigen müßte und schon daher technisch
nahezu unmöglich wäre, zumal auf dem höchsten Punkt seiner Strecke keinerlei
Wasser vorhanden ist, das ihn speisen könnte, sondern dies von der Donau bei
Cernawoda abgeleitet werden und daher das Bett des Kanals wenigstens
136 Pr. Fuß (d. h. etwa 40 Meter) tief eingeschnitten werden müßte. Aus
diesen Gründen, die ihm zwar nicht völlig unüberwindlich erschienen, hielt Moltke
das Unternehmen, das nach seiner Schätzung mehrere Millionen Taler erfordern
würde, für unausführbar.
Seitdem sind achtzig Jahre vergangen, hat gerade auch unsere Strombau¬
technik ungeahnte Fortschritte gemacht. Und ein paar Millionen Taler spielen heute,
angesichts eines Unternehmens, das für Jahrhunderte bestimmt ist, keine entscheidende
Rolle. Ob aber der Gedanke ausführbar, ob sich seine Ausführung lohnen würde,
das mögen unsere Wasserbautechniker im Verein mit unseren Volkswirten ent¬
scheiden. Jedenfalls gibt der Fall von Constanza aufs neue zu solchen Er¬
wägungen Anlaß, um so mehr, als Deutschland seine Wasserstraßen nach Süd¬
osten, d. h. vor allem die untere Donau, diese seine „wichtige Lebensader", zur
wirtschaftlichen Erschließung und Anschließung der Türkei an unser und Öster¬
reichs Wirtschaftsgebiet nötiger hat denn je.
Das Römermal von Adamklissi, das Moltke von Constanza aus besuchte
ist im letzten Menschenalter von dem Rumänen Tönnchen erforscht worden/")
Tönnchen, Professor an der UniversttätBukarest undKöniglich Rumänischer Senator,
war in den letzten Jahrzehnten fast stets auf den „Versammlungen Deutscher
Philologen und Schulmänner" anwesend, um ihnen die Grüße der rumänischen
Regierung zu überbringen. Es ist daher gerade jetzt, wo die Rumänen in
sinnloser Feindschaft gegen uns kämpfen, nicht ohne Interesse, sich zu erinnern,
was der Vertreter der rumänischen Negierung bei solcher Gelegenheit gesprochen
hat. So sagte er 1899 in Bremen: „Ist doch die deutsche Nation die Lehr¬
meister« in vielem gewesen, besonders aber in der Altertumswissenschaft haben
wir uns stets die deutschen Forscher zum Vorbild genommen.... Gestatten
Sie mir, meine hochverehrten Herren. Sie im Namen meines Heimatlandes
von neuem der herzlichsten Sympathie und hohen Bewunderung zu versichern,
welche die kaum erstandene Wissenschaft im jungen Donaukönigreich dem deutschen
Volke entgegenbringt."
Und noch eine Erinnerung jüngster Zeit weckt der Name Constanza. Hier
empfing im Frühjahr 1914 König Carol. der der Entwicklung dieses Hafens
stets besondere Fürsorge gewidmet hat, Kaiser Nikolaus den Zweiten von
Rußland. Daß zweiundeinhalb Jahre später, acht Wochen nach dem Verrat
Rumäniens an den Zentralmächten, ein preußischer Feldherr an der Spitze
seiner siegreichen Truppen in dieselbe Stadt einziehen würde, konnte keiner der
beiden Monarchen ahnen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
es habe ein Mitgefühl mit dem Durchschnittsdeutschen.- nicht mit
dem freilich, der steht, wo gestürmt und gestorben wird und wo
das deutsche Gesicht einen neuen, noch unbeschreiblichen Zuschnitt
weltgeschichtlicher Endgültigkeit empfängt. Für diesen Deutschen
habe ich eine ganze Anzahl von Gefühlen, die jetzt zu bezeichnen
kein Anlaß besteht, nur nicht eben „Mitgefühl". Auch geht mein Mitgefühl
für den Durchschnittsdeutschen weder auf seine Magenuöte, noch seine Beutel¬
schmerzen, noch überhaupt auf seine Beziehungen zu der evangelischen Kategorie
der Güter, die Motten und der Rost fressen und die Diebe nach graben und
stehlen: ich kenne ihn, und weiß wie er mit diesen Nöten, Schmerzen und Be¬
ziehungen fertig werden wird — es ist eine Frage von Zeit und von Mitteln,
die er haben, die er finden wird, und sie stimmt mich nicht übermäßig neu¬
gierig. Neugierig aber, und mit einem Mitgefühl, in demi eine kleine traurige
Bitterkeit und ein ganz winziges Gefühl des Lächelnmüssens wider Willen
sich zu Humor zusammenziehen, sehe ich dem Durchschnittsdeutschen in seinen
politischen Nöten zu. Dem Deutschen, der sich plötzlich um öffentliche Dinge
kümmern soll, die weder wirtschaftliche noch lokale sind: dem Durchschnitts¬
deutschen der Kriegsziele, der Weltprobleme, der Neuorientierung, der Freien
Bahn, die keine Vizinalbahn ist, sondern jedem Tüchtigen gehören soll. Dieser
Deutsche ist eine Märchenfigur und daher eine höchst reale, höchst lehrreiche
Figur, in der ein tiefstes sittliches Problem steckt. Er ist der Unglückspeter
aus dem Märchen von den „Drei Wünschen", mit denen einer sich in die ver¬
wünschtesten Lagen hineingewünscht hat; aber er soll aussehen wie Hans im
Mücke. Er hat darüber zu entscheiden, wer unser Hauptfeind ist. Er hat das
Auswärtige Amt und die diplomatische Karriere zu reformieren. Er soll freiheit-
lichen Geist in die Verwaltungen bringen, vermutlich aus jener Überfülle davon,
über die er notorisch verfügt und die er in seinem Privatleben und seinen
eigenen Verwaltungen betätigt. Er hat sich über unsere künftigen außer¬
politischen Bindungen schlüssig zu werden. Man erwartet von ihm bei den
Friedensverhandlungen jenes bekannte gewichtige Wort, das er mit in die be¬
kannte gewichtige Wagschale zu legen hat. Er soll sich durchsetzen und Hebel
ansetzen. Und so ist er ein geplagter Mann. Ausschüsse streiten um seine
Seele. Redner reißen ihn nach links und rechts. Er tagt, er telephoniert; er
wird Mitunterzeichner. Er hat längst den Hut verloren, und wenn er sich den
Kopf kratzt, so weiß er selber nicht, ob es aus Ratlosigkeit geschieht oder um
zu sehen, ob nicht der Kopf inzwischen den Weg des Hutes gegangen ist. Er
ist zu bedauern, nicht sehr, aber ein wenig, denn es wird ihm zwar zu helfen
sein, aber es geschieht ihm vorläufig einmal Recht. Dieser Tag hatte für den
Durchschnittsdeutschen früher oder später einmal kommen müssen, wie gewisse
unangenehme Tage für denjenigen, der über feine Verhältnisse lebt, wie Ent¬
hüllungen für den Vertrauensseligen und Rechnungen für den Schuldner.
Wofür soll der Deutsche sich plötzlich interessieren? Für öffentliche An¬
gelegenheiten. Wovor ist der Deutsche hundert Jahre lang mit fliegenden Rock¬
schößen davongerannt? Vor öffentlichen Angelegenheiten. Er war durch Um¬
stände, die ins historische Kolleg gehören und nicht hierher, zum Privatmann
geworden, in aufgeklärten Despotien, kleinen Staaten, Reichsstädten, deren
Staatsgeschäfte von Landesvätern, geheimbden Rats Kollegien, Geschlechter¬
regiment und Kabinetten besorgt wurden; er war es zufrieden, wenn er dabei
leidlich ungeschoren blieb. Über Nacht erfuhr er an der Grenze, Staats¬
geschäfte seien öffentliche Angelegenheiten und ihre Führung als ein Wie und
als ein Wohin unterliege der öffentlichen Meinung. Er erfuhr von Parlament
und Presse als Äußerungsformen dieser öffentlichen Meinung, von Verfassungen,
aus denen die öffentlichen Angestellten bis zum Minister hinauf als Vertrauens¬
männer der Volksgesamtheit oder Volksmehrheit, ihr pflichtig und verantwortlich,
hervorgingen. Zugleich erfuhr er. es gelte als reputierlich, diese Institutionen
zu besitzen, als rückständig, das Recht auf sie nicht zu beanspruchen. Gründlich
-und entschlossen hat er diesen Anspruch, nach seiner Art erhoben, zäh und hart
in einem blutigen Frühjahre ihn erfochten, und hat diese Institutionen längst
bei sich eingeführt. Dann ist er wieder nach Hause gegangen. Er erzählt mit
einer berechtigten Genugtuung, er habe nicht nur ein Parlament, sondern für
sich allein mehr Parlamente als das übrige Europa zusammengenommen.
Ebenso beinahe stehe es mit seinen Zeitungen. Er hat, in normalen Zeiten
wenigstens, zwar nicht das freie Wort, denn diese heilige und großartige
Himmelsgabe kann niemandem verliehen oder genommen werden, aber die
Freiheit des freien Wortes. Mit den verantwortungsvollen Beamten allerdings
hapert es schon eher, und keiner weiß recht warum. Immerhin, es ist an
Formen des freien Zugriffs ins Öffentliche soviel vorhanden, die Tafel ist allem
Anscheine nach so auskömmlich gedeckt, daß man sich gedrungen fühlt zu rufen:
„Zugegriffen!" Aber keiner greift zu. Die Stühle sind leer. Und wir sehen
im Hintergründe eine Anzahl handfester Leute die widerstrebenden Gäste, eben
den Durchschnittsdeutschen, an die Sitze zerren. Wir hören sein Entschuldigungs¬
geschrei: Er müsse nach Haus, seine Frau warte auf ihn. Er sitze lieber am
eigenen Tische. Er habe sich den Magen verdorben. Er sei nicht standes¬
gemäß angezogen. Er habe eine Scheu vor dem Offiziellen. Man ruft ihm
mit Entsetzen zu, dies sei ja nichts Offizielles und Geheimes, sondern das
Gegenteil davon, das Öffentliche, der freie Volksplatz, die lichtbeschienenc,
unbefangene derbe breite und helle Volksgelegenheit, das einzige, wobei man
wirklich „unter sich" sei! Er stiert den Sprecher an wie wild; er fragt wütend,
wer von beiden irrsinnig sei. Er kenne nur zweierlei, das Private und das
Offizielle, und beides sei geheim. Er wisse, daß jetzt auch der Privatmann
zum Offiziellen gehören solle, also beim Geheimen dabei sein, und er habe auch
nichts dagegen, im Gegenteil, er müsse es sich nur noch überlegen. Von etwas
Öffentlichen habe er noch nie gehört, außer in Redensarten.
Denn der Deutsche war, wie eben gesagt, nach Einführung aller jener
Formen des Öffentlichen wieder nach Hause gegangen und geworden was er
immer gewesen war, Privatmann in leidlichen Wohlfahrtsverhältnissen unter
Obrigkeit, Pastor, Patronatsherren, Sachwaltern, mehr oder weniger erleuchteten
Beamten, Negimentsständen, Kabinetten, Landesvätern, die die Staatsgeschäfte
besorgten. Geändert hatte sich, daß nicht mehr alle oben genannte Obrigkeit ihm er¬
nannt wurde, denn teilweise ernannte er sie sich selber und ging nach der Er¬
nennung erleichtert nach Hause. Geändert hatten sich die Namen. Eine Anzahl
der aus seinem neuen Rechte ernannten Geschäftsführer von Beruf hießen nun
Abgeordnete, eine gewisse Art von uneingebundenem Buche, das der Deutsche
las, hieß nun Zeitung. Sie wurde von einer neuen Kategorie von Geheim-
beruflern hergestellt, die man Journalisten oder Pressemänner nannte, und
die anonym blieben, wie ein Verwaltungsbüro anonym bleibt: Unterschrift
„Unleserlich". Jeder hatte bei seinem Fach zu bleiben, und die Fächer waren
geschlossen. Jeder hatte sein Fach gegen den Nichtfachmann, seine Zunft gegen
den nichtzünftigen zu verteidigen, wie solche Nationalheiligtümer des Privaten
nur in Deutschland verteidigt werden können. Wenn die Welt, um mit Sieben¬
meilenstiefeln in die Geschichte marschieren zu können, neue Füße bekommen
hatte, so brauchte man zwar neue Leisten und neue Schuster. Aber der neue
Schuster hatte beim neuen Leisten zu bleiben, wie der alte beim alten. Und
die rechte Hand hatte nicht zu wissen, was die-linke tat. Und „was deines
Amts nicht ist. da lasse deinen Vorwitz". Daß Staatsgeschäfte öffentliche An¬
gelegenheiten sind, war vergessen. Es war auch äußerst unbequem, diesen
Gedanken durchzudenken, denn er stimmte unruhig und tätig. Und man hatte
ohnedies soviel zu tun, daß man seine Ruhe wollte.
