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]]> Die Grenzboten
?s. Jahrgang. Drittes Vierteljahr
Der Vortragende ist ein bekannter Warschauer Publizist und Her¬
ausgeber der Zeitschrift „Widnokrag" („Der Horizont"). Bald nach
der Einnahme von Warschau durch die deutsche Armee am ö. August 191ö
brachte ihn eine Unbedachtsamkeit in Konflikt mit der neuen Staats¬
gewalt und er mußte die Einschließung in ein deutsches Gefangenen¬
lager über sich ergehen lassen. Dort und späterhin in Berlin hat Herr
Rzymowski die Eindrücke gesammelt, die hiernieder wiedergegeben
werden. Sie sind ein erfreulicher Beweis für die Objektivität eines
Kulturmenschen im wahrsten Sinne.
Die Übertragung aus dem Polnischen stammt von Dr M Geßner
Der Herausgeber
es komme nicht hierher, um irgend jemand meine Überzeugungen,
meine Sympathien und Antipathien aufzudrängen. Ich trete
weder mit einem politischen System noch mit einer politischen
Richtung auf. Ich ergreife das Wort, um meinen Zuhörern
von der Fülle der Eindrücke mitzuteilen, von persönlichen Er¬
lebnissen, von den Empfindungen und Beobachtungen, wie ich sie auf einem
außergewöhnlichen Beobachtungsfelde gesammelt habe, das für das forschende
Auge unerhört ergiebig ist, denn es ist das Feld des Mißgeschicks: das
Kriegsgefangenenlager. Meine Beobachtungen berühren alle den Krieg,
sie triefen von im Kriege vergossenem Blut, aber sie gehen von jenseits des
Krieges aus, sie kommen aus einer, man könnte sagen, entgegengesetzten
Richtung. Wenn wir nämlich die Linien der Fronten, an denen die be¬
waffneten Kräfte kämpfen, den einen Pol des Krieges nennen, so darf man
als den entgegengesetzten Pol gerade die Gefangenenlager bezeichnen; wenn
das Schlachtfeld die erste Station des Krieges ist, so ist das Gefangenenlager
die letzte Station. Hinter dieser letzten Station breitet sich schon nur mehr
eine allerletzte Station aus — die Friedhöfe der Gefallenen. Zwischen den
beiden Polen braust die Welle des Krieges. Von der Front der kriegerischen
Vorgänge, zurück durch die zweite und dritte Befestigungslinie, durch Wagen¬
park und Nachhut der Armeen bis tief hinein ins Land, vom Feuer der ein¬
schlagenden Geschosse, durch Munitionslager und Waffenfabriken bis zu den
Metall- und Kohlengruben, von den Feldbäckereien über die Werkstätten des
Handwerks bis zu der Feldarbeit: alles pulsiert und ist geschäftig für den
Krieg. Das Gefangenenlager aber ist ein Ort der Ruhe, wo der Krieg er¬
stirbt. Die, die es bewohnen, befinden sich schon außerhalb des Krieges; sie
sind die ersten, die des Friedens teilhaftig wurden; sie sind diejenigen, die
schon faktisch Frieden geschlossen haben. Ihre Hände, frei von Gewehr und
Säbel, suchen nach Hammer und Pflug. Die Gefangenenlager sind ein durch
die Kriegsflut angeschwemmter Niederschlag, aber sie tragen in sich den Vor¬
geschmack des Friedens und eine rasende Sehnsucht nach dem Frieden. Zu
der Fülle der durch den Krieg verursachten Leiden fügen sie ein neues Argument
für den Frieden hinzu: den Umfang der durch den Krieg verursachten Taten¬
losigkeit, der Tatenlosigkeit dieser Hunderttausende von Arbeitshänden, die in
der Kriegsgefangenschaft gebunden bleiben.
Diese Welt der Unfreiheit, die Welt der Kriegsgefangenen, erheischt vor
allem Aufmerksamkeit durch ihre imponierender Zahlen. Die Koalition, die
empfindliche Opfer an Gefallenen bringen mußte, hat auch erschütternde Heka¬
tomben an Gefangenen lassen müssen. Nach der Statistik, die immer neue
Posten zu zählen hat, gibt es in Deutschland über anderthalbhundert Gefan¬
genenlager, von denen jedes mehrere Zehntausende Soldaten zählt. Sie bilden
eine eigene, abgeschlossene, in ihre Art besondere millionenköpfige Welt, die, von
allen anderen Welten abgeschlossen, Menschenexemplare von allen Punkten der
Erde enthält. Und deshalb ist sie so unerschöpflich lehrreich für jeden, der für
die menschliche Natur und für die menschlichen Charaktere auch nur ein
Quentchen Teilnahme besitzt. Sie erstand vor nicht ganz zwei Jahren, kann
jeden Monat der Auflösung verfallen und wird in ihrer mosaikartigen,
märchenhaften und wie der Turm zu Babel legendenhaften Architektur nicht
wieder aufleben. Nicht nur für den Politiker, fondern auch für den Psychologen
und Künstler, für den Ethnographen und Soziologen eine unschätzbare und in
ihrer Art einzige Ernte!
Das Material, das da heranreift, wird sich mit der Zeit auf den
Blättern der Tagebücher, die gewiß in der künftigen Literatur unter der Be¬
zeichnung „Gefangenen-Literatur" eine besondere, reiche Bibliothek bilden werden,
zum Gebrauche von Wissenschaft und Kunst eignen. Ehe indes dieses Material
für die Wissenschaft reif wird, ehe es sich für die Kunst kristallisiert, wollte ich
meinen Landsleuten in einer Skizze und in rohem Zustande ein kleines Bruch-
stück davon darbieten, so. wie es sich in meinen Augen spiegelt, aber ich will
es umso sorgfältiger darstellen, als in jenem Material auch ein Stück unserer
polnischen Wirklichkeit enthalten ist. ein so trauriges und für unser Los so be¬
zeichnendes Stück!
Ich übergehe das allzu Bittere und Traurige dieses Bruchstückes des
polnischen Geschicks. Zusammen mit den Erfahrungen, mit denen ich meine
Eindrücke erkaufte, schöpfe ich daraus das moralische Recht, in dieser Sache
das Wort zu ergreifen.
Keine europäische Hauptstadt kann sich einer solchen Mannigfaltigkeit der
Nationen, Stämme, Rassen und Abarten der Menschen rühmen wie das erste
beste Gefangenenlager in Deutschland. Der Russe neben dem Engländer, der
Kanadier neben dem Tungusen. der Australier. Franzose. Araber. Ire neben
dem Mohren, der Talar, Litauer. Pole. Jude. Ruthene, Marokkaner: alle
Hautfarben, alle Stufen der Zivilisation, alle geographischen Breiten, alle Re¬
ligionen der Erde, lediglich durch Strenge zusammengehalten geben sie sich in
der deutschen Gefangenschaft ein Stelldichein. Erst im Gefangenenlager sieht
man plastisch, mit wem die Zentralmächte Krieg führen: mit der ganzen Welt.
Erst dort sieht man die Macht der Koalition — sich wiederspiegelnd in der
Größe ihrer Niederlagen. Dort sieht man, mit wie unzähligem Aufgebot von
Stämmen und Völkern der meer» und landerschütternde englische und der
russische Vulkan gegen Mitteleuropa losgebrochen sind.
Die erste Stelle in der Galerie der Lagertypen gebührt in jeder Hinsicht
den Engländern. Beim ersten Blick erkennt man in ihnen die Stütze und
Triebfeder der Koalition. Nicht zahlreich, soweit es sich um die eingeborenen
Söhne Albions handelt, stolz abgeschlossen in ihrem eigenen heimatlichen Kreis,
Personifizieren sie eine der seltensten Charaktereigenschaften beim Menschen: den
vollendeten und abgeklärten Egoismus. Ich will damit nicht sagen, daß andere
Nationen frei von Egoismus oder weniger egoistisch wären als die Engländer.
Ein nicht geringerer Egoist in dem Gefangenenlager ist der Franzose, aber der
Engländer ist mit einem besonderen Egoismus begabt, der entstanden und ge¬
diehen ist auf dem Rücken niederer Nassen, die England sich unterworfen und
tributpflichtig gemacht hat. Dank diesem ist der Engländer in jeder Bewegung
und in jedem Schritt der Mann, der sich als Vorgesetzter betrachtet. Er trägt,
wo immer er sich befindet, das angeborene Gefühl der Überlegenheit in sich.
Er macht keinen Hehl aus den Privilegien, deren er sich erfreut. Er greift
nach ihnen wie nach einer Selbstverständlichkeit. Man sieht, daß die Macht
für ihn kein Alkohol war, der ihn der Besinnung beraubte, sondern das täg¬
liche Brot, die tägliche Lebensnahrung.
Alle Gegenstände der Liebe sind für den Engländer Gegenstände der
Berechnung geworden. Vor allem der Patriotismus. Der Patriotismus des
Engländers beruht auf einem äußerst abgewogenen Austausch von Diensten
zwischen dem Bürger und dem Staat. Der gegenwärtige Krieg ist für Eng-
land nicht eine heilige Sache, in dem es sein eigenes Blut vergießt zur Ver¬
teidigung seiner Sicherheit und Größe. Der Krieg ist in seinen Augen
ein Unternehmen, in das sich der Staat eingelassen hat. Ein Unter¬
nehmen, nicht schlechter und nicht besser als viele andere industrielle Unter¬
nehmungen — besser, je nachdem es sich finanziell bezahlt macht. Wenn der
Durchstich eines Tunnels von Europa nach Amerika größere Gewinne ver¬
spräche als der Krieg, so würde England statt des Kriegstrustes ein Tunnel-
Syndikat organisiert haben. Daß der Krieg Opfer an Menschenleben und
Gesundheit nach sich zieht, disqualifiziert das Geschäft nicht: denn jeder In¬
dustriezweig erfordert Opfer. Wieviel verschlingt beispielsweise der Bergbau!
Es handelt sich darum, die Zahl der eigenen Opfer herabzusetzen, den Vorrang
des Todes anderen zu überlassen. Und freigebig überläßt England die Todes¬
felder den anderen Partnern im Kriege. Alle Mitglieder der Koalition, die
gegen den Zweibund kämpfen, haben sich die Adern geöffnet. England hat
bisher nur den Geldbeutel geöffnet.
Für jeden Soldaten bedeutet es eine psychische Katastrophe, in Gefangen¬
schaft zu geraten. Der plötzliche Übergang aus dem Stand der Bewaffneten,
aus dem Stand, der im Besitz der todsäenden Macht ist, in den Stand des
hilflosen Opfers, das an die fremde Waffe gefesselt ist, erschüttert auch die be¬
harrlichste Seele. Für den Engländer aber bedeutet die Gefangenschaft nur
eine Station der Entwicklung. Als er sich anwerben ließ und in den Krieg
zog, hatte er mit dem Vaterland seinen Kontrakt gemacht, in dem alle Mög¬
lichkeiten des Schicksals unter entsprechenden Paragraphen vorgesehen sind.
Wenn ihn die Gefangenschaft getroffen hat, tritt der bestimmte Parapraph des
Kontraktes ins Leben, so wie ein anderer Paragraph in Wirksamkeit träte und
die Existenz seiner Familie sicherte für den Fall, daß er zum Krüppel würde
oder den Tod erlitte. So kommt der Engländer ins Gefangenenlager wie auf
einen Posten. Man kann nicht sagen, daß er in der Gefangenschaft leidet
oder daß er überhaupt an der Gefangenschaft trägt; man könnte eher sagen,
der Engländer erledige die Gefangenschaft so, wie man jedes andere Geschäft
(Busineß) erledigt. Das Vaterland versieht ihn mit allen notwendigen Dingen,
es versteht ihn reichlich und getreulich. Er erhält seine monatliche Penston für
laufende Ausgaben, er erhält Provision, Kleidung und Modeartikel. Von
allem hat er genug. Von gewissen Dingen hat er Überfluß. Die verkauft er
feinen Mitgefangenen zu festen Preisen wie in einem Londoner Magazin. Und
so kann manchmal im deutschen Lager der Gefangene, wenn er Geld hat, sich
das erlauben, was eine kleine Warschauer Eitelkeit ist: er kann ein englisches
Kostüm erwerben nach dem Schnitt der neuesten Mode. Von dem Tage
der Hilflosigkeit an, wo er aus dem Schlachtgetümmel herausgerissen in die
Gewalt des mächtigen Feindes geriet, hört der Engländer auch nicht einen
Tag auf, die Fürsorge seines Vaterlandes an sich zu empfinden. Er fühlt,
daß er ein Vaterland hat.
Mit nicht minder zarter Fürsorge umgibt den Franzosen sein Vaterland.
Diese Fürsorge geht mehr ins kleine, ist aber nicht weniger bemerkbar. Der
Unterschied in ihr entspricht dem Unterschied in den Charakteren des Egoismus
des Engländers und Franzosen. Der englische Egoismus organisiert Macht
und Herrschaft, der französische Egoismus organisiert Genuß und Bequemlich¬
keit. In den Augen des Engländers spiegeln sich wieder die Horizonte der
fernen Meere und der wilden Steppen, die er durchmessen hat, in den Augen
des Franzosen spiegelt sich nur der am Spieße gedrehte Braten wieder. Der
Franzose kümmert sich um die ganze Welt nicht, denn er braucht nur seinen
eigenen kleinen Winkel am Herd. Es gibt nichts beredteres als dieses kleine
Idyll von Bequemlichkeit und Wohlhabenheit, wie es sich die französischen Ge¬
fangenen auf ihrem harten Gefangenenlager zurechtmachen. Der französische
Gefangene kann monatelang Strohhalme, Federn oder Fasern sammeln, um
sich ein etwas weicheres Kissen für seinen Kopf zu bereiten. Monatelang kann
er in seiner Speisekammer Vorräte aufspeichern, um zu Neujahr oder Ostern
seinen höchsten Göttern, Gaumen und Magen, mit einem Fest aufzu¬
warten.
Das besagt nicht, daß der Franzose in der Gefangenschaft den geistigen
Problemen entfremdet wäre. Er behandelt alle Probleme nur mit dem Organ
des Feinschmeckers. Liebe. Literatur. Kunst, Politik, Nation, Staat. Geschichte
— das alles würdigt er nur vom Standpunkt des Sattseins, der Bequemlich¬
keit, der Wollust und des Genusses. Gefahr und Risiko sind aus dem Budget
seines Lebens gestrichen und auf das Gebiet des Sports und des Gesellschafts¬
spiels übertragen. Im Gefangenenlager opfert er sogar die sakramentale Idee
der „Revanche". Während in der Pariser Presse unablässig der Ruf nach der
Rückgabe Elsaß-Lothringens ertönt, weckt er unter den Gefangenen nur ein
Achselzucken. „Wir haben auf diese Revanche schon längst verzichtet" erklärte
mir in einer Aufwallung von Aufrichtigkeit ein französischer Patriot. „An
Revanche haben wir im Ernst niemals gedacht, es war das eine literarische
Idee; wir wünschten Frieden und nur Frieden; die Deutschen jedoch, um das
nachbarliche Verhältnis zu vergiften, sagten uns das Verlangen nach Wieder-
gewinnung der verlorenen Provinzen nach; sie drängten Frankreich den Ge¬
danken der Revanche auf, um einen Grund zum Krieg zu schaffen." Aus
diesem Gedankengang schaut wie aus einem Spiegel die kleine gesellte Seele
des französischen „Bourgeois" heraus: die Schädigung des eigenen Vaterlandes
ist in seiner Seele ein blasser Schatten, eine literarische Fiktion geworden, und
was noch seltsamer, das Gefühl dafür beginnt er in seiner eigenen Überzeu¬
gung der Intrigue und Einwirkung des Feindes zuzuschreiben.
Es unterliegt keinem Zweifel: der Franzose fühlte sich schon vor dem
Kriege gelangweilt durch die Großmachtpolitik seines Staates, für die wohl
noch seine Tasche reichte, aber nicht mehr sein Arm, nicht mehr seine Seele.
Nach 1870 warf er die Revanche-Drohung hin, weil das der Hausehre ent-
sprach, aber auch nur der Ehre wegen, warf er sie hin, nicht um sich wirklich
mit den Deutschen um Metz und Straßburg zu schlagen.
Wenn sich der Franzose so wenig um das nahe Elsaß kümmerte, was
konnte er da dem fernen Polen opfern. Nur so viel, als der Bund
der dritten Republik mit Rußland erlaubte. Der Franzose will nichts
von den nationalen Idealen der Polen hören; er erinnert sich nur an eins:
an den Treuschwur der Bevölkerung des Königreiches Polen für Zar Nikolaus
den Zweiten. Dieser Schwur hat in den Augen des Franzosen über unsere
Haltung im europäischen Krieg zu entscheiden. Die alten Streitigkeiten mit
Rußland müßten uns nur um so bereiter machen zu ihrer Beseitigung. Frank¬
reich hat einst auch mit Moskau gekämpft, und jetzt hat es sich mit ihm ver¬
söhnt. Wenn Frankreich im Namen der Zivilisation seine Vorurteile zum
Opfer gebracht hat, so ist es Polen nicht erlaubt, durch die Erinnerung an das
von Rußland erlittene Unrecht und die Abrechnung mit ihm die Harmonie zu
stören. Die Forderung der Unabhängigkeit seitens der Polen im gegenwärtigen
Augenblick erscheint den Franzosen als eine boshafte Kleinigkeitskrämerei.
„Seht ihr denn nicht", fragte mich ein französischer Gefangener, „das eure
Unabhängigkeit ihre Spitze gegen Rußland kehrt? Daß sie ein Verrat Frank¬
reichs wäre, dieses großen und edlen Frankreichs, für das alle Völker unver-
jährbare Schuld- und Dankesverpflichtungen empfinden müssen? Wenn Ru߬
land in mörderischen Kampfe um die Freiheit und Kultur Europas steht, Seite
«n Seite mit Frankreich, so begeht ihr Polen, wenn ihr euch dagegen wendet,
Legionen dagegen organisiert, eine so unritterliche Tat, wie der, der aus dem
Hinterhalt den Gegner überfällt und durch einen meuchelmörderischen Stoß
in den Rücken überwältigt!" Die ganze Bereitschaft des Franzosen, auf
unsere heutige Lage einzugehen, endigt für den Polen mit Beschimpfung
und mit einem Zynismus, der alle Brücken der Verständigung mit ihm
verbrennt. Das polnische Problem ist für den Franzosen ein Gespenst, das
den Frieden der Alliance mit Rußland stört; auf alle unsere Forderungen,
Vorstellungen, Wünsche und Schmerzen erwidert er mit der Angabe der
Adresse,.........der russischen Großherzigkeit, an die er uns empfiehlt
wie an einen Wundarzt, der unsere Wunden heilen soll. Der heutige Franzose,
namentlich der in der Gefangenschaft noch kleiner gewordene Franzose, ist so
klein, daß keine der polnischen Ideen in ihm Platz finden kann. In seinen
Augen und in seinem Kopfe schrumpft alles zusammen und verkrüppelt alles.
Unsere Legionen, die mit ihrem Blute den Ruhm des polnischen Soldaten
wieder hergestellt haben, sind für den Franzosen Kondottiere des Zweibundes.
Unser Haß gegen Rußland ist für den Franzosen eine zum Verkauf von West¬
europa ausgestellte Ware. Unsere Brust mit ihrem Übermaß von Liebe und
Leid ist für den Franzosen nur ein Speicher käuflicher Gefühle, nur ein
Handelsplatz, wo die Unabhängigkeitsidee ihren Preis hat und der weiße Adler
seinen Preis hat und das Fest des dritten Mai und die Hoffnungen, die Erinne-
rungen und die Sehnsucht, alles das ist zu erwerben, alles das ist zu verkaufen.
So weckt denn auch eine Unterhaltung mit dem Engländer in seiner eisigen
Kühle im Polen Nüchternheit und Begriff für die furchtbare Wirklichkeit, das
Geschwätz herzloser französischer Phraseologie aber erweckt den Eindruck des
Abscheus, den man von sich abschütteln muß wie die Umklammerung durch ein
unsauberes Spinngewebe.
Unbeschadet jedoch ihrer Fehler und Tugenden bilden Engländer und
Franzosen zusammengenommen in dem Lager der Kriegsgefangenen dank ihrer
materiellen und kulturellen Lage unbestreitbar die Aristokratie. Genau genommen
bilden sie die Bourgeoisie dieser Lager, unter der sich, wie in der wirklichen
Gesellschaft, das Proletariat ausbreitet, eine Sammelstätte von Unbildung.
Armut und Bitterkeit. Die zur Gefangenschaft verurteilten Engländer und
Franzosen nähren und kleiden sich nicht nur gut, sondern sie gehen auch jeden
Sonn- und Feiertag zu dem von ihnen improvisierten Theater, wo sie heitere
Komödien hören und lustige Karrikaturen anschauen, sich unterhalten und sich dem
Zauber des heimatlichen Witzes hingeben. Sie beschwören die Seele der Pariser
Boulevards, und mit den Wellen der Musik eilen sie ihrer stolzen Heimat zu,
besuchen im Traume das Innere ihrer Häuser, profitieren von dem Kapital
ihrer Kultur und, wie überhaupt Kapitalisten, gehen immer noch mit einer Waffe
aus einer Lage hervor, die für andere eine Lage ohne Ausgang ist.
Die anderen — vor allem die Russen — die unzähligen Scharen
russischer Gefangenen, blinde Splitter jener Dampfwalze, die bei Lodz und an
den Pässen und Kämmen der Karpathen zerschmetterte und mit den Splittern
ihres Mißgeschicks die ganze Ebene vom Dunajec bis zum Bug und Narew
besäte. Der Russe im Gefangenenlager ist der geborene Proletarier, der
arme Teufel, der aus Natur und Anlage in der demütigen Haltung des
Dieners gegenüber jeder Macht und jeder Wohlhabenheit dasteht. Das ist
nicht einmal der aufrührerische Proletarier, ärgerlich im Gefühle des ihm an-
getanen Unrechts, stolz auf seine Armut, den Reichtum wie eine Schwäche und
Ehre wie ein Spielzeug von sich weisend. Der Russe in der deutschen Ge¬
fangenschaft mit seinen westlichen Bundesgenossen, dem Engländer oder Fran¬
zosen zusammentreffend, begrüßt sie instinktiv als seine Herren: der Franzose
oder Engländer ist für den Russen vor allem „darin" (Herr). Wenn der
Franzose seine reichlichen Vorräte und Leckerbissen verzehrt, die Woche für
Woche in zierlichen Büchsen ans Paris und London kommen, so steht der Russe
hinter seiner Bank mit dem demütig gebeugten Nacken, der das ewige Merkmal
der geborenen Knechtschaft ist. Man sieht, daß er schon Sklave war, als er
in die deutsche Gefangenschaft geriet. Der Stand der Gefangenschaft ruft im
Leben des Russen keine moralischen Erschütterungen hervor, er bedeutet nur
eine Änderung des Systems. Dank dem fühlt sich der Russe — und er unter
allen ganz allein — nicht gedemütigt durch die Gefangennahme. Sein Nacken
wurde nicht gebeugt, weil er schon vordem gebrochen war. Wenn er die
Schwelle der Knechtschaft überschreitet, fragt der russische Gefangene nur nach
einem: ob die Suppe im Lager denn auch recht reichlich ist. Dabei kümmert
er sich nicht darum, wie sie ist, er fragt nur wieviel? Für eine ausreichende
Schüssel Suppe ist er bereit, die stärkste Festung zu übergeben. Ich hatte die
Möglichkeit, mit den Verteidigern von Motum, Brest-Litowsk, Grodno und
Ossowiec zu verkehren. Und von allen Seiten erklang es in einem Chor:
die^Hoffnungslosigkeit der Verteidigung und der Wunsch, in der Gefangenschaft
auszuruhen.
Was die Psyche des Russen angeht, so drängt sich jedem eine unabweis¬
bare Frage auf, die Frage, die auf dem Geschick des künftigen Europa mit
furchtbarer Schwere lastet: wie wird der Russe aus diesem Kriege hervorgehen?
Wird seine Psyche teilweise umgestaltet und in welchem Grade und in welcher
Richtung? Mich interessierte vor allem die Frage, wie der Russe angesichts
der Riesenzahl der Beteiligten aus der Gefangenschaft in sein Land zurückkehren
wird. Ob er in das innere Rußland ein Ferment der Wiedergeburt hinein¬
tragen wird oder ein Chaos der Vernichtung oder vielleicht einen glühenden
Fanatismus? Man darf nämlich die große Macht, wie sie die Schule des
Krieges bedeutet, nicht leicht nehmen. Namentlich ein so großer und allgemeiner
Krieg wie der gegenwärtige schreibt sich mit tiefen Spuren in die Seele der
Völker ein.
Wie wird er sich in die Seele des russischen Gefangenen einschreiben?
Vor allem als vertieftes Gefühl seines eigenen Elends. Im Angesicht der
Welt des Westens sah er sich nackt und blind, als ein Opfer seines eigenen
Staates, als Opfer seiner eigenen Offiziere, als Futter für Schrapnelle und
Granaten, als machtlosen körperlichen Riesen, der sich nur so zu verteidigen
versteht wie die Erde, mit dem Widerstand, den eine Scholle nach der
anderen dem Pfluge entgegenstellt. Der Russe fängt in der Gefangenschaft
schon an zu denken, aber weil er ein blinder Mensch ist, tastet er im Finstern.
Indem er den Wohlstand seiner westlichen Verbündeten sieht, denen das Vater¬
land mit unablässigem Gedenken die Gefangenschaft versüßt, fängt der von
feiner eigenen Regierung vernachlässigte und seinem Schicksal überlassene Russe
an, den Engländer zu hassen und von Rache gegen den Franzosen zu glühen
so, wie nur der arme Teufel den reichen Verwandten hassen kann, der sich von
ihm abwendet. Der Russe haßt den Franzosen für jeden Bissen Pastete, den
dieser vor seinen Augen verzehrt. Er haßt ihn wegen der Eleganz seiner Be¬
wegungen und wegen der Anmut seiner Gestalt. Er haßt ihn wegen seines
Paris, wegen seines Wohllebens, wegen seines Humors und Ruhmes und
wegen seines Napoleon, der sich an den Trümmern Moskaus weidete. Ich
möchte einige von den lapidaren cyklopischen Sprüchen anführen, mit denen
der Russe wie mit einem Familiensiegel sein Verhältnis zu den westlichen Ver¬
bündeten stempelt, leider sehe ich, indem ich sie mir im Gedächtnis wiederhole,
daß ich keinen davon verwenden kann: sie sind alle unparlamentarisch. Als
Blüte von Vornehmheit mag der Satz dienen, in dem ein Russe sein Urteil
über die Kapitulation der Engländer in Kul-el-Amara zusammenfaßte: Wenn
es schon eine Schande ist, diesen Taugenichtsen geschieht es gerade recht!
Der infolge der Kriegsenttäuschungen in der Seele des Russen sich an¬
sammelnde Haß, die durch die ewige Mißhandlung durch das Schicksal genährten
Unbilden wenden sich also gegen die, die ihm am nächsten sind, sie reichen
nicht über den Kreis des unmittelbaren Schauens hinaus: aber werden sie sich
darauf beschränken? Werden sie nicht versuchen durchzustoßen zum Sitz des
eigentlichen Urhebers des russischen Mißgeschicks, werden sie bis an den Sitz
des Zarats gelangen? Wird sich aus dem Chaos der heute in der Seele des
Russen dunkel empfundenen Unbilden eine neue große schöpferische Welt los¬
lösen? Mit einem Wort, wird sich das Element der Negation im Feuer der
Niederlagen in ein Element schöpferischer Wiedergeburt verwandeln? Grund¬
sätzlich liegen keine Anzeichen vor. die dem widersprechen. Man muß jedoch
hinzufügen, daß es auch keine Spuren gibt, die dafür sprechen. Die Seele
des Russen hat unter dem Kriegshammer eine mächtige Erschütterung erfahren,
aber ob sie unter ihrer Wucht so aufplatzt, wie das von neuem Leben keimende
Korn oder wie ein tödliches Geschoß — das bleibt ein Rätsel.
In der politischen Literatur spricht man heute viel von der künftigen
Gestaltung der Koalition. Man spricht davon, daß das gemeinsam ver¬
gossene Blut die gegen die Mittelmächte kümpfenden Staaten zu einem engen
militärisch-wirtschaftlichen Block zusammenschließt. Auf diese Überzeugung stützt
sich die berühmte Antithese Naumanns, die bei Ausbruch des Krieges die
englisch-russische und die mitteleuropäische Welt wie zwei einander feindliche
bewaffnete Lager gegenüberstellte. Die gegenwärtigen Schützengrabenlinien ver¬
dichten sich — im Lichte dieser Antithese — zu dauernden Grenzen künftiger
Bündnisse und politischer Konstellationen. Die Gefangenenlager sind für den
Beobachter um so wertvoller, als sie ihn nicht an der Grenze beider Blöcke
abschließen, sondern ihm erlauben, in den Mittelpunkt der Elemente der
Koalition hineinzusehen und gewisse Geheimnisse ihres Baues zu erfassen, die
erst unter ihren Trümmern zum Vorschein kommen. Solange der Bau steht,
ist es schwer, seine schwache Stelle zu erforschen, obwohl er morgen nach einer
Seite zusammenstüizen kann, wo alle dann sehen, an welcher Seite die Katastrophe
des Falles verborgen war. Die von mir gesehenen Gefangenenlager, gleichsam
überfüllt mit Kriegstrümmern, mit Trümmern der Koalition, bilden einen
solchen schwachen Punkt, der unsichtbar und verborgen ist für das Auge im
gemeinsamen Bau und etwa zeigt, nach welcher Seite hin der Bau der
Koalitionsmächte feststeht. von welcher Seite aus er zusammenstürzen wird.
Diese schwache Seite, erraten an den Anzeichen des Verfalls, wird mit beson¬
derer Deutlichkeit sichtbar in der Gemeinschaft der Gefangenen des groß-
britannischen sowie des russischen Reiches. Man könnte sagen, der Krieg habe
beiden Riesen den Bauch geöffnet und das Sekret hervortreten lassen, das sie
von innen zerfraß: das Sekret der Unverdaulichkeit. Wie heroisch auch der
Magen Rußlands war, wieviel auch England verschlang, der Inhalt dieses
Magens überstieg die Verdauungsmöglichleit.
Wenn man diese Bewohner der warmen Länder sieht, die England sür
den Krieg mobilisiert, diese Bürger des Pendschab und Polynesiens oder die
Bewohner der afrikanischen Wüsten die, in ihrem Vaterlande in der Eisenbahn
nicht Zutritt zu der ersten und zweiten Klasse haben, weil diese ausschließlich
für die weißen Beherrscher reserviert sind, und denen man plötzlich die Etikette
der Bruderschaft in dem Kampfe gegen einen unbekannten Feind aufgedrückt
hat, in dem Kampfe um die Ideale der „Gleichheit und Gerechtigkeit", wenn
man diese Mietlinge Englands sieht, so ist zu erkennen, wie wenig Bande des
Herzens und des Interesses, wie wenig Fäden des Vertrauens sie mit der
Historiosophie Chamberlaines und der Politik Asquiths und Greys verbindet.
Durch die Fremdheit des Krieges, für den man sie gewann, oder in den man
sie trieb, empfanden sie die Fremdheit Englands. Ja, noch mehr, sie begannen
die Anormale ihrer Untertanschaft, die Abnormität ihrer Regierung zu empfinden.
Da ist in einem gewissen Lager eine Handvoll Hindus. Sie träumen
von der Rückkehr nach dem Ganges und verfluchen ihre Teilnahme am Kriege;
da ist eine Schar französischer Mohren vom Senegal: sie zittern vor Kälte,
obwohl sie sich Tag und Nacht an den Ofen drücken — man steht, daß sie
auch nicht mehr ein Tröpflein Blut für die Koalition zu opfern haben. Ver¬
gebens suchen die sie umgebenden Franzosen ihren Enthusiasmus zu wecken,
indem sie sie in meiner Gegenwart als eifrige französische Patrioten präsentieren.
Die „eifrigen französischen Patrioten" schweigen hartnäckig, sie träumen wohl
von ihren Palmenhainen, deren Kokosnüsse für sie größeren Reiz haben, als
die Kokosreden Brianos. Diese schweigenden Mohren waren die rechtschaffendsten
Kulturverteidiger, die ich in dem Koalitionslager traf. Wider Wissen und
Willen haben sie durch ihr Schweigen Zeugnis abgelegt von der tiefen Wahr¬
heit, das die wahre Kultur erst dort anfängt, wo man aufhört mit ihr zu
prahlen.
Während England seine Vasallen mittels des Schillings für den Krieg
anwarb, trieb Nußland seine „Fremdstämmigen" billiger in den Krieg, mittels
der Nagaiw. Die Letten, Litauer, Gruziuier und Rumänen aus Bessarabien,
die Tartaren und Mongolen Sibiriens, haben sich durch den Krieg überzeugt,
daß russischer Untertan sein gerade so viel heißt wie Rußlands Opfer sein.
Ebenso wie England seinen gelben und schwarzen Tributpflichtigen, so bezeugt
auch Rußland den unterjochten Fremdstämmigen freigebig die Bruderschaft,
wenn es ihm schlecht geht. Aber während Rußland uns Polen den privilegierten
Opfern seiner Gewalt, die Etikette der Bruderschaft in dem berühmten Manifest
Nikolai Nikolajewitschs aufgedrückt hat, schreibt es heute den übrigen Opfern
seiner Gewalt, deren Sitze und Länder es noch bedrückt, wenn sie nicht zum
Angriff gehen wollen, dieselbe Etikettte mit dem Feuer der Maschinengewehre
auf den Rücken. Es gibt nichts Gewohnteres im Gefangenenlager als den
Anblick von Soldaten, die behaupten, sie hätten sich in deutsche Gefangenschaft
begeben, um nicht durch die russische Artillerie zugrunde zu gehen.
Wir Polen wissen, was aus dem Manifest Nikolais geworden ist: ein
Fetzen Papier, mit dem man in Polen anderthalb tausend Dörfer ansteckte, so
unbekümmert, wie man während des Krieges kaum eine Zigarre anzündet.
Aber feien wir uns überdies auch bewußt, daß damit der russische Staat hinter
sich auch eigenhändig die Brücke zur Rückkehr nach Polen verbrannt hat, daß
heute ein blutiger Abgrund klafft zwischen ihm und der Gesamtheit der unter¬
jochten Völker.
So habe ich denn auch trotz aller Enttäuschungen und Überraschungen, die
uns der Krieg bereitet hat, persönlich aus feinem ganzen Verlauf die für mich
von Anfang an feststehende Überzeugung gewonnen, eine Überzeugung, die
freilich im Gefangenenlager noch durch neue Beweise verstärkt wurde, die nämlich,
daß Rußland als Macht vollständig zur Auflösung reif ist. Diesen Gedanken
habe ich schon vor dem Kriege gehegt als eine Verheißung unserer Zukunft und
habe ihn in der galizischen Presse verbreitet. Jetzt hatte ich die Möglichkeit,
festzustellen, daß das, was eine Vermutung war. sich zur Wirklichkeit gestaltet.
Der russische Staat hatte in sich kein anderes Band außer dem Band der
Bürokratie. Er erhielt sich nicht durch einen inneren organischen Zusammen¬
hang, sondern durch einen eisernen Ring, den er von außen aufdrückte. So
war denn auch der Zusammenhalt Rußlands und sogar seine Existenz nicht
denkbar ohne die Existenz dieses Druckes. Die Wegnahme dieses Ringes würde
die Auflösung der Elemente seines Bestandes bedeuten. Ein Kenner Ru߬
lands charakterisierte es als ein System, bei dem ein Teil der Bevölkerung den
anderen Teil der Bevölkerung überwacht, als ein System also, demzufolge man
in Rußland entweder Sträfling oder Gefängniswärter ist. „^ertium non alatur".
So ist es in der Tat. Daraus ergibt sich jedoch die unmittelbare Folgerung:
von diesem Nußland könnte man an seinem Westrande einige Dutzend Millionen
der Bevölkerung abschneiden, ganz unbesorgt darum, daß auch nur ein Mann
von jenen Millionen einen Finger rühren würde, um unter das Szepter der
Zaren zurückzukehren. Diese riesige Länderstrecke, einst von der polnischen
Republik erbeutet, wird sich, wenn sie nur einmal von Rußland losgerissen wird,
nicht zu einer Jrredenta hergeben, wird nicht den Gedanken der Rückkehr der
slawischen Ströme in das russische Meer pflegen. (?)
Als der eiserne Ring des Zarats unter dem Stoß des Zweibundes im
vergangenen Jahre am Dunajec barst, lag Rußland auf dem Kampfplatz wie
eine auseinandergestreute Garbe. Und die russische Bürokratie kann heute alle
Mittel und Wege aufbieten: sie kann noch einmal ein Judenpogrom inszenieren,
kann beim Vater Heliodor ein Wunder bestellen, kann den orthodoxen Fanatismus
entfesseln, kann die Duma auseinanderjagen, aber alle diese Bemühungen werden
erfolglos bleiben. In dem Augenblick, da das den Ring von außen zusammen-
haltende Band riß, hat sich der Mechanismus so gelöst, daß schon die Achsen
aus ihrem Gefüge treten und daß die Räder im Zahnrad nicht mehr in das
Getriebe greifen. Einzelne Räder mögen noch sausen, aber jedes nur für sich.
Die uns aus alten Zeiten so wohlbekannte Warschauer Polizei hat sich, wie
man hört, nach Osten begeben, um das Fürstentum Trapezunt in Besitz zu
nehmen. Das ist das einzige „Plus" in der Rechnung der russischen Bürokratie.
Weil sich die Moskaner Polizei in Warschau ebenso fremd fühlte, wie sie sich
heute in Trapezunt fühlen muß, hat sie ein moralisches Recht, umgekehrt auch
zu sagen, daß sie sich in Trapezunt ebenso heimisch fühlt wie in Warschau.
Und doch ist in jenem vorausgesehenen, in jenem erträumten Bilde von der
zerschmetterten Macht für den Polen etwas, was ihn verwundet und mit Sorge
erfüllt. Es ist das Geschick der Polen, die unter russischen Fahnen am Kriege
teilnahmen, daß sie auch die Gefangenschaft teilen mußten. Was immer den
Menschen vom Menschen trennt, was sie immer nach zwei entgegengesetzten
Richtungen stoßen kann, das alles stand in diesem Kriege unerbittlich zwischen
dem Polen und dem Mongolen. Es steht zwischen ihnen die Geschichte, es
stehen zwischen ihnen die größten und heiligsten Namen der Religion des
polnischen Märtyrertums, es stehen zwischen ihnen das Blut und die Tränen
des Cholmer Landes, der Brand Galiziens und die rauchende Asche des König¬
reichs: während der Bauer aus Podleste, durch eine momentane Lüge verführt,
als müsse er die heimische Erde schützen, sich an San und Bug schlug, ver¬
brannte der Russe hinter seinem Rücken sein Haus und führte die geschändeten
Frauen davon. Wenn wir bedenken, daß dieser Bauer, über den wahren Sach¬
verhalt aufgeklärt, heute mit dem Russen ein gemeinsames Geschick trägt, so
kann man sich wohl die brennende Unerträglichkeit dieser Gemeinsamkeit vor¬
stellen. Ärger als Wunden, die er im Kampfe für eine fremde Sache erlitten,
ärger als die Sehnsucht nach seinem Lande quält ihn der stete Umgang mit
dem Russen, in dem er seinen Bedrücker erkannt hat, den er als Brandstifter
haßt und über den er sich doch wie über einen armen Teufel erbarmen muß,
sich erbarmen mit dem Fluch der Verzweiflung und mit Flüchen unter Tränen. . .
Was ihm zweifellos Linderung schaffen könnte, wäre die Absonderung von
der Gesamtheit der Gefangenen des russischen Reiches und die Vereinigung in
besonderen Lagern, wo die Polen, abgeschlossen im eigenen Milieu, wie von
dem russischen Joch, so endlich auch von der russischen Gesellschaft befreit würden.
Zur Trennung von dem Lande, zur Gefangenschaft, zu dem strengen
Reglement der Entbehrungen und Beschränkungen, zu allem was quält und
zehrt, verurteilt, erträgt der Pole im deutschen Lager am schwersten die Taten¬
losigkeit. Nicht die Tatenlosigkeit, die im Händefalten besteht, weil dagegen
deutsche Wirtschaftlichkeit und Umsicht Rat weiß, in dem sie für jeden Arbeits¬
und Werkstätten eröffnet, sondern die, die in dem Fernsein von dem großen
Drama der kämpfenden Weltmächte besteht. Der polnische Gefangene im
deutschen Lager leidet für sich und für sein Land, für das Land, dem die Ereignisse
bisher nicht die Möglichkeit boten, an dem Kriege gegen Rußland den Anteil
zu nehmen, den ihm die Geschichte zuweist und seine Kräfte erlauben. Denn
dieser Krieg, den der Zweibund gegen Moskau führt, ist auch unser polnischer
Krieg gegen Moskau, der sechzehnte in der Reihenfolge, aber er ist nur in
unbedeutendem Maße unser, nur dank der polnischen Legionen und in ihrem
Rahmen, während er unser Krieg sein müßte im Rahmen des ganzen Volkes
und nach dem königlichen Maße unseres Blutes und Ruhmes. Wieviel könnte
in einem Volke, wo der Name und das Grab Koöciuskos für sich allein im
Laufe eines Jahrhunderts fast soviel wert waren wie hunderttausend Soldaten,
weil er allein unser einziger Hort gegen Rußland war und die von Osten
drohende Invasion abwehrte, die lebendige Fahne KoSciuskos. unter der Armee
auf Jasna Gora entfaltet, wirken!
Wie kommt es jedoch, daß der polnische Gefangene im deutschen Lager,
der Pole, der denkt und fühlt, trotz dieser Fülle von Sorge und Enttäuschung
und Trauer, die ihn zu brechen droht, dennoch ungebrochen bleibt und daß er
seine Leiden überwindend die Objektivität des Urteils wahrt, unbeeinflußt durch
Unbill empfindet, unbeeinflußt durch Gefühle denkt und ohne Illusionen die
Dinge betrachtet?
Wie kommt es. daß der polnische Gefangene, von harter Wirklichkeit um-
geben, von ihr seine Augen nicht mit Unlust abwendet und sich nicht in unheil¬
baren Pessimismus verliert und nur noch dem Glauben an das Leiden huldigt?
Irgend etwas ist offenbar in dieser Wirklichkeit, was ihn mit ihr versöhnt und
ihn ihr unterwirft. Es ist in ihr wohl etwas enthalten, was ihm Trost verleiht,
was ihn mit der Menschheit verbindet und — vor allem Achtung erheischt.
Dieses Element ist die Welt der deutschen Kraftentfaltung und Arbeit,
die die Geschichte Europas von Grund aus umgestaltete, die die Tore gewisser
Möglichkeiten in Europa für Jahrhunderte verrammelte und wieder andere Tore
weit vor ihm öffnete und für die Zukunft geöffnet hält.
Und doch ist die Welt der deutschen Kraftanstrengung nicht aus sich selbst
heraus zu begreifen. Beredt spricht sie zu uns erst im Vergleich mit dem Lager
der Koalition, das wir in dem Gefangenenlager uns angesehen haben. Aber
außer der Koalition, die die Waffen niedergelegt hat, gibt es eine Koalition,
die kämpft — und von dieser kämpfenden Koalition habe ich jetzt zu sprechen.
Der grundsätzliche Charakter der Koalition bestand seit dem ersten Schuß
darin, daß sie — den Krieg nicht wollte. Sie verlangt nur nach Siegen.
Selbstverständlich ist für jede Macht der Krieg das Mittel zur Erreichung eines
bestimmten Zieles; wer jedoch das Ziel will, muß auch die Mittel organisieren.
Indessen war für jeden der Partner der Koalition charakteristisch, daß er ohne
diese Mittel gerade auf das Ziel lossteuern wollte. Sowohl England wie
Rußland, um auf diese beiden Hauptmächte die Aufmerksamkeit zu konzentrieren,
sahen ihre Kriegsziele mit unvergleichlicher Plastik: wie viel Raum und Zeit
opferten sie nicht der Aufzählung der Eroberungen. Trophäen. Lorbeeren und
— befreiten Völker. Rußland eilte in den Krieg, man könnte sagen, im
Parademarsch, nein, nicht in den Krieg, sondern es eilte zur Galatafel nach
Berlin, indem es nach Ostpreußen ging, wie der Bengel vom Lande in den
fremden Garten an die Äpfel geht. Die Früchte des Krieges genießend noch
ehe sie gepflückt waren, ergötzte sich das russische politische Denken von Miljukow
bis Plechanow und von Trubezkoj bis Markow am Besitz Konstantinopels,
vierteilte die Habsburgische Monarchie, einigte Polen, bildete das Deutsche Reich
um, baute das Königreich Böhmen auf, mit einem Wort, es zog tausendfache
Wollust aus den geplanten Eroberungen, tat aber nichts, um die Mittel zu
organisieren, sie zu vollbringen, Ostgalizien erlag in der ersten Phase des
Krieges Rußland, aber es erlag nicht seiner Kraft, sondern nur seiner Schwere.
Die gleichen Triumphfanfaren auf Vorschuß wie Rußland schlug auch England
an: am Tage des Kriegsbeginns mobilisierte es alle seine — Siegeshoffnungen
und die vor allem sandte es auf den Kriegsschauplatz nach Frankreich; Ru߬
land sandte es außer guten Wünschen auch — Kapitalien und degradierte so
diese Macht von Anfang an zu einem Fleischerladen, in dem man für Pfunde
Sterling Menschenfleisch zu ermäßigtem Preise ersteht.
Denn, abgesehen von dem Verkauf des Felles des noch lebenden Bären,
besteht das zweite Charakteristikum der Koalition darin, daß man die schwierigsten
Kriegsaufgaben — und überhaupt Kriegsaufgaben den Bundesgenossen überläßt.
Jeder nimmt für seine Person am Kriege nur soweit Anteil, als ihm das
Messer an der Kehle sitzt. Darüber hinaus steht er beiseite und beklatscht die
Tapferkeit des Bundesgenossen, ihm die Ehre der Auseinandersetzung ungeteilt
überlassend. Diese Politik hat bewirkt, daß der Krieg in seinen Folgen das
Schwergewicht auf die Schultern der kleinen Staaten wälzte, die im Vertrauen
auf die Koalition alles, ihre ganze Bevölkerung, ihr ganzes Land und ihre
ganze Zukunft in die Schale des Krieges warfen. Sie und sie allein haben
in blutiger Mühsal die erschütternde Tragik in das Lager der Koalition ge¬
tragen, die im übrigen durch ihre Hauptregisseure über die unermeßlichen Ge¬
biete ihrer Niederlagen und Leichenhügel das groteske Bild einer Operette breitet,
etwa nach Art des orgiastischen Tollens der Pariser, das selbst der Danteschen
Hölle gegenüber sich behauptet.
Das dritte Charakteristikum der Koalition in ihrer Entwicklung ist der
Kult der Waffe der Untätigkeit als Offensivwaffe. Das erste Jahr des Krieges
ist vorüber, das zweite Jahr des Krieges neigt sich seinem Ende zu: England
hat bisher bei sich noch nicht den allgemeinen Heeresdienst organisiert. Es
wartet. Es bemüht sich nicht, dem Gegner die Waffe aus der Hand zu
schlagen, sondern es wartet, bis ihm die Waffe von selbst aus der Hand fällt.
Es erzieht keine Armee, aber es sucht für die Zentralmächte den — Hunger
zu züchten. So hat auch Rußland im verflossenen Jahre, als es diesen Mächten
nicht die nötige Kraft gegenüberstellen konnte, beschlossen, ihnen im Königreich
Polen eine Wüste gegenüberzustellen. Es ist das eine Arbeitsmethode, die
Überlegung, wirkliche Arbeit, Anspannung der Energie und Produktivität aus¬
schließt und dafür auf einer Reduzierung des Lebens, auf seiner Unfrucht-
barkeit beruht, also auf der Rückkehr zu den primitiven Zeiten, wo der Krieg
lediglich Vernichtung war. Daher denn die weitere konsequente Erscheinung
der Primitivität: die Geringschätzung der Zeit. Der primitive Mensch war
vor allem ein Zeitverschwender. Erst die Zivilisation hat uns gelehrt mit
jeder verdauen Stunde wie mit einer unwiederbringlichen, niewiederkehrenden
Sache zu rechnen. Die Zivilisation hat uns den Grundsatz eingeprägt, daß
Zeit Geld ist. Während des Krieges müßte man hinzufügen: Geld und Blut.
Wie haben nun Angesichts obigen Grundsatzes die Koalitionsmächte ihr Examen
in zivilisatorischer Reife bestanden? Allgemein wiederholt man, daß die
Koalition den Nachdruck auf die Wirksamkeit der Zeit legt, daß sie die Zeit
geschickt als ihr Werkzeug ausnütze. Aber wie nützt sie sie denn aus? Sie
bedient sich ihrer auf eine Weise, daß sie sie nutzlos und unwiederbringlich
verliert. Wir greifen nicht weiter und nehmen das erste beste Beispiel, die
jüngst in Warschau neuerstandene polnische Universität, und fragen, ob jeder
neue Monat ihrer Dauer und ihrer Entwicklung die Koalition begünstigt, oder
ihre Pläne kreuzt? Begünstigt sie die Rückkehr der Russen oder steht sie ihr im Wege?
Es ist das ein mikroskopisches Atom in dem Kriegsgetümmel, aber die innerhalb
dieses Atoms arbeitende Zeit arbeitet gerade gegen die, die auf sie rechnen.
Und gerade darin, in dem Rechnen mit der Zeit, besteht der grundlegende
Unterschied zwischen der Koalition und Deutschland. Die Koalition stellt sich
keine Termine, sie hat Zeit zu allem, um nichts zu unternehmen, sie mußte in
der Folge zu einer Entspannung der Energie kommen, die an Faulenzerei
grenzt. Ihr grundsätzliches Handeln von Herbst zu Frühling, von Frühling
zum neuen Herbst vertagend, saulenzt die Koalition auf dem Gebiete von
Initiative und Produktivität, weicht mit Ausflüchten den Aufgaben aus, die
ihr die Mittelmächte ein über das andere Mal stellen. Anders Deutschland.
Die ganze Wichtigkeit der Zeit empfindend und den Krieg in gewisse Termine
einigend, hat es von Anfang an den Erfolg des Krieges auf Anspannung der
Energie und auf Organisation der Mittel und Wege zum Siege aufgebaut.
Während die Koalition sich am Duft eingebildeter Lorbeeren berauschte, sog
Deutschland mit Wollust das Sturmesbrcmseu der entfesselten Kraft seines
Volkes ein. Es nahm keine fremden Hauptstädte in Besitz vor ihrer Er¬
oberung, aber es ließ alle Pulse seiner zu den höchsten Opfern bereiten Macht
schlagen. Es hörte nicht auf das Rauschen der Galafähnchen, sondern
auf das Rauschen und Brausen seines Blutes, das nach energischem Handeln
verlangte. Während die Koalition auf der Hoffnung ihrer Siege wie auf
einem Kopfkissen einschlief, um zur Unzen auf dem Schauplatz der Niederlage
Zu erwachen, belaste Deutschland, den Arm zur Tat erhoben, die Siegesernte
gleichsam unwillkürlich und so nebenher ein. So würde Deutschland auch dann
aus dem Kriege geeint und gestärkt hervorgehen, wenn er ihm nicht so ent-
scheidende Siege gebracht hätte; die Koalition aber dürfte, selbst wenn sie ge¬
winnen sollte, aus dem Kriege verarmt und demoralisiert hervorgehen. Der
Sieg hätte all die Entartung, die das Unglück der Koalition in diesem Kriege
ist und das Unglück Europas vor dem Kriege war, sanktioniert und ent¬
sündigt. Deutschland wäre selbst aus dem Mißgeschick mit einem Zuwachs an
innerer Kraft hervorgegangen, wie sich Österreich im Mißgeschick innerlich ge¬
kräftigt und gefestigt hat. Deutschland schreitet zum Siege durch eigene Kraft,
Aufopferung und Festigkeit; die Koalition wollte siegen durch Spekulation,
Terror und Verschwendung. Der Sieg der Zentralmächte hebt Europa auf
eine höhere Stufe der Arbeit und des Denkens; der Triumph der Koalition
wäre eine Degradation dieser beiden Faktoren, ihre Erniedrigung zugunsten von
Trägheit und Gewohnheit, diesen Falsifikaten der Macht.
Indem ich dieses Urteil ausspreche, muß ich feststellen, daß es älterer
Herkunft ist und seit einem Jahr unverändert bestand. Vor einem Jahr (Mai
1915) sprach ich es aus mit der ganzen, leider sehr beschränkten Freiheit, die
sich die polnische Presse in Warschau damals (unter russischer Herrschaft) er¬
lauben konnte. Heute (unter deutscher Herrschaft) hat es sich in mir dank der
Fülle neuer Eindrücke noch mehr befestigt, weil heute noch stärker und aus¬
drucksvoller die Wohltat zu mir spricht, deren wir zugleich mit der ganzen
europäischen Kultur teilhaftig geworden sind dank der Niederlage des russischen
Reiches. Der Niederlage, die mit Österreich Deutschland vollbracht hat und
die außer ihnen niemand sonst in Europa hätte vollbringen können. Nur sie
allein haben, indem sie vierzig Jahre lang die Waffe schmiedeten, sie mit
hartem Hammer schmiedeten, in sich die materielle Kraft geschaffen, um eine
solche Tat zu vollbringen, und die moralische Disziplin, um ein solches Unter¬
nehmen wagen zu können. Weder das an den Lorbeeren seines alten Ruhmes
zehrende Frankreich, noch das ferne, am Lande machtlose England hätten diese
furchtbare Arbeit, wie sie das Vertreiben der russischen Macht von der polnischen
Erde und das Austreiben der Überzeugung seiner Allmacht aus der polnischen
Seele vollbringen können. Vergessen wir nicht, daß noch Mickiewicz, dem es an
Mut nicht gebrach, beim Gedanken an den russischen Zaren verzweifelt auf¬
stöhnte: „Mächtiger! stark wie ein Gott und boshaft wie der Satan!" Ja,
im Kampfe mit Rußland waren wir immer verloren, weil wir nicht mehr an
den eigenen Sieg glauben konnten, weil Rußland für uns eine kosmische Macht
war, das fünfte Element der Erde, dessen unbezwingbare Macht dem Polen
die Grabesflügel ganzer in die Erde getretener Geschlechter kündeten, nur
Hügel und Schauplätze der Niederlage. In Rußland versanken wir wie im
Meere, Rußland war für uns furchtbar durch seine Ozeantiefe. Wer sich von
den ethnographischen Grenzen losriß, versank für das Polentum in feinen
Wogen; diese Wogen aber unterspülten unsern Grund immer weiter und un¬
widerstehlicher. Mit immer grausameren Opfern an Geist und Körper mußten
wir unsere elementare und natürliche Existenz in der Menschheit erkaufen.
Nach mehrmonatiger Abwesenheit ins Land zurückgekehrt und mich auf
der Physiognomie Warschaus umsehend, bemerke ich einen in der Seele ange¬
häuften Niederschlag von Bitterkeit und Erregtheit, der hervorgerufen ist durch
all das Schlimme, das der Krieg mit sich bringt, der nach rechts und links
empfindliche Schläge, manchmal blindlings, austeilt. Aber neben dem Chöre
der täglichen Beschwerden, der kleineren oder größeren Klagen, empfand ich mit
Genugtuung, um nicht zu sagen mit Freude, jenen nie schweigenden großen
Schmerz, der der Schmerz des ganzen Volles ist. ein heilsamer Schmerz, weil
er in sich schließt den Herd unerschöpflicher Wünsche, den Quell unerschöpflicher
Opferbereitschaft, den Schmerz der Sehnsucht und kriegerischer Glut. Dieser
Schmerz, umgeben von der Majestät eines ganzen Jahrhunderts der Auf¬
opferung auf dem Altar des Vaterlandes, der Schmerz, der durch den Mund
unseres größten Dichters gierig nach dem Blute Moskaus rief, der von
Mickiewicz und Mochnacki bis zu Wvspanski nach dem großen Krieg rief, mit
der Stimme des sich wieder erneuernden Volkes nach dem großen Krieg der
Völker rief, in dem Polen wieder auferstehen solle, dieser Schmerz herrscht
heute im Herzen des Polen und dämpft und verschlingt in sich alle andere
Unbill und Bitterkeit. Aus ihm gehen alle Wünsche hervor. Er beseitige alle
Zweifel. Denn um welchen anderen Krieg hätte Polen mit leidenschaftlichem,
unterirdischem Geflüster gebetet, wenn nicht um den Krieg Deutschlands und
Österreich. Ungarns gegen Rußland? Nur dieser Krieg, nur ein für beide
Staaten siegreicher Krieg konnte den russischen Soldaten aushalten in seinem
Vormarsch nach Krakau, der auch war eine Strafexpedition gegen das Herz
Polens, das in den Mauern des Wawel schlägt.
Einer der bedeutendsten deutschen Staatsmänner hat jüngst im deutschen
Reichstage anläßlich der Gegenüberstellung von Krieg und sozialer Revolution
gesagt: „Der Krieg ist auch eine Revolution". Der tiefe Inhalt dieses Satzes
wird vor allem klar bei Anwendung auf die polnische Frage. Der gegen¬
wärtige Krieg, der Rußland eine Niederlage brachte, wurde zur Revolution im
Bereich der die polnische Frage angehenden Verhältnisse, zur Revolution, ohne
die unsere Rückkehr zu politischer Existenz weder zu verwirklichen noch zu denken
gewesen wäre. Sie erst ließ alle empfinden, wie ein Block erdrückend auf dem
Grabe des polnischen Staates lag und wer an diesem Grabe die Friedhofs¬
wache hielt. Alle die Wege unseres Todes, die Wege unserer nationalen und
Politischen Vernichtung, die noch vor anderthalb Jahren wie ein Abgrund zu
unseren Füßen klafften, sind heute, wie gesagt, für immer abgeschnitten und sie
wurden abgeschnitten in dem Augenblick, als unter den Schlägen Deutschlands
und Österreichs der politische Bau des Europas des Wiener Kongresses zerstört
in Trümmer sank.
Denn der Wiener Kongreß, der für hundert Jahre die Weltkarte bestimmte,
war der Regulator, der den Frieden Europas auf das Grab Polens stützte —
nur über seinem Ruin, nur durch Zerschmetterung seines sür uns tödlichen
Gleichgewichts konnten wir wieder in Europa ans Licht kommen. Auf dieser
Weltkarte, die der Wiener Kongreß uns als Erbschaft hinterließ, war für uns
kein Platz und hätte sich niemals Platz gefunden. Diese für uns hundertfach
unglückliche Erbschaft überzog uns mit Schimmel, wie der Friedhofsrasen einen
vergessenen Hügel überwuchert. Deutschland, das mit seinem eisernen Pfluge
ganz Europa kreuz und quer durchpflügte, hat auch die Geschichte eines ganzen
Jahrhunderts gründlich umgepflügt und indem es sein Gewebe zerriß, sprengte
es auch die Netze, die uns erwürgen sollten. Das darf nicht vergessen werden
angesichts der Größe der Ereignisse, hinter denen alles zurücktreten muß, was
nicht Maß und Gewicht mindestens eines Jahrhunderts hat.
Obwohl unser Los zum Teil das Werk unserer eigenen Hände sein wird,
wird wohl unsere Generation die Wohltaten dieses Krieges selbst bei seinem für
uns günstigsten Ausgang in ganzer Fülle nicht mehr genießen. Zu viel Trauer
liegt über die Felder ausgebreitet, zu viel Leid ist in unsere Seelen eingedrungen,
zu viele Wunden werden zu heilen sein. Aber die Trauer über das jetzige
Geschick darf nicht die Aussichten eines besseren Loses verschließen, das wir
unseren Kindern und Enkeln erkämpfen könnten und zu erkämpfen verpflichtet
sind. Unser Geschick ist hart. Aber wer über die Schlagbäume Warschaus
und über die Grenzen des Landes hinaussah, weiß, daß sich fast ganz Europa
in einem Chaos von Blut, Tränen und Mühsal badet. Ich sah in Deutsch¬
land einen Greis, dessen vier Söhne im Kriege auf verschiedenen Fronten ge¬
fallen sind, und der fünfte — der letzte — ging aus der schon leeren Hütte
in den Krieg als Kriegsfreiwilliger. Ich sah den Alten täglich bei Tages¬
anbruch, wie er an den Zaun des Lagers gelehnt schweigend in den fernen
Abgrund des Ostens sah. Ein wie schreckliches Echo muß ihm von den öden
Wänden des väterlichen Hauses entgegengeklungen sein, wie muß ihm die
steigende Öde entgegengeklafft haben, wenn die schwarze kalte Nacht für ihn
eine Trösterin war! Und doch habe ich aus seinem Munde keine Klage, keinen
Vorwurf gehört. Sein Unglück blieb ein Geheimnis zwischen ihm und dem
Schweigen der Nacht. Wer die Furchtbarkeit des Krieges verstehen will, möge
das Leiden eines einzigen zerschmetterten Opfers durchdenken. Aber die Opfer
des Krieges erreichen Ziffern, bei denen das Blut erstarrt. Unlängst eröffnete
man in Berlin ein Heim für elftausend Schwerverletzte. Welch eine gestählte
Seele muß die Nation haben, die den Anblick solcher Leiden erträgt, und die
nach den Worten seines Dichters Gerhart Hauptmann dieses unermeßliche Opfer
segnet, wenn es für das Vaterland erforderlich ist.
Wir, die wir in diesem Kriege als Nation am wenigsten zu verlieren
hatten und dafür alles zu gewinnen haben, müssen bei den Beschwerden der
Alltäglichkeit noch fester und andauernder als andere Völker die Zähne zusammen¬
beißen. Mit der Achtung für die fremden Opfer bestätigen wir die eigene
Opferbereitschaft, die uns schnell vorübergehende Unannehmlichkeiten zu vergessen
gebietet angesichts der Beseitigung der einzigen Unbill, die für uns das größte
Unrecht war. Die Begegnung der von den polnischen Legionen aufgenommenen
Polnischen Aspirationen mit den Armeen des Zweibundes ist keine Zu¬
fallsbegegnung. Dieser Treffpunkt wird zu einem Zentralpunkt der Geschichte.
Die Deutschen haben zuviel eigenes Blut vergossen, als daß sie es in diesem
und in einem künftigen Kriege nicht über alles sollten schätzen und schonen
wollen. Das polnische Volk hat ein Recht, darauf seine Überzeugung von
dem Wert dieses Bündnisses zu stützen, in dem es neben ihm stehen will
mit der Waffe in der Hand gegenüber dem gemeinsamen Feind —
im Namen der gemeinsamen Grundlagen und Quellen der abendländischen
Kultur und des gemeinsamen Interesses der politischen Zukunft. Für die
Deutschen fängt der Krieg mit Rußland in der jetzigen Phase schon an ein
Kolonialkrieg zu werden, so weit hat er sich von ihren Operationsgrundlagen
entfernt. Aber für eine polnische Armee, die um das Territorium für einen
unabhängigen Staat kämpfte, wäre er ein Kampf um die Existenz, ein Kampf
auf Leben und Tod. Er hätte seine Operationsbasis in jeder polnischen
Scholle, in jedem Tropfen polnischen Blutes.
Heute stellen sich der Verwirklichung dieses Gedankens noch viele Hinder¬
nisse entgegen; aber mit Trost erfüllt jeden Polen der Glaube, daß diese
Hindernisse nicht aus der Tiefe der beiden schöpferischen Nationen kommen,
sondern aus an der Oberfläche haftenden Berechnungen und Befürchtungen.
In der Welt des deutschen politischen Denkens gewinnt die Idee eines unab¬
hängigen polnischen Staates, als eines Baues, an dem sich die Wogen russischer
Gier zerteilen sollen, immer mehr Recht auf Anerkennung. In Polen haben
eine Probe davon, bis zu welchen Höhen der Pole unter der Fahne seiner
Unabhängigkeit im Kriege gegen Moskau emporsteigt, die Legionen gegeben.
Alles das, was in beiden Völkern Sieg atmet, was kämpft und aufbaut, muß
sich früher oder später unter dem Zeichen der Konstitution des 3. Mai treffen:
unter dem Zeichen des unabhängigen polnischen Staates und des Krieges
gegen den Osten, in bewaffneter Anlehnung an den Westen. Diese geschicht¬
liche Wahrheit, im Laufe von anderthalbhundert Jahren unterdrückt, zerreißt
jetzt endlich die Dämme der Illusionen, der Falschheit und der Kleinheit: sie
ruft von den blutigen Kriegsschauplätzen des Ostens und des Westens, ruft
von den Leichenfeldern, ruft aus Entsetzen und Erregung, nach Größe des
Denkens und nach der Majestät der Tat.
le derzeitige dreizehnte Legislaturperiode des Deutschen Reichstages
läuft vom 12. Januar 1912 auf fünf Jahre, also bis Januar
1917. Es hätten demnach in den letzten Monaten des Jahres 1916
die Neuwahlen stattzufinden.
Das ist zwar, falls der Krieg zu dieser Zeit noch fortdauern
sollte, nicht unmöglich, aber doch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Ein großer Teil der männlichen Bevölkerung ist zu den Fahnen einberufen, so
daß für sie nach gesetzlicher Bestimmung die Wahlberechtigung ruht. Hat man
die allgemeine Wehrpflicht als die innere Rechtfertigung des allgemeinen Wahl¬
rechts bezeichnet, so wird diese innere Rechtfertigung in ihr Gegenteil verkehrt,
wenn gerade die an der militärischen Verteidigung des Vaterlandes nicht
beteiligte männliche Bevölkerung zum Wählen berufen würde. Ein wirkliches
Bild der Volksstimmung würden diese Kriegswahlen schwerlich ergeben. Alle
Wahlen erfordern ferner einen Parteikampf. Dieser steht aber während des
Krieges unter dem Zeichen des Burgfriedens. Hat man diesen bisher bei
Nachwahlen dadurch zu wahren verstanden, daß man der bisher im Besitze des
Wahlkreises befindlichen Partei diesen weiter kampflos überließ, so würde dies
bei allgemeinen Wahlen schwerlich durchführbar sein. Anhänger der Gruppen
Haase oder Liebknecht z. B. kann keine andere Partei ohne Wahlkampf wieder
in den Reichstag lassen. Und endlich kostet jeder Wahlkampf Geld, das man
während des Krieges besser anderweit verwerten kann. Die Schwierigkeiten der
Kriegszensur mögen dabei mit Schweigen bedeckt bleiben.
Aber wenn sich zur Behebung dieser Schwierigkeiten alle Parteien allen¬
falls auf das bisher bei den Nachwahlen beobachtete Verfahren einigen wollten,
so hätten Neuwahlen als unnötige Belästigung der Wählerschaft erst recht keinen
Zweck. Denn es bliebe eben alles beim alten. Die Neuwahlen bedeuteten
dann nur die Erfüllung einer lästigen Formvorschrift.
Dies alles legt den Gedanken einer Verlängerung der Legislaturperiode
bis zum Friedensschlüsse oder besser bis zu dem Zeitpunkte nahe, wo das Heer
wieder auf den Friedensfuß gesetzt ist.
Nach Art. 24 der Reichsverfassung dauert die Legislaturperiode des Reichs¬
tages fünf Jahre. Ursprünglich war die Legislaturperiode eine dreijährige nach
dem Vorbilde des preußischen Abgeordnetenhauses. Durch das Reichsgesetz vom
19. März 1888 hat man jedoch wie gleichzeitig in Preußen die Legislatur¬
periode in eine fünfjährige verlängert, um die allzu häufige Erregung und
Belästigung der Bevölkerung durch Wahlen auf ein geringeres Maß zurück¬
zuführen, zumal für Deutschland sowohl Reichstags- wie Landtagswahlen in
Betracht kommen.
Was der Gesetzgeber nun allgemein bestimmen konnte, das kann er auch
für den einzelnen Fall bestimmen, d. h. unbeschadet der weiteren Geltung der
fünfjährigen Legislaturperiode für die Zukunft, die vorliegende Legislaturperiode
bis zur Beendigung des Krieges verlängern. Darin liegt allerdings eine
Abänderung des Art. 24 der Reichsverfassung, wenn auch nur für diesen einen
Fall. Es bedarf daher auch der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen
Formen. Diese sind aber außerordentlich einfach. Nach Art. 78 der Reichs-
verfassung erfolgen Veränderungen der Verfassung im Wege der Gesetzgebung,
sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrate vierzehn Stimmen gegen sich
haben. Im Reichstage genügen also dieselben verfassungs- und geschäfts¬
ordnungsmäßigen Formen wie bei jeder anderen Gesetzesvorlage, es bedarf nur
der einfachen Mehrheit eines beschlußfähigen Reichstages. Nur im Bundesrate
ist eine verstärkte Mehrheit erforderlich, die sich voraussichtlich auch ohne weiteres
finden wird.
Da der Art. 24 der Reichsverfassung für die Zukunft unberührt bleibt,
bedarf es auch keiner Veränderung des Textes der Reichsverfassung, obgleich
die Verlängerung der Legislaturperiode den Charakter eines Verfassungs¬
gesetzes hat.
Ein solches Verfassungsgesetz für den einzelnen Fall bedeutet gerade für
die Regelung der Wirksamkeit des Reichstages keine unerhörte Neuerung, son¬
dern hat schon mehrfach Vorläufer gehabt.
Beim Beginne des deutsch-französischen Krieges nahm der Reichstag des
Norddeutschen Bundes in seiner kurzen dreitägigen Sitzungsperiode vom 1t). bis
21. Juli 1870 außer der Vorlage über die Kriegskredite das demnächst unter
dem 21. Juli 1870 verkündete Bundesgesetz an. wonach die Legislaturperiode
des Reichstages für die Dauer des Krieges mit Frankreich, jedoch nicht über
den 31. Dezember 1870 hinaus verlängert werden sollte. Ein sozialdemo¬
kratischer Redner sprach dabei der Regierung seine Anerkennung aus, daß sie
auch im Kriege eine Volksvertretung zur Seite behalten und die Wahlen nicht
unter den Wirren des Krieges vornehmen lassen wolle, und beantragte gerade
deshalb Beseitigung der Zeitgrenze vom 31. Dezember 1870. Dagegen war
die Fortschrittspartei „aus Prinzip" gegen die Vorlage, da der Mandatar nicht
eigenmächtig seinen Austrag verlängern dürfe. Daß das Verhältnis des Ab¬
geordneten zu seinen Wählern nicht unter den zivilistischen Mandatsbegriff
gepreßt werden kann, bedarf keiner weiteren Ausführung. Es sei nur an
Art. 29 der Reichsverfassung erinnert: „Die Mitglieder des Reichstages sind
Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden". Der prinzipiengemäße Widerspruch blieb denn auch erfolglos.
Das letzte große Werk dieses verlängerten Reichstages war die Annahme
der Versailler Verträge über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund.
Damit waren Neuwahlen im ganzen nunmehrigen Reiche von selbst geboten.
Sie erfolgten nach Beendigung des Krieges am 3. März 1871.
Dagegen hatte die Regierung bei dem günstigen Verlaufe des Krieges
keine Bedenken getragen, die Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause
noch während der Kriegsdauer zur gewöhnlichen Zeit, Mitte November 1870,
vornehmen zu lassen.
Auch sonst hat man durch Verfassungsgesetze für den einzelnen Fall in den
gewöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen.
Eine verfassungsmäßige Vertagung oder Schließung des Reichstages unter¬
bricht wie die Wirksamkeit des Reichstages überhaupt, so auch die seiner Aus¬
schüsse (Kommisstonen). Nun schien es aber mehrfach wünschenswert, davon
abzusehen und für größere Gesetzgebungszwecke den betreffenden Ausschuß weiter
tagen zu lassen, während der Reichstag vertagt oder geschlossen wurde.
Mindestens im Falle der Schließung erschien dies verfassungswidrig, während
es im Falle der Vertagung bestritten ist.
Durch Ausnahmegesetz vom 23. Dezember 1874 wurde daher bestimmt,
daß die vom Reichstage zur Vorberatung der Entwürfe eines Gerichtsverfassungs¬
gesetzes, einer Strafprozeßordnung und einer Zivilprozeßordnung eingesetzte
Kommission ihre Verhandlungen nach dem Schlüsse der Reichstagssession bis
zum Beginn der nächsten ordentlichen Session fortsetzen dürfe, und daß die
weitere Beratung vom Reichstage auch nach seiner Schließung in einer folgenden
Sitzungsperiode der Legislaturperiode erfolgen könne.
Ein weiteres Gesetz vom 20. Juni 1902 betreffend die geschäftliche Be¬
handlung des Entwurfes eines Zolltarifgesetzes gewährte den Mitgliedern der
betreffenden Kommisston für die Teilnahme an den Sitzungen während der
Unterbrechung der Plenarverhandlungen des Reichstages je 2000 Mark be¬
sondere Tagegelder. Ebenso erhielten Iraft Sondergesetzes vom 2. Juni 1910
die Mitglieder der Kommisston für die Gesetzentwürfe betreffend Änderungen
des Gerichtsverfafsungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wie der Reichs¬
versicherungsordnung für die Dauer der Unterbrechung der Plenarverhandlungen
des Reichstages je 30 Mark Anwesenheitsgelder täglich. In beiden Fällen er¬
schien es nicht erforderlich, die Kommissionen ausdrücklich zur Fortarbeit zu
ermächtigen, da der Reichstag nicht geschlossen, sondern nur vertagt war.
An Vorgängen der verschiedensten Art, daß man durch Ausnahmegesetze,
die sämtlich eine Verfassungsänderung für den einzelnen Fall bedeuten, in den ge¬
wöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen hätte, fehlt es also nicht.
Da weder die Bevölkerung im allgemeinen noch die Parteien ein Interesse
daran haben, während des Krieges in eine Wahlbewegung einzutreten, dürfte
eine Verlängerung der Legislaturperiode auch keinerlei Schwierigkeiten begegnen.
Selbst die Nachkommen der einstigen Fortschrittspartei, die Freisinnigen, haben
realpolitisch denken gelernt und reiten nicht mehr auf Prinzipien herum. Die
einzige Partei, die einen Wahlkamps wünschen könnte, wäre die sozial¬
demokratische Arbeitsgemeinschaft. Denn noch haben die Unentwegten in
einigen Wahlkreisen die Mehrheit. Daß es ihnen aber schlecht geht, wenn
erst die Wähler aus den Schützengräben zurückkehren, wissen die Hao.se-Leute
ganz genau. Also deshalb lieber jetzt eine Wahl als später. Über diesen
Widerspruch kann man ruhig zur Tagesordnung übergehen. Übrigens soll
auch in Bayern die Legislaturperiode des Landtages demnächst bis Ende
1917 verlängert werden.
MMer Ruf nach einer nationalen Erziehung ist unter dem Eindruck
des Krieges laut und aus verschiedenen Lagern heraus erhoben
worden. In ihm spricht sich daS Bedürfnis des deutschen
Volkes aus. die innere Ruhe und Zuversicht, der es in den
gegenwärtigen äußeren und inneren Nöten bedarf und die es
auch in der Zukunft nicht wird entbehren können, aus seinem eigenen Wesen
und aus seiner Geschichte zu gewinnen. Unsere Feinde wollen es nicht er¬
lauben, daß wir uns gemeinsam mit ihnen an dem Gedanken der Menschheit
orientieren. Wir können solch Bemühen ruhig hinnehmen, da deutsche Mensch¬
heit so reich ist, daß es uns an höchsten Zielen und Richtlinien wahrlich nicht
mangeln wird, wenn wir auch einige Ideale abzulegen gelernt haben.
Mit dieser Forderung nach einer nationalen Erziehung erwachsen nun für
die Schule neue Aufgaben. Der Satz, daß der deutsche Unterricht Mittelpunkt
der gesamten Schulbildung sein müsse, muß mehr als bisher in die
Tat umgesetzt werden. Solche Ziele kann aber die Schule nicht allein
erreichen, sie muß bei ihrem Bemühen in einem lebendigen Zusammen¬
hang mit den Universitäten bleiben, die ja doch schließlich als höchste Er-
ziehungsstätten deutschen Geistes auch dem Schulwesen ihren Charakter
aufprägen müssen. Zwar gibt es wohl manchen Universitätslehrer, der das
Ideal einer reinen, von aller Anwendung freien Wissenschaft auf der Hoch-
schule einzig und allein vertreten wissen möchte und die Beziehung zur Schule
als eine, man möchte sagen, kompromittierende auffaßt, aber ein solcher
Glaube verschließt sich allzu gewaltsam vor der Tatsache, daß die überwiegende
Mehrzahl der Hörer an den philosophischen Fakultäten sich aus künftigen
Lehrern zusammensetzt. Diese Rücksicht vernachlässigen heißt nichts anderes
als auf einen Einfluß verzichten, durch den am wirkungsvollsten die Ani--
versitäten sich Geltung im geistigen Leben unseres Volkes verschaffen können.
Daß sie in dieser Hinsicht vielfach Versäumnisse begangen haben, ist wohl
kaum zu leugnen. Sie erziehen allzusehr zu Gelehrten und zwingen die
Studierenden dazu, sich Jahre lang einzig und allein mit Aufgaben zu be¬
schäftigen, die in ihrem späteren Wirken kaum wieder sich geltend machen. Die
Wahrheit des Goethewortes: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last"
wird sicherlich allzu oft von diesen empfunden. Daß der Student auf der
Universität in das Wesen wissenschaftlicher Arbeit eingeführt werde und daß
er selbständig wissenschaftlich denken lerne, ist eine Forderung, die keiner Er¬
örterung unterliegt. Man darf aber wohl fragen, ob dies Ziel durch eine so
große Extensität des Arbeitens erreicht werden muß. Es scheint oft so, als ob
die Gelehrten an den Universitäten die für sie selbst notwendigen Voraus¬
setzungen ihrer eigenen Forschungsarbeit auch von jedem ihrer Hörer erfüllt
sehen möchten, obgleich diese doch nicht ein Leben, sondern nur ewige Jahre
einer rein wissenschaftlichen Arbeit widmen können. So ist ein Mißverhältnis
entstanden zwischen der ihrem Wesen nach immer ins Unendliche gehenden
wissenschaftlichen Bemühung und den auf praktische, aber darum doch nicht
minder bedeutungsvolle Ziele gerichteten Ausgaben der künftigen Lehrer.
Der Ruf nach einer besseren pädagogischen Vorbildung der letzteren, wie er
heute so vielfach zu vernehmen ist, entspringt schließlich aus dieser Quelle.
Diese Bewegung sollten die Universtäten nicht unbeachtet lassen.
Hierüber wäre noch manches zu sagen, doch heute möchte ich das all¬
gemeine Interesse auf eine besondere Frage richten, die vornehmlich mit der
Forderung einer nationalen Bildung sich beschäftigt. Was leisten unsere
Universitäten für die Ausbildung des Lehrers für den Unterricht im Deutschen
an den Schulen? Ich glaube diese Frage mit einem: „Nicht genug" be¬
antworten zu müssen.
Die deutsche Philologie ist eine Schülerin der klassischen Philologie. Ihre
Arbeitsweise und Methoden hat sie übernommen und sie findet in der historischen
Grammatik der deutschen Sprache und der Überlieferung unserer ältesten
und älteren Literatur Aufgaben vor, die den von ihrer Lehrerin zu lösenden
gleichartig oder mindestens verwandt sind. So hat sie einen Begriff von
Wissenschaftlichkeit übernommen und auf ihrem Gebiete weiter ausgebildet, der
innerhalb der bezeichneten Grenzen sich fruchtbar erwiesen hat, in seiner Über¬
tragung auf die neuere deutsche Literatur aber wohl kaum zu ähnlichen Re¬
sultaten führen konnte. Schließlich nutz jede wissenschaftliche Methode im
Zusammenhang mit der Eigenart des von ihr zu behandelnden Stoffes gefunden
werden. Eine einfache Übertragung von dem einen Gebiet auf das andere hat
sich selten als fruchtbar erwiesen, wie dies besonders deutlich die unglücklichen
Bemühungen, das geschichtliche Leben nach naturwissenschaftlicher Methode zu
bearbeiten, gezeigt haben. Der Versuch, die Literatur unserer ältesten Ver¬
gangenheit aus den spärlich vorhandenen Resten aufzubauen, verlangt es. auch
das kleinste Bruchstück mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit zu bewahren und zu
bewerten. Ganz anders ist uns die neuere Literatur übermittelt. Em Uber-
reichtum an Stoff drängt sich hier dem Forscher auf und die Andacht zum
Kleinen kann hier zur Überschätzung des Kleinlichen führen. Die höchsten
Tugenden der mit unendlicher Mühe, Scharfsinn und nachschaffender Phantasie
ein Bild der Vergangenheit aus anscheinend zusammenhangslosen Trümmern
aufbauenden Philologen können hier gar nicht zu voller Entfaltung kommen.
Weiteste Kreise vereinigen ihre Vorwürfe gegen diese Richtung in dem Worte
von der Goethephilologie. Sie empfanden allzusehr das Mißverhältnis zwischen
der Lebenswirklichkeit unseres größten Dichters, die sich ihnen unmittelbar zu
erkennen gab. und der peinlichen Aufzeichnung alltäglichster Vorgänge seines
Daseins und den bogenreichen Verzeichnissen oft wertloser Varianten aus seinen
Schriften. Kein geringerer als Mommsen hat vor diesen Abwegen gewarnt
und Erich Schmidt, als er ihn bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie
begrüßte, gemahnt, „der Kleinmeisterei des Text- und Apparatemachens und
des Abdrückens seelenloser Epistolarien gebührende Schranken zu setzen".
Es ist nun ganz zweifellos, daß die neueste deutsche Literaturgeschichte
über diese Mängel hinauszuwachsen beginnt oder hinausgewachsen ist. Sie
mußte es. es konnte nicht anders sein. Wie in der Geschichte sich nichts
eigentlich wiederholt, so sind bei dem Werden unserer neueren deutschen Dich¬
tung andere Kräfte am Werke gewesen als in den frühesten Zeiten. Die
Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ist im Zusammenhang
einer eigentümlichen Geisteskultur entstanden und aus ihr zu begreifen. Aus
der Abhängigkeit von der Literatur und Ästhetik der anderen modernen Kultur¬
völker sich befreiend, gewinnt sie im Zusammenhang mit einer ihr eigentüm¬
lichen Bewertung und Belebung der antiken Kultur eine nationale Eigenart,
aus der sie doch dann wieder zur Höhe allgemein menschlicher Geltung strebt.
So ist ihr Verständnis nur zu erringen durch Betrachtung der gleichzeitigen Philo¬
sophie, zu der sie in das Verhältnis von Abhängigkeit und Beeinflussung tritt.
Und wie der einzelne Dichter um die eigene künstlerische Vollendung ringt, so
vollzieht sich seit den Tagen Gottscheds bis zu denen der Romantik und der
Gegenwart ein Zusammenarbeiten von künstlerischem Schaffen und ästhetischer
Theorie, wie vielleicht kaum in einer anderen Literatur. Wer wollte z. B. das
Werden Schillers begreifen ohne die Entwicklung seines Geistes von den Tagen
einer begeisterungstrunkenen Jugendphilosophie zu Kant und über ihn hinaus
zu der von ihm erreichten Synthese zwischen Kunst und Leben? Und welchen
Reichtum kann die neuere deutsche Literaturgeschichte nicht dem deutschen Volke
erhalten und beleben aus der Betrachtung der Persönlichkeiten unserer großen
Dichter? Sind es doch diese Zeiten und Männer, welche berufen sind, in der
Zukunft unsere Kinder mit der Wärme eines deutschen Idealismus zu erfüllen
und diese an dem Bilde höchsten Strebens wach zu halten. Und da uns ein
oft bis in die Einzelheiten reichender Einblick in das Schaffen dieser Männer
vergönnt ist, so darf sich die neuere deutsche Literaturgeschichte an das Begreifen
des dichterischen Genies wagen, wozu ihr die neuere Psychologie wertvolle Hilfen
leisten kann. Also — überall neue und eigentümliche Aufgaben, deren Lösung
ein tieferes Verstehen menschlichen Wesens verspricht!
Man sollte nun meinen, daß eine Wissenschaft mit diesen Problemen und
dieser Bedeutung für unser nationales Leben an den deutschen Universitäten
die ihr gebührende Anerkennung gefunden hat. Dies ist leider nicht der Fall.
Nicht ohne Zustimmung hat G. Roethe in seiner Gedächtnisrede auf E. Schmidt
der Tatsache gedacht, daß die Berliner Akademie sich diesem nur zögernd
geöffnet hat. „Sie fürchtete die Lockungen und Gefahren, die sein Forschungs¬
gebiet ernster (!) Arbeit unzweifelhaft (?) bereitet, und hat ihn erst durch acht
Berliner Jahre geprüft, ehe sie ihn wählte." Und leider haben wir es erleben
müssen, daß der durch seinen Inhaber zur größten Bedeutung gebrachte Lehr¬
stuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Universität bisher
unbesetzt geblieben ist. Ja es gibt noch heute Vertreter der älteren Richtung,
welche glauben beides, die ältere und die neuere Zeit, gleichmäßig umfassen
und gleichwertig vertreten zu können. Es müssen das wohl Männer sein,
„die anerkannt den größten Geistesreichtum besitzen und mannigfacher Künste
mächtig sind".
Dem Laien und nicht nur diesem wird solche Wertung unverständlich sein
und die kurze Betrachtung über die Aufgaben der neueren deutschen Literatur¬
geschichte hat wohl gezeigt, daß sie einseitig ist. Daß der Vertreter dieser
Wissenschaft ein gründlich geschulter Philologe sein müsse, ist eine Selbstver¬
ständlichkeit, aber sein gutes Recht ist es, daß er sich in seiner Arbeit und
Lehrtätigkeit seinen auf die neuere Zeit gerichteten Interessen zuwende. Beruft
man ja doch auch zu Vertretern der klassischen Philologie Gelehrte, deren
wissenschaftliche Betätigung vornehmlich auf eine der beiden alten Sprachen
gerichtet ist. Allzumenschliche Beweggründe mögen gelegentlich bei Beru¬
fungsfragen mitgespielt haben, die Regierungen haben aus Sparsamkeits¬
rücksichten, die die Geisteswissenschaften besonders zu treffen pflegen, diese Ver¬
nachlässigung nicht gerade bekämpft und fo ist es gekommen, daß wir an den
deutsche» Universitäten nicht durchgehends ein besonderes Ordinariat für neuere
deutsche Literaturgeschichte haben. Ein Ordinariat ist aber für jede Wissenschaft
an den Universitäten nun einmal eine unumgängliche Bedingung ihrer vollen,
freien und durch keine Bevormundung beschränkten Wirksamkeit.
Ein Blick auf die Besetzung der deutschen Philologie an den Universitäten
mag diese Ausführungen verdeutlichen. Von den elf außerpreußischen deutschen
Universitäten haben nur fünf ein besonderes Ordinariat für neuere deutsche
Literaturgeschichte. Extraordinariate sind meist vorhanden; von den elf preu¬
ßischen fehlt es noch an vier und der Zustand in Berlin kann acht als
befriedigend angesehen werden; Extraordinariate gibt es auch hrer. Vergleicht
man damit die Verhältnisse an den vier österreichischen Universitäten (Wren.
Innsbruck. Graz. Prag), so zeigt sich überall eine doppelte Besetzung und ebenso
an den drei schweizerischen Universitäten deutschen Charakters (Basel. Bern.
Zürich).
Ein solcher Zustand kann unmöglich als erfreulich bezeichnet werden und
es ist mit aller Entschiedenheit zu fordern, das hier Wandel geschieht. Bedenkt
man. daß die klassische Philologie an den Universitäten durch zwei ins drü
Vertreter gelehrt und daß ihnen zur Seite ein Archäologe. ein Vertreter der
alten Geschichte und gelegentlich ein Sprachvergleich er — und alle als Ordi-
narien — stehen und daß die indische Philologie zum Teil durch ein Ordi¬
nariat und ein Extraordinariat vertreten ist, so leuchtet das Unmögliche eines
solchen Zustandes ohne weiteres ein. Nur möchte ich nicht so verstanden werden,
als wollte ich die eben genannten Wissenschaften in ihrem Werte herabsetzen
oder einer Verminderung ihrer Lehrstühle das Wort reden. Nichts liegt mir
ferner. Ich wollte nur beweisen, daß unsere neuere deutsche Literatur an den
deutschen Universitäten nicht die Vertretung findet, die ihr gebührt. Der Zu¬
stand ist unhaltbar. Wer als Examinator in der Philosophie Gelegenheit hat
das Grenzgebiet der Ästhetik der klassischen Periode zu streifen, ist erstaunt
über die geradezu erschreckende Unwissenheit der Examinanden auf den Gebieten,
die sie auf der Schule vornehmlich zu bearbeiten haben. Aber die Schuld
liegt nicht an ihnen. Welchen Schaden der deutsche Unterricht damit leiden
muß, ist offenbar.
Und so geht an die deutschen Regierungen die Forderung, daß sie für die
Pflege eines unserer wertvollsten Güter mehr als bisher Sorge tragen mögen.
Kein Landtag wird die notwendigen Mittel, die eigentlich lächerlich gering sind,
versagen wollen. Möge der Strom deutscher Begeisterung, der uns jetzt erfüllt,
die letzten Bastionen wissenschaftlicher Vorurteile wegspülen. Es gibt keine
wichtigere Frage für die Geisteswissenschaften als diese. Daß dem so ist, mag
ein Wort Mommsens bekräftigen, der an Erich Schmidt seiner Zeit die
Mahnung richtete: „Des Volkes Schätze sind in Eure Hand gegeben,
bewahret sie!"
chon wiederholt haben Zeitungen und Zeitschriften über die
Einwirkung des Krieges auf die Sprache berichtet. Geschichts¬
wissenschaft und Sprachforschung werden sich später mit diesen
Einwirkungen zu beschäftigen haben. Eine zukünftige Darstellung
des Weltkrieges wird nicht achtlos an dem Kampfe gegen die
Fremdwörter vorübergehen können, der so mächtig und verheißungsvoll einsetzte,
um bald wieder aus Unverstand und Gleichgültigkeit nicht allein der breiten
Massen, sondern auch vieler Berufenen abzuflauen. Auch auf die neu entstandene
Soldatensprache wird sie hinweisen müssen als ein Zeugnis kostbaren, oft
grimmen Humors und sprachschöpferischer Kraft unserer Feldgrauen. Der
Sprachwissenschaft wird eine eingehende Würdigung dieser neuesten Soldaten¬
sprache vorbehalten bleiben, wie sie auch zeigen muß, wie rasch die Sprache
sich den Bedürfnissen der Gegenwart anpaßte. Für ganz neuartige und
ungewohnte Erscheinungen und Verhältnisse, die der Krieg mit sich brachte,
mußten neue Ausdrucksmöglichkeiten geschaffen werden. So entstand der
Ehrenname der „Feldgrauen" und das Wort „Burgfriede" zeigt die Möglichkeit,
halb verschollene Worte aus ihrer Vergessenheit zu neuem kräftigen Leben zu
erwecken. Auf eine Seite der Beziehungen zwischen Krieg und Sprache ist
jedoch meines Wissens noch nicht hingewiesen worden, und die nachfolgenden
Zeilen wollen dies nachholen.
Für jeden, der ein offenes Auge für sprachliche Erscheinungen hat, gewährt
eben die Lektüre unserer Zeitungen und Zeitschriften einen eigenartigen Reiz.
Mag es sich um Reden von Staatsmännern und Volksvertretern oder um
wissenschaftliche Erörterungen der Gelehrten über wirtschaftliche und politische
Fragen handeln, überall sehen wir, wie Gedanke und Wort unter dem Banne
der kriegerischen Ereignisse stehen. In der Reichstagsverhandlung vom 6. April
dieses Jahres meinte der Abgeordnete I)r. David, die Ausführungen Ledebours
wären eine rücksichtslose „Torpedierung" jeder gesunden Logik. Der Redner
löste, wie im Sitzungsbericht steht, große Heiterkeit für seine doch gewiß völlig
ernstgemeinte Bemerkung aus, ein Beweis wie ungewöhnlich die Übertragungen
solcher militärischen Wendungen im Anfang ihres Gebrauches wirken. Wenige
Wochen zuvor verwendete der Abgeordnete Liebknecht in ganz eigenartiger
Weise den durch den Krieg neu geschaffenen Grad eines Feldwebelleutnants.
Es war bei der Besprechung der Anträge der Kommission zur Erleichterung des
Aufstieges unbemittelter Volksschüler; Liebknecht nannte diese Anträge breite
Bettelsuppen und meinte, man gebe Almosen statt des Rechts, man wolle
„Feldwebelleutnants des Kapitals". Renegaten ihrer Klasse groMchten.
Zwei Wörter scheinen sich schon heute besonderer Beliebtheit :in bckdkchen
Gebrauch zu erfreuen: Trommelfeuer und Schützengraben. Das von unseren
Feldgrauen geprägte Wort „Trommelfeuer" ist ja in seiner elgentkchen
Bedeutung bekanntlich schon längst in die amtliche Sprache unserer obersten
Heeresleitung aufgenommen. Wie außerordentlich glücklich dieser Ausdruck auch
bildlich verwendet werden kann, mögen folgende Beispiele zeigen. In einer
Auslassung des österreichischen Kriegspressequartiers war vor längerer Zeit von
dem „Trommelfeuer der Verleumdungen" italienischer Zeitungen gegen tue
österreichischen Offiziere zu lesen; irgendwo anders war bei der Erörterung des
U-Bootkrieges davon die Rede, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika
ein „Trommelfeuer von Noten" nach Berlin zu richten für zweckmäßig und
erfolgversprechend haltenI Das „Trommelfeuer der behördlichen Verordnungen"
in unserer Ernährungsfrage ist uns allen hinreichend bekannt! Könnte treffender
das unaufhörliche Niederprasseln der Verleumdungen. Noten und Verordnungen
auf ihre armen Opfer geschildert werden? Ebenso glücklich ist der bildliche
Gebrauch des Wortes Schützengraben. Es müßte schwächlich und farblos
klingen, wollten wir von der Bauersfrau berichten, wie sie mutig mit ihren
Kindern und wenigen weiblichen Arbeitskräften die Scholle bestellt, oder wie
die Arbeiterfrau unter schwierigsten Verhältnissen sich und ihre Kinder durchdringt;
wenn aber Staatssekretär Delbrück in einer Reichstagssitzung von diesen Frauen
spricht, die auf solche Weise im Dienste des Vaterlandes tätig sind und so die
„Schützengräben des wirtschaftlichen Kampfes" füllen, so hat er damit einen der
waffenstarrenden Zeit angepaßten Ausdruck für den stillen Heldenmut all dieser
Frauen geprägt. Und eine vielleicht noch glücklichere Verwendung findet unser Wort
in einem Aufsatz der „Grenzboten" (Ur. 2.1916). in dem Professor Dr. I.Wendland
über die Stellung der Schweiz zum Weltkriege spricht und sich dabei gegen die
Absicht einzelner Staaten und Kulturkreise wendet, nach dem Kriege sich
gegeneinander abzuschließen, an ihren Grenzen bleibende Schützengräben auf¬
zuwerfen und auch geistig lieber Schützengräben aufzuwerfen als Brücken zu
bauen. In reizvoller Vereinigung finden wir hier nebeneinander das alte Bild
der einigenden Brücken und das neue der trennenden Schützengräben.
Von welch ausschlaggebender Wichtigkeit unsere Ernährungsfrage in diesem
Kriege ist, das erfahren wir ja eben alle am eigenen Leibe. Es ist eine
Lebensfrage für Deutschland, daß die „wirtschaftliche Rüstung" nicht hinter der
militärischen zurücksteht; in den letzten Monaten ertönte daher laut der Ruf
nach einem „wirtschaftlichen Generalstab", und der Ruf ist ja jetzt erhört worden.
Die schwere Aufgabe dieses Generalstabes wird es sein, die Ernährungssmge
mit dem gleichen Gelingen zu lösen, wie die finanzielle gelöst wurde dank der
Tätigkeit des „Generalgeldmarschalls" Dr. Havenstein. dem bei der Stärkung
des Goldbestandes der Reichsbank in der deutschen Schuljugend ein begeisterter
Helfer entstand. Die „Mobilmachung" unserer Schüler und Schülerinnen für
den Goldfeldzug wird für immer ein leuchtendes Blatt in der Geschichte der
deutschen Schule, der höheren wie der niederen, bilden. Sie ist ein würdiges
Seitenstück zu der „seelischen Mobilmachung", wie ein Berliner Theologe das
sittliche Erwachen des deutschen Volkes beim Kriegsausbruch treffend kennzeichnete.