So hat sich der Vordergrund des deutschen Lebens durch Jahre und Jahr-
Zehnte mehr und mehr mit Attrappen des Öffentlichen angefüllt, während das
eigentliche Dasein des Durchschnittsdeutschen nicht nur privat und geheim blieb,
sondern immer privater und geheimer wurde. Denn es ist psychologisch nur
zu begreiflich, daß mit der Ausscheidung des Bedürfnisses nach politischer Anteil¬
nahme und seiner Detachierung auf neue feste Berufsordnungen das Verbleibende
sich entlastet fühlte und in rückläufige Bewegung einschwenkte. Der private
Mensch erweiterte sich zur privaten Klasse, das geheime Haus zum geheimen
Kreise. Die Klassen und Kreise des deutschen inneren Lebens, jeder das eigene
Geheimnis argwöhnisch hudert, alle bedacht, „unter sich" zu bleiben, bauten
sich unübersteigbar und unzugänglich gegeneinander aus. Die Betätigungs-
berufe des äußeren Lebens, Obrigkeits-, Parlaments-, Zeitungs». Regierungs¬
gruppen, Beamtungen nach Bezügen und Berechtigungsscheinen geordnet, starrten
einander gewaffnet und drohend ins Gesicht. Jeder hatte gegen jeden den
eigenen „offiziellen" Ton; jeder hatte dem anderen zu imponieren und ihn
wegzuschrecken. Wenn Deutschland aus Bauplätzen für die Weltgebäude der
Zukunft bestand, was ich nicht diskutiere, so war doch indiskutabel, daß auf
keinem dieser Bauplätze das Schild fehlte, das Unberufenen den Eingang verbot.
Schon das Kind wurde darauf dressiert, daß es sein Ehrgeiz sein müsse,
irgendwo „vom Bau" zu sein. In anderen Völkern gab es leitende Männer,
bei uns leitende Kreise. Es ist begreiflich, daß sie uns nirgendhin geleitet
haben, denn Leiten ist Sache der Richtung und Richtung nicht Sache eines
Kreises, sondern eines Punktes, einer Eins. Der Punkt ist am besten, wenn
er die schärfste Spitze ist, ein Pfeil oder ein gereckter Zeigefinger wie bei Weg¬
weisern. Niemand steckt, um den Weg nach Luckenwalde zu zeigen, eine Scheibe
auf eine Stange neben den Chausseegraben, oder ein Rad, dessen Speichen nach
allen Winden weisen.
Aber ich will hier weder, wie der erschreckte Leser befürchten könnte, nach
einem Bismarck rufen, noch mich über den Krieg verbreiten insofern als er
dem Durchschnittsdeutschen gewisse Striche durch sein Weltbild gemacht hat.
Ich begnüge mich damit festzustellen, daß mein Herr Mitbürger sich plötzlich vor die
Staatsgeschäfte als öffentliche Angelegenheiten gestellt gesehen hat, und zwar
durch die einfache Tatsache, daß Krieg und Kriegsbegleiterscheinungen seine
Wohlfahrt zuerst störten und dann aufhoben, daß seine Unzufriedenheit nach
der Ursache forschte, daß seine Forschung in ein unentwirrbares Labyrinth
geriet. Er sah, daß von überallher seines Gleichen aus ihren Kreisen, Klassen,
Gruppen und Fächern heraufgelaufen kamen, daß alle Wissenschaften, die
doch längst samt und sonders Geheimwissenschaften geworden waren, auf
offenem Markte ratschlagten, daß Professoren sich plötzlich darauf besannen, daß
sie öffentliche Professoren waren, daß Geheime Räte nicht mehr ganz geheim
und Privatdozenten nicht mehr ganz privat vorgingen. Man weiß was drauf
erfolgte. Der Durchschnittsdeutsche stellte fest, daß seine alten öffentlichen
Angelegenheiten, deren Gestion er sich erkämpft und dann an die neuen poli¬
tischen Berufsarten und deren Träger abgegeben hatte, in deren Händen ge¬
heim: statt öffentlich geworden waren und vor allem, daß sie nicht gegangen
zu sein schienen wie sie sollten. Er wollte sie daher wieder an sich nehmen
und sie zu öffentlichen machen. Er meinte das ginge schnell und leicht. Daß
es in allen den Monaten nicht gegangen ist, schiebt er auf die ungeschickte
Handhabung der Zensur. Er wollte Kriegsziele diskutieren, aber die Zensur
gestattete keine Diskussion des Wohin? Er möchte entweder verhindern, daß
die Federn verderben usw. oder daß ein neues Irland usw., aber die Zensur
erstickt sein Wort. Er möchte den gegenwärtigen inneren Zustand politisch
kritisieren, das heißt — denn er kennt keine andere politische Kategorie —,
parteipolitisch, aber die ritterliche Zensur schützt die etwas ramponierte Jung¬
fräulichkeit der Burgfriedensgöttin gegen parteipolitische Polemik; so kann der
Deutsche auch das 'Was und Wie nicht erörtern. Alle Macht ist in den
Händen der Machthaber. Aber darf man fragen, wie es mit der Diskussion
des Woher bestellt ist? Sie ist ihm peinlich, denn das Woher ist sein
eigener gestriger Tag, sein eigenes ganzes Leben. Da hülfe es plötzlich nichts
mehr kleine Palliative vorausschlagen, wie die Erschließung der diplomatischen
Karriere für die Bürgerlichen, das heißt die Vermehrung des diplomatisterenden
Adels um seine bürgerlichen Assimilanten. Da hieße es das ganze Problem
stellen und fragen, warum der Deutsche bisher keine öffentlichen Angelegen¬
heiten gehabt und alles hat geschehen und hingehen lassen, was in seinen
letzten Folgen ihn heut beschwert. Und da will der Deutsche lieber schnell
nach Hause; oder er will den unbequemen Frager überhören und fortfahren
über die Erstickung der öffentlichen Meinung zu klagen, Ausschüsse, Haupt-
feinde, Sonderfriedensmöglichkeiten gegeneinander auszuwägen und auf den
Tag zu harren, der die Volksstimme befreit. Daher mein Mitgefühl mit seinem
Freunde, dem Durchschnittsdeutschen.
Ich bin sehr weit davon entfernt, und die Zeitschrift, bei der ich zu Gaste
bin, schiene mir keineswegs der Ort. eine Lanze für die Zensur zu brechen.
Ich wollte nur, ich könnte mit voller Aufrichtigkeit sagen, daß sie den öffent¬
lichen Geist und seine politisch schöpferischen Kräfte im Volke dermaßen knebele,
daß im Augenblicke, da die Knebel sich lösen, ein wahrer Sturm öffentlicher
Gesinnung durch Deutschland brausen müsse, alles Mürbe vor sich her fegen,
und frische wilde Luft an die Stelle der tausend Male hin und her geatmeten
lagern. Ich wäre um eine große und herrliche Hoffnung reicher, wenn ich
diesen Glauben mancher vortrefflichen Männer zu teilen vermöchte. Aber ich
sehe nirgends öffentlichen Geist in der politischen Diskusston dieser Tage;
ich sehe ihn so wenig, daß ich sein Fehlen unter uns gerade aus den Vor¬
schlägen zu ersehen glaube, die in seinem Namen gemacht, in den Anklagen
die unter Berufung auf ihn formuliert werden. Ich bin kein Freund weder
der Zensur noch der Art in der sie vielfach gehandhabt worden ist. Aber ich
bedauere, soweit ich sehe, ihr kein Verbrechen gegen das keimende Leben im-
putieren zu können. Ich habe ein wenig den Eindruck, als ob alle Gegner
untereinander sich düpierten: Als ob die Zensur der Kritik des öffentlichen
Vorganges, die sich äußerst radikal vorkommt, den Gefallen erwiese, ihr das
zu glauben, indem sie besonders drakonisch gegen die Kritiker vorgeht, so
daß endlich das aufgeregte Publikum den Eindruck von Vorgängen da be¬
kommt, wo in Wirklichkeit gar nichts vorgeht, als daß neue Flicken auf alte
Kleider gesetzt werden und neuer Most in die alten mürben Schläuche fließt.
Wir hatten und wir haben keinen öffentlichen sondern einen geheimen
Geist, keine öffentliche Meinung, sondern geheime und getuschelte Meinungen,
und daher keine öffentlichen Angelegenheiten und keine öffentliche Gesellschaft.
Stündlich ist zu lesen, die Politik sei in Deutschland eine Geheimwissenschaft
geworden und müsse aufhören das zu sein. Nur die Politik? War nicht
unsere Literatur eine Geheimliteratur und unsere Kunst eine Geheimkunst?
Und lag nicht jede deutsche geistige und äußere Lebensbetätigung genau so
drachenartig eifersüchtig, wie die Diplomatie auf den Geheimnissen ihrer Ge¬
schäftsführung, auf den Horten ihrer Privilegien? Nicht nur der Attachö war
„vornehm" fondern jeder „Betrieb" und jedes „Etablissement", der Empfangs¬
herr in der Wäschekonfektion und die Baderstube. Nicht nur der Gesandte
war „exklusiv", sondern der Dichter X und die Frau des Rechtsanwaltes A.
„Hochmütig" war ein bewundernder Superlativ geworden, statt die derbe Be¬
zeichnung einer höchst vulgären Sünde, „verhalten" zu sein ein Lobesprädikat,
statt die Bezeichnung für einen sterilen und unschöpferischen Zustand. Wir
sind mit den von den letzten dekrepiten Herrschaften abgelegten Kleidern auf
dem Rücken auf der Suche nach neuen Volksrechten herumgelaufen, während
wir uns eigentlich schon schämten das Wort Volk auszusprechen. Wir ver¬
sahen das Wort Öffentlichkeit gewöhnlich mit dem Zusätze „laut" um unser
Naserümpfen darüber graphisch an den Mann zu bringen, und zu markieren
zu welchen „Kreisen" wir zu „gehören" wünschten. Wir hatten uns ein höchst
unsinniges und antipathisches Ideal gebacken, in dem es weder Impulse noch
Affekte geben durfte, und jedes liberale großherzige liebevolle und freundliche
Element, das das schöpferische Wesen begleitet und auszeichnet, durch die
affektierte Sachlichkeit, Härte und Kälte ersetzt war, durch die unbegabte
Naturen sich eine Art Haltung geben; dies Ideal nannten wir germanisch und
deutsch, während alle großen deutschen Volksmänner von Luther bis auf
Bismarck und Bebel mit ihrer Fähigkeit zu lieben und zu hassen, mit ihren
Flüchen, Tränen, Ausbrüchen, fixen Ideen, und dem mächtigen Reichtum ihrer
seelischen Unbefangenheit die klägliche Puppe Lügen straften.
Öffentliche Angelegenheiten sind Angelegenheiten eines ganzen Volkes und
darum in einem gewissen Grade schon der Menschheit, öffentlicher Geist ist der
Geist der sich mit einem ganzen Volke, und damit schon in gewissem Grade
mit der Menschheit eines weiß. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die
großen Rechte der alten humanen Demokratie jedem Kannegießer und jedem
Snob und jedem Rollenhascher sich ohne weiteres in die Hand bieten und
daß er ernten könne, wo er weder gedüngt noch geankert noch gesäet hat. Es
ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten unsere realen Institutionen reformieren,
ohne unsere Ideale umzustellen. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten
bei diesen kümmerlichen Idealen und den kümmerlichen Gesellschaftsformen in
denen sie sich ausgeprägt haben, verharren und gleichzeitig die Angelegenheiten
des ganzen Volkes als unsere eigenen übernehmen, unsere eigenen so führen,
daß sie an denen des ganzen Volkes eine Teilschaft beanspruchen können. Es
ist der größte Irrtum zu glauben, man könne eine Sache betreiben ohne ihren
Geist zu besitzen.
Öffentlicher Geist ist Geist des Mitlebens mit jedem öffentlichen Vorgang
und der Verantwortung für ihn, die eine tätige Verantwortung ist und zum
Handeln drängt. Öffentlicher Geist ist das lebendige Gefühl für den Zu¬
sammenhang jeder einzelnen Tätigkeit mit dem Ganzen des nationalen Vor¬
ganges und für die offenen Bezüge zwischen allen diesen Tätigkeiten. Ich
bespreche ihn hier, weil die Umstände es mit sich bringen, mit Rücksicht auf
seine politische Facette, die freilich die wichtigste ist, denn wir haben keine gute
Politik, weil wir keinen öffentlichen Geist haben. Ich könnte ohne große Mühe
nachweisen, daß wir kein gutes Theater und keinen guten Roman und keine
gute Schule und keine gute Gesellschaft haben, weil wir keinen öffentlichen
Geist haben, daß alle unsere gesellschaftlichen Institutionen, nicht eine einzige
ausgenommen, durch diesen entscheidenden Fehler ihres Fundamentes das un¬
wirksame und wesenlose erhalten, das ihnen alles feste Verhältnis zum Ganzen
des Volkes benimmt, sie vereinzelt und erdrückt.
Aber ich entsinne mich zur rechten Zeit, daß wir in: Kriege sind, und
eine solche Erweiterung meines Gegenstandes in akademische Friedensthemate
ausglitte. Oder vielleicht doch nicht? Wäre es nicht vielleicht, wenn wir den
Kern des Schadens erkannt haben, niemals zu frühe, ihn mit der Schärfe und
der Atzung, und sei es nur mit vollem grellem Lichte, anzugreifen? Wäre
vielleicht gerade dieser kriegerische Moment der einzige, in dem wir unseren
Freund, den Durchschnittsdeutschen, verwirrt und bewegt wie er gerade ist, fest
und greifbar in der Kur hätten? Und ist nicht hier eine Möglichkeit, „Neu¬
orientierungen", freilich keine ihm genehmen, freilich keine sofort brillant
wirkenden, zu erörtern und anzubahnen, in die keine Zensur hinein¬
reden darf?
Mir scheint, ja, so ist es. Und darum wollen wir unseren Freund, den Dmch-
schnittsdeutschen, alles Mitgefühl bei Seite setzend, jetzt eben fassen und festhalten,
damit nicht eines Tages Friede ist, und er wieder nach Hause will. Nicht nach
dem Kriege, sondern heute, sondern jede Stunde im Stillen, bereitet das künftige
Deutschland sich vor. Es ist Kriegsarbeit, und keine geringe, ihm dabei zu helfen
und es in das politische Leben hineinzuzwingen, von dem es immer wieder
entläuft — auch heut im Grunde entlaufen möchte, trotz aller Heftigkeit
seiner Worte und Geberden. Unser Freund möchte entstandene Fehler der
Maschine abstellen, um sie neuen Maschinenwärtern zu übergeben und selber
in den geheimen Geist, die Ruhe, zurückzukehren. Wir wollen ihn dahin
bringen einzusehen, daß der Fehler in ihm selber lag, und daß keine Maschine
und kein Maschinenwart je taugen wird, wenn er nun nicht für immer im
öffentlichen Geiste bleibt und im Kampfe.
le Getreideversorgung der auf die Weizeneinfuhr angewiesenen
drei feindlichen Westmächte, Großbritannien, Frankreich, Italien,
war in den Wirtschaftsjahren 1914/15 und 1915/16 (1. August
bis 31. Juli) nicht einen Augenblick gefährdet. Dagegen bildet
jetzt mit Recht das Problem, ob die rechtzeitige und hinreichende
Belieferung der drei Bedarfsländer im neuen Wirschaftsjahre bis zum 31. Juli
1917 in Frage gestellt ist oder nicht, den Mittelpunkt der Erörterung in der
feindlichen und neutralen Presse. Auch in Deutschland beschäftigen sich Theo¬
retiker und Praktiker lebhaft mit dieser hochwichtigen Frage, die für den Kriegs-
ausgang von entscheidenden Einfluß sein kann, wobei sich herausstellt, daß die
ersteren die Wahrscheinlichkeit einer Aushungerung verneinen, wenn sie auch die
Möglichkeit ernster Schwierigkeiten zugeben. Die Praktiker dagegen glauben, aus den
früheren Erfahrungen und ihren den neuesten Tatsachen zugrunde liegenden Berech¬
nungen den Schluß ziehen zu dürfen, daß die Westmächte kaum in der Lage sein
werden, genügenden Zuschußbedarf an Brodgetreide vom Auslande heranzuziehen.
In der „Germania" vom 6. Dezember 1916 stellt Professor Freiherr
von Waltershausen, Straßburg-Elsaß, bei Erörterung des Problems drei
Fragen auf: erstens, ob in Europa ein Weizenmangel eintreten könnte, der
die Ernährung der Bevölkerung gefährden wird, zweitens, welche politische
Folgen der dauernd hohe Preis zeitigen wird, drittens, welches das Ergebnis
für die Valutafrage in den betreffenden Einfuhrgebieten ist.
Um die letzte Frage vorweg zu nehmen, so ist es klar, daß sie mit der
ersteren in innigstem Zusammenhange steht; wenn die Belieferung in der
wünschenswerten Höhe kaum möglich ist — dieser Standpunkt wird im Nach¬
folgenden vertreten —, so wird eben die Verpflichtung und Zahlungsbilanz der
betreffenden Einfuhrgebiete erheblich kleiner fein als in den beiden ersten Kiiegs-
jcchren. Im gegenteiligen Falle ist ohne Zweifel ein höchst nachteiliger Einfluß
«uf die Valuta des Importlandes unvermeidlich. Hinsichtlich der zweiten Frage
stimme ich mit von Waltershausen dahin überein, daß der Einfluß Englands
auf die Verbündeten und Neutralen in dem Maße wachsen wird, wie es im¬
stande sein wird, deren Getreideversorgung sicherzustellen; andererseits, und dies
hebt von Waltershausen nicht genügend hervor, wird sich die ganze Erbitterung
der eventuell notleidenden Länder gegen England richten, sobald es Miene
machen sollte, ihnen die Zufuhren zu entziehen oder sie auch nur erheblich ein¬
zuschränken. Es ist nicht zu leugnen, daß dieser Zustand im Frühsommer ein-
treten kann, und daß England im äußersten Notfalle zuerst und eventuell aus¬
schließlich an sich und seine Versorgung denken wird.
Der Möglichkeit einer vermehrten Abhängigkeit der Verbündeten und Neutralen
von England, die von Wälderhäuser betont, steht also die Wahrscheinlichkeit einer
starken Verminderung des englischen Einflusses oder noch Schlimmeres gegenüber.
Von den sieben großen Getreideausfuhrländern sind, wohl für die ganze
Kriegsdauer, den Westmächten Rumänien gänzlich, Rußland fast völlig ver¬
schlossen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Kanada haben nach
amtlicher Feststellung Ernten hervorgebracht, die nur geringe Überschüsse er¬
geben, und zwar nicht nur qualitativ, sondern auch qualitativ, nicht nur für
Weizen, sondern auch für alle übrigen Feldfrüchte. Nach englischen Berichten
scheint Argentinien hinsichtlich seiner demnächst fälligen Ernte dasselbe Schicksal
zu erleiden. Nur im Süden des Landes sind normale Erträgnisse zu erwarten.
So bleiben nur noch Indien und Australien zur Beurteilung übrig. Indien sieht
nach einer mäßigen Ernte im Frühjahr 1916 einer mittelguten im März 1917 ent¬
gegen, doch beginnt jetzt erst die eigentliche Prüfungszeit für deren endgültige Ge¬
staltung. Hinsichtlich der australischen Ernte war die englische Fachpresse noch
vor einem Monat vom größten Optimismus erfüllt. Ihr Ton wird von Monat
zu Monat kleinlauter. Die Ausfuhrkapazität, zuerst mit 4,8 Millionen Tonnen
Weizen berechnet, wird jetzt nur noch auf 2,7 Millionen Tonnen angegeben.
In diesen Tagen meldete die „Times" aus Sydney, daß die Getreideernte in
New-South-Wales nicht mehr als die Hälfte einer normalen verspräche.
Bei Betrachtung des Bedarfs der Einfuhrländer ist das wichtigste Moment,
daß England und Frankreich bei weitem schlechtere Ernten im Jahre 1916 zu
beklagen haben. Die englische Weizenernte ist mit 6 Millionen Tonnen um
18 Prozent, die französische mit 5,6 Millionen Tonnen um 7 Prozent kleiner
ausgefallen als im Vorjahre. Italiens Weiz-nernte überragt die vorjährige
um ein Geringes, dagegen ist dort die Maisernte ein Fehlschlag, was bei dem
starken Polentabedarf des Landes eine Vermehrung des Weizenverbrauchs zur
Folge haben könnte. Trotz dieser Voraussetzung wollen wir den Weizeneinfuhr-
bedars der drei Länder nicht höher, sondern ebenso ansetzen, wie der tatsächliche
Import im abgelaufenen Wirtschaftsjahre war, zumal da ja der wesentlich
höhere Preisstand eine gewisse Verbrauchsbeschränkung immerhin verursachen
könnte. Allerdings steht einer Verminderung des Brotverbrauchs der Umstand
im Wege, daß die anderen Nahrungsmittel, wie namentlich Fleisch, Fett.
Butter, Eier und Fisch usw. teils in gleichem, teils in noch höherem Maße
verteuert sind als das Brot. Bei den Neutralen sind erhebliche Verschiebungen
nicht eingetreten, so daß auch hier die gleiche Bedarfsziffer wie 1915/16 in
Betracht kommt. Einige hunderttausend Tonnen mehr oder weniger spielen bei
der Beurteilung der Sachlage ja keine Rolle.
Bemerkt sei noch, daß auch die Welternte an Futtergetreide erheblich
schlechter als im Vorjahr ausgefallen ist, ja, wenn man genauer hinsieht, ist
das Ernteminus an Mais, Hafer, Gerste und Roggen zusammengenommen
noch größer als das Weizenminder. Das ist von erheblicher Bedeutung, weil
eine Surrogatwirtschaft wie in Deutschland, eine Streckung von Brot etwa
durch Mais, auf die Dauer kaum möglich sein wird.
Ich will nun versuchen, unter Würdigung aller in Frage kommenden Tat¬
sachen, Möglichkeiten und Verschiebungen in vorsichtiger Weise eine Weizenbilanz
aufzustellen, die rekonstruiert auf den 1. August 1916 aufzufassen ist. Her¬
vorgehoben sei, daß eine solche Aufstellung nur einen Annäherungswert be¬
anspruchen darf. Alle Ernteziffern beruhen immerhin durchweg auf Schätzungen,
die zurückzuführen sind auf Stichproben, Rundfragen usw. In noch höherem
Maße gilt dies von den Vorräten, von denen nur sichtbare Teile in Lager¬
häusern, bei Müllern und Händlern kontrollierbar sind, während die in erster
Hand (bei Landwirten) befindlichen sich der genauen Erfassung entziehen.
Weiterhin kommt in Betracht, daß der Verbrauch sowohl im Ausfuhr- als
auch im Einfuhrlande und demgemäß der Ausfuhrüberschuß bzw. der Bedarf
schwankende Größen sind, die durch den jeweiligen Preisstand entsprechend
beeinflußt werden. Die Dinge entwickeln sich nicht etwa so, daß von dem
vorhandenen Ecntevorrat zunächst der heimische Bedarf abgezweigt, und was
dann übrig bleibt, über die Grenze gesandt wird, sondern der eigene Konsum
ist selbst abhängig von der Preisentwicklung, und dementsprechend größer oder
kleiner gestaltet sich der Umfang der Ausfuhr, wobei daran erinnert werden
darf, daß kein Ausfuhrland seine letzten Reserven, namentlich nach einer un¬
günstigen Ernte, herauszugeben pflegt, weil es sonst bei einem demnächst
folgenden etwa wieder schlechten Ausfall selbst dem Mangel ausgesetzt wäre.
Auch die Verschiffungszahlen sind im Kriege nicht von absoluter Zu¬
verlässigkeit, z. B. bleiben die englischen Regierungskäufe und — Ankünfte ge¬
heim, und werden seit einiger Zeit die kanadischen Verladungsziffern nicht be¬
kannt gegeben, sind also schätzungsweise zu verstehen (siehe nachstehende Tabelle).
Das Defizit beträgt also 4,9 Millionen Tonnen.
Professor v. Waltershausen scheint von der Ansicht auszugehen, daß der hohe
amerikanische Preisstand (28. Oktober Dezemberweizen in Chicago 189^ Cents)
sich dauernd aufrecht erhalten wird. Das ist allerdings nicht der Fall gewesen.