Zu dieser Mobilmachung der Seelen gehört es aber auch, daß keine Jammerbriefe
ins Feld geschickt werden, die nach dem Ausspruch eines Redners in einer
kürzlich abgehaltenen Volksversammlung wie „Handgranaten" wirken müssen.
Wenn nun schon bei uns Daheimgebliebenen das ganze Denken sich in
kriegerischen Bildern äußert, um wieviel mehr bei unseren Feldgrauen selbst!
All ihr Tun und Lassen, ihre ganze Umgebung setzen sie unwillkürlich mit dem
Militärischen in Verbindung, mag die Handlung oder der Gegenstand noch so
unmilitärisch sein. Gefüllte Flaschen werden als „Blindgänger", geleerte als
„Ausbläser" bezeichnet. Das Zeitwort „happen" drückt vielfach jede Bewegung
aus: man Sappe sich in die Ruhestellung, auf Urlaub. Der Soldat „nimmt
Deckung, volle Deckung", er „nimmt Stellung": in allen drei Fällen geht er
schlafen. Ein struppiger Bart ist ein „Drahtverhau"; stellt sich einer ungeschickt
an, dann muß er sich „einen anderen Kopf fassen", wie er Essen und alles
mögliche faßt.
Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß ein Teil dieser bildlichen Wendungen
sich auch in die Zeit des Friedens hinüber retten wird. Kein Gebiet menschlicher
Betätigung kann ja unberührt aus diesem Riesenkampf hervorgehen. Auch in
unserer Muttersprache wird der heutige Krieg sich für ewige Zeiten widerspiegeln,
und die Zahl der kriegerischen Wendungen, an denen unsere Bildersprache
schon an und für sich so reich ist, wird sich stattlich vermehren. Welche Ansätze
dazu schon heute vorhanden sind, wollte dieser Aufsatz zeigen. Diese Ansätze
weiterhin zu verfolgen, sie aufzuzeichnen, besonders soweit die Äußerungen
unserer Staatsmänner, Politiker, Schriftsteller und Gelehrten in Betracht kommen,
ist eine Aufgabe, die jetzt noch unter dem frischen Eindruck alles Geschehens zu
lösen wäre. Der Verfasser glaubt daher keine Fehlbitte zu tun, wenn er alle
Leser, die Lust und Liebe zu solchen sprachlichen Fragen haben, bittet, ihm
ihre Beobachtungen mitzuteilen. Zunächst handelt es sich um die Mitteilung
bildlicher Verwendung von Ausdrücken in der Art, wie sie dieser Aufsatz zeigt,
dabei ist möglichst genaue Angabe der Fundstelle (Zeitung, Buch, Zeit) sowie
der Persönlichkeit, welche die Wendung gebraucht hat, erwünscht. Natürlich
wird es auch dankbar begrüßt, wenn der Verfasser in seiner Sammlung der
neuesten Soldatensprache unterstützt wird, von deren Vielseitigkeit und Anschaulichkeit
er in seinem Schriftchen „Wie der Feldgraue spricht" (Verlag von A. Töpel-
mann, Gießen), das auch einen ausführlichen Fragebogen zum weitern Sammeln
enthält, eine eingehende Probe gegeben hat. Ebenso sind auch Angaben über
Neuprägungen von Wörtern, wie sie durch den Krieg hervorgerufen wurden,
sehr willkommen. Freundliche Zusendungen werden nach des Verfassers
Wohnung (Darmstadt, Mathildenstraße 26) erbeten.
Sonntagsfrieden in eherner Zeit. Pre¬
digten aus dem ersten Jahre des deutschen Welt¬
krieges 1914/15, gehalten von v. Dr. Rudolph
Meineke, Pastor an der Hauptkirche zu
Se. Nikolai in Hamburg, Otto MeisznerS
Verlag, Hamburg 1916. 301 Seiten.
Vom ersten August des Jahres 1914 bis zum
gleichen Tage des folgenden Jahres begleiten
uns diese religiösen Reden. Meineke hat sich
keine Mühe verdrießen lassen und so lange
gearbeitet, bis die vaterländische Stimmung,
die ihn beseelte, auch im religiösen Denken
ohne Rest aufgegangen ist, bis alle Ahnun¬
gen und Hoffnungen, die das deutsche Volk
an diesen Weltkrieg knüpft, für die Erbauung
und Glaubensfreudigkeit der Gemeinde frucht¬
bar gemacht sind. Dadurch ist ein Predigt-
Werl entstanden, das auf allen äußeren blen¬
denden, rhetorischen Effekt verzichtet, dafür
aber das Gepräge bleibenden Wertes in sich
trägt, als eine wirkliche Bereicherung der
homiletischen Literatur anzusprechen ist und
als eine dauernde Erinnerung an das erste
Kriegsjahr gelten darf. Dabei muß mit be¬
sonderer Freudigkeit hervorgehoben Werden,
daß man nicht den Großstadtgeistlichen hört,
der nur gebildete Kreise um seine Kanzel
sammelt, nicht den modischen Pastor, den
jeder in der Stadt einmal gehört haben muß.
MeinckeS Art ist bei aller heiligen und er¬
hebenden Keuschheit der Sprache immer
schlicht, volkstümlich und der einfachsten Volks¬
seele verständlich. Mit homiletisch vollendeter
Meisterschaft ist das Bibelwort gewählt und
ausgelegt, und dieser biblische Grundton stellt
die Zusammengehörigkeit der in der Heimat
lauschenden Gemeinde mit den im Schützen¬
graben ihre Bibel lesenden Söhnen und
Brüdern unseres Volkes her, die auch in
diesen Predigten durch Briefe, Feldpostkarten,
Lieder und Gebete zu Wort kommen. Ein
unendlich wertvolles Material zur Beurteilung
unserer Zeit und Kulturgeschichte liegt in
diesem Bande aufgespeichert, dessen Wert nicht
nur in der Form, sondern noch mehr im
Inhalt liegt. In vaterländischer Selbstlosig¬
keit ist der Reinertrag des Buches für kirch¬
liche Zwecke bestimmt. Sehr gern erfüllt
man als Referent die Pflicht, für diese Gabe
eines frommen, milden, allem Radikalismus
abholden Geistes zu danken und der Laufbahn
dieses bedeutsamen Buches ein reiches Maß
von Sonnenschein zu wünschen.
Kalenderreform. Als in: Jahre 32ö das
Konzil von Nicäa anordnete: Das Osterfest
sei am Sonntage nach dem ersten Frühlings-
vollmonde zu feiern, gab es noch keine
Schulen mit streng abgemessenem Pensum,
noch leine Konfirmandenentlassungen und
Antritt in die Lehre oder in die Fabrik
oder ins Buro. Heute machen sich die üblen
Wirkungen des beweglichen Ostertermins so
empfindlich bemerkbar, daß es nicht nötig
ist, dabei zu verweilen; nur der Verwunde¬
rung darüber muß man immer wieder aufs
neue Ausdruck geben, daß sich die Christen¬
heit diesen unzweckmäßigen Ostertermin bis
in unsere höchst exakte Zeit hinein hat ge¬
fallen lassen. Von den Verhandlungen, die
vor ein Paar Jahren darüber gepflogen
wurden, ist es wieder still geworden. Jetzt
hat aber die türkische Regierung beschlossen,
für den weltlichen Verkehr den gregoriani¬
schen Kalender einzuführen, und da meint
nun der Professor Dr. Georg Kewitsch in
Freiburg i. B. („Wissenschaft und Technik",
Beilage zur Astronomischen Zeitschrift vom
29. April), das verschaffte die erwünschte
Gelegenheit, endlich einmal mit der Kalender¬
reform ganze Arbeit zu machen. Die Türkei
solle den gregorianischen Kalender nicht an¬
nehmen wie er ist, sondern seine Mängel
beseitigen, und alle übrigen Staaten sollten
sich anschließen. Unserem Kalender hafteten
nämlich außer dem beweglichen Ostertermine
noch zwei andere Mängel an: Die Zahl der
Monatstage wechselt unregelmäßig und will¬
kürlich, und die Monatsdaten fallen jedes
Jahr auf einen anderen Wochentag; das
zweite sei, besonders bei Zeugenaussagen,
eine Quelle von Irrtümern, denn für den
gemeinen Mann habe der Wochentagsname
größere Bedeutung als das Datum und
Präge sich darum tiefer dem Gedächtnis ein.
Dr. Kewitsch schlägt folgendes vor: Das
Jahr hat 365 Tage, das sind 52 Wochen
und ein Tag. Soll das Datum nicht im
nächsten Jahre auf den folgenden Wochentag
rücken, so muß der überzählige Tag ausge¬
schaltet werden. Er wird als Neujahrstag
gefeiert und erhält die Ziffer Null (0). Ihm
folgt der Montag als erster Januar. Der
Januar bekommt 30 Tage, der Februar
ebenfalls, der März 31; das macht 9 t Tage
oder 13 Wochen. Ebenso werden die übrigen
drei Vierteljahre aufgebaut. Im Schalt¬
jahre wird der zweite überzählige Tag mit
der Datumszahl 0 zwischen dem zweiten
und dem dritten Vierteljahr, also vor dem
Beginn des zweiten Halbjahres am 1. Juli,
eingeschaltet. Ein durchaus praktischer Vor¬
schlag! Möchte er durchdringen I Die
evangelischen Kirchenbehörden werden sich
ohne weiteres der Anordnung des fürst¬
lichen Summepiskopats fügen, und der
gegenwärtige Papst, der schon so viele Be¬
weise erleuchteter Vorurteilslosigkeit gegeben
hat, wird mit Freuden diese internationale
Angelegenheit zur Anbahnung der Friedens¬
vermittelung benutzen, die ihm so sehr am
Herzen liegt. Wenn die Westvölker — das
vorgregorianische Rußland wird besser aus
dem Spiele gelassen — ihr Haß nicht ganz
um den Verstand gebracht hat, werden sie
diese unpolitische Gelegenheit gern ergreifen,
den abgerissenen politischen Verkehr, der nach
Clausewitz auch im Kriege nicht ruhen soll,
Wieder in Gang zu bringen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls l>el Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden !ann.
M
A>ir wollen, dem Leibe nach, Bürger unserer Zeit sein und bleiben,
weil es nicht anders sein kann; sonst aber und dem Geiste nach ist es
das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen wie des Dichters,
zu keinem Volke und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im
eigentlichen Sinne des Wortes der Zeitgenosse aller Zeiten zu
sein." So durste noch Schiller schreiben. Ein halbes Jahrhundert später sehen
wir einen anderen Dichter. Gustav Freytag, mit den Füßen noch ganz in der Zeit
Goethes stehend, zur Feder des Publizisten greifen, weil das Höchste, was er hat,
der Staat seiner Väter, zusammenzubrechen droht. Und noch ein anderer Vergleich
drängt sich auf. Dankbaren Herzens nahmen Schiller und Goethe aus Karl
Augusts Hand den Adelsbrief, der sie erst ganz in den Nang der Vollfreien
Deutschlands erhob. Wieder war es Gustav Freytag. der voll stolzen Selbst¬
gefühls alle Adelsangebote von sich wies und sich im Bewußtsein, „im Reiche
der Geister gefürstet zu sein", und mit dem Gefühl selbsterworbenen Wertes
als Gleichberechtigter neben einen deutschen Fürsten stellte. Damit sind jene
beiden Epochen charakterisiert, die sich in rascher Folge und im schroffen Wider¬
spruch gegeneinander ablösten, auf der einen Seite der Kosmopolitismus des
Humanitätszeitalters mit seiner vorzugsweise aristokratischen Bildung, sowie
die weltflüchtig romantisierenden Tendenzen der Epoche Friedrich Wilhelms des
Vierten, andererseits die neue nationale Wirklichkeit, überwiegend bürgerlich
demokratisch gestimmt.
Der Träger dieser neuen Zeit, die in imposanter Kraftentwicklung rund
die Jahre von 1830 bis 1870 umspannt, war das liberale Bürgertum, einer
seiner namhaftesten Vertreter Gustav Freytag. Wenigen geschichtlichen Persönlich¬
keiten ist es gelungen, sich so wie er mit ihrer Zeit zu identifizieren und in
ihrer Persönlichkeit und in ihren Werken die Eigentümlichkeiten des hervor¬
tretenden Mittelstandes mit der gleichen typischen Treue wiederzuspiegeln. In
einer Zeit von prosaischer Größe, doch ohne genialen Zug, wo solide Mittel¬
mäßigkeit, kräftiges Selbstbewußtsein, doch auch starre und zuweilen philisterhafte
Gebundenheit den Grundton angaben, vertrat Freytag das deutsche Bürgertum
mit allen seinen Vorzügen und Schwächen.
Der Dichter und Historiker des Bürgertums lagen bei Freytag von Natur
ebenbürtig nebeneinander. Politiker wurde er erst unter dem Eindruck der
Revolution von 1848, jenes elementaren Ereignisses, das auch für ihn mehr
oder weniger ein „geistiges Verjüngungsbad" bedeutete. Ein Verlangen zu
aktiver politischer Betätigung lag ihm bis dahin fern. Auch 1848 hätte er
kaum zur politischen Praxis gegriffen, wenn nicht die schwere Katastrophe
Preußens, Friedrich Wilhelms des Vierten historisches Versagen, alle seine
sittlichen Kräfte zur Tat wachgerufen hätte. Nicht Neigung und innerer Beruf,
sondern ein tief eingewurzeltes Pflichtgefühl, die Überzeugung, „daß der Staat
Kraft und Leben jedes Einzelnen für sich fordere", ließen den Entschluß in ihn:
reifen. Daß er zum praktischen Politiker nicht passe, stand ihm von vornherein
fest, in der Publizistik fand er das ihm angemessene Tätigkeitsfeld. Am
1. Juli 1848 übernahm er zusammen mit Julian Schmidt Eigentum und
Redaktion der „Grenzboten".
Es war das Geburtsjahr der freien Presse, „die wundervolle Lehrzeit des
deutschen Journalismus" mit ihren weiten Aussichten, aber auch ihren Ver¬
suchungen, in die sich Freytag mit einem Schlage, fast wider seinen Willen,
versetzt sah. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Freytag in seiner neuen Rolle
zurechtfand, und nur natürlich, daß der Zug seines ganzen Wesens, der un¬
politischen Vergangenheit entsprechend, in der er wurzelte, sein Interesse nicht
so sehr auf das politisch-technische Detail richtete, als auf prinzipielle Fragen
des politischen Lebens, denen er gern den Mantel des lehrhaft-moralisierenden
Pathos umhing. Wie als Dichter und Historiker, so wollte er auch als Publizist
in erster Linie auf das Gemüt seines Volkes wirken, zur sittlichen und politischen
Bildung desselben beitragen. In dieser Form gab Freytag 22 Jahre lang in
den „Grenzboten" „mit der linken Hand", wie er zu sagen pflegte, dem
nationalen und liberalen Idealismus des mündig gewordenen Bürgertums
Ausdruck, vertrat er in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit, im Bunde mit
namhaften Mitarbeitern, nach eigenem Geständnis „die höchsten Interessen
seines Lebens", durchlebte er „die mannhaftesten Gefühle".
Freytags politischer Parteistandpunkt ergab sich mit Notwendigkeit aus
seiner Zugehörigkeit zu jener bürgerlichen Aristokratie des Vormärz, die sich
zuerst mit den naturrechtltchen Theorien Frankreichs verbündete, die noch
keinen vierten Stand neben sich kannte und sich wirklich als den Kern des
Volkes betrachten, ja mit der Nation selbst gleichsetzen durfte. Den Notabeln-
charakter dieses älteren Liberalismus hat Freytag zeitlebens nicht verleugnet,
in seiner Vorstellungswelt blieb er befangen, auch als dre veranderw: Zeiten
das Bürgertum aus seiner idyllischen Ruhe verscheucht hatten. Den fort-
schrittlichen Anschauungen dieser Kreise konnte sich Freytag »in?o wemger ver-
^Keßen. als sie in glücklicher Weise dem Grundzuge seiner gersttgen Wesensart,
wie sie sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatte, entsprach.
Freytags hochliberaler Standpunkt läßt sich nämlich erst ganz verstehen,
wenn man berücksichtigt, daß sein politisches Urteil sehr erheblich von literansch-
wissenschaftlichen Eindrücken bestimmt wurde. Freytag kam von der romanti¬
schen Germanistik her. Von Jakob Grimm übernahm er die geschichtsphilosophtsche
Idee der Volksseele, die Vorstellung von einer selbsttätig wirksamen Volkskraft.
Diese neue Auffassung des geschichtlichen Lebens sah in Sprache. Sitte. Recht,
Poesie der Völker gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes, in den
Völkern selbst große geistige Einheiten, deren Leben ebenso wie das des ein¬
zelnen gesetzvollen Verlauf hat. und suchte die Abhängigkeit der einzelnen von
der Volkskraft nachzuweisen. Eine derartige akademische Theorie, die durch
und durch demokratisch ist, wurde von Freytag auch auf die Politik an¬
gewandt. „Ja auch das politische Schicksal eines Volkes war nur die fort¬
laufende Kette von Lebensäußerungen eines großen Organismus. Auch hier
war das letzte eine treibende Lebenskraft, modifiziert durch die Weltlage und
die Individualität des Volkes, eingeengt und gesteigert durch Einwirkungen
anderer Völker. Nur was dieser nationalen Kraft Stärkung und Gedeihen
gab. war in der Politik gut." Den reinsten und.deutlichsten Ausdruck dieser
nationalen Kraft sah Freytag aber in der Gesellschaftsschicht, in der er selber
mit seinem Empfinden wurzelte, im gebildeten Bürgertum. So kam er auf
diesem gleichfalls idealistisch gekennzeichneten Seitenpfade zu einer verstärkten
Überzeugung von der Allmacht des Volkes d. h. in seinem Sinne der
Bourgeoisie, zu der ihn bereits die demokratische Hauptströmung des Zeit-
alters führen mußte.
Mit dem verletzten Feingefühl des vornehmen Bourgeois zog sich jedoch
Freytag sofort vor den radikalen Auswüchsen der naturrechtlichen Doktrin zu¬
rück, mit denen die modern demokratischen Ansprüche eines neuen vierten
Standes notwendig verbunden waren, eines Standes, den er als der An¬
hänger einer durchaus aristokratischen Gesellschaftsordnung seiner ganzen Her¬
kunft nach nicht verstehen konnte. Im Programm der neuen Redaktion vom
1. Juli 1848 hieß es dementsprechend: „Die Grenzboten werden den Regie¬
rungen gegenüber entschiedene Demokraten sein, gegen die Launen und den
Unverstand der Masse die Aristokratie der Bildung und des Rechts vertreten."
Freytags nüchternem Wirklichkeissinn und seinem in der Schule Dahlmanns
geübten historischen Urteil wurde es nicht schwer, die rohen, rein negierenden
Tendenzen des 1848er Radikalismus absuräum zu führen. Charakteristisch
ist in dieser Hinsicht vor allem, wie er von vornherein dem Frankfurter Par¬
lament, dieser höchsten Blüte eines einseitig gesteigerten Idealismus, skeptisch
gegenüberstand. Volkssouveränität, allgemeines Staatsbürgertum und andere
klingende Phrasen der Demokratie wies er überlegen von der Hand. Vollends
die „seichte Gleichmacherei" des allgemeinen Wahlrechts hat er später „das
leichtsinnigste Experiment Bismarcks" genannt.
Die Schuld an jenen Einseitigkeiten der sozialistischen Theorie maß Freytag
der bis in seine Tage herrschenden isolierten Daseinsform bei, als wirksames
Heilmittel dagegen empfahl er den Segen einer rationellen Organisation des
Volkes in seinen großen und kleinen Verbindungen, in enger Anlehnung an den
Assoziationsgedanken von Schulze-Delitzsch, auf den er als den berufenen Fach¬
mann in den sozialen Angelegenheiten auch in späteren Jahren zu verweisen
pflegte. Freytag selbst konnte weder jetzt noch später ein tieferes Verhältnis
zu dem immer brennender werdenden Problem des vierten Standes gewinnen.
Wo er ihm begegnete, stand er ratlos; so ging er ihm lieber aus dem Wege
und drückte die Augen zu vor der „Eiterbeule der Gegenwart". Er, der
Idealist und Optimist der alten Schule, wollte sich „die Freudigkeit des
Herzens", den Glauben an sein Volk nicht nehmen lassen, deshalb überließ er
die Arbeit an der neuen Zeitaufgabe einer jüngeren Generation.
Um so nachdrücklicher vertrat er, wie es im Programm der „Grenzboten"
zum Ausdruck kam, die Interessen des Standes, dem er selbst angehörte und
dem er den seiner hohen wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung ent¬
sprechenden politischen Einfluß verschaffen wollte. Mit der gemütvollen Inner¬
lichkeit des liberalen Doktrinärs betonte er die Mündigkeit des Bürgertums und
ließ es sich angelegen sein, die prinzipiellen Fragen des konstitutionellen Pro¬
gramms dem konservativen Jdeenkreis in scharfer Absage entgegenzustellen.
Hierher gehörte vor allem sein Eintreten für die wichtigsten Grundrechte, ohne
daß er sich dabei wesentlich über die gangbaren Vorstellungen des Konstitu¬
tionalismus erhob. Die ihm eigene fortschrittliche Note kam erst völlig in
der Frage der Staatsform zum Vorschein. Auf den doktrinären Zuschuß, den
seine Anschauungen dabei durch eine spezifisch akademisch-wissenschaftliche
Orientierung erfuhren, wurde schon verwiesen. Er erklärt erst ganz die stritte
Betonung der bürgerlichen Vormachtstellung. Nicht zu verwundern ist, wenn
Freytag somit 1848 die Bürgerrepublick als ideale Staatsform aufstellte. Die
„Grenzboten" sprechen ganz im souveränen Tone jener Zeit, die die Prinzipien
und die Schlagworte liebte. Aber für Freytag war die Republik doch mehr
als eine Phrase. Sie blieb das unerreichte Ideal, wenn auch sein nüchterner
Blick rasch einsah, daß die Zeit dazu nicht reif sei. Das Königtum war und
blieb für ihn nicht mehr als ein notwendiges Übel. Er selbst sagte von sich:
„Die feurige Loyalität und Hingabe, welche auch hochbegabte Männer oft für
die Herrschaften fühlen, denen sie Kraft und Leben widmen, habe ich nach
meiner Natur den Höchsten der Erde gegenüber niemals gefühlt, und wenn
mir dergleichen etwa auf Augenblicke kam, habe ich dies als unwahr als¬
bald abgetan."
Wie nun aber in der Reaktionszeit der Liberalismus überhaupt genötigt
wurde, einen Schritt nach rechts zu tun, so machte auch Freytag nicht zu
seinem Schaden eine Schule durch, die seinen Grundanschauungen die defimtwe
Durchbildung verlieh. Was er seinen Anteil an der Politik zu nennen pflegte,
„die Bekanntschaft mit den Höhen und Tiefen irdischer Existenz", erwarb er
durch sein Verhältnis zu Herzog Ernst von Coburg und durch die von diesem
vermittelten Beziehungen zum kronprinzlich-preußischen Hofe. Die hochllberale
Note dieses Kreises, in dem englische und belgische Vorstellungen gang und
gäbe waren, entsprach glücklich seinen eigenen politischen Antezedenzien. Zu¬
gleich bewahrte ihn die Bekanntschaft mit Männern wie Stockmar, Stosch u. a.,
der Einblick in das Getriebe der großen Politik vor einer weiteren Schwenkung
nach links. Vor allem war es der Einfluß Friedrich von Stockmars, der
Freytag für die Prinzipien des belgischen Parlamentarismus gewann. Auf
diesem Boden führte er den Kampf gegen den absolutistischen Staat weiter,
das parlamentarische Schattenkönigtum Leopolds von Coburg wurde die ver-
fochtene Staatsform.
Gegenüber dem historischen Staatsideal der Konservativen, dem Machtstaat,
vertrat Freytag sein abstraktes Freiheitsideal. Das Prinzip der Freiheit stellte
er über den Gedanken der Staatsmacht. Zu welchem harten Doktrinarismus
er sich dabei versteigen konnte, zeigte seine Haltung während des preußischen
Militärkonflikts. In diesem Machtkampf zwischen Krone und Parlament wies
Freytag jeden Kompromiß von der Hand. Noch angesichts des Krieges 1866
gehörte er zu den Entschiedener, die jede Geldbewilligung von einem Wechsel
des Systems im liberalen Sinne abhängig machten. Von Stosch erfahren wir,
daß Freytags Doktrinarismus selbst bei seinem Gönner, dem Kronprinzen
Friedrich Wilhelm. Anstoß erregte. Aber er ließ sich nicht irre machen.
„Unser Liberalismus gleicht doch nicht einem einzelnen Gliede, welches wir uns
abhauen können, oder in die Tasche stecken, wie eine geballte Faust? Er ist
unser bestes Leben selbst, und wie die Natur uns zwingt, unablässig Atem zu
holen, müssen wir auch unser Freiheitsgefühl betätigen, wo wir veranlaßt sind,
zu reden, zu raten, zu handeln."
Hand in Hand damit, undenkbar das eine ohne das andere, ging bei
Freytag ein ausgeprägtes Nationalgefühl. Liberale und nationale Impulse
gaben seinem Leben Inhalt und Richtung. Sein Deutschtum wurzelte mit den
besten Kräften im Boden seiner schlesischen Heimat, früh genährt durch den
Gegensatz zu slawischen Wesen und späterhin durch das Studium der Ger¬
manistik zu elementarer Stärke verdichtet. Ebenso früh war er sich bewußt,
daß die Lösung der deutschen Frage nur in Verbindung mit liberalen Re¬
gierungsprinzipien möglich sei. Den nationalen Fortschritt machte er in diesem
Sinne abhängig von einer Steigerung der Volkskraft auf allen Gebieten des
wirklichen Lebens auf dem Wege friedlicher, allmählich fortschreitender An¬
näherung. Dem Einzelwillen der Kabinette, dem nach seiner Ansicht stets etwas
Zufälliges anhaftete, sprach er das Recht ab, über die Zukunft der deutschen
Nation zu entscheiden und setzte ihm den schlichten und unzweideutigen Ausdruck
des Volkswillens entgegen. Eben deshalb, aus Respekt vor dem Volkswillen,
gab Freytag auch in der Frage der äußeren Staatsform zunächst dem Bundes¬
staat vor dem Einheitsstaat den Vorzug. Auch sein Ziel war der Einheits¬
staat, aber er glaubte, daß den Interessen und dem Bedürfnis des Volkes besser
gedient sei, wenn die Einigung schonend und schrittweise über die Etappe des
Bundesstaats sich vollziehe. Jeder Bundesstaat, so machte er gegen den Hei߬
sporn Treitschke geltend, führe schließlich zum Einheitsstaat.
Besonderen Ruhm darf Freytag als einflußreicher Verfechter des klein¬
deutschen Programms beanspruchen. Nach dem Zeugnis Konstantin Rößlers
war es Freytag, der als erster in den „Grenzboten" im Juli 1848 in einem
Sendschreiben an Pillersdorf, den damaligen österreichischen Ministerpräsidenten,
das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland propagierte. „Es geschah in einem
wahrhaft politischen Geist, denn Freytag wies nach, daß Österreich der Staat
sei, welcher der Trennung am meisten bedürfe, ja für den sie die Lebensfrage
sei." Die preußische Führerschaft trug Freytag als unumstößliches Dogma in
der Brust, unerbittlich in seinem Doktrinarismus auch hier: „In der Politik
sind in Deutschland nur zwei Parteien, Protestanten und Altgläubige, Lebendige
und Tote, Preußen und Österreicher, hie ficht, wie Luther sagt, Gott und der
Teufel, ein drittes gibts nicht."
Die Vormachtstellung Preußens verstand Freytag nicht im Sinne eines
Großpreußentums. Einer solchen Idee ist er niemals näher getreten, und
wenn er auch einmal gelegentlich der Zurücksetzung, die Preußen 1849 in
Frankfurt erfuhr, in den „Betrachtungen eines Stockpreußen" (Grzbt. 18491.208 ff.)
schärfere Töne anschlug und ein spezifisches Preußentum drohend heraufsteigen
ließ, so war das nicht mehr als ein Schreckschuß. Freytag war sich seines
Preußentums stolz bewußt, aber er war auch klug genug, einzusehen, daß
Preußen ebensosehr wie die anderen deutschen Territorien der gegenseitigen
Ergänzung bedürfe. Auch die Preußen sollten sich vor allem als Deutsche
fühlen, sich zugunsten einer höheren Einheit unterordnen, dafür aber die Füh¬
rung im neuen Bundesstaat erhalten.
Der nationale Staat, Deutschlands Größe, war und blieb Freytags erster
und letzter Gedanke, ihn durch alle Fährnisse der inneren und äußeren Politik
lebendig zu erhalten und zu seiner Verwirklichung beizutragen, der Angelpunkt
seines Lebenswerkes, in erster Linie seiner publizistischen Arbeiten. „Einerlei",
so bemerkt Freytags einstiger Mitarbeiter bei den „Grenzboten", Julius v. Eckardt,
„ob sie aus Petersburg oder von der Wiener Ferdinandsbrücke datiert sind, —
ob sie Louis Bonaparte, den Tod des Prinzgemahls von England oder die
Deutschen in Siebenbürgen zum Gegenstand haben: sie handeln immer nur von
der Stellung, die der Deutsche dem Ausland gegenüber einnimmt oder ein¬
nehmen soll, und von dem Verhältnis der Fremden zum Deutschen und seinem
Wesen. Maßgebend ist überall der nationale und zwar der national¬
pädagogische Gesichtspunkt, der Gedanke an die sittliche Wirkung, welche auf
das eigene Volk geübt werden soll."
Vor allem während der trostlosen Reaktionszeit, als nach dem Krimkrieg
das nationale und liberale Interesse ganz zu erlahmen und die politische
Publizistik unter polizeilichem Druck geknebelt einzuschlafen drohte, kam Freytags
journalistisches Talent erst zu voller Entfaltung. Die feine agitatorische Wühl¬
arbeit des Liberalismus, „den geheimen Mechanismus" und „die loyale Kon¬
spiration", beherrschte er mit großer Vollkommenheit. So erschienen denn in
den „grünen Blättern" besonders jene von warmem politischen Blut durch¬
pulsten „Bilder aus der deutschen Vergangenheit", die aus der Kenntnis der
deutschen Volksseele Verständnis und Teilnahme für die Aufgaben der Gegen¬
wart erwecken wollten.
Als dann nach den verheißungsvoller, auch von Freytag froh begrüßten
Anfängen der neuen Ära die deutschen Geschicke bald immer mehr den Händen
des Liberalismus entglitten und die schöpferische Hand eines einzigen aus den
Trümmern zweier Kriege und dem Chaos eines innerpolitischen Konflikts,
rücksichtslos und eigenwillig die Fäden spinnend, den glänzenden Bau der neuen
Einheit emporführte, da gehörte wohl auch Freytag zu denen, die zuerst geblendet
standen vor dem plötzlichen Wunder. Auch er hatte das Parteibanner solange
hochgetragen, bis es ihm vom Strom der Ereignisse aus der Hand gerissen
wurde. Der Liberalismus war mit all seinen Idealen an der harten Realität
der Waffen zerschellt. Und wenn nun Freytag dem Zwang der Tatsachen
nachgebend mit ins Lager des Nationalliberalismus abschwenkte, begreiflich war
es. daß er sich schwerer als die meisten anderen in die neue Wirklichkeit nach
1866 hineinfand. Daß der ganze glorreiche Fortschritt den Stempel des
Oktroyierten trug, daß nach seiner Meinung persönliche Stimmungen weniger
Menschen den Ausschlag gegeben hatten, ließ ihm schnell die erste Siegesfreude
in stille Resignation umschlagen. Wenn man die offiziellen Äußerungen jener
Zeit in den „Grenzboten" mustert, so fällt ohne weiteres ihr gequälter und
verdrossener Ton auf. Freytag gibt sich Mühe und es will ihm nicht gelingen,
die ihm fremde Umwelt zu verstehen. Er zollt dem Werk und der Person
König Wilhelms die schuldige Ehrerbietung, aber echte, warme Zuneigung sucht
man vergebens. Aus allem geht hervor, daß Freytag im letzten Grunde mit
einen: Provisorium rechnete, das er dereinst durch ein liberales Kulturregiment
des Kronprinzen Friedrich Wilhelm abgelöst zu sehen hoffte. Daß der Kron¬
prinz die lang genährten Hoffnungen des doktrinären Liberalismus täuschte,
indem er in einer Aufwallung fürstlichen Stolzes die Stellung eines Statisten
ausschlug, jene „bürgerliche" Auffassung vom Beruf und den Pflichten des
Mrsten. die Freytag 1867 dem Kronprinzen „an stillen Abenden" zu unter-
vrerten Gelegenheit hatte, und statt dessen die Kaiserkrone als das Symbol der
acht in Anspruch nahm, dieses historische Versagen war für Freytag die
schmerzlichste Erfahrung seines Alters. Sie sagte ihm deutlich, daß die Richtung
seines großen Antipoden Bismarck gesiegt hatte.
Freytag und Bismarck. In diesen beiden Namen gewannen die großen
Gegensätze des Jahrhunderts Gestalt. Die Auseinandersetzung zwischen Freytag
und der Persönlichkeit Bismarcks war eine Auseinandersetzung der liberalen
Ideale mit der entgegengesetzten Staatsauffassung, mit der Macht- und Staatsidee.
Daneben waren es Gründe allgemein weltanschaulicher Art, die Freytag das
Verständnis seines überragenden Zeitgenossen verdunkelten. Wie wir bei ihm
das eigentlich schöpferisch-Geniale vermissen, sondern nur ein Talent in ihm
sehen, das, von der demokratischen Flutwelle der Zeit getragen, alle Vorzüge
und Schwächen des großen Mittelstandes in sich vereinigt, so vermochte er auch
bei der Abschätzung individueller Geistesgröße nur den Maßstab bürgerlicher
Moral anzulegen. Die akademische Theorie, mit der er arbeitete, die Vorstellung
einer selbsttätigwirksamen Volkskraft, ließ neben den höheren Lebensinteressen
der Gesamtheit dem schöpferischen Einzelwillen keinen Raum. Wo er in der
Geschichte solchen Herrenmenschen begegnete, ging er ihnen als Ausnahmen sorg¬
fältig nach. Seine pseudodemokratische Geschichtsauffassung sah in ihnen tragische
Helden, die an dem Konflikt der eigenen Größe mit den mächtigeren Bedürfnissen
der Nation verbluteten. Ein solches Schicksal teilte seiner Ansicht nach auch
Bismarck mit „höher organisierten Männern", wie Luther und Friedrich dem
Zweiten. Freytag war außerdem zu selbständig, als daß er sich, durch den
Erfolg verführt, mit einem schnellen Ruck zu Bismarck bekannt hätte, und wenn
er wohl auch zuweilen ahnte: „in der Politik freilich waren die Spießbürger
nicht immer die stärkeren", im Grunde gelang es ihm nicht, die Eindrücke seiner
Mannesjahre abzustreifen. Bismarck blieb seinem innersten Wesen fremd, er
war der dämonische, unberechenbare Gewaltmensch, der Abtrünnige, der sich vom
Kern des Volkes gelöst hatte, „doch nur möglich in einer Tageszeit, welche
aus der Nacht in das helle Licht hinüberführt."
Mit der Errichtung des norddeutschen Bundes, da die völlige Einheit
Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, war auch Freytags
Hauptarbeit geleistet. Sieht man von den glänzenden Berichten ab, mit denen
er als Berichterstatter im Hauptquartier des Kronprinzen 1870 ratend und
mahnend die Kämpfe der Erfüllungszeit begleitete und auch rein äußerlich
seiner Publizistik den krönenden Abschluß gab, so hatte er seinem Volke nichts
mehr zu sagen. Das eine große Ziel seines Strebens war erreicht. Das
Verständnis für die Aufgaben der Gegenwart wußte er sich auch im kalten
Frühlicht einer neuen Zeit wachzuerhalten. Als die „Grenzboten" im Jahre
1870 infolge konfessioneller Meinungsverschiedenheiten mit dein Verleger in
andere Hände übergingen, schenkte Freytag der von Hirzel neugegründeten Zeit¬
schrift „Im neuen Reich" pflichtgetreu seine Teilnahme und drückte den ersten
Jahrgängen überwiegend den Stempel seines Geistes auf. Freilich, seine
geliebten „Grünen" waren es nicht mehr, und der Abschied von ihnen war
auch der Abschied vom besten Inhalt seines Lebens. Sein Verdienst war es
doch vor allem, wenn er bescheiden quittieren durfte, daß selbständige Über¬
zeugung und fester Ausdruck derselben die Zeitschrift bald zu einer der
geachtetsten machten und „daß die „Grenzboten" einen wesentlichen Einfluß
auf die Bildung der jungen Generation ausgeübt und allmählich den Ruhm
erworben haben, viel von deutscher Einsicht und deutschem Gewissen zutage
zu bringen".
Freytag hat den Umkreis seiner politischen Fähigkeiten am besten ge¬
kannt, die mannigfachen Irrtümer, die ihm unterliefen, nicht verschleiert. „Manch¬
mal hat mans getroffen, manchmal, und wohl öfter, nicht. Im ganzen macht
solche Durchsicht (se. seiner Aufsätze) bescheiden, es ist doch vieles anders
gekommen, als man sichs seiner Zeit gedacht hat. Wo man recht heiß begehrt
hat, und wo man das Ärgste befürchtet hat. ist man durch den Erfolg wider¬
legt worden. Und doch hat man seiner Zeit so ehrlich und klug, als man
vermochte, um das Künftige gesorgt." Man kann Freytag den Vorwurf starker
doktrinärer Befangenheit nicht ersparen. Wohl war er nicht Doktrinär von
der Art, daß er sich von den naturrechtlichen Phantomen hätte beirren lassen.
Vielmehr deshalb, weil seine politischen Überzeugungen sehr erheblich von wissen¬
schaftlichen Momenten bestimmt wurden, die ihnen erst im vollen Umfang den
Charakter einseitiger politischer Doktrinen verliehen. Die Doppelstellung als
Dichter und Gelehrter einerseits, Politiker andererseits wurde ihm verhängnisvoller
als den meisten anderen Politikern der alten Professoraten Schule. Akademische
Einflüsse und die gemütvolle Schwerfälligkeit einer spezifisch liberalen Welt-
anschauung erschwerten ihm das Verständnis Bismarckscher Macht- und Realpolitik.
Doch pflegen wir Wert und Bedeutung eines Mannes nicht so sehr nach
seinen Werken an sich zu messen, als nach Geist und Charakter, der daraus zu
uns spricht. Freytags publizistische Tätigkeit zeichnet sich weniger durch die Origi-
nalität und Schärfe der darin vertretenen Anschauungen aus als durch den
tiefen sittlichen Kern der dahinter stehenden Persönlichkeit. „Sie sind gewöhnt,
in jeden Stoff, den Ihre Feder berührt, ein Stück Ihres Herzens zu legen",
konnte Treitschke von ihm sagen. Es ist das Ethos eines durch und durch
deutschen Mannes, der wie kein zweiter seine Deutschen kannte und gerade hier,
in der Publizistik, am warmherzigsten ihrem nationalen und liberalen Idealismus
Ausdruck zu geben verstand. Dergestalt, als der „bescheidene Hausfreund seines
Volkes" wird Gustav Freytag, der Redakteur der „Grenzboten", dauernd in der
Geschichte des deutschen Idealismus und untrennbar vom tiefsten Gehalt unseres
Deutschtums fortleben. „Denn tüchtiges Leben endet auf Erden nicht mit dem
Tode, es dauert in Gemüt und Tun der Freunde, wie in den Gedanken und
der Arbeit des Volkes."
(Alle Rechte vorbehalten)
Die langjährigen Beziehungen zwischen Gustav Freytag und dem
bekannten Shakespeare- und Moliere-Übersetzer Grafen Wolf Baudissin
und seiner Gattin, Gräfin Sophie Baudissin, geb. von Kasket, zelligem
einen ausgedehnten Briefwechsel, von dem anläßlich des bevorstehenden
hundertsten Geburtstages von Gustav Freytag ein größerer Teil zum
erstenmal der Presse übergeben wird. Der ganze Briefwechsel erstreckt
sich über den Zeitraum von 1856 bis 1894, also beinahe über vier
Jahrzehnte, und besteht aus mehr als sechshundert Briefen. Im Nach¬
folgenden wird hieraus der Teil von Anfang 1863 bis Sommer 1864
wiedergegeben, im ganzen sechzehn Briefe. Den politischen Hinter¬
grund dieser Zeit bildet in erster Linie die Schleswig-Holsteinische
Frage, der nicht nur Freytag, sondern auch Graf Baudissin, ein Hol¬
steiner von Geburt, lebhaftes Interesse darbrachte. BaudissinS waren
auch, wie mehrfach aus den Briefen hervorgeht, eifrige Leser der von
Freytag geleiteten „Grenzboten". —
Leipzig, 3. Jan.
as Dintengefäß steht vor mir und sein Auf und Zuklappen erfüllt
mit immer neuer Freude über die Fortschritte der Mechanik,
Pudels ist noch schwärzer geworden, als er war und seine Flock-
härigkeit wird durch spitze Stahlstiche stark aus die Probe gestellt,
und der Schawl umhüllt mit einer bewundernswerthen Elasticität
meinen wunden Hals, so oft ich mich in die Luft wage. Eine meiner gewöhn¬
lichen ruppiger Erkältungen hat mich die letzte Woche vexiere, und ich habe
deßhalb nur mit Sehnsucht nach Dresdens denken können, ohne den Tag
meines Überfalls zu bestimmen.
Immer wieder habe ich in den letzten Wochen mit vollem Herzen Ihrer
gedacht. Nicht nur mit warmem Dank für die Liebe und gütige Freundschaft,
welche Sie beide mir bewiesen. Auch in Trauer über das tiefe Leid, das Sie
erduldet.») Dulden, stillhalten, das ist die alte harte Aufgabe. Jeder von
uns sucht sich in seiner Weise mit dem Schwersten abzufinden. Und es wäre
unerträglich zu verlieren, wenn nicht gerade durch solchen Verlust ein gnädiges
Schicksal dem Menschen auch eindringlich und werth machte, was er besitzt und
festzuhalten im Stande ist.
Aber trotzdem; ich weiß nicht, wie Sie in zarter und inniger Empfindung
Besitz und Verlieren betrachten, mir aber wird bei jedem solchen Schlage,
großem und kleinem, immer lebhafter fühlbar, wie wenig man als Einzelner
auf der Erde haftet. Schneller und schneller laufen mir die Jahre, und
es ist mir eine gewöhnliche Stimmung, mich als Reisenden zu betrachten.
Bilder. Menschen, Liebe, Haß ziehen durch die Seele, in den fröhlichsten
Stunden, in der wärmsten Stimmung überfällt mich das Gefühl, daß dies
Alles auch das -Liebste nicht mein ist. Es ist kein Schmerz dabei, auch keine
Resignation, es ist doch auch nicht innere Kälte, aber im Hintergrund eine
Ruhe u. Stille. Und groß und dauerhaft fühle ich nur, woran ich mit
Millionen Theil habe! So denke ich mir, wirds innerlich mit den Jahren
immer kühler und stiller, bis das eigene Leben sich ganz verliert, allmälig,
schmerzlos, im großen Ocean endet.
Es war eine andere Art Verlust, der mich in diesen Tagen ernst gestimmt
hat. Mathys^) sind nach Karlsruhe abgereist, und ich hatte mich seit sechs
Jahren sehr an Beide gewöhnt.
Ach Vieles stimmt ernst. Das confuse Aussehen der deutschen Verhältnisse,
vor Allem die klägliche Wirthschaft in Preußen. Sie werden Gelegenheit gehabt
haben, mit Dur!ers°) darüber zu sprechen. Und ich habe die geheime Empfin-
dung. daß Ihres Hauses Ansichten für Max nicht ohne Vortheil gewesen sind.
Der Freund ist nicht ganz so frei von dem Banne seines Kreises geblieben,
als ich ihn gewünscht hätte. Er steht auf dem Standpunkt vieler Altliberalen
in Preußen, welche durch persönlichen Groll und Nichtachtung der jetzigen
Majorität in ihrem Urtheil befangen werden. Er ist in einem starken Irrthum,
wenn er meint, daß einige Concessionen in der unglücklichen Militärfrage die
tiefe Kluft zuschulden können. Und er ist nicht Diplomat genug, um mit Würde
und innrer Haltung seine eigene Ueberzeugung zu conserviren. und die unver¬
meidlichen Concessionen an seine Stellung machen zu können. Ich wünsche ihm
sehr, daß er über die Festigkeit seiner eigenen Stellung sich nicht täusche, und
noch mehr, daß er zum Kronprinzen sich so stelle, daß er dem armen jungen
Herrn von dauerndem Nutzen sein kann.
Heut wage ich noch eine Bitte. Es sind bei mir 100 Thlr. für Otto
Ludwigs eingegangen, ich möchte sie schnell und sicher in sein Haus geschafft
sehen u. habe nicht seine Adresse. Wollten Sie die Güte haben, dieselben durch
Ihren treuen Diener als einen Gruß auswärtiger Freunde an ihn senden lassen.
Zuletzt bitte ich um die Erlaubniß, Ihnen Ende der nächsten Woche in
das Haus fallen zu dürfen. Ich würde mir die Freiheit nehmen, den Tag —
Sonnabend — noch zu schreiben. Da Sie mir doch erlauben wollen, Sie
selbst in Ihrer Häuslichkeit zu belästigen.
Herrn Grafen meinen innigen Dank und treuergebener Gruß. Hrn.
General meine artigsten Empfehlungen, Ihnen alle Treue u. Verehrung
Mein Doktor Günther hat mir für Morgen wegen verschwollenem Hals
die Erlaubniß kräftig verweigert und hat mich auf Anfang nächster Woche ver¬
tröstet. Ich bin sehr melancholisch darüber, denn ich bin in großer Gefahr
Ihnen überdrüssig und langweilig zu werden, bevor ich noch in persönlichem
Zusammensein als redlicher Mann das Meine dazu gethan habe. Wie ein
schlechtes Stück, welches immer wieder vom Zettel abgesetzt wird, weil sich die
Direction nicht damit heraustraut. Nur das Zeugniß darf ich mir geben, ich
habe die Ganze Woche Alles Erdenkliche gethan, mich für Sonnabend zurecht
zu stutzen. Ich habe einen ganzen ausgestalteten Zopf eines unsäglichen Stoffes
selber zerquirlt und als Mandelmilch verschluckt — ein schwächliches Getränk! —
habe Stube gehütet, häufig Cigarrenspitzen abgeschnitten u. die armen Teufel
wieder in den Kasten gelegt, ich habe mich in menschlicher Sprache auf das
Nothwendigste beschränkt und meinen Leuten schwere mimische Aufgaben gestellt,
ich bin wie ein kleiner Junge ins Bett gekrochen, sobald der Nachtwächter das
erstemal blies, es hat Alles nichts geholfen, denn warum? es ist eine Drüse.
Ich bitte, ich beschwöre Sie, nur nichts mit diesem Zeug zu thun zu haben.
Zähne, Nerven, Magen sind nichts dagegen. Es ist eigensinnig, es ist hart¬
näckig, es ist heuchlerisch; es geht und kommt, wie im Sohn der Wildniß die
Liebe, und wenn es da ist, nützt kein Doktor und keine Salbei, sogar der
Höllenstein ist ihm wie Punsch. Dick und beharrlich ist sein Charakter, und
für die Stimme der Freundschaft und Verehrung ist es durchaus unzugänglich.
Mit solchem Gesindel muß man sich rumschlagen.
Meine Frau?) versucht vergebens mich mit Anfang nächster Woche zu ver¬
trösten. Wenn ich da noch kommen darf, der Braten ist doch gegessen.
Bitte sein Sie mir nicht böse. Gönnen Sie mir noch durch zwei drei
Tage den letzten Rest Ihres menschlichen Antheils, den bis aufs Aeußerste
erschöpft zu haben ich mir wohl bewußt bin. Bedenken Sie, daß es mir sehr
schlecht geht, daß. weil und indem ich morgen nicht kommen kann.
Und Beide bitte ich Sie, erlauben Sie mir noch einmal Ihnen zu schreiben,
sobald ich ausgehen darf. Wenn auf die Schwüre eines Doktors zu trauen ist,
aber ich bin mistrauisch geworden, so muß Anfang der nächsten Woche die mir
längst ersehnte Zeit gekommen sein.
Leipzig 9. Jan. ^18M.
Dresden. Sonnabend früh.
Wer in einem leidenden Zustand solche Briefe schreiben kann, hat den
besten Arzt der Welt in sich, u. ich denke u. hoffe dieser Doctor wird Sie
bald gesund machen. Daß wir doppeltes Verlangen haben Sie von dem Un¬
wohlsein befreit zu wissen, können Sie wohl glauben, aber der Braten ist
keineswegs gegessen, im Gegentheil wir begießen ihn noch fleißiger nun u. der
Moment wo Sie frisch und wohl eintreten, wird er, wie die Franzosen sagen,
»an point« sein u. besser schmecken als je. Uebrigens um bei französischen
Redensarten zu bleiben: ö quelqus Ldoss maldeur est bon, denn ich habe
"un Zeit einen Husten los zu werden mit dem ich Ihnen sonst in die Rede
gefallen wäre u. Sie gelangweilt hätte. Ich bin auch wie halb Dresden u.
wie ich sehe ganz Leipzig, wenigstens ganz Leipzig für uns, erkältet, gehe indeß
schon wieder aus dabei. — Da Sie mit Drüsen zu thun haben, müßten Sie
ja in ein Soolbad zum Sommer? — einstweilen möchte ich wie der vicar von
Wakefteld das Gebräu seiner Töchter, das was Sie quirlten umstoßen u. dafür
Maulbeer u. Malvensast hinstellen zum gurgeln. Fragen Sie doch den Doctor
danach? Und nun auf Wiedersehn „es muß doch Frühling werden!"
Wolf war auch entzückt über den Patientenbrief!
d. 14. Januar 1863.
Dies ist eigentlich nur ein Postcriptum zu meinem letzten Bombardement
von Briefen: ich will nur rathen u. bitten daß Sie Selters mit heißer Milch
trinken das Mittel aller Mittel für alle Hals u. Brustleiden. Hufland sagt:
„Selters (natürlich das natürliche, ja kein künstliches) schadet in keiner Krank¬
heit u. hilft in fast jeder", also folgen Sie Hufland u. mir der es eben auch
geholfen hat. Früh u. Abend ein Glas, nur so viel Milch dazu daß es lau
wird u. Abends würzen Sie es noch mit Streuzucker. Wenn Sie ein Uebriges
für uns thun wollen so lassen Sie uns wissen daß Sie wohler sind, u. wenn
Sie wohl, ganz wohl sind, so kommen Sie u. bleiben mit Zinsen.
Der Pinsel, die Malve, der Schawl, die warme Stube haben ihre Pflicht
redlich gethan, und wenn Sie mich überhaupt noch haben wollen, so würde ich
Sie u. Herrn Grafen um die Erlaubniß bitten, Freitag gegen Mittag, der Zug
geht hier um 9 Uhr ab, eintreffen zu dürfen. Doch bitte ich hoch u. höchst
mir Wilhelmen nicht auf den Bahnhof zu senden, ich finde mich als wohl-
emballirtes Collo pünktlich ein, und werde mir nur seine Hilfe beim Abschälen
großer Reisestiefeln ersehnen.
Ich freue mich von ganzem Herzen darauf Sie alle wieder zu sehen.
Wollen Sie mich die bekannten drei Tage dulden, welche nach altdeutschem
Recht dem Gast bewilligt wurden, so würde ich mich bestreben, für diese Zeit
schlechte Eigenschaften, als Straßenrand und Meuchelmord zurückzuhalten. Am
22ten haben wir hier eine Lessingfeier, der ich mich dießmal nicht entziehen
kann, weil ein guter Freund auf Veranlassung meines Kreises unter hiesigen
Blumianern vereinsamt die Festrede hält.
Meine Frau empfiehlt sich herzlich Ihrem beiderseitigen Wohlwollen, ich
sende Ihnen und Herrn Grafen noch einmal vor ersehnten Wiedersehn meine
Grüße und Huldigungen als
Leipzig 21. Jan. ^18^63.
Haben Sie Dank sür den lieben schönen Brief u. für die gute Nachricht
daß Sie kommen. Das Zimmer ist bereits im Stande, nur die Ankunftsstunde
melden Sie in einer Zeile damit Wilhelm an der Bahn sei. Wir fänden uns
wohl selbst ein wenn wir nicht wüßten daß der Reisende gern in der Stille
sich von der Locomotive erholt. — Jawohl empfinde ich mich auch mehr u. mehr
als Reisender auf dieser Welt! aber leider fehlt mir Ihre großartige An¬
schauung des Lebens doch; ich kann mich nur als Mitreisender ein- u. aus¬
bürgern nur in der Freude an den Einzelnen auch die Millionen zu lieben
wähnen u. wenn ich auch weiß daß nichts mein ist, so wäre ich so zu sagen
garnicht, wenn ich nicht wüßte, daß ich angehöre. Das ist ein trauriges Be-
kenntniß aber es würden wohl die meisten Frauen unterschreiben. Indessen
thut es uns doch wohl von der höhern Freiheit zu hören die Sie genießen.
Auf Wiedersehen also! u. die Versicherung der lieben Frau Hofräthin.
daß wir gegen alle „ruppiger" Erkältungen vorbauen wollen.
Weniger als je haben Sie jetzt Zeit die Beschwerden des Einzelnen zu
hören, u. während Sie, will's Gott glücklicher Mitarbeiter an der Welt¬
geschichte sind, den Freunden Rede zu stehn. Aber Sie werden u. müssen mir
dennoch heut Rede stehn: Lieber Herr Hofrath, es giebt ein Wort in der
deutschen Sprache das Sie so hoch halten, daß es Ihnen unbewußt wenn auch
gewiß immer an rechter Stelle, öfter in die Feder kommt als Noth thäte u. wir
begrüßen es immer lächelnd auf jeder Seite Ihrer lieben Bücher, denn es ist
ein Attribut von Ihnen: dies Wort ist ehrlich! auf dies Beiwort haben aber
auch wir die ehrlichsten Ansprüche wenn auch sonst keine andern Ansprüche
u. Rechte an Ihre Freundschaft als Ihre frühere Güte für uns. Und weil
niir ehrlich bester vorkommt als die zartesten anderweitigen Rücksichten, so frage
ich gerade zu: haben Sie einen andern Grund als die nachstehenden von uns
oft durchgesprochnen Möglichkeiten von Ursachen, uns nun bald in einem vollen
Jahr ohne Lebenszeichen zu lassen u. selbst in diesen Zeiten des patriotischen
Herzpochens nicht ein einziges „Halloh! für uns zu erübrigen?
Die möglichen Ursachen die mein Wolf angiebt als:
Unsere Langweiligkeit bei unserm letzten durch betrübte Umstände gestörten
Beisammensein, wollen mir nicht stichhaltig erscheinen, und da ich nicht so
arglos bin als Wolf, so habe ich Sie in dem Verdacht — vergeben Sie mir
wenn ich hoffentlich irre — daß Sie argwöhnisch sind, ich könnte gegen Lotte
nicht reinen Mund gehalten haben? — Wolf ist überzeugt, daß Sie mich viel
zu gut kennen dazu — ich bin's nicht u. vergebe es Ihnen von Herzen; denn
erstens hat's schon Shakespeare gesagt „irailt^ elf name is roman" u. dann
können Umstände vorliegen die ich ahne — u. über die ich nur aus Rücksicht
für Andere nicht schon heut reden möchte, welche Sie noch mehr entschuldigt
erscheinen lassen, als Sie es ohnedies in meinen Augen sind, selbst wenn Sie
mich unter die gewöhnlichen Frauensleute zählten, oder vielmehr unter die un¬
gewöhnlichen, denn ich denke nicht so schlimm von den Frauen.
Nun antworten Sie darauf ehrlich! —
Jetzt zu Schleswigholstein, das uns ganz und gar erfüllt, so daß wir
eigentlich nichts anderes thun und treiben, als Zeitungen erwarten und ver¬
schlingen. Der arme Otto^) von dessen Krankheit Sie wohl gehört haben, er
wäre ja sonst längst in Gotha, lebt noch mehr von hoffnungsvollen Nachrichten,
als von der Medicin. Ist es nicht tragisch daß ein langjähriges Uebel (Blasen-
und Nierenleiden) das ihm die Kugel von Kolding zuerst erzeugt hat, jetzt
gerade wieder in der ganzen ersten Stärke auftritt. Er wollte anfangs gleich
nach Carlsbad um sich wieder dienstfertig zu machen, aber davon wollen die
Ärzte nichts wissen. Er hat uns große und schwere Sorge gemacht. Gottlob
gehts jetzt besser — er liegt sehr mager geworden auf der ZeKaise lonZue
und empfängt Besuch von Officieren und Holsteinern am liebsten. Unter den
Letzten ist der Treuste der eifrige unermüdliche Pastor Rosenhagen, der ohne
Rücksicht auf die Collegen die ihm den patriotischen Eifer in ihrer frömmelnden
Anschauung vorwerfen überall öffentlich für unsere Sache auftritt. Im ganzen
ist der Sachse gut gesinnt, aber ohne Enthusiasmus. Gestern als die Soldaten
auszogen vorläufig auf die Dörfer, konnte ich nicht einen ordentlchen Gassen¬
jungen auftreiben der Schleswig-Holstein hätte leben lassen, von dem Augusten-
burger nicht zu reden. Unser Mäßigkeitsverein, die sächsische Kammer blickt
auch ängstlich zum König auf, der indessen als guter Jurist und der nur der
eignen Prüfung traut wohl sehr wenig mehr gegen den Augustenburger einzu¬
wenden hat. Jetzt nur der Baier für uns u. Alles wäre gut. England nimmt
sicher den Mund voller als die Kanonen? — Louis ist schließlich wie Sie es
oft gesagt haben gar nicht so schlimm u. wo wäre dann der Feind? aber es
lebe der Coburger ohne ihn fehlte ja jeder Schauplatz für unsern Herzog u. es
könnte factisch das Stück nicht aufgeführt werden. Wolf der einige Tage sehr
stumm u. hoffnungslos war, hat wieder neuen Muth gewonnen. Wir leben
so ganz in diesen Ideen daß wir kaum ein Buch in die Hand nehmen u. nur
der gute Reuter hat uns endlich zum Lesen von gebundenen Blättern gezwungen,
man bleibt im Lande bei ihm. — Wolf hat was den Augustenburger betrifft
nur einen Wunsch, daß er wenn er wills Gott unser Herzog wird das liebe
Ländchen nicht mit Kammerherrn und Leibgarde bekannt machen u. in seiner
Unschuld U.Unwissenheit was Höfische Gewohnheiten betrifft lasse. /.Wolf meint,
da Herzog Friedrich ja gar keine Präcedenzien habe könne er das leicht erreichen.
Nun wären wir erst so weit!
Ich hoffe, daß was meine Frau Ihnen eben schreibt, hypochondrische
Grillen von ihr sind. — Eben schickt meine Schwägerin Naumann in Bonn
mir eine vortreffliche Rede die Prof. Jahr in Bonn gehalten hat, in welcher
folgender hübscher Passus vorkommt: „ein 11 jähriger Knabe in Kiel fragte vor
wenigen Tagen seine Mutter: „Wird der Vater den Eid leisten?" Was geht
Dich das an. erwiederte die Mutter. - „Ich muß es wissen, denn wenn der
Vater den Eid leistet, werde ich morgen in der Schule durchgeprügelt; heute
haben wir N. N. geprügelt, weil sein Vater geschworen hat."
Eine englische Familie (Holland) die Brüder u. Vettern im Parlament
hat. haben wir nach besten Kräften über Schleswig-Holstein aufgeklärt.
Jeden Tag gehe ich jetzt am frühen Morgen nach der Stadt Gotha, und
an jedem Morgen, so oft ich den weichen Schaal im Winde um meinen Hals
fühle, denke ich Ihrer mit herzlicher Freude. Bei sämtlichen Eindrücken des
Tages, die oft nicht erfreulicher Natur sind, habe ich, wenn ich sie Abends
summire, den Wunsch mich mit Ihnen darüber zu unterhalten. — Lotte?
Du lieber Gott! Meine liebe Freundin Lotte sieht die Welt zuweilen durch
wunderliche Augengläser an, aber wenn sie auch jetzt geneigt ist, mich als
einen verzweifelten Democraten zu behandeln, so vertraue ich doch, daß sie,
wenn ihr Gelegenheit geboten würde, mir zu schaden oder zu nützen, aus un¬
zerstörbarer Herzensgüte das Letztere vorziehen würde. Und daß Sie meine
armen Worte nicht mit gebundenen Händen an Rhadamanth Lotte ausliefern
würden, davon bin ich so selbstverständlich durchdrungen, daß es mir ordentlich
weh thut, mich nach dieser Beziehung zu rechtfertigen. Nein, liebe Freundin,
es ist nichts. Wenn ich zwei Menschen auf der Welt habe, deren Verhältniß
zu mir ich als fest und unzerstörbar betrachte, so sind Sie diese beiden. Es
:se ein mildes, freundliches, wohltuendes Licht, das in Ihnen auch zu meinen
Gunsten brennt, und es erschreckt mich ordentlich, daß Ihr Brief annimmt, es
könnte ein Schatten zwischen uns fallen. Nun giebt es für mein nicht Schreiben
keine Entschuldigung. Und ich mache keine. Die Langmuth die Sie mir
früher bewiesen, habe ich diesmal unbillig in Anspruch genommen. Es ist mir
mit allen meinen Lieben so gegangen. Seit länger als einem Jahr, seit 2
Sommern, existiere ich wie eine Raupe, die sich vollgeschmaust hat. und jetzt
ehren trägen Puppenzustand durchmacht. Was an Gespinst herauskommen
wird, weiß man nicht, es mag nicht viel Gutes werden, aber das Geschöpf selbst
wird freier, u. ich hoffe ein wenig stärker und besser mit neuen Flügelchen aus
diesem Traumleben herausschlüpfen.
Unterdeß ist mir die Arbeitzeit durch die Politik sehr zerbrochen worden.
Und seit vier Wochen so sehr, daß ich in meinen eigenen Geschäften keine Zeile
geschrieben habe. Ob dieses Kümmern um Dinge, die nicht meines Handwerks
sind, von meinen Freunden als ein Fehler betrachtet wird, darüber bin ich
unsicher. Ich selbst habe dabei das unbefriedigende Gefühl, daß ich nicht
wesentlich nütze. Ueber die Sache selbst, welche uns Alle so sehr beschäftigt,
schreibe ich an Hrn. Grafen. Daß derselbe die Aufforderung, nach Paris zu
gehen, nicht angenommen hat, war ganz recht. Es war vorläufig doch nicht
viel zu machen, und der kleine Erbprinz von Reutz, der den Auftrag übernahm,
hat wie sich erwarten ließ, nur unbestimmte Reden erhalten, aber allerdings
freundliche Aufnahme. Die Frage paßt in die Politik des Kaisers, und seinem
Wesen u. Interesse nach muß er ihr günstig sein. Doch wird er sich hüten,
irgend eine Entscheidung zu treffen, bevor er sicher ist, welche neue Allianzen
er dadurch erhalten und wie er dadurch seine Stellung in Europa verbessern
kann. Von dem Lauf der Dinge in Preußen hängt auch die Entscheidung
dieser Frage zur Zeit noch ab. Bleibt der Unsinn dort an der Regierung, so
zieht sich die günstige Lösung durch unberechenbare Kämpfe hin. Es ist furcht¬
bar, daß noch immer Glück u. Ehre einer Nation bei uns zu sehr von dem
zufälligen Entschluß eines einzelnen Mannes abhängt. Und daß wir in Preußen
das noch erleben mußten, haben wir wahrhaftig nicht verdient. Denn wie
jung u. unbehilflich unsere Volkskraft ist, der Wille ist fast überall gut. Mich
rührt am meisten bei dem, was mir hier durch die Hände läuft, die Bereit¬
willigkeit der zahlreichen Einzelnen, welche hierher zugereist kommen, ihr Blut
u. Leben anzubieten. Tüchtige Leute sind darunter. Und man empfindet zu¬
weilen sorgenvoll, wie groß die Verantwortlichkeit derer ist, welche die Politik
der neuen Regierung zu leiten haben.
Meine Frau trägt mir auf, Ihnen ihre innigsten Empfehlungen auszu-
zurichten. Ich aber bitte Sie, unverändert lieb zu behalten
Siebleber d. 20 Dec. t18M.
Wenn ich Ihnen über die hiesigen Verhältnisse kurz berichte, bitte ich Sie.
das Ungenügende mit der Rücksicht zu entschuldigen, welche nicht durch die
Discretion, sondern durch die Sorge geboten wird, eine augenblickliche Stim¬
mung in der Seele Anderer zu sehr zu fixieren. Ueber solche Dinge ist nur in
fortlaufendem Bericht, oder in mündlicher Unterhaltung genügend zu verhandeln.
Die leitenden Persönlichkeiten hier sind außer dem Herzogs) Samwer^),
der badische Gesandte von Edelsheim, (ein Freund Roggenbachs"). Alle
übrigen haben nur gelegentlichen Einfluß.
Der Herzog ein ernster Mann, nicht ohne Geschick für Geschäfte, ist zum
äußersten entschlossen, und es wird ihn. wie seine Vertrauten sagen, wenig
kümmern, ob hinter ihm die deutschen Fürstenstühle verbrennen, wenn er da¬
durch in Schloß Gottorff eingeführt werden kann. Aber zwischen dem Willen
Alles zu wagen und der Fähigkeit, kühn den richtigen Moment zu fassen, ist
ein großer Unterschied.
Den größten Einfluß hat Samwer. Er ist vortrefflich in correcten kleinen
diplomatischen Mitteln, aber trotz seiner innern Leidenschaftlichkeit, die ihn in
den ersten Tagen mit schnellem Uebergange aus Thränen in Jubel versetzte,
ist er für ein festes entschlossenes Draufgehn nicht gemacht. Ueberreich an Er¬
wägungen und Bedenklichkeiten, übermäßigen Werth auf die Formen und
diplomatische Seite der Sache legt, voll ewiger banger Furcht, daß der Herzog
sich durch zu enges Anschließen an die Volkswünsche compromittiren könnte,
plagt, hetzt er sich und andre aus einer Stimmung und einem Plan zu
einem andern.
Und mir scheint trotz seiner angestrengten 4 wöchentlichen Arbeit sind die
Hauptsachen nicht gethan. Noch hat die Regierung nicht einmal das Geld,
die ersten Anzahlungen auf einen Wasserlauf zu machen. Der Augustenburger
hätte in den ersten Tagen auf seine Güter einige 100 000 THIr. aufnehmen
können, das ist nicht geschehen, der neue Herzog kam hierher, nachdem er
ewige Jahre als stiller Prätendent in Dolzig gesessen, ohne jeden Plan für
eine militärische Organisation, ohne einen Commandeur in Pekko zu haben, und
man fing durchaus mit Nichts an.
Oberst Duvlat, der die militärische Seite vertritt, ist ein sehr guter, ver¬
ständiger, lieber Mann, aber von einem Organisateur. Führer, festen Techniker
hat er gar nichts. Und ehe man sich entschloß, wie man sich zu den Comitis
. Sammlungen stellen, ob freiwillige u. wie, Uniform 2c. vergingen Wochen.
. ^ ^n Gewehr, u. außer zwanzig Probeuniformen, die
,un.5n °^z"M"gen habe, noch gar nichts. Als den Plan Käppis an-
Willen "t^' ^" P^betornister. General Stutternheim war gegen Duplats
"5 ^ Hin. noch nicht abgeschlossen. Aber man weiß keinen
Andern, der bereit sein würde.
D:ehe Mängel werden zum Theil ergänzt durch Edelsheim. Der Badner
d N?l?^^' ^ ^ rücksichtsloses Vorgehen, Roggenb. hat auch
me ^ad:schen Militärkräfte, soweit si? abgeben können, für Formation u. Aus¬
rüstung des Heeres zur Disposition gestellt. Magazine. Sammelorte zum Ein-
exercnen der Unteroffiziere :c.
Unterdeß drängt die Zeit. Dienstag kommen die Stände in Altona zu¬
sammen, proclamiren den Herzog, Mittwoch ist große Volksversammlung in
Elmshorn. procl. den Herzog. Vielen Holsteinern scheint, daß dies der richtige
Moment sei, wo der Herzog, unmittelbar hinter den Sachsen, sein Land be¬
treten müsse. Die Politik gegen die Bundescommissare ist besprochen, die
Verabredungen laufen durch das Land. Jedenfalls ist der Augenblick eines
entscheidenden Vorgehens gekommen. Denn wenn die Bundescommissare sich
erst hinter den abziehenden Dänen festgesetzt u. die Verwaltung in die Hand
genommen haben wird der Herzog bei Seite gedrückt. Dazu kommt, daß
sofort nach dem Einmarsch der Bundestruppen die Großmächte (auf Betrieb
Bismarcks u. Rechbergs) Alles anwenden werden, den Grund der Execution
durch neues Abkommen mit Dänemark rückgängig zu machen, und wir stehen
dann vor einem neuen !ait ÄLcompIi, weit ärger als das Londoner Protokoll.
So ist allerdings geboten, durch ein kalt zuvorzukommen, welches wenigstens
England u. Preußen erschwert, die neuen Packe zu schließen. Und dies 5ait
kann nur ein großartiges pronunLiamento des Landes Holstein sein, und die
Holsteiner verlangen dazu den Herzog.
Wie gewagt u. exponirend auch der Schritt ist, ich meine er müßte hin. Jn-
cognito in Hamb. bleiben, bis der Moment in das Land zu gehn gekommen.
In Hamburg kann er sich wohl verborgen aufhalten, er erfährt dort alles eher
und gründlicher, als hier unter feinen Emigranten.
Ich zweifle, ob man sich hier dazu entschließen wird. Er kommt heut
Abend von München, u. müßte, wenn er die rechte Stunde treffen will, bereits
in den nächsten Tagen abgehn.
Nun wäre allerdings für den ersten Moment ihm der Entschluß erleichtert,
wenn man sich im Palais hätte entschließen können, einige militärische Vor¬
bereitungen zu treffen. Es mag ein Moment kommen, wo die Bundestruppen
nach einem Pronunciren des Landes still halten, beim Eintreten des Herzogs
sich zurückziehen u. wo eine kleine holsteinische Truppenzahl, wenn auch nur
wenige Bataillone, in die Lage kommen würde, einer dänischen Abtheilung
Widerstand zu leisten. Es wäre wohl möglich gewesen, aus den vorhandenen
gedienten u. fahnenflüchtigen Holsteinern mit Hilfe badischer Offiziere u. einigem
Zuzug gedienter Leute u. freiwillige aus Deutschland eine Zahl von 3—5
schwachen Bataillonen im Lande einzukleiden u. zu formiren, wenn man für
die Spedition des Nöthigen Materials nach Hamburg gesorgt hätte. Daß
dies nicht geschehen, macht die Lage des Herzogs, wenn er hinter den Bundes¬
truppen sein Land betritt, nicht sicherer und setzt ihn dem Ueberfall jedes
dänischen Streifcorps aus. In jedem Fall wäre bei den verworrenen Ver¬
hältnissen, welche in den ersten Tagen u. Wochen nach dem Einmarsch der
Bundestruppen stattfinden müssen, die rechtzeitige Vorbereitung für solche mög¬
liche Eventualität zweckmäßig gewesen.
Man hat das ängstlich vermieden. Und obgleich man die lebhafte Em¬
pfindung hat, daß der warme Wille des deutschen Volkes das beste Agitations¬
mittel für den Herzog sei, ist doch das Treiben der Comitis, ihre Ein-
zsichnungen, das vorläufige Exerciren der süddeutschen Freiwilligen viel mehr
Gegenstand des Argwohns, als der Freude. Und doch weiß man, daß man
in diesem Frühjahr wenn Alles aufs Beste geht, ein Heer von 40—50 000
M. braucht, um Schleswig zu erobern. Man hat Furcht, den Baiern,
Preußen, Oestreichern, Sachsen als Demokrat zu erscheinen!
Sie sehen, ich bin in stiller Opposition gegen die Stimmungen des Palais.
Und ich habe dort keinen Einfluß, als in Nebendingen, ich habe mit Samwer
bereits vor 3 Wochen mich ausgesprochen, und ihm gesagt, daß seine ganze
Arbeit nur ein anständiges Prätendententhum sichere, u. ich bin längere Zeit
weggeblieben, mit einer bescheidenen Thätigkeit für Duplat, die Comitis u. die
persönlichen Meldungen mich hinziehend.
Bei Alledem ist die Sache so gut, daß sie durch einzelnes Schwanken
u. Quergehen nicht verdorben werden kann. Und obgleich es viel schöner
u. besser ist, wenn ein leitender Geist Alles in sicherem Gemüthe überdenkt,
so ist doch der gewöhnliche Verlauf auch großer Ereignisse, daß sie in den
ersten Stadien ihres Werdens durch ein Zusammenwirken u. Schreien Vieler
gefördert werden. Man kommt vorwärts, treibend u. getrieben. So wirds
auch hier gehen.
Mit der Bitte, Hrn. General von mir aufs herzlichste zu grüßen bin ich,
mein hochverehrter würdiger Freund in treuer Verehrung
Siebleber 20 Dec ^18^63.
(Schluß folgt)
an mag gegen die einzelnen Vorschläge der Bodenreformer noch
so begründete Einwände vorzubringen haben, das beseitigt nicht
ihr unbestreitbares Verdienst, daß sie eine große, vielleicht die
größte Aufgabe erhaltender Sozialpolitik richtig herausgefühlt und
scharf zur Erörterung gestellt haben.
Der Kern der bodenreformerischen Bestrebungen ist bekanntlich der, daß
sie der Gesamtheit einen Anteil am selbsttätig entstehenden Wertzuwachs des
vaterländischen Bodens sichern wollen, und daß sie, was der wichtigere, der
aufbauende Teil ihrer Bestrebungen ist, dafür sorgen wollen, daß in den Händen
einer öffentlich rechtlichen und nicht nach privatwirtschaftlichen, sondern nach
gemeinnützigen Gesichtspunkten handelnden Person immer wenigstens soviel
Boden zur Vergabung an einzelne Nachfragende zur Verfügung steht, um ein
privatkapitalistisches Monopol auf dem Grundstücksmarkt nicht aufkommen zu
lassen. So läßt sich wenigstens das am meisten gemäßigte Ziel ungefähr
zusammenfassen; und gegen dieses Ziel an sich ist jedenfalls von keinem Stand¬
punkt, auch nicht dem einseitigsten manchesterlichen, etwas einzuwenden. Gegen
das Ziel als solches. Bei den zu ergreifenden Mitteln würden freilich sofort
wieder die Meinungsverschiedenheiten beginnen.
Die bisher vorgeschlagenen und zum Teil, besonders von Gemeinden, wie
in größerem Maßstab in Ulm, verwirklichten Maßregeln kranken nun alle mehr
oder minder an einem inneren Zwiespalt, in dem freilich zugleich die ganze
Schwierigkeit der Frage sofort in der knappsten und einleuchtendsten Weise
entgegentritt: der im Grunde unlösbare und in jeder wirklich lebenden Gesell¬
schaftsbildung — im Gegensatz zu einer zurechtgedachten — immer nur
vermittelnd und mit wechselnden gegenseitigen Zugeständnissen lösbare Gegensatz
von Individualismus und Sozialismus.
Jener innere Zwiespalt liegt meines Erachtens darin, daß die bisher vor-
geschlagenen Maßregeln, um in der gewollten sozialpolitischen Richtung wirklich
wirksam zu sein, das Eigeninteresse des einzelnen, die stärkste und an Arbeits¬
energie durch keinen sozialen Antrieb zu ersetzende Produktivkraft, zu sehr
lähmen; daß sie, mit anderen Worten, in einer sowohl für den ganzen Gesell¬
schaftsaufbau wie auch für den summenmäßigen Ertrag der nationalen Wert¬
erzeugung bedenklichen Weise nach der sozialistischen Lösung hin gravitieren,
während umgekehrt andere Lösungen, deren Befürworter sich der in der eben be¬
zeichneten Richtung liegenden Gefahr nicht verschließen, mit ihren zaghafteren
Mitteln die angestrebten sozialpolitischen Ziele nur mangelhaft oder gar nicht
zu erreichen vermögen.
Man hat bei städtischen Grundstücken die Form des Erbbaurechtes im Sinne
der bodenreformerischen Ziele verwendet: indem die betreffende öffentlich recht¬
liche Körperschaft Eigentümerin des Bodens bleibt und den einzelnen Boden¬
bedürftigen nur ein vererbliches und veräußerliches Bebauungsrecht überträgt.
Wird dieses nun ohne zeitliche Begrenzung, auf immer, bestellt, so bleibt dem
Eigentümer nur ein inhaltloses Recht, ein nuclum zus. Wird das Erbbaurecht
aber, wie es bei den erwähnten städtischen Bodenrechtsbestrebungen meist
geschieht, nur auf Zeit bestellt, so sind zwar die für die vergabende Gemeinde
angestrebten Rechte wirksam gewahrt, aber dann ist eben die private Rechts¬
sphäre des einzelnen Bodennehmers zu eng. Der Bodenbebauer, der in abseh¬
barer Zeit ein Erlöschen seiner Beziehung zu diesem Boden vor sich sieht, wird
sich nicht in dem Maße mit seinem Besitz seelisch verbinden wie der Grund¬
eigner. Jener Nutzungsberechtigte steht, trotzdem sein Recht vererblich und
veräußerlich gestaltet wird, doch insofern einem kündbaren bloßen Pächter nahe,
als eben der Zeitablauf als solcher ihm in absehbarer Zeit aufkündigen wird,
und er wird von Anfang an und mit den fortschreitenden Jahren in steigendem
Maße langfristiges Planen, Meliorationen, dauernde Anlagen scheuen.
Ist die Bestellung zeitlich unbegrenzter Erbbaurechte an die Privaten zu
individualistisch, das heißt, wird bei ihr der angestrebte sozialpolitische Zweck
nicht in genügendem Maße erreicht, so ist die von vornherein festgelegte zeit¬
liche- Befristung des Einzelrechtes zu sozialistisch, das heißt, sie beengt den
einzelnen und seine wirtschaftliche Tatkraft in einem für die Belange der
Gesamtheit nachteiligen Maße.
Nun kann freilich, wie schon zu betonen war, jede praktische Lösung sozial¬
politischer, ja überhaupt politischer Aufgaben stets nur einen mäßigen und
mittleren, fehr wenig grundsätzlichen, daher allemal mehr oder minder dialektisch
anfechtbaren Ausgleich zwischen äußerstem Individualismus und äußerstem
Sozialismus darstellen. Ganz grob veranschaulicht: auch ein extrem sozialistischer
Staat, wie etwa der alte Jnkastaat oder der frühere Jesuitenstaat Paraguay,
müßte, trotz Gemeineigentum aller Produktionsmittel und Arbeitsprodukte, doch
die erarbeiteten verbrauchbaren Güter — H 92 B. G. B. —. die nur einem
einzelnen und^ nur ein einziges Mal zur bestimmungsgemäßen Bedürfnis-
befriedigung dienen können, schließlich einmal zu ausschließlichem Privateigentum
verteilen, weil an ihnen eben keine gemeinsame Nutzung, sondern nur eine alle
anderen ausschließende Nutzung durch einen einzelnen möglich ist. Und anderer¬
seits wird auch ein extrem individualistischer, ganz nach den Wünschen des
Herrn Cobden und der Manchestermänner gestalteter Staat doch für die öffent¬
lichen Straßen und Plätze eine das Privateigentum ausschließende und die
gemeinsamen Benutzungsrechte irgendwie sichernde Rechtsform finden müssen.
Daß wir, unter dem Druck individualistischer Denkweisen, juristisch heute die
Rechtsstellung der öffentlichen Sachen dieser Art als ein Privateigentum der
betreffenden Körperschaft, mit gewissen öffentlich rechtlichen Beschränkungen dieses
Privateigentums, auffassen, ist nur eine Konstruktion, und zwar eine dem Sach¬
verhältnis Zwang antuende Konstruktion.
Die Besitzform des ausschließlichen Privateigentums einzelner oder doch
ganz enger sozialer Gruppen wie der Familie — wie beim Familienfideikomiß
und im Grund bei allen gebundenen Güterformen, wenn es auch juristisch
nicht so formuliert wird — wird auf entwickelten Wirtschaftsstufen immer eine
und sogar die vorherrschende Form der Verteilung auch des Grund und
Bodens bleiben müssen, weil die Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit und Arbeits¬
energie des Eigennutzes und Eigeninteresses sich durch keinen sozialen Beweger,
wie Zwang. Pflichtgefühl, Gemeinsinn oder Entsprechendes ersetzen läßt.
Mindestens bei den arischen Völkern ist nachweisbar der vorherrschende Sozial¬
besitz gerade für die anfänglichen Zustände und für eine rohe Entwicklungsstufe
kennzeichnend; und umgekehrt ist das selbständigere Hervortreten der Persönlich¬
keit und ein erweiterter Wirkungsraum des Einzelwesens gegenüber den es
umfassenden sozialen Verbänden ein Kennzeichen höherer Kulturstufe auf den
verschiedensten Gebieten der Kulturtätigkeit. Sozialismus, hier Gemeineigentum
des gesamten Bodens, ist nicht ein Ziel, sondern vielmehr eine Kindhettsstufe
der wirtschaftlichen Entwicklung, die z. B. Rußland jetzt erst, mit den Agrarreformen
Kriwoscheins, zu überwinden im Begriffe war.
Den Ausgleich zwischen dem Gesamtinteresse auf der einen Seite und der
notwendigen Rücksicht auf das Einzelwesen — nicht um dessentwillen, sondern
mittelbar auch lediglich wegen der Gesamtheit, weil nämlich die Arbeitsenergie
des Eigennutzes in der Gesamtarbeitssumme nicht zu entbehren ist — scheint
mir nun für die Bodenfrage die Vergabung nach Lehenrecht in vollendeter
Weise darzustellen. Als das Wesen dieser Landvergabungsform wird dabei
hier angesehen, daß der von der Gesamtheit vergebene Boden veräußert wird
an den derzeitigen Nachfrager und die Nachkommen dieses ersten Lehens-
nehmers; mit völlig freier Bestimmung über die Wirtschaftsart des Grund¬
stücks, über dessen Veränderung; mit dem Recht der Weiterüberlassung, auch
der Vererbpachtung für seine Besitzzeit; nur eben mit der Schranke, daß das
Grundstück mit dem Aussterben der Nachkommen des ersten Redners an die
verleihende öffentlich rechtliche Person zurückfällt und mit diesem Zeitpunkt die
durch den Lehensnehmer für Dritte begründeten Rechte erlöschen.
Diese Vergabungsform enthält einerseits das Maß von individualistischen
Antrieb und Spielraum, das man fordern muß. Wer sicher ist, daß der
Grund und Boden, den er bebaut, unentziehbar ist, solange sein Blut noch
besteht, der fühlt wie ein Eigentümer; er wird nicht durch den Gedanken an
das Erlöschen seines Rechts am Boden in seinen Maßnahmen und Plänen
auch langfristiger Meliorationen beengt sein. Denn jeder rechnet eben mit dem
Weiterbestehen seines Blutes; er glaubt daran, weil er es hofft. Daß dieses
bevölkerungspolitisch wünschenswerte Bestreben hier durch wirtschaftliche Gründe
verstärkt wird, wäre ein weiterer Vorzug dieser Leiheform, wovon noch zu
reden ist.
Der angestrebte sozialpolitische Zweck wird aber andererseits ebenfalls in
ausreichendem Maße erreicht werden, da nach Naturgesetzen doch immer wieder
Familien aussterben und dadurch immer wieder Boden frei wird, den die be¬
treffende öffentlich rechtliche Körperschaft nun neu an Bodenbedürftige veräußern
kann. Dadurch hat die Lehensvergaberin es immer wieder in der Hand, eine
sachgemäße Bodenpolitik zu treiben und Bestrebungen zur Monopolisierung des
Bodenmarktes und entsprechende Preistreibereien zu hindern.
Gewisse Sicherungsmaßregeln gegen Vernachlässigung, wie sie dem Eigen¬
tümer gegen den Nießbraucher zustehen, könnten dem Lehensvergaber für die
Zeit eingeräumt werden, wenn der Heimfall des Lehens schon in sicherer Aus¬
sicht steht und deshalb eine unpflegliche Behandlung des Grundstücks durch den
letzten Lehensberechtigten zu besürchten ist.
Für die Belastung des Grundstücks durch den Lehensnehmer müßten aller¬
dings besondere Grundsätze geschaffen werden, in Anschluß an die bei der
Dürftigkeit der Bestimmungen des BGB. auch erst im Werden begriffenen
Grundsätze über die Belastung des Erbbaurechts; freilich hier mit der be¬
sonderen Schwierigkeit, daß das zu belastende Recht durch Todesfälle plötzlich
endigen kann. Diese besondere Natur des zu betastenden Rechts wird viel¬
leicht das Bereitstellen von Versicherungen notwendig machen gegen ein plötz¬
liches Erlöschen des Rechts innerhalb einer bestimmten Amortisationsfrist, die
man für die Belastungen des Lehensrechts wohl vorschreiben müßte. Jedenfalls
werden die suriftisch-technischen Schwierigkeiten überwindbar sein. Man hat
sich überhaupt unter dem Einfluß einseitig romanistisch gebildeter Juristen viel
zu sehr daran gewöhnt, den Gesichtspunkt der formalen dialektischen Einfachheit
und der leichten Handhablichkeit juristischer Gebilde voranzustellen und zu
unterstreichen. Als ob nicht die Wirkung der Rechtseinrichtungen im staat¬
lichen und gesellschaftlichen Leben das Wesentliche wäre. Dem Spott Iherings
über die Verwickeltheit und Vielgestalt der deutschrechtlichen Landleiheformen ist
von germanistischer Seite, durch Heusler, seinerzeit einmal eine ebenso ver¬
diente wie gründliche Abfuhr widerfahren durch den Hinweis darauf, daß
diese allerdings juristisch verwickelten und nicht gerade zur Stufe der dialekti¬
schen Begriffsschönheit aufgestiegenen Gebilde eben die Aufgabe erfüllt haben,
dem Landbauer, obwohl er . nicht Eigentümer des von ihm bebauten Bodens
war. ein unkündbare Stelle zu verschaffen und so die Grundlagen der Wieder¬
herstellung beziehentlich Schöpfung eines selbständigen Bauernstandes auch in den
Gegenden Deutschlands zu erhalten, wo dieser sich die Stellung des freien Grund¬
eigentümers nicht zu erhalten, beziehentlich zu erwerben, vermocht hatte.
In Schottland kamen im achtzehnten und im Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts die Clanshäuptlinge auf den Rat römisch geschulter Juristen
auf den Gedanken, ihre lehensherrlichen Obereigentümerrechte am Boden ein¬
fach als das begrifflich durch seine Einfachheit und Lastenfreiheit so bestechende
römische Eigentum und die Nutzungsrechte der Clansleute folgertchtigerweise
als einfache Pacht aufzufassen — mit der Wirkung, daß diese Leute zu Tausenden
gekündigt und ausgetrieben wurden; ein Raubzug im Großen, ausgeführt
mittelst jener menschlich besonders abstoßenden „Mischung von Straßenrand
und Advokatenkniff", nach dem treffenden Ausdruck Carlyles, die Ludwig der
Vierzehnte bei der Angliederung, der „Reunion", des Elsasses und Napoleon
unter anderen bei der Wegnahme von Holland nach dem Recht der „Alluvion"
anwendete.
Das römische Recht hat bekanntlich bewegliche Habe und Liegenschaften
rechtlich grundsätzlich gleichgestellt. Das deutsche Recht hat diese beiden tat¬
sächlich und wirtschaftlich völlig verschiedenen Güter ebenso grundsätzlich aus-
einanderzehalten und diesen Standpunkt auch nach der Aufnahme des römischen
Rechts festgehalten. Unser Gesetzbuch faßt bekanntlich Grundstücke und Fahrnis
unter den gemeinsamen Begriff der körperlichen Sache zusammen, aber eigentlich
nur auf dem Papier. Tatsächlich ist Liegenschaftsrecht und Fahrnisrecht in
unserem Gesetzbuch durchaus unterschieden geregelt, wie es auch nicht anders
sein kann. Nur ganz wenige Rechtssätze gelten gemeinsam für beide Arten
von Sachen.
Es ist hier nicht der Platz, die gewaltige, geradezu für das ganze
Schicksal der antiken Kultur ausschlaggebende Bedeutung der Tatsache zu er¬
örtern, daß das römische Recht kein Agrarrecht ausgebildet hat, sondern die
für das bewegliche Kapital bestimmten und mit entwickelter Wirtschaft immer
im Sinne rein mammomstischer Gesellschaftsgliederung wirkenden Rechtssätze ein¬
fach auf den Grund und Boden übertrug.
Die deutsche Rechtsordnung hat sich ein besonderes Liegenfchaftsrecht nicht
ganz rauben lassen, auch nicht durch die Annahme des römischen Rechts und
die Renaissance — jene schweren aber zu unserem Heile doch nicht ganz ver¬
nichtenden Schläge, die dem deutschen Wesen durch nachwirkende klassizistische
Einflüsse zugefügt wurden.
Es kann wie gesagt hier nicht weiter ausgeführt werden, wie diese Ver¬
schiedenheit der deutschen gegenüber der römischen Rechtsordnung auf politisch-
sozialem Gebiet und selbst darüber hinaus für die beiden selbständigen Kultur¬
formen kennzeichnend ist, die die europäische Geschichte bisher erlebt hat: für
den Gegensatz der mittelmeerländisch-antiken, hellenistisch-semitischen Kulturform
zur nordeuropäisch-christlichen, germanischen Kultur.
In einer Richtung nun hängt aber dieser sehr umfassende, man kann
ruhig sagen, dieser weltgeschichtliche Gegensatz sehr nahe mit unserer eng be¬
grenzten Bodenfrage zusammen. Wir sind immer noch beeinflußt von jener
römisch-rechtlichen Besonderheit, man möchte sagen, Perversität, Liegenschaft
und Fahrnis rechtlich gleich zu behandeln. Und das ist unzweifelhaft falsch,
übrigens selbst vom rein technisch - juristischen Standpunkt, weil die Begriffe
und Grundsätze, die für bewegliche Sachen entstanden waren und dann vermöge
jener Überstarrheit des römischen Rechts einfach auf die erst später dem
Privatrechtsverkehr unterfallenen Grundstücke übertragen wurden, schon rein
logisch gar nicht auf diese passen.
Der Grund und Boden ist unzweifelhaft keine Ware wie jede andere auch.
Erstens, weil er nicht hergestellt werden kann, weil das Angebot sich dem
Bedarf nicht anpassen kann, sondern bei gedeihenden Volkstum eine stetig
steigende Nachfrage einem stetig sich gleich bleibenden Vorrat gegenübersteht.
Und zweitens und vor allem, weil er nicht bewegt werden kann. Das klingt
sehr selbstverständlich, aber es ergibt eine recht wichtige und trotz ihrer ein¬
leuchtenden Natur noch wenig betonte Folgerung für das volkswirtschaftliche
Wesen des Handels mit Grundstücken. In der bewirkten Ortsveränderung
liegt der volkswirtschaftliche Nutzen des Handels. Wer Getreide, das am Ort
seiner Erzeugung verfaulen müßte, in Gegenden verbringt, wo es gebraucht
wird, leistet eine Arbeit, die in höchstem Maße werterzeugend ist. Der privat¬
wirtschaftliche Gewinn entspricht dabei einem von ihm produzierten gesamtwirt¬
schaftlichen Mehrwert. Und so kann, wie man kaum zu betonen braucht, auch
schon das bloße Sammeln von Vorräten, das Erhalten und Sichten von Waren
volkswirtschaftlich produktiv sein, indem es eben diese zur Verteilung des Produkts
nötige Arbeit leistet. Da nun der Grund und Boden keinerlei Bewegung und
Verteilung erfahren kann, liegt bei ihm. wenn einer z. B. einen Bauplatz kauft,
nicht um ihn irgendwie zu benutzen, sondern nur um ihn später mit Gewinn
weiter zu veräußern, wenn ihm das gelingt, lediglich ein privatwirtschaftlicher
Nutzen vor; was der Händler gewonnen hat, belastet den späteren Benutzer des
Bodens im genau entsprechendem Maße. Der bloße Handel mit dem Grundstück,
also abgesehen selbstverständlich von Anlagen und Kapitalverwendungen auf dem
Grundstück, die etwa bei dieser Gelegenheit vorgenommen worden sind, ist in
keiner Weise produktiv.
Man spricht von einem zu schaffenden staatlichen Getreidehandelmonopol.
Obwohl der Getreidehandel an sich unzweifelhaft wirtschaftlich notwendig und
produktiv ist, scheut man den Gedanken nicht, das Betätigungsfeld des privaten
Handels derart einzuengen. Der gewerbsmäßige Handel mit Grundstücken
kann sicherlich noch viel unbedenklicher eingeschränkt oder selbst geopfert werden,
wenn sich derartige Maßregeln etwa gegenüber den großen Terraingesellschaften
als notwendig herausstellen sollten, um den öffentlich rechtlichen Körperschaften
zunächst das zu einer Landvergabung im größeren Maßstab notwendige Gelände
zu verschaffen. Wir hoffen natürlich zunächst darauf, wovon noch zu reden
sem wird, daß das zur Verbesserung unserer strategischen Lage sowohl wie
zur Siedelung von. Volksgenossen unserem Staatsgebiet anzugliedernde Land
die erste Unterlage für die vorgeschlagene Bodenpolitik bilden wird. Auch die
jetzt im größeren Umfange durch Gefangenenarbeit unternommene Urbarmachung
von Mooren und sonstigem Ödland wird vergabbares Gelände in öffentliche
Hand bringen; zu dem, was von früher her als Domäne oder sonst schon
vorhanden war und oder in neuerer Zeit durch die Bodenpolitik einiger Ge¬
meinden in deren Hand kam. Man sollte sich bei Erwägung von einschränken¬
den und selbst prohibitiven Maßregeln gegenüber der Terrainspekulation immer
vor Augen halten, daß der Handel mit Grundstücken wegen der Unbeweglich-
keit des gehandelten Gegenstandes überhaupt kein Handel im volkswirtschaft¬
lichen Sinne ist.
Als das Wesentliche der in diesen Ausführungen vorgeschlagenen Land¬
vergabungsform wird wie gesagt angesehen, daß die Vergabung erfolgt an den
ersten Redner und an die unbeschränkte Reihe der Fortsetzer seines Blutes,
also ohne eine absehbare Grenze der Befitzzeit, damit der einzelne Lehensnutzer
sich wie ein Eigentümer fühlen kann; daß es sich aber andererseits eben doch
um eine bloße Lehensvergabung des Bodens handelt, sodaß bei dem Aussterben
von Familien immer wieder Boden an die öffentlich rechtliche Körperschaft
zurückfällt und zur Weitervergabung an andere private Redner frei wird. Ein
besonderes Erbrecht, wie etwa ein Vorzug des Mannstamms, ist damit an sich
noch in keiner Weise erfordert. Ebensowenig andere Anforderungen wie etwa
Wehrfähigkeit des Lehensträgers. Wenn die Vergabungsform etwa zur Schaffung
einer Militärgrenze benutzt werden soll, könnte man sich dem alten Lehenrecht
in dieser Richtung noch weiter annähern.
Um bei jahrhundertelanger Besitzzeit zu weit zurückgehende und darum
unsichere Verwanoschaftsprüfungen über Abstammung vom ersten Redner zu
vermeiden, wird es zweckmüßig sein, solche Nachkommen des ersten Redners
als nicht mehr lehensberechtigt anzusehen, die drei Geschlechterfolgen lang dem
Gute völlig fremd waren. Auch so noch wird die Verleihung an die Geschlechter¬
folgen, die das Wesen der vorgeschlagenen Verleihungsform ausmacht, den
Familiensinn und Familienzusammenhang stärken. Auch ohne besondere recht¬
liche Voraussetzung der Lebensfähigkeit im Sinne der Wehrfähigkeit wird
wenigstens bei jeder Neuverleihung die vergabende öffentliche Stelle in der
Lage fein, Bevölkerungshygiene zu treiben und selbst im Sinne der „eugenischen"
Bestrebungen zu wirken, indem sie gewisse gesundheitliche Anforderungen an
die Bewerber stellt und die Starken und Gesunden bevorzugt.