Bei Niederschrift dieses ist vielmehr der Dezemberpreis um nicht weniger als
35 Cents gleich 50 Mark die Tonne gesunken. Da die Entwicklung der jungen
Saaten nach den letzten Nachrichten keineswegs vorteilhaft ist, der Durch¬
schnittstand als ungünstiger gegenüber dem Vorjahr bezeichnet wird, müssen
hier gewichtige Gründe wirksam gewesen sein. Obwohl die englischen Zeitungen
in dieser Beziehung auffallend schweigsam sind, so scheint es, daß u. a.
die Ursache des augenblicklich in den Vereinigten Staaten tobenden Streits
ist, ob ein Ausfuhrverbot oder mindestens eine starke Ausfuhrbeschränkung, im
Interesse der Versorgung des eigenen Landes, erlassen werden soll oder nicht.
Die unaufhaltsame Steigerung der englischen Preise trotz jenes amerikanischen
Rückganges läßt diese Vermutung zur Wahrscheinlichkeit werden. Aus Argentinien
werden ähnliche Meldungen herübergekabelt. Kommt es zu einer Abschließung
Süd- oder Nordamerikas oder gar beider Länder, so ist tatsächlich nicht zu erkennen,
wie England und seine Verbündeten sich für den Rest des Erntejahres versorgen
sollen. Daß man in England die Dinge mit großem Ernste ansieht, beweist
der Umstand, daß man kürzlich die Einfuhr verstaatlicht hat (übrigens unter
Heranziehung des berufsmäßigen Handels), strenge Ausmahlungsvorschriften
erlassen hat (wodurch die Kleieerzeugung eingeschränkt und der Futtermangel
verstärkt werden wird) ein Einheitsbrot schaffen, einen Lebensmitteldiktator
einsetzen wird usw.
Unter allen Umständen liegt, nachdem ein Drittel des Wirtschaftsjahres
jetzt verflossen ist, das eine Zufuhr von etwa 4^ Millionen Tonnen (davon
31/4 Million von Nordamerika allein) gebracht hat, die Gewißheit vor, daß ein
großer Teil des Zuschußbedarfs von entlegenen Ländern heranzuziehen ist.
Die bekannten Tonnageschwierigkeitcn, die neuerdings allen englischen Gewalts¬
maßregeln zum Trotz wieder entsandte Frachtensteigerung,") die einem solchen
Ansturm in keiner Weise gewachsenen technischen Einrichtungen in den exotischen
Binnenländern und Häfen, dazu die ebenfalls ungenügenden Anlagen, namentlich
in Frankreich und Italien, endlich die Transportverhältnisse in den europäischen
Einfuhrgebieten werden die Schwierigkeiten ins Unendliche vermehren. Endlich
die Valutafrage in Frankreich und Italien, ganz zu schweigen vom Preisstande!
Ich möchte zum Schluß noch ein Moment hervorheben: die moderne
Landwirtschaft hat die bekannten Niesenerträgnisse, die es ermöglicht haben, daß
ein großer Teil der Menschheit Nichtlandwirte sind und somit sich anderen
Produktionen widmen konnten, nur auf Grund mehr oder weniger intensiver
Wirtschaft hervorzubringen vermocht. Dem Boden sind die großen Ernten der
Vorjahre abgerungen worden durch einen hohen Aufwand von Arbeit und
Kapital, von menschlichen und tierischen Kräften, bestem Saatgut, künstlichem
Dünger, landwirtschaftlichen Maschinen, Kohlenzufuhr usw. Alle diese mensch¬
lichen und natürlichen Kräfte entsprechen in keinem Lande mehr den früheren
Erfordernissen. Es ist keinesfalls ein Zufall, daß fast alle getreidebauenden
Länder in diesem Jahre so erhebliche Mindererträgnisse zeigen. Es ist eine
Folge des Umstandes, daß man gezwungen ist, die Intensität der Landwirtschaft
zu vernachlässigen. Aus diesem Grunde liegt die Befürchtung nahe, daß auch
das nächste Jahr eine Weltmißernte bringen wird, die aber diesmal nicht die
Riesenvorräte aus den früheren Ernten antreffen würde. Das wäre ein nicht
auszudenkendes Unglück, von dem Freund und Feind betroffen werden würde,
vielleicht mit der alleinigen Ausnahme der reisessenden Menschheit.
") Die an neutrale Schiffe bezahlten Frachtraten sind neuerdings erheblich gestiegen:
in pockennarbiger Lastträger in rotem Hemd, blauen sackartigen
Hosen und breiter Leibbinde entstieg in der Bucht von Bebe! einer
schwerfälligen, von vier Ruderern bedienten Barke. Mit seiner
gut verschnürten Matratze auf dem Rücken und einem Bündel
Leibwäsche in der Hand trat er beim Hauat-Kaffeehaus des
Bosporusdörfchens ein und verlangte den Obmann der Lastträgergilde zu sprechen.
Es war um die Mittagszeit; ein paar breitschultrige Burschen lagen auf .
den Holzbauten und schliefen, andere spielten Karten. Hassan, der Obmann,
löffelte aus einem braunen Topf seine in Öl gekochten Bohnen und steckte sich
zwischenhinein große Stücke Brot in die Backentaschen. Da er keine Lust hatte,
sich im Essen stören zu lassen, fuhr er mit der Hand durch den grauen Bart
und streckte sie verschmitzt lächelnd nach dem Ankömmling aus. Dieser verstand
sofort, was das Zeichen bedeuten sollte.
„Ich bin dir wohl zu jung?" sagte Omer und verzog den Mund zu einem
breiten Grinsen, „du bist gewiß schon mit dem Bart aus die Welt gekommen!
Aber, weißt du, wir von Jsnik kriegen ihn erst, wenn wir alte Esel werden!"
Die Spieler schauten von ihren Karten auf und begannen zu lachen.
Hassan stellte den Topf hin; er schien mit seinen kleinen tiefliegenden Augen
den kecken Burschen durchbohren zu wollen.
„Und das sagst du Hassan, dem Hamalbaschi. der dir Arbeit geben soll?"
„Nichts für ungut, Effendi." beschwichtigte Omer den Riesen und stellte
sich breit vor ihn auf. „Du weißt doch noch gar nicht, wer ich bin. War
nicht ein gewisser Hussein aus Jsnik vor dir Hamalbaschi hier?"
Hassan sperrte vor Staunen den Mund weit auf.
„Und hat er dir beim Weggehen nicht noch zwei Medschidieh (Taler) ge-
geben," fuhr Omer unbeirrt fort, „daß du dann seinen Sohn in die Gilde auf¬
nehmen solltest? Der Sohn, das bin ich; somit wäre doch alles in Ordnung!"
„Das hättest du mir gleich sagen können." brummte Hassan verlegen,
„aber kannst du denn einen Sack Mehl vom Schiff bis zum Furun (Backofen)
tragen, ohne umzufallen?"
„Zwei auf einmal, wenn es sein muß," erwiderte Omer und krümmte
den breiten Rücken.
„Gut, wir werden ja sehen! Um neun Uhr kommst du zum Segelhafen,
dort gibt's Säcke abzuladen."
„Neun Uhr türkisch oder .fränkisch'?" fragte Omer wichtig und brachte seine
große Taschenuhr zum Vorschein.
„So, du bist auch einer von den ganz klugen," lachte Hassan, „steck' das
Ding nur wieder ein, unsere Zeit bestimmt Haut Effendi, wenn er auf dem
Minarete das Gebet ausruft. Die Uhr hat dir ein Armenier in Stambul auf¬
geschwatzt; wir kennen das, mein Lämmchen! In ein paar Tagen steht sie so
still wie ein Stein!"
Als Omer sich am Hafen einfand, mußte er manchen spöttischen Blick aus¬
halten. Es war allen Lastträgern schon bekannt, daß er des alten Fuchses
Hussein Sohn war, der ihnen oft das Leben sauer gemacht hatte, und auf
manchem Gesicht malte sich die Schadenfreude. „Der Schwächling soll uns
noch kennen lernen!" dachten sie.
Um so größer war das Erstaunen, als Omer sich gleich zwei Säcke auf
die Trage schieben ließ und vorsichtig den gebeugten Rücken hob, bis er die
Last im Gleichgewicht hatte. Mit kurzen trippelnden Schritten setzte er sich in
Bewegung.
„Der macht's ja ganz anders als wir," brummten die älteren Kameraden,
„wo er das nur her hat!" Und gleich stieg der Neuling in ihrer Achtung.
Aber bald fingen sie an, sich wieder über ihn zu ärgern, da er viel schneller
schaffte als sie und sich vom Hamalbaschi keine Grobheiten einzustecken brauchte.
Abends saßen die Lastträger einträchtig bei der qualmenden Lampe im
Kaffeehaus beisammen. Man vergaß der sauren Arbeit des Tages und machte
sich keine Gedanken darüber, was der kommende Morgen bringen würde.
Nachdem Omer einen halben Laib Brot und ein paar Oliven verzehrt
harte, kratzte er die Krümchen auf dem Tisch vorsichtig zusammen, schüttete sie
in den Mund, zog eine Postkarte und einen Bleistift aus seiner Leibbinde und
fing an zu schreiben.
„Oho. der kann ja fast so viel wie unser Imam (Priester)!" tönte es aus
allen Ecken, und bald sah er sich von einem Kreis Neugieriger umringt.
„Hast du das in Jsnik gelernt?" fragte wohlwollend Hassan.
„Ja, beim guten Scheich Tewfik," erwiderte stolz der Gefragte, „dafür
bin ich zwei Jahre lang sein Wasserträger gewesen."
„Da. steck' dir eine Zigarette an, du bist ein Hauptkerl!" lobte ihn Hassan.
„Danke schön, Hassan Effendi, ich rauche nicht; das macht den Hals nur
trocken."
„Omer ist delli" (verrückt), rief der alte Achmed von seiner Bank herüber,
„Freunde, habt ihr schon so etwas erlebt? Er raucht nicht, kann schreiben, und
vielleicht auch die Zeitung lesen, he?"
Omer nickte bejahend und kritzelte ruhig weiter.
Jetzt ließ sich auch Achmed bei ihm nieder. „Hör' mal. Omer, wie wär's,
wenn du morgen Abend auch für mich eine Postkarte schriebest? Nach Kara-
Hissar, weißt du, aber das ist fünf Tage weit von hier weg. Kennst du das
auch?"
„Dummkopf," fuhr Omer ihn an, „wenn ich nach Jsnik schreiben kann,
wird's wohl auch für Kara-Hissar langen, wenn nämlich jemand dort überhaupt
zu lesen versteht!"
„Wieviel verlangst du für die Arbeit? Unser Imam Haut Effendi nimmt
nur zehn..."
„Phe!" flüsterte sein Nachbar, „sag' ihm das nicht, du Eselssohn!"
„Was verlangt er nur?" fragte Omer boshaft.
„Er läßt sich halt nur eine Zigarette für seine Mühe geben."
„Ich verstehe schon." lachte der Bursche, „mir brauchst du nichts dafür zu
zahlen, das Schreiben macht mir Spaß, verstehst du?"
Damit war der jüngste Hauat von Bebel bei seinen Genossen eingeführt.
Als sie ihre Matratzen zum Schlafen auf den Fußboden des Kaffeehauses aus¬
breiteten, bekam Omer sogar eine Ecke an der Wand eingeräumt. Niemand
dachte daran, ihm den zugigen Platz neben der Tür anzuweisen. „Wir müssen
ihn uns warmhalten!" dachten sie.
Und Omer legte sich wie ein Pascha zur Ruhe nieder.
Wahrhaftig, in Bebel ließ sich's leben! Man stand in einer neuen Welt
und konnte von früh bis spät schauen und beobachte«. Immerfort gab es
etwas zu sehen, von dem die Jsniker daheim nichts wußten. Omer kam aus
dem Staunen gar nicht heraus. Wenn er am Morgen mit verschlafenen Augen
die Straße betrat und nach dem Brunnen ging, um sich zu waschen, lag schon
der schimmernde Bosporus in warmer Sonne wohlig hingestreckt und tat ganz
mühelos seine Arbeit. Große Dampfer mit bunten Wimpeln glitten vorüber,
und Berge von Gischt und Schaum spritzten am Ufer empor, daß man sich
vorsehen mußte, um nicht gleich pudelnaß zu werden.
Etwas später stellte sich auch der Nordwind ein und half dem Riesen bei
seinem Werk. Mit weißen geblähten Segeln kamen schwerbeladene Schiffe in
langer Reihe vom Schwarzen Meer her angeschwommen. Die einen strichen
lautlos vorüber, andere machten eine scharfe Schwenkung und steuerten gerade
auf die Bucht zu. Immer größer wurden sie, immer drohender streckte jedes
den Hals mit dem Drachenkopf dem Lande entgegen. Es war, als müßten
diese Ungeheuer im nächsten Augenblick den Rachen aufreißen und ein paar von
den kleinen Lebewesen am Ufer verschlucken. Da rasselten Ketten, Anker rollten
in die Tiefe, und mit einem Ruck standen die Schiffe still.
„He!" rief dann eine rauhe Stimme und schreckte den Träumer auf;
„spuke dich, Bursche, dort kommt frisches Holz von der anatolischen Küste!"
Und ohne Widerstreben folgte Omer dem Hamalbaschi.
Stets war es ein schweres Stück Arbeit, bis die Lastträger alles Holz
vom Segler heruntergeschafft hatten. In hohen Bergen lag es aufgeschichtet
am Ufer und mußte nun gewogen werden. Bald stellten sich zahlreiche Käufer
ein; auch „Franken" waren darunter. Umständlich verhandelte Hassen mit
jedem von ihnen und ließ nicht locker, bis er allen seinen Preis aufgeschwatzt
hatte. Dann kehrte er zu seiner Garde zurück und gab seine Befehle.
„Fünfzehn Tscheki Eichenholz zu Schneider Effendi ins Oberdorf und gleich
kleinhacken und im Keller aufbauen!"
„Schneider Effendi?" die Hamals schauten sich an, und mancher Fluch
wurde gemurmelt. Denn Schneider Effendi wohnte ganz oben auf der Höhe
im großen weißen Haus; es war ein langer Weg bis dahin. Mißmutig
gingen die Burschen an die Arbeit. Einem nach dem andern wurden zwei
oder drei starke Knüppel auf die Trage geschoben, und mit vorsichtigen schweren
Schritten machte sich jeder davon. Während der ersten fünf Minuten war die
Last noch erträglich, aber dann trat der Schweiß in großen Tropfen auf die
Stirn, und bald floß er in kleinen Bächen am Gesicht herunter. Keuchend
ging der Atem, zitternd bewegten sich die sehnigen Beine. Wer oben, am Ziel
war, kauerte vorsichtig am Boden nieder, kippte mit dem Rücken die Trage,
und polternd fielen die Klötze zur Erde.
Wenn alles Holz beisammen war, holten sich die Lastträger ihre langen
Äxte, und der zweite Teil ihrer Arbeit begann. Es dauerte oft Stunden, bis
sie darangehen konnten, die Scheite in große Körbe zu packen und ins Haus
des Käufers zu tragen.
Währenddessen stand Hassan, der Baschi, dabei und rauchte eine Zigarette
nach der andern. Wußte er sich unbeobachtet, so lehnte er sich faul gegen
einen Zaun und überlief die Hamals ihrem Schicksal. Aber wie wichtig tat
er, wenn zufällig der Hausherr dazukam! „Schneller, schneller, meine Kinder",
rief er dann, „ihr schafft wie lahme Pferde!" Und alles grinste gutmütig
dazu, denn sie kannten diese List. Nachher durfte Hassan einen größeren
Bakschisch verlangen.
So lernte auch Omer die Häuser reicher Türken, Griechen und „Franken"
kennen. Wenn er mit seinem großen Korb Holz vor der Türe stand, schüttelte
er sich stets die klobigen Hamalpantoffeln von den Füßen und trat in Strümpfen
ein. Hier gab es große Zimmer mit wunderlichen Tischen und Stühlen zu
sehen; bunte Bilder hingen an den Wänden. In der Küche blitzte alles von
Sauberkeit, und oft ging eine blonde Frau ganz unverschleiert mit in den
Keller hinunter und zeigte ihm, wo er das Holz aufbauen mußte. Wie diese
„Franken" türkisch sprachen!
Und was für blauäugige Kinder sie hatten! Die kleinen Mädchen hockten
nicht wie in Jsnik stets im Hause, sondern gingen bei Wind und Regen drunten
am Bosporus spazieren und prügelten sich sogar auf der Straße.
An einem dieser stürmischen Märztage lagen die Hamals faul im Kaffee¬
haus herum. Keiner wagte sich hinaus. Da klopfte es an die Tür. und
Schneider Harum steckte ihren Kopf herein. „Ein Hauat soll mir helfen,
meinen Kleinen nach Hause zu tragen!" Niemand rührte sich. Als Omer sah,
daß es die Frau vom „weißen Haus" war, sprang er auf und ging ihr
nach. Sie hatte ein Mädchen an einer Hand und einen pausbäckigen Jungen,
der jämmerlich schrie, an der andern.
„So, das ist recht," sagte Schneider Harum mit freundlicher Stimme,
„lade dir diesen Trotzkopf auf die Schultern, er will nicht mehr laufen!"
Omer griff herzhaft zu; der Kleine hörte gleich auf zu weinen.
„Wie heißt du?" fragte die blonde Frau im Weitergehen.
„Omer! und bin der Sohn des Hamalbaschi Hussein aus Jsnik", ant¬
wortete der Bursche.
„Wie sich das trifft!" rief Schneider Harum, „deinen Vater kenne ich
gut, er hat mich auch, als ich ein kleines Mädchen war, so den Berg hinauf¬
getragen. Du sullst also seinen Platz jetzt hier aus!"
„Gewiß, Madam! Hussein, mein Vater, hat mir nämlich gesagt, immer,
wenn mich eine „fränkische" Harum anreden sollte, müßte ich Madam
sagen!"
„Höre, Omer, ich mache dir einen Vorschlag", sagte lachend die junge
Frau. „Hättest du nicht Lust, bei mir im „weißen Haus" Bekdschi (Nacht¬
wächter) zu werden? Mein Effendi ist manchmal verreist oder kommt spät
aus Stambul heim. Dann ist es oft gar einsam da oben. Du hast nur
dein Bündel und die Matratze mitzubringen. Wir geben dir ein richtiges
Zimmer neben der Haustür, in das du dich nachts schlafen legen kannst.
Dafür bekommst du jeden Morgen ein warmes Frühstück und am Ende des
Monats einen Medschidieh dazu. Willst du. Omer?"
„Wenn mich die Madam brauchen kann, Omer kommt gern!"
„Also noch heute ziehst du zu uns, nicht wahr?"
„Gewiß, Madam, und schönen Dank auch!"
Behutsam setzte er vor dem „weißen Haus" den Jungen wieder auf seine
Füße, sah, wie Schneider Harum ihm lächelnd ein blankes Zweipiasterstück zu¬
steckte, dann war sie verschwunden.
„Wie schnell man doch zu Glück und Geld kommt!" dachte Omer und tat
die Münze in seinen Brustbeutel.
Als er am Abend im Kaffeehaus sein neuestes Erlebnis zum besten gab,
wollte ihm niemand recht glauben. „Delli Omer. du bist ein Narr und willst
uns nur den Mund wässrig machen", rief Achmed. „Glaubst du, daß die
„Franken" einen armen Hauat ins Haus nehmen? So etwas ist noch nie
hier vorgekommen!"
Aber der Jsniker lud sich seine Matratze auf den Rücken, machte seine
Salams (Verbeugungen) und verschwand im Dunkel der Nacht.
Achmed wurde ihm nachgeschickt, damit er herausfinden sollte, ob der kecke
Bursche die ehrbare Hamalgilde nur zum besten hielt. — Doch alles stimmte.
Achmed war hinter ihm hergeschlichen und hatte ihn bei Schneider Effendi ins
Haus eintreten sehen.
Ein förmlicher Kriegsrat wurde abgehalten; solche Neuerungen konnten
nicht geduldet werden. Und doch war im Grunde nicht viel gegen Omer zu
sagen; auch mochte niemand es mit ihm verderben, denn er schrieb seinen
Kameraden die Briefe und Postkarten, ohne einen Para dafür zu nehmen.
Deshalb wurde nach fruchtlosem Hin- und Herreden beschlossen, ihn ruhig seineu
eigenen Weg gehen zu lassen.
Omer paßte sich mit großem Geschick seiner neuen Würde an. Und da er
auch seine Arbeit als Lastträger nicht vernachlässigte, fand selbst der gestrenge
Baschi Hassan nichts an ihm auszusetzen.
Bald gab es für ihn keine langen müßigen Arbeitspausen im Kaffeehaus
mehr. Frau Schneider hatte herausgefunden, daß er ein anstelliger und flinker
Geselle war; nach kurzer Probezeit machte sie ihn zu ihrem Wasserträger. Er
mußte auch den Platz vor dem Haus in Ordnung halten und die Blumen im
Garten gießen, und nach dem ersten Monat bekam er vier Medschidieh als
festen Lohn.
Auch andere „Franken" in der Nachbarschaft wurden auf ihn aufmerksam;
es dauerte nicht lange, so besorgte Omer noch zwei andere Gärten in Bebel.
säuberlich legte er alle seine Ersparnisse zu dem. was ihm sein Beruf als
Hauat schon eintrug.
In dieser an Erfolgen so reichen Zeit machte er die Bekanntschaft des
Spaniolen David, der in einer Ecke des kleinen Marktplatzes von Bebe! sein
Handwerk trieb. Jeden Morgen kam der Alte zu Fuß von Stambul herüber,
spannte in seinem Winkel einen uralten, einst blauen Schirm auf und setzte sich
mit seinem Werkzeugkasten darunter, geduldig auf Kunden wartend. Er war
Tenekedschi (Klempner); doch damit ist noch nichts gesagt, denn der Tenekedschi
von Konstantinopel ist ein wahrer Künstler. Allen Tenekehs (rechteckige Be¬
hälter für Petroleum) weiß er auf die Spur zu kommen. An trüben Winter¬
tagen zieht er von Haus zu Haus und kauft die leeren, deren er habhaft
werden kann, um einen Spottpreis auf. Nachher bastele er an diesen Blech¬
kasten herum, bis aus ihnen Wassereimer, Gießkannen und andere nützliche
Geräte werden, die sich zu einem schönen Preis wieder verkaufen lassen.
David begnügte sich in seinen alten Tagen damit, schon gebrauchte
Tenekehs auszubessern, indem er ihnen neue Henkel ansetzte oder die löchrigen
wieder verlötete. Mußte er unter seinem Schirm zu lange auf Kundschaft
warten, so nahm er sein Werkzeug unter den Arm und ging in den Straßen
auf und ab. Vor jedem Haus blieb er stehen und rief: „Tenekedschi!
Tenekedschi!" Dann öffnete sich hier und da ein Fenster und jemand winkte
ihn herein, um Petroleum „anzuzapfen", oder um einen Wassereimer zu flicken.
Seit fünfundzwanzig Jahren war er die bekannteste Persönlichkeit in Bebel.
Seine langen dürren Beine steckten immer in dünnen weißen Hosen, dazu
trug er einen verschlissenen grauen Rock, und die große Hakennase glühte stets
im Schnupfen.
Nur am Sabbat blieb David als braver Jude zu Hause, besuchte am Morgen
die Synagoge und verbrachte den Rest des Tages, in seinen langen Pelz ge¬
hüllt, sitzend vor seiner Haustüre, während um ihn seine zehn Enkelkinder
lärmten und schrien.
Da er während der Arbeit die Augen stets offen hatte, war es ihm nicht
entgangen, daß Omer bei den angesehensten „Franken" im Dorf in Lohn stand.
Der mußte wissen, ob die Reichen unbenützte Tenekehs im Keller liegen hatten.
Eines Tages lud er den jungen Hauat ein, sich zu ihm unter seinen Schirm
zu setzen und einen „Kaweh" mit ihm zu trinken.
Omer ließ sich die kleine Aufmerksamkeit gern gefallen und plauderte von
diesem und jenem, was er bei den „Franken" gesehen hatte. Nach einer
halben Stunde waren beide handelseinig. Omer versprach, alle Tenekehs, die
in seinen Häusern weggeworfen wurden, dem Juden zu bringen, und er er¬
hielt die Erlaubnis, sich jederzeit seinen „Kaweh" an den Holzkohlen des Alten
sieden zu dürfen.
David machte ein glänzendes Geschäft dabei. Die alten Tenekehs, die er
nun bekam, und aus welchen sich nichts Neues zaubern ließ, nahm er mit
nach Hause, klopfte sie dort auseinander und benagelte mit dem Blech die ge¬
borstenen Hüttenwünde seiner Bekannten, die schwer dafür zahlen mußten.
Auch Omer lächelte das Glück in ungeahntem Maße. schenkten doch
seine Brodherrn alle ihre alten Schuhe, Kragen und Schupse her, und Schneider
Effendi vermachte ihm einen schwarzen Rock! Mit Kragen und Schlips wußte
er nichts Rechtes anzufangen, aber den Rock trug er mit Stolz; nur in seiner
Eigenschaft als Lastträger zog er ihn aus.
Die Kameraden meldeten ihm das kostbare Kleidungsstück und pflegten es
zu verstecken, wenn er es zufällig im Kaffeehaus hängen ließ.