Bevölkerungspolitik im engeren Sinne, als Sicherung und Vermehrung
des Bevölkerungszuwachses wird künftighin in Europa eine dringende Aufgabe
sein. Und nicht erst seit dem Weltkrieg mit seinen furchtbaren Verlusten an
europäischen Menschen. Das Problem selbst war in dem Sinken der Geburten¬
ziffer schon vorher da. Auch für uns. Wenn auch nicht ganz fo dringend
wie für Frankreich. Die zur Sicherung unserer Stellung und keineswegs zur
„Befreiung" aller möglichen interessanten Mindereuropäer nach dem Krieg
vorzunehmenden Gebietserweiterungen werden uns hoffentlich die Anwendung
des wirksamsten Mittels gegen sinkende Geburtenziffern, die Landsässtgmachung
von Menschen, in großem Maßstab gestatten. Die Entschädigung der Invaliden
wird, wo irgend die persönlichen Verhältnisse des Invaliden, sein früherer
Beruf und seine körperliche Eignung es gestatten, möglichst in dieser Weise
zu erfolgen haben. Daß die hier vorgeschlagene Vergabungsform durch den
drohenden Heimfall bei fehlenden Leibeserben einen besonderen Anreiz zur
Familiengründung schafft, wird einleuchten.
Aber nicht darin, sondern in dem steten Freiwerden und Neuvergaben
von Landstellen, und in der dadurch ermöglichten Bodenpolitik liegt die eigent¬
liche Bedeutung der Maßregel.
or kurzer Zeit erschien in Dänemark ein Buch, das großes
Aufsehen erregte und sowohl in der Presse als unter den Leuten
stark diskutiert wurde. Das Buch, das auch sür Deutsche Jnter-
esse hat. heißt „Vergangenheit und Zukunfts-Gedanken über Däne¬
mark", und der Verfasser ist der Sekretär im Zentralausschuß sür
Industrie, der junge Volkswirtschaftler Paul Drachmann, ein Sohn des
berühmten Dichters Holger Drachmann.
Das Buch, das stark rationalistisch ist. beschäftigt sich mit den Aufgaben
Dänemarks nach dem Kriege und versucht Wege zu zeigen, auf denen „ein
psychologisch größeres Dänemark" zu erreichen wäre. Der Verfasser stellt fest,
daß die friedliche, idyllische Zeit, an die vor dem Kriege viele Dänen zu gern
glaubten, jetzt endgültig vorbei ist. Wenn der Waffenlärm auch aufhört, und
ein Friedensschluß zu Stande kommt, wird sich doch das internationale Leben
ganz anders als vor dem Kriege gestalten. Der wirtschaftliche Krieg wird
fortdauern, die Konkurrenz zwischen den Völkern wird schärfer und rücksichtsloser,
die einzelnen Nationen werden auf sich selber und ihre eigenen Kräfte verwiesen
werden. Besonders sür die kleinen Nationen wird es eine Probezeit werden.
Für sie gilt es Sein oder Nichtsein. Sie müssen zeigen, ob sie lebensfähig
find, ob sie Tüchtigkeit genug haben, um sich unter den veränderten Verhältnissen
zu behaupten. Härte ohne Rauheit, Festigkeit ohne Zynismus — das wird
die neue Zeit erfordern.
Wenn eine Nation die Schwierigkeiten der veränderten Zeitlage überwinden
soll, ist es notwendig, daß sie erstens die Zeit versteht und zweitens ihre eigenen
Kräfte kennt und sie zu brauchen weiß.
Den Dänen fällt es besonders schwer sich mit den neuen arti-individualistischen
Strömungen zu versöhnen, weil das ein Bruch mit tief eingewurzelten Idealen
bedeutet. Das kulturelle Leben in Dänemark wurde in seiner ganzen modernen
Entwicklung von der von Georg Brandes in den siebziger Jahren hervor¬
gebrachten geistigen Revolution geprägt, und Individualismus, Liberalismus
im westeuropäischen Sinne des Wortes und Unwille gegen jede Autorität sind
seitdem die augenfälligsten Merkmale der maßgebenden dänischen oder vielmehr
Kopenhagener Jntelligenzkreise. Aber es gibt doch Leute und seit dem Ausbruch
des Krieges gibt es deren immer mehr, die verstehen, daß diese Jndividualisten-
kultur veraltet ist, und daß die Losung der neuen Zeit Organisierung heißt.
Zu diesen gehört Paul Drachmann. „Das für die neue Zeit charakteristische",
sagt er, „ist, daß sie durch riesenhaftes, bewußtes Zusammenspiel von sämtlichen
Einzelkräften durch ein psychologisches und physisches Riesenaufgebot eine
gemeinsame Kraft und Macht schafft, und zwar mit dem Zwecke, nicht nur die
Lösung und Erweiterung der gemeinsamen Aufgaben zu ermöglichen, sondern
auch — und das ist das wichtigste — der Gesamtheit rückwirkende Kraft zu
geben, die einzelnen Individuen mit weit größerer Stärke erfüllt, als sie jemals
im isolierten Zustande haben könnten". Dieses neue Lebensprinzip war schon
längst im deutschen Volke das herrschende, und von der Notwendigkeit des
Krieges gezwungen beginnen auch Frankreich und England es sich anzueignen.
Und dasselbe ist auch für das dänische Volk notwendig, wenn es in der
Konkurrenz der Völker nicht unterliegen soll.
Der Verfasser zeigt sodann, daß, wenn nur dieses verstanden wird, die
Bedingungen sür ein Gedeihen des dänischen wirtschaftlichen Lebens in reichem
Maß vorhanden sind. Die Rohstoffrage, die früher für die wirtschaftliche
Entwicklung maßgebend war, kommt erst in zweiter Linie. Viel wichtiger ist
jetzt die Transportmöglichkeit, und hier hat Dänemark in seiner ausgedehnten
Küstenlinie und seinen guten Häfen einen großen Vorzug. Die Schiffahrt zeigt
nämlich in Bezug aus Billigkeit eine riesige Überlegenheit dem Eisenbahntransport
gegenüber. Dänemark hat zwar selbst keine Kohlen; die Frachtpreise für die Fahrt
zwischen schottischen und nordenglischen Kohlendistrikten und dänischen Häfen sind
aber nicht größer als die zwischen denselben Distrikten und London oder anderen
Städten in Südengland. Wie viel diese billigen Schiffsfrachten für die Entwicklung
des dänischen Wirtschaftslebens bedeuten, versteht man, wenn man hört, daß die
Seefracht von fast jeder dänischen Stadt nach fernen überseeischen Plätzen weniger
beträgt als die Eisenbahnfracht, die das deutsche Exportgut zahlen muß, um von
mitteldeutschen Produktionsplätzen nach Hamburg oder Bremen zu gelangen.
Diese Tatsache ist die Grundbedingung für das ganze materielle Leben in
Dänemark. Sie hat die Industrialisierung der Landwirtschaft ermöglicht, so
daß es auf Zufuhr von ausländischen Roh- und Hilfsstoffen und entsprechendem
Großexport gegründet ist. Sie hat die emporblühende Industrie geschaffen.
Und auf ihr läßt sich die wirtschaftliche Zukunft aufbauen.
Diese guten äußeren Bedingungen reichen jedoch nicht aus. Und auch d:e
guten sozialen und unterrichtlichen Zustände genügen nicht, um die Zukunft zu
sichern. Hier kommt es vor allen Dingen auf Tüchtigkeit an Und das
wirklich eine wirtschaftliche Tüchtigkeit in Dänemark vorhanden es. geht besonders
aus der Entwicklung der dänischen Landwirtschaft hervor. Vor 1880 war
Kornproduktion (und Kornausfuhr) der wichtigste Nahrungszweig in Dänemark.
Dann brach aber die Konkurrenz der überseeischen Kornländer über Europa
herein, und ein kleines Land wie Dänemark wurde naturgemäß zurückgedrängt.
Es gelang aber durch eine Umlegung der ganzen Produktion dre Schnneng-
keiten zu überwinden. Gerade die billigen überseeischen Korn- und Futterstoffe,
die Dänemark mit wirtschaftlichem Ruin bedroht hatten, wurden als Rohstoffe
für eine nunmehr industrialisierte Landwirtschaft benutzt, und die Ausfuhrwaren
wurden statt des Kornes animalische Produkte. Die Folge ist. daß der
Produktionswert der dänischen Landwirtschaft jetzt fünfmal größer als 1875 es.
Diese schnelle und erfolgreiche Umlegung der ganzen Volkswirtschaft ist beispiellos.
Er zeigt auch, daß es ganz falsch ist. wenn man gewöhnlich glaubt, daß
Schweden und Norwegen bessere Zukunftsmöglichkeiten als Dänemark haben.
Wenn man den Geburtenzuwachs vergleicht, sieht man, daß er in Schweden
0,73 Prozent, in Norwegen 0.75 Prozent und in Dänemark 1.08 Prozent
beträgt. Zur Zeit der Jahrhundertwende betrug das Nationalvermögen in
Norwegen 1350 Kronen auf den Kopf, in Schweden 1770 und in Dänemark 2800.
Spätere genaue Angaben sind nicht vorhanden. Die Zahlen sind gestiegen,
aber das Verhältnis ist dasselbe. Betrachtet man schließlich den Handels¬
austausch, so sieht man, daß er aus den Kopf in Schweden 299 Kronen, in
Norwegen 387 Kronen und in Dänemark 563 Kronen beträgt. Der Vergleich
mit den beiden andern skandinavischen Ländern zeigt also eine für Dänemark
günstige Stellung.
Paul Drachmanns Buch ist aber nicht nur geschrieben, um das Vaterland
zu preisen. Er meint zwar, daß die Bedingungen für eine würdige Zukunft
Dänemarks vorhanden sind, er sieht aber such deutlich, daß mehrere Umstände
es erschweren, diese Bedingungen recht auszunutzen.
Er meint z. B., daß die etwas gemächliche Natur des dänischen Arbeiters
ihm hinderlich sein wird, sich an das neue (d. h. das deutsche) Arbeitstempo
zu gewöhnen. Auch liegt eine Gefahr darin, daß man in Dänemark sehr
geneigt ist, über seine Verhältnisse zu leben. Die dänische Handelsbilanz war
vor dem Kriege, nicht gut. da die Einfuhr beträchtlich größer als die Ausfuhr
war. Die guten Konjunkturen während des Krieges haben zwar den Zustand
verbessert, aber diese Verbesserung darf nur als zeitweilig angesehen werden,
und um eine dauernde Konsolidierung zu erreichen, ist es notwendig, nicht nur
die Ausfuhr zu steigern, sondern auch den Bedarf einzuschränken.
Die größte Gefahr jedoch steht der Verfasser in den vielen Sonderinteressen,
die dem großen gemeinsamen Wirken hindernd in den Weg treten. Sowohl
in den Arbeiterkämpfen als in dem Verhältnis der Agrarier den andern Klassen
des Volkes gegenüber zeigt sich zuweilen ein Separatismus, eine Rücksichts¬
losigkeit, die sehr schädliche Wirkungen haben kann. Auch der Umstand, daß Däne¬
mark in drei durch Wasser getrennte Teile zerfällt, ist eine Behinderung des Zu¬
sammenwirkens. Sehr wirkungsvoll wäre eine Tunnelverbindung unter den Belten.
Möglich wäre es aber, meint er, alle diese Hemmungen zu beseitigen,
und er setzt nun seinen Standpunkt im einzelnen auseinander. Er denkt sich
das Land als „eine einzige Riesenstadt mit verdichteten Besiedelungen, wo sich
das Geschäftsleben konzentriert, mit fruchtbaren, intensiv bebauten agrarischen
Ländereien und mit herrlichen Wäldern und Gestaden als dem großartigen
Naturpark der Bevölkerung". Und er denkt sich alles, Landwirschast, Industrie,
Handel und Schiffahrt im genauesten gegenseitigen Zusammenwirken verbunden.
Wenn das erreicht ist, meint er, wird Dänemark trotz seiner Kleinheit, kraft
seiner Tüchtigkeit seinen Platz unter den Nationen behaupten, ja erweitern —
nicht erweitern im Sinne des Landgewinnes, sondern im rein psychologischen
Sinne, insofern der Einsatz Dänemarks im internationalen Leben immer größer wird.
Paul Drachmanns Buch hat großes Interesse hervorgerufen, weil es sür
neue aber starke dänische Stimmungen symptomatisch ist. Es ist erstens
charakteristisch wegen des erwachenden Verständnisses für den Imperialismus
als dem wertvoll Neuen in der Zeit und wegen der starken Bewußtheit, daß
Dänemark, selbst wenn es nicht im Waffenkrieg mittut, doch nicht den Folgen
des Krieges entgehen kann, so daß es kräftig vorbereitet und gerüstet sein muß,
wenn nach dem Kriege der große Arbeitstag dämmert.
Außerdem ist aber Drachmanns Buch bezeichnend für das, was man den
dänischen Neunationalismus nennen könnte. Diese Bewegung sieht ein, daß
man dem Vaterlande nicht dadurch am besten dient, daß man sich feindlichen
Stimmungen gegen seine Nachbarn hingibt und seiner Sympathie und Antipathie
für die kämpfenden Völker überlauten Ausdruck gibt, sondern dadurch, daß man
für das Vaterland arbeitet. Diese Bewegung ist deshalb eine ganz praktische.
Sie ist mit dem emporblühenden Jndustrialismus eng verbunden, und sie
begreift, daß wenn sich ein kleines Volk unter schwierigen Verhältnissen lebens-
kräftig beendigen soll, nicht nur das Volk selber arbeiten, sondern aus
dem Verhältnis zu andern Völkern Nutzen ziehen, und dieses Verhältnis nicht
durch blinde Stimmungen, sondern durch lautere, aber praktische Rücksichten
bestimmen lassen muß.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werde» kann.
le Wege, die vom Krieg zum äußeren Frieden führen sollen, sind
gegenwärtig noch in Dunkel gehüllt; ja es ist nicht einmal die
Möglichkeit gegeben, sie zu beschreiten, solange das Sperrfeuer
feindlichen Widerstandes auf ihnen liegt. Eher könnte man
^ meinen, daß eine Brücke zum inneren Frieden sich müsse schlagen
lassen, denn gerade durch den Krieg sind günstige Vorbedingungen hierzu
geschaffen. Welcher Art diese sind, braucht nicht näher dargelegt zu werden.
Die im August 1914 über Deutschland hereingebrochene furchtbare Heimsuchung
hat die Nation zur äußersten Anspannung ihrer Kräfte aufgerüttelt, hat den
einheitlichen Willen zu gemeinsamer Abwehr der verruchten Angreifer wunderbar
emporwachsen lassen und den Entschluß zur Beiseitesetzung der altgewohnten
Zwistigkeiten gezeitigt. Der Burgfrieden griff Platz, der bisher, von etlichen
Seitensprüngen abgesehen, im wesentlichen aufrechterhalten worden ist. Den
Burgfrieden in einen dauernden Volksfrieden überzuleiten, wäre eine herrliche
und dem großen Erleben dieser Tage würdige Aufgabe. Daß sie nicht frommer
Wunsch bleibe, in leere Luft gehaucht, bewegt das Sinnen und Sehnen vieler
ernster Männer. Keiner von ihnen wird der eitlen Hoffnung sich hingeben,
atz Parteiungen und Gegensätze aus unserem öffentlichen Leben verschwinden
omnem. Das wäre unnatürlich und stumpfsinnig. Wohl aber sollten die
Gedanken dem Ziele zustreben, aufreizende Gehässigkeiten aus den Parteikämpfen
fernzuhalten und die schroffen Spannungen zwischen den gegnerischen Lagern
zu mildern. Solchen Stimmungen leuchtet als Fanale das Wort der letzten
preußischen Thronrede vor, daß der Geist gegenseitigen Verstehens und Ver¬
trauens auch im Frieden fortwirken und in der gemeinsamen Arbeit des ganzen
Volkes sich ausprägen solle.
Daß die nationale Einigkeit vor dem Kriege viel zu wünschen übrig ließ,
ist eine betrübende Wahrnehmung, an der von warmherzigen Patrioten häufig
genug bedauernd und anklagend bittere Kritik geübt worden ist. Sichtbare
Erfolge hat aber diese Erkenntnis des unser Ansehen schmälernden Übels nicht
gezeitigt. Wohlmeinende Vorschläge zur Ausmerzung des nationalen Schwäche¬
zustandes sind ungehört verhallt und vereinzelte Versuche, so etwas wie einen
Umschwung herbeizuführen, sind an den zähen Widerständen kleinmenschlichen
Eigennutzes gescheitert. Es mußten offenbar stärkere Triebe der nationalen
Entwicklung eingefügt werden, um deren Lauf in einheitlichere Richtung zu
lenken. Vom Kriege könnten die Kräfte zu einer solchen inneren Erneuerung
ausgehen, wenn ein überragender Wille die auseinandertretenden Auffassungen
auf bestimmte große nationale Gesichtspunkte zu einigen vermag. Gelingt es
uns. ein staatliches Programm in allgemeinen Umrissen gegenüber den vielen
einzelnen Programmen der politischen Parteien und wirtschaftlichen Organisationen
als gemeinsame nationale Richtlinie voranzustellen und zur freiwilligen An¬
erkennung der großen Mehrheit des deutschen Volkes zu bringen, dann könnte
damit ein Fundament besseren Zusammenhalts im Innern wenigstens für die
Grundfragen, von denen die Zukunft Deutschlands abhängt, sich ausrichten
lassen. Die Verwirklichung dieses Programms der Programme — wenn wir
es so nennen dürfen! — ist freilich wesentlich bedingt von der zwingenden
Betätigung eines Machtwillens, der, wie die Dinge im Deutschen Reich liegen,
nur von einem klugen, weitblickenden und überlegenen Staatsmann aus¬
gehen kann.
Als Probleme, die dem unaufhörlichen Hineinzerren in die Tageskämpfe
in der Hauptsache entrückt werden könnten, erscheinen uns geeignet: Aufrecht¬
erhaltung und Ausbau der deutschen Wehrmacht zu Lande und zu Wasser
(wieviel verbitternder Hader ist aus dem Streit um den „Militarismus", der
in diesem Kriege unvergängliche Verdienste sich erworben hat, entstanden!); die
unversehrte Bewahrung der verfassungsmäßigen monarchischen Einrichtungen
(also die grundsätzliche Abweisung aller Maulwurfs arbeit zur Unterwühlung
der Monarchie!); die unzweideutige Scheidung der Rechte und Pflichten zwischen
dem Reich und den Bundesstaaten (auch die Verteilung der Steuern würde
hierhergehören, schon um den endlosen akademischen Auseinandersetzungen über
Wert oder Unwert der direkten und indirekten Steuern ein Ende zu machen!);
die Festlegung der Wirtschaftspolitik (das Bekenntnis zum Schutz der nationalen
Arbeit müßte nach den jüngsten Erfahrungen aus den parlamentarischen
Erörterungen im großen und ganzen sich ausschalten lassen!); Fortbildung der
Selbstverwaltung unter Respektierung der übergeordneten staatlichen Autorität.
Noch manche andere Prinzipienfragen ließen sich anführen, über die, wie uns
dünkt, eine Verständigung in breitem Umfange sich wohl bewirken ließe, ohne
daß den Überzeugungen der einzelnen Parteien Gewalt angetan werden müßte.
Zu jedem Sonderthema könnten abweichende Meinungen trotzdem ausgespielt
werden, im Interesse eines Ausgleichs scheint uns aber schon mel gewonnen wem-,
nicht von Fall zu Fall immer wieder die schwersten Geschütze gegen Anders¬
denkende aufgefahren werden, weil laut Übereinkunft die Stromnchtung vor¬
gezeichnet ist. Die innere Einigung unseres Volkes kann eben einen festen
Bauplan nicht entbehren, dieser aber muß davon ausgehen, was ungefähr an
gemeinsamen Grundlagen aus den verschiedenen Parteiprogrammen sich heraus«
schälen läßt. „ ^ .
Unsere Randglossen zum Thema der inneren Einigung sind, une wir gerne
zugeben wollen, nur insofern zeitgemäß, als sie Fragen berühren, deren Be¬
leuchtung von mehreren anderen Seiten schon seit einiger Zelt systematisch in
Angriff genommen worden ist. Unzeitgemäß erscheinen aber solche Erörterungen
deshalb, weil aus ihnen positive Aktionspunkte unter den obwaltenden Um¬
ständen schlechterdings sich nicht ergeben können. Ungleich wichtiger ist. daß
wir jetzt wahrlich unsere Interessen nicht an Aufgaben verzetteln, die erst nach
Beendigung des Krieges greifbar in Erscheinung treten werden. Wie würden
wir einen Mann beurteilen, der. während ein verheerendes Brandfeuer in seinem
Hause wütet, sorgenvoll darüber nachsinnt, wie er nach Löschung der Gluten
seine innere Wohneinrichtung zweckmäßiger werde gestalten können? In den
Schriften der Apostel des inneren Friedens finden wir aber neben allgemeinen
Redewendungen Dutzende von Vorschlägen, die zu ihrer Realisierung ein großes
Aufgebot gesetzgeberischer Arbeiten voraussetzen. Einen praktischen Nutzeffekt
können solche Frühgeburten um so weniger haben, als niemand mit Sicherheit
behaupten kann, daß nach dem Friedensschluß ver allseitig angekündigte Reform¬
hebel gerade an dem besonders hervorgehobenen Punkte allem zuvor anzusetzen
sein wird. Probleme, deren umgehende Lösung jetzt großen Parteigruppen
unausschiebbar erscheint, werden unter der überwältigenden Fülle der zur
Wiederherstellung zerstörter Daseinsbedingungen erforderlichen Arbeiten späterhin
wahrscheinlich minder dringlich erscheinen, z. B. die Reform des Landtagswahl¬
rechts gegenüber der Neuordnung unseres Außenhandels. Dem Wettlauf der
Wünschenden wird, wie jeder Einsichtige anerkennen müßte, die Erfüllung der
Staatsnotwendigkeiten vorangehen müssen.
Die Kriegseinheit gestattet nicht, Unreifes und Ungeklärtes auf die politische
Tagesordnung zu setzen, denn jene Einheit würde solchenfalls Gefahr laufen,
auseinandergesprengt zu werden. Wir sollen uns hüten, für vergiftete Zank¬
apfel der Vergangenheit inmitten des Kriegssturmes schnelle Entschließungen zu
heischen. Schon die wenigen engbegrenzten Gesetzentwürfe, die von den Par¬
lamenten letzthin erledigt wurden, wie die Vereinsgesetznovelle und die Kriegs¬
gewinnsteuer, haben deutlich erkennen lassen, daß die alten Gegensätze nur
mühsam unter einen Hut gebracht werden könnten. In Hoffen und Bangen
harren wir der werdenden Dinge; sie voreilig meistern zu wollen, hieße der
weltgeschichtlichen Entwicklung vorgreifen. Friedrich Naumann hat sehr Recht,
wenn er schreibt: „Bei allen zukünftigen Entwicklungen hängt sehr viel davon
ab, mit welchen Eindrücken der Krieg selber schließen wird. Er wird rückwärts
vom Volke verschieden beurteilt werden, je nachdem er mehr oder weniger greif¬
baren Sieg gebracht hat. Nicht zu unterschätzen ist aber vor allem, unter was
sür Umständen die Heimkehr der Truppen sich vollzieht. Die Seele der Heim¬
kehrenden ist die Wiege der künftigen deutschen Politik."
Es wäre schlimm, wenn die staatliche Politik in den Bann hochgespannter
idealistischer Empfindungen geriete. Gefühlsmomente tauchen auf und schweben
nieder; sie schwanken im Wandel der die Volksstimmung erhebenden oder nieder¬
drückenden äußeren Geschehnisse. Zur Kennzeichnung dieser Veränderlichkeit
möchten wir ein literarisches Zeugnis anrufen. Vor etwa Jahresfrist erschien
ein vielbeachtetes Buch, das von dem Herrenhausbibliothekar Dr. Friedrich
Thinae und dem Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften
Deutschlands Carl Legler herausgegeben wurde und zwischen der bürgerlichen
und sozialistischen Geisteswelt vermitteln sollte*).
Im Schlußwort will der Herausgeber Thinae die wichtigsten Lehren und
Erkenntnisse des Krieges zusammenfassen. Einige Sätze mögen seine Auffassung
andeuten. „Der Krieg hat uns die Erfahrung gebracht, daß in der nationalen,
der deutschen Gesinnung nicht der mindeste Unterschied zwischen der bürgerlichen
und der sozialistischen Welt besteht: alle sind wir bereit, für das Vaterland
auch das letzte hinzugeben ... Es darf nicht mehr sein, daß die Wünsche und
Forderungen der Sozialdemokratie von den übrigen Parteien und der Regierung
leichthin beiseite geschoben werden... Es darf ganz gewiß nicht sein, daß die
sozialdemokratische Überzeugung als ein nationales oder gar moralisches Unrecht
gebrandmarkt oder gesellschaftlich geächtet wird. . . Das Volk darf und kann
erwarten, daß ihm der Staat mit Freiheit und Vertrauen lohne, daß man seine
Volksrechte nicht ängstlich beschneide, sondern sie soweit wie immer möglich aus¬
dehne, daß man ihm eine lebendige Anteilnahme am Staatsleben gönne, daß
man allen seinen Klassen und Individuen volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung,
gleiche Bewegungsfreiheit, gleiche Entwicklungsmöglichkeit gebe. . . Fast mit
Beschämung denken wir heute daran, daß wir vor dem Kriege ernsthaft darüber
debattieren konnten, ob wir nicht schon ein Zuviel an sozialer Reform hätten . . .
Wir werden uns in Zukunft dem Probleme, ob und inwieweit unsere heutige
Wirtschaftsordnung, der Gegenwartsstaat, der neuen Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung des Sozialismus. dem Zukunftsstaat, näherzuführen ist. nicht leicht
mehr entziehen können..." , ^ -> ^
Diese Sätze enthalten unseres Erachtens ein Bekenntnis, das durch eme
tiefe Verbeugung vor demokratischen Forderungen und sozialdemokraMen ^dem
der nationalen Einigung dienen will. Das den freien Gewerkschaften vom
Verfasser Thinae gespendete Lob wegen ihres staatstreuen Verhaltens soll acht
mit einem Wort bekrittelt werden, ob aber die Anerkennung der vowschen
Sozialdemokratie als einer vaterländisch gesinnten Partei heute noch so rück-
haltslos wie vor einem Jahre ausfallen würde, kann füglich bezweifelt werden.
Es kann doch nicht einfach darüber hinweggesehen werden, daß innerhalb der
Sozialdemokratie ein starrer Radikalismus von unbekannter Stärke nach une
vor sein Wesen treibt. Sollen Staat und Gesellschaft die Verantwortung auf
sich nehmen, dieser an Landesverrat grenzenden Strömung jede Schranke gegen
ihr freies Austoben fürsorglich aus dem Wege zu räumen?
Die Versöhnungspolitik der Thinae und Genossen ist einseitig eingestellt;
sie verlangt von der bürgerlichen Gesellschaft die weitestgehenden Zugeständmfse
an die sozialistische und demokratische Anschauungswelt, ohne danach zu fragen,
ob die bewährten Tragebalken unseres Staatswesens und seiner bürgerlichen
Wirtschaftsverfassung eine solche Belastung ungefährdet aushalten können. Wir
machen den um Herrn Thinae vereinigten Gelehrten und Politikern den Vor¬
wurf, daß die von ihnen konstruierten Einigungsformen in manchen Stücken
eher dazu angetan sind. Unfrieden zu säen als Versöhnungsfrüchte reifen zu
lassen.
Das gilt beispielsweise von den „Gedanken über zukünftige Staats¬
reformen" des Professors Anschütz. Derselbe glaubt wohl dem inneren Frieden
förderlich zu sein, wenn er den „konservativen Radikalismus" als den Hemm¬
schuh aller innerpolitischen Fortschritte in Preußen bezeichnet und den Unitarismus
im Reich auf Kosten der Einzelstaaten zu allbeherrschendem Einfluß ausgestalten
möchte? Unter bedauerlicher Verkennung der von Preußen ausstrahlenden
Lebenskräfte schwebten diesem Gelehrten Reformen vor, durch die eine mit
ganzer Machtfülle ausgestattete Reichsregierung eingesetzt und Preußen seiner
staatsrechtlichen Befugnisse im wesentlichen beraubt wird. Zwar sucht der Ver¬
fasser vorzuspiegeln, daß Preußen infolge einer breiten Demokratisierung seines
Wahlrechts an Festigkeit nur gewinnen könnte, andererseits soll aber durch eine
systematische Stärkung der Reichsgewalt der preußische Einfluß auf die Neichs-
geschäfte gründlich unterbunden werden, denn „das Reich ist nicht eine bloße
Attrappe, hinter der sich die preußische Hegemonie verbirgt". Die Existenz
des Bundesrath neben der „Neichsleitung" erscheint Professor Anschütz an sich
schon als ein Unding. Daher soll die jetzt vom Reichskanzler ausgeübte
„Leitung" an ein dem Reichstag verantwortliches Reichsministerium übergehen
und der Bundesrat in ein Reichsoberhaus mit den Funktionen eines Staatsrath
umgewandelt werden.
Diese Probe mag genüge!!. Und mit derart ausschweifenden Reformidcen
soll das Gerüst zum inneren Frieden gezimmert werden I Eine ähnliche Ver¬
stiegenheit offenbaren die Pläne Herrn Professors Jaffö in München zur An¬
bahnung des Arbeitsfriedens. Daß die Arbeiter einen bestimmenden Einfluß
auf die Fabrikbetriebe erhalten müßten, gilt als selbstverständlich. Bei Meinungs¬
verschiedenheiten zwischen der Arbeiterschaft und der Betriebs-Oberleitung sollen
gemeinsame Ausschüsse, die eventuell mit richterlicher Gewalt auszurüsten wären,
eingreifen. Eine höhere Appellationsinstanz könnte geschaffen und zur Krönung
des ganzen Schlichtungsapparats ein besonderes Berufsparlament eingesetzt
werden.
Wir hängen diesem Gedankenfluge keine Randglosse an, würden aber gern
wissen, ob der Verfasser wirklich der Überzeugung ist, daß der Saumpfad zum
Volksfrieden mit so breitspänniger Karosse befahren werden kann.
Das Thimmesche Buch von 1915 ist, soweit wir haben sehen können, sehr
kühl aufgenommen worden. Dem in ihm sich ausprägenden Idealismus ließ
man die gebührende Anerkennung zuteil werden, während man an seiner Aus¬
münzung in praktischen Maßnahmen schweigend vorüberging. Nicht besser
dürfte es unserer Meinung nach einem dieser Tage erschienenen größeren Buche
desselben Verfassers ergehen. Diesmal ist ein Stab von vierzig Mitarbeitern
zusammengetreten, um dem deutschen Volke die Bahnen zum inneren Frieden
aufzuzeigen.*) Selbstverständlich hat diese Arbeitsgemeinschaft hervorragender
Männer eine schier erdrückende Fülle von lehrreichen Betrachtungen und be-
achtbaren Anregungen zu Papier gebracht. Wir wünschen, daß recht mele
Leser den vorgetragenen Gedankengängen prüfend nachgehen. Sie werden
neben manchem Anfechtbaren viel Ansprechendes finden. Vor allem wM er¬
freulich die begeisterte Vaterlandsverehrung, die aus allen Abhandlungen her¬
vorleuchtet. „Das Interesse, das den Ton für alle Reden und das Maß für
alle Bestrebungen gibt, bleibt das Vaterland." Die Übereinstimmung in der
Grundauffafsung läßt freilich für fehr widerspruchsvolle Ausdeutungen Raum.
Das Programm des Friedensbuches ist. wie ersichtlich, fehr wen gesteckt.
Trotzdem können die Darlegungen der einzelnen Verfasser, die acht nur unsere
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch die polMschen und
konfessionellen Parteiungen. die Nationalitäten frage und die tiefsten Probleme
deutscher „Innerlichkeit" (nach einem Ausdruck des Professors Rudolf Eucken) in
vorgezeichneten Sinne behandeln sollen, die Hauptfragen nur in kürzesten Um-
rissen erörtern. Über die Staatskirche, das Parteiwesen, über me polmsche
Frage, das Judentum u. tgi. in. existiert je eine große Literatur, deren Kennens
zur richtigen Beurteilung der betreffenden Themata unerläßlich ist. Denn die
Urteilsbildung muß das Für und Wider erwägen, während die Thimmeschen
Mitarbeiter gewissermaßen an eine bestimmte Marschlinie gebunden waren.
Ihre Aufgabe deutet dahin, daß sie versöhnlichen Stimmungen unter den sich
befehdenden Parteien eine Gasse bahnen sollen. Mithin fügt es sich von
selbst, daß sie ihnen unbequeme Wahrheiten und Einwände aus ihren Be¬
trachtungen ausschließen, dagegen die zu einem friedlichen Ausgleich geeignet
erscheinenden Momente um fo eindringlicher hervorheben. Anders war die
heikle Aufgabe wohl auch nicht zu lösen. Die Mannigfaltigkeit der Themata
beeinträchtigt aber die Gründlichkeit: die Tendenz des Friedensbuches leistet der
Einseitigkeit der Darstellung Vorschub.
Einen ungefähren Einblick in das Wollen der Propagandisten des inneren
Friedens gewährt die Schlußrede des Herausgebers, in der es u. a. heißt:
„Hinfort soll eine jede Partei, eine jede Glaubensgemeinschaft, jeder
Volksstamm und Stand sich ehrlich und eifrig bemühen, die anderen, denen
man bisher kühl und fremd, oft feindlich gegenüberstand, nach Wesensart
und wirklichem Wollen kennen zu lernen. Kein oberflächliches Aburteilen
auf Grund vorgefaßter Meinungen darf mehr stattfinden; der Protestant
muß den Katholiken und Juden, der Liberale und der Freigeist den Positiven
und Orthodoxen, der Konservative den Sozialdemokraten und umgekehrt zu
begreifen und zu verstehen suchen. Sobald nur alle Teile den aufrichtigen
Willen zu solchem Kennenlernen, zu solchem gerechten Verstehen und Urteilen
haben, müssen sie ja sofort gewahr werden, wieviel Wertvolles, Gutes und
Edles auch die anderen Richtungen in sich schließen, und wieviel man von
ihnen lernen und gewinnen kann. Selbstverständlich ist es mit dem Ein¬
dringen in die Psyche des andern allein nicht getan; eine ernste, unnach¬
sichtige Selbstprüfung und Einkehr muß damit verbunden fein. Die Not-
wendigkeit der Selbstbesinnung, der inneren Erneuerung kann gar nicht ernst
und nachdrücklich genug betont werden; von ihr darf sich niemand, wer es
auch sei, ausschließen. Erst wenn ein jeder sich bewußt geworden ist, wieviel
Unvollkommenheit und Bedingtheit ihm selbst anhaftet, wie sehr auch er auf
die Milde und Nachsicht der anderen angewiesen ist, dann sind die Voraus¬
setzungen sür ein gegenseitiges Verstehen gegeben."
Nachdem dergestalt durch die Läuterung aller und eines jeden einzelnen
der Boden für ein gegenseitiges Verstehen bereitet ist, wird, wie Dr. Thinae
meint, auch das bisher vermißte Vertrauen sich einstellen. Der Krieg wird
sich hierbei als ein kräftiger Helfer erweisen, denn er hat allen Parteien das
Gewissen dem Vaterlande gegenüber geschärft. Angesichts des furchtbaren Er¬
lebens der Gegenwart müßten alle verbitternden Erinnerungen ausgelöscht und
ein neues Konto ohne Vorurteil und Belastung aufgelegt werden. Niemals sei
die Zeit hierzu günstiger gewesen als eben jetzt, wo Monarchie und Staats¬
autorität hochaufgerichtet dastünden und der christliche Gedanke die Herzen dem
brüderlichen Vertrauen öffne . . .
So spricht der Idealismus, der an den Sieg der edleren Anlagen in den
Mitmenschen über deren eigennützige Berechnung glaubt. Auch wir hoffen,
daß der Krieg als ein segensreicher Erwecker zur Duldsamkeit und Nächstenliebe
sich erweisen und dadurch dem Emporwuchern innerer Zwietracht entgegenwirken
wird, die alten Gegensätze aber werden — vielleicht in gemilderten Formen —
fortbestehen. Weder wird die menschliche Natur sich umkneten lassen, noch
werden die sozialen Spannungen entschwinden, noch werden die konfessionellen
Reibungen völlig erlöschen, noch werden die politischen Kämpfe jemals ein
überwundener Standpunkt sein. Für den inneren Frieden werden materielle
Bedingungen wirksamer sein als blühende Rhetorik.
Die einzelnen Mitarbeiter mögen empfunden haben, wie mit den bloßen
Mahnungen zur Friedfertigkeit das trotzige Herz der Menschen nicht zu be¬
kehren ist. Der geistigen Erneuerung sollen daher reale Zugeständnisse zu Hilfe
kommen. Sofort zeigt sich aber auch, wie schwankend der Boden für einen
Ausgleich ist. Wir bleiben bei dem Abschnitt über den Frieden unter den
politischen Parteien stehen. Jeder Verfasser will natürlich das eigene Partei¬
gesicht wahren und soll doch programmmäßig dem Gegner eine Hand zur Ver¬
ständigung bieten. Das ergibt einen bunten Strauß von ZukunftsVersprechungen,
von denen Niemand weiß, was von ihnen erfüllt und inwiefern dem inneren
Frieden dadurch Nährkraft zugeführt werden wird. Der auf konservativem
Boden stehende Herr v. Oertzen ist der Meinung, daß die Parteien veraltete
Ideale aufgeben und Vertrauen zueinander fassen müßten. Im übrigen träfe
das Umlernen am wenigsten die konservative Partei, weil deren Grundsätze
die gewaltige Generalprobe des Weltkriegs so glänzend bestanden hätten, daß
eine Richtungsschwenkung eher einen Verlust als Gewinn bedeuten würde. Der
wichtigsten Zukunftsaufgabe, der Fortbildung der Sozialreform, würden die
Konservativen trotzdem sich keinesfalls versagen. Ziele der Reform dürften sein:
Die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft.
Erwägungen über die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Sinne einer
weiteren Ausbildung gemeinwirtschaftlicher Grundsätze. Regelung des Arbeits-
Nachweises für Gewerbe und Landwirtschaft, ein einheitliches Arbeitsrecht, die
Umwandlung der unfruchtbaren revolutionären Arbeiterbewegung in eine frucht¬
bare Reformpartet, überhaupt die Begünstigung sozialer Fortschritte.
Die gleiche Zurückhaltung übt der freikonservative Herr v. Dewitz. Zu
einer Demokratisierung des Verfassungslebens will er keinesfalls die Hand bieten,
für die Lösung der sozialen Probleme aber sein Können einsetzen. Auf diesem
Wege werde dem inneren Frieden ein bedeutsames Unterpfand geboten, wobei
vorausgesetzt werde, daß die freien Gewerkschaften auf ihrer erfreulich bekundeten
nationalen Gesinnung beharren und die Autorität des Staates voll anerkennen.
Für das „gegenseitige Verstehen" scheint uns mit diesen konservativen
Bemerkungen wenig getan zu sein. Der nationalliberale Prinz Schönaich-Carolath
wünscht zwar eine Umgestaltung des preußischen Wahlrechts, hält aber mit
positiven Zielen sonst wohlweislich zurück. Ebenso sieht Dr. Friedrich Naumann
w seiner gedankenreichen Abhandlung über „Die Volksvertretung im Kriege"
davon ab, programmatische Wünsche oder Hoffnungen für die Zeit nach dem
Kriege geltend zu machen. Das erscheint ihm als ein müßiges Herumraten,
während unser ganzes Denken und Trachten einzig auf das eine Ziel: Sieg!
gerichtet sein muß.
An diesen Probestücken aus dem politischen Kapitel des Thimmeschen
Buches müssen wir uns genügen lassen. Die Schwächen des Buches werden
offenbar, wo nach positiven Zielpunkten gehascht wird, weil wir diese angesichts
des blutigen Ernstes der Gegenwart nicht fest ins Auge fassen können. Können
stilvolle Reden über den Friedensgeist diesen heranholen, so müßte er eigentlich
schon da sein. Ist er noch nicht vorhanden, so wird er hoffentlich mit dem
Geläut der Friedensglocken herannahen. Jetzt regiert noch Mars die Stunde
und hat wenig Verständnis für sentimentale Friedenslnrik.
rankreich befindet sich heute im Niedergange seiner Macht, und
der gegenwärtige Krieg wird dazu beitragen, diese Entwicklung
zu beschleunigen. Es bat den Krieg auf jeden Fall verloren
allein schon durch die wachsende Abhängigkeit von England, selbst
wenn ihm ein Sieg über Deutschland noch möglich wäre. Denn
zweifellos haben die Franzosen losgeschlagen in der Hoffnung, die alte Macht¬
stellung ihres Staates zu erneuern: dieses Staates, der bis in die Zeiten des
großen Napoleon den Briten die Herrschaft über das Weltmeer streitig ge¬
macht, und selbst nachher wenigstens auf dem europäischen Kontinent eine
Vorrangstellung eingenommen hat. Uns Deutschen ist nicht immer gegenwärtig,
wie jung unsere Macht, auch nur unsere europäische Macht ist; daß die bis vor
fünfzig Jahren bestehende Ordnung des Deutschen Bundes ähnlich wie gewisse
Balkanstaaten unter der Garantie der europäischen Großmächte stand, daß also
Frankreich ebensogut wie Rußland oder England ein durch den Wiener
Kongreß verbrieftes Recht besaß, in deutschen Angelegenheiten mitzureden. Erst
durch die Gründung des Norddeutschen Bundes verlor Frankreich diese oft zu
unserem Schaden ausgenutzte innerdeutsche Position. Kurz darauf folgte die
nachdrückliche Belehrung, daß es auch im ganzen Bereiche des Kontinents nicht
mehr der Stärkste sei. Der Umschwung kam so schnell, daß die Franzosen
sich bis heute noch nicht mit seiner Unwiderruflichkeit abfinden wollten. Viel¬
leicht werden sie es im jetzigen Kriege lernen I Die Abschüttelung des französi¬
schen Einflusses in innerdeutschen Fragen ist neben dem Gewinn Schleswig-
Holsteins das größte diplomatische Meisterstück Bismarcks, dessen Früchte uns
kein Feind wieder entreißen soll. Und es lohnt sich zumal in den Zeiten des
Weltkrieges, die halbhundertjährigen Gedenktage seines Gelingens nicht ohne
einen dankbaren Rückblick vorübergehen zu lassen.
Erich Brandenburg, der Leipziger Historiker, mit dessen neuem Werke über
die „Reichsgründung" ich die Leser der „Grenzboten" bereits bekannt gemacht
habe (1916 Ur. 17), hat außerdem noch einen dicken Band „Untersuchungen
und Aktenstücke zur Geschichte der Reichsgründung" (Leipzig, Quelle und Meyer,
1916. Preis 16 Mark) veröffentlicht, der unter anderm auch über die Vorgeschichte
des Norddeutschen Bundes und die französische Politik der sechziger Jahre neues
Material verarbeitet. Die Stärke des französischen Einflusses und die Bedeutung
der Leistung Bismarcks. diesen Einfluß benutzt und schließlich überwunden zu
haben, wird von Brandenburg mit großer Klarheit hervorgehoben.
Die europäische Politik Napoleons des Dritten ging insofern in den Bahnen
der klassischen Tradition Richelieus und Ludwigs des Vierzehnten, als der
Gegensatz gegen Österreich ihr leitender Gesichtspunkt war. Daher ging sie
darauf aus. einmal seine Machtstellung in Italien einzuschränken und dann
die „Heilige Allianz", in der Österreich unter Metternich tonangebend gewesen
war. zu sprengen. Napoleon begleitete schon seit 1849 die preußischen Hege¬
moniepläne in Deutschland mit wohlwollendem Interesse, weil sie drehen Staat
in Gegensatz zur Donaumonarchie bringen mußten. Eine Machtvergrößerung
Preußens schien ihm nicht gefährlich, ja er glaubte, daß sie Frankreich einen
Grund geben könnte, zu gelegener Zeit gewisse linksrheinische Gebiete als
Kompensation einzustecken. Alle diese Erwägungen verloren freilich nach der
großen diplomatischen Niederlage Preußens in Olmütz einstweilen ihre Grund¬
lage. Aber die „Heilige Allianz" wurde tatsächlich bald dach ein anderes
Ereignis gesprengt, nämlich durch den Krimkrieg. War Österreich seitdem mit
Rußland verfeindet, so war doch die Isolierung von Preußen noch keineswegs
gelungen. AIs Napoleon 1859 gegen Österreich losschlug, zwang ihn die
Haltung Preußens, die Eroberung Venetiens aufzugeben und sich mit der
Lombardei zu begnügen. Erst als die österreichische Politik Anfang der sechziger
Jahre auf eine Reform des Deutschen Bundes in arti-preußischem Sinne aus¬
ging und seit der Berufung Bismarcks zum Minister, der, weil er frei von den
sentimentalen russisch - österreichischen Sympathien der Konservativen war, für
einen Freund der französischen Allianz galt, verbesserten sich für Napoleon die
Aussichten einer Annäherung an Preußen. Daran lag dem Kaiser um so mehr,
als er mit England längst nicht mehr so konform ging wie zu den Zeiten des
Krimkrieges. England hatte den Anschluß Süd-Italiens an das Haus Savoyen
zugelassen, den Napoleon nicht wünschte, und Frankreich war eben dabei, in
der Schleswig-holsteinischen Sache die Briten im Stich zu lassen, als diese gern
zugunsten Dänemarks interveniert hätten.
Napoleon begünstigte vielmehr geradezu die Einverleibung der Elbherzog-
tümer in Preußen, die Bismarcks Ziel war. weil er erwarten konnte, daß
Preußen sich darüber mit Österreich verfeinde. Wenn möglich gedachte er dann,
wie Sybel vermutet, von beiden Seiten Vorteile zu ziehen. In den Ver¬
handlungen, die er 1863 und 1864 mit den preußischen Diplomaten führen
Ueß. ist in der Tat von Kompensationen, die Frankreich möglicherweise wünschen
könnte, die Rede gewesen. Ob aber schon die Einverleibung Schleswig-Holsteins
oder erst die weiterer norddeutscher Bundesstaaten, oder- ob etwa eine Bundes¬
reform, die Preußen entweder in ganz Deutschland oder wenigstens im Norden
die Hegemonie gäbe, für Frankreich den hinreichenden Grund liefern würde,
derartige Kompensationen zu verlangen, darüber hat Bismarck damals nie eine
unzweideutige Erklärung herauslocken können. Erst kurz vor der Londoner
Konferenz verband Frankreich mit direkten Bündnisvorschlägen die Erklärung,
daß ihm eine Annexion Holsteins und Südschleswigs durch Preußen keinen Anlaß
bieten würde, territoriale Kompensationen zu fordern.
Von den preußischen Diplomaten war der Pariser Botschafter Graf Goltz
schon seit 1863 für ein festes Vertragsverhältnis mit Frankreich. Bismarck
hingegen zog in der Schleswig-holsteinschen Sache das Bündnis mit Österreich
vor in der festen Überzeugung, daß es an Gründen nie fehlen könne, dieses
wieder loszuwerden, sobald es seine Dienste getan hatte. Er wußte, daß der
König Wilhelm und die konservativen Kreise gern mit Österreich und höchst
ungern mit dem „revolutionären" Frankreich zusammen gingen. Er wußte
auch, daß dem Kaiser Franz Josef und seinem Minister des Auswärtigen.
Grafen Rechberg, nicht minder am Frieden mit Preußen gelegen war. Man
bemühte sich, noch einmal an die Möglichkeit zu glauben, daß Österreich und
Preußen gemeinsam die deutschen Angelegenheiten leiten könnten, und Bismarck
war entschlossen, aus diesem guten Willen Kapital für Preußen zu schlagen.
Auf Frankreichs wohlwollende Haltung glaubte er jederzeit noch rechnen zu
können, sowie sich seine Politik gegen Österreich wendete. Denn er hatte den
leitenden Gedanken der napoleonischen Staatskunst durchschaut und traute sich
zu, klüger zu sein als der Kaiser, seine günstigen Gesinnungen für eine Macht¬
steigerung Preußens erst auszunützen, wenn es zur Auseinandersetzung mit
Österreich kam, und dann den Preis, den Frankreich dafür erwartete, nicht zu
zahlen. Er erkannte auch, daß das Zugeständnis der Einverleibung Schleswig-
Holsteins ohne Kompensationen nicht ohne Hintergedanken Napoleons gemacht
worden war. Denn die Einverleibung war nur durch Krieg mit Österreich
möglich; wenn dieser aber einmal kam, dann mußte er naturnotwendig nicht
nur über Schleswig-Holstein, sondern über die Vorherrschaft in ganz Deutsch¬
land entscheiden. Das versetzte Napoleon jederzeit noch in die Lage, zu
behaupten, die politische Situation habe sich völlig verändert; nun müsse er
doch Kompensationen anmelden.
Im Frühjahr 1865 verschärfte sich der Gegensatz zwischen Österreich und
Preußen so, daß die Zeit der Entscheidung gekommen schien. Damals ver¬
mittelte Botschafter Graf Goltz neue französische Anträge. Bismarck lehnte
sie ab, weil der König eine Verbindung mit Frankreich nicht wünsche. Über
seine eigentlichen Gründe setzte er dem Grafen Goltz auseinander: „Es sei viel
besser, wenn Österreich sich davor fürchtete, daß Preußen ein Bündnis mit
Frankreich schließen könne, während gleichzeitig Frankreich damit rechnen müsse,
daß man das österreichische Bündnis vorziehe." (Brandenburg S. 426.)
Bismarck traute Napoleon überhaupt zu, daß dieser sich schließlich auf die
vorteilhaftere, also unter Umständen auch einmal auf die österreichische Seite
schlagen werde, und ließ im April 1865 in Paris Sortieren, ob Frankreich
sich nicht etwa Österreich nähere. Benedetti, der französische Botschafter in
Berlin, stellte nun direkt die Frage, was Preußen im Falle eines Krieges mit
Österreich von Frankreich erwartete. Bismarck antwortete ausweichend und
schob wieder die Abneigung König Wilhelms gegen Abmachungen mit Frank¬
reich vor. Benedetti riet darauf seiner Regierung vollkommene Zurückhaltung
in der Entwicklung des deutschen Konflikts an. Bismarck Hütte gern eine
Äußerung Benedettis gehört, daß Frankreich auf deutsches Gebiet verzichte.
Deswegen schlug er Kompensationen in Belgien oder in der welschen Schweiz
vor, ohne daß er selber recht glaubte, daß diese möglich sein würden. Es
gelang nicht, Benedetti zu einer derartigen Äußerung zu bringen. Man sieht
zur Genüge, daß beiderseits alle Register der Diplomatie gezogen wurden.
Bismarcks Stellung war noch erschwert durch die öfters mangelnde Unterstützung
des Grafen Goltz. Der Botschafter mißbilligte Bismarcks Politik, wünschte
immer den Abschluß förmlicher Verträge mit Frankreich und regte diese im
Sommer 1865 sogar gegen seine Instruktion, aber ohne Erfolg an.
Bekanntlich brachte der Sommer 1865 im Vertrag von Gastein die letzte
Aussöhnung zwischen Preußen und Österreich. Die Enttäuschung in Frankreich
darüber war groß, so groß, daß Bismarck, der den Bruch mit Österreich trotz Gastein
ja doch schließlich an der Frage der deutschen Bundesreform herbeiführen wollte,
das Bedürfnis fühlte, selber den Kaiser Napoleon zu beruhigen. Er erwirkte
von seinem König die Erlaubnis, in Biarritz mit Napoleon zusammenzutreffen.
Die Beruhigung des Kaisers über die preußischen Absichten gelang ihm. Ver¬
geblich versuchte er aber auch diesmal, eine Zusage zu erlangen, daß sich
Frankreich mit außerdeutschen Kompensationen zufriedengeben würde.
Die erneute Verschlechterung der preußisch-österreichischen Beziehungen trat
schon Anfang 1866 ein und zeitigte neue Verhandlungen mit Frankreich.
Napoleon forderte jetzt zum erstenmal offen deutsches Gebiet und wurde zurück¬
gewiesen. Trotzdem war der König Wilhelm einem Bruch mit Österreich und
einer Annäherung an Frankreich nicht mehr so abgeneigt wie früher, weil die
Unhaltbarkeit des preußisch-österreichischen Kondominats über Schleswig-Holstein
auch für ihn offen zutage trat. Diesen Moment benutzte Bismarck zur Auf¬
rollung der Bundesreformfrage und damit zur Entzündung des Konflikts. In
längeren Verhandlungen gelang es. Frankreich zu der Zusage zu bestimmen,
es werde die Durchführung der preußischen Reformpläne ohne Kompensation
hinnehmen. Natürlich hoffte Napoleon nach wie vor im stillen, daß der Krieg
doch noch eine neue Lage und Gelegenheiten zu anderweitigen Forderungen
bringen würde. Selbst mit der Möglichkeit seines Übertritts auf die österreichische
Seite rechnete er bereits. In der Tat versuchten die Österreicher durch das
Angebot freiwilliger Abtretung Venetiens Napoleon zu gewinnen. Indessen
war Bismarck dieser Gefahr bereits durch Abschluß eines Bündnisses mit Italien
begegnet. Diesem Vertrag getreu, weigerte sich Italien, Venetien als Geschenk
Napoleons anzunehmen, und verlangte die direkte Abtretung durch Österreich.
Da wollte sich auch der Franzosenkaiser Österreich gegenüber nicht binden.
Nunmehr hatte sich Bismarck die diplomatischen Voraussetzungen der Abrech¬
nung mit Osterreich geschaffen und schlug unverzüglich los. Sein deutsches
Programm ging weniger vom Einheitsgedanken an sich aus, sondern davon,
daß es gelte Deutschland zu einer Macht von europäischem Gewicht zu machen,
und zwar auf der Grundlage der bereits vorhandenen preußischen Macht. In
diesem Grundgedanken war und blieb er gegenüber den Bestrebungen der
Paulskirche und der preußischen Union original, auch als er nachmals in deren
Bahnen einlenkte. In ihm lag die Möglichkeit einer Beschränkung, die die
älteren Einigungsprojekte nicht in gleichem Maße gehabt hatten. Wenn es
nicht so sehr auf die Einheit an sich, sondern auf die Macht ankam, dann
brauchte Bismarck durchaus nicht die vollendete Einheit Deutschlands als Ziel
ins Auge zu fassen, sondern er konnte mit der Durchführung der Bundesreform
lediglich nördlich des Mains sehr wohl auf kürzere oder auch längere Zeit,
unter Umständen gar für immer zufrieden sein. Früher hatte Bismarck an
eine regelrechte Teilung Deutschlands mit Österreich gedacht, und auch jetzt fiel
es ihm nicht schwer, das Reformprogramm nur auf Norddeutschland zu erstrecken,
da Frankreich diese Beschränkung zur Bedingung seines erwähnten Verzichts
auf Kompensationen machte. Selbst Sachsen preiszugeben und die süddeutschen
Staaten aus dem Zollverein zu entlassen, hätte er sich vermutlich zur Not
entschlossen. Konfessionelle, ethnographische und parteipolitische Erwägungen
ließen ihm öfters ein enges Zusammenarbeiten mit dem großenteils katholischen
und demokratischen Süden als gar nicht so unbedingt wünschenswert erscheinen.
Es war also Bismarck bei seinen Versicherungen gegenüber Frankreich zunächst
gewiß ernst mit der Beschränkung der preußischen Vorherrschaft auf den Norden,
ohne daß er dies als Lösung für alle Zeiten zu betrachten brauchte. Am
10. Juni 1866 trat er mit folgendem Bundesreformprogramm hervor: engerer
straff organisierter Norddeutscher Bund unter preußischer Führung, weiterer
loser Zusammenschluß mit den süddeutschen Staaten im Sinne des alten
Deutschen Bundes. Der Oberbefehl über die süddeutschen Truppen im Kriege
sollte nicht Preußen, sondern Bayern zustehen. Für diesen Plan gewann
Bismarck die vorhin erwähnte Zustimmung Napoleons.
Zum Nachteil für die französische Politik fiel die Entscheidung von König-
grätz viel zu schnell und gründlich. Österreich bot Napoleon neuerdings Venetien
an, und der Kaiser nahm es und trat Preußen gegenüber am 5. Juli als
Vermittler auf. Es war ein gefährlicher Schritt, denn hätte Preußen jetzt ab¬
gelehnt, so wäre es Napoleon seinem Prestige schuldig gewesen, die Annahme
der Vermittlung zu erzwingen, und das französische Heer war damals noch
viel weniger als 1870 für einen großen Krieg gerüstet. Der Eindruck der
Einmischung war in Preußen sehr schlecht. Doch nahm Bismarck die Ver¬
mittlung an in der Absicht, die Verhandlungen zu verschleppen. Er knüpfte
darum die Annahme an die Bedingung, daß Italien zustimme, und veranlaßte
die Sendung des Prinzen Reuß ohne besondere Instruktionen nach Paris, um
den Kaiser in höflicher Weise hinzuhalten. Er hoffte, Italien werde sich nach
dem Schlage von Custozza weigern, Venetien als Geschenk anzunehmen, oder
er werde, falls ihn Italien doch im Stich lasse, Zeit gewinnen, mit Österreich
direkt zu verhandeln.
Über die Friedensbedingungen, die man stellen wollte, war man sich damals
im preußischen Hauptquartier noch nicht klar. Ohne Zweifel ging man auf eine
Annexion ganz Sachsens aus. während man von Hannover und Kurhessen nur
so viel nehmen wollte, als notwendig war, um eine Verbindung zwischen den
preußischen Ost- und Westprovinzen herzustellen. Bismarck ging damit über
das von Napoleon gebilligte Programm vom 10. Juni hinaus, aber wie er
meinte, nicht mehr, als durch die inzwischen erfochtenen Siege gerechtfertigt sei. In
Süddeutschland wollte er sich auch jetzt streng an das Programm halten. In
einem Erlaß vom 9. Juli an den Grafen Goltz sprach sich Bismarck etwas
näher aus. Der Botschafter wurde beauftragt, ziemlich umfangreiche Forderungen
Preußens bei Napoleon zu vertreten, nämlich die volle Annexion sämtlicher preußen-
seindlicher norddeutscher Staaten, oder wenn dies nicht durchzusetzen sei.
möglichst große Gebietsabtretungen, und jedenfalls die Aufrichtung eines
kräftigen Norddeutschen Bundes. Wenn Frankreich eine unfreundliche Haltung
einnehme, so solle Goltz „mit der rücksichtslosen Entfesselung der nationalen
Bewegung in ganz Deutschland drohen" (Brandenburg S. 549). Goltz sollte
keine Friedensbedingungen mit Napoleon vereinbaren, sondern ohne direkte
Vorschläge zu machen, nur Sortieren, wieviel Vorteil der Kaiser jetzt nach
Königgrätz über das Programm vom 10. Juni hinaus Preußen ohne Kompen-
sationen zugestehen wolle. In Frankreich rechnete man bereits selber mit
Annexionen, und da Napoleon entschlossen war. Norddeutschland dem preußischen
Einflüsse zu überlassen, so war es ihm im Grunde gleichgültig, wieviele nord¬
deutsche Staaten bestehen blieben, wenn Preußen nur den Süden nicht antastete.
Höchstens die Erhaltung Sachsens wünschte er. Trotzdem unterließ es Graf
Goltz, dem Kaiser die Forderung der Annexionen überhaupt vorzutragen,
wahrscheinlich weil er Vismarcks Politik, wie schon früher, nicht für richtig hielt.
Dadurch gab er Napoleon Gelegenheit, in einem Briefe, den er dem am
15. Juli wieder abreisenden Prinzen Reuß mitgab, überhaupt jede verpflichtende
Äußerung zu den preußischen Friedensbedingungen zu vermeiden.
Inzwischen wurden in Frankreich Stimmen laut, die die zu erwartende
Machtsteigerung Preußens keineswegs für so ungefährlich hielten, wie der
Kaiser selbst, und die immer dringender empfahlen, den Siegern von Königgrätz
die Früchte des militärischen Erfolges recht gründlich zu verkümmern. Wort¬
führer dieser Richtung war der Minister Drouyn de Lhuns, der nach Möglichkeit
die ihm allzu preußenfreundlich erscheinende Politik seines Herrschers durch¬
kreuzte. Auf seinen Befehl begab sich am 9. Juli der Botschafter Benedetti
ins preußische Hauptquartier mit dem Auftrag, sofort einen Waffenstillstand
herbeizuführen. Man lehnte dies Ansinnen unter Berufung auf die mangelnde
Zustimmung Italiens ad. Benedetti merkte bei feinen Verhandlungen mit
Bismarck, daß Preußen unter allen Umständen auf Annexionen in Nord¬
deutschland bestehen würde. Dies war der Punkt, über den Graf Goltz die
französische Negierung bisher nicht unterrichtet hatte. Über Frankreichs Haltung
zu dieser Bedingung verriet Benedetti kein Wort, doch gewann Bismarck den
Eindruck, als werde ein etwaiger Widerspruch dagegen nicht unüberwindlich sein.
Wenn möglich trachtete Bismarck trotz der schwebenden Vermittlung Frank¬
reichs darnach, mit Österreich direkt in Friedensverhandlungen zu treten. Es
war also notwendig, daß er mit dem König über die endgültigen Forderungen
einig wurde. Anscheinend war Bismarck mehr für Vollannexionen ganzer
norddeutscher Staaten, während der König alle seine Gegner gleichmäßiger
bestrafen und dafür keine von den besiegten Dynastien ganz ihres Landes
berauben wollte. Am 14. Juli traf ein Telegramm von Goltz ein, worin der
Botschafter die französischen Friedensvorschläge mitteilte. Von den Annexionen
war darin gar nicht die Rede, weil es ja Goltz unterlassen hatte, ihre Notwendigkeit
in Paris zu betonen. Preußen sah sich darum nicht in der Lage, diese Vorschläge
zur Grundlage für den Frieden zu machen. Doch setzte es Bismarck nach
einer schweren Beratung gegen die Meinung des Königs am 18. Juli durch,
daß man die Vorschläge wenigstens als Grundlage für den Waffenstillstand
annahm. Der König hatte durchaus die Aufnahme der Bedingung der Annexionen
auch schon ins Stillstandsprogramm verlangt. Aber schließlich gab er doch nach,
und Bismarck konnte nach seinem Willen den Österreichern Waffenstillstand
anbieten. Bis zum Eintreffen der Antwort wurden fünf Tage Waffenruhe
bewilligt. Diese Beratung vom 13. Juli muß nach Brandenburgs Forschungen
die sein, die Bismarck in den „Gedanken und Erinnerungen" nach Nikolsburg
auf den 23. Juli verlegt, und deren temperamentvollen äußeren Verlauf er dort
höchst anschaulich schildert. Schon am 19. Juli entschlossen sich übrigens der
König und Bismarck, über die Richtlinien des 18. Juli noch hinauszugehen
und die französischen Vorschläge nicht nur zur Grundlage der Stillstands-,
sondern sogar der Friedensverhandlungen mit Österreich zu machen, wenn dieses
sich bereit fände, seine deutschen Verbündeten preiszugeben. Inzwischen war
nämlich Benedetti wieder im Hauptquartier angekommen. Er war in Wien
gewesen und hatte dort die Annahme der französischen Vermittlung erreicht.
Da der Botschafter auf sofortigen Beginn der Friedensverhandlungen nunmehr
bestand, kam man auf den eben erwähnten Ausweg. In der Tat war Österreich
unter der Bedingung der Integrität Sachsens einem Separatfrieden geneigt.
Alle seine übrigen Verbündeten überließ man in Wien ihrem Schicksal. Auch
jetzt hätte Preußen noch die Möglichkeit gehabt, die Verhandlungen zu verzögern,
wenn man sich auf die immer noch mangelnde Zustimmung Italiens berufen
hätte. Bismarck hatte bisher die Verbündeten derart im Unklaren über den
Stand der Dinge gelassen, daß man sich in Florenz bitter beschwerte. König
Wilhelm, dem die ganze Grundlage der Friedensverhandlungen zu wenig den
Interessen Preußens zu entsprechen schien, wünschte die Benutzung dieses Umstandes,
fügte sich aber auch hier schließlich seinem Minister, der die Zustimmung Italiens
nicht mehr für zweckdienlich und auch nicht sür notwendig hielt, da es den
ausbedungenen Kampfpreis. Venetien. ja sicher bekommen würde. Daß man
auf der Grundlage der französisch-österreichischen Vorschläge nicht mehr hoffen
konnte, Sachsen zu erhalten, war in den Augen König Wilhelms sehr schmerzlich,
in den Augen Bismarcks nicht völlig unvorteilhaft, weil er nun um so eher Hoffnung
hatte, die Vollannexion Hannovers und Kurhesseus dem König als notwendig hin¬
stellen zu können, zu der sich dieser bisher noch nicht hatte entschließen wollen. Jetzt
endlich traf übrigens auch von Goltz aus Paris die Nachricht ein. daß er die
Anerkennung der Annexionen verlangt, und daß Napoleon sie bewilligt habe.
Am 23. Juli traten die preußischen und österreichischen Unterhändler in
Nikolsburg zusammen. Man einigte sich über viele Punkte ziemlich glatt.
streitig blieben die Integrität Sachsens, die Abtretung eines österreichischen
Grenzstrichs, die Höhe der Kriegskostenentschädigung und die Zugehörigkeit
Sachsens zum Norddeutschen Bunde. Bismarck gewann den entschiedenen Eindruck,
daß die Österreicher lieber den Krieg fortfetzen als ein Stück ihres Landes,
außer Venetien, oder Sachsens abtreten würden. Da der König trotzdem durch
mündliche Rücksprache noch nicht zum Nachgeben zu bestimmen war, verfaßte
Bismarck die ausführliche Denkschrift vom 24. Juli, die uns Sybel in seiner
Geschichte der Reichsgründung mitgeteilt hat. Bismarck beantragte hier, die
Integrität Österreichs und Sachsens anzuerkennen und auch die Höhe der
Kriegskostenentschädigung zu ermäßigen, und sich dafür an ausgedehnten nord¬
deutschen Annexionen schadlos zu halten, für die die Zustimmung Österreichs
und Frankreichs zu haben sei. Es ist nach Brandenburgs Feststellungen nicht
richtig, daß Bismarck. wie er in den „Gedanken und Erinnerungen" behauptet,
sür den FM der Ablehnung seiner Anträge seine Entlassung verlangt habe.
Der König gab auch ohnedies wieder nach, und schon am folgenden Tage
konnte Bismarck den Österreichern die gewünschten Zugeständnisse machen. Nur
der Forderung des Ausschlusses Sachsens vom Norddeutschen Bunde gab er
uicht statt, und der König Johann von Sachsen, dem Kaiser Franz Josef selbst
die Entscheidung über Krieg und Frieden überließ, vollzog daraufhin seinen
Eintritt in diesen freiwillig. So kam am 25. Juli der Präliminarfriede von
Nikolsburg zustande. Der lange Widerstand König Wilhelms gegen die
Österreich und Frankreich in kluger Weise entgegenkommende Politik Bismarcks
erklärt sich am befriedigendsten aus legitimistischen Motiven. Die Anerkennung
der Integrität Österreichs und Sachsens zwang ihn. wenn überhaupt Preußen
Länderzuwachs erhalten sollte, der der Größe seines Sieges entsprach, die völlige
Entthronung der Dynastien von Hannover. Kurhessen und Nassau zuzugeben,
was in seinen Augen eine Vergewaltigung des Fürstentums von Gottes Gnaden
und ein revolutionärer Akt war. Noch nachträglich im August hätte er unter
dem Eindruck von Vorstellungen des russischen Zaren am liebsten jedem der
vertriebenen Fürsten ein kleines Stück ihrer Länder zurückgegeben. Wahrscheinlich
hätte Bismarck die Vollannexionen nicht durchsetzen können, wenn auch bei
Napoleon legitimistische Gesichtspunkte irgend etwas gegolten hätten. So aber
kam es dem Sohne der Revolution nur auf die Machtverhältnisse an, und da
er einmal sich entschlossen hatte, die Aufrichtung der preußischen Vorherrschaft
in Norddeutschland zuzugeben, war es ihm ziemlich gleichgültig, in welchem
Umfange Preußen innerhalb dieses Gebietes annektierte.
Ihm kam es auf die Selbständigkeit Süddeutschlands und auf den Bestand
der Zusicherung des Reformprojekts vom 10. Juni, daß Preußen an der Main¬
linie Halt machen werde, an. Gerade in diesem entscheidenden Punkte wurde
er aber zu guter Letzt noch von Bismarck diplomatisch überwunden, und zwar
durch die Schuld eigner Fehler. Gedrängt von den preußenfeindlichen Elementen
um Drouyn de Lhuys ließ er sich in einem durch schwere Erkrankung ver¬
anlaßten Moment der Schwäche zu der Inkonsequenz verleiten, nachträglich
doch noch mit einer Kompensationsfordernug aufzutreten. Und zwar forderte
Frankreich am 5. August ganz Rheinbayern und Rheinhessen, nach Ablehnung
dieser ungeheuerlichen Zumutung aber am 20. August wenigstens noch Landau
und das Saarkohlengebiet. Bismarck benutzte sofort die Gelegenheit, sich
seinerseits von dem Programm vom 10. Juni, das Napoleon ohne Kompensation
zugestanden, entbunden zu fühlen, und in die Friedensbedingungen für Württem¬
berg, Baden und Bayern den Abschluß jener Schutz- und Trutzbündnisse mit
dem Norddeutschen Bund aufzunehmen, die das ganze außer ° österreichische
Deutschland gegen Frankreich militärisch einigten. Als Entgelt erwirkte er bei
seineni König, daß die drei süddeutschen Staaten ohne jede territoriale Ver¬
kürzung davonkamen. Schon vier Jahre später mußte Napoleon seine Inkon¬
sequenz mit dem Verlust seines Thrones bezahlen. Denn er holte sich von
dem unverhofft geeinigten Deutschland die schweren Niederlagen von 1370.
Wahrscheinlich hätte sich der Anschluß der Südstaaten an den Norddeutschen
Bund im Kriege gegen Frankreich doch nicht so glatt vollzogen, wenn nicht die
Fehler der französischen Politik Bismarck zu günstiger Stunde die Gelegenheit
gegeben hätten, sich dieses Anschlusses zu versichern.
So bedeutet in der Tat der Präliminarfriede von Nikolsburg mit seinen
unmittelbaren Folgen die endgültige Zerstörung jener innerdeutschen Position
Frankreichs, die spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg eine Quelle der
europäischen Macht dieses Staates war, und die der Wiener Kongreß völker¬
rechtlich bestätigt hatte. Es wäre in einer Zeit, wo wir in engem Bunde mit
Österreich-Ungarn stehen und Blut um Blut uns jeden Tag fester aneinander
kettet, eine psychologische und moralische Unmöglichkeit, das halbhundertjährige
Gedächtnis des preußischen Sieges über Osterreich zu feiern. Was geschichtlich
notwendig war, ehren wir mit Schweigen und wenden unsern Blick der ver-
höhnten Gegenwart und Zukunft zu. Aber von Herzen feiern wollen wir den
entscheidenden diplomatischen Sieg über Frankreich, den Bismarck im Juli und
August 1866 erfocht. Dieses Triumphes wollen wir bei der funfzigsten Wieder¬
kehr des Tages von Nikolsburg vor allem gedenken, des Endes alter Gänge-
lung unseres Vaterlandes durch den westlichen Nachbar. Wir stählen an dem
Rückblick auf solche Vergangenheit unseren festen Willen. Frankreich für immer
aufs Knie zu zwingen, das doch nur deswegen nach Revanche geschrieen hat,
weil es glaubte, die Zeiten deutscher Schwäche erneuen zu können.
in Jahre 1913 hat Rußland China dazu vermocht, der äußeren
Mongolei unter ausdrücklicher Wahrung der chinesischen Ober¬
hoheit autonome Rechte zu verleihen, und es durchgesetzt, daß
der zuvor von ihm mit dem Hutuchtu in Urga geschlossene
Handelsvertrag chinesischerseits anerkannt wurde. Im Laufe des
europäischen Krieges ist es ihm gelungen, die Anerkennung von Bahn- und
Telegraphen-Konzessionen zu erlangen, welche durch die äußere Mongolei nach
dem eigentlichen China führen.
Im Mai vorigen Jahres kam dann zwischen China und Japan ein Ab¬
kommen zustande, durch das die Pacht seiner südmandschurischen Kolonie, einschließlich
der südmanschurischen Bahnlinien, die im Jahre 1922 ablaufen sollte, auf 99 Jahre
verlängert wurde, und das den Japanern Siedlungsrechte in der ganzen Süd¬
mandschurei gewährte, die in der Folge auch auf die östliche Mongolei, in der
sich China zur Öffnung von Handelsplätzen verpflichtet hatte, ausgedehnt wurden.
In diesen Tagen haben nun Japan und Rußland ihre beiderseitigen
Interessensphären in der Mandschurei und Mongolei durch ein Abkommen
näher umschrieben und die Gelegenheit benutzt, um in konsequenten Ausbau
der russisch-japanischen Verständigung vom Jahre 1910 sich ihre so umschriebenen
Rechte und Interessen gegenseitig gegen fremde Einmischung zu garantieren.
Dieses neue Abkommen, das auch nach Ansicht der englischen Presse einem
Bündnisvertrage gleichkommt, hat, soweit es in Umrissen bekannt geworden ist,
folgenden wesentlichen Inhalt:
1. In Ansehung der von Japan bereits geleisteten und für die Dauer des
europäischen Krieges noch zu leistenden Lieferungen von Kriegsmaterial aller
Art tritt Rußland an Japan die Verlängerung der südmandschurischen Bahn
von Tschangtschun bis zum Sungari-Fluß in einer Länge von etwa fünfund-
siebzig englischen Meilen gegen eine Kaufsumme ab, die gegen die japanischen
Forderungen für Kriegslieferungen in Anrechnung gebracht wird. Die Festsetzung
der Kaufsumme scheint noch nicht endgültig erfolgt zu sein. Die Angaben
schwanken zwischen vierzehn und zwanzig Millionen Jen.
2. Rußland gesteht den japanischen Untertanen in der Eisenbahnzone der
ostchinesischen Bahn und in ganz Oststbirien die gleichen Handels- und Nieder-
lassungsrechte zu wie seinen eigenen Untertanen.
3. Rußland anerkennt Japans Rechte und Interessen in der südlichen
Mandschurei bis zum Sungari-Fluß und in der östlichen Mongolei. Japan
anerkennt und garantiert Rußlands Rechte und Interessen in der Mandschurei
nördlich des Sungari und in der äußeren Mongolei und verpflichtet sich, im
Falle einer Gefährdung dieser Interessen während des europäischen Krieges auf
Rußlands Wunsch daselbst Rußlands Interessen wahrzunehmen. Dafür verzichtet
Rußland auf den weiteren Ausbau seiner militärischen Machtstellung am
japanischen Meer. Wladiwostok soll nicht weiter ausgebaut werden und in
Zukunft vorwiegend den Charakter eines Handelshafens haben, in dem die
Japaner nicht mehr wie bisher Beschränkungen hinsichtlich des Aufenthaltes,
der Niederlassung und des Handels unterworfen sind.
4. Rußland erkennt solche Maßnahmen Japans in China an, welche die
Aufrechterhaltung des Friedens im Fernen Osten auf der Grundlage der
Territorialintegrität und der Offenen Tür für alle Nationen bezwecken.
Sollte dabei eine dritte Macht oder eine Kombination von Mächten Japan
hindernd in den Weg treten und dieses infolgedessen gezwungen sein, gegen
dieselbe Stellung zu nehmen, so wird Rußland sich auf Japans Wunsch seinen
Maßnahmen anschließen.
Dieses auf den Fernen Osten bezügliche Abkommen wäre merkwürdig ein¬
seitig, wenn Japan nicht gleichzeitig für die außerordentlich belangreichen
russischen Konzessionen, die darin enthalten sind, in einer Form, die wohl im
Hinblick auf bestehende Bündnisse gewählt wurde, Rußland ungefähr gleich¬
wertige Gegenleistungen geboten hätte. Die Kriegslieferungen werden, soweit
nicht auf andere Art Zahlung erfolgt ist, durch Abtretung der Bahnstrecke
Tschangtschun—Sungari aufgewogen. Die Stellung, die Rußland darüber
hinaus zu den japanischen Plänen einnimmt, insbesondere aber der Verzicht
auf seine Macht am japanischen Meere legt die Vermutung nahe, daß Japan
sich Rußland gegenüber in einem geheimen Sonderabkommen zu Gegendiensten
verpflichtet hat. Rußland muß versuchen, sich für die Aufgabe seiner hohen
politischen Ziele im Fernen Osten, nachdem es den eisfreien Hafen Port Arthur
verloren hat, und auch Wladiwostok als militärischen und maritimen Stützpunkt
Japan gegenüber nicht weiter ausbauen kann, anderwärts in Asien zu
entschädigen und einen Ausgang zum Meere zu sichern. Dazu bietet die
Kriegslage in Persten Gelegenheit, wo England unter dem Druck der Verhält¬
nisse Rußland freiere Hand und gewisse Vorrechte, so unter anderem einen
Zugang zum Persischen Meerbusen zuerkennen mußte. Nur droht auch hrer
wie an den Dardanellen und am Bosporus eine scharfe Verkehrskontrolle und
Zwar seitens Englands, derselben Macht, die neben den Vereinigten Staaten
Japans Plänen in China allein noch hinderlich im Wege steht. Ber einer
etwaigen Auseinandersetzung mit England dieserhalb kann Japan Rußland ,in
Hinblick auf die exponierte Lage Indiens sehr wertvolle Dienste leisten, aber
auch Rußland kann Japan auf dem Wege über Wladiwostock und Port Arthur
im Bündnisfalle gegen England und Nordamerika nachhaltige Unterstützung
gewähren. Erinnern wir uns daran, daß schon in den Jahren 1899 und
1900 England und die Vereinigten Staaten sich darüber verständigten, daß es
keiner Macht gestattet sein soll, in China für ihren Handel eine Interessen-
sphäre unter Ausschluß des Handels anderer Mächte zu reservieren. Denken wir
ferner daran, daß die beiden Mächte im Frieden von Portsmouth ihre Interessen
Japan gegenüber erfolgreich wahrnahmen, nachdem die russischen Absichten durch
den Ausgang des Krieges durchkreuzt worden waren. Schließlich verdankt
gerade die Verständigung von 1910. die zu dem jetzigen Abkommen zwischen
Japan und Rußland erweitert worden ist. ihr Zustandekommen einem auf die
mandschurischen Bahnen bezüglichen Neutralisierungsvorschlage des amerikanischen
Staatssekretärs Knox und nicht zuletzt war die Haltung Juanshikais den
Japanern gegenüber auf den Einfluß amerikanischer Ratgeber zurückzuführen.
Welche Stellung England gegenüber Japans Absichten auf China einnimmt, ist
bekannt. Trotzdem ist anzunehmen, daß England der Not gehorchend, zu dem
vorliegenden Abkommen seine Zustimmung erklärt hat, nachdem Grey schon im
Sommer 1911 im britischen Parlamente die besonderen Interessen Rußlands
und Japans in der Mandschurei und Mongolei zugegeben hat.
Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, was mit dem politischen Ab-
kommen oder der Kombination gemeint ist. auf die sich der Geheimartikel im
neuen russisch-japanischen Vertrage bezieht, zumal sich England bei Erneuerung
der britisch-japanischen Allianz für den Fall eines Krieges zwischen Japan und
den Vereinigten Staaten freie Hand vorbehalten hat. Sollte nicht zwischen
England und den Vereinigten Staaten ein Bündnis der Art bestehen, daß bei
Verwicklung des einen in einen Konflikt der andere zu wohlwollender Neutralität
verpflichtet ist, so sprechen doch alle Anzeichen zum mindesten dafür, daß beim
Kampfe um die Vormacht am Stillen Ozean England und die Union-Staaten
Seite an Seite zu finden sein werden. Diesen Fall sieht der russisch-japanischeVertrag
voraus, ebenso wie er die Möglichkeit vorsehen soll, „zu Kompensationszwecken"
weitere Abmachungen zu treffen, die sich auf den Fernen Osten beziehen.
Graf Okuma äußerte sich kurz vor seinem Abgang über den Einfluß des
europäischen Krieges auf die japanische Politik wie folgt: „Der Grund, der Japan
zur Kriegserklärung gegen Deutschland bestimmt hat, in Gemäßheit des englisch.
japanischen Bündnisvertrages, ist den Mächten durch die Erklärung der japanischen
Regierung und das damals erlassene kaiserliche Dekret bekannt geworden. In¬
zwischen hat Japan Gelegenheit gefunden, seinem Verbündeten ebenso wie
Rußland und Frankreich neue Beweise seiner Freundschaft zu liefern. Dieser
Grundsatz war es auch, der uns veranlaßte, zusammen mit England die chinesische
Regierung in der Frage der Wiederaufrichtung der Monarchie zu warnen, um
eine Störung des Friedens im Fernen Osten zu verhindern, und der schließlich
zur Unterzeichnung der Londoner Deklaration seitens Japans führte. Dadurch
wurden die Entente-Mächte direkt und indirekt auf mancherlei Art und Weise
unterstützt und ihre Sache in diesem Kriege gefördert.
Die Ursache für die Entwicklung der Freundschaft zwischen Japan und
Nußland ist zweifellos in der rückhaltlosen Unterstützung zu suchen, die Japan
Rußland während des Krieges gegen den gemeinsamen Feind ebenso hat an-
gedeihen lassen wie England seinen Verbündeten. Nicht zuletzt ist diese Freund¬
schaft das Ergebnis der vollkommenen Überzeugung auf Seiten der russischen
Behörden und des russischen Volkes, daß Japan das Prinzip der territorialen
Integrität und der Offenen Tür in China aufrecht erhält und eifrig bestrebt ist,
den Frieden im Fernen Osten zu währen. Wie 'das englisch-japanische Bündnis,
so wird auch dieses Einvernehmen zur Sicherung des Weltfriedens und ganz
besonders des Friedens im Fernen Osten beitragen. Die neuen Beziehungen
zu Rußland und das englisch-japanische Bündnis sind dazu bestimmt, die
Interessen der Mächte in China zu schützen und den ehrgeizigen Nationen
zuvorzukommen, welche den Frieden des Orients zu stören trachten und die
Länder des Ostens überfallen. Angesichts des Schicksals der Türkei, .die den
deutschen Machtgelüsten zum Opfer fiel, will das japanische Kaiserreich beizeiten
verhindern, daß ein ähnliches Geschick China bereitet wird."
Die Tokno Tsushinsha. ein japanisches Korrespondenz-Bureau, verbreitete
kurz vor Juanshikais Tod folgende Auslassung einer hochstehenden diplomatischen
Persönlichkeit:
„England nimmt, trotzdem sich Japan im Bündnis mit England auf Grund
des englisch-japanischen Vertrages ernsthaft bemüht, den deutschen Einfluß in China
auszuschalten, in China eine zu unserem großen Bedauern der japanischen Politik
entgegengesetzte Haltung ein. Trotzdem England sich Japan anschloß, als dieses
die Aufgabe der monarchistischen Pläne seitens Juanshikais forderte, kann es sich doch
nicht dazu entschließen, mit seiner Jucmshikai günstigen China-Politik gänzlich zu
brechen. Im Gegenteil, es unterstützt offen und versteckt JuanWai. entgegen
dem Sinn der gemeinsam an die Pekinger Regierung gerichteten Ermahnung.
Besonders auffällig ist die Haltung der englischen Presse in China. Sie
bemüht sich, die Chinesen zu beeinflussen, indem sie offen und lebhaft für
Juanshikai eintritt. Zu gleicher Zeit senden die britischen Zeitungsleute schwarz¬
gefärbte Berichte nach dem Mutterlande in der Absicht, eine jede Japan freund-
liebe Politik der englischen Negierung zu hintertreiben. Ihre Argumente
zugunsten Juanshikais sind das Ergebnis der Befürchtung, daß im Falle seines
Sturzes die britische Politik in China eine gründliche Änderung erfahren und
sie die Privilegien, die sie in China genießen, vetlieren würden. Sie glauben,
daß außer Juanshikai niemand die Lage in China beherrschen kann und
wünschen, daß er im Amte bleibt, bis der europäische Krieg vorüber ist. Auf
diese Weise zeigen sie ihren Eigennutz ohne jeden Rückhalt. Es ist klar, daß
sie Juanshikai aus seinen gegenwärtigen Schwierigkeiten befreien möchten, damit
England seine Stimme energisch bei der Lösung der ostasiatischen Probleme
geltend machen kann. Sollten infolgedessen die Grundlagen des englisch¬
japanischen Bündnisses in Zukunft in bedauerlicher Weise erschüttert werden, so
tragen die Engländer in China allein die Schuld daran."
Fast gleichzeitig mit dieser Auslassung brachten die Hauptvertreter der
japanischen Presse die Nachricht, daß Sir John Jordan, der englische Botschafter
in Peking, infolge der schwierigen Lage Chinas seine Rückkehr nach England,
die im Mai erfolgen sollte, verschoben habe. Sofern aber Sir John Peking
nicht bald verlasse, sei es unmöglich, daß die japanische und englische Negierung
zu einem vollkommenen Einvernehmen mit Bezug auf ihre Chinapolitik gelangen.
Nur wenn Sir John Peking verlasse und weitere Änderungen in den Ver-
tretungen der Mächte in Peking Platz greifen würden, könne man auf den
Beginn einer neuen und ersprießlichen Ära in der Pekinger Diplomatie hoffen.
Hiermit im Zusammenhang verdient folgende, offenbar vom japanischen
Auswärtigen Amt inspirierte programmatische Äußerung, die in der japanischen
Presse zu finden ist, Beachtung:
„Da an einer stabilen Regierung in China sowohl die Chinesen selbst als
auch die Ausländer interessiert sind, und eine solche Regierung, da Asien nun
einmal nicht den Asiaten allein gehört, alle berechtigten Ansprüche der Nationen
des Westens sowohl als auch der Chinesen und Japaner erfüllen muß, so
bleibt, da die Chinesen sich bis heute zur Führung einer verantwortlichen
Regierung nicht fähig erwiesen haben, nichts anderes übrig, als die Einsetzung
einer Art Regierungs-Kommission. die sich einerseits aus Vertretern der aus¬
ländischen Mächte, andererseits aus Chinesen zusammensetzt. Schon jetzt steht
fast jeder Zweig der Pekinger Regierung unter der Aufsicht von Ausländern.
Mit jedem Tage verlieren die Chinesen mehr den Anspruch auf Selbstregie¬
rung. Da nicht nur die Ausländer, sondern auch sie selbst unter ihrer Un¬
fähigkeit, geordnete Zustände zu schaffen, leiden, so müßte eine Regierungs-
Kommission, wie die geforderte, von allen Seiten mit Freuden begrüßt werden;
denn sie wäre in der Lage, endlich geordnete Verhältnisse in der chinesischen
Verwaltung einzuführen, ohne daß prinzipielle Änderungen in der Regierung
stattzufinden brauchten. Was die Organisation einer solchen Regierungs-Kommission
anbetrifft, so wäre daran festzuhalten, daß bei gleichzeitiger Vertretung aller in
China stärker interessierten Mächte die führende Rolle (tre actual controllinZ in-
fluenLe) Japan vorbehalten sein müsse. Selbstverständlich würden die Mittelmächte
in einer solchen Regierung, wenn sie noch während des Krieges zustande kommt, so
lange keine Vertretung finden können, bis der Friede wieder hergestellt ist."
Es ist interessant, das Echo solcher Äußerungen in der englischen Presse,
speziell in den Blättern des Fernen Ostens und in der Londoner Presse, die
jenen Ländern besondere Aufmerksamkeit schenkt, zu verfolgen. So schreibt
„The London and China Telegraph" vom 12. Juni:
„Japans Absichten mit Bezug auf China sind augenblicklich Gegenstand
lebhafter Diskussion in einem Teile der Presse des Fernen Ostens. Wenn
auch vieles dabei lediglich auf Gerüchte und eitle Spekulationen der Artikel¬
schreiber zurückzuführen ist, so verdient der Gegenstand doch volle Aufmerksam¬
keit, und es sollte demgemäß mit größter Umsicht darüber berichtet werden.
Weit davon entfernt, sehen wir aber, daß den japanischen Staatsmännern
kritiklos allerhand wilde Eroberungspläne in Bezug auf China zugeschrieben
werden. So wird uns berichtet, daß Japan eifrig die chinesischen Revolutionäre
unterstütze, daß es im Begriff stehe, ein Abkommen mit Rußland zu unter¬
zeichnen, das ihm die Vorherrschaft in China sichern würde, und daß mit Aus¬
sicht auf Erfolg Versuche gemacht werden, ein deutsch-japanisches Bündnis nach
dem Kriege zustande zu bringen. Es wäre natürlich töricht, Japans starke
Interessen in China zu übersehen oder anzunehmen, daß es nicht jede Ge¬
legenheit benutzen wird, um diese Interessen mit aller Kraft wahrzunehmen.
Aber es besteht kein Grund für die Annahme, daß Japan das nicht in freund¬
schaftlichem Wettbewerb und Seite an Seite mit den anderen fremden Mächten
durchzuführen beabsichtigt, die in China Interessen haben. In der Tat hat
Baron Kato in einer jüngst gehaltenen Rede, die an die Adresse des englischen
Volkes gerichtet war, mit Bezug auf das englisch-japanische Bündnis bemerkt,
daß zeitweilige Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten keinen ge¬
nügenden Grund für die Auflösung des Bündnisses abgeben, daß vielmehr die
engen Beziehungen, die das Bündnis mit sich bringt, bei Auseinandersetzungen
über die beiderseitigen Ansprüche ihre Nützlichkeit erweisen würden und so jeder
unangenehme Konflikt vermieden werde. Das ist vielleicht," sagt der .London
and China Telegraph', „ein deutlicher Wink, der zeigen soll, daß Japan seine
eigenen Interessen ungestört verfolgen will, aber es ist auch ein Beweis dafür,
daß seine Absicht dabei ist, in Übereinstimmung mit den anderen Mächten zu
handeln. Bevor wir überzeugendere Beweise haben, als die, die gegenwärtig
zur Hand sind, nehmen wir die Verdächtigungen, die sich auf die Politik der
japanischen Regierung in China beziehen, nicht ernst. Freilich vergessen auch
wir die einundzwanzig Forderungen nicht, die Japan im vorigen Jahre China
vorgelegt hat, doch dürfen wir daran erinnern, daß es schließlich auf den be¬
denklichsten unter denselben nicht bestand."
Der Krieg im französischen Roman. Wie
bei uns ist die Zcihl der Kriegsschriften in
Frankreich unübersehbar. Neben Briefen und
Tagebüchern haben sich Streitschriften und
Romane am meisten angehäuft. Die po¬
lemische Literatur ist wenig eigenartig; sie
benutzt die altbekannten ausgetretenen Ge¬
dankengänge wütenden Hasses und wuchert
mit der Entrüstung über die angeblichen
Scheußlichkeiten der Deutschen. Wir können
sie nur als Ausfluß einer Kriegspsychose er¬
klären, ohne für ihre Maßlosigkeit Verständnis
zu haben. Klarer als der kriegskranke Jour¬
nalist, Politiker oder Gelehrte läßt uns der
Künstler in die Tiefe der seelischen Erschütte¬
rungen hineinsehen.
Nicht immer gelingt es allerdings dein
zur Deklamation neigenden Franzosen, sich
vom Patriotischen Schwulst freizumachen und
bis zur künstlerischen Freiheit sich durchzu-
mühen. Dies Empfinden wird auch der
unparteiische Leser bei dem Roman von
Charles Geniaux „I^es ?iances ac 1914"
haben. Der wortreiche Nationalstolz und die
eitle Selbstbespiegelung verhindern manch¬
mal, daß das Gefühl zum einfachen und
unmittelbaren Ausdruck gelangt. Französisch
ist der Roman in allen Schwächen und
Schönheiten. Die Form geht Geniaux über
alles. Auch in Augenblicken höchster Er¬
regung finden seine Personen imnier noch
einen wohlgebauten und wohlklingenden Satz.
Die Tante sieht den Schwerverwundeten Neffen
im Lazarett wieder und begrüßt ihn trotz
der Aufregung mit den erhabenen Worten:
„Warum muß ich den ersten Kuß, mein lieber
Junge, Dir unter solchen glorreichen, aber
ernsten Umständen gebenI" So geschraubt
drücken sich nun die beiden Liebenden nicht
aus. Sie sind wahrhafte Menschen, zwei bis
über die Ohren Verliebte. Und doch erinnern
sie an zarte, niedliche Porzellanfigürchen. Ein
tendelnd-neckisches Spiel mit Worten erscheint
ihr Liebesgeflüster und sie hauchen ihre Sehn¬
sucht nur in einem lächelnden Seufzer aus.
In weichen, arabesken Linien zeichnen sie
das Bild ihrer Seele, mit ernster Wichtigkeit
Plaudern sie über die „vertu", zwei nied¬
liche Nachkommen des Reifrocks und der
Wadenstrümpfe. Erst ini weiteren Erlebnis
des Krieges reift die Sprache, färbt sie sich
kräftiger. Und dann greift sie wirklich manch¬
mal ans Herz.
Ist dies so recht ein Buch für die Masse,
allerdings für die Masse der Gebildeten, so
wird der Roman von Abel Hermeae „tteures
6e Zuerre ete is kamile Valaäier" dem
Vergnügen bereiten, der sich gern abseits von
der Menge hält und sie mit väterlichem
Wohlwollen bekrittelt. Das häusliche Leben
der Familie Valadier, die uns der Dichter
hier vorstellt, ist durch den Entschluß der
ältesten Tochter, zur Bühne zu gehen, ganz
auf theatralische Wirkungen gestellt. Vater,
Mutter und die Kinder zitieren und rezitieren,
und jeder spielt seine wohleinstudierte Rolle.
Wenn man Frau Valadier besucht, dann
öffnet sie mit Häubchen und Schürze die
Tür, um bald darauf im Salon als Dame
des Hauses freudiges Erstaunen über den
Besuch zu heucheln. Aber auch diese Familie
erlebt den Krieg. Emma, die Aelteste, ist
und einem jungen Schauspieler verlobt, der
als Seesoldat und heimlicher Vater fällt.
DaS Geständnis, das die Tochter dem Bater
macht, geht in einer geschickt aufgebauten
Szene nach allen Regeln der dramatischen
Kunst vor sich und endet wie alle Rührstücke
mit einem tugendhaften Schlußeffekt: der
Vater vergibt. Emma heiratet dann einen
Verwundeten, der das Kind anerkennt. Der
Sohn, siebzehn Jahre alt, tritt freiwillig ein
und verliert im Schützengraben alles Theater-
Hafte, Gemachte. „Er hat sich in einen wirk¬
lichen Helden verwandelt, der auf die fürs
Publikum berechnete Gebärde verzichtet."
Dies alles, höchst lustig zu lesen, wird in
einen: gemächlich dahinfließenden Stile er¬
zählt; und nur hin und wieder unterbricht
ihn das kräftigere Gefälle selbstsicheren vater¬
ländischen Schwunges. Trotz der fast sach¬
lichen Sprache, hört man eine verborgene
Symbolik hindurchklingen: wie der junge
Valadier, so soll auch das ganze Volk in
diesem Kriege lernen, alles Theatralische,
Dekorative ablegen und sich an ein ein¬
faches, natürliches Heldentum gewöhnen.
Mehr als unterhalten will aber der im
Grunde etwas gleichgültige Hermant nicht.
Stärker ergreift die leidenschaftliche Marcelle
Tinayre, die in ihrem Roman „l^ veillöe
etes armes" die ersten Tage des Krieges,
die Stunden zitternder Erregung und schmerz¬
hafter Trennung nacherleben läßt. Ein ab¬
gelegenes Pariser Viertel bildet den Hinter¬
grund, das Wie eine Kleinstadt anmutet.
Alle Leute kennen sich. Da ist die Zeitungs-
händlerin, die für ihren Stolz, den einzigen
Sohn, sich alles vom Munde abspart; der
Kaufmann an der Ecke, der sofort bei Kriegs¬
ausbruch die Preise hinaufschraubte; die
blasse Blumenhändlerin mit dem eleganten
Morgenkleid; die allwissende Pförtnersfrau
und die vornehmen Mieter des modernen
Hauses. Der Krieg zerstört das idyllische
Leben dieser großen Familie. Das Schicksal
eines jeden wird mithineingezogen in die
große Not. Doch die Erlebnisse dieser
Dutzendwesen bilden nur den Rahmen.
Zwei Menschen, durch junge Liebe aneinander
gekettet, haben begonnen, ein gemeinsames
Leben voll Schönheit auszubauen. Aber auch
sie müssen sich trennen, sie, die das Leben
inniger, klarer und bewußter empfinden als
andere, die nur in der Liebe leben können.