„Glaubt ihr, ich hätte im ,weißen Haus' keinen Wandschrank?" sagte er
mit boshaftem Lächeln und brachte seinen Schatz in Sicherheit. Als er sich
das nächste Mal ,ä la krankt bei den Hamals zeigte, führte er einen kleinen
Handkoffer bei sich, einen nagelneuen Handkoffer.
„Ich verreise morgen auf zehn Tage nach Jsnik", eröffnete Omer das
Gespräch und stellte das Prunkstück auf den Tisch im Kaffeehaus. „Wollt ihr
einmal hineingucken?"
Umständlich zog er den Schlüssel aus dem Gürtel, steckte ihn ins Schloß,
drehte, und: klack! sprang es auf. „Seht," fuhr er fort, „dort liegt ein
schönes Hemd, daneben ein Paar „fränkischer" Schuhe, und hier sogar eine
Bürste. Alle diese Dinge bekommt Hussein, mein Vater. Wird der Augen
machen!"
„Aber in zehn Tagen kommst du ja gar nicht bis Jsnik!" spottete Achmed.
„Wozu gibt es Schiffe und Eisenbahnen, du Eselssohn? Ich fahre im
Dampfer nach Haidar-Pascha, setze mich dort auf den Zug und bin nach
einem halben Tag in Mekedsche. Von dort habe ich nur noch drei Stunden
zu laufen. Siehst du, so macht man basi"
„Und das Geld, mein Schäfchen?"
Omer klopfte auf seinen Brustbeutel. „Da steckt's drin! Seht ihr, das
hat man davon, wenn man arbeiten lernt wie die ,Franken'I"
Er schwatzte noch lange von dem, was er in Jsnik anzufangen ge¬
dachte, aber niemand hörte ihm weiter zu; die Hmnals schienen plötzlich taub
geworden zu sein.
Nachdem er gegangen war, machte sich der allgemeine Unmut Luft.
„Er ist der Jüngste hier und will den Großvater bei uns spielen!" rief
eine Stimme, „und so einen Haufen Geld," polterte eine andere. „Man sollte
doch Haut Effendi fragen, ob es sich für einen Moslem schicke, im Hause eines
Ungläubigen zu schlafen!"
Haut hatte den aufgeweckten Burschen zuerst gern gehabt, da er gern
plauderte und in Omer stets einen willigen Zuhörer fand. Seit ihm aber
bekannt war, daß der Jsniker allen Hamals umsonst die Briefe schrieb, hatte
er ihm seine Gunst entzogen. Hier fand sich nun eine gute Gelegenheit, ihm
sogar zu schaden.
„Ihr habt recht, Freunde", sprach er zu den Lastträgern, „wir können
nicht dulden, daß Omer weiter mit diesen „Franken" umgeht. Ihr müßt ihn
zwingen, seinen Dienst im „weißen Haus" aufzugeben."
„Gib uns einen Rat, Väterchen, wie sollen wir das anfangen?"
„Die Sache ist ganz einfach. Wenn er von Jsnik zurückkehrt, kennt ihn
keiner von uns mehr. Er tritt ins Kaffeehaus ein, niemand steht ihn. Er
fängt ein Gespräch an, keiner hört drauf. Er kommt zur Arbeit, von keiner
Seele wird er beachtet. Ihr sollt sehen, nach kurzer Zeit duckt er sich und ihr
könnt eure Bedingungen stellen. Seid ihr damit einverstanden?"
Als Omer von Jsnik zurückkam, merkte er sofort, daß man ihm übel wollte.
Er ging stracks zu Haut Effendi. „Das hast du angerichtet, Väterchen",
sprach er, „aber du brauchst nichts weiter zu befürchten, meinen sauberen Freunden
schreibe ich keine Briefe mehr!"
Omer wurde Einsiedler. Standhaft ertrug er alle Demütigungen von
feiten seiner früheren Kameraden. Nur Hassan, der Baschi, hatte den Mut,
ihn nicht zu verleugnen. Er war es auch, der ihm riet, seinen Posten im
„weißen Haus" aufzugeben und sich bei einem türkischen Bey eine Neben¬
beschäftigung zu suchen.
Zuerst wollte er von diesem Vorschlag nichts wissen; als Hassan aber
versprach, sich bei Tachsim Bey für ihn zu verwenden, ging er schweren Herzens
zu Schneider Effendi und sagte ihm, daß er seine Stelle verlassen müsse.
Herr Schneider fragte ihn nach allen Einzelheiten gründlich aus. „Ich
konnte mir gar nicht erklären, Omer. woher dein trauriges Gesicht auf einmal
kam", sagte er, „wenn's aber so steht, muß ich dich wohl ziehen lassen. Es
tut mir wirklich leid, mein braver Bursche! Doch mach' dir keine Sorgen, du
findest bald wieder den Boden unter den Füßen!"
Tachsim Bey war der reichste Türke in Bebel. Sein Haus stand in einem
großen Garten, dessen Terrassen sich bis zum Bosporus hinunterzogen. Zweimal
war er im Ausland gewesen und hatte von seinen Reisen große bronzene
Nachbildungen von einem Löwen, zwei Pferden und anderem Getier mitgebracht,
die er im Garten unter den Bäumen aufstellen ließ. Diese blanken Ungeheuer
beeinträchtigten stark die Schönheit der herrlichen Anlagen, aber ihr Eigentümer
war fest davon überzeugt, daß nun erst seine Besitzung zu den größten Sehens¬
würdigkeiten Stambuls zählte.
Seine stummen Freunde mußten zweimal in der Woche nach allen Regeln
der Kunst mit Putzpulver bearbeitet werden. Wehe dem Diener, der nicht pünktlich
seine Pflicht tat, er wurde ohne Gnade entlassen! Hassan hatte schon wiederholt
junge Burschen zu Tachsim Bey gebracht, aber keiner war geblieben. Omer
lobte er in den höchsten Tönen. „Sei versichert, Effendi", sprach er, „über den
Jsniker wirst du dich nicht ärgern müssen, er hat bei den „Franken" arbeiten
gelernt und ist so pünktlich wie der Muezzin auf dem Minarete."
Omer durfte sofort bei seinem neuen Herrn eintreten. Wieder bewohnte
er ein sauberes kleines Zimmer, auch hier war er Bekdschi und mußte zugleich
den Garten hüten.
Tachsim Bey zeigte ihm, wie man die Tiere putzte und beobachtete ihn
drei Wochen lang auf das schärfste. Nach dieser Probezeit war er mit seinem
neuen Diener so zufrieden, daß er ihn bat, seine Arbeit als Hauat aufzugeben
und ganz in den Aali (Schloß) zu ziehen.
Omer zögerte keinen Augenblick, dieses Anerbieten anzunehmen, denn so
wurde er von seinen neidischen Kameraden getrennt und brauchte sich nicht mehr
von ihnen herumstoßen zu lassen. Schnell fand er seinen Lebensmut wieder;
jedermann im Dall hatte ihn gern.
Mit seinen bronzenen Tieren verband ihn ein förmliches Freundschafts¬
verhältnis. Er setzte seinen ganzen Stolz daran, sie stets blitzblank seinem
Herrn zeigen zu können. Ganz besonders schmeichelte es seiner Eitelkeit, wenn
müßige Zaungäste von der Straße herüber bewundernd in den Garten schauten
und einer dem andern zurief: „Hast du je ähnliches in Stambul gesehen?"
Dann stellte er sich mit verschränkten Armen vor den Löwen auf, und ein
selbstzufriedenes Lächeln ging über sein breites ehrliches Gesicht. In den frühen
Morgenstunden, wenn im Haus noch alles schlief und niemand auf der Straße
war, kletterte er oft im Übermut auf eines der Pferde, streichelte ihm die Mähne,
gab ihm die „Sporen" und ließ es tüchtig „traben".
Im Dall wohnten zwei Frauen, Nische Harum, Tachsim Beys Mutter,
und Hattidsche Harum, seine Frau. Letztere sah Omer nur selten und stets
verschleiert. Aber Nische Harum kam oft in den Garten hinunter, um sich
unter den Magnolienbaum zu setzen, und versäumte es nie, den fröhlichen
Burschen anzureden. Sie ging unverschleiert, und Omer sah ihr gern in die
gütigen Augen. Er gewöhnte sich so sehr an ihre täglichen Besuche, daß ihm
etwas fehlte, wenn sie ausblieb.
„Lebt deine Mutter noch?" fragte Aische einmal, als Omer damit beschäftigt
war, seine Tiere zu putzen. Er stutzte; vor ihm wurde das Bild einer Frau
lebendig, die vor langer Zeit ihn gepflegt hatte, als er an den Pocken er¬
krankt war.
„Nein, Harum Effendi, sie liegt in Jsnik unter den alten Zypressen und
schläft. Aber du hast ihre Stimme, Harum Effendi!"
Nach diesem unvergeßlichen Tag sah er die alte gebeugte Frau stets mit
zärtlichen Blicken an, wenn sie in den Garten kam, und ruhte nicht, bis sie ihm
versprochen hatte, daß er ihr jeden Tag einen kleinen Dienst erweisen dürste.
„Laß mich einmal nachdenken", sprach Aische Harum, — „du kannst mir
jeden Abend den Joghurt (geronnene Milch) auf dem Tscharschi (Marktplatz)
holen, willst du?"
Omer strahlte vor Freude. „Du sollst immer den besten Joghurt haben,
den ich finden kann, Harum Effendi!"
Jetzt sah man ihn stets bei Sonnenuntergang mit wichtiger Miene über
den Marktplatz von Bebe! schreiten. Bei David, dem Spaniolen, blieb er einen
Augenblick stehen, half ihm mit dem Zusammenpacken seiner Geräte und trat
dann beim Uoghurtdschi ein, um die geronnene Milch für seine Herrin zu kaufen.
Hin und wieder begegnete er einem der Hamals. „Delli Omer, komm'
doch wieder zu uns", bat Achmed einmal, „seit du fort bist, ist's still im
Kaffeehaus geworden. Keiner kann so lachen wie du. Denk' dir, unser Väterchen
Haut läßt sich jetzt zwanzig Para für seine Briefe geben; ist er nicht ein
Schurke?"
„Das geschieht euch recht", lachte Omer, „warum wäret ihr so dumm, mich
bei euch herauszubeißen. Du kannst deinen Freunden meine Salams (Grüße)
bringen und ihnen sagen, daß es dem Jsniker jetzt noch besser geht als damals
im ,weißen Haus', hörst du?"
Omer hatte sich nie um die hohe Politik gekümmert. Eines Abends hörte
er, es gebe Krieg. Die Leute auf dem Tscharschi steckten die Köpfe zusammen
und machten ängstliche Gesichter. Aber der Jsniker pfiff sich ein Lied und ging
ruhig in den Daii zurück. Was ging ihn den Krieg an? Er war ja noch
nicht einmal Soldat gewesen.
Aber die große Trommel dröhnte jede Nacht dicht vor seinem Fenster und
schreckte ihn aus dem Schlaf. Einmal hörte er ganz deutlich, wie der Nachtwächter
mit gellender Stimme die Zwanzigjährigen zu den Waffen rief. Galt das
auch ihm? Unmöglich! Wer würde dann Tachstm Beys Garten in Ordnung
halten und Nische Harum den Joghurt holen? Omer getraute sich kaum auf
die Straße. Drei Tage später kam der Polizist von Bebel und führte ihn aus
feiner Stube fort, in der er sich verborgen gehalten hatte.
„Wo bringst du mich hin, Effendi," fragte verstört der geängstigte Bursche.
„Nach Stambul in die Kaserne, mein Lämmchen: der Padischah braucht
jetzt alle seine Kinder!"
„Gut, so will ich zum Padischah gehen und ihm sagen, daß Nische Harum
mich viel nötiger hat!"
Der Polizist lächelte verschmitzt. „Versuch's nur, wenn du's kannst; mich
geht das nichts an."
Er wurde in eine Uniform gesteckt, bekam ein nagelneues Gewehr in die
Hand und mußte von früh bis spät auf dem Kasernenhof sich plagen. Hunderte
von andern Soldaten teilten dasselbe Schicksal, aber keiner dachte daran, zum
Padischah zu gehen. Wie sollte sich Omer allein in seinen Palast getrauen?
Still und ergeben tat er seinen Dienst, lernte lange heiße Märsche ertragen,
Gräben ausheben und auf ferne Ziele schießen. Er hungerte und fror mit den
andern, lag nachts auf nassem Stroh und sah über sich den silbernen Mond.
Es war noch in Tachstm Beys Garten gewesen, als ihm dieses runde Himmels¬
fenster gestrahlt hatte. Wie lange mochte das her sein? Was tat Nische Harum
ohne ihn, den Diener? Wann würde er sie wiedersehen?