Und dieser Abschied, dessen Schwere sie
mit selbstquälerischer Genauigkeit durchkosten
wollen, ist ein einziger hoffnungsloser Schrei,
ein machtloses Schluchzen. Dieses Buch ist
mehr als ein Roman; es ist der wahre und
menschliche Ausdruck einer empfindenden
Seele.
Kriegsprcdigtcn von l). Hunzinger,
Hauptpastor zu Se. Michaelis in Hamburg.
Drei Bände. Heroldsche Buchhandlung in
Hamburg. Preis des tard, Bändchens 1 M.
Vielleicht war eS zu keiner Zeit dankbarer
und interessanter zu Predigen, als heute. Die
gärende Erregung, die mit der Kriegser¬
klärung im deutschen Volke geweckt wurde,
zwang die evangelischen Pfarrer, schärfer und
pointierter die Predigt als Verkündigung
gegenwärtigen Christentums zu gestalten,
lebendiger als vordem die Züge aus dem
Charakter des Gebets hervortreten zu lassen.
Dank dem obersten, sieghaften Grundsatz des
realistischen Kanons, dem Satz von der
Wichtigkeit des Milieus, werden diese Züge
und Linien in den vorstehenden Kriegspredigten
des Hamburger Hauptpastors v. Hunzinger
in großer Unmittelbarkeit lebendig. Zur
Vergleichung holte ich des Dresdener Ober-
Hofpredigers I). Franz Bolkmar Reinharts
Predigten aus den Jahren 1806—1815 her¬
vor. Wüßten wir nicht aus der Geschichte,
was diese Jahre für unser Volk bedeuten,
aus Reinharts einst vielbewunderten Predig¬
ten erführen wir es nie. Seine Predigten
leben und weben in rationalistischer Pflege
der Weisheit, der klassischen Reinheit der
Sprache, dem tiefgründigen Erforschen edler,
individueller Lebensanschauung, der klassischen
Harmonie abgeklärter Weltanschauung. Ganz
selten klingt die Not der Zeit einmal in
einer Neujahrspredigt an, nirgends zeigt sich
ein bewußtes Verhältnis zum nationalen
Ringen und Sehnen der Zeit. Wie muß
die Franzosenzeit auf dieser Welt gleich
einem Alp gelagert haben, daß sie weltab¬
gewandt aus der trüben Gegenwart Pol
n¬
ischer Verschwommenheit und Verfahrenheit
flüchtet in das Reich des Ideals, des ge-
schichtslosen Philosophierens über Weltbildung
und Lebensklugheit. Wie ganz anders malt
sich die heutige Welt in Hunzingers Kriegs-
Predigten I Den Zug zur Schönheit, zum
kunstvollen Aufbau lassen sie völlig zurück¬
treten. Jede Predigt ist ein Kind ihrer
Zeit, der Siegesmeldungen der Woche, der
Stimmung des Augenblicks, einer Zeit voll
banger, nervöser Fragen, voll hastiger Sehn¬
sucht nach Gewißheit, nach Befreiung und
Erlösung, voller Gegensätze der Anschauungen
und Strebungen, wie sie leidenschaftlicher
kaum sich so geltend machen konnten. Hun-
zinger unternimmt es, diese Gefühle einheit¬
lich zu bannen, indem er an das Tiefste
in der Geschichte des Christentums, an die
deutsche Mystik anknüpft. Mit großer Frei¬
mütigkeit redet er von den heiligsten Myste¬
rien unserer Soldaten, denen Kanonendonner
und Schlachtgeschrei das tiefste Verständnis
von Sittlichkeit, Religion und - Christentum
geben und aus Verächtern des Christentums
Verächter von Tod und Teufel machen. Nicht
als bloße Stütze von Recht und Sittlichkeit,
von Thron und Altar, sondern als etwas in
sich Wertvolles läßt Hunzinger uns die religiöse
Erweckung unserer Zeit erkennen, die aus
dem Innern jeder besseren Seele von selbst
entspringt. Wenn diese Predigten auch oft
scheinbar die stilistische Formvollendung ver¬
missen lassen und die Sprache ein etwas
starkes, freies, fast unkanzelhaftes Gepräge
hat — des deutschen Volkes Todfeinde nennt
Verfasser gelegentlich im heiligen Zorn
Schufte, wie einst Jesus geistesgewaltig,
nicht mild und liebenswürdig, aber herb,
bitter und furchtlos seine Gegner Otternge¬
züchte genannt hat — so ersetzt Hunzinger das,
was an herkömmlicher Form und gewohnheits¬
mäßigen Kanzelton abgeht, durch die Per¬
sönliche Wucht einer mit sich fortreißenden
Rhetorik, die als persönliches Moment einer
treuen, deutschen Gesinnung gewürdigt zu
werden verdient. Achtundfünfzig Kriegs-
predigten enthalten diese drei Bändchen.
Wie Kolumbus einst mit staunenswerter Ge-
schicklichkeit und Einfachheit ein El zum
Stehen brachte, so weiß Hunzinger ohne gesuchte
Gcistreichigkeit, auch ohne triviale Geschmack¬
losigkeit, ohne Wiederholung, mit geschulter
Treffsicherheit Predigtthemen zu finden, die
Bibel und Gegenwart als ein unauflösliches,
füreinander geschaffenes Ganze erscheinen
lassen. Sämtliche Predigten sind vor ihrer
Sammlung in diesen drei Bänden als Ein¬
zeldrucke erschienen und in einer Folge von
nahezu einer halben Million abgesetzt und
an die Front gesandt worden. Alles in
allem genommen, kann man auch angesichts
dieser Sammlung in Buchform den Verfasser
wegen seines gewaltigen Erfolges nur herz¬
lich beglückwünschen.
Watyn—Zwiniacze angegriffen. — Heftige Kämpfe bei Kimpolnng in der
Bukowina. — Im Czeremosztal die Russen aus Kuty geworfen; bei
Radziwilow russische Ansturme abgeschlagen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Ws ist ein Zeichen von Gesundheit und Jugend in unserem Volke,
daß der Krieg nicht nur als der Zerstörer gewertet wird, sondern
als der Befreier niedergehaltener Entwicklungstriebe, und daß daher
jedermann überzeugt ist, nach dem Kriege werde das alte Deutsch¬
land durch ein neues ersetzt sein. Diese Auffassung zeugt von
Lebenskraft und Lebensbejahung. Ausgelebte Völker wollen nur das Ihre er»
halten im Krieg. Junge Völker wissen von ihrem Wachstum. Der Frieden ist
da oft wie ein Winterschlaf, der Krieg wie ein Frühlingssturm. Die Ernte reist
nach dem Kriege nicht sofort; aber ohne die im Frühling geweckten Keime keine
Ernte.
Man könnte dagegen einwenden, das starke Hervortreten der Reflexion über
den Krieg und seine Folgen sei im Gegenteil ein Zeichen der Altersschwäche.
Nie sei über Kriege in Deutschland soviel philosophiert worden als jetzt. Aber
nie hat auch ein Krieg so an den Lebensnerv des ganzen Volkes gegriffen, nie
das feiner Einheit und Zusammengehörigkeit bewußte Volk vor ein so absolut
Neues gestellt wie dieser. Noch der letzte Krieg — wie deutlich enthielt er in
sich das Ziel, und seine Erfüllung war seit Jahren vorauszusehen gewesen.
Heute ist die Verarbeitung des Geschehenen und die Herausstellung des Neuen
und Werdenden auf allen Gebieten schwerer, und wenn man auf den Berg von
Kriegsfchriften blickt, fo glaubt man das Ringen der Volksseele zu verspüren,
die sich abmüht mit der Frage, was ihr denn geschehen sei und was nun werden
solle. Und während auf die Frage der Oberfläche, die Frage nach den Friedens¬
bedingungen für die Feinde, die Regierung noch festen Verschluß gelegt hat,
wühlt in vielen um so stürmischer die Frage der Tiefe, unter welchen Be¬
dingungen denn wir in die künftige Friedenszeit eintreten werden, staatlich,
sozial, wirtschaftlich, — geistig, religiös, kulturell? Wie ein Orgelpunkt begleitet
diese innere Verarbeitung die lärmende Melodie des Krieges.
Seitdem nun noch der Gedanke „Mitteleuropa" in die Mitte unseres
Denkens gerückt ist, haben sich neue Probleme in Fülle erhoben. Unser Volk,
das sich selbst noch so problematisch ist, findet die Aufgabe vor, politischer und
wirtschaftlicher, aber auch geistiger und kultureller Mittelpunkt einer größeren
Völkereinheit zu werden, eine Aufgabe, deren Lösung, wie sie gewaltig das Welt¬
geschehen der Zukunft bestimmen muß, so auch zurückwirken wird auf unser Volk
und alle seine Glieder. Ist es da ein Wunder, wenn alle unsere stärksten und
tiefsten Kräfte sich aufgerufen fühlen, das Formlose gestalten zu helfen?
Es wird einem späteren Betrachter der Geistesgeschichte unserer Tage eine
reizvolle Aufgabe sein, das reiche Farbenspiel der Geisteskräfte unseres Volkes
zu beobachten, wie es sich an den neuen Fragen versucht, wie je nach Anlagen,
Neigungen, Temperament der einzelne nach dieser und jener Seite mit An¬
regung, Vorschlag, Programm Wege zeigen möchte in die verschlossene Zukunft.
Denn verhüllt ist sie uns und um so dichter verhüllt, je feiner die Werte sind,
um die es sich handelt. Während in der Richtung auf wirtschaftliche, soziale,
staatspolitische Zukunftsziele unsere Wege bereits hindurchzuschimmern beginnen,
erscheint das Zukunftsreich des Geistes, der Religion, der Kultur noch dunkel.
Und doch ahnen wir, daß eine Wende sich auch dort vollzieht.
Weil wir das ahnen, so suchen die, denen das Geistige am Herzen liegt,
den Schleier zu durchdringen, der diese Zukunft abschließt. Und wer möchte es
verwunderlich finden, wenn aus ihren Reihen manche in sich den Beruf er¬
kennen, Führer in jenes unbekannte Land zu werden. Aber hier liegt eine
Gefahr. Denn es handelt sich, wenn irgendwo, gewiß hier um Dinge, deren
Verlauf und deren Ziele sich nicht berechnen und nicht spekulativ erfassen lassen,
weil ihr Verlauf immanenten Gesetzen unterliegt, die für unsere Endlichkeit
unerforschlich sind, jenen Gesetzen, die dem Menschengeschick in der Geschichte
seine Richtung geben. Wer hier maßgebliche Worte zu reden sich unterfängt,
zieht sich den Vorwurf zu, daß ihm die Ehrfurcht vor dem geheimnisvoll-gött¬
lichen Werden der Kulturwerke nicht innewohnt.
Über den Begriff der Kultur und ihren Unterschied gegenüber der Zivilisation
hat uns ja dieser Krieg auch wieder nachdenken gelehrt. Daß wir die scharfe
Zuspitzung der Antithese im ersten Teil von Thomas Manns kleinem Buch über
Friedrich und die große Koalition als eine Überhöhung des Gegensätzlichen
empfinden, mindert (wie bei Sombarts Buch über Händler und Helden) nicht
deren erkenntnisfördernden Wert. Jedenfalls verstehen wir, daß Kultur eigenen
Gesetzen folgt, sich nicht rationell züchten läßt, sondern naturgewachsen im
einzelnen und im Volke aufblühe.
Ich sehe den Ursprung der Kultur in der Entfaltung irrationaler Seelen-
räfte des Einzelmenschen, deren Wurzeln im Unbewußten liegen. Es sind
durchaus dunkle, unerforschliche Ereignisse, die sich hier darbieten. Ihr Hervor¬
treten hängt nur insoweit von äußeren Bedingungen ab, als dem Menschen
erstens die seelische Verfassung gegeben sein muß, das Neue, das da wachsen
will, ohne Störung von außen herauszubilden, und als zweitens äußere An¬
regungen und Anstöße dieses Wachsen fördern können. Aber diese äußeren
Bedingungen sind für jedes Individuum anderer Art und richten sich nach der
Beschaffenheit der keimartig in ihm liegenden Möglichkeiten. Diese sind das
Wesentliche, und wo sie fehlen, kann keine Kultur wachsen. So hängt es zwar
von der inneren Anlage und von den äußeren Gegebenheiten ab, ob die Ent¬
faltung der Kulturblüten in Form des Kunstwerkes, des schöpferischen Gedankens,
der wirksamen Tat vor sich geht. Aber ob sich überhaupt solche Blüten ent¬
falten, das mag man Schicksal oder Gottesgeschenk nennen. — Im Individuum
also lebt und gestaltet sich Kultur. In anderem Sinne ist es, wenn wir von
einem Kulturvolk reden. Niemals sind alle Glieder eines Volkes fähig, Kultur
zu schaffen; wohl aber kann die Umwelt der Nation für die Würdigung und
Aufnahme von Werken der Kultur eine größere oder geringere Fähigkeit und
Offenheit in sich tragen. Insofern kann ein Volk, wenn auch nur mittelbar,
kulturfördernd genannt werden. Dazu aber kommt, daß der kultmbringende
Mensch selbst aus dem Geiste, der auch des Volkes ist. schafft, daß seine
unbewußten Tendenzen den Bedürfnissen des Volkes Erfüllung bieten, ja daß
sogar die Eigenart des Volkstums selbst es ist, die durch den Mund des
schöpferischen Volksgenossen sich realisiert. Von einer nationalen Kultur kann
man also wohl reden als von einer Harmonie aller Kulturleistungen der
einzelnen Volksgenossen, getragen von einer breiten Schicht zwar nicht schöpferischer,
aber verständnisvoll ausnehmender Seelen. So begreift es sich, daß jede Kultur
zwar aus individueller Leistung hervorgeht, aber nur national verstanden
werden kann. Zugleich aber auch — da der Mensch nur zu seiner Nation in
einem naturgewachsenen organischen Verhältnis steht —: daß es keine Mensch¬
heitskultur geben kann. Denn der Begriff der Menschheit ist eine Abstraktion;
niemand ist von Natur Glied der Menschheit.
Mit dieser Auffassung von Kultur steht im Widerspruch, was, in der Zeit
der Jntellektüberschätzung verwachsen, noch heute als Kulturbegriff gang und
gäbe ist. Man spricht von kulturellen Fortschritt und denkt dabei an die
wachsende Herrschaft der Technik über die Naturkräfte. Es wird eine der
wichtigsten Aufgaben philosophischer Diskussion in nächster Zeit sein, hier
begriffliche Klärung herbeizuführen. Immer wieder begegnet es, daß besonders
rein naturwissenschaftlich geschulte Köpfe intellektuelle Beherrschung der Umwelt
mit Kultur gleichsetzen. Sie wissen dann freilich die Kunst, doch eine der
höchsten Wirkungsformen der Kultur, in ihren Kulturbegriff nicht einzuordnen.*)
Wenn Kulturentwicklung, wie neulich Max Verworn in seinen „Biologischen
Grundlagen der Kulturpolitik" **) ausgeführt hat, „in einer immer weitergehenden
Anpassung des Denkens an die umgebende Wirklichkeit und die durch sie
bedingten Bedürfnisse besteht", wenn sie nur gefördert werden kann durch
„Erziehung zum kritisch-experimentellen Denken", dann ist das Kunstwerk kein
Kulturwerk, denn bei seiner Entstehung sprechen weder die Bedürfnisse der
Wirklichkeit, wie sie hier gefaßt werden, noch das kritisch - experimentelle Denken
mit. In Wahrheit wird ja nicht leicht ein Kulturwerk ohne Mitwirkung des
Intellekts entstehen, aber niemals wird auch der sublimste Verstand allein ein
wahres Kulturwerk schaffen.
Dagegen liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung
zutage. Denn die Weltanschauung eines Menschen ist keineswegs, wie man
oft meint, das Ergebnis einer rein verstandesmäßigen Erwägung, sondern es
spielen auch hier irrationale Gemütskräfte mit, die den einzelnen diese und
gerade diese Stellung zu den großen Fragen des Daseins einnehmen lassen.
(Dasselbe gilt übrigens, soweit nicht Nützlichkeitsgründe mitwirken, von der
Parteizugehörigkeit.)
Von dem Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung geht denn
auch das neue Buch des Wiener Universitätsprofefsors Karl Camillo Schneider
aus, das sich mit der künftigen Kultur in Mitteleuropa beschäftigt.*) Nach
ihm soll mit dem „seelenverändernden Entschluß", der nach Friedrich Naumann
zum Eintritt in den mitteleuropäischen Wirtschaftsverband führt (vgl. „Grenz¬
boten" 1916 I, S. 353 ff.), Ernst gemacht werden: Mitteleuropa soll eine
gemeinsame Kultur erhalten. Hier stock ich schon: wie ist es möglich, daß
etwas so unzweifelhaft völkisch Begründetes wie die Kultur den verschiedenen
Völkern Mitteleuropas gemeinsam werden kann? Es tut sich ein Blick auf
in das Gebiet reizvoller Probleme, das die Möglichkeiten der kulturellen
Einwirkung auf Fremdvölker, der Rezeption von höherer Kultur bei unent¬
wickelten Stämmen, der als Reaktion eine Eigenkultur besonderer Richtung
folgen kann, die Entstehung von sogenannten Mischkulturen usw. umfaßt. Aber
man wird enttäuscht. Der Verfasser sieht von dem Gegebenen ab und sucht es
durch Neues zu ersetzen. Seine Wege gehen ins Weltfreude und Ziellofe.
Schon der erste Schritt ist bezeichnend. Die erste Voraussetzung für die
kulturelle Einheit ist nach Schneider die Einführung einer gemeinsamen Sprache,
die für alle gemeinsamen Angelegenheiten anzuwenden ist. Da eine zureichende
Kunstsprache erst erfunden werden muß, tritt als Notbehelf eine nationale
Sprache, die deutsche, ein. „Aber von vornherein müßte gesetzlich festgelegt
werden, daß das nur ein Interregnum bedeutet."
Wichtiger erscheint dem Verfasser die Ersetzung der nationalen Religionen
und Geisteskulturen durch eine gemeinsame. Denn die Religion, die Geistes¬
kultur des Menschen, „drückt gerade sein echtestes Wesen aus, weit mehr als
alle Zivilisation. Darum kann die Kultur nicht im Belieben des einzelnen
und der Völker stehen, sondern muß als Angelegenheit Mitteleuropas behandelt
werden." Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß dies Letzte bedeutet: durch
eine neuzuschaffende ersetzt werden. Man greift sich an den Kopf: weil die
Kultur die echteste Wesensäußerung des Menschen ist, muß sie verdrängt werden?
Aber das Neue muß ja etwas Besseres sein, nämlich die Synthese der ver¬
schiedenen nationalen Geistestendenzen, die den Antrieb zu der großen Organi-
sation bietet, in der alle Mitglieder, auch „die Frauen und die uns an-
zugliedernden slawischenVMer" (sol) auf ihre Rechnung kommen. Die Organisation
faßt Schneider als Verwirklichung einer Idee, die getragen ist von einem
geistigen Prinzip, das die Welt in einen Kosmos zu verwandeln strebt. Aber
nicht in der unbelebten Natur, nur in den lebenden Organismen und ihrer
Auswirkung gibt es dieses Prinzip der Harmonie, und daher gehört dem
Vitalismus, der sich gegen die mechanistische Naturphilosophie setzt, die Zukunft.
Auf Grund des Schneiderschen „Jdeevitalismus" oder „Aktivismus" soll die
künftige Weltanschauung Mitteleuropas auferbaut werden. Ihm ist das Leben
„ein Realisationsprozeß der Idee an der Natur unter der Assistenz Gottes und
des Nichts". So ergibt sich als Gegenstück zur neuen Philosophie auch eine
neue Religion. Beides ist in dem Schneiderschen Buche zu sehr in Andeutungen
gehalten, als daß ein klares Urteil darüber zu gewinnen wäre. Hier genügt
es, darauf zu verweisen, daß die Realisierung der Idee des Kosmos, der
Harmonie jeder organisatorischen Leistung, so auch dem deutschen Militarismus
als Sinn zugrunde liegt. In der Betrachtung des Geschichtsverlaufes glaubt
Schneider zu beobachten, daß die individualistische Basis in Kultur und Zivilisation
das Altertum und das bis heute reichende Mittelalter beherrscht hat. An ihre
Stelle tritt jetzt eine Jdeenlehre, deren Prinzip von der individualistischen Nütz¬
lichkeit zum Kosmos als Entwicklungszweck hinstrebt.
Daß wir Deutschen die Träger des neuen Gedankens seien, sucht der
Verfasser durch rassenmäßige Begründungen zu stützen. Hiernach wäre der
Semitismus bisher herrschend gewesen; neben ihm habe das Ariertum nur
gelegentlich die Idee zu Ehren zu bringen versucht, von Pluto bis zur neueren
Jdealphilosophie, aber ohne Erfolg im ganzen. Diese Ausführungen gehören
zum Schwächsten des ganzen Buches; über die psychischen und Willenstendenzen
verschiedener Rassen sind wir denn doch noch viel zu wenig im Klaren, als
daß wir sie zu einer Philosophie des historischen Geschehens verwenden könnten.
Und Schneider selbst fühlt sich in der Zurechnung der einen oder anderen
Erscheinung zum semitischen oder zum arischen Komplex so unsicher, daß er an
späterer Stelle teilweise wieder aufhebt, was er früher gesagt hat.
Bleibt also hiernach noch manches verschwommen, so wird die Frage
besonders wichtig, mit welchen Stützen Schneider dieses luftige Gebilde auf der
wohlgegründeten dauernden Erde Mitteleuropas fundieren, mit welchen Kräften
er die Vorwärtsbewegung zum idealen Zweck erreichen will. Eine Weltenwende
sollen wir erleben. Die zweite Hauptperiode der Universalgeschichte beginnt
mit ihr. Ungeheure Kräfte, unerhörte Geschehnisse müssen die Menschheit mit
einem Ruck in die neue Richtung werfen — sollte man denken —, und da
sich die Wendung in den Menschen vollziehen soll, als „Seelenveränderung",
muß an eine Entbindung seelischer Potenzen von nie dagewesener Intensität
gedacht werden.
Und wie denkt sich das Schneider? Es muß eine neue Partei gegründet
werden. Sie muß eine allgemeingültige, von der Regierung anzuerkennende
Weltanschauung als Kulturform für Mitteleuropa ausarbeiten. Sie nutz den
Lehrstoff für die Erziehung der künftigen Mitteleuropäer festlegen, nicht wissen¬
schaftlichen (d. h. im bisherigen Sinn naturwissenschaftlichen), sondern historischen.
Sie muß drittens auf den Hochschulen die Forschung von Unterricht trennen.
Sie muß endlich alle Organisationen, welcher Art auch immer, vervollkommnen.
„Und unsere Nachkommen werden staunen, daß einmal ein Zeitalter möglich war,
in dem der vergängliche einzelne alles bedeutete und die ewige Idee so gut
wie nichts."
Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Die Diskrepanz zwischen Ziel
und Mitteln ist zu kraß, als daß ein weiteres Wort erforderlich wäre. Diese
Ausführung seines Wortes hätte sich Herr Naumann gewiß nicht träumen
lassen. —
Paul de Lagarde hat einmal gesagt: „Menschen und Völker schreiten auf
zwei Wegen vorwärts. Entweder so, daß in langsamem Wachstum sich jedes
Höhere aus dem nächst Tieferen, jedes Vollkommenere aus dem nächstweniger
Vollkommenen entwickelt, oder aber so, daß, nachdem elementare Gewalt den
ungenügenden Zustand der Dinge über den Haufen geworfen hat, infolge des
Unglücks die Betroffenen, welche nunmehr vor dem hellen Tode stehen, sich gezwungen
finden, alle ihre Kräfte zur Herstellung eines genügenden Zustandes einzusetzen."
Heute sehen wir, daß das, was auf dem Wege der Evolution noch lange nicht
sich gestaltet hätte, durch die Katastrophe des Weltkrieges entsteht, ein Mittel¬
europa ähnlich dem, das Lagarde schon vor mehr als sechzig Jahren vorausgesehen
hat. Welche staatsrechtlichen Formen die neue Einheit tragen wird, welche
politischen Ideale sich darin verwirklichen werden, dürfen wir kaum ahnen.
Und welche Kultur darin erblühen soll? Genug, daß man die hoffenden Seelen
vor ungesunden Seelenveränderungen warnt; daß man den Boden, der die neue
Pflanze tragen wird, vor dem Überwuchern störender Kräuter schützt. In der
Tiefe liegen Keime genug, und wir sind stolz, daß es deutsche Keime sein werden,
die diesem Kulturgebiet seinen Charakter geben. Man warte, was da wachsen
will, und meine nicht, daß es eine uniforme Kultur sein müsse. Das wäre
undeutsch.
Und man rufe nicht den Staat zum Paten für den Nasciturus an. Im
Kulturgebiete kann er nur Schützer fein, nicht Pflanzer. „Kunst, Wissenschaft,
Religion," hat ebenfalls Lagarde gesagt, „sind zwar im Staate, aber nicht
Organe des Staates." Freilich, Schneider kennt Lagarde nicht; er zitiert ein
irgendwo angeführtes Wort von ihm und hält ihn im übrigen für einen Franzosen.
(Was einem deutschen Universitätslehrer nicht passieren sollte!).
Also keine Kultur durch Spekulation, durch Parteiwesen oder staatliche
Verordnung! Die Affinität der mitteleuropäischen Kernvölker wird heute stark
genug empfunden, daß der deutschen Kultur die Wirkung selbst über den Boden
der Nation hinaus nicht fehlen wird. Und vor allem muß Mitteleuropa erst
staatlich geschaffen werden. „Erst sein, dann wie sein!" würde wiederum
Lagarde sagen.
nsere Schulerinnerungen an römische Geschichte, die sich im
wesentlichen der überlieferten römischen Geschichtsschreibung an¬
schließen, gehen ungefähr dahin, daß der römische Stadtstaat sich
erst Latium unterwarf, dann in den Samnitenkriegen das übrige
Mittel- und Unter-Italien sich untertänig machte, durch den ersten
punischen Krieg sich Sizilien, nach diesem die Poebene, Sardinien und Korsika
sich angliederte und schließlich nach den beiden anderen großen Halbinseln des
Mittelmeeres, nach Afrika und Asien übergriff. So kam denn das geschichtliche
Endergebnis heraus, daß die ganze Kulturwelt des Altertums um das Mittel¬
meerbecken herum der weltbeherrschenden Stadt am Tiberstrome unterworfen
war. Die Machtgrenzen Urbi8 et 0l-bi8 waren dieselben geworden.
Demgegenüber hat Mommsen mit Entschiedenheit betont, daß die politische
Geschichte Roms in zwei verschiedene Perioden zerfällt. Die erste umfaßt
die Einigung der stammverwandten italischen Stamme in einer festen Eid¬
genossenschaft unter römischer Führung und ist mit den Samnitenkriegen
abgeschlossen. Seit dem ersten punischen Kriege greift Rom, durch die bittere
Not gedrängt, zur Sicherung des italischen Gebietes über dieses hinaus,
erwirbt die Italien umgebenden großen Inseln und die Poebene. damals Italien
gegenüber noch fremdstämmiges Gebiet, und im weiteren Verlaufe der Ent¬
wicklung die anderen Mittelmeerländer. Diese Unterwerfung des Weltalls ist
nicht mehr das Werk einer Stadt, sondern der unter Roms Führung geeinigten
italischen Nation.
Es war nicht Eroberungssucht, die Rom dazu trieb, diese fremdartigen
Gebiete sich Untertan zu machen, sondern die dringendste Notlage, weil sonst
Italien selbst aus diesen Gebieten beständigen Angriffen, die italische Eid-
genossenschaft der Vernichtung ausgesetzt gewesen wäre. Der Sicherungszweck
forderte die militärische Beherrschung. Das wirtschaftliche Bedürfnis aus dem
geschlossenen Binnenmeere der Adrta und aus dem durch Karthago geschlossenen
tyrrhenischen Meere herauszubekommen, drängte in derselben Richtung. Der
italische Bauer, der friedlich seine Scholle bebauen wollte, wurde fürwahr nicht
durch Eroberungssucht zu immer neuen Kämpfen getrieben. Aber die italische
Eidgenossenschaft mußte aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen über ihre
Grenzen hinauswachsen, wenn sie nicht selbst untergehen wollte.
Nimmermehr konnte man aber daran denken, diese unterworfenen Gebiete
mit fremdartiger, meist feindseliger Bevölkerung in die festgefügte italische
Bundesgenossenschaft aufzunehmen. Nach dem ersten punischen Kriege wurden
Sizilien, bald darauf die Poebene, Sardinien und Korsika und schließlich die
anderen Mittelmeerländer römische Provinzen.
In der römischen Provinzialverfassung war das Problem gelöst, Länder,
die man aus politischen, militärischen und wirtschaftlichen Gründen unbedingt
beherrschen mußte, in Abhängigkeit zu halten, ohne ihnen doch politische Gleich¬
berechtigung zu gewähren und damit das eigene staatliche Gemeinwesen zu
sprengen. Die Provinzialen erfreuten sich meist in freier Munizipalverfassung
großer Selbständigkeit, nur in der hohen Politik hatten sie nichts zu sagen.
Ihr wirtschaftliches Leben blühte im Anschlusse an die große Weltmacht unter
ihrem Schutze und ihrem Frieden. Für das römische Heer stellten sie Hilfs¬
truppen unter römischen Befehlshabern. Die ganze Verwaltung stand unter
römischen Statthaltern. Mochten die römischen Landpfleger sich beim Verfalle
der Aristokratie manche Ausschreitungen zuschulden kommen lassen nach Art
eines Verres, so lag das am politischen System des herrschenden Staates, nicht
an der Provinzialverfassung. Mit der Kaiserzeit wurde es auch in dieser
Beziehung wesentlich besser.
Allmählich bildeten sich in den Provinzen auch stärkere italische Nieder¬
lassungen von Handel- und Gewerbetreibenden in den Städten und von italischen
Bauern. Das wirkte zurück auf die einheimische Bevölkerung. Sizilien, die
Poebene, Sardinien, Korsika, Spanien, Gallien und Dazien wurden bis auf
den heutigen Tag, Nord-Afrika wenigstens bis zur arabischen Eroberung von
Roms Kultur und Sprache erfüllt. Damit vollzog sich auch die innere Ver¬
schmelzung der Provinzialen mit dem herrschenden Staate.
So konnte Caesar den romanisierten Galliern, Ligurern und Venetern der
Poebene, Augustus den Bewohnern Siziliens das Bürgerrecht geben. Und
endlich konnte Antoninus Caracalla (211 bis 217) allen freien Bewohnern des
römischen Reiches das Bürgerrecht verleihen. Aus dem italischen Staate, der
sich das Mittelmeerbecken unterworfen, war auch innerlich das Weltreich
geworden. Alle Provinzialen fühlten sich jetzt als Römer. Daß heute alle
Bewohner der italischen Halbinsel von Sizilien bis zu den Kämmen der Alpen
Italiener, daß noch heute Franzosen, Spanier, Portugiesen und Rumänen
Romanen sind und romanische Sprachen reden, ist das Ergebnis der römischen
Provinzialverfassung.
Das untergegangene weströmische Reich erneuerte sich mit den Kaiser¬
krönungen Karls des Großen und Ottos des Großen im fränkischen Reiche
und im heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Die Erneuerung war nichts
Willkürliches. Denn das neue Germanenreich war vor ähnliche Aufgaben
gestellt wie einst das römische, im Interesse der eigenen Sicherheit fremde
Nachbarstämme sich zu unterwerfen und mit der eigenen Kultur zu erfüllen.
Doch nur äußerlich war die durch die Kaiserkrönungen vermittelte Anknüpfung
des neuen Reiches an das römische, alle seine Staatseinrichtungen waren rein
germanisch. Das ganze Mittelalter hindurch pflegte mau alle Einrichtungen
des Staats- und Rechtslebens, auf denen das germanisch-romanische Europa
sich fortentwickelte, auf Karl den Großen zurückzuführen, auch wenn sie auf eine
noch ältere Zeit zurückgingen. Und in der Tat, eine staatliche Schöpfung geht
einzig und allein auf ihn zurück, die Grenzmarken, die man noch im merovin-
gischen Frankenreiche nicht kannte.
Durch die Grenzmarken wurde ein militärisch geschützter Grenzbezirk so
weit in das Gebiet fremden Volkstums vorgeschoben, daß das eigentliche Volks¬
land von den verwüstenden kriegerischen Angriffen des Feindes überhaupt nicht
betroffen werden konnte. Gleichzeitig wurden die Marken der Besiedelung und
dem nationalen Einflüsse des dahintersitzenden Volksstammes eröffnet und dadurch
allmählich mit den alten Stammlanden verschmolzen. Daß man damit zunächst
fremdartige Volksstämme zu Untertanen erhielt, erregte kein Bedenken. Lagen
doch die Marken außerhalb der alten Stammesherzogtümer, von denen sie nur
ausgingen. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn man sich aus Bedenken
der Nationalität gescheut hätte, die Grenzen über das alte Stammesland hinaus¬
zuschieben? Liegt doch ein Drittel des heutigen Deutschland mit seiner Haupt¬
stadt auf altem Slawenboden, und ist doch der führende Staat Deutschlands,
Brandenburg-Preußen aus dem Zusammenwachsen von zwei großen Grenz¬
marken entstanden.
So umzogen Marken das ganze Reich Karls des Großen, am Ebro, gegen
die Bretagne, an der Eider, der Elbe, Saale, Raab, Donau und Jsonzo.
Nach der Teilung des fränkischen Reiches hatte Deutschland hauptsächlich Marken
an der Ostqrenze, da von dem schwachen westfränkischen Reiche keine Gefahr
drohte. Nur an der italienischen Alpengrenze und an den Apenninen ent¬
standen einige neue Markgrafschaften wie Jvrea, Susa, Tuscien gegen Burgund.
Auch die Markgrafschaft Baden, die übrigens bis zum westfälischen Frieden die
Reichsgrenze gar nicht berührte, war keine eigentliche Mark, sondern ihre Be¬
zeichnung stammt daher, daß die Zähringer den Titel ihrer verlorenen Mark
Verona auf ihre badischen Stammgüter übertrugen.
Nur ein Teil der Marken hat seine Aufgabe erfüllt. Die südöstlichen
Marken blieben im allgemeinen innerhalb ihrer alten Grenzen, ja vermochten
zum Teil nicht einmal die große Masse der slovenischen Bevölkerung zu ger¬
manisieren, so daß das Deutschtum nur vereinzelt über die Drau vorgedrungen
ist. Dagegen haben die nordöstlichen Marken und der preußische Orden gerade
in dem Jahrhundert nach dem Untergange der Hohenstaufen von 1250 bis 1350
noch ein bedeutendes deutsches Siedelungsgebiet gewonnen, bis sie schließlich,
ohne Rückhalt an einem eigenen Nationalstaate auf den geschlossenen polnisch¬
litauischen Nationalstaat stießen.
Mit dem alten Reiche verfiel auch seine Markenverfassung. Es ging wie
in aller menschlichen Entwicklung. Was nicht mehr zunimmt, muß abnehmen.
Die „saturierten" Völker, die nicht mehr Bedürfnis und Kraft in sich fühlen,
fremdes Volkstum in sich aufzunehmen und mit der eigenen Kultur zu erfüllen,
sind zum Untergange bestimmt. Statt daß das Reich wie einst in seiner Blüte
durch neue Marken aus sich herauswuchs, bröckelte es an allen Enden. Die
erstarkten Nachbarvölker, die nicht mehr unter die Macht der Reichsgewalt zu
beugen waren, eigneten sich ein Grenzgebiet nach dem anderen an. Mit der
Unterwerfung Preußens unter Polen und von Metz, Tüll und Virten unter
Frankreich fing es im sechzehnten Jahrhundert an, der westfälische Frieden
brachte die zweite große Teilung, bis schließlich im Untergange des alten
Reiches und im Rheinbunde diese Entwicklung ihr Endziel fand.
Immerhin hatten die Grenzmarken ihre Aufgabe erfüllt. Sie waren
Reichsgebiete wie alle anderen, der gewöhnlichen Landeshoheit unterworfen,
wenn die Gebiete der Marken auch an der Ostgrenze des Reiches lagen und
namentlich im Südosten noch einen Teil undeutscher Bevölkerung umfaßten.
Gerade daß es jetzt gewöhnliches Reichsgebiet war, zeigt wie einst in der
römischen Provinzialverfassung die endgültige Lösung des geschichtlich-politischen
Problems. Der Fehler bestand nur darin, daß man bei der Schwäche der
Reichsgewalt die Markenbildung zu früh abgeschlossen hatte.
Doch nichts zeigt die staatenbildende Kraft des deutschen Volkes in dem
Maße, als daß gerade zu dem Zeitpunkte, da das heilige römische Reich
deutscher Nation durch den westfälischen Frieden den Todesstoß empfing, sich
auf dem alten Slawenboden Ostelbiens aus den früheren Marken eine neue
Bildung erhob, die dem staatenlos gewordenen Volke in Kämpfen von zwei
Jahrhunderten das gab, was es vor allem bedürfte, den Staat. Es ist der
brandenburgisch-preußische Staat des Großen Kurfürsten.
Auch hier geben uns unsere Schulerinnerungen ein falsches Bild der
wirklichen geschichtlichen Vorgänge. Unterstützt durch eine geschichtliche Karte
von der Gebietsentwicklung des brandenburgisch-preußischen Staates haben wir
da wohl gelernt, daß Kurfürst Friedrich der Zweite die Neumark erwarb,
Albrecht Achill Krossen und Züllichau, Johann Sigismund Kleve-Mark und
Preußen, der Große Kurfürst Hinterpommern, Kammin, Halberstadt, Minden
und Magdeburg, Friedrich der Große Schlesien und Westpreußen und endlich
Wilhelm der Erste die neuen Provinzen. Dabei sind wir geneigt, an voll-
ständig gleichartige staatsrechtliche und politische Vorgänge zu denken, an die
Erweiterung des ursprünglichen Staatsgebietes, mit dem Kurfürst Friedrich
der Erste 1415 belehnt war, durch die genannten späteren Erwerbungen seiner
Nachfolger. Und doch handelt es sich um ganz verschiedenartige Vorgänge.
Richtig ist, daß Kurfürst Friedrich der Zweite mit den von seinem Vater
ererbten Marken die Neumark und einige kleinere Gebiete verband, ebenso seine
nächsten Nachfolger. Diese neuen Erwerbungen wurden ein Bestandteil der
Mark Brandenburg. Ebenso vollzog Friedrich der Zweite die Einverleibung
von Schlesien und Westpreußen, Friedrich Wilhelm der Dritte die der Rhein¬
provinz, der Hälfte des Königreichs Sachsen und von Neuvorpommern und
Rügen und endlich Wilhelm der Erste die der neuen Provinzen in den
nunmehrigen preußischen Staat. Da war es wirklich so, wie wir uns ge¬
wöhnlich die ganze Entwicklung der preußischen Territorialgeschichte vorstellen.
Einen ganz anderen Charakter hatten dagegen die Gebietserwerbungen
des siebzehnten Jahrhunderts, die von Kleve-Mark, Ravensburg und Preußen
durch Johann Sigismund und die von Hinterpommern, Kammin, Minden,
Halberstadt und Magdeburg durch den großen Kurfürsten.
Das waren keine Gebietserweiterungen des brandenburgischen Staats¬
wesens, sondern nur seines Landesherrn. Die einzelnen Gebiete waren ge¬
wissermaßen rein zufällig nur durch die Person des Landesherrn in reiner
Personalunion verbunden, zum Teil auf Grund verschiedenen Erbrechtes und
konnten auch ebenso wieder auseinandergehen. Im übrigen standen sie sich in
voller verfassungsmäßiger Selbständigkeit gegenüber, jedes Gebiet mit eigenen
Landständen. Eine verfassungsmäßige Verschmelzung fand nur an einer Stelle
statt. Die Stände des säkularisierten Bistums und nunmehrigen Fürstentums
Kammin traten in die hinterpommerschen Stände ein. Damit wurde Kammin
in Pommern einverleibt.
Es war das große Werk der Regierung des Großen Kurfürsten, aus
diesen vereinzelten Gebieten von der Memel bis zur Maas in heißem Kampfe
mit den Ständen und unter immer stärkerer Lockerung der Reichsgewalt durch
Heer und Verwaltung den neuen brandenburgisch-preußischen Gesamtstaat, die
werdende norddeutsche Großmacht, geschaffen zu haben. Das durch den Werbe¬
vertrag allein an die Person des Landesherren geknüpfte stehende Heer war
das erste verbindende Glied, es gehörte keinem einzelnen Gebiete, sondern der
Gesamtheit an. Auf das Heer stützte sich eine einheitliche Politik, die immer
als Hintergrund der Macht bedarf. Gerade' wegen des einheitlichen Heeres
erschienen dem Auslande die verschiedenen Gebiete als politische Gesamtmacht.
Seit 1651 erfolgte die Verschmelzung auf dem Gebiete, auf dem dem Landes¬
herren überkommene Rechte der Stände nicht entgegenstanden, auf dem der
Domänen und Regalien, der einheitliche Kammerstaat war vollendet. Und
endlich nahmen die Militärintendanturen, die Kommissariate, in beständigen
Kompetenzkonflikten mit den alten Landesregierungen die unmittelbare Verwaltung
der wesentlich für Zwecke des Heeres bestimmten Steuern und unter der Devise,
für die Steuerfähigkeit der Untertanen sorgen zu müssen, einen Zweig der
inneren Verwaltung nach dem anderen nebst der entsprechenden Attributivjustiz
für sich in Anspruch. Damit war seit Anfang der achtziger Jahre auch der
einheitliche Kriegsstaat vollendet.
Seit der Königskrönung von 1701 fand sich für den neuen Gesamtstaat
auch der einheitliche Titel, es ist der der königlich preußischen Staaten, der bis
zum Jahre 1907 aus unserer Gesetzsammlung geprangt hat. Denn der
Königstitel, obgleich nur auf Ostpreußen gegründet, wurde im ganzen Ge¬
samtstaate angewendet. Überall waren königlich preußische Truppen und Be¬
hörden. Der neue Titel deutet an, daß die einzelnen Gebiete nicht mehr durch
bloße Personalunion miteinander verbunden sind, sondern eine organische
Einheit bilden. Aber es ist ein Gesamtstaat, noch kein Einheitsstaat. Soweit
die Stände noch in einzelnen Einrichtungen wirksam sind, bilden die ver-
schiedenen Gebiete noch Staaten. Und das Reich hat bis zu seinem Unter¬
gange keinen preußischen Gesamtstaat gekannt, sondern nur einen König in
Preußen und später von Preußen als auswärtigen Monarchen, der gleichzeitig
Markgraf von Brandenburg war und als solcher eine Stimme im Kurfürsten¬
kollegium hatte und ebenso zufällig als Herzog von Magdeburg, Fürst von
Halberstadt und von Minden eine Reihe von Stimmen im Fürstenkollegium
des Reichstages.
Doch diese verfallenden Mächte der Stände und des Reiches konnten den
Gang der Geschichte nicht aufhalten. Mit dem Untergange des alten Reiches
und der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung waren die letzten Hemmnisse be¬
seitigt, die noch der vollständigen Einheit entgegenstanden. Seitdem gab es
nur noch den preußischen Einheitsstaat, den die Verfassungsurkunde als selbst¬
verständlich gegeben voraussetzt.
Seit Montesquieu 1748 in seinem lZ8put ach I^vis das Idealbild der
englischen Verfassung gezeichnet hatte, galt sie den Völkern des Festlandes als
Ziel des eigenen politischen Strebens. Der Kern dieser Verfassung war das
englische Parlament. Gneist rechtfertigt 1884 die ihm gewidmete Aufmerksamkeit
schon allein aus den Erfolgen. Denn in diesen Räumen sei ein Staatswesen
begründet worden, welches in seiner damaligen Gestalt ein Siebentel der be¬
wohnten Erde, ein Viertel der gesamten Menschheit in sich fasse.
Nur wäre nichts verkehrter als die Folgerung, daß dieses Viertel der ge¬
samten Menschheit im englischen Parlamente vertreten sei. Das englische
Parlament nimmt zwar das Recht für sich in Anspruch, entweder unmittelbar
oder durch das aus seiner jeweiligen Mehrheit hervorgegangene Kabinett dem
gesamten britischen Weltreiche zu gebieten, aber eine Volksvertretung ist es nur
für die Bevölkerung von Großbritannien und Irland.
Daß über ein Viertel der Menschheit dem britischen Weltreiche angehört,
hat es in erster Linie dem dicht bevölkerten Indien zu verdanken. Indien,
obwohl mit dem Titel eines Kaiserreiches ausgezeichnet, ist um zunächst reines
Untertanenland. Dasselbe gilt von allen tropischen Kolonien Englands mit
vorwiegend einheimischer Bevölkerung. Sie sind reine Ausbeutungsgebiete, die
nur Objekt der Regierung sein können.
Es handelt sich nur um die großen Siedelungskolonien mit europäischer
Bevölkerung und KöZponsiblL Oovernment. Dem äußeren Anschein nach sind sie
Staaten, ja Bundesstaaten mit eigenen parlamentarischen Ministerien, und doch
bilden Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika nur überseeische Provinzen
mit ausgedehnter Selbstverwaltung in ihrer Verfassung, die englisches Parlaments¬
gesetz ist, unbedingt der Souveränität des Mutterlandes untergeben. Nach der
traurigen Erfahrung, die England mit dem Abfalle der Vereinigten Staaten
gemacht, hat es seinen Siedelungskolonien einen weiten Spielraum und große
Freiheit gewährt. Und doch hängen sie nicht nur äußerlich mit dem Mutter¬
lande zusammen. Gerade der Weltkrieg hat gezeigt, wie sie sich ihm auch
innerlich bis zur Selbstvernichtung verbunden fühlen. Gerade diese innerliche
Verbindung rückt das Problem des Reichsbundes, der inneren organischen Ver¬
schmelzung, näher. Seine Lösung ruht in der Zukunft Schoße. Doch gerade
daß das Problem vorliegt, zeigt, wie England es verstanden hat, weite Gebiete
trotz geographischer Trennung ohne vollständige Einverleibung sich allmählich
politisch und wirtschaftlich zu verbinden, daß sich alle nur als Teile des
britischen Weltreiches fühlen.
Und endlich das zweite große Weltreich der Gegenwart, Rußland, tritt
uns entgegen, umgeben von einem breiten Gürtel der Fremdstämmigen. Wie
weite Gebiete des russischen Reiches auch die verbündeten Mächte besetzt haben
mögen, der Boden großrussischen Volkstums ist noch lange nicht erreicht,
die Fremdstämmigen legen sich wie ein schützender Wall davor.
Solange die wesentlich germanische Staatsbildung Peters des Großen
und seiner Nachfolger bestand, d. h. bis zu Alexander dem Ersten, hatte die
herrschende Klasse es auch verstanden, diese Fremdstämmigen in Rechtsformen
an das Reich anzugliedern, die sie befriedigten und mit Hingabe an das
Reich erfüllten. Mannigfach waren diese Formen, aber sie leisteten, was sie
sollten. Finnland war völkerrechtlich ein Teil Rußlands, aber staatsrechtlich ein
eigenes Großfürstentum mit der von Schweden übernommenen ständischen Ver¬
fassung. Die baltischen Provinzen gehörten zwar auch staatsrechtlich zu Ru߬
land, aber mit ausgedehnter Selbstverwaltung der herrschenden deutschen
Klassen, so daß man außer der russischen Besatzung von der russischen Staats¬
gewalt kaum etwas merkte. Kongreß-Polen endlich war ein besonderes kon¬
stitutionelles Königreich sogar mit eigenem Heere. Erst als mit Nikolaus dem
Ersten das politisch unfähige Moskowitertum zur Herrschaft gelangte, zerstörte
es nach und nach im Interesse einer vermeintlichen Staatseinheit alle diese
selbständigen Bildungen, ohne etwas neues an die Stelle setzen zu können.
Erst damit entstand für Rußland die schwierige Frage der Fremdstämmigen.
Wie sie aber noch heute der Schutz Rußlands sind, hat gerade der Krieg
gezeigt.
Auch Bismarck wollte 1866 die neuen Provinzen nicht einfach Preußen
einverleiben, sondern unter Aufrechterhaltung ihrer Verfassung sollte der König
von Preußen gleichzeitig König von Hannover, Kurfürst von Hessen, Herzog
von Schleswig-Holstein und von Nassau und Herr von Frankfurt werden.
Damit wäre der Übergang schonend vorbereitet worden. Erst das Abgeordenten-
haus machte einen Strich durch diese Pläne unter dem Schlagworte: Nicht
Personalunion, sondern Realunion, d. h. Einverleibung.
Überaus mannigfach sind die Bilder, die wir in kurzen Umrissen an
unseren Augen haben vorüberziehen sehen. Das sollten sie auch sein. Denn
sie zeigen, in wie vielfachen Formen das Recht die verschiedenen politischen
Lebensbedürfnisse zu befriedigen verstanden hat. Nicht die volle Einverleibung
ist der einzige Weg. Der vorzeitige Versuch dazu kann, wie die neuere Ent¬
wicklung Rußlands zeigt, geradezu verhängnisvoll wirken. Auch mit Elsaß-
Lothringen hätten wir 1871 mindestens einige Jahrzehnte warten sollen.
Nimmermehr kann aber die Unmöglichkeit einer sofortigen vollständigen
Einverleibung und die Befürchtung, die nationale Geschlossenheit zu stören,
einen Staat zum Verzichte auf Gebietserwerb bestimmen, der für ihn aus
militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen eine bittere Notwendigkeit
ist. Man beschwört wohl Bismarcks Geist herauf mit dem Schlagworte vom
„saturierten Staate". Bismarck hatte gut reden. Er hatte den preußischen
Staat um drei Provinzen auf einmal — ein Gebiet wie nie zuvor —, das Reich
um Elsaß-Lothringen erweitert. Danach konnten beide vorläufig „saturiert"
sein, um erst einmal das Genossene zu verdauen. Aber jeder Organismus,
der fortgesetzt an dem Troste zehrt, einmal satt gewesen zu sein, muß schließlich
zusammenschrumpfen. Wie mannigfach die Formen des Wachstums eines
staatlichen Organismus sein können, das lehrt uns die geschichtliche Entwicklung
aller Zeiten.
le Geschichte des Deutschtums in Bosnien beginnt mit der
„Okkupation" des Landes im Jahre 1878. Diese wurde von
Österreich-Ungarn nach dem russisch'türkischen Krieg durchgesetzt
als Machtausgleich gegenüber dem Machtzuwachs von Rußland
auf dem Balkan, den sich dieses durch die Schaffung seines
Vasallenstaates Bulgarien errungen hatte oder errungen zu haben glaubte. Es
ist viel zu wenig bekannt, was Österreich-Ungarn unter der zunächst eingesetzten
militärischen Verwaltung für Bosnien und die Herzegowina getan, und wieviel
es an Kulturarbeit in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht hat. Man wird,
wenn man das Geleistete betrachtet, an die großen Zeiten des Donaureichs
erinnert, als General Mercy, Maria Theresia und Joseph der Zweite das den
Türken in traurigem Zustand abgenommene Süd- und Südostungarn der Kultur
erschlossen. Wie es damals deutsche oder deutschdenkende Offiziere und Beamte
waren, die das große Werk vollbrachten, so ist der schwere Anfang der Kultivierung
Bosniens im wesentlichen gemacht worden durch einen Stab von deutschen
Offizieren und Beamten, die freilich in steigendem Maße durch Slawen und
Magyaren verdrängt wurden. Wie im achtzehnten Jahrhundert in Ungarn,
waren es aber auch im neunzehnten Jahrhundert, diesmal in Bosnien, deutsche
Bauern, welche durch ihre eigene Rodungsarbeit und durch ihr Beispiel die
Absichten der Regierung aufs wirksamste unterstützten, denn nur durch die Hebung
der Landwirtschaft kann ein fast ausschließlich von Ackerbau und Viehzucht
lebendes Land wie Bosnien in die Höhe gebracht werden.
Schon im Jahr 1879, ein Jahr nach der Besetzung, kamen Rheinländer,
die in dem fruchtbaren Vrbastal, zwischen Banjaluka und der Mündung des
Vrbas in die save die Kolonie Windthorst gründeten, welche sich seither aufs
beste entwickelt hat. Dasselbe gilt von einer gleichzeitig erfolgten Tiroler-
ansiedlung in der Nähe der Rheinländer, die sich zu Ehren des damaligen
Kronprinzen, Rudolphsthal, benannte. Diese deutschen Ansiedlungen waren
für die Eingeborenen wahre Lehrstätten. In welchem Maß sie das sein konnten,
versteht man erst recht, wenn man weiß, daß die böhmischen Bauern noch mi
hölzernen Pflügen arbeiteten, daß ihr Vieh ganz minderwertig war, daß ihnen
die Düngung ebensosehr ein Geheimnis war wie Lesen und Schreiben! Es
waren rein mittelalterliche Zustände, und wie tief dieselben verankert waren
oder sind, beweist die Tatsache, daß es der Regierung heute noch nicht gelungen
ist das Hörigkeitsverhältnis der — christlichen — Bauern (Kneten) von den
— mohammedanischen — Großgrundbesitzern (Begs) zu lösen. Die militärische
Verwaltung des neuen Reichslands erkannte auch alsbald den Nutzen, den die
nichtskostenden Ackerbauschulen Rudolphsthal und Windthorst dem Land brachten,
und machte sich ans Werk, neben diesen privaten Ansiedlungen, die sich mit
eigenem Geld angekauft hatten, Regierungs-Kolonien zu schaffen.
Ausiedlungslustigen wurde, wie seinerzeit in der schwäbischen Türkei und
im Banat, Grund und Boden umsonst, dazu allerlei Vergünstigungen, namentlich
auch die Errichtung von Kirchen ihrer Konfession und Schulen in ihrer Mutter¬
sprache versprochen. So kamen denn auch jüngere Söhne der schwäbischen
Bauern aus Ungarn und Galizien, solche aus dem benachbarten Slavonien
wie aus der Bukowina in ziemlicher Menge und ließen sich in konfessionell
getrennten Kolonien ansiedeln. Es war nicht immer der beste Boden, der
den Rodungslustigen angewiesen wurde, zum Teil sogar fast unfruchtbarer.
Eine Kolonie mußte, um sich zu retten, aus dem fieberschwangeren Tale auf eine
benachbarte Höhe umsiedeln, nach der sie sich dann „Schutzberg" benannte.
Auch sonst gab es Schwierigkeiten genug. Das Land war den Ansiedlern
zuerst gewissermaßen nur auf Probe geliehen, aber auch wenn diese die Bedingung
der Urbarmachung desselben erfüllt hatten, erfolgte die Überschreibung des
Grundes in das freie Eigentum der Rodenden nicht sofort. Es dauerte sieben
bis zehn Jahre, bis die Ansiedler staatlicherseits als Eigentümer anerkannt
wurden und damit endlich Kredit auf ihre Liegenschaften bekommen konnten.
Bis dahin hatten die armen Bauern, die ihr Letztes in ihre Anwesen hinein¬
gesteckt hatten, hilflos dagestanden und konnten Betriebsgelder nur gegen
unglaubliche Wucherzinsen bekommen. Selbst aus niederen Beamtungen, die
mit neidischen Eingeborenen besetzt waren, sind den „Schwobas" mehr als
einmal Prügel zwischen die Füße geworfen worden. Trotz alledem kamen diese
vorwärts und es bestehen zurzeit in Bosnien zweiundzwanzig deutsche Kolonien,
von denen die große Mehrzahl Regierungskolonien sind. Unter dieser Zahl
sind auch die ganz kleinen Tochterkolonien mitgerechnet, die bis jetzt nur aus
wenigen Familien bestehen, und die Gesamtzahl der Deutschen in den Kolonien
wird zehntausend Seelen nicht übersteigen (dazu käme aber noch die nicht
unbeträchtliche Zahl der Deutschen in den Städten). Von den Kolonien sind
viele noch weit zurück, mit den alten Stammkolonien Windthorst und Rudolphs¬
thal können sich nur wenige messen z. B. das von evangelischen Schwaben aus
dem Banat im Jahr 1830 gegründete Franz - Josephsthal an der serbischen
Grenze. Mit der Mehrzahl der deutschen Kolonien in Galizien — wie sie
vor dem Russeneinfall waren — und vollends mit den reichen Schwabendörfern
im Banat dürfen wir höchstens die drei genannten vergleichen.
Richtig in Gang kam der Fortschritt namentlich seit der evangelische
Pfarrer von Banjaluka W. I. Osler die ganze Zeit, die ihm sein Pfarramt
ließ, und seine ganze jugendliche Tatkraft den Kolonisten beider Konfessionen
widmete und als sein Bruder Dr. jur. A. Osler, „der Kolonienanwalt", unter
großen Schwierigkeiten in den größeren Ortschaften Raiffeisenkassen. Einkaufs¬
und Verkaufsgenossenschaften und ähnliche Unternehmungen zustande brachte,
und dadurch die Ansiedler allmählich aus den Händen des Wuchers befreite,
der nicht bloß zwölf, sondern zwanzig Prozent zu nehmen pflegte. Pfarrer
Osler verstand es, alle völkischen und kirchlichen Schutzvereine für seine Pflege¬
befohlenen zu interessieren und das Kirchen- und Schulwesen der evangelischen
Kolonien allmählich auf festere Grundlagen zu stellen. Angesichts des in
verhältnismäßig so kurzer Zeit Erreichten, konnte man von einer hoffnungsvollen
Zukunft des Deutschtums in Bosnien sprechen; ja, wenn man auf der Karte
den Kranz der an der Nordgrenze Bosniens gelegenen deutschen Dörfer betrachtete,
konnte man von einer deutschen Durchdringung dieser Gegend träumen, umsomehr
als sich eine geldkräftige schweizerische Gesellschaft bildete, die türkischen Gro߬
grundbesitz aufkaufte und zur Aufteilung unter neu herbeizuziehende Ansiedler
vorbereitete.
Da trat ein Ereignis ein, welches alles Gewonnene in Frage stellte: Die
Verwandlung der „Okkupation" Bosniens in eine dauernde Annexion imJahr 1908
und anschließend daran der Abbau der militärischen Verwaltung und die
Einrichtung eines mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Landtags. In
diesem Landtag, in dem die Deutschen bis jetzt nie einen Vertreter hatten, war
und ist die weitaus überwiegende Mehrzahl deutschfeindlich. Daß von nun
ab keine weiteren deutschen Regierungskolonien mehr gegründet wurden,
braucht kaum gesagt zu werden, aber auch die bestehenden bekamen die Feind¬
schaft alsbald zu fühlen: der Landtag knüpfte an die weitere Bewilligung der
bisherigen Zuschüsse für die Schulen der deutschen Kolonien Bedingungen,
die zur Aufgabe ihres deutschen Wesens und damit zur Entdeutschung der
Kolonien geführt hätten. Alle Bemühungen, die gemeinsame Regierung des
österreichisch-ungarischen Kondominiums zu einer nachhaltigen Vertretung der
verbrieften Rechte der deutschen Kolonien zu bringen, waren mehr oder weniger
fruchtlos, und nur die tatkräftige Unterstützung der reichsdeutschen und öster¬
reichischen Schutzvereine hat bisher die Durchhaltung der Schulen ermöglicht.
Mitten in diese Kämpfe um Sein oder Nichtsein des Deutschtums in
Bosnien fiel der Fürstenmord in Sarajewo und der Ausbruch des Krieges.
In das Feuer der serbischen Kanonen ist nur eine der Kolonien an der
serbischen Grenze gekommen, und auch sonst ist der Krieg nach dem Arbeits¬
bericht des Pfarrer Osler für 1915, dem wir die folgenden Angaben entnehmen,
bis jetzt verhältnismäßig glimpflich vorbeigegangen. „Im allgemeinen" heißt
es dort, „kann man sagen, daß die Lähmung, die zu Beginn des Krieges fast
alle Arbeitsgebiete ergriff, und zwar in um so höherem Maß, je ferner das
Gebiet dem Krieg und der Kriegsfürsorge stand, völlig gewichen ist. Wir
haben in dem vergangenen Jahr versucht zu arbeiten, als wäre kein Krieg,
oder als könnte er noch ein Jahrzehnt dauern." Es sind auch tatsächlich nur
einige wenige, so wie so auf schwachen Füßen stehende Wirtschaften in einer
Gemeinde (Königsfeld), die von einer Mißernte getroffen war, ganz zusammen¬
gebrochen, aber „wesentlich verbessert hat sich der Besitzstand des Durchschnitts¬
bauern jedenfalls nicht." Die Genossenschaften haben den Krieg „so gut als
nur denkbar" überstanden, obgleich „wir im Gegensatz zu den meisten hiesigen
Geldinstituten von dem Grundsatz abgewichen sind, während des Krieges keine
Darlehen abzugeben." Auch sonst hat der Krieg den deutschen Kolonien in
Bosnien — wie denen in Galizien — Gelegenheit gegeben, ihre Leistungs¬
fähigkeit zu zeigen, und „um ihre kriegswirtschaftliche Bedeutung nicht gar zu
schnell in Vergessenheit geraten zu lassen", sei kurz wenigstens Folgendes fest¬
gehalten: „Die Gespanne mit schweren Pferden, die in Bosnien bei der
Mobilisierung aufgekauft wurden, stammen von den Kolonien oder aus deren
Zucht. Sie hatten außerdem den Vorzug tüchtiger, teurer Beschirrung. Zu
Führern der Wagenkolonnen wurden schon wegen ihrer Zweisprachigkeit mit
Vorliebe Kolonisten genommen. Die zurückbleibenden Männer wurden sofort
zur Verstärkung der Gensdarmerie herangezogen und leisteten als Schutzkorps
wertvolle Dienste. Die dann noch verfügbaren Männer organisierten wir als
Bürgerwehr. Als dann die Lebensmittel-Requisition und die Versorgung der
Städte Mühe machte, waren es wieder die Kolonien, die herhalten mußten und —
herhalten konnten. Wer baute z. B. im Kreise Banjaluka Weizen und Kartoffeln
in nennenswerter Weise außer den Kolonisten und wer es von ihnen gelernt
hatte I Das Gleiche gilt von der Aufzucht von Mastschweinen. Für die Rote-
kreuzspitäler wurden die Milchkühe bei Deutschen zusammengekauft. Die
Käsereien desTrappiftenklosters, die unserer Genossenschaften und anderer Erzeuger
konnten nicht schnell genug die Bestellungen des Militärs erfüllen. Dazu kam
die Versorgung der Zivilbevölkerung. Die Milch für unsere Spitäler und
Bürger mußte zum größten Teil aus der Kolonie Rudolphsthal zwanzig
Kilometer mit Wagen hergeführt werden. Ans Militärärar lieferten vier
deutsche Kolonisten nicht weniger als sechzig Waggon Preßstroh. Das fehlende
Saatgut für die zwangsweise Bestellung der Bosniakenfelder wurde größtenteils
in den Kolonien requiriert, besonders Hafer, Weizen, Kleesamen und Kartoffeln.
Von den, allein im Bezirk Gradiska tätigen, und von der Regierung gebildeten
sechsundfünfzig Anbauüberwachungs-Kommissionen hatten dreiundvierzig einen
deutschen Kolonisten als Vorsitzenden! In Rudolphsthal war 1915 mehr
Bodenfläche angebaut als in Friedenszeiten.
Als zahlreiche Flüchtlinge von der Ostgrenze und später zeitweilig Evakuierte
aus Sarajewo unterzubringen waren, und in den Städten weder genügend
Platz noch Verpflegungsmöglichkeit sich fand, mußten wieder deutsche Kolonien
eine Zufluchtsstätte bieten.
Überraschend stark war die Beteiligung der deutschen Kolonien an der
Zeichnung der drei Kriegsanleihen. Während der Verband der serbischen Ge¬
nossenschaften (d. h. der griechisch-katholischen Eingeborenen) Konkurs machte.
setzte der kaum drei Jahre alte Verband deutscher bäuerlicher Kredit- und
Wirtschaftsgen offenschasten mit kräftiger Werbearbeit ein und brachte nahezu
eine Viertelmillion in barem Geld, im ganzen 300000 Kronen, an Zeichnungen
seitens der Kolonisten auf.
Dem Verband ist für seine erfolgreichen Bemühungen bei Aufbringung der
Anleihen — weil es die erste und einzige Anerkennung ist, die uns, in bald
siebenjähriger Arbeit an den Kolonien, seitens der Regierung zuteil geworden
ist, sei es erwähnt — eine schriftliche Belobigung der hohen Landesregierung
zugekommen."
Abgesehen von dieser Auszeichnung wurden die Leistungen der deutschen
Kolonien durch staatliche Spenden für die Schulen in der Höhe von rund
2000 Kronen, die aber zunächst nur auf ein Jahr bewilligt sind, anerkannt;
auch ein Besuch des Landeschefs in Windthorst und Rudolphsthal scheint Gutes
für die Zukunft hoffen zu lassen. Man muß sich aber darüber klar sein, daß
die Zukunft des Deutschtums in Bosnien vollständig im dunkeln liegt und im
wesentlichen abhängig ist von der endgültigen Regelung des staatsrechtlichen
Verhältnisses von Bosnien, die nach dem Kriege bevorsteht. Mit diesem Hinweis
wurde auch Pfarrer Osler entlassen, als er in Wien bei Finanzminister
von Koerber, dem Vertreter der gemeinsamen Regierung, in Sachen der Kolonien
vorstellig wurde. Die Behandlung der Deutschen durch den Landtag hat in
den Kolonien, und bezeichnenderweise namentlich in den Regierungs-Kolonien,
allmählich eine sehr verbitterte Stimmung aufkommen lassen, welche Osler dem
Minister mit den Worten wiedergab: „Wir wollen nicht länger die Stiefkinder
des Landes fein, gut genug, um überall herzuhalten, wo es sich um Requisition
von Menschen, Zugkraft und Lebensmitteln handelt, aber zu schlecht, um uns
Schulen, Straßen und gleiches Recht zu geben."
Sollten die Verhältnisse sür die Deutschen bei der Neuregelung der staats¬
rechtlichen Stellung Bosniens nicht günstiger werden, „so wäre", sagt Osler,
„abzuwarten, ob das deutsche Kolonistenmaterial nicht an anderem Ort lieber
gesehen würde und auch wertvoller wäre."
Um diesen Gedankengang zu würdigen, möge man sich vorhalten, daß
Österreich-Ungarn in den fünf Jahren vor dem Kriege neunhunderttausend Ein¬
wohner durch Auswanderung verloren hat!
Im Fall der Aufhebung des „Kondominiums" wäre wohl der günstigste
Fall für die Deutschen in Bosnien, sowohl für die Kolonisten als für die Stadt¬
bewohner und namentlich auch für die Beamten, die Angliederung Bosniens
mit der Herzegowina — als des Hinterlandes von Dalmatien — an Österreich.
Schon weniger günstig wäre es, wenn Bosnien — als Hinterland von Sla-
wonien — mit Ungarn vereinigt würde. Der schlimmste Fall wäre aber wohl
der einer engeren Vereinigung Bosniens mit Kroatien-Slawonien und Dal¬
matien, und der Sonderstellung dieses „südslawischen Teils der Gesamt¬
monarchie".
Derartige Pläne, Ersetzung der Zweiteilung der Habsburger Monarchie
durch eine Dreiteilung — „Trialismus" statt des bisherigen „Dualismus" —
find vor dem Kriege erwogen worden. Allerhand Erfahrungen über die Zu¬
verlässigkeit weiter Kreise in diesen Provinzen, so das Attentat auf den Barus
von Kroatien, der Agramer Hochverratsprozeß, die notwendig gewordene Auf¬
lösung der Gemeindevertretungen wichtiger Städte während des Krieges, werden
dem Gedanken des Trialismus aber schwerlich förderlich gewesen sein.
Die von Pfarrer Osler angedeutete Frage der Verlegung der böhmischen
Kolonien ist auch einmal für die deutschen Kolonien in Galizien brennend ge¬
wesen, damals, als Preußen „Rückwanderern" zur Ansiedlung in Posen und
Westpreußen verlockende Anerbietungen machte.
Von wohlmeinendster Seite ist damals die Einziehung der deutschen „Vor¬
posten" in Galizien empfohlen worden und tatsächlich sind auch damals fünf¬
tausend Deutsche von dort in die preußischen Ansiedlungs-Provinzen abgewandert
und einige der galizischen Siedlungen sind durch die Abwanderung selbst und
durch Eindringen von Slawen in die leergewordenen Höfe erheblich geschwächt
worden. Merkwürdigerweise hat das Eindringen der Slawen in die vorher
geschlossenen deutschen Dörfer einen ungeahnten Aufschwung des Deutschtums
in Galizien zur Folge gehabt, weil bei den Zurückbleibenden das völkische
Gefühl und der wirtschaftliche Fortschritt — durch genossenschaftlichen Zusammen¬
schluß — sich mächtig hoben. Die dortigen deutschen Gemeinden haben schon
bei der zweimaligen, viele Monate dauernden Kriegsbereitschaft der Grenz¬
provinz und wieder während des Krieges reichlich Gelegenheit gehabt, ihre
Staatstreue und ihre kriegswirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu beweisen, und
sie sind dafür auch von den höchsten Führern der österreichisch-ungarischen
Armee entsprechend anerkannt worden. Freilich haben sie dafür auch doppelt
unter der Wut der Russen zu leiden gehabt, und die meisten brauchen aus¬
giebige Hilfe seitens des Mutterlandes, um sich wirtschaftlich erholen zu können.
Dabei lastet auf ihnen derselbe Druck der Unsicherheit ihrer Zukunft wie
auf denen in Bosnien. Ihre wirtschaftliche und namentlich ihre völkische
Zukunft ist ebenfalls wesentlich abhängig von der Entscheidung einer — noch
wichtigeren — politischen Frage, von der bevorstehenden Lösung der polnisch-
ruthenischen Gesamtsrage.
Hoffentlich bringt der Krieg und der Sieg unserer Waffen für die Vor¬
posten des Deutschtums im Osten keine derartige Gestaltung ihrer völkischen
Aussichten, daß sie zwischen Volkstum und Heimat zu wählen haben.
Es wäre tief bedauerlich, wenn als einzige Rettung für ihr Deutschtum,
und damit in letzter Linie auch für ihre wirtschaftliche Zukunft, die Losreißung
der Gemeinden von dem nun auch mit Blut gedüngten Boden in Frage käme.
Hätten Sie nur Wolfs Hohol gehört als ich Ihren Brief hoch in der
Hand in sein Zimmer trat u. fragte: „was habe ich da?" — nun wurden
die Blätter gemeinschaftlich verschlungen. Auf das Weltgeschichtliche mag Wolf
antworten u. Ihnen von seiner Audienz beim König Johann erzählen; ich
habe nur Eile Ihnen zu danken, daß ich mit Unrecht an Ihrem Vertrauen
gezweifelt hatte. Es ist auch gut angebracht! — Sie haben auch recht Lotte
für mindestens eben so gut als politisch kurzsichtig zu halten. Es ist eine
gewisse ruhige Behaglichkeit in ihre Anschauung gekommen die mich ganz zur
äußersten Linken treibt ihr gegenüber. Ihr Motto ist: es muß noch gut
werden! ich will wünschen daß sie recht habe, einstweilen aber begreife ich
ihren Vater mehr, der allein aus Anger über die preußische Politik einen
Gichtanfall bekommen hat- — Wenn es denkbar ist, daß die Mittelstaaten Ernst
machen, dann sollte mich des Herzogs Bedenklichkeit nicht reuen, denn sie würden
ihn unfehlbar im Stich gelassen haben, bei der Angst vor Democmtischen
Demonstrationen, so thun sie es vielleicht auch! Wer kann Fürsten noch
trauen? — Wie schade daß Schleswigholstein, das zur Republic die glücklichsten
Elemente hat, nicht als solche geduldet werden würde. Wir wollen ganz froh
sein, wenn es unter den Augustenburger kommt u. ich hoffe da dies noch kein
Ideal von Zustand wird, so kann's gelingen.
Jetzt möchte ich Ihnen noch eine Privatangelegenheit an's Herz legen:
wir müssen Klee^) retten er ist zuweilen dem Tiefstnn nah — trinkt bedenklich
viel u. sagte neulich bei uns in einem Jahre werde er wahnsinnig oder er¬
schossen sein, er sagte es alles Ernstes. Vorwürfe über das Trinken mögen
dabei sein — Aerger über die Politik hauptsächlich. Das einzige Rettungs¬
mittel wäre für ihn ein Urlaub u. eine Thätigkeit in nationalen Sachen.
Kommt es zum Krieg so muß er mit — es ist sein heißester Wunsch. Können
so große Mittel nicht gefunden werden so müßte er reisen denn bei den Berufs¬
geschäften wird er das Trinken leider nicht mehr entbehren können. Ich fürchte
überdem er verliert die Stelle wenn das so fort geht, es ist zu allgemein
bekannt schon! — Vorstellungen von nahen, vielleicht den Leipziger Freunden
würden vielleicht eine Zeit lang helfen? — Es ist ein wahrer Jammer! ein
so vortrefflicher Mann eine so prächtige Familie! — Rathen Sie doch, gewiß
fällt Ihnen Hülfe ein! —
Den beifolgenden Brf. meines Schwagers lege ich bei Ihnen zu zeigen
wie es in dem Kopf des viel leidenden Patienten fortwährend arbeitet; wir
besuchen ihn natürlich oft des Tages, dazwischen aber kommen doch noch seine
Zettel. Ich füttere ihn mit Romanen um die Zeitungen etwas zu verdrängen
u. da er einen ganz nüchternen Romanmagen hat so wirkt u. spannt diese
lecture sehr, aber es muß grauslich in den Büchern hergehen wie z. B. in den
miserables. —
Wir harren in Ungeduld auf Ihr Buch — aber gehören zu den Freunden
die Ihre jetzige Thätigkeit zu hoch stellen um die Unterbrechung weg zu our»
schen. Einstweilen ist Fritz Reuter unsere heitere Abendgesellschaft.
Der Frau Hofräthin meine allerherzlichsten Grüße.
Dresden, 25. December 1863.
Ich werde Ihnen vorkommen wie der Verfasser des Briefs den der Hei߬
sporn so scharf commentirt, u. sehe voraus daß Sie in der Stimmung sein
werden, „mir mit meiner Frau Fächer den Kopf einzuschlagen". Aber dennoch
kann ich meine Zweifel nicht unterdrücken, ob es wohlgethan sein würde, wenn
der Herzog schon jetzt nach Holstein käme; ja selbst nicht, wenn er alles mit¬
brachte was ihm noch fehlt, Geld u. eine Armee. Ich meine, er müsse nur
noch ein paar Wochen Geduld haben, bis die Abstimmung über sein Erbrecht
in Frankfurt entschieden ist, wenn er sich nicht in die größte Verlegenheit
bringen will. Der König Johann, dem ich zutraue, daß er ihm gern zu
seinem Recht verhelfen möchte, ließ mich gestern eigens rufen, um mir zu
sagen, er wünsche dringend daß der Herzog den Versuch nicht wage, weil er
ihn für sehr gefährlich halte; was ich denn auch sofort an Samwer geschrieben
habe. Sollte, was Gott verhüten wolle, die Entscheidung in Frankfurt gegen
ihn ausfallen, u. er ist dann noch Willens, Leben u. Schicksal auf eine letzte
Karte zu setzen, — dann werde ich von Herzen zustimmen wenn er wie Wallen-
stein eine Armee aus aller Herren Landen zusammenbringt, n. den Versuch
wagt, sich sein Recht zu erkämpfen: dann verbrennt er seine Schiffe, u. kann
möglicherweise noch siegen. Sich aber jetzt schon dem fast gewissen Resultat
aussetzen, an der Schwelle seines Hauses umkehren zu müssen, das halte ich '
für zu bedenklich.
Ueber die dissentirenden Stimmen in der Versammlung unserer Landstände
bin ich sehr traurig, denn es ist nicht zu leugnen daß gerade die genannten zu
unsern besten Männern, u. bisher zu den eifrigsten Bekämpfern der dänischen
Uebergriffe gehört haben. Ich suche vergebens nach ihren Motiven. Scheel-
Plessen hat alle seine Güter in Seeland; Blome ist lange Jahre Gesandter in
England gewesen, u. überdem ein Vetter des Grafen Pleiten in Hannover. Bei
den Andern könnte maßgebend gewesen sein 1) die Furcht vor den russischen
Ansprüchen wenn das Londoner Protocoll zerfiele, — 2) die Abneigung gegen
einen zukünftigen Hof u. Hofstaat im Lande, — 3) die Besorgniß vor demo-
cratischen Uebergriffen, — endlich 4) die Thatsache daß einige von ihnen im
Jahr 1848 sehr schroff u. rücksichtslos vom Vater des Herzogs u. seinem
Bruder, dem Prinzen v. Noer, zurückgesetzt worden sind. Daß ich diese
Gründe nicht gelten lasse, n. die Dänen hundertmal schlimmer finde, als das
Alles, brauche ich Ihnen nicht zu versichern.
Der König hat übrigens, wie ich fürchte, noch mehr sein Vergnügen an
der Lösung der spitzfindigen verwickelten Rechtsfragen u. aller Haarspalterei die
daranhängt, als eigentliche warme Theilnahme für Land u. Leute; sonst würde
er nicht solches Gewicht auf kleinliche Nebenfragen legen, ob z. B. die Herr¬
schaft Pinneberg ein Allodium sei, oder ein incorporirter Theil von Holstein.
Die Krankheit interesstrt ihn noch mehr als der Kranke.
Graf Otto Rantzau, der hiesige preuß. Gesandte, der ein sehr warmes
Herz für sein Vaterland Holstein hat, ist vollkommen einverstanden mit meiner
Ansicht, daß der Herzog sich jetzt in diesem Augenblick noch passiv verhalten
müsse. Hingegen ist Max Dunker, wie sie aus dem anliegenden Brief sehen
werden, derselben Meinung wie Sie.
Leben Sie wohl, mein theurer Freund; wenn wir auch über die Mittel
nicht ganz einig sind, über den Zweck sind wirs gewiß. Mit den herzlichsten
Wünschen für das neue Jahr u. den besten Grüßen meiner Frau
Was Sie mir über Klee schreiben, ist so traurig, daß ich mich der schlimmsten
Besorgniß nicht entschlagen kann. Ueberrascht freilich hat minds nicht. Denn
es ist ein altes Leiden. Und die Freunde in Leipzig haben versucht, was sie
konnten. Es sind jetzt 2 Jahr, da wurde in Leipzig seinetwegen ein Rath
gehalten. Haupt^) u> Mommsen kamen dazu von Berlin, von uns Härtel/4)
Hirzel^) und ich. Auch er war citirt. Haupt übernahm es, ihn zu zerknirschen
und er that das in seiner großartigen Weise, denn wie später herauskam, als
Klee seine verzweifelten pecuniären Verhältnisse als einen Grund seiner Desperation
angab, räumte Haupt ganz in der Stille diesen Grund für einige Zeit weg.
Damals versprach er das Beste an seine alten Freunde. Aber ihm fehlt die
Kraft. Seine ursprüngliche Wunde ist unsicheres Selbstgefühl. Er ist ein ordent¬
licher Philologe, hat aber in früheren Jahren nie den Entschluß gewinnen
können, etwas Ordentliches zu schreiben. Das drückte ihn mehr u. mehr. Die
ihm gleich gewesen waren, wurden namhafte Männer, er steifte sich trotzig auf
sein Dociren in der Schule, und kam in das Trödeln. Jetzt ist er nicht mehr
im Stand, etwas Zusammenhängendes zu unternehmen. Hirzel, der diesen
Grund seiner Erschlaffung sehr wohl kennt, hat sich die größte Mühe gegeben,
ihn zur Uebernahme einer literarischen Arbeit zu veranlassen, die ihm eine
Befriedigung geben könnte. Wir haben uns den Kopf zerbrochen, was man
ihm oktroyiren könnte, er hat Alles von der Hand gewiesen. Es ist ein sehr
großes Unglück. Und ich kann auch von einem Herausreißen nichts Gutes
erwarten. Er selbst meinte, wenn er nach Leipzig, in andere Kreise käme, das
würde ihn heilen. Aber er würde in Leipzig bald ebenso seine Trinkstunden
finden, an Gelegenheit festes nicht. Und wenn er nach Holstein ginge, (in
welcher Eigenschaft?) ich bin überzeugt, das Angeordnete dieser neuen Lage
würde ihn nur noch tiefer in die alte Leidenschaft hineinwerfen. Allerdings ist
das Einzige, was ihn vielleicht noch retten kann, eine große Aufgabe für sein
Leben, die ihn unablässig spornt u. spannt. Aber wo die finden? Wenn die
Sorge für seine lieben Kleinen nicht stark genug ist?
Doch wie gering die Hoffnung, ich will veranlassen, daß seine ältesten
Freunde noch einmal mit ihm in Berathung treten. Unterdeß bitte, solange
es Ihnen möglich ist, lassen auch Sie ihn nicht fallen. Ich weiß sehr gut
welch großen Werth für ihn die Freundlichkeit hat, die Sie ihm erwiesen
haben. Er spricht mir jedesmal davon.
Unsere politische Herzenssache hat günstigeres Aussehn gewonnen. Der
Reichstag der Dänen geschlossen ohne Zurücknahme irgendwelcher Art, u. in
14 Tagen Anerkennung des Herzogs durch die Majorität des Bundes. Baden
u. Waldeck haben Militärconventionen mit S. H. geschlossen. Baden giebt
Monturen etc. u. in seinem Lande Terrain für ein Barackenlager von port.
6000 Mann zur Ausbildg. der Unteroffiziere und Formation der Grundlagen.
Aehnliches in Waldeck u. Gotha in kleinerem Maßstabe. Das hat hier große
Freude u. neue Hoffnung gemacht. Und man hofft, daß der Herz, in 3 Wochen
als anerkannter Herr in sein Land ziehen wird.
An Herrn Grafen u. Hrn. General meine herzlichsten Empfehlungen. Für
Ihren Brief den innigen Dank
Siebleber 25 Dec. ^18M.
Mfang 1864.)
In der Kleeschen Angelegenheit hat meine Schwester Philippine (Gönne)
die Initiative ergriffen indem sie Hertel in Leipzig aufforderte Klee eine wissen¬
schaftliche Forschung in Italien zu übertragen. Zu den Reisekosten würden
gern alle Freunde heimlich beisteuern. Meine Schwester glaubt — ob sie Recht
hat weiß ich nicht — Italien sei die höchste Sehnsucht feines Herzens von
jeher u. das werde ihn herausreißen. Ob sie darin recht hat weiß ich nicht —
Gefahr bleibt für ihn überall, hier freilich die allergrößte. Daß wir Klee
nicht aufgeben kann ich mit gutem Gewissen versprechen. Freilich war er bei
seinem letzten Besuch in einem Zustand der auch den übrigen Gästen seine
unglückliche Neigung verrieth. Es waren aber wohlwollende liebe Leute die
gleich uns wahre Trauer darüber empfanden Pastor Rosenhagen u. Frau u.
Mme. Arnemann aus u. in Holstein kann man sagen denn hier leben wir jetzt
alle nicht sondern dort. Ihr Brief gab uns neuen Muth, denn das Nachgeben
der Dänen hatte uns sehr erschreckt u. Oesterreich empörte uns über alle
Maaßen. Die rändigen Schafe in der Versammlung haben uns auch tief
gekränkt. An Reventlow, Jersbeck glauben wir noch nicht — von Scheel-
Plesfen u. Blonne war nicht viel anderes zu erwarten. Graf Rantzau hatte
gestern einen Brief des Letzteren der aber so völlig unleserlich geschrieben war,
daß man nur die eine Phrase zusammen brachte: „Gott meinte es gut die
Menschen verderben Alles" — das kann aber auf die holsteinische Gesinnung
ebenso wohl passen. Der Brief war geöffnet u. ganz naiv mit einem Schilling
wieder gesiegelt worden. — Nun nochmals Dank für Ihr rasches gutes Antworten.
Wir haben hier einen Frauenverein für Holstein gegründet. — Nun Glück
auf dem Vaterland!
d. 3. März 1864.
Jetzt ist's wieder einmal genug geschwiegen, wir sehnen uns zu sehr nach
einem Wort von ihnen, jetzt wo uns in den Herzogthümern das Messer an der
Kehle steht; wir haben längst eingesehen wie gut es war, daß der Herzog in's
Land ging was uns damals gewagt schien — jetzt scheint auch das kaum mehr
auszureichen; es sieht aus als ob die Engländer Dänemark, die Großmächte
Schleswig-Holstein knebeln würden, und so die Personalunion unter stummen
u. ohnmächtigen Klagen zu Stande kommen würde? —
Ich in meinem beschränkten noch dazu weiblichen Unterthanverstand habe
die fixe Idee daß in England auf die ohnehin dem Krieg feindliche Volks¬
stimmung gewirkt werden müßte. Warum hat der Herzog da garnichts gethan.
Es sind ja einzelne Wohlgesinnte u. Unterrichtete da; mir scheint es wäre nicht
schwer durch Meetings den Leuten klar zu machen daß sie sich eben sowohl für
uns als für Ungarn u. Polen begeistern können?
Unser Landsmann u. Neffe Luckner der Beust täglich spricht hat noch immer
Muth. Die Anwesenheit dieses heitern Menschen ist uns jetzt recht wohltätig
da der Zustand meines Schwagers leider noch immer sehr niederdrückend auf
unsere Stimmung wirkt. Zwar ist er Gottlob schmerzlos, auch ißt er feit einigen
Tagen wieder oben bei uns, aber sein Aussehn u. sein abgespanntes Wesen
find recht betrübend. Sogar die Politik läßt ihn gleichgültig. Luft u. Wärme
werden will's Gott die Kraft wieder heben, noch darf er nicht ausfahren. —
Klee war in letzter Zeit recht vernünftig, jetzt soll ihn die verzweifelte Lage
der Politischen Zustände wieder recht melancholisch machen — wir erwarten
ihn Sonnabend Mittag. — Lotte schreibt ziemlich muthlos. Dunker dagegen
hat noch Hoffnung. Sehr zuverlässig sind aber feine Ansichten nicht; die Ueber¬
zeugung der König werde beim ersten Kanonenschuß vom Londoner Protocoll
abfallen, hat sich doch nicht bestätigt. — Wolfs Vetter Scheel-Plessen war
neulich bei uns u. machte kein Hehl aus seinen Personalunion-Wünschen
gestand aber daß er keineswegs auf ihre Erfüllung hoffen könne. Das war
doch ein Trost. — Nun lieber guter Hofrath, vergeben Sie mir diese nichts¬
sagenden Zeilen u. bleiben Sie uns gut — u. schreiben Sie; noch lieber kommen
Sie bald. Was macht das Buch? — Grüßen Sie die liebe Frau Hofräthin
von uns Beiden.
Ueber die letzten Erfolge unserer Sache war mir sorglich zu Muth ge¬
worden, denn sie scheinen zu gut um dauerhaft zu sein. Jetzt läßt Bismarck
nicht ohne Grund herabstimmen. In der That sind wir noch nicht über den
Berg, u. ich fürchte, selbst Beust steht die Sache günstiger an, als sie liegt.
Von der Danewerklinie bis über Gravenstein hinaus ist noch ein weiter Weg.
Und was vorausgegangen berechtigt gar nicht zu Siegeshoffnungen. Wäre man
am 18ten Abend, wie man gesollt, nach Alsen übergegangen u. hätte man in
der That das dänische Landheer demoralisirt u. unbrauchbar gemacht, so wäre
ein großer Erfolg gesichert. Man hatte weder dazu den Muth, noch hat man
in Berlin die Courage, Europa Trotz zu bieten. Auch die Reise des Herzogs
nach Berlin ist verfrüht. Denn die Situation zwingt Alles zu vermeiden, was
wie ein privates Abkommen des Herzogs mit Preußen aussieht. England,
Rußland, selbst Frankreich, u. vor allem Oestreich werden in demselben Grade
argwöhnisch werden, als die Stellung des Herzogs zu Preußen einem Contract-
verhältniß näher tritt. Und die richtige Politik der Preußen wie des Herzogs
wäre doch wohl gewesen, sich öffentlich kalt anzuschnurren u. in der größten
Stille das Abkommen zu treffen, was die Preußen, wie die Dinge einmal liegen,
als Preis ihrer Unterstützung betrachten.
Jetzt sind wir in der Gefahr, daß die Preußen mit dem Herzog con-
Lrahiren u. wenn in Folge dessen seine Actien gefallen sind, ihn u. sich im Stich
lassen. Und daß durch solche Transaction die Stellung des Herzogs im eigenen
Lande, die ohnedies schwierig sein wird, noch spinöser gemacht wird.
Für d. Preußen endlich liegt mir am Herzen, daß sie in der gegen¬
wärtigen Situation auch nicht genug vom Herzog fordern und zu wenig gewähren
werden.
Die Grundzüge, nach welchen Preußen — regenerirt u. in innrem Frieden
— die deutsche Frage ohne Gefahr lösen kann, ist
1) Aufnahme der souveraine in das preuß. Haus. Eine Adoption, die
allerdings zunächst nur die kleineren als Avancement betrachten werden. 2) Schutz
aller Deutschen im Auslande durch Uebernahme zunächst der Zollvereins- u.
Verkehrsinteressen in seinen Consulaten. 3) die Erklärung, daß jeder Zoll¬
vereinsbewohner preuß. Bürgerrecht habe. Das 3te käme zuerst, das I ste wäre
die unvermeidliche Folge. Denn die Einrichtung No. 3. würde die ganze öffent¬
liche Meinung u. den Consensus Populi in wenigen Monaten so energisch auf
Preußen hinüberwerfen, daß die Regierungen gegen die stille Besitzergreifung
ihrer Unterthanen gar kein Mittel hätten.
Doch es ist unnütz jetzt darüber zu reden, u. ich bitte Sie über meine
Phantasien nicht zu lachen. Wer mag sagen, was mein armes Preußen noch
durchmachen wird, bevor es sich selbst wiederfindet.
Ein Gutes hat in jedem Falle der Krieg gehabt. Er schafft eine preußische
Flotte, die sich sehen lassen kann. Und er hat bereits das Heer besser ge¬
macht u. dem Volk auch das Gute, das unter Umständen eine Armee haben
kann, in die Seele geführt.
Ein Schlimmes aber ist, daß er Bismarck befestigt hat, und das elende
System durch äußere Erfolge die innere Tymnnis zu halten.
In den „Grenzb." haben Militärische Briefe gestanden, von einem starken
vharacter und militärischen Talent ersten Ranges. Ist Ihnen Einzelnes da¬
von nach dem Herzen gewesen, so wird auch mir das große Freude sein.
Haben Sie die Güte Hrn. General meine herzlichen Empfehlungen u. innigen
Glückwunsch zu seiner Besserung auszusprechen, Sie selbst aber, mein würdiger
theurer Freund bitte ich ein wenig lieb zu behalten
^- ^ «. ^ » - >-i°i^
Srebleben d. 4 Inn I>8M.
Sonnabend. 11. Juni ^18M.
Das war wieder eine reizende Doppelfreude, die Sie uns durch Ihre«
Zwillingsbrief bereitet haben I wir wissen nicht zu sagen wer uns besser ge¬
fällt, ob das schelmische Mädchen oder der kühne Knabe der gleich ganz Deutsch¬
land in die Tasche stecken möchte. Der Vergleich liegt mir nah, denn vor
unserem Hause hier spielt ein solches Zwillingspaar, daß die Wirthin zu Ehren
der Curgäste, denn hier geschieht Alles nur für diese, geboren hat. — Nun
wir hätten garnichts dagegen, daß Preußen uns verschlänge aber es macht ja
noch keine „großen Augen".
Wie soll aber ich Ihnen genugsam danken, erstens für die Vermittlung,
dann für die Zusendung u. zu allererst u. am allerbesten für die Aussicht die
Sie eröffnen von Leipzig nach Dresden, will sagen Wachwitz zu kommen.
Denn dort müssen Sie, wenn wir erst mit Gottes Hülfe wieder die Cur im
Rücken haben uns aufsuchen u. sich niederlassen. Es wird Ihnen gefallen
u. heimlich sein, denn es hat den bescheidnen comfort u. die Stille u. Un¬
gestörtheit eines Nestes. Sie können da mit uns, oder allein mit Luft
u. Schatten u. Rothschwänzchen sein, die uns sehr favoristren — ganz wie
Sie wollen. Also das ist ein Wort, Sie kommen! Eben sagt mir Wolf, er
habe außer der Elephantenjagd noch charmante Stellen von singenden Paradies¬
vögeln u.s.w. gefunden. Nun ich will mich an's Plündern machen.
Wir sind bis jetzt unberufen mit der Cur zufrieden, das Wetter ist himm¬
lisch. Unsre Gesellschaft bilden Traugott Baudissin ein auf der Jagd in's
Bein geschossner Neffe, recht lieber Mensch, hat unter dem General gedient,
jetzt preuß. Beamter, u. eine Nichte Rosa Lilienkron geb. Baudissin eine
hübsche leider auch hinkende kleine Fran. Nächstens erwarten wir den General;
ich habe ihm von Ihrer so hübsch ausgedrückten Theilnahme geschrieben
u. zweifle nicht daß diese „Frühlingsfreude" ihm sehr wohl thun wird. Wer
ist unter der Lotte gemeint, deren Tochter Romane schreibt die Sie zu lesen in
unbegrenzter Menschen Liebe sich herbeiließen? eine Tochter der Wertherschen
müßte ja aller romantischen Bestrebungen entwachsen sein u. unsere Lotte ist
sonst die einzige Universallotte die ich kenne? — Meine, unsere schreibt mir
längst wieder daß Ihre politischen Anschauungen sich ganz mit den Dunkerschen
begegnen u. scheint glücklich darüber. Nun will ich dem Curgast noch einen
diätetisch zugemessnen Raum lassen. Also so Gott will auf gutes Wiedersehn
in Wachwitz.
Ich setze noch einige schwache Hoffnungen auf die mögliche Abdankung
Christians IX., u. auf die Ungenügsamkeit der Dänen, denen auch die Flens-
burger Linie zu viel verlangt scheinen wird. Hier ist jetzt der Herzog Karl,
des dänischen Königs ältester Bruder der sich ganz offen u. unumwunden über
das Recht des Herzogs Friedrich ausspricht. Die oestreichischen Blesstrten,
deren viele hier zur Cur sind, sagten uns mehrfach, es sei zwar grimmig kalt
in Schleswig gewesen, aber sonst der Feldzug golden gegen den italienischen
zu nennen; einen solchen würden sie mit Vergnügen noch einmal mitmachen —
Westlich und östlich der Maas vergebliche Anstrengung des Feindes bei
Höhe 304 und bei Thiaumont und „Kalte Erde". Südwestlich der Feste
Vaux nehmen wir die „Hohe Batterie von Damloup".
französische Angriffe gegen „Kalte Erde" und südwestlich der Feste Vaux
gescheitert. — Im Juni ist das Ergebnis im Luftkampf: 7 deutsche gegen
37 feindliche Flugzeuge verloren.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
le Freude über die herrlichen Erfolge der deutschen Waffen soll uns,
wie es scheint, nicht ganz ungemischt zuteil werden. Wer unser Volk
und die stolze Festigkeit der Unterlagen unserer Siegesgewißheit
nicht näher kennt, könnte leicht auf den Gedanken kommen, es sei
mit unserer inneren Kraft und Einigkeit nicht mehr so gut bestellt
wie früher. Unsere Feinde werden sich wahrscheinlich die Gelegenheit nicht
entgehen lassen, aus dem heftigen Streit, der kürzlich über die Freigebung der
Kriegszielbesprechungen und die Stellungnahme des Reichskanzlers zu dieser
Frage entbrannt ist, auf ihre Art Nutzen zu ziehen. Das ist bedauerlich, wenn
wir auch wissen, daß der Streit, so häßlich und unerquicklich er auch sein mag,
nicht die Bedeutung hat, die von schadenfrohen Seelen im Feindeslager erhofft
und von ängstlichen Gemütern auf unserer Seite befürchtet wird.
Man könnte sich gegenüber der Tatsache dieses Streites, der glücklicherweise
in seinen heftigsten Äußerungen vorläufig verstummt, aber leider keineswegs
beigelegt ist, vielleicht besser auf den Standpunkt stellen: Nur nicht weiter davon
reden! Ob aber diese beliebte Regel der Alltagsklugheit hier wirklich angebracht
ist, erscheint bei näherer Betrachtung sehr fraglich. Es ist besser, erst recht
davon zu reden, nur anders als bisher. Wer freilich glaubt, entgegengesetzte
Meinungen durch gutes Zureden einander näher zu führen, tut besser, zu
schweigen. Es kann nicht davon die Rede sein, streitende in so ernsten Fragen
eines Besseren zu belehren. Aber es gibt noch unzählige gebildete, gute Patrioten,
die bei diesem heftigen Streit nicht so recht wußten, wie ihnen geschah, denen
der Kernpunkt der Sache noch heute nicht recht deutlich ist und die ihn aus
dem irreführender Wortstreit und seinen dialektischen Kunstgriffen auch nicht zu
entnehmen vermögen. Die Sache ist jedoch zu wichtig, als daß solche Unver-
Handlichkeiten bestehen bleiben könnten.
Dann aber noch ein weiterer Grund, der zum reden zwingt. Wenn eins
Wortfehde einen gewissen Grad von Heftigkeit erreicht hat, entsteht leicht der
Eindruck, daß es außer den beiden streitenden Meinungen nichts gibt. Das
ist aber nicht immer zum Vorteil der Sache und erschwert manchem Nicht¬
beteiligten das Verständnis. Ursprünglich sind die Gegner zwei verschiedene
Richtungen, die sich bei der Erörterung möglicher Kriegsergebnisse in den
bescheidenen Grenzen, die von der Zensur gestattet sind, scharf gegenübertraten.
Sie bewegten sich in ziemlich verschiedenen Vorstellungskreisen. Um wirkliche,
klare Programme handelte es sich dabei noch gar nicht, konnte es sich noch gar
nicht handeln. Darum wurde auch das Für und Wider nicht ernsthaft erörtert.
Was da geäußert, befürwortet und bekämpft wurde, waren Umrisse von
Folgerungen, die einzelne Preßorgane und oft gehörte Wortführer bestimmter
Richtungen aus der Summe ihrer persönlichen Erfahrungen und Anschauungen
zogen und dabei in der öffentlichen Meinung einen mehr oder weniger breiten
Boden fanden. Gewiß hat die allgemeine Stimmung des Weltkrieges manchen
inneren Gegensatz zum Schweigen gebracht, manchen einzelnen Volksgenossen so
aufgerüttelt und ihm Gesichte offenbart, daß er ein politisches Damaskus
erleben mußte. Konnte man aber erwarten, daß nun alle Leute, die sich in
pazifistischen Träumen gewiegt hatten, plötzlich die Hoffnung aufgeben sollten,
dieser furchtbare Krieg könnte vielleicht eine letzte Lehre und ein letztes
abschreckendes Beispiel werden? Sollten auf der anderen Seite alle diejenigen,
die immer schon eifrig die Machtidee im Wirken des Staates verfochten hatten
und denen nun der Krieg mit seinen glänzenden Erfolgen die Verwirklichung
ihrer Wünsche nahe zu bringen schien, sich unter solchen Umständen scheu und
schamhaft zurückhalten, statt jubelnd hinauszuschmettern, daß die Zeit herannaht,
wo dem deutschen Vaterlande Macht über seine mißgünstigen und haßerfüllten
Feinde gegeben ist? Dazwischen gibt es unzählige Schattierungen der Ansichten,
und jeder hat das Bedürfnis, sich sein Bild von den Wirkungen des Krieges
im Rahmen seiner persönlichen Lieblingsideen zu machen. Wir bedauern es
zwar sehr, daß die von Begeisterung hoch emporgetragene und doch durch die
Größe der Aufgabe gehaltene und beherrschte Stimmung der ersten Kriegs¬
monate diesen freier schaltenden und nicht immer angenehm wirkenden Neigungen
Platz gemacht hat. Aber denken wir bei solchen Menschlichkeiten auch wohl
daran, daß dieses Sichfreierfühlen und Sichgehenlassen gegenüber den Rück¬
sichten, die uns die Kriegszeit auferlegt, die natürliche Folge der bereits
beginnenden Siegesstimnmng ist? Wir fangen an, uns zu zanken, weil wir
wissen, daß wir nicht unterliegen werden. Denn leider geschieht der Meinungs¬
austausch, soweit es Zensur und Burgfrieden möglich machen, schon wieder in den
durch Friedensgewohnheiten unausrottbaren Formen des Parteikampses. Das
entspricht so sehr der menschlichen Natur, daß es falsch wäre, sich mehr des-
wegen zu sorgen, als die Sache wert ist. Die Voraussetzung ist dabei nur.
daß. solange der Krieg dauert, bei den Reibungen, die durch die öffentliche
Aussprache der verschiedenen Richtungen verursacht werden, der die Kriegführung
selbst bestimmende Wille unberührt bleibt. Sehen wir zu, ob diese Grenze
überall gewahrt wird.
Aus den mancherlei Anschauungen, die über den Krieg und seinen Ausgang
innerhalb der enggezogenen Grenzen laut werden, heben sich besonders die
beiden Extreme heraus. Die einen wollen eine kraftvolle und entschiedene
Ausnutzung der Vorteile, die der dereinstige Sieg in die Hand Deutschlands
legen würde, und manche stürmen dabei sehr temperamentvoll über alle
Hindernisse und Bedenken hinweg. Die andern sehen nur diese Hindernisse
und die Keime neuer, künftiger Verwicklungen; sie fürchten die Nachwirkungen
des gewaltigen Völkerhasses auch sür den Sieger, wollen von den kümmerlichen
Resten internationaler Beziehungen möglichst viel retten und sprechen von
„Verständigung" und einem „unausgefochtenen" Krieg. Es ist aber nicht dabei
geblieben, daß sich die Vertreter dieser entgegengesetzten Anschauungen schroff
gegenüberstehen, sondern sie haben auch die Regierung in den Streit dadurch
hineingezogen, daß sie sie unter Hinweis auf die Zensurgewalt für die einzelnen
Wendungen dieses Streites mit verantwortlich machten, wozu freilich die von
allen Parteien ohne Unterschied bedauerten und gerügten Mißgriffe der Zensur
nur allzu zahlreiche Handhaben boten. Schließlich nahmen die Wortführer der
scharfen Tonart den Standpunkt ein: wenn die Regierung die „Flaumacher"
nicht abschüttele, so bekunde sie damit, daß sie ihnen innerlich nahe stehe. Im
Laufe der an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzungen ist es zuletzt sogar
dahin gekommen, daß eine Gruppe der sächsischen Nationalliberalen unter
Führung des Leipziger Historikers Professor Erich Brandenburg an die Adresse
des Reichskanzlers eine Erklärung richtete, die nach ihrem schlichten Wortsinn
nichts anderes bedeutete als eine glatte Aufkündigung des Vertrauens, falls
der Reichskanzler nicht die Erörterung der Kriegsziele freigebe. Damit ist ein
Gipfel des Bedauerlichen erreicht. Man fragt sich: was soll geschehen, wenn
sich der Reichskanzler solchen Wünschen nicht unterwirft? Und er kann und
wird sich doch selbstverständlich nicht unterwerfen! Die Partei kann doch nicht
ihren Worten die Tat folgen lassen, denn das würde ja eine landesverräterische
Haltung bedeuten. Dann aber sollten besonnene, geistig hoch stehende Patrioten
in ernster Zeit nicht solche Worte sprechen.
Die Frage ist so ernst und bedeutungsvoll, daß neben denen, die den
Streit bisher ausschließlich oder wenigstens fast allein geführt haben, auch noch
andere zu Worte kommen müssen. Die Gegner des Kanzlers haben den Glauben
zu erwecken gesucht, als seien sie die einzigen Vertreter einer kraftvollen Willens¬
politik, und als stehe auf Seiten des Kanzlers nur der Chor der Flaumacher
und sogenannten „Verständigungs"-Politiker; ein drittes soll es, wie es scheint,
nicht geben. Das gibt es aber doch: die keineswegs unbedeutende Zahl derer,
die der Befürwortung eines halben Sieges nach unausgefochtenem Kriege und
dem ängstlichen Zurückweichen vor den Folgerungen eines wirklichen Sieges so
fern und fremd gegenüberstehen wie nur möglich, die aber eben deswegen es
für nötig halten, daß wir uns fest um den Kanzler scharen, und die in der
Hauptsache auch seine bisherige Haltung durchaus richtig finden.
Wenn wir das begründen wollen, müssen wir allerdings von einem andern
Ausgangspunkt ausgehen, als die bisherigen Auseinandersetzungen. Es ist
selbstverständlich, daß das deutsche Volk, an einem solchen Wendepunkt seiner
Geschichte angelangt, in der Lage sein muß, selbst bei der Gestaltung seiner
Geschicke mitzusprechen. Es darf nicht eines Tages vor vollendete Tatsachen
gestellt werden, die irgend ein persönlicher Einzelwille, mag er auch noch so
rein und vertrauenswürdig sein, sich zurechtgelegt hat. Das braucht nicht näher
begründet zu werden, denn es ist von allen Parteien anerkannt und entspricht
auch den Zusicherungen des Reichskanzlers selbst. Natürlich sind wir uns alle
darüber klar, daß ein solcher Volkswille Niemals etwas Einheitliches sein kann.
Die Meinungen über das, was nottut, auch sogar über das, was möglich ist,
werden immer auseinandergehen. Trotzdem gibt es Mittel genug, festzustellen,
nach welcher Richtung der stärkste Druck der Volksmeinung geht, in welchen
Punkten sich die meisten und dringendsten Wünsche einigen, und wie eine feste
Grundlage für eine von den besten Kräften in der Nation getragene und
geförderte Lösung zu gewinnen ist. Eine solche Feststellung ist freilich meist
das Ergebnis eines starken Meinungskampfes. Diesen zu fürchten, ist nicht
immer notwendig, ebensowenig aber darf man sich seinen Folgen ohne zwingende
Gründe aussetzen, wenn der Kriegszustand sowohl das Thema des Meinungs¬
austausches als auch die Umstände, unter denen die Erörterung vor sich gehen
kann, in eigenartiger Weise beeinflußt. Der Krieg verträgt sich überhaupt
schlecht mit den Bedürfnissen des Volkswillens. Dieser will sich regen und
entfalten, seine verschiedenen Richtungen wollen sich im Kampf gegeneinander
und in der Reibung aneinander klären und messen. Der Krieg aber hält sich
nur an die einzige Notwendigkeit, daß der Gegner niedergeworfen und sein
uns feindlicher Wille gebrochen werden muß, und dazu können wir auf unserer
Seite nicht einen vielfältigen, sich erst zur Klarheit durcharbeitenden, sondern
nur einen einheitlichen, tatbereiten Willen gebrauchen. Zwischen den Forderungen
der Kriegführung und den Bedürfnissen der dem Volkswillen Rechnung tragenden
modernen Politik besteht ein natürlicher Gegensatz. Wo dieser Gegensatz
ungehemmt hervortreten kann, wird es immer Konflikte geben. Der Krieg ist
ja doch nur „Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln", also selbst Politik;
er verfolgt politische Ziele auf einem Wege, dessen selbstherrliche Natur mit den
sonst gültigen Bedingungen politischer Tätigkeit schlechterdings unvereinbar ist.
Wo ist der Ausweg zu finden?
Als nächste und scheinbar einfachste Möglichkeit bietet sich der Weg der
reinlichen Scheidung der beiden Tätigkeiten, deren Konflikt wir vermeiden
wollen. Möge also für die Kriegführung das einfache Ziel der Niederwerfung
der Feinde bestehen bleiben; unterdessen beraten wir daheim, was wir an
politischen Zielen durch den Krieg erreichen wollen. So zu verfahren, wird
uns von sehr gewichtiger Seite geraten. Vor allem meint man, so könne
Einigkeit und Klarheit in den Kriegszielen rechtzeitig hergestellt werden, so daß
man im Augenblick des erfochtenen Sieges bereit sei.
Wirklich? Wer das glaubt, hat augenscheinlich sehr merkwürdige Begriffe
von der Art der Gegensätze, die bei einem solchen Streit um die Kriegsziele
zutage treten würden. Es ist kaum daran zu zweifeln, daß sich der ganze
Streit auf dem Boden der Theorie abspielen würde. Alles, was unsere guten,
lieben Landsleute an Ergebnissen der gelehrten Geschichts- und Rassenforschung,
an sprachwissenschaftlichen Liebhabereien, an Völkerbeglückungsideen, an sozialen
Wohlfahrtstheorien, an konfessionellen Interessen, an philosophischen Prinzipien,
an Weltanschauungen und — vergessen wir nicht, hinzuzufügen — an falsch
angewendeten und aus dem Zusammenhang gerissenen Bismarckzitaten auf
Lager haben, würde dabei von beiden Seiten ins Feld geführt werden. Wir
würden uns bald so gründlich auseinandergeeinigt haben, daß ein deutliches
Erkennen des Volkswillens schwieriger denn je sein würde. O meint entgegnen
die Vertreter des hier gekennzeichneten Vorschlages, es würde sich dabei gerade
zeigen, daß der Verfechter einer schwächlichen, halben, zum Einlenken und Ver¬
zichten bereiten Politik keinen Boden im deutschen Volke hat, daß die Mehrheit
vielmehr hinter einer Regierung steht, die entschlossen zu fordern weiß. Es
ist unser Wunsch, daß es so sein möchte; daß es so ist, dafür fehlt der Beweis.
Wenn erst die Erörterungen über diese Fragen hin und her finden, dann ent¬
stehen in den des Denkens weniger gewohnten Gehirnen allerlei Neben¬
vorstellungen sehr merkwürdiger und jeder Berechnung unzugänglicher Art,
sodaß man sehr leicht dieselbe Erfahrung machen könnte, die Friedrich den
Großen veranlaßte, die Abhaltung eines Kriegsrates grundsätzlich zu widerraten,
dieweil dabei immer die „timidere" Partei die Oberhand zu behalten pflege.
Daher ist es auch fraglich, ob der Eindruck erreicht würde, den sich die
Freunde der freien Erörterung der Kriegsziele versprechen, wenn sie sagen, das
Ausland müsse in den Glauben versetzt werden, daß das deutsche Volk noch
viel mehr fordere als seine Regierung. Das ist an sich ein guter und richtiger
Grundsatz — für Friedenszeiten! Ich gehöre zu denen, die es immer tief
bedauert haben, daß unsere nachbismärckische Regierung — zu Bismarcks Zeiten
hatte sie es aus anderen Gründen nicht nötig — von diesem Mittel aus
Korrektheit und Amtsstolz nicht häufiger Gebrauch gemacht hat. Was für
eine dankbare Rolle spielt eine Regierung, die einer fremden gegenüber auf
eine ungestüm drängende Volksmeinung hinter sich weisen kann, so daß, wenn
sie sich schließlich mit weniger begnügt, sie im Ausland als maßvoll und ent¬
gegenkommend, im Inlands als stark und selbständig erscheint! Diese Methode
hat aber da, wo sie angebracht war, bei uns immer sehr wenig Anklang
gefunden, weil sie der Art unseres straffen, selbstbewußten Beamtenstaates
widerstrebt. Als es z. B. nützlich gewesen wäre, in: Ausland recht eindringlich
zu bezeugen, daß der Ausbau der deutschen Flotte einem spontanen Wunsch
und lebhaften Interesse der Mehrheit des deutschen Volkes entsprach und daß
die Bewegung dafür in die Breite und Tiefe ging, war es damals die Marine¬
verwaltung, die sich durch diese anscheinende Zügellostgkeit der Wünsche auf
das stärkste beunruhigt fühlte und ihre ganze Autorität daran setzte, um den
Deutschen Flottenverein wenigstens nach außen hin als zahmes und gehorsames
offiziöses Instrument erscheinen zu lassen und dadurch den Eindruck einer selb¬
ständigen, starken Volksbewegung zu verwischen. Daß dies für unsere England¬
politik nicht günstig wirkte, kann man heute ja ruhig zugeben. Aber damals
fanden die amtlichen Stellen die eifrige Unterstützung gerade auch solcher
Parteien, Bevölkerungskreise und Preßorgane, die heute den Acheron in Be¬
wegung setzen, um eine Volksbewegung zustande zu bringen, die die angeblich
zaghafte Regierung vorwärtstreiben soll. Dergleichen liebte man nicht in
Friedenszeiten, wo es hingehörte und unschädlich war; jetzt betreibt man es
mit Leidenschaft, wo es nicht hingehört und in seinen Folgen gar nicht zu
berechnen ist. Im Frieden wäre es sehr wünschenswert, daß die Regierung
zuzeiten eine gewisse anständige und ehrliche Demagogie treibt; im Kriege
können wir nur eine einzige Regung des Volkswillens gebrauchen, das Be¬
dürfnis, die Feinde niederzuzwingen.
Hier erhebt sich nun in verzweifelter Frage der Einwand: ja, wie lange
sollen wir denn noch warten? Wenn der Feind geschlagen ist, ist es zu spät,
weil der Friede dann sogleich geschlossen werden muß! Es muß zugegeben
werden, daß vieles geschehen und von amtlicher Seite, auf amtliche Veranlassung
und unter amtlicher Vermittlung geäußert worden ist, was dieser Sorge
Nahrung gibt. Aber es trifft trotzdem nicht zu, daß das Abwarten einer
günstigeren Lage zur Erörterung der Kriegsziele ein zu spätes Eintreten in
diese Erörterung bedeuten würde. Die Sorge, daß uns mitten darin schon
der Abschluß des Friedens überraschen würde, erscheint wenig begründet. Dazu
liegen die Dinge viel zu kompliziert. Deshalb sollten wir ruhig auf den
Augenblick warten, wo sich unsere Lage wenigstens vereinfacht.
Wie das zu verstehen ist, bedarf einer besonderen Erläuterung. In der
Erinnerung an frühere Kriege denken wir gewöhnlich daran, daß die Nieder¬
werfung des einzelnen Gegners meist in der Erfüllung gewisser Forderungen
ihren Ausdruck findet, Forderungen, die im Volksbewußtsein schon während
des Krieges bestimmte Gestalt gewonnen haben. Schon nach den ersten
Siegen 1870 stand es fest, daß wir uns Elsaß und Lothringen zurückholen
wollten. Auch in den Koalitionskriegen vergangener Zeiten handelte es sich
bei den beteiligten Mächten meist um Sonderwünsche, die wohl in ein Bündel
zusammengebunden, aber auch wieder voneinander gelöst werden konnten. Wir
stehen in diesem Kriege, der uns von einer Welt von Feinden aufgedrungen
worden ist, anders da. Wir haben keine im allgemeinen Volksbewußtsein
haftenden Wünsche, die uns durch den Krieg von den besiegten Gegnern erfüllt
werden könnten. Etwa wie Elsaß-Lothringen 1870. Es hat damals vor 1870
wohl keinen einzigen Deutschen gegeben, der gegen Frankreich Krieg führen
wollte, um ihm diese beiden Provinzen abzunehmen; aber das wußte jeder:
wenn es irgendwie einmal Krieg mit Frankreich geben sollte, und wir blieben
Sieger, dann mußten wir Elsaß und Lothringen wieder haben! Jetzt — ich
wiederhole es — haben wir gegen keinen unserer Gegner eine Forderung, die
sich damit vergleichen ließe. Natürlich bestehen zahllose Wünsche und Lieblings¬
gedanken, und es gibt eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die in der Lage
sind, ihren besonderen Ideen ein größeres Gewicht zu geben und sich eine
Gefolgschaft zu verschaffen. Aber in ihrer Gesamtheit würden alle diese Ideen
ein völliges Chaos ergeben.
Das klingt vielleicht sehr pessimistisch, aber es wird dadurch ausgeglichen,
daß wir allerdings einen einheitlichen Grundgedanken in diesem Kriege haben.
Der Friede soll uns die Sicherheiten bringen, die es fremden Mächten und
Mächtekoalitionen in Zukunft unmöglich machen, uns wieder anzugreifen. Das
ist ein Gedanke, der sowohl der Kriegführung ein brauchbares Ziel steckt, als
auch von jedem vernünftigen Deutschen verstanden und gebilligt wird. Die
Gegner des Reichskanzlers sagen: das ist ein unbestimmtes und im Grunde
negatives Ziell Gewiß, eine Lage schaffen, in der man uns nicht angreist,
scheint der Form nach eine negative Arbeit zu sein, aber wenn jede negativ
gestellte Aufgabe einen so reichen positiven Inhalt hätte, könnten wir uns
beglückwünschen. Dieser Inhalt hat aber, um in seiner ganzen Notwendigkeit,
Allgemeingültigkeit und Wirksamkeit erfaßt zu werden, zur Voraussetzung, daß
die Erfahrung von der Unmöglichkeit jeder halben und unzureichenden Lösung
noch ein oder mehrere Male durch die Tatsachen bekräftigt wird. Die kriege¬
rischen Entscheidungen, die bis jetzt gefallen sind, geben uns wohl die Gewißheit
des Sieges, schaffen aber durchaus noch nicht die volle allgemeine Einsicht, auf
welchem Wege wir die Sicherheit unseres künftigen Friedens zu suchen haben.
Es ist unverständlich, um nicht zu sagen beschämend, wie zweifellos
patriotische Männer meinen können, unsere Leute in den Schützengräben würden
sich besser und freudiger schlagen, wenn ihnen bestimmte Ziele bezeichnet
würden, für die sie kämpften. Ich sollte meinen, es liegt schon eine gewisse
Herabsetzung der Pflichtauffassung und der Sinnesart unserer Heeresangehörigen
darin, daß man sie nach den Bedürfnissen, die sich am heimischen Stammtisch
zu entwickeln pflegen, einschätzt. Aber davon abgesehen, — was will man den
Leuten denn sagen? Will man ihnen zum Beispiel — um ein beliebiges Bei¬
spiel anzunehmen — irgend ein Bild der zukünftigen Gestaltung Belgiens vor¬
malen? Dann stellt vielleicht gerade ein Teil unserer Feldgrauen, in Er¬
innerung an die sozialdemokratische Friedensschule, etwa folgende Erwägung
an: „Also darum werden wir hier an der Westfront nicht fertig! Und wir
dachten, es sei zur Bezwingung des Feindes notwendig! In Wahrheit werden
wir nur deswegen so lange von der Heimat ferngehalten, weil ein paar reiche
und einflußreiche Leute ihre besonderen Pläne mit Belgien habenI" Ganz
anders liegt die Sache, wenn sich jeder nach eigenen Erfahrungen und Be¬
obachtungen an der Front sagen muß, daß der Feind nicht Frieden schließen
will, ehe er uns nicht in eine Lage gebracht hat, die jeder unserer Leute ab¬
lehnt. Unsere Leute wollen nicht, daß die Opfer, die sie gebracht haben, die
Leiden, die sie erduldet haben, vergeblich bleiben, daß alles Blut umsonst ge-
flossen ist, und daß sich das alles nach verhältnismäßig kurzer Zeit wiederholt.
Gegen diese aus dem eigenen Erlebnis geborene Forderung wird auch die
sozialistische Phrase machtlos sein. Aber die klare Erkenntnis, was dazu ge¬
hört, um dem Deutschen Reich im einzelnen und besonderen alle nötigen
Sicherheiten zu verschaffen, kann erst gewonnen werden, wenn das Verhalten
des Feindes selbst die Hinfälligkeit der verschiedenen Verftändigungsmöglich-
keiten gezeigt hat, die bisher in den einzelnen Entwicklungsstadien des Krieges
auf unserer Seite immer wieder ausgeklügelt worden find. Die Erscheinungen
allmählicher Erweichung und Ungeduld, die nach dem Nachlassen des ersten
Begeisterungsüberschwangs bei der langen Dauer des Krieges etwas deutlicher
in die Augen fallen, werden von unsern übereifriger Patrioten stark über¬
schätzt. In Wahrheit hämmert uns der Krieg stärker zusammen, und die Mehr¬
heit des deutschen Volkes ist bereit, stillzuhalten.
Aus solchen Betrachtungen heraus wird zu verstehen sein, warum der
Reichskanzler nach der Meinung vieler Leute, die sich keineswegs zu den Be¬
fürwortern eines „unausgefochtenen" Krieges, einer vorzeitigen Wiederanknüpfung
mit den Besiegten oder verwandter Bestrebungen rechnen, durchaus das Richtige
getroffen hat, wenn er bestrebt ist, die Frage der Kriegsziele im besonderen
und der Friedensbedingungen auch jetzt noch bis auf weiteres aus der all¬
gemeinen Erörterung auszuscheiden. Dazu gehört denn auch weiter, daß er
sich selbst so weit als möglich dieser Erörterung entzieht und es vermeidet, sich
auf einen schon bezeichneten Standpunkt durch den beliebten Trick einer provozierten
„Avschüttelung" oder Zustimmung festlegen zu lassen.
Ob diese Haltung in allen Einzelheiten immer geschickt und glücklich durch¬
geführt worden ist oder nicht, ist für die grundsätzliche Unterstützung oder Be¬
kämpfung des Kanzlers ganz und gar nebensächlich. Man würde sich im
Zeichen des Burgfriedens nichts vergeben, wenn man die Erörterung der
Fragen, in denen man mit dem Reichskanzler vielleicht verschiedener Meinung
ist, etwas großzügiger anfassen wollte. Wer durchaus der Überzeugung ist,
daß die Erörterung der Kriegsziele baldigst freigegeben werden müsse, kann
ja immer wieder seine Gründe dafür aufmarschieren lassen und die ihm schädlich
erscheinenden Meinungen der Gegenparteien bekämpfen. Nur soll er sachlich bleiben.
Leider hat sich der Kampf gegen den Reichskanzler nicht in diesen Grenzen ge¬
halten, und das ist für alle diejenigen, die eine solche Art der Bekämpfung —
vollends in der Kriegszeit — verurteilen, ein weiterer Grund, sich auf die Seite
des Kanzlers zu stellen. Auch diese Seite der Sache darf nicht unberührt bleiben.
In der Bekämpfung des Kanzlers waren verschiedene Abstufungen zu unter¬
scheiden, die aber leider in der Wirkung einen Zusammenklang erzeugten. Neben
gutem Glauben und achtungswerter Überzeugung, wie sie angesehene Parteien
und Zeitungen vertraten, standen giftige Machenschaften, die mit Klatsch und
Intrige arbeitend im Dunkeln schlichen. Wer dieses widerwärtige Treiben länger
mitangesehen hat, begreift den Zorn des Reichskanzlers in seiner Rede vom
5. Juni. Wenn die konservative Partei und ihre verantwortlichen Führer die
Kenntnis dieses Treibens weit von sich wiesen, so erklärten sie damit etwas,
was nicht anders erwartet werden durfte. Aber es kann leider nicht geleugnet
werden, daß die verleumderischen Klatschgeschichten aus dunkler Quelle, die, von
Mund zu Mund weitergetragen, das Vertrauen zum Kanzler erschütterten, ihr
Verbreitungsgebiet vorzugsweise in konservativen Kreisen suchten und hier bei
harmlosen, gut patriotischen, um das Vaterland treu besorgten, persönlich an¬
ständigen Männern ehrlichen Glauben fanden. Mit dieser Stimmung zusammen
wirkte wie Kette und Einschlag die auffallend kaltschnäuzige Haltung der Partei
gegenüber dem warmherzigen Auftreten des Reichskanzlers und die Agitation
der Zeitungen, die nicht müde wurden, nach jedem Wort zu spähen, das die
Stellung und die Absichten des Reichskanzlers diskreditieren konnte. Zugegeben,
daß auch die Gegnerschaft gegen den Kanzler ihr gutes Recht hat; zugegeben, daß
Vertrauen sich nicht erzwingen läßt, — so bleibt doch durch die Mitwirkung der
erwähnten dunkeln und unsauberen Einflüsse in dieser Agitation etwas Pein¬
liches und Gemeinschädliches, in dessen Bekämpfung bei dem Ernst der Zeit
sich möglichst viele zusammenfinden sollten und zu dessen Bekämpfung auch wirklich
eine größere Zahl bereit ist, als es bisher vielleicht scheinen konnte. Der
Kanzler mag hier und da Fehler gemacht haben, dieser Art der Bekämpfung
gegenüber hat er in der gegenwärtigen Lage recht, unbedingt recht und verdient
Unterstützung.
Um so mehr als sich die Opposition auch auf ein Gebiet erstreckt hat, das
unbedingt von jeder politischen Agitation unberührt bleiben müßte, das Gebiet
der Mittel und Wege der Kriegführung. Ob es im Fall eines unglücklichen
Krieges Lagen gibt, wo die öffentliche Meinung ein gewisses Recht hat, die
Kriegführung zu korrigieren, ist eine Frage, die uns glücklicherweise nicht zu
beschäftigen braucht. Das ist ein zweischneidiges Schwert, die ultima, ratio
einer nationalen Katastrophe. Unsere Heerführung hat das Vertrauen, das ihr
entgegengebracht worden ist, bisher gerechtfertigt; sie hat mehr geleistet, als ver¬
nünftigerweise erwartet worden konnte. Sollte sie das nicht vor unverantwort¬
lichen Ratgebern und vor unnötigen Dreinreden schützen? Die mannigfachen
und verwickelten Aufgaben dieses ungeheueren Krieges in Einklang zu halten
mit den politischen Erfordernissen, ist eine Arbeit, die gewiß nicht ganz der
Kritik entzogen bleiben soll, die aber, soweit sie ein wesentliches Stück der Krieg¬
führung ist, nicht dem Einfluß des Volkswillens ausgeliefert werden darf. Die
Entschlüsse der Heeresleitung und die damit in unmittelbarem Zusammenhange
stehenden Entschlüsse der politischen Reichsleitung können nnr von einer Stelle
aus, an der alle Fäden zusammenlaufen, richtig beurteilt werden. Auch ein
strategisches oder politisches Genie kann unter Umständen eine Lage falsch be¬
urteilen und zu einem unrichtigen Schluß gelangen, wenn ihm die Kenntnis der
konkreten Unterlagen fehlt, die den Entschluß bedingen. Im Jahre 1670 hat
Roon, und auf seine allgemeine militärische Autorität gestützt auch Bismarck,
in der Frage der Beschießung von Paris offenkundig geirrt. Es gibt zwar
Leute, die noch heute kühn behaupten, Moltke sei es, der geirrt habe, weil nach
ihrer nur auf einem Gefühl beruhenden Meinung das, was Bismarck sagte,
von vornherein richtig war. Für den Fachmann ist aber seit der Veröffent¬
lichung von Moltkes Korrespondenz diese Ansicht nicht aufrecht zu erhalten.
Moltke verfügte eben über Daten, die auch Roon in dieser besonderen Frage
nicht kannte. Die Analogie mit der berühmten Stellungnahme zur U-Bootfrage
ist leicht zu erkennen.
Man entschuldigt die Opposition mit „vaterländischer Sorge". Auch hier
dränge sich ein geschichtliches Beispiel auf. General von Steinmetz, der 1866
wie 1870 als eifriger Widersacher Moltkes auftrat und nicht genug vor den
Plänen Moltkes warnen konnte, war ein tüchtiger und erfahrener General, und
sein Vorgehen entsprang aufrichtiger patriotischer Besorgnis. Dennoch war es
in der Ordnung, daß der König bei aller Güte und Rücksicht für seine alten,
verdienten Generale dieses Verhalten 1866 zurückwies, 1870 dagegen einschritt.
Aber wer wollte entscheiden können, ob nicht die Kriege 1866 und 1870
allenfalls auch nach Steinmetz' Ideen hätten gewonnen werden können. Es
führen immer verschiedene Wege nach Rom; was unsere Generalstäbler scherzhaft
die „Patentlösung" taktischer und strategischer Aufgaben nennen, gibt es nur
in der Friedensschule. Aber immer muß einer der Herr sein, der den Weg
zeigt und die Verantwortung trägt. Je klarer und bestimmter dieses Verhältnis
empfunden wird, desto notwendiger erscheint die Unterdrückung und Ausschaltung
aller Vorwände für unbefugtes Mitreden in der Kriegführung selbst. In diesem
Zusammenhang ist auch die „vaterländische Sorge" nur ein beschönigender
Ausdruck für Disziplinlosigkeit, besonders wenn sie nicht eigener Einsicht und innerem
Zwang entspringt, sondern die Frucht entweder einer tendenziösen Agitation,
oder gar verleumderischen Klatsches ist.
Die Ausschaltung des Gebiets der Kriegführung läßt genug anderes für
die Kritik und die Geltendmachung des Volkswillens frei. Es ist nicht davon
die Rede, daß alles gebilligt werden soll, was im Namen des höchsten ver¬
antwortlichen Reichsbeamten geschehen ist. Die Fehlgriffe der Zensur und
ähnliches haben genug Grund zur Klage geschaffen, aber sie rechtfertigen nicht
die Betonung von Forderungen, die im Grunde genommen den Volkswillen
über notwendige Rücksichten der Kriegführung stellen.
le Frage der Dezentralisation der Industrie bildete schon in
Friedenszeiten ein oft erörtertes und vielumstrittenes Problem.
Anlaß zu diesen Erörterungen bot die stetig fortschreitende Zu¬
sammenballung der Industrie an bestimmten Plätzen und der
damit verbundene unaufhörliche Drang zur Großstadtentwicklung.
Lange Zeit galt der Satz von der industriellen Anziehungskraft der Städte als
ein Dogma, und in der Zeit der geringeren Ausbildung der Verkehrsmittel
hatte dies auch seine gewisse Richtigkeit. Heute aber ist die Industrie nicht
mehr naturnotwendig an die Großstadt gebunden. Wir haben heute durch
ganz Deutschland ein ausgedehntes elektrisches Stromnetz und ein dichtes Eisen¬
bahnnetz, das sich durch Angliederung von Anschlüssen bequem erweitern und
verzweigen läßt. Ferner hat sich unsere Industrie von der Grobarbeit, die sich
mehr an die Masse anlehnte, immer mehr zur Gewerbekunst, zur Kunstindustrie
entwickelt. Infolge dieser Veränderungen hatte sich in den letzten Jahren hier
und da auch schon eine merkliche Neigung zur Dezentralisation und zum Abbau
der Großstadtbildung zugunsten des platten Landes und der Kleinstädte erkennen
lassen. Die Staatspolitik lieh dieser Entwicklung ihre Unterstützung durch
Ausbau von Nebenbahnen, durch Inangriffnahme von Kanalbauten, durch Ver¬
legung von Garnisonen in Kleinstädte usw. Die Gefälle der Flüsse, die
Stauung der Gebirgswässer, die Talsperren und ähnliche Anlagen suchte man
zur Erzeugung billiger Betriebskräfte für industrielle Zwecke nutzbar zu machen.
Manche Landgemeinden waren mit Eifer bestrebt, Industrien auf das Land
hinüberzuziehen. In den Zeitungen fanden sich oft verlockende Angebote für
industrielle Unternehmungen. Häufig wurden den Unternehmern auf dem Lande
billige oder selbst unentgeltliche Bauplätze angeboten, vielleicht gar Steuerfreiheit
für einige Jahre. In einigen ländlichen Gegenden haben sich sogar eigene
Vereine zur Industrialisierung des Landes gebildet, so z. B. der Verein zur
Industrialisierung der Eifel. Infolge der gebotenen Gelegenheiten haben einige
Unternehmer ihren Betrieb bereits auf das Land hinaus verlegt, andere haben
sich zur Ansiedlung von Zweigbetrieben auf dem Lande entschlossen.
Bei der Erörterung des Wiederaufbaues und der Neuordnung unseres
Wirtschaftslebens nach dem Kriege ist nun auch die vermehrte Dezentralisation
als eine der nächsten Aufgaben unserer künftig in Angriff zu nehmenden
Friedenswirtschaft aufgestellt worden. Dabei wurde betont, daß die zu ver¬
legenden oder neu zu begründenden industriellen Anlagen nicht so sehr in den
Vororten der jetzt vorhandenen Großstädte untergebracht werden sollen, denn
die Erfahrung habe gelehrt, daß in den Großstädten die Tendenz vorhanden
sei, die Vororte der zentralen Zusammenballung anzugliedern, was dann im
Verlaufe weniger Jahre oder Jahrzehnte dahin führen würde, daß der ehemalige
Vorort nicht nur hinsichtlich der Verwaltung, sondern auch bezüglich seiner
Bevölkerungsdichtigkeit, der Entfernung von dem segensreichen Einflüsse der
freien Natur u. tgi. das Los der Großstadt teile. Auch sollte das Bestreben
nicht dahin gehen, die Hungerindustrien in den kalkarmen schlesischen, sächsischen
und thüringischen Gebirgen noch weiter zu vermehren. Es sollten vielmehr
Jndustrieunternehmungen gerade in fruchtbaren Ackerbaugegenden mit hartem
Trinkwasser angelegt werven.
Über die Jndustriealisterung des Landes sind nun allerdings die Ansichten
sehr geteilt. Die einen begrüßen sie als eine willkommene und erfreuliche Ent¬
wicklung, andere dagegen erheben gegen die Verpflanzung der Industrie auf
das Land grundsätzliche Bedenken und wollen das Land lieber davon verschont
wissen. Für die Lösung des Problems wird es gewiß am besten sein, wenn
man beide Parteien einmal zu Wort kommen läßt und den beiderseitigen An¬
sichten in unvoreingenommener Weise Gehör schenkt, um dann zu sehen, ob sich
nicht auf einer mittleren Linie das Bestmögliche erreichen läßt.
Hören wir daher zunächst, welche Vorteile die Befürworter einer In¬
dustrialisierung des Landes sich von einer solchen Entwicklung versprechen.
Vor allem wird es nach dem Kriege nötig sein, unsere Industrie möglichst
konlurrenz- und leistungsfähig zu machen. Dies ist am ehesten möglich durch
die Herabdrückung der Gestehungskosten. In vielen Fällen wird die Industrie
auf dem Lande billiger arbeiten können. Von der Verlegung der Industrie
auf das Land erhofft man eine Verringerung des Grund- und Gebäude- sowie
des Lohnkontos. Der ländliche Bevölkerungsüberschuß bietet genügend tüchtige
Arbeitskräfte, welche vielfach keine allzu hohen Löhne beanspruchen, und sie
können auch mit einem geringeren Lohn dort eher zurechtkommen, weil das
Leben auf dem Lande billiger ist und die meisten noch etwas Land und einen
kleinen Viehbestand als Nebenerwerbsquelle ihr eigen nennen. Die fortdauernde
Verteuerung der Lebenshaltung in den Städten dagegen führt zu immer
weiteren Teuerungszulagen. Insbesondere sind auch die Wohnungsverhältnisse
in der Stadt erheblich teuerer; die Wohnung des städtischen Arbeiters nimmt
allein etwa 20 bis 25 Prozent seines Verdienstes weg.
Gleichzeitig hofft man mittelst der Industrialisierung eine Hebung der
ländlichen Gemeinden und eine günstigere wirtschaftliche und finanzielle Ent¬
wicklung derselben herbeiführen zu können. Bisher zogen gerade die Steuer--
kräftigsten Bewohner des Landes immer wieder zur Stadt, wo niedrigere Kom¬
munalsteuerzuschläge erhoben werden, und wo etwas für das Geld, das man
der Steuerbehörde abliefert, geboten wird, wie höhere Schulen, gute Verkehrs¬
einrichtungen, billige Beleuchtung, Wasserleitung, Unterhaltung, und was sonst
noch das Leben angenehm macht. Auch Beamte und Lehrer, sammelten auf
dem Lande Dienstjahre, um sich, so bald als möglich, in die größeren Städte
versetzen zu lassen. Mittelst einer Industrialisierung des Landes wird es all¬
mählich möglich werden, dem Leben auf dem platten Lande wenigstens einiger¬
maßen die das großstädtische Leben auszeichnenden Vorteile zu verschaffen.
Nicht gering wird die Wirkung sein, wenn man die Bildungsmittel, die den
Bewohnern der Groß- und Mittelstädte zur Verfügung stehen, dem Lande
zugänglich zu machen sucht durch Gründung von Fortbildungsschulen und
Bibliotheken, durch Veranstaltung von allgemeinverständlichen wissenschaftlichen
Vorträgen usw.
Insbesondere erhofft man von der Industrialisierung des Landes auch
eine Hemmung der Landflucht der breiten Massen. Gerade die tüchtigsten
und gesundesten Arbeitskräfte waren es bisher immer, welche das Land ver¬
ließen. Die Landflucht wurde um so größer, je mehr sich die Landwirtschaft
zum Saisongewerbe entwickelte und es vornehmlich in der Winterzeit auf dem
Lande an Beschäftigung mangelte. Das Vorhandensein einer Industrie würde
es für die Leute unnötig machen, nach auswärts auf Arbeit zu gehen. Für
viele würde die Jndustriebeschäftigung eine wertvolle Ergänzung und Stütze
des ländlichen Kleinbesitzes bedeuten. Die Heiratsgelegenheiten würden sich
vermehren und damit eine willkommene Gelegenheit zur Hebung der Geburten¬
ziffer erreicht werden. Auch aus gesundheitlichen Gründen wäre die Dezentrali¬
sation der Industrie mehr zu wünschen als die Jndustriehäufung in den
Großstädten mit all ihren Nachteilen. Die Dezentralisation auf dem Lande
ermöglicht einen gesundheitlich günstigen Wechsel zwischen Industrie- und Land¬
arbeit. Auf dem Lande können die Leute ein Eigenhaus erwerben oder doch
ein Einfamilienhaus mieten, sie können einen Garten haben und mit der
Natur leben. Der Wechsel zwischen Arbeit in geschlossenen Räumen und
Arbeit im Freien erhält die Leute gesund.
Auch manche Landwirte versprechen sich von einer Industrialisierung des
Landes große Vorteile. Sie erhoffen von der Industrialisierung einen ge¬
steigerten Absatz und bessere Preise für ihre landwirtschaftlichen Produkte. Die
Industrie würde die Werte der Güter erhöhen; durch Abverkauf von Grund¬
stücken würde eine willkommene Gelegenheit geboten, Schuldsummen abzutragen
oder den Betrieb intensiver zu gestalten. Die Anstedlung von Industrien
bringt den Fortschritt mit sich. Dies würde sich auch der Landwirtschaft
mitteilen und anregend auf die Vervollkommnung der Produktion und auf die
Intensivierung der Betriebe einwirken.
Neben diesen Befürwortern der Dezentralisation der Industrie gibt es
allerdings auch Gegner der Industrialisierung des Landes, die besonders
in manchen Kreisen der Landwirtschaft zu finden sind. Da die Lösung
des in Frage stehenden Problems auch von deren Meinung und Bereit¬
willigkeit abhängig ist, mögen auch sie hier zu Worte kommen. Sie äußern
ihre Bedenken hauptsächlich in folgender Weise: Vor allem würde die
Industrialisierung ein weiteres Steigen der Löhne und ein Entziehen der
landwirtschaftlichen Arbeitskräfte zur Folge haben. Die Arbeiter würden sich
allmählich immer mehr der Jndustriearbeit zuwenden, sich ihr auf die Dauer
vollständig hingeben und keine Neigung mehr zur Arbeit in der Landwirt¬
schaft zeigen. Soziale und gesundheitliche Nachteile würden sich um so mehr
ergeben, je mehr auch die Frauen der Fabrikarbeit sich zuwenden würden.
Je ausgedehnter die Fabrikarbeit würde, um so eher könnte eine Über¬
anstrengung infolge der zwiefachen Tätigkeit in der Fabrik einerseits und in
der Hauswirtschaft und im ländlichen Nebenbetrieb andererseits eintreten, und
diese Überanstrengung könnte sich sowohl bei den Männern als auch bei den
Frauen und Kindern zeigen.
Die mit der Industrialisierung auftretende Bodenzerstückelung würde eine
noch weitere Verschärfung der landwirtschaftlichen Arbeiternot zur Folge haben.
Die auf dem Lande lebenden Industriearbeiter, die an ländliche Arbeit gewohnt
sind, bewirtschaften lieber eigenes oder gepachtetes Land in ihrer freien Zeit
und sind als Hilfskräfte für die Landwirtschaft verloren. Damit würde gleich¬
zeitig ein Verlust an Konsumenten eintreten. Die landwirtschaftlich im Neben¬
beruf tätige industrielle Arbeiterschaft wird bezüglich der Beschaffung landwirt¬
schaftlicher Erzeugnisse vom fremden Bedarf unabhängig. Diese Arbeiter kommen
für die von ihnen selbst erzeugten Produkte für die Landwirtschaft als Abnehmer
nicht mehr in Betracht, sie werden vielmehr in vielen Fällen deren erfolgreiche
Konkurrenten. Schließlich würden auch die Werkskonsumvereine, die z. B.
Kartoffeln für ihre Arbeiter in großen Mengen von fernerher bezögen, sowie
die industriellen Mästereien usw. der Landwirtschaft am Orte eine empfindliche
Konkurrenz bereiten können.
Vor allem befürchtet man in landwirtschaftlichen Kreisen von dem Vordringen
der Industrie eine allmähliche Verdrängung des landwirtschaftlichen Kulturbodens
sowie der Landwirtschaft überhaupt. Die Wertsteigerung des Grund und
Bodens wäre vielfach der Landwirtschaft gar nicht zugute gekommen, fondern
den Spekulanten, die vorzeitig das Gelände weggekauft hätten. Anderswo
hätten die den Boden augenblicklich besitzenden Landwirte von der Industriali¬
sierung wegen des besseren und lohnenden Absatzes und wegen der Aussicht
auf späteren gewinnbringenden Verkauf an Grundstücksinterefsenten zwar
erhebliche Vorteile, aber kein anderer Landwirt wird angesichts der Bodenpreis¬
steigerung mehr daran denken können, diesen Boden als landwirtschaftlich zu
nutzenden Boden käuflich zu erwerben. Der Landwirt, der seinen Hof veräußert,
um der Industrie Platz zu machen, verwendet sein Kapital nicht, um sich wieder
in anderer rein ländlicher Gegend anzukaufen, sondern er wendet sich meist der
Industrie zu, die ihm eine gute Verzinsung des Anlagekapitals bietet. Den
Landwirt, der verkauft hat, drängt es in die Stadt. Er wird sich auch nicht
dazu verstehen, ein Gut im Industriegebiet wieder zu erwerben, denn bei den
durch die Industrialisierung gesteigerten Bodenpreisen kann der rein landwirt¬
schaftliche Betrieb dort keine Rente mehr gewährleisten. In industrialisierten
Landgegenden würde der Boden Phantasiepreise bekommen sowohl infolge der
Aufkäufe der Spekulanten, wie auch infolge des Landhungers der kleinen Leute.
Die Bodenzerstückelung würde überHand nehmen. Infolgedessen würde allmählich
ein Zurückdrängen und eine Schwächung des selbständigen Bauernstandes stattfinden.
Manche Landwirte befürchten von dem Vordringen der Industrie auch
eine Schwächung ihres Einflusses und eine Zurücksetzung der landwirtschaftlichen
Interessen in gemeindlichen Angelegenheiten. Die Industrie bringt ein ganz
anderes Leben mit sich. Die Unternehmer bringen vielfach schon einige fremde
Arbeiter von auswärts mit. Diese sollen den Arbeitskräften, die man vom
Lande für die Fabrik zu gewinnen hofft, die technischen Anfangsgründe und
die notwendigen Handgriffe beibringen. Diese Leute von auswärts sind jedoch
meist in Arbeiterverbänden und Gewerkschaften organisiert. Mit den ihnen
beigegebenen und öfters von ihnen abhängigen Arbeitern vom Lande sind sie
jetzt täglich in der Fabrik in engster Berührung und wissen diesen bald offen,
bald versteckt ihre mitgebrachten Ideen näherzubringen. Das nahe Zusammen¬
arbeiten befördert den Gedankenaustausch. Die landwirtschaftliche Beschäftigung
bringt Vereinsamung und Ruhe mit sich. Sie drängt zu konservativen!
Denken. Die einförmige Fabrikarbeit wirkt ganz anders auf den Menschen
ein. Sie bedingt ein verändertes und gesteigertes Vergnügungsbedürfnis.
Gleichzeitig bringt die Industrie mehr bares Geld in den Ort, wodurch den
Neuerungen und Vergnügungen Vorschub geleistet wird.
Ferner wird darauf hingewiesen, daß infolge der industriellen Entwick¬
lung für die landwirtschaftlichen Gemeinden unter Umständen infolge des Zu¬
zugs von Arbeitern auch finanzielle Belastungen entstehen könnten, und zwar
durch Steigerung der Schullasten, der Lasten für Armenpflege, Kirche, Polizei,
Wegebauten usw. Wenn das industrielle Unternehmen reichlichen Gewinn
abwirft, können sich die Landgemeinde?» ja auf Grund des Besteuerungsrechtes
finanziell entschädigen; aber die Sache steht um so schlimmer, wenn das Werk
nachweist, einstweilen keine Reineinnahmen zu erzielen, wie es besonders anfangs
häufiger der Fall ist. Für diese industrialisierten Landgemeinden ist auch
die letzte Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz von Schaden.
Nach dieser Novelle vom 30. Mai 1908 wird bekanntlich der Unterstützungs¬
wohnsitz statt früher in zwei Jahren nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre jetzt
schon in einem Jahre nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahre erworben. Die
Novelle sollte die Städte, in welche die Landbevölkerung abzieht, früher belasten,
damit der Landgemeinde nicht so viele Abgewanderte später als Arme wieder
zur Last fallen. Sobald die Industrie sich auf dem Lande breit macht, liegt die
Sache aber wieder umgekehrt, indem das Land wieder eher belastet wird.
Einen großen Schaden für die Landwirtschaft bedeute auch die starke
Staub-, Rauch- und Rußentwicklung, die Industrie und Verkehr meist mit sich
bringe und die einen äußerst nachteiligen Einfluß auf das Gedeihen der
Pflanzen, auf Obst- und Gemüsegärten, auf Wiesen und Weiden ausübe. Einen
besonders verderblichen Einfluß auf die Vegetation hat die beim Verbrennen
der schwefelhaltigen Steinkohle sich bildende Säure. Die schädlichen Stoffe
werden vom Vieh und vom Wild aufgenommen und führen leicht zu Darm-
krankheiten und sonstigen Krankheitserscheinungen. Ferner könnten die industriellen
Abwässer der Landwirtschaft manchen Schaden bereiten. Schließlich würde auch
noch das Landschaftsbild und die Schönheit der Natur durch die Industrie oft
erheblich verunstaltet.
Man sieht also, daß die Meinungen über die Vorzüge der Industrialisierung
des Landes noch recht geteilt sind, jedoch wird sich zwischen den sich oft
widerstreitenden Ansichten wohl in vielen Fällen ein Ausweg und ein Ausgleich
finden lassen. Manche Bedenken sind vielleicht übertrieben oder lassen sich bei
genügender Berücksichtigung aller Verhältnisse leicht zerstreuen. Im Einzelfalle
wird ja sowieso alles von den örtlichen Vorbedingungen abhängig gemacht
werden müssen. Wie z. B. ein Ausgleich zwischen gewerblichen und landwirt¬
schaftlichen Interessen herbeigeführt werden kann, zeigt der Vorschlag von Meline
(„Die Rückkehr zur Scholle und die industrielle Überproduktion"). Meline geht
von der Tatsache aus, daß es heute zahlreiche Industrien gibt, die mit einer
toten Jahreszeit zu rechnen haben, während der die Bestellungen langsamer
eingehen oder auch wohl aufhören. Wird in solcher Zeit mit Volldampf weiter¬
gefahren, so häufen sich die Vorräte immer mehr, wachsen schließlich zu großen
Beständen an, und diese Überproduktion führt dann leicht zu schlimmen Krisen.
Diesen Gefahren könnte man vorbeugen, wenn man sich entschlösse, eine schmieg¬
samere und dehnbarere Regelung der Arbeitszeit vorzunehmen. Meline schlägt
daher Abkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor, auf Grund
deren den Arbeitern gestattet sein soll, in der Jahreszeit, wo die besonders an¬
strengenden und zugleich unaufschiebbaren ländlichen Arbeiten die Tätigkeit des
Arbeiters in Anspruch nehmen (also in der Zeit, wo gepflügt, gesät und ge-
erntet werden muß), zeitweilig die Fabrikarbeit zu unterbrechen, um sich aus¬
schließlich den landwirtschaftlichen Beschäftigungen widmen zu können. Auf diese
Weise käme einerseits die Landarbeit zu ihrem Rechte, und andererseits würde
auch für die Industrie in sehr vielen Fällen eine zeitweilige Entlassung ihrer
Arbeiter insofern erwünscht sein, als die Notwendigkeit, zwecks Erhaltung eines
zuverlässigen geschulten Arbeiterpersonals auch bei Geschäftsflaue immer weiter
zu produzieren, auf diese Weise vermieden oder wenigstens erheblich eingeschränkt
werden könnte.
Die Bedenken, die gegen eine Industrialisierung des Landes hauptsächlich
geltend gemacht werden, stützen sich vielfach auf wenig erfreuliche Erfahrungen,
die man in verschiedenen bereits industrialisierten Landgemeinden gemacht hat.
Daß es heute manche ländliche Jndustrieorte mit unerquicklichen Zuständen
gibt, liegt in der Hauptsache daran, daß man es an einer zeitigen Vorsorge
hat fehlen lassen und nicht nach einem bestimmten wohlerwogenen Plan vor¬
gegangen ist. Von vornherein ist zu sagen, daß nicht jede Industrie in jede ländliche
Gegend hineinpaßt. Warum sollte es nicht möglich sein, ungeeignete Industrien
fernzuhalten oder an einen Ort zu verweisen, der für das Unternehmen passender
ist? Das ungeregelte „freie Spiel der Kräfte" müßte ersetzt werden durch
eine planmäßige industrielle Ansiedlungspolitik. Um der so oft beklagten
Verschandelung des Ortsbildes vorzubeugen, wäre beizeiten ein technisch und
künstlerisch befriedigender Bebauungsplan und eine zweckentsprechende Bau¬
ordnung zu entwerfen. Es müßte eine weitsichtige Bodenpolitik betrieben
werden. Die für die Ansiedlung erforderlichen Grundstücke wären rechtzeitig
anzukaufen und alsdann so zu verwerten, daß die Preistreibereien der Speku¬
lanten verhütet werden und der Wertzuwachs nach Möglichkeit der Gesamtheit
der Ortsbewohner zugute kommt.
Um diese Ziele zu erreichen, tritt besonders auch Dr. Hans Kampffmeyer
in seiner Schrift „Die Entwicklung eines modernen Jndustrieortes" für die
Schaffung besonderer Organisationen für Jndustrieansiedlung ein. Man könnte
hier anknüpfen an die Organisationen, die es bereits für die landwirtschaftliche
Jnnenkolonisation gibt. Die landwirtschaftliche Jnnenkolonisation wird be¬
kanntlich betrieben von staatlichen Instituten (Anstedlungs- und General¬
kommisstonen), von privaten Gesellschaften (wie die Landbank) und von gemein¬
nützigen Kolonisationsgesellschaften (wie die Pommersche Ansiedlungsgesellschast).
In ähnlicher Weise wären auch eigene Organisationen für Jndustrieansiedlung
einzurichten. Der preußischen Ansiedlungskommisston würde eine „Kommission
für Jndustrieansiedlung" entsprechen. Dies wäre eine staatliche Behörde mit
genügenden Geldmitteln und einem Stab von erfahrenen Beamten. Neben
einigen Verwaltungsbeamten müßten ihr technische Fachleute, Architekten sowie
Spezialisten für industrielle Geländeaufschließung angehören. Um ferner die
gesundheitsschädlichen Einflüsse der Fabriken innerhalb der neuen Siedlungen
möglichst herabzumindern, sollte in der Kommission auch ein Hugieniker Sitz
und Stimme haben. Auch eine Reihe von Ansiedlungspraktikern müßten be¬
rufen werden, die sich insbesondere auf den Geländekauf verstehen. Damit die
Kommission in enger Fühlung mit dem Wirtschaftsleben bleibt, das sie zu
fördern bestimmt ist, wäre es zweckmäßig, in den einzelnen Provinzen oder
Bezirken Ausschüsse aus den interessierten Kreisen zu bilden, also aus In¬
dustriellen. Landwirten, Gemeindevertretern, Arbeitervertretern, Vertretern der
Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung, des Vereins für ländliche Wohlfahrt-
und Heimatpflege usw. Die Aufgaben der Kommission für Jndustrieansiedlung
wären hauptsächlich folgende: 1. sie müßte alles Material, daß auf die Sied¬
lungsfrage Bezug hat. sammeln und bearbeiten; 2. sie müßte die Projekte
begutachten, die von seiten der Behörden und der Privaten erdacht werden;
3. sie würde eine Art Auskunftsstelle für Jndustrieanstedlung bilden. Die
Kreise, Bezirke, Gemeinden und Privatleute, die sich für Anstedlung interessieren,
könnten hier ihr Material niederlegen, und die Fabrikanten, die die Verlegung
oder Neugründung eines Betriebes planen, könnten sich hier leicht und sicher
orientieren; 4. die wichtigste Aufgabe der Kommission wäre die Schaffung
neuer Jndustriesiedlungen. Dadurch, daß alle Fäden, die sich an industrielle
Anstedlungsprojekte knüpfen, in der Kommission zusammenlaufen, die mit allen
beteiligten Kreisen in reger Fühlung steht, kann sie sich besser und eher als
irgendein anderer Klarheit darüber verschaffen, wo die Gründung neuer Jn¬
dustriesiedlungen zweckmäßig und notwendig ist.
Wie bei der landwirtschaftlichen, so könnten auch bei der industriellen
Jnnenkolonisation Erwerbsgesellschaften und gemeinnützige Organisationen tätig
sein. Es könnte z. B. Erwerbsgesellschaften, die sich ebenso wie die erwähnte
Landbank einer behördlichen Kontrolle unterwerfen, billiger staatlicher Kredit
zugestanden werden. Die Kontrolle hätte sich auf die Regelung der Gemeinde
Verhältnisse, auf den Verkaufspreis des Geländes und auf die Verkaufsbedin¬
gungen zu erstrecken. Noch wichtiger als die Jnnenkolonisation durch Erwerbs¬
gesellschaften wäre vielleicht die von gemeinnützigen Organisationen. Ähnlich
wie durch Gutsbesitzer die Pommersche Anstedlungsbank gegründet wurde, um
die Schädigungen der privaten Güteraufteilunz zu beseitigen, so sollten sich auch
die Industriellen zusammenschließen, um mit gemeinsamen Mitteln die Schaffung
mustergültiger Jndustriesiedlungen zu fördern. Derartige private Anstedlungs-
gesellschaften hätten gegenüber dem etwas schwerfälligen Apparat einer staat¬
lichen Anstedlungskommisston den Vorteil der größeren Beweglichkeit. Bei
genügendem Interesse ließe sich so ein Zusammenarbeiten zwischen dem Staat
bzw. der erwähnten staatlichen Kommisston und privaten und gemeinnützigen
Gesellschaften in der Form denken, daß sich der Staat mit einem bestimmten
Kapital beteiligt und sich dadurch einen entsprechenden Einfluß sichert. Dadurch
würde die Kapitalbeschaffung erleichtert, der die Beweglichkeit lähmende büreau¬
kratische Geist würde ferngehalten, und der Staat hätte weitgehende Garantien
dafür, daß die Gemeinnützigkeit erhalten, also das allgemeine Interesse ge¬
wahrt bleibt.
ürzlich hat ein Belgier, L. Bernard, in London einen Vortrag
gehalten, worin er — nach dem Referat des „Labour Leader" —
nachwies, daß England allein durch seine Eifersucht auf die
beständig wachsende deutsche Flotte veranlaßt wurde, in den Krieg
gegen Deutschland einzutreten, und das englische Blatt findet die
Worte des Redners sehr vernünftig.
Aber es gibt Engländer, die noch weiter gehen, indem sie nicht nur nicht
die Beweggründe ihres Vaterlandes verbergen, sondern sogar mit bewunderungs¬
würdiger Objektivität zu beweisen suchen, daß man Deutschland seinen Neu-
tralitätsbruch gar nicht zum Vorwurf machen und es jedenfalls deswegen nicht
verdammen dürfe. Ein Mitglied des Parlaments. Mr. Arthur Ponsonby, der
bereits früher durch seine Schriften „?Ke Lamel ana tre ^eeäles Lye" und
„l'Ke DeclinL ol /».nstoerÄL^" Aufsehen erregt hat, kommt jetzt in seinem
Buch über „DemoLi-aey mal viplomaey", in dem er die Notwendigkeit einer
diplomatischen Kontrolle der auswärtigen Politik versieht, auf die Frage der
Staatsverträge und ihrer Verletzung zu sprechen. Er sagt:
„. . . . Hinsichtlich ihres Gegenstandes können Staatsverträge kurz folgender¬
maßen eingeteilt werden:
Die Frage der Dauer einer durch Verträge geschaffenen Verpflichtung ist
in keiner Weise festgesetzt oder unveränderlich. Folglich kommt ein Vertrag in
Wegfall, wenn seine Grundlage für ein Abkommen zu bestehen aufhört oder
wenn er voll erfüllt ist oder wenn er von einem der Vertragschließenden gemäß
eines im Vertrage vorbehaltenen Rechtes gekündigt wird. Um jeden Mißbrauch
hinsichtlich der Verwerfung von Verträgen zu vermeiden, bestimmte das Londoner
Protokoll von 1871, .daß es ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts sei,
daß keine Macht sich selbst von den Pflichten eines Vertrages freimachen oder
dessen Bestimmungen modifizieren kann, ohne die Zustimmung der kontrahierendeu
Mächte durch ein freundschaftliches Übereinkommen erhalten zu haben'.
Trotzdem heißt es, die Bestimmung Kebu8 sie 8tantibu8 sei eine still¬
schweigend angenommene Bedingung bei jedem Vertrag, und eine vollständige
Änderung der Umstände ist angeführt worden oder doch zum mindesten still¬
schweigend untergelegt worden als Entschuldigung oder Rechtfertigung der Nicht¬
beachtung eines Vertrages oder gewisser Klauseln eines solchen. Hierin ist
eine außerordentlich große Gefahr für die Dauerhaftigkeit internationaler Ab¬
kommen enthalten. Die Definition .eine Veränderung der Umstände, hin¬
reichend, um die Verwerfung zu begründen', wird mit größerem Recht von den
internationalen Verhältnissen in ihrer Gesamtheit als von wirklichen Tatsachen
abhängen. Wer ist überhaupt imstande, zu entscheiden, ob die Umstände im
ganzen genommen verändert sind?
Rußland führte die veränderten Umstände als Vorwand an, um die Be¬
stimmungen des Pariser Vertrages zu verwerfen, die das Schwarze Meer
neutralisierten, ebenso bezüglich seiner Verpflichtungen betreffend Batna aus
dem Berliner Vertrage.
Zwei Fälle, in denen unser eigenes Land vertragsmäßige Verpflichtungen
zu erfüllen unterließ, seien hier angeführt. Im Jahre 1852 erkannten die
Mächte einschließlich Großbritannien durch den Londoner Vertrag grundsätzlich
die dauernde Integrität der dänischen Monarchie an und schlossen ein Abkommen
über die dänische Thronfolge, bezüglich dessen sie erklärten, ,es würde das beste
Mittel sein, um die Integrität dieser Monarchie zu sichern'. Aber im Jahre
1864, als die Provinzen Schleswig und Holstein von Preußen und Österreich
angegriffen wurden, überließ Großbritannien Dänemark seinem Schicksal, und
der Grundsatz der dauernden Integrität wurde ganz bequem vergessen.
Durch den Pariser Vertrag von 1856 verpflichteten sich die Mächte, die
Unabhängigkeit und Integrität des ottomanischen Reiches zu respektieren, indem
sie gemeinschaftlich dafür garantierten, daß diese Verpflichtung strenge inne¬
gehalten werden solle, und versprachen, jede Handlung, die deren Verletzung
bezweckte, als eine Frage von allgemeinem Interesse zu betrachten. Die
folgenden Ereignisse vom Jahre 1878 haben gezeigt, daß die Bestimmungen
dieses Vertrages eitel Humbug waren: .Alles war Hohlheit — wenn die Macht,
die der Menschheit das Leben gab, über die Anstrengungen und Anmaßungen
ihres Geschöpfes lächeln könnte, würde sie gelächelt haben beim Anblick der
Versammlung von Staatsmännern, die sich bei Abschluß des Krtmkrieges ein.
bildeten, die Zukunft Osteuropas gestalten zu können'. Dies ist der Kommentar
der Geschichte zu dem Versuch der Staatsmänner, ihre Länder an die Erfüllung
von Verpflichtungen für immer zu binden, die sie in einem schwierigen Augen¬
blick als Mittel, den Frieden zusammenzuflicken, übernahmen.
Einen neueren und besonders interessanten Fall, in dem von dem Argument
der veränderten Umstände Gebrauch gemacht wurde, wird man in der Haltung
finden, die ein einflußreicher Teil der britischen Presse und gewisse Schriftsteller
im Jahre 1887 einnahmen, als der Durchmarsch deutscher und französischer
Truppen durch Belgien wegen des zwischen den beiden Ländern damals
bestehenden gespannten Verhältnisses in Erwägung gezogen wurde. Damals
wurde angeführt, daß, nachdem alle militärischen Zugänge zwischen den beiden
Ländern gegenseitig geschlossen seien, nur die neutralen Zugänge offen ständen,
und daß dieser Zustand der Dinge erst nach dem Vertrage eingetreten sei, der
die Neutralität Belgiens garantierte. Es sei deshalb für Großbritannien das
richtige Verhalten, den Durchmarsch von Truppen über neutrales Territorium
zu gestatten, vorausgesetzt, daß die Souveränität und Unabhängigkeit respektiert
würde. Wenn an diesem Argument etwas richtig gewesen ist, so war es noch
weit plausibler im Jahre 1914. Aber im letzteren Falle wurde es nicht benutzt,
einfach, weil das Verhältnis Englands zu den in Frage stehenden Mächten
sich verändert hatte.
Es ist also klar, daß es die Rücksicht auf sich selbst ist, die in der Haupt¬
sache die Handlungen der Völker oder richtiger ihrer Regierungen bestimmt, eine
Rücksicht, die im gegebenen Augenblick als eine Frage über Leben und Tod erscheinen
muß. .Veränderte Umstände' können wohl als Vorwand benutzt werden, aber
sie sind wenig dazu geeignet, als Rechtfertigung von den anderen interessierten
Parteien angenommen zu werden, es sei denn, daß auch diese gerne dieselbe
Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen möchten.
Es könnten andere Fälle von Vertragsbrüchen angeführt werden, Ver->
tragsverletzungen, die zum Abbruch der Beziehungen und zum Kriege geführt
haben, Verletzungen, die diplomatische Proteste hervorgerufen haben und Ver¬
letzungen, die mit Schweigen übergangen wurden. Es ist ein Irrtum, zu
glauben, daß die Nation, die für einen Vertragsbruch verantwortlich ist, wie
unverzeihlich ihre Handlungsweise auch anderen Völkern erscheinen mag, not¬
wendigerweise von unehrenhaften und aggressiven Beweggründen aus gehandelt
habe; sie kann ja so handeln, weil sie glaubt, daß die nationale Gefahr, die
die strenge Jnnehaltung nach sich ziehen würde, größer wäre, als das in der
Verletzung eines internationalen Übereinkommens enthaltene Übel. Das
Dilemma, in dem sich eine Nation unter solchen Umständen befindet, kann
auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß Regierungen entweder während
kritischer Verhandlungen über einen Friedensschluß oder in dem Wunsche, bei
einer gegebenen Gelegenheit spezielle Verhältnisse zu schaffen, ihre Länder für
immer verpflichten, ohne zu erwägen, ob nicht künftige Generationen unter
völlig veränderten Umständen die Jnnehaltung höchst nachteilig finden könnten,
während dagegen ein Bruch völlig berechtigt erschiene. Wie John Stuart Mill
sich ausdrückt: .Nationen können sich selbst oder andere nicht zu Recht über
einen Zeitraum hinaus verpflichten, über den menschliche Voraussicht sich er¬
strecken kann, da dadurch die bereits in einem gewissen Grade bestehende Ge¬
fahr vermehrt würde, daß die Erfüllung der Verpflichtung durch eine Ver¬
änderung der Umstände entweder unrichtig oder unklug ist/
Die Verletzung eines Vertrages braucht deshalb nicht ein Zeugnis dafür
zu sein, daß die Moral eines Volkes oder einer Regierung auf einem niedrigen
Standpunkt steht. Selbst, wo es sich um Personen handelt, bei denen ein
höherer moralischer Standard vorausgesetzt werden kann, würden wir doch
kaum jemanden tadeln, weil er eine Verpflichtung zurückwies, die sein Urahn
übernahm, selbst wenn sein Vater oder sein Großvater sich an die Erfüllung
gebunden glaubten. . . ."
Mit dieser Auffassung, daß Staatsverträge selbstverständlich nicht für die
Ewigkeit geschlossen sind, steht Mr. Ponsonbn nicht allein. In England
hat sich mehr als ein hervorragender Staatsmann in demselben Sinne aus¬
gesprochen, unter anderem Gladstone, der ausdrücklich erklärte, er könne nicht
zugeben, daß eine Garantie für immer für alle Kontrahenten bindend sei, ohne
Rücksicht darauf, ob die Umstände, die zu dem Zeitpunkt, wo die Verpflichtung
zu erfüllen ist, verändert sind, und er wies in dieser Beziehung auf frühere
Staatsmännner wie die Lords Aberdeen und Palmerston hin; er hätte übrigens
auch auf Wellingtons berühmten Ausspruch anläßlich des englischen Überfalls
auf Kopenhagen im Jahre 1807 verweisen können: „Großbritannien hat nur
das Recht der Selbsterhaltung ausgeübt, das zur Rechtfertigung keiner gelehrten
und verwickelten Erklärungen bedarf!" Mit diesen Worten — die Dänemark
so teuer zu stehen kamen — verteidigte der englische Staatsmann in Wirklichkeit
gerade das Prinzip, das man jetzt dem deutschen Reichskanzler zum Vorwurf
macht, nämlich daß Notwehr auch für den Staat alle Gesetze bricht, ebenso
wie dies bei Einzelpersonen der Fall ist. Der hervorragendste englische Völker¬
rechtslehrer Lawrence sagt denn auch in seinem Werk „principles ot inter-
national I^axv3": „daß äußerste Notwendigkeit eine zeitweilige Verletzung
neutralen Gebiets rechtfertigen wird" (extreme neees8it^ >pill ju8til^ a
temporär^ violation ok neutral terntor^). Es ist eigentümlich, daß auch
belgische Rechtsgelehrte diesen Standpunkt vertreten haben. So schrieb der be¬
kannte Professor Rivier aus Brüssel in seinem Lehrbuch des Völkerrechts im
Jahre 1899 über den Notzustand, daß „ein Staat die Souveränität eines
dritten Staates verletzen darf, selbst dann, wenn dieser zu schwach ist, um zu
verhindern, daß sein Gebiet dem dritten Staate als Basis dienen könnte. . . ."
Und im Jahre 1912 schrieb Des Gressonnieres, Advokat bei dem Appellations¬
gericht in Brüssel, in der bedeutungsvollen Schrift „I^a Klsutralite' als la
IZelAique et 8SL Lor8squence8": „Es ist ebenso kindisch, blind auf die
Garantien eines Vertrages zu vertrauen, wie die Loyalität dessen anzugreifen,
der ihn bricht. Das Leben der Nationen enthält Forderungen, denen gegen¬
über dieses Vertrauen und dieser Vorwurf als bloße ideologische Konstruktionen
erscheinen, die wohl in ihrem Prinzip lobenswert sein können, aber doch
lächerlich und humbugartig sind." Es ist übrigens seltsam genug, daß man
von belgischer Seite so offen einräumt, wie wenig die garantierte Neutralität
wert ist, man war sich ja dort auch stets darüber klar, daß sie im Falle
eines Krieges von der einen oder der anderen Seite verletzt werden würde —
ja hervorragende Männer, wie zum Beispiel Major Girard, ein hochbegabter
und warmherziger Patriot, der sein ganzes Leben lang dafür kämpfte, die
Zukunft seines Landes zu sichern, erkannten sogar an, daß „die kriegführenden
Mächte das Recht in Anspruch nehmen könnten, durch belgisches Gebiet zu
marschieren" (nämlich zufolge dem geheimen Befestigungsvertrage). Deshalb
scheint der Gedanke, daß sich gerade Belgien und England, die — nach einer
Kitchener zugeschriebenen Äußerung — die Maas als ihre östliche Grenze be¬
trachteten, über gewisse militärische Vorbereitungen einigten, wie dies von
deutscher Seite auf Grund der in Brüssel vorgefundenen Papiere behauptet
worden ist, keineswegs unwahrscheinlich. In einem srauzöstschen Buch, das im
Jahre 1911 erschien, „I^a Zuerrs qui vient" von Fran?vis Delaiste, wurde
ebenso ausdrücklich erklärt, daß zwischen England und Frankreich Verhandlungen
über eine Militärkonvention geführt würden, derzufolge Frankreich Truppen
gegen Antwerpen schicken solle, und es hieß darin unter anderem: „Wenn das
Auswärtige Amt in London den Krieg zu beginnen wünscht, werden es seine
Diplomaten so einzurichten verstehen, daß die Verantwortung dem Feinde zur
Last fällt, und wir werden gezwungen sein, König Georg dem Fünften gemäß
einer Defensivkonvention beizustehen."
In England verschließt man also nicht die Augen davor, daß Verträge
in einem gegebenen Augenblick nicht mehr wert sind, als ein Fetzen Papier,
und im Laufe des Krieges ist dies ja auch durch die Tat dokumentiert
worden, sowohl in China durch den Angriff auf Tsingtau, als auch in
Griechenland, obwohl England eine der Mächte war, die die Integrität der
beiden Länder garantiert hatten. Man könnte in diesem Zusammenhang auch
daran erinnern, daß sich England gerade in diesen Tagen gegen die Un¬
verletzlichkeit der Briefpost vergangen hat, obwohl es selbst diese höchst wichtige
Konvention unterzeichnet hat. Die Art und Weise, wie ein Teil der Presse
mit dem geifernden John Bull an der Spitze ruft: „Nieder mit den Neutralen!",
zeugt ja auch nicht gerade von tiefem Respekt vor anderem als sich selbst. Aber
wie natürlich auch solche Stimmen an und für sich sind, so klingen sie doch etwas
illusionsraubend in den gewöhnlichen Engelchor hinein, der aus England selbst mit
seinen Hymnen an England als „dem Beschützer der kleinen Volksstämme" ertönt.
Für neutrale Zuhörer sind solche mißtönende Stimmen lehrreich, denn sie
können, weit besser als die Sirenengesänge, die Kleinstaatvölker darüber be-
lehren, daß die Neutralität nicht ein „Zauberwort ist, das die Feinde be¬
schwört" — um Reventlows kluges Buch „Kriegsursachen und Kampfziele" zu
zitieren —, auch kein friedliches Gehege, hinter dem sie in Ruhe und Behagen
den Goldrausch ausschlafen können. Und es ist nur gesund für sie, daran
erinnert zu werden, daß bei dem Verkehr der Staaten untereinander jeder
sich selbst der nächste ist, und daß dieser Verkehr, am wenigsten in Kriegs¬
zeiten, sich nicht nach zufälligen Sympathien oder weichlicher Gefühlsamkeit
richtet, sondern allein nach dem eigenen Bedürfnis.
ir lieben die Erde, auf der unsere Väter wohnten; wir lieben
die Sprache, die uns die Mutter lehrte; wir lieben das Volk,
zu dessen Stämmen wir gehören; wir lieben den Anteil an der
Kultur, den der Schöpfer und Weltregierer uns gab. Niemand
kann es uns verargen. Wir freuen uns des Vaterlandes, weil
es nach langer Zerrissenheit Einigkeit und Leben wieder gewann und den Platz
in Europa einnahm, auf dem es nach Größe und Kraft ein Anrecht hat. Wir
wollen festhalten an der nationalen und staatlichen Einheit, wie sie andere
Völker des Erdteils besitzen und Frankreich am frühesten besaß und mit Eifer¬
sucht hütet. Wir schauen mit Treue und Ehrfurcht und Stolz auf den, der
die kaiserliche Krone trägt, und vertrauen seinem Gerechtigkeitssinn und seinem
großen Charakter. Vom Standpunkte der christlichen Weltordnung aus darf
keiner es uns mißgönnen.
So gut wie Deutsche, sind wir auch Söhne der katholischen Kirche. Wir sind
es mit der ganzen Stärke unserer Überzeugung und der vollen Inbrunst unseres
Herzens. Eine lange Geschichte hat es erprobt. Den Glauben, den die Boten
des Evangeliums den Vorfahren brachten, hat das katholische Volk Deutsch¬
lands heilig bewahrt in Leiden und Kämpfen und Sichbehaupten, denen keine
andere Nation Ähnliches an die Seite zu stellen hat. In ihm ist auch jetzt
noch ein wahrhaft lebendiges Christentum wirksam. Unerschüttert und ^un¬
erschütterlich steht es zu dem erhabenen Sitze, auf dem der Statthalter Christi
thront und der der Mittelpunkt der ora, Lancia et ^postolica ist. Dürfen
wir daher nicht verlangen, als vollberechtigte I^lui kamilias im Vaterhause der
Kirche betrachtet und behandelt zu werden neben den Brüdern aus anderen
Ländern und — ich wage es hinzuzufügen — neben denen aus Frankreich?"
Mit Absicht sind diese ernsten Worte von H. Schrörs an die Spitze unserer
Mitteilung gestellt, deren Ziel es ist, die Leser der „Grenzboten" auf eine
Sammelfchrift aufmerksam zu machen, die immerdar zu den bedeutendsten Er¬
scheinungen der gesamten Kriegsliteratur gehören wird*). Man weiß zur Ge¬
nüge, wie der Streit der Waffen zu Wasser und zu Lande von einem schier
unermeßlichen, unaufhaltsamen Strom von Schriften aller Art begleitet wird,
so daß es dem einzelnen längst unmöglich wurde, sie insgesamt auch nur zu
übersehen. Nicht allein schreibt wer nur einmal mit einem Feldgrauen gesprochen
hat alsbald seine Memoiren, sondern viele andere auch sind bemüht, tiefer zu
schürfen, um die furchtbar erregenden Probleme des europäischen und universalen
Lebens zu erfassen, zu werten und zu klarer Anschauung zu bringen. Rufer
im Kampfe sind sie alle, nicht minder Zeugen jenes Ringens unserer Tage, in
denen alte und neue Elemente unseres geistigen Seins und Wirkens ebenso nach
Umlagerung drängen wie die Faktoren staatlicher Macht und Machtbetätigung.
Die oben angeführten Sätze sind einer Verteidigungsschrift entnommen,
um es gleich zu sagen einer unbedingt notwendigen, da es ein Zeichen der
Schwäche gewesen wäre, jene schlechthin widerlichen Angriffe unbeantwortet zu
lassen, zu deren Sprachrohr das Lomit.6 eatkoliqus as propaZariäe ^ranyaisö
ü I'6tranMi- sich gemacht hatte. Nur einer Stimmung, für die wir allein die
Bezeichnung der hysterischen Kriegspsychose besitzen, können die vergifteten
Waffen zweckdienlich erschienen sein, deren die kümmerlichen Skribenten des
Pamphlets „l.a Zuerre Hllemanäe et Is catKollLlZme" **) sich bedienten,
mögen sie gleich des Schutzes und Segens Sr. Eminenz des Kardinalerzbischofs
von Paris sich rühmen. Ihnen war es vorbehalten, den Krieg zwischen
Deutschland und Frankreich als einen Religionskrieg hinzustellen, die deutschen
Katholiken als abtrünnig vom Glauben ihrer Kirche anzuklagen, auf unser
herrliches Volksheer den eklen Geifer fanatisierter Anschuldigungen zu verspritzen.
Das männliche deutsche Sprichwort verlangt, daß auf einen, groben Klotz ein
grober Keil gehöre —, er ist in der vorliegenden Schrift zugerüstet, so vor¬
nehm im Ton, so abhold jedwedem Phrasenschwulst jeder einzelne ihrer Beiträge
gehalten ist. Aus der Liebe zum deutschen Vaterland heraus ist sie geboren,
aus eifernder Liebe, die darum nicht blinde Leidenschaft ist, sondern mehr
denn einmal daran erinnert, daß auch unsere Volksgemeinschaft gleich jeder
anderen ihre Fehler aufweist, an deren Minderung dauernd zu arbeiten pflicht¬
mäßiges Streben der Führer ist und bleibt. Mit dieser Liebe aber verbindet
sich die zur allgemeinen Kirche als der Hüterin des katholischen Glaubens, der
Vereinigung seiner Bekenner unter dem päpstlichen Oberhaupt, die zugleich in
der weltumspannenden Misston eine ihrer von Gott gesetzten Aufgaben er¬
kennt. Sollten wir uns allzusehr täuschen, wenn wir in der Schrift den
Unterton des konfessionellen Burgfriedens zu vernehmen glauben, den die zu¬
sammenschweißende Kriegsnot erzwang?
Im ganzen haben sich zwanzig Geistliche und Gelehrte vereint, um jener
Schmähschrift das Spiegelbild deutschen Mutes zum Bekenntnis der Wahrheit
entgegenzustemmen. Sie setzen von umfassenderer Grundlage aus fort, was in
treffsicherer Abwehr bereits A. Rosenberg*) begonnen hatte, und mögen gleich
ihre Beiträge verschiedenen Umfanges sein, sie alle fügen sich doch zu einer
klangvollen Symphonie zusammen: ihrer keinen möchte man missen, da erst
ihre ganze stattliche Reihe dem Wahnwitz des Gegners den Boden entzieht.
Jeden einzelnen Aufsatz nach Inhalt und Tragweite zu werten, kann natürlich
hier nicht unsere Aufgabe sein: daß den Historiker in erster Linie die mehr
geschichtlich orientierten Darlegungen anlockten, ist nur natürlich und gern be¬
kennen wir uns zunächst gegenüber den Ausführungen von H. Finke, G. I.
Ebers, H. Platz und H. von Grauert als verpflichtete Schuldner. An
die verächtlichste Waffe der Gegner, an die frei erfundene Lüge als teuflisch
angewandtes Mittel der Verhetzung, gemahnen die Darlegungen von A. Meister,
während W. Switalski die Greuelaussagen einer kritischen Betrachtung unter¬
zieht, I. Sauer mit den Ausstreuungen über die Zerstörung heiliger Stätten
durch unser Heer gründlich abrechnet. Das deutsche Staats- und Heerwesen
fassen die Aufsätze von K. Hoeber und G. Briefs ins Auge, zu denen
man noch die Würdigung der deutschen sozialen Kultur durch A. Pieper ge¬
sellen mag. Die Seelsorge und das religiöse Leben im deutschen Heere wird
von G. Pfeilschifter vortrefflich geschildert, derart daß die Vergleichung
deutscher und französischer Kriegshirtenbriefe durch A. Knöpfler dazu eine
mehr als eigenartige Folie liefert. Während K. Muth dem Allgemein¬
menschlichen in deutscher Art und Kunst nachgeht, F. Sawicki aber die
Stellung der deutschen Philosophie im Weltkrieg umgrenzt, gelten die Be¬
trachtungen des Bischofs von Speyer, M. von Faulhaber, der religiösen
Kultur unseres Volkes, die von P. Lippert der Gottesverehrung in unserem
Volke, bis F. X. Kiefl die religiöse Lage des Katholizismus und des Pro¬
testantismus im heutigen Deutschland zu schildern unternimmt. I. Schmidlin
beleuchtet die Leistungen unserer katholischen Volksgenossen auf dem Gebiete der
Heidenmission, um auf solche Weise wirkungsvoll den Band zu beschließen,
den I. Mausbach damit eröffnet hatte, daß er die literarische Kriegs¬
erklärung der französischen Katholiken gebührend brandmarkte —, der Leser
kennt bereits die Worte von H. Schrörs: sie sind der Replik auf die
Frage entnommen, ob wirklich der Krieg als ein Religionskrieg zu be¬
trachten sei.
Es wird nicht überflüssig sein anzumerken, daß keiner der Mitarbeiter sich
dazu hergab, feinen vom deutschen Protestantismus abweichenden Standpunkt
deshalb auch nur um Haaresbreite zu verlassen, weil er mit der evangelischen
Majorität unseres Volkes in die Gemeinsamkeit des nationalen Kampfes wider
Frankreich eingetreten ist. „Den beiden Konfessionen in Deutschland", so be¬
merkt der Bischof von Speyer einmal, „liegt es fern, um des lieben
Friedens willen aus ihrer eigenartigen religiösen Bestimmtheit herauszutreten
und eine Allerweltsreligion mit allen Farben des Regenbogens einzuführen. Ein
Versuch, die beiden Bekenntnisse bis auf ihre gemeinsamen Grundlagen abzu¬
hauen und so allen annehmbar zu machen, würde auf eine-dritte Konfession
hinauslaufen und die Glaubensspaltung verdreifachen. Die Katholiken
haben ihrerseits um so weniger Anlaß, ihre kirchliche Bestimmtheit ab¬
zukühlen, als die katholische Kirche gerade durch ihre Bestimmtheit in religiösen
Fragen, durch ihren Autoritätsbegriff und das Angebot einer handfesten
Führung den suchenden Geistern sich als die einzigartige religiöse Großmacht
darstellt." Am stärksten vielleicht, wenn anders wir uns nicht irren, wird
dieser Wesensgegensatz in den Erörterungen von F. X. Kiefl betont, die voll
Stolz die Einheitlichkeit des höchsten religiösen Ideales als eine unver-
siegliche Kraftquelle preisen und sie der inneren Zwiespältigkeit der protestanti¬
schen Lehrmeinungen gegenüber feiern, aber auch hier wieder erfreut das Be¬
kenntnis: „Wir deutsche Katholiken haben an allem, was unser Vaterland
Großes und Edles hat, ehrlich angebaut und halten mit der ganzen Treue
deutschen Gemütes an den ererbten Heiligtümern der Nation fest, wozu wir in
oberster Reihe die christliche Grundlage unseres Staatswesens rechnen. Wir
fühlen uns stark genug, unseren Platz im Leben unserer Nation auch serner zu
behaupten, und sind ebenso stolz und glücklich, Deutsche zu sein wie wir als
Katholiken die innigste Fühlung mit dem gottgesetzten kirchlichen Einheitspunkte
halten und niemals vergessen, daß eine tiefe Solidarität die Guten in allen
Völkern verbindet, nämlich das in unserer Zeit mehr denn je bedrohte innerste
Lebensinteresse der christlichen Kultur. Letzteres ist auch der tiefste Grund,
weshalb wir um den Sieg der deutschen Waffen beten, weil wir das inter»
nationale Freimaurertum, den schlimmsten Feind des Christentums, im Bunde
mit unseren Gegnern sehen, und weil ein Sieg unserer Feinde der katholischen
Kirche bei uns und in anderen Ländern das traurige Schicksal der Kirche wie
in Frankreich bringen würde. Von allen Welteroberungsgelüsten aber wissen
wir uns frei. Hat doch felbst ein Fichte im höchsten Enthusiasmus nationaler
Erhebung betont, daß Deutschland nicht allein auf der Welt sein will, sondern
in dem Nebeneinander vieler nationaler Eigenarten die Strahlen erkennt, in
denen das göttliche Licht auf Erden sich am großartigsten auseinanderfaltet."
Man tadle uns, daß wir die Autoren lieber zu Worte kommen ließen als
über sie urteilen —, wir glauben damit im Sinne des Friedens in unserem
Volke zu handeln, das nichts mehr wissen will von Kämpfen um Glaubens¬
lehren, weil es weiß wozu sie führten und führen werden. „Mit Blut ist die
Erde gedüngt und mit Blut ist die Geschichte der Menschen geschrieben.
Furchtbare Dinge sind je und je geschehen und geschehen noch heute. Das
Furchtbarste aber ist und war und wird sein allezeit, wenn sich die Geschöpfe
Gottes verfolgen mit Wort oder Tat, im Wahne, der Ehre Gottes zu
dienen." *) Nur weltfremder Optimismus wird wähnen, daß der Frieden
unter den Konfessionen, wie wir seiner uns jetzt freuen, ein ewiger Besitz
unseres Vaterlandes sein und bleiben werde — wir wissen, daß der Kampf
der Kirchen und Bekenntnisse auch für sie ein Mittel, dazu die Offenbarung ihres
Lebens, die Entfaltung ihres Wesens und Wertes ist und sein muß —, die
Reibungen aber können mildere Formen annehmen, die Auseinandersetzungen
über Inhalt und Wert der Dogmen und kirchlichen Forderungen sehr wohl
des Ansporns wechselseitiger Beleidigung und Herabsetzung entraten. Heute
wie seit zwei Jahren steht unser Bestand als staatliches Ganzes, als Ge¬
meinschaft des Rechts, der Wirtschaft und des geistigen Lebens auf dem Spiel,
und in solcher Zeit heißt es religiösen und kirchenpolitischen Antagonien mit
Nachdruck und entschlossenem Ernst begegnen, auf daß sie nicht, auch nicht unter
der Decke, wuchern und die Kraft des Armes lähmen, der den Feind besiegen
soll und muß. Ist dies der Kerngedanke der Schrift, dann wissen wir uns
mit ihren Verfassern eines Sinnes, einer Überzeugung. Dann auch wünschen
wir aufrichtig, daß ihre Worte Verständnis und Annahme finden bei jenen
Neutralen, die noch nicht ganz durch Lüge und Leidenschaft sich haben in die
Irre führen lassen. Ob sie Eindruck machen werden bei denen, für die sie in
erster Linie bestimmt ist, bei den Franzosen? Billig wird man daran mehr
als zweifeln dürfen, zumal wenn man an der Hand gerade jenes Pamphlets
inne geworden ist, welchen Grad entsetzlicher Verblendung sie erreicht haben.
Dem Beobachter erscheint er als das selbstgewollte Ergebnis nationaler Auf-
stachelung und Überschätzung. Als eins der Symptome für den Niedergang
eines hochbegabten Volkes weckt er Mitleid selbst beim Gegner, der sich freilich
fragen muß, ob nicht gar sein Mitleid wiederum als unwillkommene Äußerung
eines menschlichen Gefühls zurückgewiesen wird, da das Empfinden eines
Deutschen nur als lästig, aufdringlich, widersinnig, kurz als barbarisch gilt.
Na pauvro Trance 8'en va, so hörten wir vor Jahren in Reims vor der
Kathedrale einen Bänkelsänger klagen, als sich' die Nachricht von der Ermordung
des Präsidenten Sadi Carnot durch einen Italiener verbreitet hatte. Armes
Frankreich, so klagt auch heute der Deutsche, der einst geglaubt hatte, der opfer¬
volle Kampf der Völker werde nicht auch gemeinsame wissenschaftliche Arbeit,
religiöse Empfindungen dauernd schädigen. Schmerzlich mag solche Erkenntnis
sein —, für den aufrechten Mann ist sie der Stachel zu neuer tiefer Versenkung
in die Geisteswelt des eigenen Volkes, dem eine Prüfung sondergleichen die
Lehre einhämmert, daß sein Leben in allen Ausstrahlungen allein die Frucht
der eigenen Arbeit an sich selbst, an seiner geistigen Habe und ihrer Sicherstellung
sein kann. Der Weltkrieg wird das politische Bild unseres Erdteils ver¬
ändern, — er wird aber auch Klüfte geistiger Art zwischen den Völkern auftun,
die zu überbrücken oder gar zu schließen erst einer fernen Zukunft vorbehalten
sein mag. Hier mit neuen Bemühungen einzusetzen wird die Obliegenheit
nicht zuletzt der katholischen Kirche sein, deren verfassungsmäßige Organisation
weil kampferprobt, sich auch im Völkerkrieg bewährte: sie wird um ihrer
selbst willen eine Annäherung unter den Gegnern von heute anzubahnen
suchen. Eben darum zeigt sich auch die hier gewertete Schrift von dem Be¬
wußtsein erfüllt, daß die Wiederherstellung alter, nun zerstörter Gemeinsam¬
keiten wünschenswert sei, wenngleich sie jetzt dem Angriff der Glaubensgenossen zu
begegnen hatte, das Haus des deutschen Volkes gegen den Feind des deutschen
Katholizismus und Protestantismus verteidigen mußte und schirmte. Sie nennt
einmal das wahnsinnige Buch des französischen Ausschusses eines der traurigsten
Dokumente der Kirchengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts —, sie selbst
darf der Deutsche und der Protestant als eine patriotische Tat von Herzen
willkommen heißen*).
le Urkunden und Denkmäler, aus denen die Wissenschaft Schlüsse
auf das geistige Leben unserer Vorzeit ziehen kann, reichen nicht
allzu weit zurück. Ein geistiges Leben hat bei den Deutschen
bestanden, längst vordem das älteste uns erhaltene Bauwerk
errichtet, das älteste uns noch vorliegende Blatt beschrieben wurde.
Gerade die grundlegende Zeit bleibt uns auf direktem Weg unzugänglich. Um
Kunde aus jenen Jahrtausenden ohne urkundliche Beglaubigung zu erhalten,
müssen wir uns an Zeugen anderer Art wenden, und seltsam: während die
gemauerten und gebildeten, gemalten und geschriebenen Denkmäler nach langem
Todesschlaf zu neuem Leben erweckt werden mußten, leben von jenen anderen
Zeugen ältesten Geisteslebens nicht wenige in täglicher Nachbarschaft und
ungebrochener Entwicklung bei uns und mit uns fort. Sie brauchen nur ins
Bewußtsein gerufen zu werden, um ihr Zeugnis abzulegen.
Unser Zahlwort zwei hat mit dem Substantiv Zweig zunächst eine äußere
Ähnlichkeit, diese Gleichheit im Lautkörper der beiden ist aber Ausdruck und
Folge ihrer sprachlichen Verwandtschaft. Neben Zweig und Zwiesel
.gegabelter Ast' stehen gleichbedeutend das indische Feminin paya und ein
germanischer Substantiostamm >vija,-, der in unserem Neutrum Geweih
fortlebt. Entsprechend stellt sich neben den indogermanischen Ausdruck der
Zweiheit alvi eine gleichbedeutende Nebenform ol in lateinisch viZinti .zwanzig,
zweimal zehn'. Der Zweig als .Gabelung' ist sinnlich wahrnehmbar und damit
uralter direkter Benennung fähig, der unsinnliche Begriff der Zweiheit mußte
mit Hilfe einer Metapher benannt werden. Diese griff dahin, wo die lebendige
Natur, die den ursprünglichen Menschen allbeherrschend, auch sein Denken
beherrschend, umgab, ihm die Zweiheit am anschaulichsten, aufdringlichsten,
nützlichsten darbot: zum Baum und seiner Astgabel. Zufall und Willkür darf
man hier nicht annehmen, eine bestimmte Konstitution des Geistes lag voraus,
eine gegebene Umwelt bestimmte die Richtung und beide offenbaren sich uns
aus dem heute noch vorliegenden Befund, wenn wir ihn richtig deuten.
Schon viel weniger sicher sind wir der richtigen Deutung beim sprachlichen
Ausdruck der Dreiheit. Für unser Zahlwort drei fehlt bisher die zwingende
Anknüpfung an Konkreta, immerhin kann als Vermutung ausgesprochen werden,
es sei mit unserem Zeitwort drehen urverwandt. Wie beiderlei Begriffe zu
vermitteln sein mögen, kann etwa die Fünf zeigen, die man früh in sprachliche
Verbindung mit Faust und Finger gebracht hat: wenn die fünffingrige Hand
den gegebenen Ausgangspunkt für die sprachliche Benennung der Fünfheit lieh,
so kann die Drei benannt worden sein nach dem sinnfälligen Bilde der Dreiheit,
das man erhielt, wenn man mit eingeschlagenen kleinen und Goldfinger den
Daumen gegen Zeige- und Mittelfinger drehte. Oder auch: mindestens drei
Finger gehören dazu, eine Drehung auszuführen, den Vorgang anschaulich zu
machen. Nicht zufällig heißt gerade der Dreiphasenstrom Drehstrom. Mag
aber auch neben der sicheren Deutung der Zwei nur die der Fünf bestehen
bleiben, so zeigt sich doch schon zur Genüge, daß neben der umgebenden
Natur der eigene Leib dem Menschen zum Ausgangsbereich seines geistigen
Lebens wurde, auch in der ältesten Sprache.
Jener Handgebärde, die wir für den sprachlichen Ausdruck der Dreiheit
vorausgesetzt haben, mag irgendwelche kultische Bedeutung zugekommen sein, und
so sind religiöse und mythische Vorstellungskomplexe mit jenen ältesten Wegen
des Geistes in der Sprache vielfach untrennbar verschlungen. Auch die ältesten
und einfachsten sozialen Verhältnisse spielen notwendig hinein, das läßt sich für
die germanische Vorzeit gut zeigen an unserem Worte Ding. Dieses Neutrum
ist eine endbetonte Nebenform zum Verbalstamm tliink- .wachsen', der in
unserem Zeitwort gedeihen fortlebt. Ding ist von daher zunächst die .Zeit,
in der etwas gedeiht', diese Bedeutung liegt vor im gotischen tdeiks .Zeit,
Termin'. Das althochdeutsche ttiiriA zeigt sodann die Bedeutungen .Gerichts-
termin, Gerichtstag, Gertchtsversammlung, Rechtshändel', durch fortgesetzte Ver¬
blassung ist in dem Jahrtausend seither die heutige, viel umfassendere Bedeutung
.Sache' erreicht worden. In unseren Zusammenhang gehört das Wort um
der feinen Wendung willen, mit der von der Anschauung des bis zur Ernte
wachsenden Halms, der bis zum Herbst stetig anschwellenden Frucht der Aus¬
druck für den Zeitbegriff gewonnen ist, der unsinnlich und sprachlich wiederuni
mit primären Mitteln unfaßbar, allein einer Benennung durch Metapher
fähig war.