Die Abende wurden dunkler und kälter, in den Nächten regnete es immerzu,
und als er eines Tages mit seinem Regiment auf einer fernen Station den
Bahnzug verließ, hatte der Winter begonnen. Durch Eis und Schnee marschierten
die Soldaten, bis es Nacht wurde, dann mußten sie sich auf einem Höhenzug
eingraben.
Immer wieder fragten sie in den nächsten Tagen ihren On-Baschi: (Unter¬
offizier) „Wo ist der Feind? Wann greifen wir ihn an?" Aber er zeigte sich
nicht. Statt dessen rollte ununterbrochen der Donner über ihren Köpfen hin,
ringsum fielen Blitze auf die Erde und wühlten mit fürchterlichem Tosen den
Boden auf. am Himmel platzten kleine weiße Wölkchen. Die Soldaten duckten
sich oder krochen in ihre Löcher, und wenn sie wieder herauskamen, waren sie
bleich und sprachen, kein Wort. Denn neben ihnen lagen drei, vier Kameraden
in ihrem Blut und rührten sich nicht.
Auch Omer ereilte das Schicksal. —
Nach langen: Schlaf tat er die Augen auf, das Donnern und Pfeifen
hatte aufgehört. Wohlige Wärme umgab ihn, er lag still und zufrieden in
einem sauberen Bett. Fränkische Frauen mit weißen Kopftüchern gingen geschäftig
hin und her oder blieben vor einem der vielen Betten stehen, die im großen
Saal standen. Omer hatte seinen ganzen Kopf und die linke Gesichtshälfte
verbunden, in seiner Stirn hämmerte ein leiser Schmerz. Was war mit ihm
geschehen?
Zuletzt nahm er sich ein Herz. „Wo bin ich, Harum Effendi?" fragte er
die Krankenschwester.
„In Stambul, mein Sohn!" Sie gab ihm etwas zu trinken, und wieder
fiel er in Schlaf. —
Als er aufsitzen und mit den Kameraden sprechen und scherzen konnte,
ging an einem Nachmittag die Tür des Saales auf und er sah Tachsim Bey,
seinen Herrn, eintreten. Vor Freude streckte er ihm beide Hände entgegen und
drückte die dargebotene Rechte so stark, daß Tachsim im Schmerz das Gesicht verzog.
„Ich sehe, du kommst wieder zu Kräften, mein Junge," rief er, „das
schlimmste hast du überstanden. Der Arzt hat nicht geglaubt, mit einer solchen
Kopfwunde könnte ein Mensch wieder aufstehen. Ihr Jsniker müßt aus besserem
Stoff gemacht sein, als wir andern Sterblichen! Nur mußt du wissen, Omer
dein linkes Auge kommt nicht zurück; es ist hin."
„Das macht nichts, Effendi; sag' mir nur, ob du auch den einäugigen
Omer noch brauchen kannst!"
„Das versteht sich, mein Lämmchen! Hab' nur Geduld, noch zweimal
nutz es Vollmond werden, dann lassen sie dich hier heraus, und du findest
dein kleines Stübchen im Dall so wieder, wie du es verlassen hast. Hier habe
ich dir auch etwas mitgebracht, wähle! Diese Veilchen schickt Nische Harum,
deine Herrin; die Zigaretten sind von mir!"
„Hast du mich jemals rauchen sehen, Effendi? Aber die Blumen!"
Er nahm sie zärtlich in die Hände und drückte das Gesicht hinein. „Ach,
mein Garten," stammelte er, „und meine Tiere, und Aische Harum! Willst
du ihr meine Salams bringen, Effendi?"
„Mütterchen ist schon lange krank; werde mir bald wieder gesund, sie fragt
oft nach dir!" —
Zwei Monate später konnte Omer aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Sein Gesicht war schmal geworden, ans dem zerstörten Auge lag ein breites
Schutzleder, eine frische Narbe zog sich längs über den glattrasierten Kopf.
Der alte Gärtner und die Köche im Daii erkannten ihn kaum wieder.
„Was ist aus meinen früheren Kameraden, den Hamals, geworden?"
fragte er, als sie beim Essen zusammensaßen.
„Nur die älteren sind noch da," bekam er zur Antwort, „die jungen
mußten in den Krieg; von ihnen ist noch keiner zurückgekehrt."
Sein erster Besuch im Garten galt den Tieren. Sie machten mürrische
Gesichter, ihr glänzendes Fell war matt und fleckig geworden. „Hat sich
niemand um euch gekümmert?" rief er, und ging sofort daran, den großen
Löwen zu putzen. Die gewohnte Arbeit erfüllte ihn mit Behagen. Stunde
um Stunde verrann, und erst bei sinkender Sonne dachte er daran, daß es Zeit
sei, für Aische Harum auf den Tscharschi zu gehen. Er hatte wiederholt zu
ihrem Fenster hinausgeschaut, aber es blieb geschlossen, die weißen Gardinen
davor bewegten sich nicht. Nun war es Abend geworden, und sie hatte
ihn nicht irr Garten aufgesucht. Wußte sie denn nicht, daß er wieder im
Mi war?
„Nur Geduld!" dachte er bei sich, „wenn du den Joghurt geholt hast,
bringst du ihn zu ihr hinauf, sie wird erstaunt sein, dich zu sehen!"
Mit klopfendem Herzen machte er sich auf den Weg und war nach kurzer
Zeit von seinem Ausgang zurück. Unten an der Haustür stand er zögernd
einen Augenblick still. „Soll ich es wagen, die zwei Treppen hinaufzugehen?
Das habe ich noch nie getan!"
Da kam Tachsim Bey ihm entgegen. „Willkommen, Omer!" rief er, „ich
hatte den ganzen Tag in Stambul zu tun. Du bist schon fleißig gewesen;
aber sieh dich vor und arbeite nicht zu viel. Du mußt erst wieder zu Kräften
kommen!"
Jetzt bemerkte er, daß Omer den Joghurt in der Hand hielt.
„Das hier ist für dein Mütterchen, Effendi! Wo Aische Harum wohl bleibt?"
„Sie ist am Tag, nachdem ich dich im Krankenhaus besuchte, schlafen
gegangen, Omer, und ruht draußen am Bosporus unter den Cypressen."
Dem Burschen entglitt die Porzellan schale; klirrend fiel sie zu Boden. Er
merkte nichts davon. Starr blieb sein Auge an der Gestalt seines Herrn haften.
„Und du kamst nicht, um es mir zu sagen, Effendi?" Wie ein Schrei
hörten sich diese Worte an.
Tachsim Bey erschrak, als er die von Schmerz verzerrten Züge seines
Dieners sah. „Komm', Omer," sagte er mit erzwungener Ruhe und ergriff
seine Hand, „ich bringe dich in dein Zimmer; du mußt gleich schlafen gehen,
du bist noch krank!"
Willenlos ließ er sich wegführen, legte gehorsam die Kleider ab und streckte
sich ruhig auf sein Lager hin. Nach geraumer Zeit verließ Tachsim Bey leise
die Stube. Es wurde totenstill im Haus.
Der Kranke horchte. Auf der Straße bellte ein Hund, in den Bäumen
des Gartens schlugen die Nachtigallen.
Er stand auf, zog sich wieder an, entriegelte die Haustür und schritt ins
Dunkel der Nacht hinaus.
In der Frühe des nächsten Morgens stand Tachsim Bey vor der Tür
seines Dieners und lauschte. Schlief Omer noch? Behutsam öffnete er und
steckte den Kopf durch den Spalt; das Zimmer war leer. Sofort rief er die
Dienerschaft zusammen. „Hat keiner von euch Omer gesehen?" Jeder schüttelte
den Kopf. „Es ist gut, geht an eure Arbeit!"
Mit hastigen Schritten verließ er das Haus und suchte Hassan, den Hauat--
baschi, auf. „War Omer heute Nacht nicht bei euch?"
„Nein, Effendi, ich wußte gar nicht, daß er wieder im Dorf ist."
Auch der Polizeiposten konnte keineAuskunft geben. Zuletzt schoß dem besorgten
Bey ein Gedanke durch den Kopf. Er lenkte seine Schritte zum Friedhof.
Bebels uraltes Gräberfeld, auf dem schon die heldenmütigen Krieger
Muhammeds des Eroberers ruhen, wärmte sich im Glanz der Morgensonne.
Das zarte weiße Nebeltuch, das in feuchten Frühlingsnächten über dieses Totenreich
ausgespannt liegt, wurde von unsichtbaren Händen weggezogen und zerflatterte
zwischen den dunklen Pyramiden der Zypressen. Ein Gewirr zahlloser kleiner
Grabhügel mit aufrechten Steinen und windschiefen Stelen wurde sichtbar.
Des Frühlings bunter Blumenteppich breitete sich liebevoll über die Gräber
Reicher und Armer, noch Betrauerter und längst Vergessener. Hier ruhte ein
berühmter Pascha unter einem reich verzierten Stein, auf dem seine Taten in
goldenen Lettern eingezeichnet waren. Sein roter, in Marmor ausgehauener
Fes verkündigte stolz die Würde seines Herrentums. Die Stelen der Gräber
seiner Lieblingsfrauen schmückten sorgfältig gemeißelte Rankenreliefs blühender
Blumen und Palmen, ein Zeichen für die Nachwelt, daß diese gottgesegneten
Frauen ihrem Gebieter ein starkes Geschlecht von Söhnen und Töchtern geschenkt
hatten. Des armen Mannes Grabstein daneben war von Moos überwuchert
und zur Hälfte in die Erde gesunken. Wem hatte er gedient, was war sein
Schicksal gewesen? Und wer konnte sagen, ob in alle die Gräber, die heute
kein Stein mehr schmückte, einst Angesehene oder Verachtete gebettet wurden?
Die Zeit hatte sie alle gleich gemacht.
Aische Hanums Ruhestätte lag dicht am Wasser im Schatten hundertjähriger
Platanen. Auf dem frischen Grabhügel sproßte junges Gras, in den Blumenbeeten,
die ihn einfaßten, blühten die ersten Tulpen. Ihm zu Häupten war schon die
schlanke Stele aufgerichtet, und darüber hing am Ast eines Baumes eine
schmucklose Laterne, in der jede Nacht die Totenkerze brannte.
Als sich der Bey dem Grabe näherte, erblickte er seinen Diener am Fuß
einer Platane. Omer saß auf einer Baumwurzel, hatte den Kopf in die Hand
gestützt und starrte vor sich hin.
„Was tust du hier zu so früher Stunde, Omer?" sagte Tachfim Bey und
berührte leicht seine Schulter.
„Ich warte auf Aische Harum, Herr, daß sie mich hole und in ihren Dienst
nehme!"
„Sie ist von uns gegangen, Omer, und kommt nicht wieder. Du weißt
es doch, die Toten stehen nicht mehr auf. Ihre Seelen wohnen in einer andern
Welt, und wir dürfen uns nicht merken lassen, wenn wir um sie trauern.
Allah wünscht, daß man sich seinem Willen beugt. Folge mir zurück ins Haus,
damit wir dich pflegen können."
„Nein. Herr, für mich ist kein Platz mehr in deinem Garten. Mein Aug'
ist trübe, und mein Mund wird nicht mehr lachen; ich will allein sein. Verzeihe
deinem DienerI"
Bald wußte es das ganze Dorf: der arme Hauat von Jsnik war nun
wirklich ein „Delli Omer" geworden. Er mied die Menschen, verbrachte die
Tage am Grabe seiner Herrin und schlief nachts im Schutze alter Gartenmauern.
Da er sich nicht dazu bewegen ließ, in den Mi zurückzukehren, ließ Tachsim
Bey ihm ein kleines Bretterhäuschen nahe dem Friedhof errichten, in dem er
zur Not sitzen und liegen konnte. Andre Bequemlichkeiten duldete er nicht.
Einen Schemel, den sein Gönner hineinstellen ließ, warf er ins Meer.
Nur David, dem Spaniolen, blieb er treu, nur von ihm ließ er sich mit
Nahrung versorgen. Jeden Morgen holte der Jude zwei Brote im Daii ab
und trug sie zu seinem Freund hinaus. Einmal in der Woche brachte er ein
Päckchen Kerzen mit, denn jeden Abend, wenn die Muezzins von den fernen
Minaretts die Gebetsstunde ausriefen, saß Omer am Grabe der Harum, putzte
die Laterne und zündete eine neue Totenkerze an.