Insofern in den gleichen Kreis gehören die Namen ethischer Begriffe, die
auf verschiedenen Wegen der Sinnenwelt abgewonnen werden mußten: das
Eigenschaftswort böse bedeutet zunächst .klein' und ist über die Zwischenstufe
'gering' zum Ausdruck der moralischen Minderwertigkeit geworden. Wenn neben
vielen Hasel und Haslach ein Boshasel bei Pfullendorf liegt, wieWenigenjena
neben Jena, Kleinbasel gegenüber Basel, so zeigt sich im Ortsnamen die
Ausgangsbedeutung noch lebendig. Aber Schadenbirndorf neben Birndorf
im badischen Oberland zeigt doch zugleich, wie leicht sich auch hier zum Begriff
der Kleinheit der der Minderwertigkeit gesellen konnte. Unser schlimm bedeutet
von Haus aus .schräg' .schief'; die Betrachtung dieses Bedeutungswandels sührt
aus dem Reich der Lautsprache hinaus: wenn in allen Gebärdensprachen der
Erde die Rede durch eine Gebärde bezeichnet wird, bei der die zusammen-
gelegten Fingerspitzen an die Lippen gelegt und in gerader Richtung davon
abgezogen werden, so wird die Lüge überall durch eine Gebärde symbolisiert,
bei der sich die Finger in schräger Richtung vom Mund entfernen.
Unsere deutsche Sprache ist ein Märchenwald, in dem die Bäume sprechen
und der Lauscher, dem die Ohren geöffnet sind, die Zwiesprache der Vögel ver¬
stehen kann. Als Zauberwald haben sie, vom Lande der Romantik ausgehend,
vor hundert Jahren die Begründer der deutschen Philologie entdeckt und sinnend
betreten. Die romantische Stimmung hat die deutsche Sprachforschung und in
ihr gerade die Wortforschung nicht zu ihrem Schaden noch lange umweht: den
verwunschenen Prinzen .Wort' zu erlösen war die Losung noch RudolfHildebrcmds,
des bedeutendsten unter den Forsetzern des Deutschen Wörterbuchs der Brüder
Grimm. Inzwischen ist mancher, der sich als zünftiger Philolog lebenslang in
dem von der Romantik erschlossenen Revier bewegen durfte, der Gefahr erlegen,
daß er vor Bäumen den Wald nicht mehr sah. Unser deutscher Krieg, der
mit Millionen anderer auch so manchen Philologen zwingt, fern vom Schreib¬
tisch über die Sprache nachzudenken, kann, wenn er tausendfältig Wunden
schlägt und von geistiger Arbeit ablenkt, hier auch einmal heilen und anregen,
wenn er zu voraussetzungslosen Sinnen über die Wege des Geistes in der
Sprache zurückführt.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
!an wird getrost sagen dürfen: das Buch des Fürsten von
Bülow, denn des Fürsten Signatur in der deutschen Literatur
wird dauernd an dem Buche „Deutsche Politik" haften.*) Der
Vorläufer des jetzt vorliegenden selbständigen Werkes gab sich
als erstes Stück des vor etwa zwei Jahren erschienenen Sammel¬
bandes „Deutschland unter Kaiser Wilhelm dem Zweiten". Obgleich damals,
der Zeit nach gerechnet, der Weltkrieg nahe bevorstand, war in den politischen
Auslassungen des fürstlichen Verfassers von Befürchtungen einer aufziehenden
Katastrophe doch nichts zu spüren. Er war. im Gegenteil, von einem gewissen
heiteren Optimismus in Ansehung der politischen Zukunftsentwicklung Deutsch¬
lands erfüllt. Zwar war wahrheitsgemäß festzustellen, daß während der Amts¬
periode des Reichskanzlers Fürsten von Bülow unheilschwangere Wetterwolken
wiederholt den politischen Horizont des Deatschen Reichs umlagert hatten, ihrer
Entladung war jedoch immer wieder vorgebeugt worden — was vom Fürsten
Bülow der deutschen Diplomatie als beträchtliches Verdienst zugerechnet wird.
Er führt gelegentlich aus, daß Kriegswolken wohl zum Bilde des politischen
Himmels gehören, die Zahl derer aber, die sich entladen, sei ungleich geringer
als die Zahl der Wolken, die sich verziehen. Daher sei es nicht angängig,
aus einer starken Umwölkung zu folgern, daß eine Kriegsgefahr unabwendbar
sei. oder gar anzuraten, das Schwert zu ergreifen, um den Gegnern zuvor¬
zukommen. Man könne eben nie im voraus wissen, ob nicht nach Besänftigung
der hochgehenden Wogen wiederum ruhige Fahrt für längere Zeit sich darbiete.
Zu dieser beruhigenden Erwägung im allgemeinen, daß das deutsche
Staatsschiff schwerlich einem Orkan entgegensteuere, konnte vom Fürsten von
Bülow außerdem geltend gemacht werden, daß die bösesten Konflikte der Ver¬
gangenheit bei seinem Rücktritt allgemach beigelegt schienen, die Friedens¬
ausfichten mithin auch dadurch begünstigt wurden. Zu schwarzseherischen Ge^
danken lag nach des Fürsten Meinung jedenfalls, trotz der vorhandenen
scharfen Reibungsflächen zu jener Zeit, als die „Deutsche Politik" zum
erstenmal ihren Gang an die Öffentlichkeit antrat, eine erkennbare Veranlassung
nicht vor. Auf die politische Umschau, die dieser Beurteilung der Weltlage im
Jahre 1913 zu Grunde lag, kommen wir noch zurück.
Seit dem nicht unfreundlichen Ausblick des Fürsten Bülow kurz vor dem
Kriege hat eine Sturmflut, wie seit Menschengedenken nicht erlebt, sich gegen
uns herangewälzt. Wir hätten in der ersten Hälfte des Jahres 1914 den
einen Toren gescholten, der uns hätte einreden wollen, daß eine feindliche
Koalition von so furchtbarer Mächtigkeit noch im Sommer desselben Jahres
über uns herfallen würde. Wenn die Männer auf der politischen Wetterwarte
das Nahen der Katastrophe nicht zu erkennen vermochten, so ist der Mangel
solcher Voraussicht erst recht nicht dem bereits seit einigen Jahren aus dem
Amt geschiedenen Reichskanzler vorzuhalten. Die von diesem dargelegten
Richtlinien der deutschen Politik waren aber nun einmal mit jähem Ruck
abgerissen. Die Leser seines früheren Buches mußten mit verwirrtem Staunen
fragen, wie eine im großen und ganzen auf ebenem Wege verlaufende Politik
unversehens in einen Abgrund geraten konnte. Der Weltkrieg konnte un¬
möglich wie „ein Blitz aus heiterm Himmel" in eine allgemeine Friedens-
stimmung heremschlagen, das Verhängnis mußte gewisse kritische Anzeichen
voraussenden. Der Umsturz der Friedenspolitik durch den Krieg mußte dem
neuen Bülowbuch als Kopfstück eingefügt werden, damit die früheren Aus¬
führungen ihren historischen Abschluß fänden.
Fürst Bülow hat während seiner politischen Laufbahn bei sich darbietender
Gelegenheit häufiger seinen großen Vorgänger, den ersten Reichskanzler als
Vorbild und Beispiel angerufen. Er nimmt in dem vorliegenden Buche aus¬
drücklich für sich in Anspruch, das Lebenswerk des Reichsgründers in Ge¬
mäßheit der veränderten Zeitverhältnisse fortzuführen und auszubauen. Die
dazwischenliegende Amtsperiode des Grafen Caprivi und des Fürsten zu
Hohenlohe wird stillschweigend ausgeschaltet oder mit einem abfälligen Seiten¬
blick, so die Caprivische Handelsvertragspolitik, gestreift. Der Schüler Bismarcks
folgt seinem Meister auch in der Beziehung, daß er, wie jener in den „Ge¬
danken und Erinnerungen", nicht den Gang der politischen Geschehnisse mit
historischer Treue darzustellen sich bemüht, sondern aus dem gegebenen Material
politische Lehren und staatsmännische Erkenntnis zu Nutz und Frommen
unserer nationalen Entwicklung zu gestalten sucht. Der Geschichtsschreiber mag
durch das Bülowbuch sein eigenes Urteil bereichern, wird aber den Bülow-
schen Auffassungen nicht in allen Stücken beipflichten. Da die aus¬
wärtige Politik Bülows zu Zeiten ihrer Aktualität vielfach angefochten wurde,
wird auch ihre nachträgliche literarische Rechtfertigung auf manchen Wider¬
spruch stoßen.
nachdenkliche Leser werden trotz der bestechenden Rhetorik des Fürsten
Bülow nicht leicht darüber hinwegkommen, daß die von seiner Hand ge¬
knüpften diplomatischen Fäden schließlich doch in einem verhängnisvollen
Knäuel durcheinandergewirrt wurden. Die Verantwortung hierfür kann nicht
dem vierten Reichskanzler aufgebürdet werden, denn er war längst im Ruhe¬
stande, als die Kriegsfanfaren das deutsche Volk aus seiner friedliebenden
Arbeit aufschreckten. Sind politische Fehler begangen worden, so müßten sie
den Nachfolgern des Fürsten Bülow zur Last gelegt werden. Dieser An¬
nahme widerstreitet freilich unsere bisherige Kenntnis von dem diplomatischen
Intrigenspiel hinter den Kulissen unmittelbar vor dem Ausbruch des Welt¬
krieges. Wie sehr es noch an der authentischen Aufklärung über die geheimen
Triebkräfte auf Seiten unserer Feinde und über die diplomatischen Abwehr¬
aktion seitens des Deutschen Reichs fehlt, bezeugen die widerspruchsvollen
Darstellungen über die Kriegsursachen in den Büchern, deren Versasser die
jüngste Zeitgeschichte objektiv zu bewerten beanspruchen.*) Einen sicheren Leit¬
faden durch diese verschiedenartigen Deutungen in den zeitgenössischen Geschichts¬
umrissen kann und will auch das Bülowbuch nicht bieten. Indem dasselbe
die Ziele der Bülowschen Politik skizziert, bleibt es-die Antwort auf viele
Tagesfragen schuldig.
In welchem Sinne Fürst Bülow seine Mission als Sachwalter des
Bismarckschen Erbes auffaßte und durchführte, bildet den hauptsächlichen Inhalt
seiner „Deutschen Politik". Hatte Bismarck durch die Einigung der deutschen
Volksstämme Deutschland in den Kreis der Weltmächte eingeführt, so erachtete
Bülow es als seine vornehmste Aufgabe, die neubegonnene Epoche geschicht¬
licher Entwicklung zielbewußt und tatkräftig fortzusetzen. „Die weltpolitischen
Wege waren auch für Deutschland geöffnet, als es eine mächtige und gleich¬
berechtigte Stellung neben den alten Großmächten gewann." Nunmehr galt
es, das Steuerruder auf die Weltpolitik einzustellen. Eine Lebensfrage hierbei
war der Bau einer Flotte zum Schutz überseeischer Interessen. Obgleich Arg¬
wohn und Scheelsucht Albions dem Emporwachsen der deutschen Flottenmacht
folgten, so konnte die große Aufgabe dennoch gelöst werden, ohne mit Eng¬
land feindlich zusammenzustoßen. Mit Stolz hebt Bülow hervor, wie es seiner
vorsichtig geleiteten Politik gelang, den beiden gefährlichen Klippen aus¬
zuweichen, nämlich grundsätzlich gegen England Stellung zu nehmen oder in
gefügige Abhängigkeit von ihm zu geraten. Deutschland durfte im Hinblick
auf England weder dessen Antagonist noch Trabant sein. Daher die Zurück¬
haltung der deutschen Diplomatie zur Zeit des Burenkrieges, denn hier hätte
die Einmischung dem englischen Selbstgefühl eine schwärmte Wunde ge¬
schlagen. Ein Zusammenstoß zwischen Deutschland und England ließ sich, nach
des Fürsten Bülow Überzeugung, sehr wohl vermeiden, wenn wir eine Flotte
bauten, die anzugreifen für jeden Gegner mit einem übermäßigen Risiko ver¬
bunden wäre, wenn wir darüber hinaus uns auf kein zielloses Bauen und
Rüster einließen, auf kein Überheizen unseres Marinekessels, wenn ferner wir
England nicht erlaubten, unserem Ansehen und unserer Würde zu nahe zu
treten, aber auch nichts zwischen uns und England setzten, was nicht wieder
gutzumachen gewesen wäre, wenn wir endlich ruhige Nerven und kaltes Blut
behenden, England weder brüskierten noch ihm nachliefen.
Daß diese Methode, das übelwollen Englands gegenüber Deutschland im
Zaume zu halten, recht unvollkommen war, bezeugt die bereits seit Beginn des
neuen Jahrhunderts von König Eduard dem Siebenten mit erstaunlicher Zähig¬
keit betriebene EinkreisungZpolitik. Die Gefährlichkeit dieser Machenschaften
wird nicht abgeschwächt durch den Hinweis des Bülowbuches, daß sie nicht so
sehr direkt gegen die deutschen Interessen gerichtet waren, wie durch eine
Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse Deutschland allmählich mattsetzen
wollten. Nach der Bülowschen Darstellung hat aber die Absicht der Isolierung
Deutschlands Schiffbruch erlitten, als die Einverleibung der Provinzen Bosnien
und Herzegowina in das österreichisch ° ungarische Staatsgebiet eine schwere
europäische Krisis heraufbeschwor. Deutschland war damals in Erfüllung seiner
Nibelungentreue bekanntlich willens, sein Schwert in die Wagschale der Entschei¬
dung zu werfen. Angesichts der unzweideutigen Entschlossenheit Deutschlands,
an der Seite seines Bundesgenossen auch zum Äußersten zu schreiten, entsank
der gegenerischen Mächtegruppe der Angriffsmut. Zur Kennzeichnung der Lage
müssen wir folgende Sätze des Fürsten Bülow hersetzen: „Durch die böhmische
Annexionskrisis wurde weder der Krieg entfesselt, noch auch nur unser Verhältnis
zu Rußland ernstlich geschädigt. Die sehr überschätzte Konstellation von Algeciras
zerbarst an den handfesten Fragen der Kontinentalpolitik. Italien blieb an
der Seite seiner Verbündeten, Frankreich verhielt sich abwartend und nicht
unfreundlich für Deutschland, und Kaiser Nicolaus entschied sich für einen
gütlichen Ausgleich der bestehenden Schwierigkeiten. So erwies sich damals
die kunstvolle Einkreisung und Isolierung Deutschlands, während einiger Zeit
das Schreckbild ängstlicher Gemüter, als ein diplomatisches Blendwerk, dem die
reulpolitschen Voraussetzungen fehlten."
Die angegebenen Sätze bestätigen unseres Erachtens die früher erwähnte
optimistische Zuversicht, mit der Fürst Bülow als der verantwortliche Leiter der
politischen Geschäfte des Deutschen Reichs der weiteren internationalen Ent¬
wicklung entgegensah. Daß die von England gebildete Koalition und deren
Anschläge gegen die europäischen Mittelmächte durch die böhmische Krisis tat-
sächlich zusammengebrochen, wird starken Zweifeln begegnen. Die Kriegsgefahr
war damals keineswegs ein wesenloses Gespenst, vielmehr wird von anderen
Schriftstellern gerade die den Dreibundgegnern beigebrachte Niederlage als ein
mächtiger Antrieb bewertet, nunmehr erst recht die heimliche Minierarbeit gegen
die deutsch-österreichische Waffengemeinschaft zu verstärken. Im Bülowbuch
hingegen lesen wir: „Durch unsere Stärke als Kontinentalmacht zerrissen wir
das Emkreisungsnetz, sodoß jenseits des Kanals jene Ernüchterung eintreten
konnte, die einer Epoche ruhigen Gedankenaustauschs und verständigen Interessen¬
ausgleichs zwischen den beiden Nationen voranzugehen schien". Eine Bekräftigung
dieser Auffassung erblickt Bülow in dem befriedigend verlaufenen Besuch, den
König Eduard dem deutschen Kaiserpaar im Winter 1909, unmittelbar nachdem
in der böhmischen Krise die entscheidende Wendung eingetreten war, abstattete.
Mit diesem Besuch, so wird weiter betont, sei ein für die Zukunft gute Hoffnungen
erweckendes Licht nicht nur aus das Verhältnis des Königs zu Deutschland,
sondern auch auf die Beziehungen zwischen zwei großen Völkern gefallen, die
allen Grund hatten, sich gegenseitig zu achten und friedlich in Friedensarbeiten
miteinander zu wetteifern. Und Bülow greift bis in die Gegenwart, indem er
feststellt, daß bis 1914 der Versuch nicht wiederholt worden ist, den deutsch¬
englischen Gegensatz zu einem System der gesamten internationalen Politik zu
erweitern. An einer anderen Stelle ferner heißt es: „Von Rußland wie von
England trennte uns bis zum August 1914 kein unüberwindlicher Interessen»
gegensatz."
Solche Äußerungen über die deutsch-englischen Beziehungen lassen für den
Gedanken Raum, daß ein Ausgleich mit England auch im Jahre 1914 vielleicht
zu erreichen gewesen wäre. Diese Illusion wird aber durch die infernalische Heim¬
tücke, mit der von englischer Seite die Kriegshetze geschürt wurde, gründlich
zerstört. Wir Hütten erwartet, daß Fürst Bülow wenigstens im Rückblick auf
die arglistige Durchkreuzung der deutschen Bemühungen zur Erhaltung des
Friedens von feiten Englands die treulose Jntrigenpolitik Albions mit gebührender
Schärfe an den Pranger stellt. Die Weltkatastrophe würde solchenfalls weniger
unvermittelt dem Leser des Bülowbuches sich aufdrängen. Allerdings sagt
Bülow im Vorwort: „Die Hoffnung konnte berechtigt erscheinen, es werde auch
künftig der Gedanke an die Schrecken und Zerstörungen eines europäischen
Völkerkrieges den verantwortlichen Staatsmännern selbst in ernsten Konflikten
die Mittel zur schließlichen friedlichen Lösung an die Hand geben. Die Hoffnung
hat sich nicht erfüllt." Das Wort liegt fast auf der Zunge, daß die Hoffnung
trog, weil die Verschwörergemeinschast den Zeitpunkt zum Angriff für günstig
erachtete. Die Begründung dieser Tatsache — oder sollen wir „These" sagen?
— vermissen wir im Bülowbuche. Warum die nie entschwundene weltpolitische
Rivalität zwischen Deutschland und England gerade 1914 zu einer erschütternden
Explosion führen mußte, bleibt trotz der vorangegangenen katastrophalen Ereignisse
in Österreich eine Frage, deren nähere Aufklärung noch aussteht.
Eine Verständigung mit England erschien dem Fürsten Bülow bis zu dem
Moment, wo allein noch den Waffen das Machtwort überlassen wurde, immerhin
nicht unmöglich. Dagegen bildet die UnVersöhnlichkeit Frankreichs der besorgnis¬
erregende Einschlagfaden in unserer auswärtigen Politik. Bülow schildert in
lebendiger Darstellung, wie unsere Auseinandersetzungen mit den stets aktions¬
bereiten Revanchepolitikern an der Seine bisweilen auf schmalem Rande an
dem verhängnisvollen Zerwürfnis entlangführten. Es braucht nur an die
Marokkofrage erinnert zu werden, durch die die deutsche Diplomatie in ein von
französischer Feindseligkeit umlauertes Dornengestrüpp versetzt wurde. Die
deutsche Marokkopolitik gehört bekanntlich bis zur Gegenwart zu den vielum¬
strittenen Kapiteln unserer auswärtigen Beziehungen. Fürst Bülow tritt
rückhaltslos für die von ihm dirigierte Stellungnahme Deutschlands ein. Die
französische Marokkopolitik wäre ein unverhüllter Versuch gewesen, Deutschland
in einer großen auswärtigen Entscheidung beiseite zu schieben, ein Versuch die
europäischen Machtverhältnisse einer Korrektur zu gunsten Frankreichs zu unter¬
ziehen. Wäre dieser Präzedenzfall unbeachtet geblieben, so hätte er notwendig
zu Wiederholungen reizen müssen. Darauf durfte Deutschland es aber nicht
ankommen lassen. Die Marokkofrage hätte für uns ein nationales Ansehen
gewonnen. Auf Bülows Rat legte in Gemäßheit solcher Zielrichtung Kaiser
Wilhelm der Zweite am 31. März 1905 in Tanger an, wo er mit unzwei¬
deutigen Worten für die Unabhängigkeit und Souveränität Marokkos eintrat.
Damit war die Forderung Deutschlands nach Mitentscheidung der marokkanischen
Angelegenheiten vor der Welt angemeldet. So wird von Bülow bekundet.
Trotz der Bülowschen Versicherung, daß unsere etwas abenteuerliche Ein¬
mischung in die Marokkoangelegenheit vom nationalen Standpunkt geboten war,
werden abweichende Meinungen über die Opportunität unseres Vorgehens in
Marokko fortbestehen. Auch Bülow gibt zu, daß wir mit unserem Einspruch
gegenüber den dreisten französischen Übergriffen nicht nach Wunsch durchgedrungen
sind, der Ausgang scheint ihm dennoch günstig gewesen zu sein. Denn die
Algeciras-Konferenz und das deutsch-französische Sonderabkommen vom 9. Fe¬
bruar 1909 hätten die gegnerische Absicht, Deutschland auszuschalten, wirksam
verhindert. Das deutsche Mitbestimmungsrecht über das Schicksal Marokkos
blieb gewahrt; für seine Preisgabe wurden 1911 die Kongo-Zugeständnisse
eingetauscht, die, wie man ihren Wert auch beurteilen mag, immerhin ein
Aktivum in der Bilanz darstellten. Deutschland habe zudem niemals darnach
getrachtet, einen Teil von Marokko sich anzueignen, da es dort außer Frankreich
stets auch England und Spanien gegen sich gehabt hätte. Anderseits sei es
ausgeschlossen gewesen, Frankreich durch ein übertriebenes Entgegenkommen in
der Marokkofrage versöhnlich zu beeinflussen. Auf dem niemals steril gewordenen
Revancheboden unserer Nachbarn jenseits der Vogesen erwuchs vielmehr (trotz
der Faschoda - Niederlage!) die Entente mit England, in deren Aktionskreise
Nußland durch seine nationalistischen Instinkte bereitwillig sich verstricken ließ.
Nicht ohne einen Anflug von Wohlwollen würdigt Bülow auch die lang¬
jährigen freundnachbarlichen Beziehungen Deutschlands zu seinem östlichen
Nachbar. Obgleich Rußland infolge der Kündigung des Rückversicheruugs-
vertmges Bismarckscher Herkunft zum Anschluß an die französische Republik
geradezu gedrängt worden sei, vermochte die deutsche Diplomatie die aggressiven
Tendenzen des Zweibundes doch so erfolgreich abzustumpfen, daß die Hoffnungen
der französischen Chauvinisten auf dieses Bündnis vierundzwanzig Jahre lang
unerfüllt blieben. Die Entente der beiden Westmächte, denen Rußland freilich
häufig zur Seite ging, wurden erst durch das Londoner Protokoll vom
5. September 1914, zu einer Zeit also, als der Krieg bereits im Gange war,
in eine enge Allianz umgewandelt. Die Verschwörung zur Vergewaltigung
Deutschlands war demnach zunächst formell nicht verbrieft. Aus welchen Trieb¬
kräften in der entscheidenden Stunde der Einheitswille unserer Feinde zur
Entfesselung der lange an der Kette gehaltenen Knegsfurie schließlich dennoch
hervorgegangen, wird in dem Bülowbuch nicht erörtert. Fürst Blllow war
1914 allerdings nicht mehr im Amt, doch ist anzunehmen, daß er in seiner
amtlichen Mission am römischen Hofe genug Gelegenheit gehabt hat, auch in
die geheimen Winkel der diplomatischen Umtriebe zur Isolierung Deutschlands
hineinzuschauen.
Übrigens verdient erwähnt zu werden, daß Bülow zwar über die letzten
Gründe zum Abfall Italiens vom Dreibunde sich in Schweigen hüllt, dagegen
feststellt, daß die Kriegserklärung Italiens an Österreich erst dann erfolgt sei,
als die seit Monaten währende Karpathenschlacht gegen Rußland bereits ent¬
schieden war und damit die militärische Situation der Zentralmächte zu unseren
Gunsten sich geklärt hatte. Diese Randbemerkung ist uns nicht klar. Soll
etwa angedeutet werden, daß Italien absichtlich gezögert hat, bis die Kriegs¬
gefahr im Osten ihre Schärfe eingebüßt hatte?
Diese Einblicke in das Bülowbuch, soweit die äußere Politik behandelt
wird, mögen genügen. Wir glauben kenntlich gemacht zu haben, daß des
Fürsten Bülow „Deutsche Politik" als objektive Quelle für die Geschicht¬
schreibung jener Tage, an denen die Weltkatastrophe ihr blutiges Haupt
emporhob, nur bei kritischer Sichtung gelten kann, weil der subjektive Stand¬
punkt, den der vierte Reichskanzler während seiner Amtsführung den uns jetzt
feindlichen Großmächten gegenüber eingenommen, die frevelhaften Vergewalti¬
gungsabsichten unserer Gegner abgemildert erscheinen läßt. Daß der aktive
Staatsmann die hinterhältige Gesinnung der fremden Diplomaten, mit denen
er die politischen Welthändel friedlich auszutragen bestrebt war, nicht in ihrer
Tiefe durchschaute, kann ihm um so weniger vorgeworfen werden, als historisch
bisher noch nicht erwiesen ist, von welchem Zeitpunkt an die im Verborgenen
glimmenden Funken eifersüchtigen Hasses auf das mächtig voraneilende Deutsch¬
land in voller Absichtlichkeit zum auflodernden Weltbrand angeschürt wurden.
Was aber vor dem Kriege auf unserer Seite vielleicht nur prophetische Voraus-
ficht zu erkennen vermochte, lag in teilweiser Enthüllung vor uns, nachdem im
Kriege durch Aktenstücke, z. B. bezüglich Belgiens, manche Karte des frühzeitig
eingeleiteten Verräterspiels aufgedeckt war. In dem Bülowliuche erscheint aber
„die allgemeine Konflagration Juli 1914" fast wie eine elementare Krisis, an
deren Ausbruch die feindlichen Großmächte nicht die ganze ungeheure und
untilgbare Schuld vor Gott und Menschen tragen. Es gibt in unseren Augen
jedoch keine irgendwie mildernden Umstände für das Verbrechen, das durch die
Anstifter des Weltkrieges an der Menschheit verübt wurde. Die Geschichte wird
deren Verruchtheit brandmarken, unbeirrt durch die heuchlerischen Gebärden,
mit denen sie bis zur letzten Stunde ihre Sympathien für den Weltfrieden den
Völkern vorzutäuschen beliebten.
Die Zeiten, in denen der Kanzler des Deutschen Reichs mit verschlagenen
Mächten in hitzigen diplomatischen Scharmützeln um den Friedenslorbeer
gerungen, sind dahin. Nachdem die Kunst der Diplomatie durch das deutsche
Schwert abgelöst ist, kennt auch der vom glühenden Patriotismus erfüllte Fürst
Bülow nur noch ein solches Ende des mörderischen Kampfes, durch das Deutsch¬
land in seiner Weltstellung und Sicherheit angemessene Freiheit sich erzwingt.
„Wie in dieser Beziehung das große Ringen ausgeht, wird entscheidend sein
für das Gesamtergebnis und die Gesamtbeurteilung des ganzen Krieges."
Daß insbesondere unserem Hauptfeinde gegenüber sentimentale Nachgiebigkeit
ein unverzeihlicher Fehler wäre, ist des Verfassers tiefste Überzeugung. „Eng¬
land hat die Freundschaft nicht gewollt, hat die ihm von uns wiederholt hin¬
gehaltene Hand zurückgestoßen. Es hat geglaubt, in Feindschaft zu Deutschland
besser' auf seine Rechnung zu kommen. Die Geschichte Englands, das stets
gegen die Besiegten am schonungslosesten war in den wenigen europäischen
Kriegen, zu denen es sich in der neueren Zeit entschloß, gibt uns Deutschen
eine Vorstellung von dem Schicksal, das uns im Falle des Erliegens erwartet
hätte. . . . England ist nur mit gleicher Entschlossenheit und gleichem Ziel¬
bewußtsein beizukommen. Wie der Charakter der Engländer nun einmal ist,
und nachdem wir zum erstenmal im Laufe der Weltgeschichte mit England in
Krieg geraten sind, hängt unsere Zukunft davon ab, daß wir unter gleich
rücksichtsloser Einsetzung aller Kräfte und Mittel den Sieg erringen und freie
Bahn gewinnen." Mit diesen Worten stellt sich Fürst Bülow an die Seite
derer, die vom Frieden handfeste Bürgschaften gegen die Wiederkehr eines
Mächtekomplotts zur Einschnürung der deutschen Bewegungsfreiheit verlangen.
Für die ungeheure Mehrheit des deutschen Volkes ist eine solche Sicherung
der natürliche Kampfpreis.
Die „Deutsche Politik" des Fürsten Bülow behandelt außer der aus¬
wärtigen Politik in allgemeinen Umrissen auch die innere Politik, insbesondere
das Parteiwesen, die Wirtschaftspolitik und die Ostmarkenfragc. Im Hinblick
auf die Kriegserfahrungen ist außerdem ein mit tiefempfundenen patriotischen
Schwunge abgefaßtes Kapitel der Wehrkraft und dem Militarismus gewidmet,
in dem allen Demokraten und Spöttern zum Trotz festgestellt wird, daß des
deutschen Volkes beste, in Geschichte und Gegenwart erprobte Kraft die ist. die
in schwerster Not und Bedrohung Deutschlands Leben bewahrt: der deutsche
Militarismus.
Es dürfte erinnerlich sein, daß die harte und teilweise zweifellos ungerechte
Kritik, die vom fürstlichen Verfasser in seiner vor dem Kriege erschienenen
Abhandlung an den Parteien und ihrer Betätigung geübt wurde, auf mannig¬
fachen Widerspruch stieß. An den früheren Auslassungen ist, soweit erkennbar,
kaum etwas geändert worden, doch ist der hocherfreulichen Einmütigkeit aller
Parteien bei Ausbruch des Krieges die unerläßliche Würdigung zuteil geworden.
Es kann nicht bestritten werden, daß unser Parteileben an schweren Gebrechen
krankt. Die vielberufene „Neuorientierung" der Zukunft wird hoffentlich auch
auf diesem Gebiet mit veralteten Doktrinen und rechthaberischer Sonderbündelei
aufräumen. Wir können aber auch in Ansehung der Vergangenheit den gering¬
schätzigen Urteilen Bülows nicht recht geben, wie beispielsweise: „Die sprich¬
wörtliche deutsche Treue kommt meist in erster Linie dem kleinen Verbände,
erst in zweiter Linie der großen nationalen Gemeinschaft zugute" (Seite 185),
oder „das Interesse der Allgemeinheit deckt sich selten oder nie mit den Interessen
einer einzelnen Partei" (Seite 200). Schon die einleitende These zum Abschnitt
über die innere Politik ist mindestens anfechtbar, indem sie lautet: „die Geschichte
unserer inneren Politik war, von wenigen lichten Epochen abgesehen, vor dem
Weltkrieg eine Geschichte politischer Irrtümer".
Diese kränkende Verdammung ist ersichtlich auf das politische Verhalten der
Repräsentation der deutschen Nation gemünzt, beansprucht also für die: Re¬
gierungsgewalt unbedingt die höhere staatsmünnische Einsicht und geistige Über¬
legenheit. Die Versuchung liegt nahe, an Beispielen aus vergangenen Tagen
nachzuweisen, wie häufig auch die Regierungspolitik auf Irrwege geraten ist, ganz
zu schweigen von ihrer schwankenden Haltung in wichtigen nationalen Fragen.
Fürst Bülow mag diesen Einwurf vorausgesehen haben. Er sucht ihn
durch das Verlangen zu entkräften, daß dem Politiker oder Staatsmann eine
Änderung seiner Meinung zugute gehalten werden müsse. Denn die politische
Entwicklung erheische, um den realen Bedürfnissen zu genügen, oft genug ein
Umlernen, ohne daß die Bezichtigung der Prinzipienlosigkeit deshalb am Platze
wäre. „Die politischen Prinzipien, denen ein Minister nachzuleben hat, sind
eben ihrem Wesen nach ganz andere als die Grundsätze, die für einen Partei«
manu gelten, sie sind staatspolitisch, nicht parteipolitisch. Der Minister hat
dem allgemeinen Interesse des Staates, des Volkes, die seiner Leitung anvertraut
sind, Treue zu halten, ohne Rücksicht auf die Programme der Parteien, und
wenn nötig im Kampfe mit allen Parteien. . . . Prinzipienfestigkeit und Partei-
loftgkeit vertragen sich für einen Minister nicht nur, sie bedingen sich." Das
klingt annehmbar, wie aber nun, wenn zwei aufeinanderfolgende Minister —
wie es doch vorkommen sollt — in ihren politischen Auffassungen weit von-
einander abweichen? Wer von beiden mag solchenfalls den allein echten Ring
besitzen? Müssen die Vertreter des deutschen Volkes bei jedem derartigen
Ministerwechsel umschwenken und heute verwerfen, was ihnen gestern vielleicht
als Staatsweisheit gelten sollte? Fürst Bülow ist natürlich selbst viel zu auf¬
geklärt, um die Ausschaltung der Parteien und Parteiungen aus dem politischen
Leben für möglich zu halten. Die Daseinsberechtigung des Parteiwesens und
die Fortdauer der parteipolitischer Gegensätze werden von ihm sehr wohl
anerkannt. Im Prinzip will er mit den Parteien nicht hadern, an ihrer
praktischen Tätigkeit aber hat er, wie bereits erwähnt, sehr viel auszusetzen.
Die Verdrossenheit des Staatsmannes, dem während seiner Aktivität der hart¬
näckige Widerstand einzelner großer Parteien die größten Schwierigkeiten in der
innerpolitischen Gesetzgebungsarbeit bereitet hat, beeinflußt mehrmals es sein
sollte, seine Urteilsfällung. Inwieweit Bülow im Recht ist, ließe sich nur von
Fall zu Fall entscheiden, kommt aber nicht weiter in Betracht, weil die strittigen
Einzelfragen nicht kritisch beleuchtet werden.
Bülow nimmt für die von ihm in der letzten Zeit feiner Kanzlerschaft
vertretene Blockpolitik, welche einem bedeutungsvollen nationalen Ziele zustrebte,
den dauernden Wert einer fruchtbaren politischen Orientierung in Anspruch.
Denn durch den Block wäre der Freisinn aus seiner verbohrten Oppositions¬
stellung herausgebracht und zu positiver Mitarbeit an den nationalen Lebens¬
fragen gewonnen worden. Daß das ein Erfolg war, ist gern zuzugeben, mit
Unrecht wird jedoch der Zusammenbruch dieser Parteienklitterung auf die klein¬
liche Eifersüchtelei der bürgerlichen Parteien zurückgeführt. Die Bedingungen
für die Festigkeit der Blockmehrheit standen in zu starkem Widerspruch zu der
seitherigen Basis des Regierungskurses, um den Block zusammenhalten zu
können. Doch es ist jetzt wahrlich nicht die Zeit dazu, in jene Parteikämpfe
hineinzuleuchten, die nach den alle Parteipolitik überwältigenden Geschehnissen
der letzten beiden Jahre wie ein zwerghafter Meinungsstreit sich ausnehmen.
In einem Rückblick des damaligen Reichskanzlers sind die Auseinandersetzungen
der damaligen innerpolitischen Lage allerdings wertvoll als ein lehrreiches
Beispiel für den Verlauf eines ernsten Konflikts zwischen Regierungswillen und
Parteiüberzeugung.
Der Hauptwert der „Deutschen Politik" des Fürsten Bülow erschöpft sich
auch nicht in einer Darstellung der Grundzüge unserer politischen Entwicklung
in vergangenen friedlichen Tagen; das Buch wird in warmherziger Ergriffenheit
zugleich dem nationalen Aufschwung der Gegenwart gerecht und lenkt die Blicke
der Nation hinaus auf die Zukunft, von der wir die Morgenröte einer neuen
lichten Zeitepoche erhoffen. Vom neuen Deutschland heischt Bülow die Erfüllung
der Aufgabe, daß das deutsche Geistesleben, dessen Ausbildung und Pflege
vorwiegend in der Hut des Westens und Südens des Reiches sich vollzieht,
mit den strengeren Formen des preußischen Staatslebens sich vermähle, so daß
der preußische und der deutsche Geist ineinander verwachsen, ohne einander zu
schwächen. Denn bisher herrschen im außerpreußischen Deutschland aus Grund
anderer politischer Traditionen vielfach Auffassungen von staatlicher Herrschaft
und politischer Freiheit, die grundverschieden sind von denen, die im Boden
preußischer Traditionen wurzeln. Bülow kennzeichnet diesen Unterschied: „Man
sucht im deutschen Süden mehr eine Lösung der politischen Kräfte nach unten
hin, in Preußen mehr eine Bindung der politischen Kräfte von oben her.
Dort eine mehr geistige, hier eine mehr staatliche Auffassung des politischen
Lebens. Eine jede der beiden ist Ergebnis des geschichtlichen Werdens und
hat ihre wohlberechtigte Eigenart."
Die häufig bis zu leidenschaftlicher Gegensätzlichkeit sich steigernden Span¬
nungen zwischen konservativem Altpreußentum und liberaler Weitherzigkeit
scheinen uns in diesen Sätzen richtig erfaßt zu sein. Dem Fürsten Bülow
wird man auch freudig darin zustimmen können, daß durch gegenseitige An¬
näherung ein Abschleifen der Reibungsflächen erstrebt werden muß, was noch
keineswegs eine Uniformierung der verschiedenen Geistesrichtungen bedeuten
würde. Unumstößlicher Glaubenssatz für den Fürsten Bülow bleibt aber
immerdar, daß Preußen der führende Staat unter allen Umständen bleiben
müsse. Und mit der gleichen Entschiedenheit werden im Bülowbuche die
demokratischen Tendenzen, die monarchischen Rechte zugunsten der parlamen¬
tarischen Befugnisse zu schmälern, abgewiesen. Die Rechtsgrenze zwischen
Krone und Parlament müsse unverrückbar feststehen, was mit der regen Anteil¬
nahme des Volkes an den politischen Angelegenheiten nicht im mindesten im
Widerspruch stehe. . . .
Das Buch des Fürsten Bülow wird als politischer Leitfaden und wertvoller
Beitrag zur Kennzeichnung unserer nationalen Entwicklung einen Ehrenplatz in
der deutschen politischen Literatur einnehmen. Wer über Kriegs- und Friedens¬
ziele reden und schreiben will, wird mit dem Inhalt der „Deutschen Politik"
zuvor eingehend sich vertraut machen müssen. Das Buch ist das Glaubens¬
bekenntnis eines welterfahrenen Staatsmannes und glühenden Patrioten.
untere Jahre sind verflossen, seit einer von den einst im Zeitalter
der Kaiser und Könige Wilhelms des Ersten und Friedrichs des
Dritten meistgenannten Gelehrten und Politiker, der auch noch
unserem Kaiser in seiner Kronprinzenzeit staatsrechtliche Vortrüge
zu halten berufen war, das Licht der Welt erblickte. Ein eigen¬
tümliches Verhängnis will es, daß dieser Gedenktag eines Mannes, der wie
kein zweiter englischer Staatsanschauung in Deutschland Geltung zu verschaffen
als sein Lebenswerk betrachtete, gerade in die Zeit des Weltkrieges und end¬
gültiger Auseinandersetzung zwischen deutschem und englischem Wesen fällt. Da
lohnt sich wohl ein Rückblick, inwiefern dieses Lebenswerk eitles Bemühen war
oder dauernde Spuren hinterlassen hat.
Rudolf Gneist wurde am 13. August 1816 als Sohn eines höheren Justiz¬
beamten, der sich bald nach der Geburt seines Sohnes nach Eisleben versetzen
ließ, in Berlin geboren. In Eisleben besuchte er die Schule, verlebte jedoch
dazwischen einige Jahre auf einer Landpfarre in Pommern bei einem Bruder
feiner Mutter. Michaelis 1833 ging er als Rechtsbeflissener nach Berlin.
Nach Bestehen der beiden ersten juristischen Staatsprüfungen — damals gab
es deren noch drei — und nach der Doktorpromotion habilitierte er sich 1839
als Privatdozent an der Berliner Universität für römisches Recht, Strafrecht
sowie Prozeßrecht, blieb aber daneben, seit 1841 Assessor, als Hilfsrichter in
der Praxis tätig. An der Berliner Universität wurde er 1844 Professor und
ist ihr bis an sein Lebensende (1895) treu geblieben. War er doch mit den
akademischen Kreisen Berlins auch durch seine Heirat mit einer Tochter von
August Böckh eng verwachsen. In der Reaktionszeit der fünfziger Jahre zog
er sich aus der juristischen Praxis wie aus dem öffentlichen Leben überhaupt
zurück, um erst 1875 bei Gründung des Oberoerwaltungsgerichts wieder ein
richterliches Nebenamt zu übernehmen.
Von jeher hat ihn ein lebendiges Interesse an der Politik beseelt, wenn
er auch in den Bewegungen des Jahres 1348 den erstrebten Sitz in der
Paulskirche nicht erlangen konnte, sondern ihm nur eine bescheidene Beendigung
als Berliner Stadtverordneter und Bürgerwehrmann vergönnt war. In der
politischen Stille der fünfziger Jahre entstand sein grundlegendes Werk über
englisches Verwaltungsrecht, dessen leitende Gedanken er dann in immer neuen
Auflagen und Einzelschriften wiederholte.
Wie kam der Romanist von den Pandekten auf das Staatsrecht, der
Deutsche nach England? Gneist war auch in dieser Hinsicht ein Kind seiner
Zeit. Noch war das revolutionär zerrissene Parteitreiben Deutschlands zu
schwach, um auf eigenen Füßen zu stehen. Die konservative Richtung mit
ihren absolustisch-altständischen Bestrebungen hoffte auf die starke Stütze des
Kaisers Nikolaus des Ersten von Rußland als des Felsen, an dem sich die Wogen
der Revolution brachen. Umgekehrt mußten die Liberalen den konstitutionellen
Ausbau des Staates und die künftige deutsche Einheit im engsten Anschlusse an
das Mutterland des Konstitutionalismus, an England, suchen, das damals noch
mit einer wohlwollenden Herablassung auf den armseligen deutschen Vetter blickte.
Nun hatten freilich die verfassungsmäßigen Freiheiten Englands, die man
auf den fremden Boden des Festlandes verpflanzt hatte, zunächst allgemein
enttäuscht. Die schärfste Reaktion des Polizeistaates bewegte sich unbezwungen
im Rahmen der neuen Verfassung. Wie war das möglich? Gneist glaubte
die Antwort gefunden zu haben, weil man nur die Grundzüge englischen Ver¬
fassungslebens, aber nicht die englische Verwaltung angenommen habe. So
entstand die Forderung des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, die
wenigstens in allen wichtigeren Fällen unter dem Schutze einer besonderen
Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen sollte. Dieses politische Bedürfnis des Liberalen,
der die Verwirklichung seiner politischen Ideale erstrebte, rechtfertigte die wissen¬
schaftliche Darstellung des englischen Verwaltungsrechtes, führte den Pandektisten
zum Staatsrechte.
Die staatsrechtlichen Schriften Greises, die sich fast ausschließlich um
englisches Verwaltungsrecht mit deutschen Parallelen und deutschen Zukunfts¬
aufgaben drehen, sind daher nicht vom wissenschaftlichen Standpunkte, sondern
als politische Tendenzschriften zu würdigen. Sie sollten der Durchführung des
liberalen Staatsideals dienen. Die Anknüpfung an England war dabei vielfach
eine rein äußerliche. In England sah er wie einst ähnlich sein großer Vor¬
gänger Montesquieu das verwirklicht, was er für sein Vaterland erstrebte.
Daß das wirkliche England ein anderes war und ist, als beide sich dachten, ist
heute namentlich nach den Erfahrungen des Weltkrieges eine Binsenwahrheit.
Weder aus Montesquieu kann man englisches Staatsrecht noch aus Gneist
englisches Verwaltungsrecht selbst für ihre Zeit kennen lernen. Insoweit haben
ihre Schriften nur eine Bedeutung in der Geschichte der menschlichen Irrtümer.
Doch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung spielen Irrtümer oft eine
größere Rolle als Wahrheiten.
So haben denn auch Greises Schriften über England mit dem wirklichen
England kaum mehr gemein als den Namen. Erst die nach Gneist entstandenen
Schriften, wie verschieden auch ihr Wert sein mag, haben uns das wirkliche
England kennen lernen.
Der Gedanke des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, sollte
aus England nach Deutschland herüberstrahlen. Und doch war das, was in
England als Rechtsstaat erschien, nur verknöcherte patrimoniale Verwaltung des
Mittelalters. Erst seit dem Zeitalter der Königin Viktoria machten sich modernere
Bildungen der Verwaltung geltend, gegen die Gneist eine entschiedene
Abneigung hegte. Dagegen waren die Grundlagen des Rechtsstaates bereits
im preußischen Landrechte von 1794 gegeben und bedurften nur weiterer Ent¬
wicklung. Innerhalb des Rahmens des Rechtsstaates galt es, die englische
Selbstverwaltung auf Deutschland zu übertragen, freilich, wie Gneist immer
betonte, auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse. Aber von dem englischen
Friedensrichter, der im Mittelpunkte des englischen Selfgovernement steht und
als gutsherrlicher Pascha über seinen Hintersassen waltet, weiß der englische
Geschichtsschreiber Macaulay nur das wenig rühmliche Zeugnis abzulegen, daß
seine Rechtsprechung immerhin noch besser sei als gar keine. Währendessen
hatten wir seit der Steinschen Städteordnung von 1808 eine deutsche Gemeinde¬
freiheit, der England nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen hat. Die
preußische Verwaltungsreform brauchte nur auf diesen Grundlagen fortzubauen
und hat dies auch später in den siebziger und achtziger Jahren getan.
Doch es war von jeher deutsche Schwäche, Eigenes gering zu achten,
Fremdes über Gebühr zu preisen. Diesem Zuge deutschen Geisteslebens trugen
die Schriften Greises über England Rechnung. Seine Forderungen über die
weitere Entwicklung der preußischen Verwaltung mußten um so mehr Beachtung
finden, als sie sich in die Behauptung kleideten: So ist es in England. Das
war von durchschlagender Wirkung, namentlich für den Liberalismus der
damaligen Zeit. Niemand wunderte sich wohl über diese Verherrlichung ihrer
veralteten und zurückgebliebenen Verwaltung, die der Zeitgenosse Dickens in
den schauderbarsten Farben schildert, mehr als die Engländer selbst. Auch der
maßlose Dünkel des Jnselvolkes hatte sie bisher nicht ahnen lassen, was für
eine ideale und mustergültige Verwaltung England eigentlich besaß. So
erkannten die Glückwunschschreiben englischer Universitäten zu Greises funfzig¬
jährigen Doktorjubiläum im Jahre 1888 dankbar an, daß er den Engländern
selbst erst die richtige Erkenntnis englischen Staatsrechts eröffnet habe. Durch
Gneist hatten sie neue politische Tugenden in sich erkennen lernen, von denen sie
selbst in angeborener englischer Bescheidenheit bisher keine Ahnung gehabt hatten.
Mit der Regentschaft von 1858 ging die Regierung Friedrich Wilhelms
des Vierten und die Reaktionszeit zu Ende. Man sprach von einer neuen Ära.
Auch für die Wirksamkeit Greises brach eine neue Zeit an. Sein englisches
Verwaltungsrecht hatte seinen Ruhm begründet. Im Jahre 1858 erhielt Gneist
an der Berliner Universität eine ordentliche Professur, und sehr bald beteiligte
er sich als Abgeordneter lebhaft am politischen Leben.
In die sechziger und die siebziger Jahre fallen die Höhepunkte der
parlamentarischen Wirksamkeit Greises, vor 1866 als Mitglied des sogenannten
linken Zentrums, das natürlich mit der späteren Zentrumspartei nichts zu tun
hatte, nach 1866 der nationalliberalen Partei, anfangs nur im preußischen
Abgeordnetenhause, später auch im Reichstage. Diese Zeiten werden gekenn¬
zeichnet einmal durch den Konflikt über die Armeereorganisation und dann
durch den Kulturkampf. In beiden Fragen ließ Gneist, in einem engherzigen
Bannkreise von juristischen Paragraphen umfangen, den weiten staatsmännischen
Blick vermissen und gehörte daher zu denjenigen, über deren politische Wirk¬
samkeit die Geschichte zur Tagesordnung überging.
Es ist heute kein Wort mehr über jene politischen Schwärmer ohne jedes
realpolitische Denken zu verlieren, die zwar die Einigung Deutschlands wollten,
aber dem preußischen Staate das einzige Mittel zur Erreichung jenes Zieles,
ein starkes Heer, zu beschneiden beabsichtigten. Das war die erbliche Be¬
lastung aus einem gänzlich unpolitischen Zeitalter, die erst unter Bismarcks
Schulung einer realpolitischen Richtung gewichen ist. Bedenklicher war es, daß
Gneist mit unzureichenden Gründen die Gesetzwidrigkeit der Armeereorganisation
nachzuweisen unternahm und dabei dem Kriegsminister von Roon im Ab¬
geordnetenhause sogar vorwarf, er trage das Kainszeichen des Eidbruches an
der Stirn. Über die Irrtümer der Konfliktszeit gingen die Ereignisse des
Jahres 1866 zur Tagesordnung über. Das, was Gneist für Preußen als
bereits geltendes Recht behauptet hatte, die gesetzliche Grundlage der gesamten
Heeresverfassnng, wurde tatsächlich erst im neuen Bundesstaate verwirklicht.
Damit wird für uns die Konfliktszeit zur abgetanen geschichtlichen Episode. Gneist
hat selbst ihre Irrtümer anerkannt, indem er sich nunmehr der neuen national¬
liberalen Partei anschloß, die die Bismarcksche Politik zu unterstützen übernahm.
Die katholische Kirche wieder der Staatshoheit des paritätischen Staates
zu unterwerfen, nachdem die preußische Verfassungsurkunde unter Aufnahme
belgischer Verfassungsartikel alle Schranken niedergerissen hatte, war gewiß eine
geschichtlich-politische Notwendigkeit. Aber die Art der Ausführung durch die
Gesetzgebung der Kultmkampfzeit konnte nur erwachsen auf dem Boden einer
Weltfreuden Bureaukratie, die von dem inneren Wesen der katholischen Kirche
keine Ahnung hat. Indem man in die dogmatischen Grundlagen der katholi¬
schen Kirchenverfassung eingriff, erweckte man in den katholischen Untertanen
einen Zwiespalt zwischen ihrer Gehorsamspflicht gegen den Staat und ihrer
religiösen Gewissenspflicht. Bismarck selbst hat später die Verantwortlichkeit
für die Einzelarbeit der Maigesetze abgelehnt und erklärt, durch die Praxis
sei ihm der Mißgriff klar geworden. Neben dem Kultusminister Falk war
es parlamentarisch in hervorragendem Maße Gneist, der als Nationalliberaler
bei dieser Gesetzgebung mitwirkte.
In engster Verbindung mit der Kirche stand die Schule. Hier hatte
Gneist schon 1869 literarisch das Wort ergriffen, indem er entgegen der
lebendigen Verwaltungspraxis die konfessionelle Schule geradezu für eine
pseudoisidonsche Fälschung des preußischen Beamtentums erklärte.
Die hervorragende Betätigung Greises auf dem Gebiete von Kirche und
Schule legten damals sogar den Gedanken nahe, ihn selbst das Kultusministerium
übernehmen zu lassen, während Falk dafür das Justizministerium eintauschen
sollte.
In der Folgezeit war es namentlich das große Gebiet der Reichsjustiz¬
gesetze von 1877, Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung. Strafproze߬
ordnung und Konkursordnung, die den Parlamentarier Gneist beschäftigten.
Auch hier hatte er vorher schon literatisch das Wort ergriffen mit der Forderung
freier Advokatur. Die Reichsjustizgesetze brachten dem deutschen Volke wenigstens
ein weiteres Stück Rechtseinheit, während sie sachlich einen gewaltigen Rück¬
schritt gegenüber der bewährten preußischen Gesetzgebung bedeuteten. Die freie
Advokatur vollends, weit davon entfernt, die auf sie gesetzten Hoffnungen zu
verwirklichen, richtete binnen weniger Jahre die alte bewährte preußische An¬
waltschaft zu Grunde. Die Durchführung seiner Ideale des Rechtsstaates und
der Vermaltungsgerichte erfolgte schließlich durch konservative Staatsmänner in
der preußischen Verwaltungsreform von 1872 bis 1883.
Nicht genug mit dieser doppelten parlamentarischen Tätigkeit in Landtag
und Reichstag, widmete sich Gneist auch sonst mannigfach öffentlichen Interessen.
Dem 1860 begründeten Deutschen Juristentage hat er in dessen alle ein bis
zwei Jahre sich wiederholenden Tagungen zwölfmal vorgesessen. Ebenso war
er Mitglied der Savignystiftung. Als 1872 der Verein für Sozialpolitik zum
ersten Male zusammentrat, war er auch dessen erster Vorsitzender. Auch dem
Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen gehörte er seit 1851 als
Mitglied, seit 1869 als Vorsitzender an.
Trotz der Wirksamkeit in den beiden letzten Vereinigungen stand er eigent¬
lich wie der alte Liberalismus überhaupt dem sozialen Problem ziemlich ratlos
gegenüber. Die Formel der Selbstverwaltung im Dienste für den Staat mußte
versagen, wo die sozialen Forderungen sich mit Urgewalt geltend machten.
Neben dieser ausgedehnten öffentlichen Wirksamkeit blieb für die akademische
Lehrtätigkeit wenig Zeit übrig, obgleich er regelmäßig dreizehn Stunden wöchent¬
lich las, und große Scharen von Zuhörern sich zu dem berühmten Manne
drängten. Als er noch in der Blüte der Schaffenskraft stand, schlug, un¬
beeinflußt von ihm, die Entwicklung der deutschen Staatsrechtsivissenschaft in
Straßburg, Tübingen und München neue Bahnen ein. Nirgends wurde das
schmerzlicher empfunden als im preußischen Unterrichtsministerium.
Dem Politiker schien eine größere Zukunft zu winken als dem Gelehrten.
Schon 1863 auf der Höhe der Konfliktszeit feierte ein namenloser Aufsatz in
„Unserer Zeit" Gneist als den kommenden Mann, der, an die richtige Stelle
gesetzt, eine Wirksamkeit entfalten könne wie nur einer der Großen der Stein-
Hardenbergischen Zeit. Aber dieser kommende Mann ist er geblieben.
Der alte König und Kaiser Wilhelm der Erste hatte gegen Gneist immer
ein ehrliches Mißtrauen von 1348 her, wo er die Oktroyierung der Ver¬
fassungsurkunde für rechtswidrig erklärt hatte, und von der Konfliktszeit her,
wo er dem Kriegsminister das Kainszeichen des Eidbruches anheften wollte.
Wenn auch 1875 die Berufung in das Oberverwaltungsgericht und 1884 die
in den Staatsrat erfolgte, als Minister wollte er ihn nicht haben.
In desto engere Verbindung trat Gneist als liberaler Staatsmann und
wegen seiner englischen Neigungen zu dem kronprinzlichen Hofe, zur Kron¬
prinzessin Viktoria und dem von ihr beherrschten Kronprinzen. In den
Ministerlisten, die für den Zeitpunkt des Regierungswechsels vorbereitet waren,
spielte der Name Greises immer eine hervorragende Rolle. Doch der Kronprinz
war zu langem Warten verurteilt. Als endlich die Unglückszeit der neunund¬
neunzig Tage herankam, war zu umwälzenden Taten der Regierung weder
Zeit noch Kraft mehr da. Nur den Adel hatte Gneist wie so mancher andere
der Regierung des bürgerfreundlichen Herrschers zu verdanken. Von jenem
stolzen Bewußtsein eines Gustav Freytag, im Reiche der Geister gefürstet zu
sein und deshalb einen Adelsbrief als eine Herabwürdigung zu empfinden, war
er weit entfernt.
Doch für die Zukunft dachte Kaiser Friedrich noch vorzubauen, indem er
Gneist bestimmte, dem nunmehrigen Kronprinzen staatsrechtliche Vorträge zu
halten. Der junge Fürst, der sich berufen fühlte, bald selbst die Krone zu
tragen, konnte es kaum angenehm empfinden, wenn ihm noch ein staatsrecht¬
licher Lehrmeister gegeben wurde. Wenigstens war diese Stellung keine Em¬
pfehlung für den neuen Herren. Doch ernannte ihn dieser wenigstens noch am
27. Januar 1895 zum Wirklichen Geheimen Rate mit dem Prädikate Exzellenz.
Mit dem Regierungswechsel von 1888 kann man daher die politische
Wirksamkeit Greises als im wesentlichen abgeschlossen betrachten. Schon 1884
war er aus dem Reichstage ausgeschieden, 1893 verließ er auch das Ab¬
geordnetenhaus. Doch bis zuletzt blieb er seiner akademischen Lehrtätigkeit
und dem Oberverwaltungsgerichte treu. Auch seine literarische Tätigkeit rastete
nicht. Noch kurz vor seinem Tode erschien seine letzte Schrift über die ver-
fassungsmäßige Stellung des preußischen Gesamtministeriums.
Er starb am 22. Juli 1895.
Ein Leben voll Mühe und Arbeit lag hinter ihm. Von Ehren überhäuft
am Ende seines Lebens, konnte er mit Befriedigung auf sein Werk zurück¬
blicken. Freilich nicht alle Blüten waren zur Frucht gediehen. Und wenn
die staatsrechtliche wie die politische Entwicklung bald andere Bahnen ein¬
schlug, als er ihr in seinen Gedanken vorgezeichnet, so hatte er wenigstens
stets das Beste für seines Vaterlandes Größe gewollt. War er einst als Ge¬
lehrter wie als Staatsmann hochgepriesen, so gehört er heute beinahe zu den
Vergessenen. Doch das ist Menschengeschick, daß die Entwicklung der Zeit über
den einzelnen hinweggeht. Auch hier gilt das Dichterwort:
le ungewiß auch die vielen und verschiedenen Wirkungen des
Weltkrieges sein mögen, eines darf man voraussehen: daß das
Wort Objektivität künftig mit weniger Sicherheit ausgesprochen
werden wird. Zwar gelten jetzt den meisten ihre eigenen An¬
sichten für objektiv, während sie ihre Gegner für stockoerblendet
oder gar bewußt lügnerisch halten. Nach und nach wird wohl eingesehen
werden, daß dieser Standpunkt falsch ist, daß die Wahrheit, obschon sie wohl
kaum in der Mitte liegt, sich doch auch ziemlich fern von den extremen Gegen¬
sätzen findet. Wenn man sich vor dem gegenseitigen Hasse zu bewahren sucht,
erkennt man, daß die Fähigkeit zu kühler, objektiver Wertschätzung in dem¬
selben Maße abnimmt, als die Leidenschaft zunimmt. Und dieses gilt nicht
nur für die Kriegführenden, sondern auch für die meisten sogenannten „Neu¬
tralen". Wenn man sieht, daß nicht nur Zulässigkeit und Gerechtigkeit von
verschiedenen Menschen — die sonst gleich vernünftig sind — verschieden auf¬
gefaßt werden, sondern daß es auch unmöglich ist, im Urteil über die ein¬
fachsten geschichtlichen Begebenheiten zur Einigkeit zu gelangen, dann kann man
sich kaum der Überzeugung verschließen, daß Menschen, wenn sie leidenschaftlich
erregt find, das glauben, was sie zu glauben wünschen, und sich sehr wenig
von Gründen und Beweisen beeinflussen lassen. In dieser Hinsicht ist z. B. die
Haltung der öffentlichen Meinung in Schweden und Dänemark außerordentlich
lehrreich. In Schweden ist bekanntlich die Mehrzahl deutschfreundlich, in
Dänemark die Mehrzahl entmtefreundlich. Und dieses tut sich in allen Einzel¬
heiten kund. Die Verletzung von Belgiens Neutralität, die britische Blokade-
politik, die Haltung Griechenlands, selbst die täglichen Berichte von den
Kriegsschauplätzen werden in verschiedener Weise aufgefaßt und beurteilt. Die
Engländer schließen aus dem Urteil der Dänen, daß diese besonders vor¬
urteilsfrei, vernünftig und rechtdenkend seien; die Deutschen glauben wahr¬
scheinlich dasselbe von den Schweden, Ich möchte aber behaupten, daß beide
Annahmen falsch sind. Der Unterschied in der Beurteilung rührt vor allen
Dingen daher, daß die Voraussetzungen der Stimmung in Dänemark und
Schweden verschieden sind. Über die Schweden soll hier nichts weiteres aus¬
geführt werden, ihre Ansichten sind ja bekanntlich von ihrer Stellungnahme
Rußland gegenüber stark beeinflußt. Hier soll nur versucht werden, die
dänischen Stimmungen und Betrachtungsweisen und ihre Ursachen darzulegen.
Wer die Verhältnisse nicht kennt, könnte vielleicht meinen — wie z. B. neulich
in einer schwedischen Zeitung behauptet worden ist —, daß die Dänen die
Deutschen nicht mögen, weil diese den Krieg begonnen, Belgien überfallen,
Belgier ermordet und friedliche Handelsschiffe mit Unrecht versenkt haben
sollen. Diese Auffassung ist aber ganz falsch. Richtig ist vielmehr, daß viele
Dänen im voraus gegen Deutschland unfreundlich gesinnt und deshalb ge¬
neigt waren, die Beschuldigungen gegen Deutschland zu glauben und daraus
Nahrung für ihren Unwillen zu schöpfen. Aber woher kam es, daß viele
Dänen in solcher Weise voreingenommen waren? Meiner Meinung nach gibt es
besonders drei Ursachen, von denen aber die erste bei weitem die wichtigste ist.
Diese erste Ursache ist der Krieg von 1864 und die daraus entsprungene
nordschleswigsche Frage. Freilich haben auch die Deutschen und die Öster¬
reicher 1866 gegeneinander gekämpft und sind trotzdem heute blutverbundene
Brüder. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der Krieg von 1866 für
Österreich ohne Landverlust endigte. Im Jahre 1864 wurde hingegen Dänemark
durch den Verlust der Herzogtümer (d. h. eigentlich nur durch den Verlust
Nordschleswigs; das andere war verhältnismäßig gleichgültig) eine Wunde
geschlagen, die noch nicht vernarbt und vergessen ist.
Bei meinen Besuchen in Deutschland habe ich den Eindruck gewonnen, daß
sehr wenige Deutsche verstehen, was Nordschleswig für Dänemark und für die
dänischen Stimmungen Deutschland gegenüber bedeutet. Wir Dänen wissen zwar,
daß die Finnen, die Russischpolen, die Jrländer und viele andere auch Grund
Zur Klage haben. Aber dieses Wissen ist ein theoretisches, und deshalb bedeutet
es nicht viel im Vergleich zu den Gefühlen und Leidenschaften, die wegen Nord¬
schleswigs erregt werden. Dänemark ist ein kleines Land, hat kaum drei Millionen
Einwohner, und naturgemäß haben sehr viele von diesen irgendwelche persönliche
Beziehungen zu Nordschleswigern, und was sie von diesen aus erster Hand hören,
hat selbstverständlich eine viel größere Wirkung als Berichte über Zustände etwa
in Rußland, wenn auch diese an und für sich weit schlimmer sein mögen.
Friedrich Naumann schreibt in seinem auch in Dänemark viel gelesenen Buch
„Mitteleuropa": „Überall in Mitteleuropa ist eine freundlichere Denkart über
nationale Minderheiten dringend nötig." Und es kann nicht kräftig genug gesagt
werden, daß eine solche „freundlichere Denkart" über die Dänen in Nordschleswig
eine ungeheuere Wirkung auf die ganze reichsdänische Stimmung haben würde.
Es gibt aber noch wie gesagt zwei weitere Ursachen, denen ich allerdings
nicht so viel Gewicht beimesse, für die nicht besonders freundliche Stimmung
gegen Deutschland, die man bei vielen Dänen findet. Es ist unzweifelhaft eine
gewisse Furcht vor dem neudeutschen Wesen vorhanden. Das gemächliche und
stark individualistische in dem dänischen Volkscharakter sühlt sich von den: intensiverer
Arbeitstempo und der strafferen Organisation der Deutschen ganz natürlich nicht
angezogen. Demgegenüber muß aber gesagt werden, daß während der letzten
Jahre immer mehr bedeutende Dänen eingesehen haben, daß gerade hierin die
Stärke der Deutschen liegt, und daß wir in dieser Beziehung viel von Deutsch¬
land zu lernen haben.
Endlich darf nicht übersehen werden, daß sich in der dänischen Literatur
— ganz wie in der deutschen — am Ende des vorigen Jahrhunderts starke
Einflüsse von Frankreich her geltend machten. Und auch jetzt, während dieser
Einfluß sich mehr verringert hat, findet man als Nachwirkung eine tief ein¬
gewurzelte Liebe zur gallischen Kultur, die nicht ohne Bedeutung für die Haltung
vieler literarischen Kreise sein mag.
Der starke Geschäftsverkehr mit England, dem größten Abnehmer der
dänischen Ausfuhrwaren, hat natürlich auch eine gewisse Bedeutung gehabt; im
allgemeinen kann aber behauptet werden, daß während die Sympathie für
Frankreich noch stark ist, das Ansehen Englands während des Krieges auch in
Dänemark ziemlich kräftig zurückgeschraubt worden ist.
Wenn aber auch gesagt werden muß, daß sehr viele Dänen ententefreundlich
sind, darf doch nicht übersehen werden, daß auch sehr viele, und darunter viele
der bedeutendsten und tonangebenden neutral oder deutschfreundlich sind. Es
geschieht z. B. mit Unrecht, daß die ganze dänische Presse von Deutschen als
„deutschgehässig" bezeichnet wird. Es gibt zwar einige dänische Zeitungen
zweiten und dritten Ranges, die unbedingt deutschfeindlich sind, man darf aber
nicht alle danach beurteilen. Die beiden maßgebenden, „Berlingske Tidende"
und „Politiker", streben unbedingt danach, beiden Seiten gegenüber möglichst
gerecht zu sein. „Politiker", oas Regierungsblatt, wird zwar oft von beiden
Seiten parteiisch gescholten, weil es von beiden Seiten Beiträge aufnimmt; es
ist aber eher deutschfreundlich als deutschfeindlich. Und unter den Wochenblättern
und Monatsheften gibt es überhaupt kein einziges, das unbedingt für die Entente
Partei nimmt, während eines, „spectator", entschieden deutschfreundlich und
englandfeindlich ist.
Natürlich werden die Probleme des Kriegs nicht nur in den Zeitungen,
sondern auch in Büchern und Broschüren und unter den Leuten lebhaft erörtert,
und sowohl in der öffentlichen als auch in der privaten Diskussion gehen die
Wogen meistens recht hoch. Es zeigt sich aber — wie man es auch erwarten
konnte — daß der Fanatismus am größten ist, wo wirkliche Kenntnisse am
wenigsten vorhanden sind.
Vor allen Dingen werden natürlich die Begebenheiten des Kriegs behandelt,
und es ist charakteristisch, daß es für alle Streitfragen viel mehr Angreifer als
Verteidiger gibt. Es gibt viele, die Deutschlands Verhalten Belgien gegenüber
angreifen, sehr wenige, die es verteidigen. Dasselbe gilt sür die Lusitania-
Affäre. Es gibt aber auch viele, die die Blockadepolitik Englands, die Beschlüsse
der Pariser Wirtschaftskonferenz und das Betragen der Russen in Ostpreußen
und Galizien angreifen, und sehr wenige, die es verteidigen. Für Italien
haben alle nur Verachtung; es gibt, so viel ich sehe, niemand, der es in
Schutz nimmt.
Man kann überhaupt sagen, daß sehr wenig Begeisterung, aber sehr viel
Mißbilligung durch den Krieg hervorgerufen worden ist. Und ob sich die
Mißbilligung hauptsächlich gegen Deutschland oder die Ententemächte gerichtet
hat, hängt im wesentlichen davon ab. mit wem der einzelne schon im voraus
sympathisierte.
Es haben aber zwei Verschiebungen in der allgemeinen Stimmung während
des Krieges stattgefunden, die beide ganz charakteristisch sind. Im Anfang
glaubten die meisten, Deutschland sei der Friedensstörer. Man hatte in
Dänemark im allgemeinen den Krieg nicht erwartet; man fand ihn wahnsinnig,
unglaublich; man konnte ihn nicht verstehen ohne anzunehmen, daß er durch
einen bestimmten „Willen zuni Kriege" bei einem der Gegner verursacht sei.
Deutschland war besser vorbereitet als die anderen, Deutschland hatte Treitschke
und Bernhardt (deren Bedeutung überhaupt in Dänemark sehr überschätzt
worden ist), Deutschland war der erste, der den Krieg erklärte. Folglich war
Deutschland der Schuldige.
Jetzt ist es aber nicht mehr so. Jetzt glaube ich sagen zu können, daß
die meisten den Krieg als die unausweichliche Folge der ganzen europäischen
Lage betrachten. Die jetzige allgemeine Auffassung ist folgende: Die riesige
Entwicklung Deutschlands, die Abneigung Englands, die Weltherrschaft mit
jemand zu teilen, Rußlands Interessen auf dem Balkan und im Orient, waren
die Faktoren, aus denen der Krieg entstand, und man darf einer einzelnen
Macht keine Vorwürfe machen, weil jede Großmacht, die an den ungeheuren
Rüstungen teilgenommen hat, ihren Teil an der Verantwortung tragen muß.
Die andere Veränderung der Stimmung während des Krieges liegt darin,
daß die ursprüngliche Sicherheit, mit der man über alles, was mit dem Krieg
in Zusammenhang steht, urteilte, jetzt einer wachsenden Unsicherheit Platz macht.
Es gibt natürlich Leute, die ihr Urteil noch ganz von blinden Gefühlen
bestimmen lassen, die intellektuell Veranlagten werden aber im Bewußtsein der
Unmöglichkeit, die Riesenprobleme des Krieges vollkommen zu beherrschen, immer
vorsichtiger in ihrem Urteil und ihren Ausdrücken, und immer geneigter, die
Abscheu, die jeder fühlt, nicht gegen das eine oder das andere Volk, sondern
gegen den Krieg an sich zu richten. Neulich hat Georg Brandes, gegen den
Engländer William Archer polemisierend, mit großer Lebhaftigkeit gegen die
wohlfeile, oberflächliche Sicherheit, womit oft über die größten Probleme geurteilt
wird, protestiert. Und viele Dänen geben ihm Recht.
Jedoch nicht nur die Einzelheiten des Krieges werden erörtert, sondern
auch der Kulturgegensatz der verschiedenen Völker, und wegen der geographischen
Lage Dänemarks ist es ganz natürlich, daß das Verhältnis zwischen Deutschland
und England das Interesse am meisten beansprucht.
Die Feinde Deutschlands behaupten natürlich hier wie überall. England
sei das Land der Freiheit, Deutschland das des Zwangs. Ich gebe zu. daß
es Deutschen schwer fallen muß. diese Auffassung auch nur einigermaßen zu
verstehen. Es ist aber Tatsache, daß man, wenn man die deutsche Organisation
nicht genau kennt, wenn man sie nicht sozusagen erlebt hat, glaubt, daß sie
mit Freiheit unvereinbar ist. Es scheint jedem Deutschen selbstverständlich, daß
die Entwicklungsmöglichkeiten für den einzelnen in einer geordneten Gesellschaft
größer find, als in einer ungeordneten. Aber auch die Deutschen haben das
nicht immer verstanden, und die Jndividualistenvölker verstanden es bis zu dem
Kriege nicht. Wenn man überhaupt von segensreichen Wirkungen des Krieges
sprechen darf, so liegen diese wohl in dem Beweis der Überlegenheit der deutschen
Organisation, so daß es nur noch eine Zeitfrage ist, daß alle anderen Völker
— auch Dänemark — sich danach einrichten.
Ich möchte aber, daß meine deutschen Leser folgendes klar verstehen mögen:
die Organisation hat sich in Deutschland nach und nach und natürlich heraus¬
gearbeitet, und die Deutschen haben ihre Wirkungen erfahren. Sie ist ein
natürlicher, organischer Teil des neudeutschen Wesens. Für uns andere ist sie
aber etwas Neues und Fremdes; wir haben die Übergangsftadien nicht durch¬
gemacht, und als geborene Individualisten schrecken wir natürlich zurück.
Freilich die Zeit wird kommen, da wir mit all unserer Kraft streben werden,
uns die Organisation anzueignen, aber man darf sich nicht wundern, wenn es
Widerstand weckt und nicht über Nacht geschieht.
Es gibt ja aber auch viele Dünen, die die neudeutsche Entwicklung
verstehen und bewundern, und es liegen in der dänischen Kriegsliteratur eine
Reihe von bedeutenden Werken vor, die den Gegensatz Deutschland—England
in verständnisvoller, oft vollkommen deutschfreundlicher Weise behandeln. Von
diesen Büchern sind besonders drei hervorzuheben: Johannes V. Imsen:
„Einführung in unser Zeitalter", ein hochinteressantes Werk, das in dem Abschnitt
über den Krieg eine glänzende Charakteristik sowohl von Deutschland als von
England gibt, und Deutschland als das Land der Ordnung und der Kraft
preist; ferner Dr. Arnold Fraenkel: „Die Welt mit dänischen Maß und
Dänemark mit dem Weltmaß gemessen", eine geistreiche Untersuchung der volks¬
wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Englands von der Zeit der
Hansa bis zur Gegenwart; schließlich Chr. Reventlow: „Kriegsursachen und
Kampfziele", das besonders durch die Vergleiche zwischen englischem und deutschem
Imperialismus von Interesse ist.
Außer der Organisation werden von den Freunden Deutschlands noch drei
Züge als besonders charakteristisch für das deutsche Wesen hervorgehoben.
Erstens die Arbeitskraft und Arbeitsintensität. Den Gegensatz zwischen Deutsch¬
land und England erkennt Johannes Imsen als einen Gegensatz zwischen Kraft
und Stil, und er fragt, ob nicht das tadellose in dem englischen Wesen eine
unfruchtbare und geistlose Form in Vergleich mit der kernhaften deutschen
Grobheit ist. Er hält die Deutschen für die jüngere, kräftigere Art, für das
Volk der Zukunft, während es den Anschein hat, daß der Engländer als „ein
Mann in eveninA arcs8" enden soll.
Fmenkel sagt dasselbe in Zahlen. Der Unterschied der Arbeitsintensität in
Deutschland und England ist in Zahlen ausgedrückt 1^ zu 1. Und aus
seiner Schilderung der englischen Wtrtschaftsentwickelung zieht er den Schluß,
daß England, nachdem es das Stadium des Agrarstaates durchlaufen hat,
schon im Begriffe steht, auch das des Industriestaates zu überwinden und sich
auf dem Wege zum Rentierstaate befindet, d. h. sich der Schwelle nähert, die
Jugend und Mannesalter vom Greisentum, das Leben vom Tode trennt.
Man darf aber nicht vergessen, daß England nach dein Kriege nicht das
England vor dem Kriege sein wird, und die verschiedenen Verfasser übersehen
dies auch nicht. Sie stimmen darin überein, daß England kolossal gelernt
haben wird, und daß eine Aussöhnung gerade zwischen England und Deutsch¬
land, „eine germanische Sammlung", eine Grundbedingung für Europas
Widerstand gegen Asien ist.
Das zweite, was als ein besonders deutsches Merkmal hervorgehoben
wird, ist die Überlegenheit im geistigen Horizont. Johannes V. Imsen drückt
dieses sehr klar aus: „Infolge seiner Lage, der Mischung seiner Bevölkerung,
und von der Notwendigkeit gezwungen, hat sich der deutsche Geist derartig
entwickelt, daß er und er allein imstande ist, alle anderen Kulturen zu um¬
fassen. Der Franzose ist nur Franzose, und das ist sein Stolz, der Russe ist
Russe, der Engländer kennt keinen anderen Horizont als seinen eigenen, und
der ist auch imponierend, der Deutsche hat aber alle drei Nationaleigentümlich¬
keiten außer seiner eigenen erforscht. Er weiß alles. Es leuchtet ein, daß
wer alle anderen umfaßt, in der Stufenfolge der Entwicklung der vor¬
geschrittenste ist."
Schließlich wird auch auf die Entwicklungsfähigkeit und „das immer
strebende" aufmerksam gemacht. Während der Engländer leicht in der einmal
gefundenen Form erstarrt, ist ja gerade das immer suchende, immer sich ent¬
wickelnde, nie stillstehende, eins der erfreulichsten deutschen Merkmale.
Ich hoffe möglichst objektiv die verschiedenen dänischen Stimmungen und
Gesichtspunkte dargelegt zu haben. Man hat sich in Deutschland oft darüber
beschwert, daß der große Kampf, den Deutschland jetzt zu bestehen hat, in
Dänemark nicht mit mehr Sympathie betrachtet wird. Es war meine Absicht,
in diesem Aufsatz zu versuchen, teils die Ursachen klarzulegen, die für viele
Dänen einen Anschluß an die deutsche Sache schwierig machen, teils zu zeigen,
daß von einer deutschfeindlichen Stimmung als der in Dänemark allein¬
herrschenden nicht im entferntesten die Rede sein kann. Wie es nach dem
Kriege in Europa aussehen wird, weiß noch niemand. Deutschland ist aber
unser nächster Nachbar unter den Großmächten, und viele hoffen, wie ich, auf
ein immer freundlicheres Verhältnis mit ihm und einen fruchtbaren Kultur¬
austausch auch in der Zukunft.
>s ist bekannt, wie sehr Fürst Bismarck sich persönlich für die
^Gestaltung der großen Straße, die die Hauptstadt mit dem
^Grünewald verbindet, interessiert hat. Nur ein Teil der amt¬
lichen Korrespondenz über diese Frage ist bisher veröffentlicht
! worden. In dem Nachlaß des vor ewigen Jahren verstorbenen
Ritters von Poschinger finden sich einige Schriftstücke vor, die bisher nicht
bekannt geworden sind, wenigstens nicht vollständig. Der Gegenstand scheint
für die Betrachtung der weitreichenden Wirksamkeit des großen Kanzlers
bedeutsam genug, um auch diese Schriftstücke der Öffentlichkeit zu übergeben.
Fürst Bismarck hat sie mit eigener Hand als für diese bestimmt bezeichnet.
Am 18. Mai 1368 richtete Graf Bismarck an König Wilhelm einen Bericht,
dessen auf obige Frage bezüglicher Teil wie folgt lautet:
3. Eine direktere Verbindung zwischen dem Tiergarten und dem Grüne-
wald, in der Verlängerung des Kurfürstendamms direkt nach dem Walde
und durch Anlage eines teilweise vorhandenen Weges vom Knie in Char¬
lottenburg südlich von Charlottenburg nach Witzleben, resp, dem Unterförster.
Der Kurfürstendamm führt bisher nur bis zum Eharlottenburg-Wilmersdorfer
Wege und ist der einzige weiche Weg dorthin.
Es besteht die leidige Gewohnheit, auf allen Landwegen im Weichbilde
von Berlin und sogar auf den Reitwegen innerhalb des Tiergartens ganze
Ladungen Scherben, selbst Glas und Porzellan und Rollsteine hinzuwerfen.
Eine Polizeiverordnung, welche diesen für die Hufe der Pferde so gefähr¬
lichen Unfug verböte und den reitenden Schutzmannpatrouillen die Aufsicht
hierüber zur Pflicht machte, würde als wesentliche Verbesserung allseitig
anerkannt werden."
Unter dem 21. Februar 1872 unterbreitete Fürst Bismarck folgenden Antrag
dem Kaiser Wilhelm:
„Ew. Kaiser!, u. Kgl. Majestät haben seiner Zeit die Gnade gehabt,
meinen auf Herstellung eines Reitwegs von dem Ende des Kurfürstendamm
nach dem Grünewald gerichteten Antrag zu genehmigen. Infolgedessen ist
das erforderliche Terrain zur Fortführung des Reitwegs von dem Ende des
Kurfürstendamms ab von den betreffenden Grundstücksbesitzern erworben
und der auf beiliegender Karte mit einem roten Strich bezeichnete Reitweg
angelegt worden. Es kommt nun weiter darauf an, aus dem Tiergarten
mindestens einen ununterbrochenen Reitweg nach dem Grünewald zu behalten.
Hierfür bietet die Hauptunterlage der Kurfürstendamm, weil er fiskalisches
Eigentum ist. Es hat mich einigermaßen beunruhigt, daß in der neuesten
Zeit der Kurfürstendamm an seinem Ausgange vom Zoologischen Garten auf
eine Strecke, wo er mit Eichen gut bestanden war, bereits entholzt worden
und eine Straßencmlage projektiert ist, auf welcher ein Reitweg wegen
mangelnder Breite nicht Platz finden könnte, wie solches durch den schmalen
roten Strich auf der Karte angedeutet ist. Der Weg, welcher südöstlich vom
Zoologischen Garten entlang die Verlängerung des Kurfürstendamms bildet,
ist auch bereits teilweise durch Pflasterung für Reiter unzugänglich gemacht,
was durch den grauen Strich bezeichnet ist. Es kommt aber darauf an,
nunmehr wenigstens den noch vorhandenen Reitweg fest zu halten, welcher,
auf der nordwestlichen Ecke des Zoologischen Gartens vom Ausgange der
Kursürstenallee an der westlichen Seite des Zoologischen Gartens entlang
laufend, die bereits gepflasterte Hardenbergstraße fast senkrecht schneidend
nach dem Kurfürstendamm als Straße 20 heranführt und sich demnächst auf
dem Kurfürstendamm und dem neu angelegten Wege nach dem Unter¬
forsthaus im Grünewald fortsetzt. Der hiermit bezeichnete Reitweg ist der
einzige Zugang vom Tiergarten zum Grünewald, der noch nicht gepflastert
ist und der zugleich in seiner Fortsetzung über die Charlottenburg-Wilmers--
dorfer Landstraße hinaus den nächsten Weg zum Grünewald bildet, nachdem
die direkte Fortsetzung der Kurfürstenallee, in Gestalt der Bismarckstraße in
Charlottenburg, bereits vollständig gepflastert und so schmal gehalten ist, daß
die Herstellung eines Reitwegs darauf jetzt nicht mehr möglich ist.
Ich bitte daher Ew. Majestät, wiederholt anbefehlen zu wollen, daß ein
ungepflasterter Reitweg von der nordwestlichen Ecke des Zoologischen Gartens
bis zum Grünewald offen behalten wird und hoffe, bei dem lebhaften
Interesse, welches Allerhöchstdieselben für die Erhaltung von Reitwegen in
der Nähe der Residenz, in Anbetracht der Rückwirkung aus die militärische
Tüchtigkeit der höheren Stände jederzeit an den Tag gelegt haben, keine
Fehlbitte zu tun, indem ich zu diesem Behufe den oben bezeichneten Weg in
Vorschlag bringe."
Auf diesen Vorschlag ist Kaiser Wilhelm eingegangen.
Im Februar 1873 richtet der Fürst die folgenden Zeilen an den Chef
des Königl. Zivilkabiriets von Wilmowski:
„Ew. Excellenz erwidere ick, nnter Rückstellung der mir übermittelten
Anlagen, auf die im Allerhöchsten Auftrag an mich gerichteten Schreiben
vom 4. Nov. v. I. und 30. Jan. d. I.. daß mir die Erhaltung der ganzen
Breite des Kurfürstendamms im fiskalischen Besitz zu Gunsten der öffent¬
lichen Interessen späterer Zeit für geboten erscheint und daß in. E. den An¬
dauern zu beiden Seiten des Kurfürstendamms nicht gestattet werden sollte,
irgend einen Teil desselben mit in ihre Häuserberechnung hineinzuziehen und
als Ersatz für die ihnen obliegende Pflicht zur Hergabe des Straßenterrains
zu benutzen. Dieselben Gründe, vie ich mir zu entwickeln erlauben werde,
sprechen gegen die Verwendung irgend eines Teils der Dammbreite zur
Pferdebahn. Ich will nicht gegen die Pferdeeisenbahn überhaupt votieren,
nur bin ich der Ansicht, daß das zu derselben notwendige Terrain aus den
Mitteln der Grundbesitzer jener Gegend hergegeben, nicht aber der Weg da
verengt werden sollte, wo der fiskalische Besitz ausnahmsweise Gelegenheit
zu breiter und schöner Straßenentfaltung bietet.
Eine Abhilfe wäre aber dann nicht mehr möglich, während jede Breite,
welche man jetzt für den Reitweg reservirt, bei überwiegendem öffentlichen
Bedürfnis immer noch chausstrt und dem Fahrverkehr übergeben werden kann.
Mein Antrag würde daher dahin gehen, daß ganz unabhängig von
dem fiskalischen Kurfürstendamm, die gesetzliche Straßenbreite aus eigenen
Mitteln (der Adjacenten) herzugeben ist, die Pferdebahnkonzessionäre aber
gleichzeitig auf Aufsuchung anderer Wege zu verweisen sind."
Am 17. Juni 1873 sendet Fürst Bismarck die folgenden Zeilen an den
Handelsminister Dr. Ueberhand:
„Aus den in dem beiliegenden Schreiben an Herrn von Wilmowski
ausführlich entwickelten Gründen bitte ich Ew. Excellenz nochmals, die Hergabe
einer vollen Straßenbreite auf jeder Seite des Kurfürstendamms von den
Adjacenten ex propriis fordern zu lassen, damit auf diese Weise für die
zwischen Grünewald und Tiergarten zu schaffende Verkehrslinie die dreifache
Breite einer gewöhnliche!? Straße erzielt werden kann. Dieselbe würde etwa
den Linden, aber noch lange nicht den für ähnliche Verhältnisse in Paris
dienstbaren Champs Elisöes entsprechen."
Der Finanz- und der Handelsminister nahmen nunmehr die Angelegenheit
ihrerseits in die Hand, und unterbreiteten am 29. April dem Fürsten Bismarck
ihre Vorschläge in Betreff des Straßenprojekts. Der Letztere empfiehlt ins¬
besondere wiederholt, in die von den Interessenten beantragte provisorische
Chausfierung des Kurfürstendammes nicht zu willigen, da jeder Akt, aus
welchem möglichen Falls die Anerkennung der vermeintlichen Ansprüche der
Adjacenten an den Kurfürstendamm gefolgert werden könnte, bedenklich sei.
Dementsprechend richtet unter dem 31. Juli 1874 aus Kissingen der
Fürst folgendes Schreiben an den Finanzminister Camphausen und den Handels¬
minister Ueberhand:
„Ew. Excellenzen beehre ich mich in vorläufiger Erwiderung auf die
Zuschrift vom 29. April d. I., betreffend die Herstellung einer im Zuge des
Kurfürstendammes anzulegenden, die Residenz mit dem Grünewald ver¬
bindenden breiten Straße, zu ersuchen, die Regelung dieser Angelegenheit
einer mündlichen Besprechung nach meiner Rückkehr nach Berlin vorbehalten
zu wollen.
Ich bemerke einstweilen, daß die Verschiedenheit unserer Auffassungen
namentlich darauf beruht, daß Ew. Excellenzen in ihrer Darlegung davon
zu abstrahiren scheinen, daß der Fiskus bezüglich des Kurfürstendammes
ganz dieselben Privatrechte besitzt, wie die Adjacenten' hinsichtlich ihrer
Grundstücke, und daß derselbe nicht verpflichtet ist, fein — des Fiskus —
Grundstück in die Pläne der Adjacenten mit einzuwerfen.
Der Kurfürstendamm würde nach der von mir vertretenen Ansicht wie
bisher im fiskalischen Eigentum verbleiben, und es würde an jeder Seite
desselben eine durch Terrainabtretungen der Adjacenten herzustellende Straße
entstehen, für deren Breite das Postulat von je 7 Ruthen meines Dafür¬
haltens gesetzlich zulässig und auf die eine oder die andere Weise durch¬
zusetzen sein würde, ohne die Inanspruchnahme der Staatskasse für Be¬
friedigung möglicher Regreßansprüche befürchten zu müssen.
In die von den Interessenten beantragte provisorische Chaussirung des
Kurfürstendammes zu willigen, scheint mir, wiewohl dieselbe auf Kosten der
Antragsteller erfolgen soll, nicht empfehlenswert, da ich einen jeden Akt, aus
welchem möglichen Falls die Anerkennung der vermeintlichen Ansprüche
der Adjacenten an den Kurfürstendamm gefolgert werden könnte, für be¬
denklich halte."
Es sind, wie man weiß, nicht alle Wünsche, die Fürst Bismarck für die
Gestaltung des Kurfürstendamms hegte, erfüllt worden, aber in der Hauptsache
sind seine Gedanken doch zur Durchführung gelangt, und die Bewohner des
Grünewald haben nur eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllt, als sie dem großen
Staatsmann, der so emsig dafür eintrat, den Wald mit Berlin durch eine
stattliche Straße mit Reitwegen zu verbinden, ein Denkmal in ihrer Ge¬
markung setzten.
u dem vielen Unerwartetem, das der Krieg mit sich gebracht hat,
gehört auch die Enthüllung der Pracht des gestirnten Himmels,
die sich Ungezählten auf nächtlicher Wacht zum erstenmal offen¬
bart hat. In einer deutschen Lehrerzeitung hat jüngst ein Feld¬
zugsteilnehmer darüber berichtet, wie die Natur dem Menschen
vertrauter geworden ist, und auch ich habe die Erfahrung machen können, daß
eine Reihe astronomischer Projektionsvorträge, die ich im letzten Winter für
Verwundete gehalten habe, ein viel höheres Interesse gefunden haben, als
ihnen in Friedenszeiten beschieden gewesen wäre. So ist es denn nicht un¬
gerechtfertigt, wenn in dieser Zeit des Aushaltens und wo auch Tausende von
Gebildeten in der Spanne langsamer Genesung zum erstenmal die Muße und
den Willen finden, ihre Gedanken den Geheimnissen des Universums zuzuwenden,
für einen größeren Kreis eine Übersicht über eine Auswahl aus der neueren
astronomischen populärwissenschaftlichen Literatur gegeben wird.
Die astronomische Forschung des letzten Jahrzehnts ist eine recht rege
gewesen. Gebiete, die früher im Vordergrund des Interesses standen, sind stark
zurückgetreten, andere dafür zu überraschender Entwicklung gekommen, so vor
allem das Problem des Struktur des Universums, sodaß alle älteren Bücher
heute völlig veraltet sind. Noch in den neunziger Jahren erschien die Fixsternwelt
als ein bunt zusammengewürfeltes Aggregat von Fixsternen, jetzt beginnt diese
Vorstellung einer ganz anderen Platz zu machen. Auch in den Bewegungen
der Fixsterne werden größere Regelmäßigkeiten erkennbar. Sie gehen nicht
regellos durcheinander wie die Bewegungen der Moleküle eines Gases. Es be¬
dürfte zu dieser Erkenntnis zunächst der Gewinnung eines großen gesicherten
Einzelmaterials. Auch die Nebelmassen erscheinen nicht mehr als etwas Seltenes
im Weltraum, mit der Verbesserung der optischen und photographischen In¬
strumente ist ihre Zahl ins Unübersehbare gestiegen. Allüberall am Firmament
sind sie vorhanden.
Als eine weitere wichtige Veränderung, die unser astronomisches Weltbild
erfahren hat, darf die immer stärker gewordene Kritik der Laplaceschen Welt¬
bildungstheorie angesehen werden, die bereits als vermeintlich gesicherte Theorie
in das populäre Weltbild übergegangen war. Ein wesentlicher Punkt dieser
Theorie, die Bildung der Monde durch von den Planeten sich ablösende Ringe,
ist durch die Untersuchungen G. H. Darwins, des Sohnes Charles Darwins,
und des französischen Mathematikers Poincarö völlig über den Haufen geworfen
worden. Und auch der dann noch übrig bleibende Nest dieser Weltentstehungs-
lehre ist bereits schwer erschüttert.
Wem es nur um eine kurze Übersicht über die jetzt im Mittelpunkt des
Interesses stehenden neuen Probleme zu tun ist, dem ist ein treffliches kleines
Buch von S. Oppenheim, der vom Realgymnasiallehrer zum Universitäts¬
professor emporstieg, zu empfehlen: „Probleme der modernen Astronomie" (Aus
Natur und Geisteswelt Ur. 355. B. G. Teubner, Leipzig).
Wer eine knappe Übersicht über das Ganze der astronomischen Forschungen
wünscht, die man bequem in die Überziehertasche stecken und im Eisenbahn¬
wagen lesen kann, für den ist jetzt erstaunlich reich gesorgt. Die knappste und
doch sehr reichhaltige illustrierte Darstellung erschien in den längst rühmlich
bekannten „Büchern der Naturwissenschaft", die S. Günther in der Universal¬
bibliothek herausgibt, aus der Feder des vor nicht langem verstorbenen
Messerschmidt. Es sind zwei Hefte von je drei Nummern. Das eine behandelt
den „Sternenhimmel": die Bewegungen und Raumverteilungen der Sterne,
das andere, „Physik der Fixsterne", ihre physikalisch-chemische Beschaffenheit,
über die doppelte Zahl von Heften verteilt die Sammlung Göschen den Stoff.
Eins behandelt die „Kometen, Meteore und Fixsterne", ein anderes die „Be¬
wegungen im Planetensystem" — beide ursprünglich von A. F. Möbius ver¬
faßt, jetzt neu bearbeitet von dem berühmten Erforscher der Fixsternwelt
H. Kobold —, ein weiteres Heft, ursprünglich von Wislicenus geschrieben, jetzt
fortgeführt vom Potsdamer Astrophysiker Ludendorff, ist der Astrophysi! ge¬
widmet; mehr zusammenfassend ist das vierte von S. Günther: „Astronomische
Geographie."
Noch mehr ins einzelne gehen die in der Sammlung „Natur und Geistes¬
welt" erschienenen Hefte. Vereint bilden sie jetzt bald eine vollständige Ge¬
samtdarstellung des Weltalls. Eine zusammenfassende Übersicht gibt I. Scheiner
in „Der Bau des Weltalls", einzelne Teile desselben behandeln dann B. Peter
(Die Planeten). I. Franz (Der Mond), A. Krause (Die Sonne). Die
„Astronomie in ihrer Bedeutung für das praktische Leben", z. B. für die Zeit¬
messung, die geographische Ortsbestimmung zu Lande und zur See und anderes,
behandelt A. Marcuse. Mit der „Entstehung der Welt und der Erde" und
ebenso mit ihrem „Untergang" beschäftigt sich der Berliner Physiker
M. B. Weinstein. — Ein Band über die Fixsterne ist bisher nicht erschienen.
Für ihn tritt die Schrift von K. Schwarzschild „Über das System der Fix¬
sterne" ein (4 Vorträge).
Von den gedrängteren neuen Gesamtdarstellungen hat mir die von Meisel
in der Sammlung „Das Weltbild der Gegenwart" unter dem Titel „Wand¬
lungen des Weltbildes" (München, Deutsche Verlagsanstalt) besonders gut ge¬
fallen. Das Buch vermittelt in knapper, leicht verständlicher und sehr anregen-
der Fassung eine recht reichhaltige Kenntnis vom gegenwärtigen Stand der
astronomischen Forschung, hat freilich nur wenig Abbildungen.
Von umfangreicheren Werken sind die beiden wichtigsten die auf höherer
Stufe stehende „Himmelskunde" von Plaßmcmn (Freiburg, Herder) und die
„Populäre Astronomie" von Newcomb-Engelmann (Leipzig, Engelmann). Das
zweite, ein altberühmtes Werk, ist in seiner neuesten Auflage von Mitgliedern
des Potsdamer Astrophysikalischen Observatoriums neu bearbeitet worden. Es
ist an Umfang das größte aller populären deutschen Werke und steht jetzt voll
auf der Höhe, ja es ist nicht zu viel gesagt, wenn der Herausgeber P> Kempf
für die neue Auflage in Anspruch nimmt, daß selbst der Fachastronom für
manche neuere Forschungen nirgends eine bessere Zusammenstellung finden
werde. Der Wert des Buches würde noch erhöht werden können, wenn ihm in
Zukunft ein Verzeichnis speziellerer Werke und Abhandlungen beigegeben würde.
Es fehlt überhaupt in der ganzen deutschen populären astronomischen Literatur
an einem Werk, das für den näher Interessierten hinreichende weiterführende
Literaturnachweise gibt.
Das neuere, jetzt auch bereits in zweiter Auflage vorliegende Werk von
Plaßmann hat seinen besonderen Wert für den ernsthaften Liebhaber dadurch,
daß es das Mathematische nicht nach Möglichkeit unterdrückt, sondern aus¬
drücklich soviel davon mitteilt, wie der Leser mit mittleren Gymnasialkenntnissen
ohne Schwierigkeit versteht, ohne darum die Astrophyftk zu vernachlässigen.
Wie das Newcomb-Engelmannsche Werk ist auch das von Platzmann reich und
vortrefflich illustriert; für weitere Auflagen würde ich raten, in Bezug auf die
Tafeln zu dem weit schöneren bläulichen Druck der ersten Auflage zurückzu¬
kehren, wie übrigens auch zu deren etwas größerem Umfang.
Besonders auf die Probleme der Weltentwicklung eingestellt ist das nicht
umfangreiche Buch des großen schwedischen Physikers Sparte Arrhenius „Das
Werden der Welten" (Leipzig. Akad. Verlagsgesellschaft). Vielleicht ist es die
beste populäre Darstellung der physischen Beschaffenheit der Himmelskörper aus
der Feder eines Forschers ersten Ranges. Leichte Lesbarkeit und volle Be¬
herrschung des Stoffes verbinden sich.
In Bezug auf die Illustrationen steht am höchsten das Buch von Mac
Kready, Sternbuch für Anfänger (Leipzig. I. A. Barth). Die in ihm enthal¬
tenen Aufnahmen vom Mond und verschiedenen Planeten, Spiralnebeln und
Sternhaufen sind von sonst nirgends erreichter Schönheit. Das Buch ist darum
nicht nur für den Besitzer eines Fernrohrs, sondern für jeden Liebhaber der
Astronomie eine wertvolle Ergänzung jeder allgemeinen Himmelskunde. Recht
lehrreich sind auch die vom Direktor der Heidelberger Sternwarte Max Wolf
im gleichen Verlag herausgegebenen „Stereoskopbilder vom Sternhimmel". '
Außerordentlich reich illustriert ist ferner der (III.) astronomische, in immer
neuen Auflagen — jetzt als 130. Tausend — erscheinende Band von Kraemers
„Weltall und Menschheit", den der Senior der deutschen Astronomie.
F. W. Foerfter. geschrieben hat. Vor allem enthält das Werk auch zahlreiche,
z. T. farbige wertvolle Tafeln und Textbtlder aus der Geschichte der Astronomie.
'Es ist darin unerreicht. Daß der Band zugleich eine ebenso reich illustrierte
Geschichte der Erdkunde bis zum Ausgang des Mittelalters enthält, erhöht
noch seinen Wert. Der historisch besonders Interessierte findet übrigens eine
ausgezeichnete knappe Gesamtübersicht bei S. Oppenheim „Das astronomische
Weltbild im Wandel der Zeit" (Aus Natur und Geisteswelt Ur. 110). Etwas
umfangreicher behandelt Sparte Arrhenius denselben Gegenstand in der Neuen
Folge seines „Werdens der Welten", die unter dem Titel „Die Vorstellung
vom Weltgebäude im Wandel der Zeiten" (Leipzig, Akad. Verlagsgesellschaft)
erschien. In den letzten Teilen des Bandes finden sich wertvolle eigene Fort¬
bildung^ versuche der kosmogonischen Hypothesen. Nicht unterlassen will ich zu
bemerken, daß ganz neuerdings auch das astronomische Hauptwerk des Alter¬
tums, der Almagest des Ptolemäus, wie die Araber die genannt
haben, durch eine deutsche Übersetzung allgemein zugänglich geworden ist. Es
ist ein rühmliches Verdienst des Teubner'schen Verlages, dies Werk übersetzen
zu lassen. Kein Geschichtswerk vermag den Eindruck der unmittelbaren Ein¬
sichtnahme dieser antiken astronomischen Enzyklopädie zu ersetzen.
Von hier zweigt sich der Weg ab zu Werken, die bereits den Eingang in
die eigentlich wissenschaftliche Literatur darstellen. Der vorwiegend für die
physikalisch-chemische Natur des Weltalls Interessierte wird die „Populäre
Astrophysik" (Leipzig, Teubner) des Potsdamer Astrophysikers I. Scheiner zur
Hand nehmen, die aus Universitätsvorlesungen hervorgegangen ist und dieselbe
schöne Klarheit, die uns Studenten seine Kollegs so anziehend machten, auf¬
weisen. Der andere Weg führt zur mathematisch-mechanischen Theorie der
Gestirnbewegimgen. Wer in sie einen ersten Blick tun will und über die
Anfangsgründe der höheren Mathematik verfügt — es sind ihrer heute ziemlich
viele —, dem bietet sich eine „Einleitung in die Astronomie" von A. von Flotow
(Leipzig, Göschen) dar, die eine lange bestehende Lücke ausgefüllt hat.
Bis zu diesem Punkt kann der mathematisch und physikalisch etwas über
die Gymnasialkenntnisse hinaus Vorgedrungene ohne große Schwierigkeit ge¬
langen. Was darüber hinaus liegt, erschließt sich nur bei ernster andauernderArbeit.
Zum Schluß möchte ich noch auf eine Literaturgattung hinweisen, die,
zunächst für höhere Schulbedürfnisse geschrieben, auch dem Erwachsenen zur
Einführung wertvolle Dienste leisten kann. Dazu rechne ich das in
Bastian Schmids bekannter naturwissenschaftlicher Schülerbibliothek erschienene
Buch von Franz Rufes „Himmelsbeobachtungen mit bloßem Auge", das
eine recht gute Einführung in die Astronomie darstellt. Der Zusatz „mit
bloßem Auge" auf dem Titelblatt ist übrigens nicht allzu wörtlich zu verstehen.
Vom selben Verfasser erschienen ferner „Winke für die Beobachtung des Himmels
für Schüler und Liebhaber der Himmelskunde" (beide Schriften bei Teubner,
Leipzig). Sehr instruktiv ist auch Alois Höflers, des Wiener Philosophen und
Pädagogen, „Didaktik der Himmelskunde", die sich mit Erfolg bemüht, auch
schwierigere Dinge möglichst anschaulich zu machen. Das Buch wird ergänzt
durch einen von Höfler gezeichneten Modellierbogen, der die eigene Anfertigung
eines Himmelsglobus erlaubt, der von unten her von innen betrachtet werden
kann und so den Sternhimmel in unverzerrter Gestalt darstellt (sämtlich Leipzig,
Teubner). Der Globus wird auch fertig geliefert. Zwei besondere Probleme
„Dreht sich die Erde?" und die „Theorie der Planetenbewegung" findet man
in zwei Heftchen der „Mathematischen Bibliothek für Schule und Haus" (bei
Teubner) von W. Brunner bzw. von P. Meth mit einfachsten Mitteln ge¬
meinverständlich dargestellt. Eine gute Einführung in die für den Beobachter
des Himmels wichtige Meteorologie findet man bei L. Weber „Wind und
Wetter" und R. Hennig „Gut und schlecht Wetter" (Aus Natur und Geistes¬
welt Ur. 55 und 349).
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Wir bitten die Freunde der :: :: ::
das Abonnement zum IV. Quartal 1916
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanstatt entgegen. Preis 6 M.
V.Verlag der
G?en2boten
G. in. b. S.
Berlin L^V it.
^
Vivere necesse est
in vorigen Jahre begann der Staatssekretär Dr. Sols einen
Aufsatz über deutsche Kolonialpolitik*) mit den Worten: „Diese
Schrift ist keine Apologie, keine Entschuldigung, daß, und keine
Erklärung, warum wir Kolonien haben". Diese Einleitung aus
der Feder des berufenen Fachmannes zeigt mehr als die Äußerungen
der Tagespresse, daß das Koloniale, das sich lange Zeit von selbst verstand, in
den Stunden des Nachdenkens, die uns dieser ungeheure Krieg schuf, von neuem
zum Problem geworden ist. Ja, der Staatssekretär weiß, daß man eine
Apologie von ihm erwartet; er hält es für nötig, die Entscheidung der Öffent¬
lichkeit zu beeinflussen: in zahlreichen Vorträgen im ganzen Reiche hat er
inzwischen die Notwendigkeit der Kolonialpolitik für unser neues Deutschland
betont. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß es überflüssig ist, diese Frage
nochmals durchzudenken.
Die Kolonialfrage ist für die europäischen Mächte in erster Linie eine
Frage der geographischen Lage. Sobald mehrere Nationen da sind, die sich
über See kolonisierend betätigen wollen, wird Letsns paribus diejenige den
größeren Erfolg erzielen, die am ungestörtesten ihre Kräfte über die See spielen
lassen kann, weil sie wenig Kraft auf die Verteidigung der heimischen Werte
verwenden muß. Mit anderen Worten: ob eine von kontinentalen Besorgnissen
freie Weltpolitik getrieben werden kann, das ist ausschlaggebend für den Erfolg
einer solchen Politik. Hier haben wir die Voraussetzung für das Entstehen des
englischen Kolonialreiches.**) England hatte am Ende des Mittelalters aus-
gehört, beträchtliche Teile des kontinentalen Europa in den Bereich seiner
Expansion zu ziehen. Kaum sind die inneren Schwierigkeiten des Reformations¬
zeitalters notdürftig überwunden, so greift England über die Meere. Durch
den breiten Wassergraben von den Mächten Europas geschieden, hatte man
fürderhin nur soweit ein Interesse an Europas Geschichte, als es notwendig
schien, heranwachsende Konkurrenten niederzuhalten. Die aktive Teilnahme
Englands an dem Ringen europäischer Staaten gleicht einer Reihe von Ausfalls¬
gefechten, nach deren Beendigung die Besatzung befriedigt und fast ungeschwächt
in ihre uneinnehmbare Festung zurückkehrt. Auch diese Kriege sind mindestens
zum Teil aus kolonialen Gesichtspunkte zu verstehen: die Beschränkung des
holländischen, die Zertrümmerung des französischen Kolonialreiches waren ihr
Ergebnis.
Während so die geographischen Verhältnisse es England erlaubten, in
stetiger Politik die Welt englisch zu machen, zeigt der Verlauf der französischen
Kolonialgeschichte bis ins neunzehnte Jahrhundert das Verhängnisvolle einer
zwei Zielen nachjagenden und darum keines erreichenden Politik., Auch sie ist
geographisch begründet, in der Zweigesichtigkeit Frankreichs, das sowohl auf der
kontinentalen als auf der ozeanischen Seite lockende Aufgaben vor sich sah.
Von vornherein war Frankreich als Festlandsmacht mit den Geschicken des
Kontinents viel inniger verflochten als der Inselstaat; hinzu trat das Streben
nach der Hegemonie in Europa, das seit der endgültigen Abwendung Englands
vom Festlande die französische Politik beherrschte. Daneben aber hatte Frank¬
reich nicht später den Weg kolonialer Ausdehnung betreten als England. Es
erkannte nicht die Alternative seiner geschichtlichen Stellung, die eine Entscheidung
forderte, und ist an dieser Zwiespältigkeit gescheitert*); 1815 ist es so gut wie
keine Kolonialmacht mehr.
So siegte in Westeuropa als Kolonialmacht derjenige Staat, dem sein
geschütztes Machtzentrum Freiheit des Handelns gewährte. Inzwischen hat im
Osten Rußland ebenso ungestört sein eigenes Ausbreitungssystem entwickelt, das
der reinen Überlandkolonisation. Auch hier ist es wieder die geographische
Lage, die das Vordringen bis zum Großen Ozean und darüber hinaus ermög¬
lichte. Da Rußland zunächst auf seinem Wege keinen Wettbewerb anderer
Kolonialvölker fand, konnte es die Weiterführung seines Werkes nach Belieben
zeitweilig einstellen und nach Erledigung dringenderer Geschäfte in Europa und
am Schwarzen Meer wieder am verlassenen Punkte aufnehmen. Dies war nur
möglich, weil das Kolonisationsgebiet von der Hochstraße des Meeres seitab
lag und daher von keiner anderen Macht erreicht werden konnte.
Wir haben also zwei koloniale Systeme, die sich gleichzeitig, ohne einander
Zu kreuzen, durchgesetzt haben, das englische und das russische, das überseeische
und das kontinentale, das System der Streulage (mit der Tendenz freilich zur
Zusammenfassung) und das der Konzentration, das auf der Seebeherrschung
aufgebaute und das von ihr unabhängige, das vorwiegend merkantile und das
fast ganz agrarische. Der wesentliche Unterschied liegt bei alledem im Abstand
des kolonialen Besitzes vom Mutterland, einem Abstand, der im einen Falle
durch Meercsbreiten markiert ist, während im anderen das Mutterland unmerklich
in den Kolonialbesitz übergeht. Eine unwesentliche Verwischung erfährt der
Gegensatz nur dadurch, daß England seinen Seeverkehr auf das höchste Maß
der Leistung gebracht und dadurch den Abstand weniger fühlbar gemacht, Ru߬
land dagegen durch Vernachlässigung seiner Bahnverbindungen lange Zeit hin¬
durch einen künstlichen Abstand hervorgerufen hat.
Die Erwerbung eines transozeanischen Kolonialreiches war seit der un¬
beschränkten Suprematie der englischen Seemacht für keinen Staat mehr möglich,
der sich nicht Englands Bedingungen fügen oder es auf einen Seekampf an¬
kommen lassen wollte. Der einzige Staat, der die Gründung eines kolonialen
Imperiums im neunzehnten Jahrhundert noch unternommen hat, Frankreich,
glaubte sich dieser Notlage entwinden zu können, indem er, soweit die
geographischen Verhältnisse es zuließen, nach dem kontinentalen System verfuhr.
Die neuerworbenen Kolonien an der nordafrikanischen Küste liegen in ihren
wichtigsten Teilen dem Mutterlande nahe genug, daß man hoffen konnte, von
ihnen nicht leicht abgeschnitten zu werden; und an diese Teile schloß sich dann
das gewaltige westafrikanische Gebiet, dessen Ausbau bis in die letzten Jahre
durch Einbeziehung von Marokko gefördert worden ist. Aber die relative Be¬
herrschung des westlichen Mittelmeerbeckens ist dieses ganzen Baues Voraus¬
setzung und seine schwache Stelle. Man mußte empfinden, daß die Linie
Toulon—Biserta gegen das Übelwollen des Besitzers von Gibraltar und Malta
nicht offenzuhalten ist, und die Furcht vor dem Bruch mit England ließ das
stolze Frankreich sogar die Demütigung von Faschoda ertragen. Mehr und
mehr ist Frankreich nur von Englands Gnaden Kolonialmacht, weil ihm seine
geographische Lage die rein kontinentale Kolonisation, das russische System, nicht
erlaubt. Ähnliches gilt von Italien; denn die Besetzung von Tripolis ist,
geographisch betrachtet, nur eine schwache Wiederholung des französischen Vor¬
gehens in Nordafrika, und Erythräa liegt nach jeder Richtung unter den
englischen Kanonen.
Unter dem Mangel, daß der Beherrscher des Meeres es in der Hand
hat, die Kolonien vom Mutterlande abzuschneiden, leidet in besonderem Grade
die deutsche Kolonisation. Bei der Gründung der deutschen Kolonien stand
man durchaus unter dem Eindruck des englischen Vorbildes, und man nahm
bei dem Wettlauf der europäischen Staaten um die noch unverteilten Reste
Afrikas, was noch zu haben war. Der Gedanke einer kontinentalen Kolonisation
nach russischem System konnte im Frieden nicht auftreten. So wurde unser
„Kolonialreich" völlig transozeanisch. Gegenüber Frankreich ist Deutschland
geographisch nicht nur dadurch im Nachteil, daß es breite Ozeane durch¬
queren muß. um seine Kolonien zu erreichen, sondern besonders dadurch, daß
es schon an seinem maritimen Ausgang als Wächter England vor sich steht.
Wir sind also, solange Englands überlegene Seemacht besteht, für unsere
kolonialen Unternehmungen in noch viel höherem Maße auf dessen Wohlwollen
angewiesen. Wer es noch nicht gewußt hatte, hat es in diesem Kriege er¬
fahren, daß für uns eine überseeische Kolonalpolitik nur möglich ist, wenn wir
zur See England die Spitze bieten können. Jeder Seekrieg, selbst wenn er zu
unseren Gunsten ausfällt, trennt uns von unseren Kolonien und setzt sie der
Gefahr der Invasion und der Zerstörung der dortigen Werte aus. Sonder¬
barerweise scheint Dr. Sols in seinen Vorträgen anzudeuten, daß Kolonisation
künftig ohne die Voraussetzung der Seemacht bestehen könne.
Immerhin — ist unser Volk zu seiner Existenz auf überseeische Kolonien
angewiesen, so muß die geographische Notlage durch äußerste Kraftanstrengung
überwunden werden. Man wird also nach Zweck und Nutzen der Kolonie fragen.
Da wird zunächst mit dem Humanitären Zweckgedanken aufgeräumt werden
müssen, den Dr. Sols in der Form ausspricht*:) „Kolonisieren ist Missionieren,
und zwar Misstonieren in dem hohen Sinne der Erziehung zur Kultur". An
anderer Stelle spricht er von den Kolonien als der Heimat von Menschen,
denen wir unseren Schutz versprochen haben und für die wir sorgen müssen.
Ja, müssen wir fragen, wer hat uns denn geheißen, einem Negerstamm unseren
Schutz zu versprechen? Hat uns unser gutes Herz getrieben, Menschen und
Kapitalien zu wagen, um das ferne Land uns zu eigen zu machen? Der Stamm
hat den Schutz nicht begehrt, und das deutsche Volk hat nicht daran gedacht,
hier eine Kleinkinderschule für unerzogene Völker anzulegen. Es wollte wirt¬
schaftliche Vorteile und Siedlungsland. Herrn Solfs Vorgänger, Dernburg, hat
damit auch nicht hinter dem Berge gehalten.**) „Die Zwecke, für welche
kolonisiert wird, sind materielle und merkantilistische." In der Tat, wir sind
jetzt von Rousseauscher Ideologie weit genug entfernt, um einfach zu sagen: die
neuen Gebiete sollen „erschlossen", d. h. ausgebeutet werden. Freilich kann
man nicht behaupten, daß das Merkantile zu den grundlegenden Wesens¬
zügen unseres Volkes gehöre. Daß wir dem Händlertum anderer Nationen
durchaus entgegengesetzt wären, ist nur eine glänzende Stilisierung, beruht
aber doch auf einem vorhandenen Tatbestand. Der Deutsche ist von Natur
kein Ausbeuter. Auch daß der Handel um des Handelswillen zu fördern
wäre, ist ihm. wie mir scheinen will, im Grunde seines Herzens zuwider; er
sieht ihn nicht sowohl als Selbstzweck an, denn als Mittel zur Beschaffung
nötiger Bedürfnisse.
Aber sehen wir doch, was andere Völker von ihren Kolonien haben. Wir
haben sie doch nachgeahmt, um gleiche Pfade zu gehen.
Den Engländern sind ihre Kolonien teils Lieferanten wichtiger Roh¬
produkte (30 v. H. der gesamten Einfuhr kommt aus den Kolonien)*), teils
Absatzgebiete für die Industrie des Mutterlandes, sodann Betätigungsfelder für
die merkantile und politische Beherrschung und schließlich die gegebenen Sied¬
lungsländer für die Auswanderung. Was sind uns demgemäß unsere Schutz¬
gebiete? Sie liefern einen verschwindend kleinen Teil der für uns nötigen
Rohprodukte (einhalb v. H. unserer Einfuhr kommt aus den Kolonien), sie
nehmen unserer Industrie einen unbedeutenden Teil ihrer Erzeugnisse ab (wenig
über einhalb v. H. unserer Ausfuhr)**), sie haben von unserer Auswanderung
ein paar Tausend Menschen aufgenommen. Lieferanten für tropische Roh¬
erzeugnisse, lohnende Absatzgebiete, ja selbst Auswanderungsländer sind nach
der Gründung der Kolonien wie vorher in weitaus überwiegendem Maße Land¬
striche, über denen die deutsche Flagge nicht weht.
Nun wird die Aufschließung und Entwicklung unserer Kolonialgebiete, so¬
bald sie nach dem Kriege wieder in unseren Händen sein werden, wohl noch
Fortschritte machen***), aber zu einem unentbehrlichen, ja selbst zu einem
schwer ins Gewicht fallenden Faktor unserer nationalen Wirtschaft werden sie
niemals werden. Dies bezeugt heute auch ein so warmer Befürworter der
Kolonien wie Professor Wiedenfeld in Halle f). Rein wirtschaftlich stellen sich
die kolonialen Anlagen dar als Geschäftsunternehmungen, deren Rentabilität
nur eine scheinbare ist; denn sie ist nur durch den kostspieligen Schutz, die
Verkehrsanlagen und Verwaltung bedingt, von denen das Reich einen großen
Teil trägt. Dieses Ergebnis wird sich auch bei Berücksichtigung der nach Lage
der Verhältnisse möglichen Vermehrung unseres kolonialen Besitzes, ja selbst
bei seiner Verdoppelung nicht wesentlich ändern. Und was die Schutzgebiete
als Siedlungsländer betrifft, so ist nach kompetenten Kennern diese Möglichkeit
gering im Verhältnis zur Ausdehnung der Gebiete und zur Größe der auf¬
zuwendenden Mühen und Kosten.
Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, daß man beginnt, sich in den
Kreisen der Fachleute über die Grenzen der in den Kolonien liegenden Mög¬
lichkeiten keinen Illusionen hinzugeben. So kann niam hoffen, daß in ab¬
sehbarer Zeit auch im Volke die unklaren Begriffe vom wirtschaftlichen Werte
unserer Kolonien schwinden; sie haben durch die wohlgeleitete Agitation, die
mit den Gefühlswerten unseres berechtigten nationalen Ehrgeizes wirken
konnte, in Köpfen und Herzen Platz gegriffen und sind durch populäre Schriften
und Schulbücher in die junge Generation gedrungen. Ihr muß man immer
wieder versichern, daß unsere weitgreifende wirtschaftliche Stellung in der Welt
keineswegs auf den Kolonien beruht.
Aus einer Mißleitung des nationalen Ehrgeizes stammt denn auch der
andere Grund, den man für die Notwendigkeit überseeischer Ausdehnung anführt,
und der unsere ersten Pioniere auf diesem Gebiet geleitet hat. Das nationale
Selbstbewußtsein im neuen Deutschen Reiche glaubte den Gedanken nicht ertragen
zu können, daß andere Völker in fremden Erdteilen ihre Flaggen wehen ließen,
während dies Deutschland nicht vergönnt sein sollte. Der Bürger der spätge¬
kommenen Großmacht verriet einen Mangel an Sicherheit des Auftretens, wenn
er glaubte weniger zu gelten als andere, bloß weil ihm dieses Herrschafts¬
attribut fehlte. Er ließ sich in diesem Punkte von andern Nationen, besonders
von England, gewaltig imponieren.*) Die Weltgeltung Deutschlands schien den
Besitz überseeischer Kolonien zu erfordern. Freilich herrschte selbst in England
zeitweilig eine weitgehende Kolonialmüdigkeit; aber als sich nun dieser Staat
besann und wieder um sich griff, schienen Kolonien allen Nationen von neuem
erstrebenswert. Es handelte sich in jenen achtziger Jahren zum guten Teil um
eine Suggestion, die — angeregt von der anerkannten Geschäftstüchtigkeit des
Königs der Belgier**) — sich von der Hauptkolonialmacht auf die Auchkolonial-
mächte verbreitete. Die Völker glaubten an ihrem Prestige Einbuße zu erleiden,
wenn -sie sich nicht an der Austeilung der Reste Afrikas beteiligten. Bismarck,
der sich auf das Stimmungsmäßige bei den Völkern verstand, sträubte sich
dagegen und versuchte, das Reich durch das System der privilegierten Kompanie
von der direkten Berührung mit den kolonialen Aufgaben fernzuhalten. Es
war umsonst. Aber er hat doch jedenfalls den Gedanken vertreten, daß ein
Reich wie das unfere zur Wahrung seines Ansehens der äußeren Attribute
nicht bedürfe. Man möchte auch heute nach der in diesem Kriege gegebenen
Probe unserer Kraft gleicher Ansicht sein.
Wenn Wiedenfeld, nachdem er zugegeben hat, daß die Kolonien für uns
wirtschaftlich nicht in die Wagschale fallen, ihre Bedeutung als weltpolitische
Stützpunkte in den Vordergrund stellt, so ist doch wohl klar, daß es dafür der
Kolonien nicht bedarf. Befestigte Kohlenstationen tun denselben Dienst, und
sie entführen dem Mutterland nicht dauernd, sondern nur für eine Anzahl von
Jahren wertvolles Menschenmaterial. Denn das übersehen die neueren Erörte-
rungen des kolonialen Problems zumeist: Menschen, die als Ansiedler zu
brauchen sind, bilden für unsere Nation — insbesondere nach den Verlusten
in diesem Kriege — einen Stoff von solchem Werte, daß wir ihn nicht ver¬
schwenden dürfen.*) Bauern und landwirtschaftliche Arbeiter können wir in
der Heimat nicht entbehren; in enger Fühlung mit der heimischen Volksart
müssen wir sie zu mehren bestrebt sein. Die größte physische und moralische
Kraft hat der Deutsche von jeher dort entfaltet, wo er im besessenen Boden
einwurzelte und hoffen durfte, für Generationen seine Nachkommen demselben
Boden einzupflanzen. Dem Wandertrieb steht im deutschen Wesen doch auch
die Sehnsucht nach dem Besitz einer Heimat gegenüber, und sie ist stärker. So
weist deutsche Art vielmehr auf Vorwiegen heimischen Lebens, auf Konzentration
der Kraft hin, nicht aus Expansion, hinter der — der Erfolg lehrt es — die
Zersplitterung lauert, die Degeneration und das Untergehen im fremden Wesen.
Hier muß noch auf einen Gedanken hingewiesen werden, den Hans Delbrück
kürzlich geäußert hat.**) Er sieht wie ich von der Bedeutung der Kolonien als
Wirtschastsfaktor und als Siedlungsgebiet ganz ab, um einen sozialen Gesichts¬
punkt geltend zu machen. Den großen Überschuß an gebildeten Männern um
die Dreißig, die bisher unzureichend genützt in der Heimat saßen oder fremden
Ländern ihre Kräfte weihten, will er in ein zu erwerbendes ungeheures Kolonial¬
reich schicken, damit sie dort die Völker niederer Rasse regieren. Darauf wäre
Zu erwidern: Die Produktion eines Überflusses von „Gebildeten" ist ein allseitig
empfundener Mißstand, der auf einer verkehrten Kulturpolitik unserer Staaten
beruht. Es wird dadurch eine Fülle wertvoller Kräfte in Jahren großer
Leistungsfähigkeit nicht ausgenützt. Diese Kräfte wird die Zukunft unseres
Volkes, so hoffen wir, besser nützen, indem es die Bildung vermenschlicht und
von Ansprüchen und Standesvorurteilen löst, und indem es lernt, die Eignung
und Bewährung des Menschen für sein Werk von dem rohen Prüfstein der
Berechtigungen und Examina zu lösen. Es wäre Verschwendung, wertvolle
Menschen unseres Volkes aus volksfremden Beweggründen wie dem kultureller
Erziehung oder politischer Leitung tiefstehender Nassen in fremden Ländern und
Klimaten zu verbrauchen. Auf die Mißgriffe, die von unseren Kolonialpionieren
selbst in den beschränkten Gebieten unserer bisherigen Schutzgebiete gemacht
worden sind und die Eignung unseres Volkes zur Erziehung fremder Rassen
Weifelhaft erscheinen lassen, sei nur nebenbei verwiesen. Wen aber Abenteuer¬
lust in die Welt treibt, der mag seinen Weg gehen; ihm braucht die Flagge
des Reiches nicht überallhin zu folgen.
Man mag aus Delbrücks Ausführungen entnehmen, wie auch denkende
Köpfe sich nicht von den Kategorien lösen können, die durch Englands Vorbild
aufgestellt sind: weil England sein Indien hat, das dem gebildeten Nachwuchs
ohne Kosten des Mutterlandes reichlich die Staatskrippe füllt — muß deshalb
auch Deutschland diesen sozialökonomischen Notausweg wählen, anstatt die
fehlerhafte Schichtung seines Volkes daheim zu verbessern?*)
Die Gefahr der Zersplitterung und des Untergehens im fremden Wesen
hat der Engländer nicht zu fürchten; gegen sie liegen Heilmittel in der Geschlossen¬
heit und Enge seines Wesens. Aber auch vom Standpunkt der Politik ist ihm
die überseeische Expansion ungefährlicher als uns. Man mag ja sagen, auch
in der Bewertung Englands als natürlicher Festung gehe in diesem Kriege ein
Wandel vor sich. Aber auch wenn man die Stärke der geographischen Position
Englands nicht mehr so hoch bewertet wie früher, so hat doch England weder
einen so gefährlichen noch einen so unheimlichen Nachbar jenseits seiner Festungs¬
gräben wie wir ihn in Rußland sehen müssen, das sich von dem großen Ader¬
laß dieses Krieges bald wieder erholen und dann die. expansiven Richtlinien
des Kuropatkinschen Geheimberichtes von 1900**) weiter verfolgen wird. Die
Stärke des Moskowiterreiches liegt in der Masse; ihr wird vielleicht in abseh¬
barer Zeit — schon dieser Krieg hat hier Unerwartetes gezeigt — die Kraft
der Organisation zur Seite treten, wenn eine Regierung, die den Lehren dieses
Krieges Rechnung trägt, das Chaos einem Zustande der Ordnung entgegen¬
führt. Was dann für Kräfte entbunden werden können, das mögen wir
kaum ahnen.
Diese Aussicht erfordert von uns die alleräußerste Verstärkung unserer
mitteleuropäischen Position an Kraft, an Landgebiet und Volksmasse, damit wir
dem russischen Koloß eine unüberwindliche Mauer entgegenstellen können. Jede
Zersplitterung an Kraft, Volk und materiellen Mitteln, die durch überseeische
Unternehmungen hervorgerufen wird, kann zu einer Schwächung dieser wichtigsten
Verteidigungslinie, zu nie wieder gutzumachenden Verlusten unseres Volkes
führen. Alles, was an kolonisatorischer Kraft in unserem Volke lebt, wird
dringend gebraucht, um die große, inmitten ihrer Leistungen abgebrochene
Kolonisationsarbeit des Mittelalters, die Eindeutschung des Ostens, weiter¬
zuführen, die russische Gefahr von den Mittelpunkten deutschen Lebens immer
weiter abzubringen.
So weisen uns geographische und politische Lage gleichermaßen dahin,
für unsere kolonialen Bestrebungen künftighin vorwiegend das kontinentale
System zu wählen. Dieser Krieg sollte uns die Gelegenheit dazu bieten. Was
uns im Osten an kolonialen Möglichkeiten zuwächst, bedeutet eine unmittelbare
Verstärkung unserer Kraft, und es führt uns aus der Unnatur unserer ein¬
geschlossenen Lage heraus, die in der wachsenden Verstädterung und in der
ungesunden sozialen Schichtung — auch in jenem Bildungsproletariat — ihren
augenfälligen Ausdruck findet; denn sie bietet klimatisch brauchbare, mit unseren
Wohnsitzen geographisch verbundene, daher durch keine Seemacht lösbare
Siedlungsgebiete.
Die Folgerungen, die man aus der Öffnung des Weges nach Konstantinopel
gezogen hat, bedeuten nichts anderes, als daß man für den Wert von Land¬
verbindungen jetzt erst den richtigen Blick bekommt, während man vorher, von
Englands Vorbild verblendet, die jenem eigene, aber auch von ihm beherrschte
„Hochstraße der See" überschätzte. Schon gehen koloniale Theoretiker soweit,
ein zu Lande erreichbares Kolonialreich vom oberen Nil bis nach dem Westen
Afrikas als Ertrag dieses Krieges für uns auszudenken*). Flete uns diese
Frucht zu, umso besser für uns, denn als Kontinentalvolk sind wir den Eng¬
ländern, die auf die Seeverbindung angewiesen sind, überlegen. Aber ein
solches Reich darf in keiner Weise durch hie Schmälerung unserer Volkskraft
und unserer Ellbogenfreiheit in Europa erkauft werden.
Unsere bisherigen Kolonie in Afrika werden wir wohl beim Friedensschluß
zurückerhalten. Davon aber sollten uns die Erfahrungen des Krieges abgebracht
haben, daß wir sie allein auf die Seeverbindung durch den — morgen wie
heute — englischen Kanal fundieren. Zuviel gutes deutsches Blut ist bei der
Verteidigung jener verlorenen Posten geflossen. Ob wir durch die Beherrschung
des östlichen Mittelmeeres unserem Ziele näher kämen, hängt davon ab, wie
stark wir Englands Weltstellung schwächen können. Von einem geschriebenen
Abkommen über die Freiheit der Meere kann man sich nichts versprechen;
solche Pflanzen vertragen den rauhen Wind des Krieges nicht. Die Londoner
Deklaration wurde in London außer Kraft gesetzt. Und die Kongoakte, hinter
der selbst Bismarck einen Teil unserer Schutzgebiete gesichert glaubte, hat die
erste Kriegswoche nicht überlebt.
n dem Aufsatz „Eduard von Hartmanns Vorschläge zur Wahl¬
reform" (Ur. 24 der „Grenzboten". 1916) hat der Verfasser
Dr. Plotke in dankenswerter Weise darauf hingewiesen, daß wir
Deutschen früher — im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts
— einen Mann besessen haben, der als getreuer Eckart seines Volkes
dreieinhalb Jahrzehnte lang seine mahnende, warnende, belehrende, ratende und
überall anregende Stimme erhob, wo es galt, seinem Volke erstrebenswerte Ziele
zu zeigen, es vor Fehlern und Mißgriffen zu schützen und ihm bis ins einzelne
ausgearbeitete Reformvorschläge zu unterbreiten. E. von Hartmann hat selbst
von den zwei sich in seinem Innern durchkreuzenden Willensrichtungen ge¬
sprochen: seinem Hang zu einsamem Sinnen und Denken und seinem Willen,
für sein Volk zu wirken und zu schaffen. Verdanken wir dem großen Denker
so einerseits seine tiefsinnigen Werke auf allen philosophischen Gebieten, deren
Gehalt erst die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte ganz ausschöpfen
werden, so schulden wir ihm andererseits als Deutsche unseren Dank für seine
zahlreichen Schriften, in denen er eine Fülle politischer, sozialer und sozial¬
ethischer Fragen in klarster Weise behandelt und regelmäßig den Nagel auf den
Kopf getroffen hat.
Außer dem schon vor Dr. Plotke angeführten Werke Hartmanns „Zwei
Jahrzehnte deutscher Politik und die gegenwärtige Weltlage" nenne ich von
der zuletzt erwähnten Gruppe besonders noch die „Tagesfragen" (1896),
„Zur Zeitgeschichte" (1900), „Moderne Probleme" (1886) und „Die sozialen
Kernfragen", deren 2. Auflage in der „Deutschen Bücherei" 1906 in einer
billigen Ausgabe erschienen ist. In dem zuerst angeführten Werke entwickelt
Hartmann (unter Ur. IX Ziff. 1) auch einen Gedanken, dessen Verwirklichung
meiner Ansicht nach ein geradezu dringendes Bedürfnis für die Zeit nach dem
Kriege sein wird: daß nämlich ein deutscher Reichsvolkswirtschaftsrat als ein in
gewissem Sinne berufsständiges Parlament mit den weitesten wirtschaftlichen
Befugnissen neben dem Reichstage geschaffen werden müsse.
In einer Kundgebung der „Freien Vaterländischen Vereinigung" über
„Wirtschaftliche Lage und Volkseinigkeit". die am 13. Mai 1916 im Ab¬
geordnetenhause in Berlin stattfand, sprach außer dem Vorsitzenden Professor
Kahl, Exzellenz Dernburg und dem Verbandssekretär Tischendörfer auch der
Abgeordnete Ökonomierat Dr. Hochab. Dieser führte unter anderem folgendes
aus: wir litten in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem darunter, daß wir — so¬
wohl die Regierung als auch das Volk — uns gegenüber der drohenden Kriegs¬
gefahr nicht genügend gewappnet Hütten. Ferner dürfe es so wie bisher mit
der unzulänglichen Aufklärung des Volkes auf wirtschaftlichem Gebiete nicht
weitergehen. Das heranwachsende Geschlecht müsse in der Schule und später
über die Wirtschaftsfaktoren mehr aufgeklärt werden. Dr. Hochab fährt dann
wörtlich fort: „Unser Volk muß es würdigen lernen, daß nur ein volles gegen¬
seitiges Sichganzverstehen uns für die Zukunft davor sichern kann, daß nicht von
dieser oder jener Zufallsmajorität in einer gesetzgebenden Körperschaft eine Neu¬
ordnung unserer Wirtschaftspolitik geschaffen wird, die uns wiederum derartigen
Gefahren auszusetzen geeignet ist." Das sind beherzigenswerte Worte, die man
gar nicht genug betonen kann.
Wenn aber auch die wirtschaftliche Einsicht des deutschen Volkes im ganzen
allmählich gehoben werden sollte, so werden gerade unmittelbar nach dem Kriege
wirtschaftliche Fragen der schwierigsten Art von Bundesrat und Reichstag
beraten und gesetzgeberisch gelöst werden müssen. Außerdem wird es ein frommer
Wunsch bleiben, daß die wirtschaftliche Aufklärung der breiten Wählermassen
jemals einen solchen Grad erreichen könnte, daß sie befähigt wären, eine sachlich
richtige Entscheidung in den schwierigen Fragen der künftigen deutschen Zoll-
und Handelspolitik, des Schutzzollsystems, der Handelsverträge, des Zoll¬
tarifes usw. zu treffen. Noch viel fraglicher ist es, ob die wirtschaftlich durch»
gebildeten Wähler bei der Wahl mit ihren Stimmen auch durchdringen, und
ob der von ihnen gewählte Abgeordnete selbst wieder über die nötigen volks-
und weit-wirtschaftlichen Kenntnisse verfügt, um jene schwierigen Fragen
unentscheiden zu können.
Dr. Hochab weist darauf hin, daß aus dem Kriegszustand heraus Ver¬
hältnisse entstanden seien, die einfach gar nicht mit der überkommenen Arbeits¬
weise unserer Bureaukratie — Bureaukratie im besten Sinne des Wortes —
gelöst werden konnten. Der Abbau der Kriegswirtschaft, ihre Überführung in
die Friedenswirtschaft und die künftige Gestaltung der deutschen Wirtschafts¬
politik werden aber ähnlich schwierige Probleme aufrollen. Wenn auch in
Zukunft manches supplem nicht so heiß gegessen werden wird, wie sie sämtlich
nach den Beschlüssen der Pariser Wirtschaftskonferenz für uns Deutschen auch nach
dem Kriege gekocht werden sollen, so ist eines doch sicher: die bisher bestehenden
gesetzgebenden Faktoren des Reiches (Bundesrat und Reichstag) können die
Aufgaben, die ihnen künftig auf wirtschaftlichem Gebiete gestellt werden, kaum
allein lösen. Es muß eine dritte Körperschaft ins Leben gerufen werden: ein
deutscher Reichsvolkswirtschaftsrat.
Die zuständigen Reichsbehörden werden nach dem Kriege noch weit mehr
als bisher auf die Mitwirkung sachverständiger Berater bei der Anfertigung
der Entwürfe der Zoll- und Wirtschaftsgesetze angewiesen sein; ich komme später
noch auf die Schöpfung eines sogenannten „Wirtschaftlichen Generalstabes" zu
sprechen. Würden sich nun auch die Reichsbehörden mit einem sachverständigen
Stäbe, mit den sachkundigsten Vertretern der verschiedenen gewerblichen und
wirtschaftlichen Gruppen umgeben und diese bei der Ausarbeitung der wirt-
schaftlichen Gesetzesentwürfe zu Rate ziehen, so würden die noch so gut aus¬
gearbeiteten Entwürfe doch heillos verpfuscht, wenn sie erst im Reichstage hin-
und herberaten, in Kommissionen abgeändert und schließlich im Wege des
Kompromisses, d. h. in völlig veränderter und häufig verkehrter Gestalt an¬
genommen würden.
Schon bei nichtwirtschaftlichen Gesetzen besteht die Gefahr, daß ein
Parlament die bestdurchdachten Entwürfe, wie Hartmann bemerkt, „entweder
ablehnt, oder in Kommissionen begräbt, oder verstümmelt oder verballhornistert".
(Zwei Jahrz. usw. S. 115.) Bet den wirtschaftlichen Gesetzen ist diese Gefahr
noch viel größer. Hartmann weist darauf hin, „wie unsere wirtschaftlichen
gesetzgeberischen Maßregeln durch eine oft völlig sinnwidrige politische Partei¬
taktik, durch den parlamentarischen Schacher mit Konzessionen wirtschaftlicher,
politischer und kirchlicher Art verfälscht und verdorben" werden, ebenso „wie
unsere politischen Parteigegensätze durch die Spezialberatung der wirtschaftlichen
Fragen im Parlament verfälscht und in heillose Verwirrung gebracht" worden
sind. Die politischen Parlamente seien schon wegen der mangelhaften Vor¬
bildung der Mehrzahl ihrer Vertreter zur Einzelberatung wirtschaftlicher Fragen
unfähig; dazu träfen sie die wichtigsten Entscheidungen über wirtschaftliche
Fragen „nicht einmal nach ihrer unzulänglichen wirtschaftlichen Einsicht, sondern
nach politischen Parteirücksichten, die mit den wirtschaftlichen Fragen gar nichts
zu tun" hätten. Dies sei um so schlimmer, weil die Entscheidung über jene
Fragen in die Hände von Leuten gelegt sei, die, trotzdem die Mehrzahl nicht
die für den Gegenstand erforderliche Vorbildung besitze, nichtsdestoweniger
berufsmäßig gewöhnt seien, über das, was sie nicht oder unvollkommen ver¬
stünden, sich „mit formeller Gewandtheit so auszulassen, als ob ihr Urteil wohl
informiert und unfehlbar" wäre. Ganz anders wäre es, wenn man die Einzel¬
beratung wirtschaftlicher Fragen einer sa Koa zusammengesetzten Körperschaft
anvertraue, die sich teils aus Männern zusammensetzt, die das Studium des
Gegenstandes zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben (Volkswirtschaftlern, Finanz¬
leuten usw.), teils aus auserlesenen Vertretern aller wirtschaftlichen Gruppen.
Die ersten, die als persönlich uninteressiert die Gewähr böten, daß sie nur das
Wohl und Heil der Gesamtheit im Auge hätten, müßten von der Regierung
berufen, die anderen von den Organisationen der Wirtschaftsgruppen gewählt
werden. Dem Reichstag dagegen könne sehr wohl der ihm zustehende Einfluß
gewahrt werden, wenn ihm die aus dem Volkswirtschaftsrat hervorgegangenen
Gesetzesvorlagen und Handelsverträge mit fremden Staaten nur zur Annahme
oder Ablehnung, jedoch unter Ausschluß jeder Änderung vorgelegt würden
(a. a. O. S. 128 bis 131).
Wenn z. Zt., als Hartmann diesen seinen Vorschlag begründete, noch nicht
sämtliche wirtschaftlichen Gruppen über die notwendigen Organisationen und
Vertretungen verfügten, die zur Bildung eines Volkswirtschaftsrates erforderlich
sind, fo verhält sich dies heute wesentlich anders. Es bestehen heute außer
den Handels-, die Landwirtschafts', Handwerks- und Gewerbekammern, die ihre
Vertreter wieder in den deutschen Handelstag, Landwirtschaftsrat, Handwerks¬
und Gewerbekammertag entsenden können. Ebenso müßte zur Vertretung der
Interessen des eigentlichen Arbeiterstandes, soweit er nicht schon eine solche in
den heutigen Handwerks- und Gewerbekammern besitzt, eine einheitliche Orga¬
nisation geschaffen werden. Das Nächstliegende wäre, daß man an die bestehenden
Gewerkschaften anknüpfte. Der Reichstagsabgeordnete Legten hat aber jüngst
dem Reichskanzler gegenüber dessen Frage, ob man nicht eine einheitliche
Arbeiterorganisation durch die Begründung eines Kartells aller Gewerkschaften
schaffen könne, eher verneint als bejaht. Wäre hiermit das letzte Wort in
dieser Frage gesprochen, so würde man eine solche einheitliche Organisation zur
Geltendmachung der rein wirtschaftlichen Interessen des Arbeiterstandes künstlich
neu bilden müssen, aber auch ohne große Schwierigkeiten ins Leben rufen
können. Von allen diesen Vertretungen müßten die Vertreter der einzelnen
Wirtschaftsgruppen in den Reichsvolkswirtschaftsrat gewählt werden. In welcher
Weise und in welcher Zahl die von der Regierung berufenen Mitglieder aus¬
gewählt würden, könnte und müßte gesetzlich näher festgelegt werden.
Ob uns nach diesem Kriege ein lange dauernder Friede beschieden sein
wird, hängt davon ab, inwieweit wir England (und Rußland) dieses Mal
niederringen; ferner davon, ob England jemals wieder eine ähnliche Koalition
gegen uns zusammenbringt wie 1914; vor allem davon, wie sich künftighin die
politischen Verhältnisse gestalten, und es unserer Diplomatie gelingt, kriegerischen
Verwicklungen durch zielbewußte und kraftvolle Führung unserer Auslandspolitik
vorzubeugen. Immerhin müssen wir damit rechnen, daß in absehbarer Zeit
nochmals ein schwerer Krieg entbrennen könne, der erst die endgültige Ent¬
scheidung darüber bringen wird, ob wir uns von England unseren Anteil an
der Weltwirtschaft und unseren Platz im Leben der Völker verkümmern lassen
müssen. Damit wir aber wirtschaftlich gegen einen künftigen Krieg besser
gerüstet sind als bisher, muß die zweckmäßige Durchführung der Kriegswirtschaft
schon im Frieden vorbereitet werden. Deshalb müssen die Abteilungen des
Preußischen Kriegsministeriums weiter ausgebaut werden, die die Feststellung
des Bedarfes und die Erzeugung der industriellen Rohstoffe und Lebens- und
Futtermittel sowie ihre Zuführung zum Heere und zu dessen Teilen bearbeiten.
Ferner müßte das jetzt im Krieg geschaffene Kriegsernährungsamt zu einem
Reichswirtschaftsamt ausgebaut werden, das die gleichen Aufgaben für die
Versorgung der bürgerlichen Bevölkerung übernimmt. (Ob man diese Behörde
zu einem selbständigen Reichsamt macht oder an das Neichsamt des Innern
angliedert, ist eine mehr untergeordnete Frage.) Das Reichswirtschaftsamt,
das im Kriegsfall gleichzeitig zu einem durch Vertreter anderer Reichs¬
behörden verstärkten Reichskriegsamt werden könnte, hätte auch alle die Ob¬
liegenheiten zu erfüllen, die zurzeit der beim Reichsamt des Innern als Beirat
bestehende „Wirtschaftliche Ausschuß" erfüllen soll, und die nach den Anträgen
der Handelskammern Elberfeld und Barmer sowie des Geh. Justizrath Professors
Dr. Rießer und des Kommerzienrath Leonhardt in Dresden ein ins Leben zu
rufender „Wirtschaftlicher Generalstab" zu erledigen hätte: nämlich den Abbau
der kriegswirtschaftlichen Einrichtungen nach eingetretenem Frieden einschließlich
der Vorschläge für die dringend notwendige Nachkriegsgesetzgebung, die
Einstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf den Krieg, die Kriegsbereitschaft
und Mobilmachung der Volkswirtschaft, also ihre Umschattung in und ihre
Anpassung an den Krieg (Kriegssozialismus, Ausfuhrverbote, Regelung des
Arbeitsmarktes, des Kredit- und Verkehrswesens, Rohstoffverteilung und -Ersatz
und dergleichen), besonders die Regelung der Erzeugung, Aufstapelung und
sachgemäßen, gerechten Verteilung der Lebens- und Futtermittel und anderer
Verbrauchsgegenstände im Kriege; im Frieden aber die organische Vorbereitung
aller für den Krieg in Betracht kommenden wirtschaftlichen, finanziellen, ver¬
kehrstechnischen, sozialrechtlichen und juristischen Maßregeln. Die genannten
Antragsteller denken an eine beim Preußischen Kriegsministerium oder beim
Reichsamt des Innern einzurichtende Abteilung oder auch an ein selbständiges
Reichsamt, das neben den Vertretern der Behörden auch sitz- und stimm¬
berechtigte Vertreter der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels, der Schiff¬
fahrt, der Handwerker und Arbeiter, kurz: aller gewerblichen Kreise als Sach¬
verständige enthalten soll (vergleiche Monatsschrift der Handelskammer Düsseldorf,
Mai-Nummer 1916).
Würde nun ein Reichsoolkswirtschastsrat geschaffen und würden, wie oben
angedeutet, jene Behörden ins Leben gerufen oder weiter ausgebaut, so könnte
das Preußische Kriegsministerium dem Kreise des Volkswirtschaftsrates stets
leicht die sachkundigen Männer entnehmen, deren es als Berater bei den in
Betracht kommenden wirtschaftlich-kaufmännischen Fragen bedarf. Ebenso könnte
der Volkswirtschaftsrat aus seiner Mitte einen Ausschutz wählen, der im Frieden
bei dem Neichswirtschaftsamt beratende Stimme hätte. Eine beschließende
Stimme wäre wohl nicht nötig, da dem Volkswirtschaftsrat selbst ja noch die
Beschlußfassung über alle wirtschaftlichen Fragen verbliebe. Im Kriege dagegen,
wo sich der gesamte Volkswirtschaftsrat wohl nicht häufiger versammeln würde
wie auch der Reichstag, könnte jener Ausschuß bei dem Kriegswirtschaftsamt
auch beschließende Stimmen erhalten, und außerdem bei diesem noch ein weiterer
Ausschuß mit beratender Stimme gebildet werden, dem auch die Vorstände der
Kriegsgesellschaften usw. und die Vertretungen der Verbraucher angehören
würden.
Es ist naturgemäß, daß wir jetzt infolge des Krieges die wirtschaftlichen
Einrichtungen für einen künftigen Kriegsfall schaffen wollen, die wir in diesem
Kriege fast aus dem Boden stampfen mußten*). Man darf aber nicht verkennen,
daß der Krieg im Laufe der menschheitlicher Entwicklung allmählich ein Ausnahme¬
zustand geworden ist, während er früher die Regel bildete. Deshalb muß man
annehmen, daß die weitere Entwicklung dahin drängt, ihn jedenfalls immer
seltener werden zu lassen. Daher müssen wir zunächst die Einrichtungen treffen,
die im Frieden notwendig sind; wenn möglich freilich solche, aus denen in leichter
Weise, fast selbsttätig und automatisch, die für den Krieg erforderlichen Orga¬
nisationen gebildet werden können. Durch die Einführung eines Volkswirtschafts¬
rates würde aber nicht nur unser politisches und unser Parteileben von einer
Verquickung mit den wirtschaftlichen Interessen erlöst, sondern auch eine Körperschaft
ins Leben gerufen, die jederzeit einen Stab sachkundigster und zum Teil auch
persönlich uninteressierter Berater den im Kriege zu bildenden Organisationen zur
Verfügung stellen könnte.
An den Bundesstaaten (dem Bundesrat) und dem Reichstage liegt es, der
Schöpfung eines Volkswirtschafsrates sofort beim Friedensschluß oder noch vorher
näher zu treten. Schon Bismarck hat den Plan erwogen, einen Volkswirtschaftsrat
zu schaffen, ihn aber vor dem Widerstand des Reichstages wieder fallen lassen.
Jetzt, nachdem uns der Krieg ein so harter Lehrmeister in vielen Beziehungen,
besonders auch auf wirtschaftlichem Gebiete, gewesen ist, darf man hoffen, daß
die Geister empfänglicher für jenen Gedanken geworden sind.
Der Friedensschluß wird uns an einen der wichtigsten Wendepunkte der
deutschen Geschichte führen. Man sollte es dann aber auch angezeigt finden,
an die Umgestaltung unserer innerpolitischen Verhältnisse heranzutreten, soweit
diese eine dringende Notwendigkeit ist. Deshalb darf man die Hoffnung hegen,
daß auch der Reichstag, wenn nur der Bundesrat und der Reichskanzler demnächst
kräftig die Initiative zur Einführung eines Volkwirtschaftsrates ergreifen, diese
Schöpfung willkommen heißen und ihr in hoher Selbstbescheidung seine Zustimmung
nicht versagen wird.
eit längerer Zeit beschäftigt die Frage: Wird der Orientale
„Europäer" werden? manchen führenden Kopf im Orient. An¬
gesichts der Isolierung der islamischen Türkei dem christlichen
Europa gegenüber während der vergangenen Jahrhunderte und
der vielen Kriege, die auf türkischem Boden ausgetragen wurden,
deren Endergebnis eine unaufhaltsame Verdrängung der Türkei vom europäischen
Kontinent war, mußte jene Frage in den Vordergrund treten. Man empfand
Europa in weiten Kreisen der Türkei als eine von Zivilisation, Kultur, Kunst
und Wissenschaft durchtränkte Einheit dem verlotterten Wirtschafts- und Staats¬
leben der alten Türkei gegenüber, und um den anderen Nationen politisch
gleichberechtigt zur Seite treten zu können, sah man das Heil in einer möglichst
weitgehenden wirtschaftlichen und kulturellen Annäherung an Europa, ja in
einer Verschmelzung mit den Völkern, die man „die europäische Kulturgemein¬
schaft" zu nennen pflegte. Diese Ansicht, die noch jetzt einen großen Teil der
führenden Männer beherrscht, schien früher noch dadurch gerechtfertigt zu werden,
daß der Beginn eines jeden Krieges gegen die Türkei mit wirtschaftlichen und
kulturell-sozialen Mängeln begründet wurde, deren Abhilfe die anderen Mächte
von der Türkei kategorisch forderten. Diesen Anlaß zu allen Kriegen schien man
nun durch Europäisierung des Volkes beseitigen zu können, um dann einer fried¬
lichen Entwicklung entgegen zu gehen. Man vergaß aber, daß diese von den
Mächten verlangten wirtschaftlichen und sozialen Reformen nur den Anlaß zu
den Amputationen gaben, die Europa während des neunzehnten Jahrhunderts
so sehr in Anspruch genommen haben. Hinter jenen Anlässen steckten Ursachen
ganz anderer Art: Wünsche, deren Erfüllung man nicht auf dem Wege der
„Europäisierung" erreichen konnte. Der Seeweg über Konstantinopel und
der Landweg über Bagdad waren für Nutzland und England gewiß weit
stärkere Bedürfnisse als jene stets an die Spitze der Politik gestellten Reform¬
bestrebungen. —
Es ist kein Zweifel, daß die Teilnahme an der europäischen Kultur eine der
Vorbedingungen für eine zukünftige kraftvolle wirtschaftliche und politische Ent¬
faltung des Osmanenreiches ist. Es gibt jetzt keinen vernünftigen Menschen
an leitender Stelle in der Türkei, der nicht von dieser Binsenwahrheit
wirklich überzeugt ist. Die sogenannte „nationale Partei" warnt aber davor,
so in den Apfel der Weisheit zu beißen, daß der sichere Tod die Folge wäre.
Assimilation kann unmöglich fortschrittliche Entwicklung bedeuten, die Verleug¬
nung seiner Eigenart und das Aufgehen in anderen Völkern kann nicht das
Ideal eines Volkes sein. Gerade der Ausbau der Eigenart des Landes und Volkes,
seiner Kultur und Wirtschaft ist die Grundbedingung dafür, daß die Türkei in
ein wirtschaftliches und kulturelles Austauschverhältnis mit Europa treten kann.
Lediglich zur Entfaltung seiner selbst ist es für die Türkei unumgänglich
nötig, dasjenige für sich zu verwerten, was Europa in einem jahrhundertelangen
Streben, Sinnen und Trachten im Dienst der allgemeinen Entwicklung der
Nationen geschaffen hat. Trotz seines hohen Alters ist der nahe Osten ein
„neues Land", das erstaunlich reich an natürlichen und unerforschten Hilfs¬
quellen ist. Im Wirtschaftsleben fühlt man es überall, daß man die Schätze,
die der eigene Boden birgt, unmöglich ohne Zuhilfenahme der Errungenschaften
der modernen Technik, die gerade auf dem Gebiete der Rohstoffgewinnung in
Europa einen Triumph nach dem anderen feiert, wird heben können. Nur
die Kräfte, die das Hirn des Menschen und sein physischer Fleiß hervorgebracht
haben, können jene in der Natur und im Boden schlummernden Kräfte in
Bewegung setzen. Wer weiß jetzt nicht, wieviel Eisenbahn- und Bewässerungs¬
bauten die Türkei fremder Initiative und fremden Machtmitteln verdankt, deren
Ausgestaltung nicht einmal die Macht des Krieges zu hemmen vermochte.
Hunderte von Eisenbahn- und Straßenkilometern werden mit vereinter türkisch¬
deutscher Kraft auch während des Krieges durch das Land gezogen. Jetzt
strategischen Zwecken dienend, werden sie doch bald dem friedlichen Erwerbs¬
leben übergeben werden und jene Umwandlung tatkräftig unterstützen, die man
auf allen Gebieten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sich vollziehen sieht.
Es ist falsch, zu glauben, daß nur auf militärischem Gebiete eine Verjüngung
eingetreten ist. Die Türkei befindet sich auch mitten im furchtbarsten blutigen
Ringen in einem gewaltigen Erneuerungsprozeß, in keinem künstlich erzeugten
Prozeß, sondern in einer Zeit natürlicher Wiedergeburt, in der mau die not¬
wendigen tiefeinschneidender Einflüsse des Westens auf allen Gebieten deutlich
erkennt. Alte Häuser werden in allen größeren Städten niedergerissen, um
gesündere und schönere Straßen zu schaffen. Allerlei öffentliche städtische Anlagen
werden geplant und zum Teil ausgeführt. Probleme der Erziehung und Bildung
tauchen auf. In den Zeitungen und Zeitschriften werden die Gründe des geistigen
Tiefstandes erörtert und Pläne für die Fortentwicklung der nationalen Kraft,
für die Bevölkerungsvermehrung, die Verhütung der Kindersterblichkeit usw.
entworfen. Die öffentliche Meinung hat in der Türkei im Hinblick auf die
große Zahl der Analphabeten einen unglaublichen Aufschwung genommen und
den konstitutionellen Einrichtungen wird überall das größte Verständnis ent¬
gegengebracht.
Dieser Drang nach vorwärts wird nicht mehr aufzuhalten sein. Trotz
aller Verwicklungen äußerer und innerer Natur wird er mit aller Macht, von
politischen Zufälligkeiten unabhängig, weiter wirken.
Wenn es gewiß auch richtig ist, daß der Orient für den deutschen Handel
noch keineswegs als ein Kompensationsobjekt für den Verlust überseeischer In¬
teressen gelten kann, so ist doch der zahlenmäßige Beweis aus der Vergangenheit
für die Zukunft der wirtschaftlichen Beziehungen angesichts des in einer völligen
Umwälzung begriffenen Orients nicht überzeugend. Hier wirken Unterströmungen
mit, die menschlichem Maß entgehen, die man aber mitfühlen und miterleben
kann. Schon vor Beginn des Krieges haben auch die Amerikaner diesen
Wandlungen des Orients volle Aufmerksamkeit geschenkt und machten die
größten Anstrengungen, ihre wirtschaftlichen Interessen auf diese Voraussetzungen
zu gründen. „Die Länder des Orients gehen einer Zeit wirtschaftlicher Ent-
faltung entgegen, die einen völligen Umschwung bedeutet und den Orientalen
einen angesehenen Platz unter den Handelsvölkern der Welt erobern wird",
schrieb der amerikanische Generalkonsul in Konstantinopel an den Chef des
amerikanischen Konsulardienstes. „Hier sind neue Märkte, Märkte von großer
Entwicklungsfähigkeit, die aufmerksame Beachtung verdienen. Diese Märkte
stehen im innigsten Zusammenhang mit dem Wohle von taufenden amerikani¬
schen Arbeitern, Fabrikanten, Kaufleuten und Reedern." Und so ist es. —
Nun wird trotz dieses gewaltigen Entwicklungsganges und trotz der Ver¬
quickung des Orients mit dem Okzident, die sich auf allen Gebieten vollzieht,
die Eigenart des Orients und des Orientalen die unbedingte Grundlage zu all
dem bieten, was an Kräften des materiellen Wirtschaftslebens entbunden werden
wird. Jene noch immer nicht gründlich genug erforschten Eigentümlichkeiten
der orientalischen Wirtschaftsbedingungen, werden sich mit Naturnotwendigkeit
Berücksichtigung erzwingen. Es wäre bedauerlich, wollte man sich der Er¬
kenntnis dieser Tatsache verschließen, die sich jedenfalls bei Nichtbeachtung
unter großen Verlusten für das private und nationale Wirtschaftsvermögen
der mit dem Orient in Berührung gelangten Völker, durchsetzen wird. Die
der Natur des Orients und des Orientalen innewohnenden Kräfte aller Art,
die teils auf Rassenanlagen, teils auf durch Jahrhunderte vererbten, zu Fleisch
und Blut gewordenen geschichtlichen Überlieferungen beruhen, müssen in all
ihren Einzelheiten intensiv erforscht und ergründet werden. Die hierauf auf¬
zubauende Wirtschaftsform wird sich dann nicht schwer finden lassen.
Gewiß macht das kulturelle Leben einer Nation noch weit größere An¬
sprüche auf Beachtung ihres Seins und Werdens. Es ist auch selbstverständ¬
lich, daß keine noch so gewaltige technische und soziale Umwälzung die türkische
Nation zwingen wird etwas aufzugeben, was wirklich Kultur und wahrhaft
ihre Kultur ist, genau wie keine Kultur auf Erden je die Absicht haben kann,
eine andere ebenso wahre und in ihrem Rahmen ebenso leistungsfähige Kultur
zu vernichten. Nicht das Beste der französischen Kultur ist von den Paris be¬
suchenden Türken nach Hause mitgenommen worden, und was an Gutem
herüberkam, blieb den in einer ganz anderen Weltanschauung lebenden Türken
stets fremd. Es fehlten die verwurzelnden Anpassungsmomente, die nur einer
selbstlosen liebevollen Hingabe eigen sind. Denn nur jene aufbauenden Kräfte
sind wahrhaft neugestaltend!
Deutschland, das und verhältnismäßig junger Kraft in die Schranken des
Orients getreten ist, hat sein Bestreben in unzweideutiger Weise umgrenzt, so¬
wohl in politischer, als auch in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung. Wie
es die alten Kräfte der osmanischen Armee waren, die durch deutsche Lehr¬
meister zu jenen Leistungen erzogen worden sind, die in Deutschland gewiß
niemals überschätzt wurden, aber auch bei den Feinden des Kalifenreichs nun
lange nicht mehr unterschätzt werden, so wird auf osmanischen Boden osmanische
Manneskraft zu wirtschaftlicher Beendigung erzogen werden, die den Güter¬
austausch beider Nationen zugute kommen wird. So wird auch deutscher
Forschertrieb jene alten Kulturschütze des Orients emporziehen, sie verstehen
lernen, ihren wahren Kern herausschälen, um ihn mit den allgemeinen modernen
.Geisteswissenschaften zu einer Masse zusammenzutreten, die wir dann als eine
neue vorderasiatische Kultur erblühen sehen werden.
Wie auf wirtschaftlichem, so auch auf geistigem Gebiete kann die anderen
europäischen Völkern so verhängnisvoll gewordene Parole: „Für den Export
nach dem Orient ist alles noch gut genug" nicht energisch genug bekämpft
werden. Im Gegenteil nur das Waschechte, das Beste im Deutschtum schicke
sich an die Arbeit im Orient. Die Türkei darf für das Deutschtum (besonders
das kulturelle) kein jedermann offenstehendes Tätigkeitsgebiet sein. Eine um¬
fassende Organisation muß dafür bürgen, daß eine genügende Auswahl und
Auslese der entsandten Kulturpioniere getroffen wird. Man darf den „Balkan¬
zug" nicht lediglich mit einer Fahrkarte versehen besteigen. Jeder, der die
Wege des Orients kennt, weiß, daß durch falsche Schritte aufgewirbelter Staub
allen Nachkommenden in die Augen fliegt.
Der wirtschaftliche Kampf wird im Orient erst wenn die Waffen ruhen zu
Heller Flamme auflodern. Nichts kann mehr schaden als die Ansicht, daß die
feindlichen Mächte der Türkei nach den Erfahrungen dieses Krieges ihre Hände
vom Orient lassen werden. Eher wird das Gegenteil der Fall sein. Sie
werden, nachdem sie nun eingesehen haben, daß die Türkei politisch und
militärisch keine quantitö neZIlMable ist, ihre Anstrengungen verdoppeln, um
wenigstens ihr verlorenes Prestige daselbst wieder zu heben. Für Deutschland
gilt es nun einerseits diesem Kampfe zu begegnen, andererseits aber das Ver¬
trauen eines in seinen europäischen Freunden so oft enttäuschten Volkes zu ge¬
winnen, ein Volk, dessen Charaktereigenschaften keineswegs wirtschaftshemmend,
dessen Religion niemals kulturfeindlich war zu einem Wirtschafts- und Kultur¬
bündnis mit dem Deutschen Reiche erst vorzubereiten; ihm Güter zu verleihen,
die die türkische Nation zu einem gleichberechtigten Faktor in die Wirt¬
schaftsgruppe erheben, die sich von der Nordsee bis zum persischen Golf er¬
strecken wird. Gerade als Mitglied eines größeren Wirtschaftskreises muß die
Türkei danach streben, auf der Grundlage der ihr von der Natur verliehenen
Wirtschaftsbedingungen groß zu werden, alle ihre Eigentümlichkeiten auszubauen
In ihrem Rahmen und in ihrer Eigenart muß sie leistungsfähig werden. Daß
im Eifer des Wiederaufbaues über das Matz der nationalen Ziele und Zwecke
hinausgegriffen werden wird, ist wohl psychologisch zu verstehen, doch hat man
allen Grund anzunehmen, daß die praktische Wirklichkeit solche Bestrebungen
sehr bald in den Umkreis des wahrhaft Nützlichen und praktisch Ausführbaren
zurückführen wird. Das heißt aber: der Orient kann und wird europäisiert
werden, ohne jemals Europa zu werden.
urch den Weltkrieg hat die deutsche idealistische Philosophie in
der Literatur eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Insbesondere
hat Fichte neue Verkündiger gefunden. Eine Schrift von Ottmar
Dietrich „Neue Reden an die deutsche Nation" (Leipzig, Quelle
u. Meyer, Preis 2 Mary will schon im Titel andeuten, daß der
Verfasser gern der Fichte unserer Zeit sein möchte. Ob mit Glück, mag der
Erfolg lehren. An philosophischer Tiefe und radikalen Ernst kommt das Buch
den alten „Reden" nicht gleich. Dafür liest es sich leicht, viel leichter als
Fichte, der sich zum Schaden seiner propagandistischen Wirksamkeit auf populäre
Sprache nicht gut verstand. Im übrigen geht Dietrich weniger auf Fichtes
als vielmehr auf Hegels Spuren; er beruft sich auch an entscheidender
Stelle (S. 36) auf Hegel. Denn folgendermaßen ist seine Geschichtsphilosophie:
Die Urzeit des deutschen Volkes wird beherrscht von der Idee des In¬
dividualismus. Stämme, Völkerschaften, Einzelne stehen sich chaotisch gegenüber
im Kampf aller gegen alle. Dagegen erhebt sich im fränkischen und deutschen
Reich, im römischen Kaisertum und Papsttum die Idee des Universalismus
und sucht alle Individualitäten zu unterdrücken. Diese wehren sich dagegen,
und schon droht gegen Ausgang des Mittelalters alles wieder in ein indivi¬
dualistisches Chaos zu versinken: da erhebt sich als Synthese die Idee des
Personalismus. Mit einer „List" wird sie in den individualistischen Be¬
strebungen selber wirksam. Diese werden ihnen selbst unbewußt höheren Zwecken
untergeordnet. Dabei dauern die Individualitäten an sich selbständig fort.
Denn der Grundsatz des Personalismus lautet: „Alle für einen und einer für
alle, und doch jeder ganz er selbst."
Diese Konstruktion gewinnt aus der wirklichen Entwicklung der gesamt¬
psychischen Zustände unseres Volkes in der Neuzeit, soweit wir uns von dieser
ein Bild machen können, einen Schein des Rechts. Es hat wirklich eine Ab¬
änderung des Jndividualgefühls z. B. in unserer Staatsanschauung gegenüber
der des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts stattgefunden. Darum spricht
z. B. Lamprecht von der Umwandlung des individualistischen Zeitalters in ein
subjektivistisches. Aber Dietrich geht derartigen psychologischen Wandlungen der
deutschen Geschichte keineswegs nach; er konstruiert einfach nach dem rein
apriorischen Jdeenschema: Individualismus — Universalismus — Personalismus.
Und die Anwendung dieses Schemas macht er sich nicht schwer. Was dem
Fortschritt der Zeiten dient oder was dem Verfasser sympathisch ist, gehört
dem personalistischen Prinzip an: z. B. die Tätigkeit Luthers, Friedrichs des
Großen und der Männer der preußischen Neformzeit; was hemmend wirkt,
sind individualistische Mächte: z. B. die alte römische Kirche, die landständischen
Bestrebungen,' später auch der Absolutismus und Napoleon. Himmelweit unter¬
schiedene Tendenzen finden wir so auf einer Partei! Ähnlich wird die Situation
des Weltkrieges charakterisiert. Er ist ein Kampf zwischen personalistischen und
individualistischen Mächten. Personalistische Politik treiben wir und unsere
Verbündeten, individualistische Grundsätze beherrschen England und überhaupt
unsere Feinde. Da muß man denn doch sagen, daß so gleichartig die Jdeen-
verfassung dieses .Krieges weder auf dieser noch auf jener Seite ist, und daß
so simpel weltgeschichtliche geistige Strebungen sich nicht in zwei Begriffe
fassen lassen.
Wenn man die deutsche idealistische Philosophie, mag es nun Fichte oder
Hegel sein, für unsere Zeit fruchtbar machen will, so muß man die spekulativen
Geschichtskonstruktionen dabei von vornherein ausschalten. Fichte und noch
mehr Hegel haben gemeint, die Wege der Vorsehung ergründen zu können.
Sie haben mit der Fackel der rationalen Erkenntnis hinter die metaphysische
Wesenheit der Menschengeschichte leuchten wollen. Es hat sich aber heraus¬
gestellt, daß diese Fackel nur eine trügerische Konstruktion erleuchtet. So hoch
wir Fichte und Hegel stellen wollen: an dem einen geistesgeschichtlichen Ergebnis
läßt sich nichts abmarkten, daß der idealistische Rationalismus nicht hinter den
Sinn der historischen Entwicklung gekommen ist. Groß ist gewiß die Lehre
Fichtes von der Entwicklung der Menschheit zum wahren Sein, das ihr auf
der Grundlage sittlicher Autonomie Erlösung vom Zwange der Natur erwirkt,
und nicht minder groß die Konstruktion Hegels, nach der die Weltgeschichte
die Entfaltung Gottes in einem dialektischen Prozeß darstellt. Aber ergründet
ist das Absolute damit nicht. Für uns gibt es nur eine empirische Geschichte,
und wo wir mit Ranke in ihr leitende Ideen feststellen wollen, müssen sich
diese aus dem empirischen Befund ergeben. Ob diesen Ideen metaphysische
Bedeutung zukommt, können wir nicht wissen. Hier beginnt das Gebiet
unseres Glaubens. Daß die spekulative Vernunft nicht das Wesen der Ge-
schichte erklären kann, ist gerade ein sehr wichtiges, zwar negatives, aber
darum nicht minder wertvolles Ergebnis der überaus gründlichen Arbeit, die
der deutsche Idealismus geleistet hat. Es ist die erkenntnistheoretische Grund¬
lage für das logische Recht alles Glaubens in Weltanschauungsfragen. Das
alte Wort: „Eure Wege sind nicht meine Wege, und meine Gedanken sind
höher denn eure Gedanken", hat weder Fichte noch Hegel umgestürzt. Auch
Dietrich wird es nicht widerlegen! „Nie mische sich das .liebe Ich' indivi¬
dualistisch in die Erkenntnis ein", verlangt Dietrich (Seite 208) von der
Philosophie der Zukunft. Aber gerade dieser verpönte Individualismus muß
aller wahren menschlichen Erkenntnis eigen sein. Menschen müssen die Welt
mit Menschenaugen ansehen. Je mehr wir uns bewußt werden, daß unsere
Erkenntnis die Farbe der Jndividulität der menschlichen Gattung trägt, um so
wahrhaftiger sind wir vor Gott und unserem logischen Gewissen. Was wissen
wir denn davon, wie etwa der Bewohner eines Siriusplaneten die Welt an¬
schauen mag? Und was wissen wir erst recht von der Logik Gottes in Natur
und Geschichte? Es ist eine große Sache um den Glauben, daß Gottes
Weisheit auch durch unseres Geschlechtes verworrene Geschichte geht. Aber
eben im Namen der Wahrheit und des Rechtes dieses Glaubens müssen wir
Versuche ablehnen, die diese Weisheit mit unserer Vernunfterkenntnis ergründen
wollen, auch wenn große Männer wie Fichte oder Hegel diese Versuche mit
ihren Namen decken, oder wenn sie, wie der von Dietrich, gut gemeint sind.
Bezeichnend ist, daß unser Neuhegelianer über Nietzsche fortgesetzt abschätzig
urteilt. Nietzsche hatte Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Universums, aber
für diese wahrhaft fromme Demut des angeblich hochmütigen „Individualisten"
hat Dietrich anscheinend kein Verständnis.
Das Programm, das Dietrich nun auf seiner eben kurz kritisierten Ge¬
schichtsphilosophie aufbaut, klingt ganz annehmbar. Es lautet: „Persönlichkeit
«is Massenerscheinung". „Personalismus ist eine Idee, die sich in endloser
Arbeit immer wieder in der Welt durchzusetzen sucht, ein Ewiges, das so hinein¬
ragt in diese Welt der Zeitlichkeit; Persönlichkeit ist eine jeweilige Teil¬
verwirklichung dieser Idee, ein Tropfen je im Meer der Ewigkeit. Das aber
dies Meer nicht wäre ohne diesen Tropfen!" (Seite 137 f). Persönlichkeit
ist aber niemals Mittel zum Zweck, sondern vielmehr Zweck der ganzen Mensch¬
heitsentwicklung. Die zukünftige Menschheit wird ein organisches Gebilde
tausendfältig wirkender Persönlichkeiten sein. Die Staaten sollen als Gesamt¬
persönlichkeiten fungieren, und die Massen der Individuen sollen zu lauter
Einzelpersönlichkeiten im hohen ethischen Sinne des Wortes erzogen werden.
Das würde bedeuten, daß alle Beziehungen der auswärtigen und inneren
Politik ebenso wie die der einzelnen zueinander und zu den Staaten und
Gemeinden nach sittlichen Gesetzen zu regeln wären. Um die Verwirklichung
dieses Kulturgrundsatzes in der äußeren Politik wird nach Dietrich der gegen¬
wärtige Krieg geführt. Seine Durchführung in der inneren Politik sowie in
unseren Beziehungen zu Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei wird
die Hauptaufgabe unserer zukünftigen Friedensarbeit sein. Diesen Zweck muß
darum auch unsere Volkserziehung immer mehr in den Mittelpunkt ihrer
Arbeit stellen. Die Erziehung hat speziell hinzuwirken auf Reinhaltung des
Geschlechtslebens und unbedingte Heiligung der Ehe, auf wachsende soziale
Gleichachtung aller Berufe und auf zweckentsprechende Fortbildung unseres ge¬
samten Schulwesens, wozu Dietrich den „Sachverständigen" die positiven Vor¬
schläge überlassen will.
In diesem Programm spricht der gute Wille eines edlen Menschen zu uns,
der an sein Volk und an die Größe der Zeit glaubt. Es werden nicht alle
Blütenträume reifen. Der Staatsmann wird auch nach dem Kriege zunächst
noch besser tun, nach diplomatischen statt nach ethische» Grundsätzen zu verfahren,
und wird vorurteilslos mit den vorhandenen Mächten und Kräften rechnen
müssen, gleichviel ob sie gut oder schlecht sind. Auch die Parteipolitik wird
mit der alten Leidenschaft einsetzen, und das Privatleben der Menschen wird
seine Flecke behalten. Der wirkende Mensch darf eben die Berührung mit dem
sündhaften nicht scheuen. Darum wird aber auch das Erlösungsbedürfnis der
Menschen das alte bleiben, und deshalb werden die objektiven Mächte der
Religion eine größere Bedeutung behalten, als der optimistische Hegelianer in
seinem Buche erkennen läßt. Ich glaube gern mit Dietrich an eine bessere
Zukunft der menschlichen Gattung und an ein Wachstum der Bedeutung der
ethischen Persönlichkeit in dieser Welt. Aber wie ich die metaphysische Herrscher-
stellung der Idee des „Personalismus" über die empirische Geschichte in dieser
leider nicht mit ihm zu erkennen vermag, so bin ich auch der Meinung, daß
dieser Krieg weder Lüge noch Gewalttat, weder Interessenpolitik noch Herden»
gesinnung überwinden wird. Sowohl mit Bosheit wie mit typischer Massen-
haftigkeit aller Art wird die Persönlichkeit nach wie vor ringen müssen, ja sie
wird sogar auch in Zukunft noch manchmal unterliegen. Darum schreibe ich
dem Zwang der geistigen Kollektivmächte, also der Kirchen und sonstigen Welt¬
anschauungsvereinigungen, die einen brauchbaren Typus pflegen und erhalten,
größere und auch segensreichere Bedeutung zu als Dietrich, der dies fast zu
übersehen scheint.
Man kann zufrieden sein, wenn unser Volk aus diesem Kriege das eine
in Fichteschen Geiste erkennen und glauben lernt, daß es überhaupt einen
weltgeschichtlichen Beruf hat; daß es, wenn ihm der Sieg geschenkt wird,
entschlossen ist, durch Arbeit an seiner inneren und äußeren Tüchtigkeit und am
Fortschritt seiner Bundesgenossen, den Sieg an jedem Friedenstag neu zu
erwerben. Weltgeltung soll unser Volk bekommen und einen Kultnreinfluß. der
nicht in Äonen untergeht. „Persönlichkeit als Massenerscheinung" ist ein noch
zu fernes Ziel!
inmer noch finden sich in Tageszeitungen irrtümliche Ausführungen
über Ursprung und Sinn des ominösen Wortes „bonne", so noch
in dem Artikel „/».IbocKe-ItalbocKe" in der „Unterhaltungsbeilage
der Täglichen Rundschau" (17. Mai 1916). So mögen folgende
Darlegungen nicht ohne allgemeines Interesse sein.
Man wird sich erinnern, daß kurz nach dem Ausbruch des Krieges „hocke"
als übliche Bezeichnung der Deutschen von den Franzosen gebraucht wurde.
Selbst gründliche Kenner der französischen Sprache kannten das Wort nicht,
hatten es nie gelesen oder gehört und wußten es infolgedessen seiner Herkunft
und Bedeutung nach nicht zu deuten. Nicht nur die Philologen, sondern —
leider — auch die Laien gingen der Etymologie nach, und in einer stattlichen
Anzahl von Zeitungsartikeln suchte man die ersten Spuren des Wortes auf¬
zudecken. Es liegt auf der Hand, daß die meisten dieser hastig ausgestellten
Deutungen ein bedenkliches Maß von Unwissenschaftlichkeit und Dilettantismus
verraten mußten. Natürlich werde ich mich hüten, alle diese zum Teil geradezu
grotesken Deutungsversuche hier der Reihe nach anzuführen, die leider immer
noch Gläubige finden sollen; findet sich doch im „Belgischen Kurier" (Ur. 109,
1916) noch einmal die Herleitung von „home" aus dem deutschen „Bursch"!
Auch mich hat das kurze, mit einem Schlage allgemein bekannte Wort zu
eigenen Nachforschungen angeregt, die ich erweitern und vertiefen zu müssen
glaubte, als ich in dem bekannten, in Dessau zur Aburteilung gelangenden
„Bocheprozeß" als Sachverständiger geladen war und über Herkunft und Be¬
deutung von „bonne" Auskunft geben sollte. Selbstverständlich mußte ich
meine Darlegungen soweit als irgend möglich einwandfrei zu beweisen
suchen, sie durch unanfechtbare Belegstellen stützen, mit einem Wort ich
mußte wissenschaftlich und methodisch vorgehen. Die Sache war gar nicht so
einfach. Die erste Frage mußte lauten: hat es das Wort „home" bereits
vor dem Kriege in der französischen Sprache gegeben? Weiter: wann, wo
und in welchem Sinne ist es zu belegen? Ferner: haben wir in diesem (vor
dem Kriege gebrauchten) Wort „boLko" die ländliche und begriffliche Grund¬
lage des Schimpfwortes zu sehen, das mit Bezug auf uns Deutsche jetzt all¬
gemein von Franzosen angewandt wird? Wann ist erstmalig „bocks" (oder
,.do8er" vgl. u.) als übertragen auf die Deutschen einwandfrei nachzuweisen?
Wie erklärt sich die Übertragung gerade auf die Deutschen? Sind für die
Jnhaltsvorstellungen, die dieses Wort bei einem Franzosen auslöst, andere
gleich- oder ähnlich lautende Wörter von Einfluß gewesen? Woher ist letzten
Endes „hocke" abgeleitet?
Ich will nun im folgenden an der Hand dieser, für eine einigermaßen
erschöpfende Darlegung notwendigen Fragen die wichtigsten Ergebnisse zu¬
sammenstellen.
Seit etwa fünfzig Jahren kennt die französische Sprache das Wort „hocke".
Es wird verwandt im /^ot d. h. der nicht literarischen Sprache des niederen
Volkes oder bestimmter Stände. Zunächst wird es ohne jede Beziehung auf
die Deutschen gebraucht als Schimpfwort von nicht ganz fester Bedeutung,
doch scheint es einen geistig und körperlich schwerfälligen Menschen bezeichnet
zu haben. Sainöan belegt es für 13K6 (vgl. Dr. Eugen Lerch, Was heißt
„hocke"?, Berliner Tageblatt, Ur. 380, 1915).
Professor Dr. Werner gibt dem Verfasser des Artikels „Boches Ende"
(Aller Kriegszeitung vom 24. Dezember 1915) nach victionnaire et'^rZot
von Jean La Rue (ein Deckname) „hocke" „schlecht, häßlich, deutsch" an.
Ich selbst habe „hocke" in Lorödan Lärchen, victionnaire Ki8torique
6'^rZot in der in meinem Besitz befindlichen neunten Auflage — 1881 — nach¬
weisen können. Hier ist es übersetzt mit „libertin, mauvais 8ujet" also
„liederlicher Mensch". Daß die Bedeutung eines Schimpfwortes des ^r^ot
nicht genau zu fassen ist, wird nicht verwunderlich sein.
Wann läßt sich nun „hocke" als übertragen auf den Deutschen erstmalig
nachweisen? In dem Ergänzungsbande zu Lärchen — 1883 — fand ich
>,do8et" (So!) ^ „^llemanä, ^llemanäe." Dieses Wort ist dem Herausgeber
von Gustave Mans in einem handschriftlichen Glossar mitgeteilt worden. Lautlich
fällt „do3et" natürlich mit „hocke" zusammen, die Schreibung — hat —
würde auf flämischen Einfluß deuten, wovon unten noch die Rede sein wird.
Der Sinn von „hocke" ^ „Deutscher" wird zunächst durch das bestehende
Argotwort beeinflußt sein, das einen schwerfälligen, ungeschickten, schlechten,
häßlichen, liederlichen Menschen bezeichnete. Wie erklärt sich nun die Über¬
tragung dieses Lautgebildes gerade auf die Deutschen? Hiermit kommen wir
zu den beiden anderen sprachlichen Grundlagen des auf uns gemünzten Schimpf¬
wortes: LabocKe und ^IbocKe. Wenn Sachs-Villatte im Ergänzungsbande
seines großen Wörterbuches — 1894 — „hocke" mit „liederlicher Mensch"
(also libertin) übersetzt und dann noch „Me ac hocke" „Dickkopf" angibt,
so hat er das Argotwort, von dem wir eben sprachen, mit einem anderen
Wort „hocke" zusammengeworfen. Die sprachlichen Unterlagen des letzteren
sind einerseits das südfranzösische „hocke" die Buchsbaumkugel des Mailspieles,
die die übertragene Bedeutung „Dickschädel" nahelegt*), andererseits „eabocke",
das diesen letzteren Sinn auch hat, und nach Analogie von „eapiwirie" zu
„pitaine", „municipal" zu „cipal", „escroc" zu „croc", „sacre nom" zu
„crönom" verkürzt worden ist. Abgeleitet ist das bereits bei Rabelais und
Moliere (L'Etourdi IV, 1) belegte, frühzeitig als Schimpfwort für einen geistig
und körperlich minderwertigen Menschen gebrauchte „cabocke" entweder aus
„caput" -i- Pejorativendung — „vale" oder es entstammt französischen (pikar-
dischen) Dialekten und fällt zusammen mit „Lahore" ^- „Beule", dialektisch „Kopf".
Die Übertragung von ,,hocke" auf die „^IIemancl8" nun vermittelte
das Wort „^IbocKe".
Dieses Wort war als antideutsches Schimpfwort schon lange vor Ausbruch
des Krieges im Norden Frankreichs und in Belgien bekannt. Woher ist es
abgeleitet? R. Hamm sucht (Aller Kriegszeitung a. a. O.) auf Grund eingehender
Studien wahrscheinlich zu machen, daß in „^IboeKe" das von viamischen
Arbeitern viel gespickte, von den Franzosen als roh und häßlich verachtete
Keulenwnrsspiel fortlebte: „!a hocke" die Keule; jouer a la boebs"
„^Ibocbe". Das Elpenor ist vlamisch „hohl". deutsch „Busch". Das Spiel
wäre dann übertragen auf die Spieler: „Je3 ^IbocKes". Wenn nun auch
R. Hamm verschiedene Gewährsleute dafür anführt, daß die älteste Form
„tete et'albocke" gewesen sei„Streithammel", also wohl„eigensinniger,
dickköpfiger Mensch", und wenn er auch mit Recht auf die Übereinstimmung
der bocKe-Keule mit der Mailkugel (s. o.) hinweist, so scheint mir doch der
Ausdruck „ItalboeKe", auf den bereits Geh. Justczrat Dr. Horch in Ur. 496
des „Berliner Tageblattes" (1915) und dann Dr. G. Plötz in der „Täglichen
Rundschau" a. a. O. unter Anführung von Belegstellen hinweisen, den Beweis
zu erbringen, daß man im Volksbewußtsein in Frankreich „^IbocKe" mit
„^IlemalulZ" auch in etymologischen Zusammenhang brachte. Man kann
übrigens auch (worauf ich in meinem Artikel „Locke" in Ur. 783, 1915,
der „Magdeburger Zeitung" hingewiesen habe) ,,/^IbocKe" aus einer Kreuzung
von „^Ilemanc!" und „hocke" entstanden denken, wenn man sich nicht der
Deutung eines französischen Kriegsgefangenen (Etienne. im Augustheft 1915
der „Neuen Rundschau") anschließen will, der unter Hinweis auf Bildungen
wie „ZavroeKe, riZolboeKe" die Ansicht vertritt, daß aus „^Ilemanc!" die
Sprache der Gasse ^IlernoeKe, ^IlbocKe, ^IboeKe formte.*)
Nun löst bekanntlich jedes Wort vergleichbar einem Akkord gewisse ähnlich
tönende Lautgebilde aus, die gleich Ober- oder Untertönen mitschwingen, an¬
klingen und mit zum Bewußtsein kommen. Ohne Frage klingt „hocke" an
sowohl an „bosZs" (dialektisch hocke) als auch an „eockon", worauf u. a.
Dr. Eugen Lerch in Ur. 484, 1915, des „Berliner Tageblatts" hingewiesen
hat. Bei „bos8e" möchte ich bemerken, daß es nicht nur „Beule, Geschwür,
Buckel", dann „Dickschädel" bedeutet, sondern auch im Argot „Dickwanst".
Lärchen (a. a. O.): hoffe: IZxce8 c!e boire et ac manZer. — ^IIu8ion
ü la do88e korn6e par la replötion an ventre. Wie man weiß, pflegen
uns die Franzosen übermäßiges Essen und Trinken besonders vorzuwerfen.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß im feinen Ohre der Franzosen noch andere
Wörter mit erklingen (hock? boekeur?), doch möchte ich nicht allzu wenig
gefestigten etymologischen Vermutungen nachgehen.
An Neubildungen hat „hocke" während der Kriegszeit geschaffen: KocKe38e,
laöoekie, la, bockene, surbocks, /in8dro-hocke, ^u3et-obocKlL, 1e bocki8me.
probocke, antiboeks, arckibocke, bockopkile, bockopkilie, 1^ IZocKonnsrie,
docki8er, (3') embocker, äöbocker, le äöbocKaZe. (Vgl. „Neuere Sprachen",
Mai 1916 und Zeitschr. f. frz. u. engl. Und. XV, 2). Kurz und mit einem Worte
läßt sich dieses Schimpfwort im Deutschen nicht wiedergeben. Sein Lautgebilde
ist pöbelhaft, man vergleiche etwa deutsche Lautgruppen wie Flaps, Taps, stosset,
Töffel, Dussel u. ä. „Locke" kann — wie nahezu jedes Schimpfwort auch im
Deutschen (Aas, Lausbub, Luder, Lump) gelegentlich auch im harmlosen Sinn
gebraucht werden. Es kann in späteren Jahren gerade infolge allzu häufigen
Gebrauches sich abgreifen und viel von seiner Schärfe verlieren. Vorläufig
ist es im Munde der Franzosen, wenn nicht besondere Umstände eine mildere
Auslegung heischen, eine bewußte grobe Beleidigung der Deutschen.
vom Typ „Kaiserin Marie" und dier neuen russischen Torpedoboots¬
zerstörern, sie kehrt unbeschädigt zurück.
223
231 Russen gefangen. Die Zahl der im Juli von der Armee Anflügen
gefangenen Russen beträgt 70 Offiziere, 10993 Mann, 63 Maschinengewehre
erbeutet. Südlich des Pripjet wurden im Juli insgesamt 90 russische
Offiziere, 18000 Mann und 70 Maschinengewehre eingebracht.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
n Ur. 29 der „Grenzboten" hat Herr Professor Wittschewsky in
einem Aufsatz „Vom Krieg zum inneren Frieden" die beiden von
mir herausgegebenen Sammelschriften „Die Arbeiterschaft im neuen
Deutschland" (1915) und „Vom inneren Frieden des deutschen
Volkes. Ein Buch gegenseitigen Verstehens und Vertrauens"
einer ausführlichen Betrachtung unterzogen. Wenn ich dazu im folgenden das
Wort nehme, so ist es mir nicht um eine polemische Auseinandersetzung zu tun,
vielmehr leitet mich der Wunsch, auch die Vertreter konservativer Grund¬
anschauungen, denen ich mich von Hause aus nahe fühle, für die Sache des
inneren Friedens, den ich als die unumgängliche Voraussetzung einer großen
Zukunft Deutschlands betrachte, zu erwärmen.
Insofern hat Professor Wittschewsky gewiß recht, daß mindestens jene erste
von mir herausgegebene Sammelschrift „Die Arbeiterschaft im neuen Deutsch,
land", in der je zehn bürgerliche und sozialistische Autoren ihre Ansichten über
die künftige Stellung der Arbeiterschaft, richtiger der Sozialdemokratie im
deutschen Staats- und Volksleben austauschen, unbeschadet ihres außergewöhn¬
lichen Gesamterfolgs — sie ist in annähernd zwanzigtausend Exemplaren ab¬
gesetzt worden, und die Zahl der mir bekannt gewordenen Besprechungen geht
über dreihundertfünfzig hinaus — gerade von den rechtsstehenden Kreisen recht
kühl aufgenommen worden ist. Auch den Grund dafür gibt Professor Witt¬
schewsky offenbar zutreffend wieder: es war der Eindruck, als ob die dauernde
Anfügung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in die einheitliche nationale
Front durch eine „tiefe Verbeugung vor demokratischen Forderungen und sozia¬
listischen Ideen" erkauft werden solle. Wenn aber mein verehrter Kritiker
meint, die „Versöhnungspolitik der Thinae und Genossen" sei einseitig ein¬
gestellt, da sie von der bürgerlichen Gesellschaft die weitestgehenden Zu-
geständnisse an die sozialistische und demokratische Anschauungswelt verlange,
so übersieht er, daß doch auch von der Sozialdemokratie weitgehende, und von
ihrem Standpunkt aus betrachtet, wohl noch ungleich größere Zugeständnisse
verlangt worden sind: der Verzicht auf die hergebrachte revolutionäre Phraseo¬
logie, der Verzicht auf die prinzipielle Negierung des Staates, ein Umlernen
in der Stellung zu den großen Machtfragen des Staates, zur äußeren Politik,
zu Heer, Flotte und Kolonialbesitz, überhaupt ein Bekenntnis zu positiver und
freudiger Mitarbeit am Staate, ein freundlicheres Verhältnis auch zu Christentum
und Kirche usw. Das ist in den einzelnen Artikeln des „bürgerlich-sozialistischen
Gemeinschaftsbuches" deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Gerade auch
Professor Anschütz, dessen auch nach meiner Auffassung allzu unitarische „Ge¬
danken über zukünftige Staatsreformen" Professor Wittschewsky so scharf be¬
anstandet, fordert von der Sozialdemokratie ein unumwundenes Bekenntnis zu
der obersten aller Staatsnotwendigkeiten, zu den Machtmitteln, die unser Vater¬
land brauche, um seine Unabhängigkeit und Stärke, um sein Ansehen und seine
Bedeutung in der Welt aufrechtzuerhalten. „Wer dieses Bekenntnisses nicht
sähig ist, dem können wir das Recht nicht zugestehen, über weiteres mitzureden,
denn über Ausbau und Verbesserung eines Hauses kann man sich nur mit dem
beratschlagen, der das Haus stehen lassen, nicht mit dem, der es einreißen, der
es zerstören lassen will." Das sind Sätze, die jedem Konservativen aus dem
Herzen gesprochen sein werden.