Wer vorüberging, konnte ihn oft am Wasser hocken sehen, wo er kleine
Fische mit der Angel fing, um sie nachher am Holzfeuer vor der Hütte zu
braten. Merkte er, daß man ihn beobachtete, so ließ er alles stehen, flüchtete
in seine Behausung und zog den Teppich vor die Öffnung. Die Stürme des
Frühlings und des Sommers Gluten brannten sein Gesicht. Wenn ein Fremder
des Weges kam und den finsteren Mann mit langem struppigen Haar am Ufer
des Bosporus hin- und hergehen fah, unverständliche Worte murmelnd, erschrak
er und lief hastig weiter.
Von Zeit zu Zeit suchte Tachsim Bey den Kranken auf. Es war ihm ein
Rätsel geblieben, warum der Tod Aische Hanums seinen Diener so tief erschüttert
hatte. Aber er vermochte nichts aus ihm herauszubringen; Omers Geist hatte
sich umnachtet.
„Es muß etwas geschehen", sagte Tachsim Bey zu sich, „wenn die rauhen
Monate kommen, bringen wir ihn in ein Krankenhaus."
Als es Winter wurde, schien Omers Zustand sich zu bessern. Dem alten
Achmed, der unter dem Schutz Davids zu ihm hinauskam, schrieb er einen
Brief. Es ging zwar sehr langsam damit, und Achmed mußte jedes Wort
zweimal vorsagen, aber Haut. der Imam, der ihn nachher prüfte, fand kaum
einen Fehler zu verbessern. David kam zu Tachsim Bey in den Mi und
erzählte, was vorgefallen war.
„Sei versichert, Effendi", sprach er, „Omer wird uns wieder gesund.
Neulich gab er mir zu verstehen, daß es in seiner Hütte sehr unbehaglich sei,
weil der Regen nachts durch das Holz hintere. Ich trug altes Tenekeh hinaus
und nagelte ein Blechdach auf seine Hütte, und da hättest du sehen sollen!
Er streckte mir beide Hände zum Dank hin. Das hat er noch nie getan, seit
er in der Einsamkeit lebt."
„Um so besser", entgegnete der Bey, „ich will dieser Tage den armen
Burschen im Wagen holen kommen, denn in den Nächten ist es jetzt empfindlich
kalt. Heute morgen hatten wir schon Forst. Mein Freund Hakki Bey vom
Krankenhaus in Stcnnbul wird mich begleiten. Wenn wir sehen, daß sich der
Kranke gutwillig fortbringen läßt, pflegen wir ihn hier im Aali, sonst nimmt
Hakki Bey ihn mit in die Stadt."
Eher, als er gedacht, mußte der Bey sein Vorhaben ausführen. Am
Nachmittag des „fränkischen" Beiram (Weihnachten) setzte ein Schneesturm ein.
Der Wind bließ von Norden; es war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen,
daß das Unwetter zwei bis drei Tage anhalten würde. Deshalb schickte Tachsim
Bey einen Boten nach Stambul und ließ seinen Freund bitten, am nächsten
Tag mit dem ersten Dampfer nach Bebel zu kommen, er erwarte ihn beim
Landungssteg. Gegen Abend nahm der Sturm an Heftigkeit noch zu, in der
Nacht fiel reichlicher Schnee.
Früh am andern Morgen war Hakki Bey pünktlich zur Stelle. Der Wagen
hatte Mühe, sich durch die Schneewehen, die zwischen der Ufermauer und den
Häusern aufgetürmt lagen, hindurchzuarbeiten.
Tachsim Bey konnte seine Unruhe nicht verbergen. „Hoffentlich ist der
arme Bursche nicht auch gestern abend in den Sturm hinausgegangen, um die
Totenkerze anzuzünden", sagte er.
Unweit der Hütte stiegen die zwei Männer aus dem Wagen. Sie war
halb vom Schnee zugedeckt, der Teppich vor dem Eingang flatterte im Winde.
Tachsim Bey schaute hinein; sie war leer. Nichts Gutes ahnend, befahl er dem
Kutscher, den Wagen vorsichtig bis zum Friedhof zu führen. Er selbst nahm
Hakki Bey unter den Arm und ging mit ihm voraus.
Es hatte aufgehört zu schneien. Über die Ruhestätte der Toten hatte der
Winter sein weißes Leichentuch gebreitet.
Als die Suchenden an das Grab Aische Hanums traten, fanden sie den
Vermißten. Er saß auf dem Hügel. Sein Kopf ruhte zwischen beiden Armen,
die den Fuß der Stele umklammert hielten. Neben ihm stand die kleine
Laterne, in der eine noch unbenutzte Kerze steckte, daneben lag das Feuerzeug.
Hakki Bey beugte sich über die zusammengekaufte Gestalt. „Ich fürchte,
der Bursche ist erfroren", sage er.
„Omer ist nur seiner Herrin gefolgt", erwiderte Tachsim Bey, „in ihrem
Dienst durfte er träumend durch das dunkle Tor des Todes gehen!"
erade weil wir uns schon heute darüber klar sind, daß nicht alle
Blütenträume des Burgfriedens reifen werden, ist es um fo not¬
wendiger, auf alle Gebiete hinzuweisen, wo wir trotzdem auf das
Wachstum einiger Früchte am Baum der inneren deutschen Einheit
hoffen dürfen. Auch diesmal geht es wie so häufig, daß wir
von dem grundsätzlichen Ideal zwar weit entfernt bleiben, daß es aber auch
falsch wäre, alle Hoffnung fahren zu lassen und an gar keinen Erfolg der
inneren seelischen Kriegserlebnisse zu glauben. Kein Ideal kommt umsonst in
die Welt; es bleibt wenigstens ein Stern unter anderen Sternen, der dann
doch diesem oder jenem Schiffer richtunggebend dient.
Ein Gebiet, von dem wir wirklich hoffen dürfen, daß gewisse Grenzlinien
weniger stark markiert werden als bisher, ist das, wo der Bereich unseres mo¬
dernen politischen und geistigen Lebens mit dem der katholischen Religion und
Kirche zusammenstößt. Wir dürfen das hoffen, weil schon längst vor dem Kriege
der politische Katholizismus auch im Sinne des bestehenden Reiches zu einer
nationalen Partei geworden war — im großdeutschen Sinne ist er es immer
gewesen! —, und weil in den weitesten Kreisen beider Konfessionen die Über¬
zeugung mächtig geworden ist, daß sie sich wenigstens faktisch gegenseitig gelten
lassen müssen. Hier hat die große nationale Not nur das Wachstum von
Einsichten beschleunigt, die schon vorher die politischen Tatsachen nach Über¬
windung des Kulturkampfes begründet hatten. Blättern wir z. B. in dem
Buche von Friedrich Thinae „Vom inneren Frieden des deutschen Volkes",
das in den „Grenzboten" ausführlich besprochen worden ist (Heft 29 d. Is.),
so finden wir gewichtige Stimmen zahlreicher führender Katholiken und Pro¬
testanten, die alle in dem Bekenntnis zum guten Willen, für immer in einem
Staat und Volkstum zusammenzuhalten, übereinstimmen, ja die sich bemühen,
darüber hinaus die gemeinsamen Züge des nationalen Geistes zum Bewußtsein
zu bringen, die zum innersten Besitztum beider deutscher Konfessionen gehören.
Am schönsten weiß dies am erwähnten Orte der Jesuit Peter Lippert aus¬
zudrücken, der von Wesensoerwandschaften zwischen der deutschen Kultur und
demi Katholizismus spricht, die sich herzerfreuend hören lassen.
Heute möchte ich mit diesen Zeilen auf zwei Bücher des katholischen
Ordinarius an der Universität Würzburg, F. X. Kiefl, aufmerksam machen, die
zwar mit Politik im engeren Sinne nichts zu tun haben, aber doch als
Symptome der Annäherung katholischer und protestantischer Wissenschaft nicht
ohne allgemein kulturpolitische Bedeutung sind. Das erste ist schon mehrere
Jahre vor dem Kriege erschienen und heißt „Der geschichtliche Christus und die
moderne Philosophie" (Mainz, Kirchheim u. Co., 1911, geh. 3,80 Mark, geb.
4,60 Mark). Das Buch ist hervorgerufen durch die seinerzeit von Arthur Drews
neuentfachte Christusdebatte. Wir dürfen die Tatsache nicht verschleiern, daß
Kiefl sich hier im scharfen Gegensatz nicht etwa bloß zu Drews stellt, sondern
daß er seine Kritik an der ganzen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts
übt und sowohl die Kantische wie die Hegelsche Lehre mit allen ihren Aus¬
läufern als unvereinbar mit den: Christentum, wenn man dieses in seiner
historischen Wirklichkeit und nicht nach irgendeiner Konstruktion erfassen wolle,
ablehnt. Höchst bemerkenswert ist aber, daß er dabei der liberalen protestan¬
tischen Theologie eine Art Bündnis anbietet, indem er erkennt, daß diese Theo¬
logie eines Harnack, Troeltsch und ihrer Gesinnungsverwandten jedenfalls das
Verdienst habe, mit unwandelbarer Treue an der Gestalt des historischen Er¬
lösers festzuhalten, und daß sie fortdauernd bemüht sei, der Persönlichkeit des
wirklichen Jesus zu religiöser Macht über die Geister zu verhelfen. Auch die
liberale protestantische Theologie, meint Kiefl, sei sich bewußt, daß es gelte, die
religiös-ethische Souveränität des Christentums gegen den überwuchernden
philosophischen theoretischen Idealismus zu behaupten, und in diesem Bewußt¬
sein bewahre sie ein solches Stück echt christlicher Gesinnung, daß der Katholik
ein gut Teil Weges mit ihr zusammengehen könne. Diesen Hinweis auf einen
gemeinsamen Boden katholischer und protestantischer Theologie in Welianschauungs
fragen kann man vom Standpunkte nationaler Kulturpolitik nur kräftig unter¬
streichen und dem Buche von Kiefl in beiden Konfessionen recht viele ver¬
ständnisvolle Leser wünschen. Kiefl hat die protestantische Philosophie und
Theologie gründlich studiert. Man darf hoffen, daß andere Katholiken ihm
darin nacheifern und daß umgekehrt auch protestantische Gelehrte der katholischen
Weltanschauung immer mehr liebevolle Beachtung schenken werden. Jedenfalls
brauchen Protestanten, wenn sie das Buch von Kiefl zur Hand nehmen, nicht
zu fürchten, auf vermeintlich unverdauliche thomistische Scholastik zu stoßen,
sondern sie werden eine allerdings kritische, aber höchst scharfsinnige und ver¬
ständnisvolle Auseinandersetzung auf dem Boden modernster Wissenschaft kennen
lernen.
Im Kriege selbst und unter dem Eindruck der Burgfriedensbestrebungen
ist das andere Buch von Kiefl geschrieben: „Die Theorien des modernen
Sozialismus über den Ursprung des Christentums" (Kösel, Kempten und
München 1915. geb. 3 Mary. Galt das erste Werk der Kritik des philo-
sophischen Idealismus und gipfelte es in der Anerkennung des christlichen
Charakters auch der protestantischen Theologie gegenüber diesem Idealismus,
so berührt das zweite nun enger die Sphäre der eigentlichen Politik und grenzt
die Aufgaben des Christentums gegen die der modernen sozialistischen Be¬
wegungen ab. Auch hier ist das Ergebnis geeignet, dem Frieden zu dienen.
Kiefl erbringt — im Rahmen des Gesamtwerkes auch durch eine exegetische
Einzeluntersuchung über ein Pauluswort — den Nachweis, daß das Christentum
seinem Wesen nach nur eine religiöse, niemals eine sozialpolitische Botschaft
sein könne. Die Arbeitsgebiete des Christentums und des Sozialismus werden
damit grundsätzlich geschieden. Gerade weil Kiefl auch hier wieder die Welt¬
anschauung des philosophischen Idealismus,' insofern sie auch den Kern der
sozialistischen Weltanschauung bildet, als unchristlich zurückweist und die religiöse
Eigenart des historischen Christentums verteidigt, gewinnt er anderseits alle
wünschenswerte Neutralität gegen die modernen sozialpolitischen Bestrebungen.
Die christliche Caritas ist religiöse, aber überhaupt keine sozialpolitische Ge¬
sinnung. Man wird Kiefl gern zugestehen, daß die moderne rein sozialpolitische
Stimmung, die nur Rechte für die Menschen beansprucht und die Liebe als
demütigend verachtet, einseitig ist, und daß der sozialreligiösen christlichen Ge¬
sinnung unbeschadet aller Sozialpolitik eine gründliche Erneuerung von Herzen
zu wünschen wäre.
Solche Anschauung, die dem Christentum neben dem Sozialismus und
demzufolge der Kirche neben dem Staate ihre souveräne Sphäre läßt, entspricht
den kulturellen Notwendigkeiten unserer Zeit und darf in unserm innerpolitischen
Leben in Zukunft noch weniger stumm bleiben als bisher.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.