Es hat aus rechtsstehender Seite Anstoß gefunden, daß in jener ersten
Sammelschrift von der Sozialdemokratie nicht auch eine veränderte Stellung
zur Monarchie verlangt worden sei. Nun. an mir hat das so wenig gelegen,
daß es vielmehr von Anfang an mein Leitmotiv gewesen ist, die Sozial¬
demokratie mehr und mehr für die Monarchie zu gewinnen. Ich darf es ruhig
gestehen, daß ich zu diesem Zwecke ursprünglich einen Schlußartikel über das
Thema „Unser soziales Kaisertum", dann, als dieser auf feiten meines Mit¬
herausgebers Bedenken fand, einen zweiten über den Wahlspruch unseres Hohen-
zollernhauses „Luurn cuique" geschrieben hatte. Schließlich erschien es aber
doch auch mir als das Richtigere, wenn ich als Herausgeber ein neutraleres
Schlußthema wählte und nicht die Monarchie gleichsam zur Pointe des ganzen
Buches gestaltete. Um jedoch in meinen Bestrebungen nicht verkannt zu werden,
habe ich den Aufsatz „Luna Lmque" gleichzeitig mit der Ausgabe der „Ar¬
beiterschaft im neuen Deutschland" in den „Süddeutschen Monatsheften"
(August 1915) veröffentlicht, in denen ich auch schon früher mit aller Ein¬
dringlichkeit an die Sozialdemokratie appelliert hatte, ihr Verhältnis zur
Monarchie einer Revision zu unterziehen.*)
Ich denke, diese Darlegungen werden Herrn Professor Wittschewsky davon
überzeugen, wie weit gerade ich davon entfernt war und bin, durch eine tiefe
Verbeugung vor demokratischen Forderungen und sozialistischen Ideen der
nationalen Einigung dienen zu wollen. Wenn mein verehrter Kritiker mehrere
Sätze meines Schlußwortes aus der „Arbeiterschaft" in diesem Sinne interpretiert,
so kann ich jedenfalls solcher Deutung nicht zustimmen. Daß man allen Klassen
und Individuen, vor allem auch der Arbeiterschaft, volle staatsbürgerliche Gleich¬
berechtigung, gleiche Bewegungsfreiheit, gleiche Entwicklungsmöglichkeiten gebe,
das ist doch ein Postulat, in dem sich auch ein Königtum von Gottes Gnaden
mit der Demokratie trifft, und das sich unser Kaiser schon in seinen Februar¬
erlassen vom Jahre 1890 zu eigen gemacht hat. Auch von dem anderen Satze
meines Schlußwortes: „Wir werden uns in Zukunft dem Probleme, ob und
inwieweit unsere heutige Wirtschaftsordnung, der Gegenwartsstaat, der neuen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Sozialismus, dem Zukunftsstaat näher¬
zuführen ist, nicht leicht mehr entziehen können," brauche ich kein Jota, auch
nicht von einem konservativen Standpunkt aus zurückzunehmen. Es ist doch
eine unbestreitbare Tatsache, daß jetzt während des Krieges unsere Wirtschafts¬
ordnung stark sozialistische Züge angenommen hat. Das hat kein Geringerer
als der Abgeordnete von Hevdebrand und der Lasa anerkannt, der in seiner
großen Rede vom 17. Januar 1916 auf die hohen Leistungen unserer Be¬
amtenschaft mit den Worten hinwies: es sei doch nicht ganz leicht gewesen, den
sozialistischen Staat von heute auf morgen einzuführen. Keinem Zweifel kann auch
unterliegen, daß dieser noch immer steigende sozialistische Einschlag unserer jetzigen
Kriegswirtschaftsordnung beim Friedensschluß nicht mit einem Male schwinden
kann und wird; darauf deutet ja schon die Ernennung eines Reichskommissars
sür die Übergangswirtschaft hin. Wie die Verhältnisse liegen, werden wir nach
dem Kriege auf keine Weise darumkommen, von der Verstaatlichung oder Ver¬
gesellschaftung ganzer Produktionszweige in einem Umfange Gebrauch zu machen,
von dem wir uns früher nichts hatten träumen lassen. Auch die konservative
Partei wird sich dieser Notwendigkeit um so weniger verschließen wollen, als
nach ihrer Auffassung, die eben erst wieder in der Kreuzzeitung zum Ausdruck
gelangte, bei der bereits bestehenden Belastung des Besitzes mit einer weiteren
Anspannung der direkten Steuern „ohne ernste Schädigung der Allgemeinheit"
nicht mehr viel herauszuholen sein würde, eine starke Steigerung der indirekten
Steuern aber erst recht ausgeschlossen ist, so daß bei der ungeheuren Steigerung
des Steuerbedarfs eben nur der Ausweg staatssozialistischer Monopolbetriebe
bleibt. In diesem Zusammenhang mag daran erinnert werden, daß es gerade
die konservative Partei war, die im Jahre 1894 die Verstaatlichung des aus¬
ländischen Getreidehandels — Antrag Kanitz — mit größter Dringlichkeit
forderte. Auch sie mußte sich damals den Vorwurf der tiefen Verbeugung vor
sozialistischen Ideen bis zum Überdruß gefallen lassen. Sicherlich war dieser
Vorwurf sehr unberechtigt. Aber ebenso unberechtigt ist der gleiche Vorwurf
gegenüber der nüchternen Feststellung der Tatsache, daß heute, wo sich nicht
etwa nur die Landwirtschaft in einer Krise gleich der der neunziger Jahre,
sondern unser ganzes staatliches Finanzwesen vor einer großen, in ihrem Aus¬
maß noch gar nicht abzusehenden Krise befindet und die Grundlagen unseres
materiellen Daseins auf das ernsteste erschüttert sind, die zu ergreifenden Ma߬
regeln nicht vor dem Schall des Wortes Sozialismus Halt machen können.
Lalu8 publica 8uprema lex esto! Sind wir im Kriege nicht vor dem sozia¬
listischen Staat zurückgeschreckt, haben wir vielmehr in ihm wohl oder übel
unser Heil suchen müssen, so werden wir auch im Frieden, der noch lange,
lange die schweren Spuren des Krieges tragen wird, wenn das Wohl des Vater¬
landes, das über allen Prinzipien steht, es verlangt, nicht allzu heilet sein dürfen.
Mir scheint, man kann überhaupt ein guter Konservativer sein, ohne die
Furcht vor demokratischen oder sozialistischen Ideen, die einem Metternich
anstehen mochte, noch zu teilen. Ich habe schon in meinem Schlußwort zu der
„Arbeiterschaft im neuen Deutschland" ausgeführt: „Heute, wo es klar zu Tage
tritt, daß unsere gewaltigen Erfolge zum guten Teil gerade auf den demo¬
kratischen Einrichtungen beruhen, mit denen unser Staat durchsetzt ist, auf dem
demokratischen Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, auf unserer Volksschule,
auf unserer sozialen Gesetzgebung, des freien Wahlrechts gar nicht zu gedenken,
das uns einen auch den allerhöchsten nationalen Anforderungen in entscheidender
Stunde gewachsenen Reichstag beschert hat, heute muß das Wort von den
demokratischen Prinzipien seinen Schrecken auch für den konservativsten Politiker
verloren haben .... Daß bei uns eine Demokratie je zu einer Herrschaft
der Gasse entarten könne, wie wir sie schaudernd in den romanischen Ländern
erlebt haben, braucht niemand zu fürchten; das deutsche Freiheitsgefühl ist ja
zum Glück aufs innigste gepaart mit freiwilliger Unterordnung unter die Staats¬
notwendigkeiten, mit einem Höchstmaß von Staatsgesinnung und Pflichtgefühl.
Wir wollen auch gar keine Demokratie nach französischem oder englischem
Muster — sie kann uns so wenig imponieren wie dem radikalen schwedischen
Demokraten Gustav F. Steffen, der an ihr die für echte Demokratie und echte
Freiheit nötige Tiefe des Staatsbewußtseins, das Salz des sozialen Pflicht¬
gefühls und der sozialen Organisationskraft vermißt". Den gleichen Gedanken
habe ich in dem Schlußwort zu der Sammelschrift vom inneren Frieden von
neuem umschrieben: „Hinfälliger als je erscheint die Besorgnis, als könne das
Kaisertum und Königtum in deutschen Landen durch eine Politik des Vertrauens,
die etwa die Gewährung neuer Volksrechte und Freiheiten in sich schließt, von
seiner Machtfülle, die Staatsregierung von ihrer Autorität verlieren. Wer
steht denn nicht, daß der monarchische Gedanke seit dem Ausbruch des Krieges
im ganzen Volke und selbst in den Schichten, die ihm lange hindurch entfremdet
waren, eine gewaltige Stärkung erfahren hat? Daß die Überzeugung von der
Notwendigkeit einer kraftvollen und nötigenfalls mit rücksichtsloser Energie
durchgreifenden Staatsautoritüt von Tag zu Tage mehr die weitesten Kreise
ergreift? Daß StaatSgesinnung und Staatsbejahung Gemeingut des ganzen
Volkes geworden sind? Wer kann verkennen, daß das deutsche Volk sich
innerlich mehr und mehr von den Schlacken jener westmächtlichen Auffassung
von Volkssouveränität und Demokratie befreit, immer reiner seine eigene Idee
von der Freiheit herausarbeitet, die auf der freien und selbstgewollten Hingabe
der in sich ruhenden sittlichen Persönlichkeit in Pflicht und Gehorsam, in
Disziplin und Organisation beruht?"
In der Tat, mir scheint eine pessimistische Auffassung unserer inner¬
politischen Verhältnisse angesichts des gewaltigen seelischen Aufschwungs, den
unser deutsches Volk in und durch den Krieg genommen hat, weniger wie je
begründet zu sein. Mag dieser seelische Aufschwung, der doch auch eine Hin¬
wendung eines großen Teiles unseres Volkes zu den „ewigen Wahrheiten" im
Sinne der neuerlichen Auslassungen der Kreuzzeitung in sich schließt, in der
langen Dauer des harten Krieges zurückgegangen sein, geblieben ist doch der
feste und unerschütterte Entschluß des ganzen Volkes zum Durchhalten und
Zum Sieg, geblieben die allgemeine Hinwendung zum nationalen deutschen
Gedanken im weltpolitischen Sinn. Wie unser Kaiser es eben erst wieder
ausgesprochen hat: „Das deutsche Volk weiß, daß es um sein Dasein geht.
Es kennt seine Kraft und vertraut auf Gottes Hilfe. Darum kann nichts seine
Entschlossenheit und Ausdauer erschüttern". Das gilt ganz gewiß auch von
der überwältigenden Mehrheit unserer Arbeiterschaft, die an Entschlossenheit,
Opferfreudigreit, und, auch heute darf es noch gesagt werden, an Staats--
gestnnung hinter keiner anderen Klasse zurücksteht. Ich verkenne keineswegs
das von Professor Wittschewsky ausgesprochene Bedenken, daß „innerhalb der
Sozialdemokratie ein starrer Radikalismus von unbekannter Stärke nach wie
vor sein Wesen treibt". Aber dieser Radikalismus zeigt doch in sich eine
solche völlige Zerfahrenheit und Zerrüttung, daß er schwerlich aus sich heraus
etwas Besorgniserregendes oder gar Furchtgebietendes werden kann. Daß ihm
gegenüber die besonnenen Elemente der sozialdemokratischen Bewegung, die nach
">le vor fest zu der Parole des 4. August stehen, die Oberhand behalten werden,
dafür bürgen vor allem die freien Gewerkschaften, die in ihrem festen Gefüge
und mit ihren ungeheuren Machtmitteln innerhalb der Partei ausschlaggebend
sind und bleiben werden. Die freien Gewerkschaften aber haben es seit dem
Kriegsausbruch tausendfältig bewiesen, daß der Staat ihnen ein weitgehendes
Vertrauen schenken darf und muß. Und, wenn noch in der Sammeischrist vom
inneren Frieden Otto von Dewitz den einschränkenden Satz ausgesprochen hat,
es scheine ihm für den inneren Frieden nach dem Kriege klar vor Augen zu
liegen, daß die hocherfreuliche Bewegung der freien Gewerkschaften politisch nur
eine Knospe war, die nicht zur Blüte gelangen würde, wenn dem ersten Schritt
nicht ein zweiter folge, mit dem sie sich voll und ganz in das Gefüge des
Staates einordnen, so ist ein solcher zweiter Schritt inzwischen schon erfolgt!
Bestand nicht der hauptsächliche Streitpunkt zwischen der staatlichen Autorität
und den freien Gewerkschaften darin, daß diese auch für die Staatsarbeiter,
insbesondere für die Eisenbahner, das Streikrecht in Anspruch nahmen? Nun
hat die Generalkommission der Gewerkschaften selbst die Hand dazu geboten,
diesen Streitpunkt aus der Welt zu schaffen! Am 1. Juli ist unter der tätigen
Mitwirkung der Generalkommisston der „Deutsche Eisenbahner^Verband" ins
Leben getreten, in dessen Satzungen den besonderen Pflichten der staatlichen
Verkehrsanstalten Rechnung getragen ist, vor allem auch in dem entscheidenden
Punkte, daß der Streik nicht als Kampfmittel zugelassen ist. Die gewerk¬
schaftlichen Zentralverbände sind soweit gegangen, diejenigen ihrer Mitglieder,
die seit dem Ausbruche des Krieges in den Dienst der Staatseisenbahnen
eingestellt waren — es handelt sich um viele Tausende — aus ihren Reihen
zu entlassen und ihnen den Übertritt zu dem neuen Eisenbahner-Verband zu
empfehlen. Dieser Vorgang, der bisher von der Presse fast gar nicht beachtet
worden ist, ist von einer gar nicht hoch genug einzuschätzenden Bedeutung. Er
stellt gleichsam die Krönung des staatstreuen Verhaltens der Gewerkschaften dar.
Zugleich zeigt er an einem klassischen Beispiele, wie sehr Vertrauen mit
Vertrauen lohnet. Einen rascheren und schöneren Lohn konnte das Entgegen¬
kommen, das die Reichsleitung den Gewerkschaften in der Vereinsgesetznovelle
vom 26. Juni gezeigt hat, gar nicht finden, als durch die Selbstüberwindung,
mit der die Gewerkschaften nunmehr die aus der besonderen Natur der staat¬
lichen Verkehrsanstalten entspringenden Notwendigkeiten anerkannten. Das
sollte auch denjenigen unserer Parteien zu denken geben, die aus lauter Bedenken
heraus (denen gewiß nicht jeder Grund abgesprochen werden soll) sich bisher
nicht dazu aufzuschwingen vermochten, der Regierung auf dem Wege des
Vertrauens zu folgen. Es kann doch kaum einem Zweifel unterliegen, daß je
enger das Verhältnis zwischen Staat und Gewerkschaften geknüpft wird, je mehr
die Arbeiterschaft weiterhin an dem Staat durch Rechte und positive Mitarbeit
interessiert wird, je stärker schließlich die staatssozialistische Tendenz unseres
Staates wird, desto mehr auch der Radikalismus der Arbeiterschaft abnehmen
wird. Man versteht ja, daß die konservative Partei, die eine ihrer Haupt¬
aufgaben in der Festhaltung bewährter Grundlagen sieht, eine solche Entwicklung
nicht im voraus eskomptieren will, und darum in ihrer Stellungnahme zu
sozialpolitischen und Wahlrechtsfragen (über die weiter unten zu reden sein
wird) noch zurückhält. Aber diese Zurückhaltung sollte doch nicht soweit gehen,
daß sie, wie es neuerdings den Anschein gewinnen wollte, als Nachzügler
hinter den übrigen Parteien zurückbleibt.
Selbstverständlich wollen die beiden von mir herausgegebenen Sammel-
schristen, indem sie das gegenseitige Verstehen und Vertrauen einmal zwischen
Bürgertum und sozialdemokratischer Arbeiterschaft, dann überhaupt zwischen
allen einander gegenüberstehenden Gruppen, Richtungen und Parteien als den
Weg, der zum inneren Frieden führt, hinstellen, nicht blinder Vertrauensseligkeit
und einem vagen Optimismus das Wort reden. Ärger kann man die „Propa¬
gandisten des inneren Friedens", wie Professor Wittschewsky mich und meine
Mitarbeiter tituliert, nicht mißverstehen, als wenn man unser Streben als
„sentimentale Friedenslyrik" auslegt. In der Mehrzahl der Artikel, namentlich
des Buches vom inneren Frieden, herrscht vielmehr ein durchaus nüchterner und
realpolitischer Geist vor, der weit entfernt ist, sich einzubilden, daß die mensch¬
liche Natur sich umkneten lasse, und daß die sozialen Spannungen, die kon¬
fessionellen Reibungen und die politischen Kämpfe jemals aufhören werden,
der aber alle diese Kämpfe um der höchsten nationalen Geschlossenheit und
Entschlossenheit willen, die weit über den Krieg hinaus das erste Gebot der
Stunde bleibt, auf das rein Sachliche und auf das schlechthin Unvermeidliche
reduzieren will. Mit voller Deutlichkeit ist das auch in der Vorrede ausgesprochen:
„Selbstverständlich sucht keiner von den Mitarbeitern das Heil in einem Fort¬
fall der Spannungen und Gegensätze überhaupt, der unmöglich ist und bleibt.
Alle sind sich dessen wohl bewußt, daß die geistige Kraft eines Volkes zu ihrer
vollen Entfaltung der Verschiedenheit, ja der Gegensätze wetteifernder Gruppen,
Parteien und Glaubensgemeinschaften bedarf. Es ist auch nicht auf ein schwäch¬
liches Kompromiß, aus einen faulen Frieden zwischen den verschiedenen Richtungen
abgesehen; nein, die ehrliche, klare und tapfere Auseinandersetzung, der erhebende
Kampf der Geister darf und soll sein Recht behalten. Aber eben auf dem
Wege eines sachlichen, nüchternen, sich von jeder Überschwänglichkeit der Illusionen
freihaltenden Erörterung soll den Gegensätzen das zersetzende Gift genommen
werden, das sie erst in Unfrieden und persönliche Bitterkeit wandelt." Im
Grunde will oder möchte ja auch Herr Professor Wittschewsky dasselbe; sagt
er doch selbst: „Die Gedanken sollten dem Ziele zustreben, aufreizende Gehässig¬
keiten aus den Parteikämpfen fernzuhalten und die schroffen Spannungen
zwischen den gegnerischen Lagern zu mildern." Die große Frage ist nur die:
besteht die Möglichkeit, ein solches Ziel, mit anderen Worten den inneren
Frieden zu erreichen, und welches ist der Weg, der dahin führt?
Professor Wittschewsky denkt offenbar außerordentlich skeptisch über diese
Fragen. Er sieht die einzige Möglichkeit einer inneren Erneuerung, einer Aus¬
merzung des nationalen Schwächezustandes darin, daß ein überragender Wille
die auseinandertretenden Auffassungen auf bestimmte große nationale Gesichts¬
punkte zu einigen vermöge. Nur von einem klugen, weitblickenden und über¬
legenen Staatsmanne erhofft er ein „Programm der Programme", auf das
sich die große Mehrheit des deutschen Volkes einigen könne. Und da er einen
solchen Staatsmann nirgends erblickt, so bleibt ihm zum Schluß nur die ganz
in der Luft schwebende Aussicht: „Ist der Friedensgeift noch nicht vorhanden,
so wiro er hoffentlich mit dem Geläut der Friedensglocken einziehen".
Es kann nicht weiter Wunder nehmen, daß Professor Wittschewsky die
Betätigung eines „zwingenden Machtwillens" in der Richtung gemeinsamer
nationaler Ziellinien nicht von Herrn von Bethmann Hollweg erwartet. Auch
mancher, der dem Kanzler sein volles Vertrauen schenkt, fragt sich, ob solcher
Machtwille in ihm verkörpert sei. Ich erinnere an Friedrich Meineckes neuliches
Wort: „Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und
großen Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst seiner
Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen Organisationen der Par¬
teien und Interessen ein Gegengewicht zu schaffen."*) Wie dem nun auch sei
— der kommende Friede wird es ja weisen — ist es wirklich wünschenswert,
ja ist es auch nur möglich, daß dem deutschen Volke ein staatlich einigendes
Programm aufgezwungen werde? Auf die Dauer ist es jedenfalls nicht
einmal dem gewaltigen Machtwillen eines Bismarck, der seines Gleichen so leicht
nicht finden kann und wird, gelungen, dem deutschen Volke ein gemeinsames
Programm aufzuoktroyieren, ganz im Gegenteil! Ja, man kann zweifelhaft
sein, ob Bismarck auch nur die äußere Einigung Deutschlands gelungen wäre,
wenn ihm nicht der deutsche Einheitsdrang so machtvoll zu Hilfe gekommen
wäre. So wird auch jetzt der Einheitswille des deutschen Volkes, der unter
dem ungeheuren Druck des Existenzkampfes sich wieder mit elementarer Gewalt
erneuert hat, das Beste tun müssen, um sich eine einheitlichere Richtung zu
erarbeiten. Mit Freude und Dank darf es begrüßt werden, wenn von höchster
Stelle eine Parole ausgegeben wird gleich jener der letzten preußischen Thron¬
rede: daß der Geist gegenseitigen Verstehens und Vertrauens auch im Frieden
fortwirken und in der gemeinsamen Arbeit des ganzes Volkes sich ausprägen
solle. Aber wahr machen und in Wirklichkeit umsetzen kann ein solches Wort
doch nur das Volk selbst. Und ich wenigstens lebe der freudigen und uner¬
schütterlichen Zuversicht, daß diesmal der Einheitswille und das organisatorische
Genie der deutschen Nation, dessen sie sich jetzt erst in vollem Umfange bewußt
geworden ist, durch alle Hindernisse der Parteiungen und Entzweiungen hin¬
durch einen Weg zu den höheren Formen der Einheit und der Gemeinschaft
bahnen werden. So „spricht nicht nur der Idealismus, der an den Sieg der
edleren Anlagen in den Mitmenschen über deren eigennützige Berechnung glaubt",
so darf auch die nüchterne Beobachtung sprechen. Sehen wir denn nicht überall,
wie sich im deutschen Volke die Kräfte des Zusammenschlusses und der freien
Organisation seelischen Lebens regen, wie sie die Fesseln der Parteien sprengen,
wie sie Personen und Gruppen zu gemeinsamer vaterländischer Arbeit zusammen¬
führen, die vordem einander kaum kannten? Hier die „Freie Vaterländische
Vereinigung", die „Deutsche Gesellschaft von 1914", die Jenaer „Gemeinnützige
Gesellschaft 1914", dort die „Konferenz evangelischer Arbeitsorganisationen",
oder das sich anbahnende Kartell der christlichen, Hirsch - Dunckerschen und
freien Gewerkschaften: schon ließen sich ganze Seiten füllen, wollte man die
Vereinigungen und Organisationen aufzählen, in denen sich der neue brüderliche
Geist des deutschen Volkes dokumentiert. Auch die beiden von mir heraus-
gegebenen Gemeinschaftsbücher wollen als ein Teil des im deutschen Volke
lebenden Organisations- und Eintrachtswillens gewürdigt werden. Ich denke
gewiß bescheiden von dem Erreichten. Aber ich darf doch fragen: Ist es nicht
ein Großes, daß sich in dem einen Buche zum ersten Mal Bürgerliche und
Sozialisten, in dem zweiten Protestanten und Katholiken, Positive und Frei¬
geister, Konservative, Liberale und Sozialdemokraten, Arbeiter und Unternehmer,
Städter und Landleute einträchtig und friedfertig zu organischer Arbeitsgemein¬
schaft zusammenfanden? Muß es nicht das gegenseitige Verstehen und Ver¬
trauen fördern, wenn alle diese Persönlichkeiten aus den entgegengesetzten
Lagern sich in voller Offenheit, Freimütigkeit und Unbefangenheit über die
vorhandenen Gegensätze aussprechen, einander tief ins Herz schauen und dabei
frohen Mutes entdecken, wie unendlich viel sie bei allem Trennenden als
Kinder eines Volkes und Söhne einer mütterlichen Erde, als Deutsche, die alle
ihr Vaterland über alles lieben, miteinander gemeinsam haben? Kann es
ohne Nachwirkung bleiben, daß in dem einen wie in dem anderen Falle sich
die Aussprache zu einem klassischen Beispiele gestaltet, wie solche Auseinander¬
setzungen mit unbedingter Sachlichkeit, Vornehmheit und Ritterlichkeit bei charakter¬
voller, starker Selbstbehauptung geführt werden können?
Es wäre wahrlich traurig, wenn ein Buch wie namentlich das vom inneren
Frieden des deutschen Volkes von diesem kühl aufgenommen würde. Das Echo,
das zu mir dringt, besagt denn auch ganz das Gegenteil I Nur einige Beispiele
aus sehr vielen: Die „Reformation", herausgegeben von l). Philipps, die
am weitesten rechtsstehende evangelische Kirchenzeitung, schreibt in ihrer jüngsten
Nummer: „Wirklich angenehm berührt die vornehme, ruhige Art der Ver¬
handlung. Wenn es gelingen würde, diese Art und Sachlichkeit auch nach
dem Frieden zu bewahren, dann müßten unsere Parteikämpfe völlig umgewandelt
werden. Sie würden nicht mehr das Verderben unseres Volkes, sondern sein
Segen und Reichtum sein, weil die Verschiedenartigkeit der Meinungen be¬
fruchtend wirken darf. Man achtet und ehrt den Gegner, weil man sich im
tiefsten mit ihm einig weiß in der Liebe zum gemeinsamen Vaterland". In
der „Germania" hieß es: „Von dem ganzen Werk darf man die Hoffnung
hegen, daß der vorurteilsfreie Leser von der mit der größten Eindringlichkeit
aus diesen Abhandlungen sprechenden Predigt ergriffen wird, von der Predigt
der brüderlichen Liebe und des brüderlichen Vertrauens". Und speziell von
den in dem Buch enthaltenen katholischen Abhandlungen: „Es ist gar nickt
abzusehen, wieviel Segen diese Abhandlungen zu stiften imstande sind, indem
sie mit alten eingewurzelten Vorurteilen des nichtkatholischen Teiles der deutschen
Bevölkerung aufzuräumen bestrebt sind". Zuguterletzt mag noch die „Deutsche
Tageszeitung" zitiert sein, die über den Aufsatz des Abgeordneten Faßbender
„Durch Kenntnis zum Verständnis unserer Landbevölkerung" schrieb: „Die
deutsche Presse würde sich ein großes Verdienst um den seit längerer Zeit leider
wieder vielfach gestörten Frieden zwischen Stadt und Land und damit um die
Herstellung einer einmütiger Stimmung unseres Volkes auch in wichtigsten
Fragen des Durchhaltens erwerben, wenn sie das beherzigenswerte Mahnwort
des Professors Faßbender dem ganzen deutschen Volke zur Kenntnis brächte".
Und wenn Professor Wittschewskv über die vom konservativen Standpunkt
geschriebenen Aufsätze des Herrn Dietrich von Oertzen und des Herrn Ab¬
geordneten von Dewitz urteilt: für das gegenseitige Verstehen scheine mit den¬
selben wenig getan zu sein, so könnte ich ihm Dutzende von Stimmen aus dem
sozialdemokratischen Lager dafür anführen, wie sehr zumal die arbeiterfreundliche
Haltung des Herrn von Oertzen das gegenseitige Vertrauen zu beleben und zu
stärken geeignet ist. Ich darf es sagen, daß es mir eine ganz besondere Freude
gewesen ist. daß sich eine so durchaus konservativ gesinnte Persönlichkeit wie
Herr von Oertzen mit solcher Kraft und herzgewinnenden Wärme für den
sozialen Staat einsetzte. Es sind fürwahr goldene Worte, wenn Oertzen u. a.
sagt: „In der sozialen Frage bedarf es für die Konservativen nicht fo sehr
einer Neuorientierung als vielmehr eines Rückblicks in die eigene Vergangenheit.
Als die Sozialreform begann, war die konservative Partei die erste begeisterte
Trägerin der christlich-sozialen Gedanken, ,Kreuzzeitung° und .Reichsbote' die
Vorkämpfer. Wenn dann später eine rückläufige Bewegung eintrat, wenn es
zeitweilig den Schein hatte, als wolle die Geburtsaristokratie einer nichts als
kapitalistischen Geldaristokratie Gefolgschaft leisten, so war diese Wandlung
immerhin verständlich, da die Sozialdemokratie die höchsten konservativen
Ideale — Thron und Altar — vielfach mit Füßen trat, und alle Reform¬
arbeit nur zu schmähen und zu verkleinern suchte. Gegenwärtig aber, wo das
kriegerische Einstehen des Arbeiterstandes für das Vaterland eine unbestrittene
Tatsache ist, gegenwärtig wo eine ganze Anzahl der vormaligen sozialdemo-
krutischen Parteiideale zertrümmert am Boden liegen — jetzt sollte die rück¬
läufige Bewegung nicht weiter fortgesetzt werden. Heute gilt mehr als je das
schöne Wort von Rodbertus: „Wenn konservativ die Konservierung des ver-
rottetsten Plunders bedeutet — nenne er sich nun liberal, oder werde er illiberal
genannt — so gibt es nichts Antikonservativeres, als die soziale Frage. Wenn
aber konservativ bedeutet die Stärkung monarchischer Staatsgewalt, friedliche
Reformarbeit, Aussöhnung der sozialen Gewalten unter der Ägide und nach
der Norm des strahlenden 8nun cuique — so gibt es nichts Konservativeres
als die soziale Frage".*)
Möchte doch die konservative Partei die in diesen Worten liegende Mahnung
beherzigen; es könnte sich um nichts Geringeres als ihre Zukunft handeln!
Eine Partei kann heutigen Tages nur dann auf eine Zukunft rechnen, wenn
sie in naher Fühlung mit den breiten Volksmassen bleibt und es versteht, sich
wenn nicht an die Spitze der gewaltigen Strömungen und Kräfte einer
Schöpfungszeit wie der heutigen zu stellen, so sich doch auch nicht gleichsam
als Hemmschuh hinterherziehen zu lassen. Gewiß steht es einer Partei wie
der konservativen nicht wohl an, um die Volksgunst zu buhlen, aber auch sie
wird zu bedenken haben, daß sie nichts ohne das Volk ist und alles nur für das
Volk sein muß. Was aber das Volk in seiner überwältigenden Mehrheit heute
verlangt, ist sonnenklar, tritt täglich tausendfach von neuem an das Tageslicht:
nach außen ein freudiges Bekenntnis zu den machtpolitischen Notwendigkeiten
einer großen unbeengten Zukunft, nach innen ein Mitbestimmungsrecht der
breiten Massen im Staatsleben, auf Grund der Bewährung in vaterländischer
Gesinnung und der politischen Reife, welche die Gesamtheit unseres Volkes, von
geringen Ausnahmen abgesehen, in den Stürmen des Weltkrieges kennzeichnet/")
dazu ein freudiges Bekenntnis zum sozialen Staat. In erster Hinsicht wird
niemand der konservativen Partei eine kühne Initiative absprechen können und
wollen. Allgemein aber herrscht der Eindruck, daß die konservative Partei jeder
inneren und sozialen Neuorientierung in der Richtung eines stärkeren Mit¬
bestimmungsrechts der Massen zurückhaltend und widerstrebend, um nicht zu
sagen ablehnend gegenüberstehe. Weitverbreitet ist auch die Auffassung, als ob
die Partei sich einseitig zugunsten der besitzenden Klassen einzusetzen geneigt sei.
Worte wie die des Abgeordneten von Heydebrand von der „drohenden Aus¬
powerung aller Besitzenden", die im höchsten Grade staatsgefährlich sei, oder der
auch aus konservativem Munde gefallene Ausspruch von dem „Portemonnaie
der Besitzenden", das geschützt werden müsse, sind, so berechtigt sie an sich sein
mögen, leider nur zu geeignet, solche Vorstellungen zu befestigen. Auch das
Eintreten der konservativen Partei für das preußische Wahlrecht muß sie ver¬
stärken. Gewiß hat sich ja Herr von Heydebrand bereit erklärt, daran mit¬
zuarbeiten, „gewisse Schwächen" dieses Wahlrechts auszugleichen und zu ver¬
bessern. Aber derselbe Parteiführer hat auch mit allem Nachdruck betont, daß
die Grundlagen des preußischen Wahlrechts, und dazu gehört doch auch der
Klassencharakter, die einseitige Abstufung des Wahlrechts nach dem Maße des
Einkommens und des Besitzes, gut, ja ausgezeichnet seien. Es könnte — diese
Auffassung ist mir auch in gut konservativen Kreisen mehrfach entgegengetreten —
wahrhaft verhängnisvoll für die Partei werden, wenn so der plutokratische
Charakter des preußischen Wahlrechts festgehalten würde. Das Herrenhaus-
mttglied Professor Reinke hat doch wohl vollkommen recht, wenn er im „Tag"
' (4. Juli) feststellt: „Für plutokratische Staatsformen ist im Gedankenkreise des
deutschen Volkes fortan kein Raum". Es geht denn auch aus den Äußerungen
zahlreicher Parteiführer von den Freikonservativen bis zu den Linksparteien
hinüber, mit voller Deutlichkeit hervor, daß sie das Wahlrecht dieses seines
plutokratischen Charakters so oder so entkleiden wollen. Würde die konservative
Partei als einzige sich dem widersetzen, so wäre die rettungslose Isolierung ihr
wenig beneidenswertes Los.
Aber, wendet hier Professor Wittschewsky ein, solche Erörterungen sind
unzeitgemäß, sie sind eher dazu angetan, Unfrieden zu säen, als Versöhnungs¬
früchte reifen zu lassen; „ungleich wichtiger ist, daß wir jetzt wahrlich unsere
Interessen nicht an Aufgaben verzetteln, die erst nach Beendigung des Krieges
greifbar in Erscheinung treten werden", vielleicht auch dann noch bei der über¬
wältigenden Fülle der zur Wiederherstellung zerstörter Daseinsbedingungen
erforderlichen Arbeiten minder dringlich erscheinen werden. Das ist derselbe
Vorwurf, der wiederholt von konservativer Seite unter Berufung auf den Burg¬
frieden direkt gegen den Passus der Thronrede erhoben worden ist, der von
der Gestaltung der Grundlagen für die Vertretung des Volkes in den gesetz¬
gebenden Körperschaften spricht. Mir scheint eine solche Auffassung des Burg¬
friedens, die jeden Gegensatz, ,jede Spaltung im deutschen Volke als ein Kräutlein
Rührmichnichtan betrachtet, im Grunde doch wenig weitsichtig zu sein. Wir
sehen es — dieses Beispiel wird sicher auch von Herrn Professor Wittschewsky
als durchschlagend anerkannt werden — recht deutlich an der großen Frage der
Friedensziele: gerade weil die Diskusston darüber unterbunden ist und immer
noch bleibt, frißt sich der Zwiespalt zwischen den gegensätzlichen Auffassungen
immer tiefer ein. Kühner und aussichtsvoller ist jedenfalls das in dem Buch
vom inneren Frieden eingeschlagene Verfahren, die nun einmal vorhandenen
Gegensätze scharf ins Auge zu fassen und sich darüber klar zu werden, ob sie
sich bei ganz sachlicher, das Für und Wider aller Parteien sorgsam berück¬
sichtigender Betrachtung und Behandlung nicht mildern, versöhnen und neu¬
tralisieren lassen. Welch ein unendlicher Segen für unsere innerpolitische Zukunft
müßte es nicht sein, wenn schon jetzt während des Krieges, ohne daß wir
darum das große Ziel des Sieges über unsere Feinde, das selbstverständlich
allem anderen vorausgeht, irgend aus dem Auge verlieren, eine Verständigung
im Großen zwischen den Parteien beispielsweise über die Frage der Neu¬
orientierung, innerhalb deren ja die Frage der Wahlrechtsreform die akuteste
ist und bleiben wird, erzielt werden könnte. Gerade wenn es richtig wäre,
was Herr von Heydebrand in seiner Rede vom 17. Januar gesagt hat: daß
„wir leider ebenfalls noch davor stehen, daß wenn diese Frage zur materiellen
Beschlußfassung gestellt wird, sie dann leider ohne einen großen ganz erbitterten
Streit der Parteien nicht würde erledigt werden können", gerade dann wäre
es ernsteste patriotische Pflicht, schon jetzt mit allen Kräften eine Verständigung
über dieses dornige Problem anzubahnen, damit hernach, wenn einmal die
Vorlage kommt — und Herr von Zedlitz hat sicherlich recht: sie wird un¬
mittelbar nach Friedensschluß kommen — die Zeit nicht mit endlosen General¬
debatten verloren werden muß. Sollte es denn wirklich so schwer sein, bei
allseitigem guten Willen einen Weg zu finden, der, wenn er auch nicht jedem
eine ideale Lösung, so doch annehmbar schiene? Dem konservativen Prinzip
könnte es jedenfalls nicht entgegen sein, wenn man in Verbindung mit einem
geheimen und direkten Wahlrecht eine Abstufung nach der gesamten staatlichen
und sozialen Leistung und Bewährung, anstatt lediglich nach der Steuerleistung
zugrunde legte. Es ließe sich etwa vorschlagen, zu der einem jeden Wähler
über fünfundzwanzig oder auch über einundzwanzig Jahren zustehenden Stimme
noch eine bis fünf Zusatzstimmen an folgende Qualifikationen zu knüpfen:
Ich kann diese Vorschläge, die den Klassencharakter und die plutokratische
Tendenz des heutigen Wahlrechts durchweg fallen lassen und nicht in dem
Besitz an sich, sondern allenfalls nur in der Erhaltung des Besitzes eine staatliche
Leistung sehen, im übrigen aber die staatliche und soziale Leistung und Bewährung
in ihren hauptsächlichen Momenten zum Grund- und Eckstein des Wahlrechts
erheben, hier nicht im einzelnen sorgfältiger ausarbeiten und begründen, werde
aber in einem besonderen Aufsatz gerade auch unter dem Gesichtspunkt des
konservativen Interesses auf sie zurückkommen. Mir scheint, es müsse unbedingt
möglich sein, auf dem Wege des hier aufgestellten Prinzips eine Einigung über
das Wahlrechtsproblem zustande zu bringen. Die linksliberalen Parteien werden
ja gewiß nicht leicht auf die Durchführung des gleichen Wahlrechts nach Analogie
des Reichstagswahlrechts in Preußen verzichten, sie werden sich aber auch klar
darüber sein, daß dieses in absehbarer Zeit keinenfalls zu erreichen steht. Die
Konservativen werden sich auf der anderen Seite sagen müssen, daß die heutige
Gestaltung des preußischen Wahlrechts auf keine Weise aufrecht zu erhalten ist,
auch nicht unter Ausmerzung einiger „Schönheitsfehler"; am wenigsten nach
den gewaltigen sozialen Umschichtungen des Krieges, die ja sicherlich auch unwürdige
Kriegslieferanten und Kriegswucherer in die erste Wählerklasse herauf», den Mittel-
stand aber in Bausch und Bogen in die unterste Klasse Herabdrücken werden!
Unter diesen Umständen sollte meines Erachtens ein ganz auf die staatliche und
soziale Leistung gestelltes Wahlrecht am ersten Aussicht bieten, alle Parteien rechts
und links und ganz gewiß auch das Zentrum auf sich zu vereinigen. Der
Zustimmung weiter konservativer Kreise glaube ich sicher zu sein; möchte auch
die Partei als solche den Entschluß finden, sich bei Zeiten, ehe noch die Frage
zur materiellen Erledigung gestellt wird, sich mit den anderen Parteien auf ein
Wahlrecht zu einigen, das dem gewaltigen Geist dieses Krieges gerecht wird!
Ich wünsche der konservativen Partei aus aufrichtigem Herzen eine große
Zukunft. Nie waren die Aussichten dazu günstiger. Heller wie je strahlen
die drei konservativen Hauptiöeale: Monarchie, Christentum, Staatsautorität
am Himmel des deutschen Volkes. Auch in der Hinwendung der Sozialdemokratie
zur Staatsgesinnung und Staatsbejahung liegt doch, genau genommen, eine
gewaltige Rechtsorientierung. Rechtsorientierung könnte das Kennwort unserer
ganzen innerpolitischen Zukunft sein. Aber es kann nur Wirklichkeit und Wahr¬
heit werden, wenn auch die konservative Partei bedenkt, was zu ihrem Frieden
dient, der zugleich der innere Frieden des deutschen Volkes, gegenseitiges Ver¬
stehen und Vertrauen im Sinne unseres Kaisers und Königs ist.
Der nachfolgende Aufsatz stammt aus der Feder eines Österreichers,
Er bildet das Gegenstück zum Aufsatz des Reichsdeutschen Dr. Karl
Buchheim, den wir anläßlich der Halbjahrhundertfeier des Nikolsburgec
Friedens in Heft 29 d. I. veröffentlicht haben. Beide Verfasser gelangen
unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, daß der Friedensschluß
zwischen Deutschland und Osterreich eines der im höchsten Sinne staats-
männischen Meisterstücke Bismarcks war, und daß beide Parteien heute
nur das betonen wollen, was sie nach langem Hader versöhnte.
reißig Jahre werde der deutsche Krieg dauern — so prophezeite
man im Frühjahr 1866. In Wahrheit wahrte es vom Beginn
der Feindseligkeiten bis zum Präliminarfrieden etwa einen Monat,
und zwischen den ersten Schüssen in Böhmen und der Entscheidungs¬
schlacht lag eine Woche. Auch sonst lebte die Zeit vor dem
Ringen in manchem Irrtum. Recht allgemein hielt man Österreich für den
unbedingt stärkeren Teil, und in der Donaumonarchie selber herrschte eine ver¬
hängnisvolle Unterschätzung des Gegners. Man malte sich den Kampf mit
Preußen meist optimistisch aus. Neben dem Haß gegen den „Störenfried mit
den drei Haaren", gegen den „Herrn von Eisenblut", gab sich eine mit Mi߬
achtung gepaarte Abneigung gegen alles Preußische überhaupt in schärfsten
Formen kund. Eine ähnliche erbitterte Aversion gab es in Norddeutschland
nicht. Dort wollte ja lange kaum jemand den Krieg außer jenem einen, der
eben stärker war als alle andern zusammen.
So kam der blutige Strauß, von dem Moltke höchst aufrichtig und in
seiner großzügigen Art gesagt hat: „Der Krieg 1866 ist nicht aus Notwehr
gegen Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen, auch nicht hervorgerufen
durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes. Er ist ein im
Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter
Kampf nicht für Ländererwerb, Gebietsvermehrung oder materiellen Gewinn,
sondern für ein ideales Gut — für Machtstellung". Stark aber war hüben
und drüben der patriotische Gram ob des Bruderkrieges, ob des Kampfes
Deutscher gegen Deutsche, der eine echte, frohe Begeisterung ausschloß. Mit
posthumer Genugtuung stellen wir aber auch fest, daß dieser Krieg, nach heutigem
Maße gemessen, ein „mit Glacehandschuhen" geführter war. Ist auch König-
grätz eine der größten und blutigsten Schlachten des Jahrhunderts gewesen, so
erscheint der Feldzug im ganzen doch nur wie eine kurze und glimpfliche
Episode, wie ein Degenkreuzen zwischen ritterlichen Gegnern.
Heute vollends sind die Wunden vernarbt, die das Jahr 1866 schlug.
Die Generation, die mit echtem Schmerz sah, wie Haus Österreich aus seiner
400 Jahre alten Präsidialstellung in Deutschland gedrängt wurde, ist schier
ausgestorben. Ihre wenigen Reste haben sich mit dem Schicksal längst abge¬
funden. Nicht was uns in trauriger Fehde trennte — was uns versöhnte,
wollen wir ins Gedächtnis rufen. Die Verhandlungen von Nikolsburg und
der Präliminarfriede vom 26. Juli 1866 aber waren es, die diese Versöhnung
brachten (zunächst freilich nur äußerlich), die aber doch alles weitere möglich
machten ....
Königgrätz war geschlagen. Bismarck trat vor. Wie mit einem Schlage
ist aus dem verwegenen Spieler, der die Dinge mit Absicht auf die Spitze
getrieben hat, der weise und maßvolle Staatsmann geworden, der dem Blut¬
vergießen ein Ende machen will. Der preußische Premier hatte den kurzen
Feldzug im Hauptquartier des Königlichen Oberkommandanten mitgemacht.
Aber erst nach der großen kriegerischen Entscheidung kamen harte Arbeit und
Sorge für ihn — Stunden, die er noch als Greis den schwersten seines Lebens
zuzählte. Darum sind die mit angestrengter Tätigkeit erfüllten Wochen nach
dem 3. Juli auch für das psychologische Lebensbild des Gewaltigen von hoher
Wichtigkeit.
Schon in den bangen Entscheidungsstunden von Königgrätz dachte Bismarck,
wie er selber erzählt, nach, wie man sich künftig zu Österreich stellen werde.
Aber er hat sich gewiß schon weit früher solche Gedanken gemacht. Den Habs¬
burgerstaat zu zertrümmern war objektiv unmöglich und lag subjektiv sicher
nicht in den Plänen eines Realpolitikers, der gerade durch seine klare Erkenntnis
des Erreichbaren so viel wirklich erreicht hat. Am selben Abende des 3. Juli,
da Moltke das historische Wort sprach: „Majestät haben nicht bloß die Schlacht,
sondern den Feldzug gewonnen", sagte Bismarck zu seinem Könige (wie Sybel
bekräftigt), „Die Streitfrage ist entschieden. Jetzt gilt es, die alte Freund¬
schaft mit Osterreich wieder zu gewinnen". Bismarck war eben bei aller Tat¬
kraft und Beharrlichkeit der Mann, der stets wußte, wo und wann er einzuhalten
habe. Auch das ist eines der Geheimnisse seiner Erfolge.
Es waren drei praktische Gründe, die in dem Minister den Wunsch nach
einem baldigen Frieden sozusagen stündlich steigerten. Zuerst Erzherzog Albrecht
und seine bei Custoza siegreiche Südarmee; zweitens die furchtbar wütende
Cholera; drittens Louis Napoleon. Leidender Gedanke aber blieb für den Staats¬
mann, dessen Blick ebenso in die Weite wie in die Tiefe ging, daß Österreich
geschont werden müsse, sofern dies mit dem vorgesteckten Ziele nur irgend ver¬
einbar war. Denn ein tödlich verletztes Österreich — so argumentierte Bismarck
— würde für alle Zukunft der natürliche Bundesgenosse der Feinde Preußens
sein. Ja, schon für die nächste Zukunft besorgte Bismarck, das Duell zwischen
den zwei deutschen Großmächten könnte zu einem europäischen Koalitionskriege
werden, in dem es für Preußen um „Kopf und Kragen" gehen würde.
Auf diesem Wege von NikolSburg zum Frieden aber fand Bismarck den
Hauptgegner nicht in Osterreich und nicht in Napoleon, sondern bei seinem
eigenen Herrn und Gebieter. König Wilhelm und seine Heerführer wollten sich
in dem glänzenden Siegeszug, der geraden Wegs nach Wien wies, nicht auf¬
halten lassen. Und gerade einen triumphalen Einzug in die Kaiserstadt — in
Bismarcks Augen nichts als eine Sache der militärischen Eitelkeit — wollte
der Minister dem geschlagenen Österreich ersparen.
Über Napoleons Vermittlung, die unmittelbar nach Königgrätz einsetzte,
haben die Forschungen unserer Zeit viel Neues und Interessantes beigebracht.*)
Natürlich hatte der Kaiser die deutsche Frage stets mit Aufmerksamkeit verfolgt.
Der Hader zwischen Preußen und Österreich konnte ihm nur erwünscht sein
und man weiß, wie eifrig er das preußisch-italienische Bündnis gefördert harte.
Seine überfeine Berechnung litt aber doch wohl an dem Grundfehler, daß er
einen Sieg Österreichs voraussetzte. Offenbar wollte er im günstigen Augenblick
eingreifen, um für sich selber etwas herauszuschlagen. Gewiß nicht aus Erobe¬
rungssucht, sondern zur Stärkung seiner Position in Frankreich selber.
Schon am 2. Juli hatte Österreich Napoleon um Vermittlung eines Waffen¬
stillstandes ersucht; und am Tage nach Königgrätz erschien Fürst Metternich in
den Tuilerien, um im Namen seines Souveräns Venetien dem Kaiser zur
Verfügung zu stellen. Denn hier sollte dieser den Waffen Italiens Einhalt ge¬
bieten und so die Verwendung der österreichischen Südarmee gegen Preußen
ermöglichen. Mit tiefem Grolle vernahm die Wiener Bevölkerung, daß man
Venedig „die Perle in der Krone des Kaisers" an Österreichs Erzfeind preis¬
gegeben habe. Heute freilich wissen wir, daß durch den merkwürdigen Ge¬
heimvertrag vom 12. Juni 1866, also vor Ausbruch des Krieges, die Abtretung
Benetiens an Napoleon dem Dritten auch für den Fall eines österreichischen Sieges
auf beiden Fronten verabredet war. Der Preis für Napoleons Neutralität!
Schon in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli erfuhr König Wilhelm in
seinem Hauptquartier zu Horschitz durch ein Telegramm Napoleons die Ab-
vetung Venetiens und die österreichische Bitte um Vermittlung. Er verhielt
sich zunächst dilatorisch. Denn sein erster Ratgeber wagte es nicht, die ihm
höchst unwillkommene Einmischung Napoleons kurzweg abzuweisen. Daß Frank¬
reich zu einem Kriege nicht gerüstet sei, wußte wohl auch Bismarck. Aber mit
den starken süddeutschen Kräften vereinigt, konnten auch nur vierzigtausend
Franzosen im Westen eine bedenkliche Situation schaffen. So dachte der
Politiker, der auch mit den in Süddeutschland noch nicht ganz erstorbenen
Rheinbundgelüsten rechnete, während Moltke bereit war, den Kampf auch an
der Rheinfront aufzunehmen.
Die militärischen Bewegungen nahmen indeß ihren Fortgang. Am 6. Juli
besetzen die Preußen Prag; am 10. übernimmt Erzherzog Albrecht den Ober¬
befehl über alle Kaiserlichen Streitkräfte; ein Teil der Südarmee wird nach der
Donau gezogen und ein Manifest Franz Josefs scheint einen neuen Widerstand
Österreichs einzuleiten. Um diese Zeit war es schon klar, daß Napoleon sich
mit seiner Intervention zunächst eine böse moralische Schlappe geholt hatte.
Preußen blieb nicht gleich auf den ersten Wink des in Europa noch immer für
so mächtig Gehaltenen stehen, und die Italiener lehnten es ab, Venetien als
Geschenk aus seiner Hand zu nehmen. Mit großer Offenheit gestand der
Kaiser, der einen ganz gebrochenen Eindruck machte, dem preußischen Gesandten
in Paris von der Goltz das Mißliche seiner Lage ein. Er selber wollte, krank
und unkriegerisch wie er war, nichts weniger als ein Eingreifen mit den
Waffen, das ihm sein Minister Drouyn de Lhuys arriel. In der französischen
Regierung und bei Hofe waren die Ansichten geteilt. Rouher sprach von
„patriotischen Beklemmungen" und die sogenannte Volkesstimme rief schon ver¬
nehmlich nach „revanLtie pour Laäowa,!" So gewann die Vermittlung
Napoleons, hinter der kein schlagfertiges Heer stand, immer mehr den Charakter
des Schwächlichen, Schwankenden, in sich selber Unklaren und gegen die
andern Unaufrichtigen.
Mit der persönlichen Vermittlung hatte der Kaiser den Grafen Benedetti
betraut — denselben, der vier Jahre später eine noch odiösere Mission über¬
nehmen mußte. Ihm war es nach vielen Mühsalen gelungen, in der Nacht
vom 11. auf den 12. Juli nach Zwittau zu kommen und dort plötzlich an
Bismarcks Bette zu erscheinen. Den Premier empfing den Franzosen höflich
und suchte ihn zu Sortieren. Benedetti machte aber keine positive Vorschläge.
So ließ Bismarck, am 12. in Brünn angekommen, sofort den Bürgermeister
der Stadt zu sich bitten. Das war Dr. Karl Giskra, ein alter Achtund¬
vierziger, der spätere „Bürgerminister", ein Mann von hohem Verstände und
starkem Temperament. Ihn ermächtigte Bismarck in Wien zu sagen: Öster¬
reich könne sofort Frieden ohne Gebietsabtretung, ohne Kriegsentschädigung, ja
mit freier Hand südlich des Mains haben, wenn es dem Könige von Preußen
freie Hand in Norddeutschland gewähre und wenn — jede Vermittlung
Napoleons ausgeschlossen sei. Giskra, der es nicht wagte, in solchen Tagen die
unter seiner Leitung stehende Stadt zu verlassen, sandte den Präsidenten der
Brunner Handelskammer, Baron Herring, an seiner statt. In Wien aber ließ
man den Boten Bismarcks erst ungebührlich lange auf Antwort warten. Man
schreibt dieses ebenso unhöfliche als unkluge Zaudern dem Einfluße des un-
seligen, von düsterem Geheimnis umwobenen Grafen Moriz Esterhazy zu.
Gewiß besaß dieser Minister „ohne Portefeuille", dem man gemeinhin eine
Hauptschuld an der unglücklichen österreichischen Politik von 1866 beimißt, in
der Hofburg und am Ballplatz mehr Macht, als der nominelle Leiter der
auswärtigen Angelegenheiten Graf Mensdmff-Pouilly. Als nun Herring —
erst am 19. Juli! — bei Bismarck eintraf, um die Geneigtheit der öster¬
reichischen Regierung zu direkten Unterhandlungen anzuzeigen, hörte er ein:
Zu spät! Die Mediation Frankreichs sei bereits angenommen. Das war.
schreibt Friedjung, „das Ende der Verbindung Österreichs in Deutschland",
denn die letzte Gelegenheit für die Monarchie, im Süden des Mains festen
Fuß zu fassen, war vorbei. Bismarck ist auf feinen wiederholt gestellten
Antrag einer Trennung Deutschlands in zwei Interessensphären nicht mehr zu¬
rückgekommen.*)
Bismarck sprach mit seinem Zu spät! die Wahrheit. Schon am 14. Juli
hatte Napoleon mit Goltz die Bedingungen eines Friedens in der Weise skizziert,
wie er der Hauptsache nach zwölf Tage fpüter wirklich zustande kam. Am
17. waren diese Punktationen im preußischen Hauptquartier zu Nikolsburg
eingetroffen. Bereits am Tage darauf erschien hier Benedetti, der, ganz wie
fpüter in Eins verurteilt war, die Rolle des Zudringlichen zu spielen.
Nikolsburg liegt in einer der schönsten Gegenden Mährens, hart an der
nieder-österreichischen Grenze im Süden der weingesegneten Polauer Berge.
Das Städtchen — nebenbei gesagt die Heimat Sonnenfels', des erleuchtetsten
Ratgebers Maria Theresiens — hat in jenen Tagen einen welthistorischen Namen
erobert. Es bedeutet für alle Zeiten die Grenzscheide zwischen der öster¬
reichisch-preußischen Rivalität, die mit dem Regierungsantritt des großen
Friedrich begonnen hatte, und einer treuen, festen Freundschaft, die in unsern
Tagen ihre glanzvollste Probe bestanden.
Hier wurde vorerst am 22. Juli eine fünftägige Waffenruhe vereinbart.
Zwei Tage vorher hatte Tegetthoff bei Lissa gesiegt; die Preußen aber standen
schon vor den Toren Wiens und vor Preßburg. Aber ehe die fünf Tage um
sind ist auch der Friede gemacht. Mit den österreichischen Unterhändlern hatte
Bismarck nicht allzu schwere Arbeit. Den Vertreter Napoleons scheint er mit
halben Worten und halben Zugestündnissen vertröstet zu haben, die er nie ein¬
zuhalten gedachte. Einen harten Kampf aber hatte er mit seinem „alten Herrn".
Und da war die Friedenssache, für die sich Bismarck mit seinem ganzen Feuer
einsetzte, mehr als einmal in Gefahr, zu scheitern. Heute erst vermögen wir
die Kraft und das Geschick zu ermessen, mit denen der Minister dieser Hinter-
nisse Herr wurde, aber auch die Verdienste, die er sich in diesen heißen Tagen
um Preußen, um Deutschland, um Österreich erwarb.
An der Grenze seiner Siebzig stand König Wilhelm im Glänze eines
Erfolges, den sich vier Wochen vorher niemand geträumt Hütte. Ist es zu
wundern, wenn dem lorbeergeschmückten Greise nun das, was Bismarck ihm
empfahl, zu wenig dünkte? Es mag ein banales Wort sein, kennzeichnet aber
doch wohl das, was menschlich und begreiflich ist: dem Könige war der Appetit
beim Essen gekommen. Lange hatte er dem Kriege widerstrebt und ihn zuletzt
nur als einen defensiven akzeptiert. Nun standen seine Truppen vor der
feindlichen Hauptstadt. Nun wollte er, Soldat durch und durch, nur als
wirklicher Sieger, will sagen als Eroberer heimkehren. An Annexionen im
Sinne einer Einverleibung ganzer Staaten dachte er noch nicht, wohl aber an
ausgiebige Gebietserweiterungen: Westsachsen mit Leipzig, Chemnitz, Zwickau;
die einst hohenzollerschen Markgrasschasten Ansbach und Baireuth; Ostfriesland;
das böhmische Egerlcuid, das gewerbefleißige Reichenberg; das blühende
österreichische Schlesien sollten preußisch werden! Ging das nicht im Guten, so
mußte man eben die Waffen wieder aufnehmen, den schon begonnenen Angriff
auf Preßburg fortsetzen und nötigenfalls auch den Kampf mit Frankreich wagen.
Wie weit stand, was Wilhelm der Erste und seine militärischen Ratgeber
anstrebten, von dem ab, was Bismarck, „der Questenberg des Lagers", bean¬
tragte, — Bismark der erklärte, mit der freien Hand in Norddeutschland sei
Preußens politischem Bedürfnisse Genüge geleistet. Auf dem schönen, hoch¬
gelegenen Schlosse der Dietrichstein zu Nilolsburg gab es nun dramatische
Szenen, auf die der Kanzler in späteren Jahren oft zurückkam. Sehr richtig
sagt Erich Marcks, daß bei König Wilhelm die persönlichen, die dynastischen,
die Siegergefühle, bei Bismarck der sachliche preußische Staatsgedanke überwog.
Oder mit anderen Worten, der König wollte das erst noch zu Erkämpfende,
das Gefährlichte und Zweifelhafte; der Minister das Praktische, Sichere, Gesunde.
Jedenfalls war Bismarck kein angenehmer Diener, aber auch Wilhelm kein
bequemer Herr.
Man staunt, daß so tief sitzende Unterschiede sich in ein paar Tagen aus¬
gleichen konnten, freilich erst, nachdem sie heftig aufeinandergeprallt. „Die
maßgebenden Nervensysteme" schreibt Roon, „sind so überreizt, daß es hie und
da lichterloh zum Dach hinaus brcnnnt und jeder Wohlmeinende mit dem
Löscheimer hinzueilen muß." Im Kriegsrate vom 3. Juli stellte sich der König
auf die Seite der Militürpartei und der einzige Zivilist in der Konferenz war
so erregt, daß er ins Nebenzimmer ging, sich aufs Bett warf und einen Wein-
krampf hatte wie ein Kind. Damals auch körperlich leidend, fah Bismarck,
wenn der Krieg fortgesetzt würde, sein ganzes bis nun so schön gediehenes Werk
gefährdet.
Er setzte sich hin und schrieb eine seiner gewaltigsten Denkschriften nieder,
die in dem lapidaren Satze gipfelte: „Der Ausschluß Österreichs aus dem
Bunde, in Verbindung mit der Annexion von Schleswig-Holstein. Hannover.
Kurhessen, Oberhessen und Nassau darf als ein Ziel angesehen werden, wie es
bei Ausbruch des Krieges niemals gesteckt werden konnte". Dieses Ziel wegen
des Gewinnes von ein paar Quadratmeilen oder ein paar Millionen Kriegs¬
entschädigung in Frage zu stellen, wäre ein politischer Fehler.
Noch einmal setzte Bismarck am 24. — dem entscheidenden Tage — dem König
an der Hand dieses Memorandum all' seine Gründe für einen raschen und milden
Frieden auseinander. Wilhelm gab ihm in manchem Punkte recht; aber,
sagte er, Österreich und seine Verbündeten müssen für ihre preußenfeindliche
Haltung gestraft werden. Worauf Bismarck: Unsere Aufgabe ist die Anbahnung
einer nationalen Einigung unter Preußen, nicht aber das Strafrichteramt.
Und mit seinem ganzen Freimut setzte er hinzu, Österreichs Rivalität gegen
Preußen sei nicht strafbarer als die Preußens gegen Österreich.
Das war im Grunde nur mehr ein Streit um Worte. Aber der König erboste
sich doch so, daß Bismarck es vorzog sich zu entfernen. Er trat in sein Zimmer und
dachte, wie er selber erzählte, ob es nicht das Beste wäre, zum offenen Fenster des
vierten Stockwerks hinab zu „fallen". Da legte sich eine Hand auf seine
Schulter. Es war die des Kronprinzen, der sich in schlichten Worten erbot,
beim Könige zu vermitteln. Schon nach einer schwachen halben Stunde kam
er wieder zurück. Es habe schwer gehalten, aber der Vater habe zugestimmt.
„Sprich Du im Namen der Zukunft" hatte Wilhelm zu seinem Sohne gesagt.
So war es in dieser kritischen Stunde der künftige Thronerbe, der nie ein
Freund Bismarcks und stets ein Gegner des Krieges gewesen, und der nun
mit Kraft und Erfolg eingriff. Bismarck hat ihm dies nie vergessen. „Der
Kronprinz", sagte er nach Jahren, „war der einzige verständige Mensch im
Hauptquartier zu Nikolsburg, der mir beigestanden und sich namentlich dem
Begehren von Landesabtretungen Österreichs kräftig widersetzt hat". Übrigens
waren es recht unfreundliche Worte, die Wilhelm als Marginale auf Bismarcks
Denkschrift setzte: „Nachdem mein Ministerpräsident mich vor dem Feinde im
Stiche läßt und ich außerstande bin, ihn zu ersetzen, habe ich die Frage mit
meinem Sohne erörtert und da sich derselbe der Auffassung des Minister¬
präsidenten angeschlossen hat. sehe ich mich zu meinem Schmerz gezwungen, nach
so glänzenden Siegen der Armee in diesen sauren Apfel zu beißen und einen
so schmachvollen Frieden anzunehmen". Wir denken heute, daß man solche
„Schmach" wohl auf sich nehmen konnte.
Als die Bedingungen von Nikolsburg schon zur Unterschrist fertig lagen,
erschien Benedetti mit den gewissen Kompensationsforderungen. Aber Bismarck,
der die Sache nun im Sacke hatte, wies ihn ebenso höflich als kurz ab. Das
Wesentliche in den nur vorläufigen aber für beide Teile bindenden Präliminarien,
die das historische Datum des 26. Juli 1866 tragen, bleibt immer die Zu¬
stimmung Österreichs zur Auflösung des deutschen Bundes und zur Ordnung
der Dinge in Norddeutschland nach Preußens Ermessen. Selbstverständlich
war die Abtretung Schleswig-Holsteins. Auch im Punkte der Kriegsentschädigung
zeigte sich Bismarck nachgibig; die 20 Millionen Taler, die Österreich auferlegt
wurden, dünken uns heute eine Bagatelle. Auch die süddeutschen Staaten
kann ohne nennenswerte Gebietsabtretung und mit relativ bescheidenen
Zahlungen weg. Für Sachsens, seines tapferen Bundesgenossen, territoriale
Integrität war Österreich in loyaler Weise eingetreten. Aber auf der Zu¬
gehörigkeit des Königreichs zum künftigen norddeutschen Bunde hatte, Bismarck,
zuletzt mit Heftigkeit, bestanden.
Bereits am 23. August erhielten die Präliminarien ihre endgültige Form.
Dieser Prager Friede ist das grundlegende Dokument geworden zur modernen
Stellung Preußens. Es gab dem bis dahin schmächtigen und in zwei Teile
zerrissenen Staat Vergrößerung und Abrundung. Es machte ihn zum Führer
nördlich des Main; es hat aber dem Begriffe „deutsch" schon damals einen
über den Norden hinaus greifenden Inhalt gegeben. Denn was die Welt freilich
noch nicht wußte: zehn Tage vor Prag waren die geheimen Schutz- und Trutz-
bündnisse Bismarcks mit den süddeutschen Staaten perfekt geworden. Jenen
besondern „Südbund", der ihnen vorbehalten wurde, blieb auf dem Papier
und die Schaffung eines Deutschen Reiches war schon in jenen Tagen, soweit
es die Umstände zuließen, sichergestellt.
Für Louis Napoleon und seine Rheinbundswünsche bildete auch dies
einen Mißerfolg. Als im Juli 1870 die Süddeutschen nicht mit Frankreich,
sondern vertragstreu mit Norddeutschland gingen: da erst mochte der Kaiser
erkennen, wie sehr ihn dieser sympathische NonZieur <Zs LlZmarLk 1866 hinters
Licht geführt. Bismark hatte den von der Welt noch für überschlau Gehaltenen
hingehalten und als Mittel benutzt, um ihn zuletzt auch um die bescheidensten
„Spesen" seiner Neutralität und Mediation zu bringen. Sicher hat Napoleons
Dazwischentreten nach Königgrätz an sich seine Folgen gehabt; denn es drängte
die preußischen Vorherrschaftsgedanken über ganz Deutschland zunächst in den
Hintergrund. Österreich aber Hütte ohne Napoleons Vermittlung vermutlich —
siehe Mission Giskra — noch bessere Bedingungen erreicht; für sich selber endlich
hat der „ehrliche Makler" von der Seine nichts erzielt, als eine Abfuhr. Am
4. August ist Bismarck in Berlin; ant 5. erscheint schon Benedetti und fordert
nun nicht mehr kleine Grenzberichtigungen, sondern schlankweg Mainz. Saarlouis,
Saarbrücken, die bayrische Rheinpfalz. Bismarck weist ihn trocken ab, droht
mit den Kriege. Benedetti geht und sein erhabener Souverän steckt die
„diplomatische Ohrfeige" ruhig ein. So brachte 1866, und zwar weniger der
preußische Sieg als die französische Vermittlung, für Louis Napoleons Prestige
daheim und in Europa eine bedenkliche Einbuße. . .
„Es soll in Zukunft und für beständig Friede und Freundschaft zwischen
den beiderseitigen Staaten herrschen," hieß es wie üblich im Prager Traktat.
Niemals sonst ist eine konventionelle Phrase so zur Wahrheit geworden. Mit der
Freundschaft freilich hatte es, wenigstens beim Besiegten, noch seine guten Wege. Aber
der beharrlichen Staatskunst eines Bismarck und der kongenialen Mitarbeiterschaft
eines Andrassy ist es gelungen, aus dem kühlen Frieden allmählich ein Ein¬
vernehmen und aus dem Einvernehmen eine Defensivallianz zu schaffen. Und
aus dieser wurde ein weit das Maß alles international Gewöhnten überragender
Freundschaftsbund. Seine Früchte reifen täglich und stündlich. Für solche Politik
aber wurde der Weg im Sommer 1866 zu Nikolsburg und Prag frei gemacht.
Und das ist der letzte Sinn dieser Halbjahrhundert-Erinnerung.
le neueren Beziehungen zwischen China und den westeuropäisch¬
amerikanischen Staaten haben von Beginn an, also ungefähr seit
dem Anfang der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts,
unter einem unglücklichen Sterne gestanden. Irrungen und
Wirrungen haben sie beherrscht, die entstanden waren und ent¬
stehen mußten aus der vollständigen Unkenntnis, in der sich jeder Teil bezüglich
der Staats- und Weltanschauung des andern befand.
Was wußte der Westen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vom
alten China, seiner großen Geschichte, seiner Machtentfaltung in früherer Zeit,
seiner religiös-ethischen Staatsidee, seiner uralten Kultur, seinem reichen Geistes¬
leben? Nichts. Zwar trafen Westen und Osten damals ja nicht zum ersten
Male zusammen, denn schon Jahrhunderte früher waren die Kaufleute und
Gesandten der führenden westlichen Staaten nach China gekommen, hatte ein
Marco Polo, der größte Chinakenner am Ausgang des dreizehnten Jahrhunderts,
seine Reisen durch das weite Reich gemacht, waren katholische Misstonare drüben
erfolgreich tätig gewesen. Aber was sie uns überliefert hatten, war in den
Archiven und Büchereien vergraben, war das geistige Eigentum einer ganz
geringen Zahl von Gelehrten. Die europäischen Regierungen und ihre Diplomaten
und Admiräle, die europäischen Kaufleute und Schiffseigentümer hatten von
Wna kaum eine andere Vorstellung als die eines großen dichtbevölkerten
Landes, das aus teuflischer Bosheit oder verblendeter Torheit sich abschloß,
keine diplomatischen Beziehungen anknüpfen, keine kaufmännischen Geschäfte mit
Ausländern machen, keine Fremden seine Grenzen überschreiten lassen wollte.
Und was wußte auf der anderen Seite China vom Westen, seiner politischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Weltanschauung, seinen Zielen
und Absichten, seinem Willen und Wollen? Ebenfalls nichts. Den katholischen
Missionaren, die nähere Kunde von uns hätten bringen können, war bereits
1716 unter Kaiser Kanghi und abermals 1785 unter Kaiser Kiau-lung das
Land verboten worden,- und der Handels- und Schiffsverkehr, wenn er auch
bestand, war doch zu gering und berührte auch nur die äußersten Seegrenzen
des Reiches, als daß er als wichtiges Verständigungsmittel zwischen West und
Ost hätte in Betracht kommen können.
Diese gegenseitige Unkenntnis hat eine ununterbrochene Kette von Schmerz»
lichen und bedauerlichen Mißverständnissen hüben und drüben zur Folge gehabt.
Wir sahen Hochmut. Anmaßung und bornierte Dünkelhaftigkeit, wo China
tatsächlich (und von seinem Standpunkte mit Recht) um den Fortbestand seiner
Staatsidee kämpfte; wir sahen bösen Willen und verletzende Rücksichtslosigkeit
gegen unsere „guten" Absichten, wo es sich für China um die Erhaltung seiner
Kultur und kulturellen Ideale handelte. Andererseits erhoben wir Forderungen,
die nach westlicher Auffassung nicht unbegründet, nach chinesischer hingegen als
brutale Vergewaltigungsabsichten erscheinen mußten, verkehrten wir mit China in
Formen, die uns im Laufe der Entwicklung geläufig geworden waren, ihm
aber als verächtliche Äußerung barbarischer Gesinnung erschienen.
Es ist sicherlich ganz irrig, für den Westen mildernde Umstände in Anspruch
zu nehmen und China die Hauptschuld an all den unzähligen Mißverständnissen
zuzuschreiben. Soweit von Schuld im einzelnen Falle überhaupt die Rede sein
kann, lag sie auf beiden Seiten; ihre Wurzel war aber fast stets das gegen¬
seitige Nichtkennen. Im übrigen dürfen wir nicht vergessen: China hatte
uns ja nicht gerufen, sondern der Westen kam und drängte sich ihm auf, schlug
rücksichtslos Einlaß begehrend an die Pforten des Reiches, unbekümmert um
Chinas Wünsche, ausschließlich geleitet von der Durchsetzung seiner eigenen Ziele
und Bestrebungen.
Es kann gewiß nicht wundernehmen, daß dieses nur von eigenen Rück¬
sichten diktierte Vorgehen den Westländern herzlich wenig Sympathien in China
eintrug. Man verabscheute die Fremden, verachtete und haßte sie. So kam
es bald hier, bald dort zu Auseinandersetzungen und Blutvergießen, bis
schließlich die allgemeine Fremdenfeindlichkeit zum Ausbruch kam in dem Boxer¬
aufstand, jener von oben herab organisierten Generalabrechnung mit den West¬
ländern, die das seit Jahrtausenden überkommene Verhältnis zwischen Re¬
gierung und Volk mit ihren staatsrechtlichen, philosophischen und religiösen
Ideen zerstörten, die den territorialen Bestand des Reiches antasteten, die das
Land in früher ungeahnte Schulden stürzten, die seine wirtschaftlichen Hilfs¬
quellen sich selber nutzbar machten, die obendrein mit ihrem Gift, dem Opium,
das Volk entnervten und verdarben und nur ein Ziel zu kennen schienen:
politischer und wirtschaftlicher Gewinn auf Kosten Chinas.
So hat die gegenseitige Unkenntnis bittere Früchte getragen, schwere Opfer
an Blut und Gut gefordert und zur Folge gehabt, daß die gegenseitige An¬
näherung zwischen West und Ost nur zögernd und langsam vor sich gegangen ist.
Es ist gar keine Frage, daß unsere Kenntnisse der chinesischen Verhältnisse
im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich zugenommen haben. Nicht nur in
wirtschaftlicher Beziehung sondern namentlich auch, soweit es sich um die Er¬
kenntnis und Durchdringung des geistigen Lebens Chinas, seiner Welt- und
Staatsanschauung handelt. Männer wie von Brandt, Franke, Grube"), Hack¬
mann, Rohrbach, Schrameier, Schüler, Pfarrer Wilhelm und Witte, um nur einige
von ihnen zu nennen, haben uns in neuester Zeit in ihren auch der All¬
gemeinheit zugänglichen und verständlichen Arbeiten reiches Material gegeben,
das weiten Kreisen eine Orientierung über die geistigen Prinzipien Chinas
sehr wohl ermöglicht. Trotzdem sind wir allerdings noch weit davon entfernt,
daß die Beschäftigung mit diesen Dingen und ihre Kenntnis so verbreitet wäre,
wie wir es im Interesse der west-östlichen Beziehungen dringend wünschen
müssen. Alle unsere Bergwerksanlagen nämlich, unsere Eisenbahnen und
Maschinen, unsere Kanonen und Kriegsschiffe, unsere Jurisprudenz und Medizin,
alles das, was wir den Chinesen bringen und was sie sich bei uns holen, ist
nicht ausreichend zu einer gegenseitigen Verständigung. Wir müssen vielmehr
darüber hinaus versuchen, uns mit dem geistigen Leben Chinas auseinander¬
zusetzen.
Das ist heute noch wichtiger als früher. Unsere Freundschaft für den
Fernen Osten ist merklich abgekühlt, seitdem Japan, das einen guten Teil
seiner rapiden Entwicklung auf allen Gebieten Deutschland verdankt, sich auf
die Seite unserer Feinde stellte und sich den lächerlich geringen Ruhm erwarb,
das isolierte deutsche Pachtgebiet Kiautschou uns abzunehmen. Wir wollen
hier nicht untersuchen, welche Motive die japanische Regierung leiteten, und ob
etwa,Vorgänge der hohen Politik, wie z.B. die Haltung Deutschlands im
Bunde mit Frankreich und Rußland gelegentlich des Friedens von Shimonoseki
(April 1895) oder zehn Jahre später die Stellung Deutschlands während des
russisch-japanischen Krieges, von ausschlaggebender Bedeutung für Japans
Eintreten in den Kreis unserer Feinde waren. Tatsache ist jedenfalls, daß
wir das japanische Vorgehen als eine vollendete Felonie einem Staate gegen¬
über empfinden, der wie das Deutsche Reich freudig gegeben hatte, um auf
allen Gebieten, dem Heerwesen, der Industrie, den Geisteswissenschaften usw., den
japanischen Aufstieg zu fördern.
Wenn wir uns auch bemühen, das Verhalten Japans heute objektiver
und leidenschaftsloser als nach Überreichung seines Ultimatums zu betrachten.
so kann doch kein Zweifel darüber herrschen, daß trotz aller Nechfertigungs-
gründe, die das östliche Inselreich für sein Vorgehen in Anspruch nimmt, bei
uns in weiten Kreisen tiefe Enttäuschung (oder vielleicht mehr noch: Ent¬
rüstung) über den ostasiatischen Widersacher Deutschlands besteht. Wir haben
das Gefühl, von Japan, das wir auf seinem Entwicklungsgange entscheidend
unterstützt hatten, treulos hintergangen, verraten zu sein. Und Treubruch und
Verrat sind Dinge, die der Deutsche nicht leicht vergeben, geschweige ver¬
gessen kann.
Der Europäer, der zum ersten Male sich einem Kreise von Ostasiaten
gegenübersieht, gebraucht geraume Zeit, um die einzelnen Personen von¬
einander unterscheiden zu lernen. Unsere westlichen Augen sind zu wenig ge¬
schult, um die einzelnen Unterschiede in den ostasiatischen Physiognomien ohne
weiteres zu erfassen. Erst bei näherer Beobachtung merkt man, daß die ein¬
zelnen Individuen sehr verschieden voneinander sind, und daß die landläufige
Meinung: „Sie sehen alle gleich aus" auf Täuschung beruht. Dieser optischen
Täuschung entspricht eine andere. Der den Dingen ferner Stehende ist nur
zu leicht geneigt, den Satz: „Sie sehen alle gleich aus" zu dem Satze zu ver¬
allgemeinern: „Die Ostasiaten sind alle gleich", nämlich ihrem Wesen und
Charakter nach.
Diese Auffassung ist jedoch ein starker, wiederum nur auf unzureichender
Kenntnis beruhender Irrtum, der die Gefahr zu neuen schwerwiegenden Mi߬
verständnissen in sich schließt.
Es wäre für die Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts
nachteiliger, als die Meinung sich verbreiten zu lassen, alle Ostasiaten, das soll
in diesem Falle heißen, die Japaner und die Chinesen, seien nach Wesen und
Charakter gleich. Würde den Chinesen bei uns eine dieser Auffassung ent¬
sprechende Behandlung zuteil, würden wir ihnen hinfort mit dem berechtigten
und starken Mißtrauen begegnen, das wir in Zukunft nach den gemachten Er¬
fahrungen den Japanern entgegenbringen müssen, so würden wir einerseits die
Sympathien eines großen Volkes aufs Spiel setze», das uns heute mit auf¬
richtiger und unverhohlener Bewunderung für Deutschland in seinem ungeheuren
Kampfe gegen eine Welt von Feinden gegenübersteht, und wir würden anderer¬
seits den Chinesen schweres Unrecht zufügen.
Heute ist die Meinung nicht selten, daß im Leben der Völker Sympathien
und Antipathien, Gefühle und Empfindungen keine große Rolle spielen, sondern
lediglich die staatlichen Ideale und vermeintlichen Lebensnotwendigkeiten, die
Macht und die Kraft sich durchzusetzen. Gewiß sind die letzteren dieser Faktoren
stärker als die ersteren, wie ja dieser Krieg nur allzu deutlich erwiesen hat.
Aber das darf uns nicht abhalten, uns Sympathien, die uns entgegengebracht
werden, zu erhalten. Heute mehr denn je. Deutschland war, seitdem es
politisch und wirtschaftlich stark geworden ist, viel gefürchtet, aber wenig beliebt
in der Welt. Nur diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß englische Reuter-
telegramme und Bilder angeblicher deutscher Greuel bei einer Reihe neutraler
Staaten ein ebenso empfängliches Publikum fanden wie bei unseren Feinden.
Ob ein siegreiches Deutschland diese Unbeliebtheit in absehbarer Zeit ins
Gegenteil verkehren kann, ist zum mindesten zweifelhaft. Unzweifelhaft aber
ist es, daß „der durch den Krieg einmal entsandte und mit Blut besiegelte
nationale Haß", „die erbitterte Stimmung in Frankreich, England und Nußland
sich aus dem Krieg in den Frieden forterben wird" (Fürst Bülow). Dieser
Unsumme von Unbeliebtheit, nationalem Haß und erbitterter Stimmung uns
gegenüber sollen und müssen wir ehrliche Sympathie, wo immer sie uns ent¬
gegengebracht wird, hegen und fördern.
Aber sehen wir ganz von dem mehr oder weniger großen Wert der
Sympathien Chinas für Deutschland ab.. Eine Gleichstellung der Chinesen mit
den Japanern würde in erster Linie ein schweres Unrecht an jenen bedeuten.
Der Inhaber einer bekannten deutschen Firma in Ostasien, der viele Jahre
dort draußen zugebracht hat, schrieb mir kürzlich: „Die Chinesen sind keine
Japaner; generell gesprochen ist bei ersteren eine sehr viel anständigere Gesinnung
zu finden als bei letzteren." Dieser auf jahrzehntelanger Erfahrung beruhende
Satz trifft den Kardinalpunkt: Was den Chinesen dem Japaner gegenüber
auszeichnet, ist die sehr viel anständigere Gesinnung. Darin liegt der Grund
sür die Überzeugung jenes „Ausländers, der in beiden Ländern gelebt hatte,
daß, je länger ein Fremder in Japan lebt, desto weniger er die Japaner liebt,
je länger hingegen ein Fremder in China lebt, desto mehr er die Chinesen liebt."
Sicherlich ist das Seelenleben der Ostasiaten ein anderes als unseres, und wir
können unmöglich erwarten, daß wir jede der menschlichen Eigenschaften, die
uns als die edelsten und besten erscheinen, bei Menschen wiederfinden, die
Jahrtausende hindurch, Generation auf Generation, in einem ganz anderen
Kulturkreis aufgewachsen sind. Gewiß sind uns manche Züge im Leben des
einzelnen Chinesen sowie des chinesischen Volkes im ganzen unverständlich und
vielleicht auch wenig sympathisch, aber „trotz seines Mangels an Reinlichkeit und
Verfeinerung, trotz seiner vielen geistigen und Charakter-Fehler" (Ku Hung Ming*)
finden wir, wenn wir alles nur in allem nehmen, in den typischen Vertretern
des Chinesentums so viele edle Eigenschaften, so viel auch nach unserer Auffassung
grundanständige Gesinnung, daß sie nicht nur unsere Achtung sondern auch
unsere Wertschätzung verdienen. Oder auf das Ganze projeziert: „Im großen
überschaut, sind die Chinesen ein Volk, das alle Hochachtung verdient und in
seiner kernigen, geschlossenen Art auch, für die Zukunft Großes verspricht" (Witte).
Mag eine eingehende Beschäftigung mit dem chinesischen Volkscharakter,
seinen guten und schlechten Eigenschaften, den uns sympathischen und un¬
sympathischen Zügen, des Raumes wegen einem späteren Aufsatze vorbehalten
bleiben. Worauf es mir heute ankam, war, darauf hinzuweisen, daß wir uns
entschieden davor hüten müssen, die Chinesen nur deswegen so einzuschätzen,
wie wir es nach den Erlebnissen der letzten Jahre bei den Japanern tun müssen,
weil sie wie diese Ostasiaten, Mongolen sind.
Wer mit den hier lebenden Chinesen verkehrt, weiß, daß manche von ihnen
die Befürchtung hegen, man könnte sie die an den Japanern erlebte Enttäuschung
durch eine allzu sehr betonte Reserviertheit und Kühle vergelten lassen. Diese
Befürchtung darf und soll meines Erachtens nicht aufkommen. Das weitgehende,
zum Teil allzu große Entgegenkommen, das den Japanern in jeder Hinficht,
insbesondere auch im gesellschaftlichen Verkehr erwiesen wurde, darf den Chinesen
gegenüber nicht ins völlige Gegenteil verkehrt werden. Alle Übertreibungen
sind von Nachteil, und kein gebildeter Chinese erwartet im Verkehr mit uns
eine wie immer geartete Überschwänglichkeit in Wort oder Tat (sie würde ihn
im Gegenteil in seiner ruhigen, bescheidenen Art nur verwirren und abstoßen),
aber was er mit Recht erwartet, ist, daß wir ihm ohne Voreingenommenheit,
ohne Mißtrauen, ohne Falsch begegnen, daß wir ihn weder unter- noch über¬
schätzen, sondern mit ihm in der Weise verkehren, wie zwei gebildete Menschen,
die Achtung voreinander hegen, zu tun pflegen.
le Frage, ob die Entwicklung der bildenden Künste durch Kriege
gehemmt, geschädigt oder gefördert wird, ist im Grunde eine echte
Journalistenfrage, über die sich mit einleuchtenden Gründen bis
ins Uferlose hin- und herstreiten läßt. Die einen weisen auf die
Namen gefallener Künstler, auf zerstörte Kunstdenkmäler, auf
Verarmung, auf Rückgang der allgemeinen Kultur usw. und führen Beispiele
aus der Geschichte an; die andern weisen auf den neuen Aufschwung der
Kräfte, auf neue durch den Krieg geschaffene Aufgaben (Denkmäler, Friedhöfe,
Wiederaufbau zerstörter Ortschaften oder Monumentalgebäude), die Vereinheit¬
lichung der geistigen Interessen usw. und führen andere Beispiele aus der
Geschichte an. Das Ergebnis ist, daß der Zuhörer entweder bei seiner vorher¬
gefaßten, ihm durch irgendwelche konkreten Beispiele nahegelegten Meinung
bleibt, oder nicht weiß, was er denken soll.
Fördernder dürfte es daher sein, die im Grunde zu nichts führende
allgemeine Fassung der Frage auf den vorliegenden Fall einzuschränken und
sich zu überlegen, welche Wirkung der jetzige Krieg auf die bildenden Künste
haben kann.
Allgemein läßt sich die Frage schon deshalb nicht beantworten, weil ein
Analogieschluß von früheren Kriegen auf den jetzigen nicht möglich ist. Aus
zwei Ursachen nicht. Einmal sind die Künstler, vor allem die werdenden, heute
am Kriege in weit stärkerem Maße aktiv beteiligt, als es in früheren Jahr¬
hunderten der Fall war, wo sie entweder als betriebsame Handwerker sich in
den Mauern der Städte sorglich fern vom Kriegsgetümmel hielten, oder, seit
der Renaissance, in der Gefolgschaft der großen Herren den Krieg höchstens
einmal als Schlachtenbummler besahen. Der moderne Künstler aber erlebt den
Krieg, nicht wie ein Abenteuer, sondern als Notwendigkeit, die nicht nur dem
Künstler, sondern vor allem dem Menschen aufgezwungen wird; ob er will
oder nicht, er muß sich mit dem Krieg auseinandersetzen. Und es ist an¬
zunehmen, daß das mannigfaltige Erleben, die notgedrungen veränderte Art
des Lebensrhythmus, die mannigfachen optischen Eindrücke, die Erweiterung des
Gefühlskreises auch aus die Gestaltungsweise des Künstlers einen bedeutenden,
um voraus allerdings schwer abzuschätzender Einfluß ausüben werden. Ein
Krieg, der, das ganze Volk in Mitleidenschaft ziehend, sich in einen Dauer¬
zustand zu verwandeln droht, wird zudem ganz andere physische und damit
auch künstlerische Wirkungen haben als etwa die kurzen Kriege der sechziger
>Mhre oder 1870/71.
Die zweite Ursache liegt in der Andersartigkeit der Kunst bei Ausbruch
des jetzigen Krieges. Man hat sich oft gefragt, worin denn z. B. das unter-
ichledliche Merkmal der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber der
früherer Jahrhunderte besteht und häufig die Antwort gehört, das neunzehnte
Jahrhundert habe keinen Stil gehabt, sondern nur alle Stile nachgeahmt. Als
ob nicht auch diese Nachahmung ihren Grund, ihr Gemeinsames haben müßte!
Während die Baukunst bekanntlich auf selbständige Formerfindung ver¬
zichtete und statt dessen aus die Erzeugung anempfundener. literarischer „Stim¬
mungen" ausging, kann man den einigenden Begriff sür Malerei, Graphik und
Skulptur des neunzehnten Jahrhunderts in der „Aktualität" finden. Frühere
Zeiten haben stilistische Ideale, schaffen Dekorationen im höchsten und besten
Sinne, das neunzehnte drängt auf Erfassen des Gegenstandes, auf Sachlichkeit.
Wenn frühere Jahrhunderte, die an Energie der Naturbeobachtung seit Giotto
dem jüngst vergangenen nicht nachstanden, neue Gegenstände, neue Nuancen
für die Kunst entdeckten, so tun sie es, um ihrem Stil zur vollen
Ausprägung zu verhelfen, der neue Gegenstand ist Mittel zum Zweck.
Im neunzehnten Jahrhundert verfallen die Stilideale, der Gegenstand wird
Zweck, die Kunst ist lediglich Mittel zur lebendigeren Darstellung. Nichts
Lehrreicheres als etwa die Gegenüberstellung eines Wouvermanschen Reiter¬
kampfes und einer Jliaslithographie Slevogts. Dort ein Stoff aus dem Leben
der Zeit, behandelt bei aller Wirklichkeitsnähe als dekoratives Schmuckstück, hier
eine mythologische Darstellung, für die der Unvorbereitete die Mittel der
Thorwaldsenzeit erwartet, und aller Brutalität modernster Wirklichkeit, bei allen
immerhin nur akzidentiellen dekorativen Eigenschaften durchaus auf die Gefühls¬
werte, die von realer menschlicher Kraft, kriegerischer Wut, rasendem Getümmel
ausgehen, hinstrebend.
Erst wenn man sich dieses Gegensatzes bewußt wird, wundert man sich
nicht mehr, daß der Krieg der älteren Kunst nur verhältnismäßig selten Stoffe
geboten hat. Die Zeit der blutigsten inneren Fehden hat in Italien in den
bildenden Künsten kaum Spuren hinterlassen. Als Michelangelo und Lionardo
den Auftrag bekamen, einen Sieg ihrer Vaterstadt über Pisa zu verherrlichen,
benutzten sie diese Gelegenheit zur Lösung rein formaler Aufgaben. Wenn
Rubens aus Freude an starker Bewegung einen Kampf malt, so wählt er nicht
eine Szene aus dem mit unerhörter Erbitterung geführten Volkskrieg mit den
Spaniern, der noch in aller Gedächtnis sein mußte und der, bedeutsam genug,
erst im neunzehnten Jahrhundert seine künstlerische Darstellung fand (de Coster),
sondern malte eine Amazonenschlacht. Das reale, das individuelle Erleben
spielt eben in der älteren Kunst eine ganz andere Rolle als in der neueren.
Natürlich hat es Ansätze zu dieser Aktualität des neunzehnten Jahrhunderts
immer gegeben. Dürer zeigt in Einzelbeobachtungen (sehr selten in ganzen
Werken) dieses fast naturwissenschaftlich zu nennende Interesse am Gegenstand,
am gekreuzigten Christus Grünewalds wird es bemerkbar und an einzelnen
Porträts des alternden Tizian. Bei Callot taucht es auf, um rasch zur bloßen
Virtuosenhaft behandelten Kuriosität zu werden. Außerdem haben wir eine
Reihe von Schlachtendarstellungen z. B. von van der Meuten, die aber ins
Gebiet der Chronik, der Geschichtsdarstellung gehören und mit Kunst nichts zu
tun haben. Der erste, der mit bewußter Leidenschaft auf den Gegenstand aus¬
geht, ist Goya. Und da ist es ein merkwürdiger Zufall, daß es neben den
Bildnissen gerade Darstellungen des Krieges sind, in denen diese Tendenz am
stärksten hervortritt. Gewiß hat auch die Freude des Künstlers an bewegten
Szenen bei diesen Darstellungen, von denen am bekanntesten die Blätter der
„Kriegsgreuel" sind, mitgewirkt, aber wie anders ist alles aufgefaßt als bisher
in der Kunst üblich war, wie viel näher ist dem Beschauer der Gegenstand
gebracht. Es ist als ob der Künstler — und die Unterschriften legen diesen
Vergleich nahe — mit dem Stock des Moritatenmannes auf seine Bilder schlägt:
Seht her! das ist der Krieg.
Wie stark dieses Stilprinzip der Aktualität ist, das seinen ersten inter¬
nationalen Triumph in den Historienbildern der belgischen Schule von 1830
feiert, bemerkt man, wenn man beobachtet, wie es in den Monumentalgemälden
Feuerbachs und Böcklins, in neuester Zeit Corinths die Form zu sprengen
droht. Ja man kann mit nur scheinbarer Paradoxie sagen: obgleich jedes
frühere Jahrhundert mehr stilistische Gebundenheit aufweist, mußte gerade das
neunzehnte den Grundsatz l'art pour I'art proklamieren, um nicht gänzlich in
Wirklichkeitsnachahmung zu verfallen. Wie nah diese Gefahr lag. beweisen die
leeren panoptikumhaften Historienbilder der Epoche um 1870, die übrigens
nicht nur in Deutschland zu finden sind. Einen Ausweg fand man in der
Graphik, deren kleines unrealistisches Format diesen fatalen Eindruck weniger
stark aufkommen ließ und die nach kurzem Verfall wieder eine bedeutende
technische Höhe erreichte.
Seit Manet haben dann in der Malerei wieder dekorative Bestrebungen
eingesetzt, die aber jenseits des Rheins bald in Theorie und Spielerei ver¬
flachten. In Deutschland ging dagegen die Saat der Feuerbach und Mariees
auf und trug zur Durchsetzung und Festigung eines neuen Monumentalstiles
in der Baukunst und Dekoration bei. Indem man jedoch bei diesen Bestrebungen
eifrig bemüht war, jede Schablone, jeden Anschein von Eklektizismus zu
vermeiden, mußte der aktuelle Realismus des neunzehnten Jahrhunderts als
spendender Urquell auch neben den stilistischen Bestrebungen lebendig bleiben.
Und er blieb es, so sehr, daß er in jüngster Zeit noch eine Ueberströmung
ergab: den Expressionismus. Dieser Richtung genügt nicht mehr das Interesse
ein der Erscheinung, sie geht (vgl. meinen Aufsatz Grenzboten 1913, Ur. 52)
auf das Gefühl, das gleichsam von dem Gegenstand ausströmt. An Stelle der
mit zäher Leidenschaft erobernden, aber fachlich ruhigen Art, wie sie am aus¬
geprägtesteten etwa bei Leiht sich zeigt, ist vielfach eine gegen Eindrücke aller
Art sehr nervös und heftig, ohne jedes lyrische Pathos reagierende Empfindungs¬
weise getreten.
Halten wir uns, solchermaßen geordnet, die Tendenzen der modernen
Kunst vor Augen, so sind wir leicht imstande zu ermessen, in welcher Weise
die Entwicklung der Kunst Vorteile aus dem Geschehen des Krieges ziehen kann
und wird. Die Grundbedingungen für eine sehr starke Einwirkung des Krieges
sind diesmal in stärkerem Maße gegeben wie je zuvor: mannigfache Erlebnis-
Möglichkeiten, eine vielseitig geschulte, über sehr taugliche Mittel gebietende
Empfindung für Wirklichkeitseindrücke, monumentale Bestrebungen, und man
mag an der Hand des unlängst erschienenen Buches von Hans Hildebrand
(Krieg und Kunst, München, R. Piper) das, obwohl im Historischen und Theo¬
retischen meist oberflächlich, durch energisches Eintreten für die jüngeren Künstler
und sehr interessante gute Abbildungen doch beachtenswert ist, und eine erste
Gruppierung der bisher aus Anlaß des Krieges entstandenen Werke der bilden¬
den Kunst versucht, verfolgen, wie weit diese Tendenzen bisher zum Ausdruck
gekommen sind. Alles in allem ist das Bild, das wir erhalten, erfreulich.
Mag auch manches hoffnungsvolle Talent, dessen Hildebrand in sympathischer
Weise gedenkt, unter den Gefallenen sein, die Entwicklung anderer wird be¬
schleunigt, gereift, überall drängen sich neue verheißungsvolle Ansätze hervor
und alles in allem hat man den Eindruck, daß wir vor Ergebnissen, wie sie,
«er Krieg von 1870/71 gezeitigt hat, gesichert sind.
llmählich gelangen wir in den Besitz der russischen Preßstimmen
über den Rücktritt des russischen Außenministers Ssasonow. Der
Rücktritt ist seinerzeit für das deutsche Publikum ziemlich über¬
raschend eingetreten. Man konnte sich ein Bild darüber, welches
die Anlässe oder vielleicht die tieferliegenden Ursachen für den
Personenwechsel an einer so maßgebenden Stelle gewesen sind, nicht machen,
denn eine eigentlich größere Frage auf dem Gebiete der äußeren Politik, bei
der man von einem in die Augen tretenden Mißerfolge Ssasonowscher Ge
danken hätte sprechen können, war nicht vorhanden. Allerdings lag eine Tat¬
sache vor, die auch die deutsche Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt hat: es war der
Abschluß des russisch-japanischen Bündnisses.
Mit diesem Bündnis hat sich auch unsere Zeitschrift beschäftigt. Der Wort¬
laut der Bündnisurkunde, wie er in der „Nowoje Wremja" in französischem
Text bekannt gegeben worden ist, ist der deutschen Leserwelt durch die Tages¬
zeitungen mitgeteilt worden. Außer diesem Hauptvertrage, der den wesentlichen
Bündnisgedanken wiedergibt, ist offenbar ein zweites Dokument nebenher¬
gegangen, das sich auf die Spezialabmachungen zwischen diesen beiden Mächten,
namentlich auf die Abtretung eines Stückes der oft-chinesischen Eisenbahn, auf
die Waffenlieferung Japans an Rußland bezieht und die Grundlagen für eine
Ausdehnung der japanischen Ansiedlungsmöglichkeiten im östlichen Sibirien
enthält.
Es lag nahe, zunächst daran zu denken, daß der Abschluß dieses Bünd¬
nisses, das von der russischen Presse mit geteilten Gefühlen aufgenommen und
von der englischen Presse mit sauerer Miene registriert wurde, eine der Ur¬
sachen für den Rücktritt Ssasonows gebildet hat. Denn es ließ sich denken, daß
diejenigen Kreise, die den Abschluß des Bündnisses als nicht im Interesse der
gegenwärtigen politischen Gruppierung Rußlands in Europa liegend erachteten.
nachträglich alle Hebel daran setzten, um an dem Urheber oder Ausführer
dieses Gedankens ihr Mütchen zu kühlen und ihn zu beseitigen. Es lagen
Nachrichten vor, daß sich bei den Mitgliedern der russischen parlamentarischen
Delegation während ihrer Gespräche in den nordischen Ländern auf dem Rück¬
wege von London nach Petersburg eine gewisse Verbitterung gegen Ssasonow
gellend machte. Diese Mitglieder waren in England mit den Zielen der eng¬
lischen Politik und denjenigen Bedingungen, die England sür ein Zusammen¬
arbeiten mit Rußland wünschte, bekannt gemacht worden. Es traf sich, daß
die Führer der Delegation zu gleicher Zeit diejenigen Leute waren, die an und
für sich geneigt waren, bei ihrer unbegrenzten Vorliebe für englisch-demo¬
kratische Ideale den englischen Interessen eher Rechnung zu tragen, als dies
vielleicht andere russische Politiker getan hätten, deren durch innerpolitische
Gesichtspunkte nicht gehemmter Gesichtskreis einen freieren Ausblick auch auf die
Zukunftsinterefsen Rußlands eher ermöglichte. Der Gedankenkreis jener libe¬
ralen Politiker mag etwa der folgende gewesen sein: Rußland müsse jedenfalls
dauernd England angeschlossen werden, um eben die Verwirklichung jener
demokratischen Ideale auch in Rußland zu gestatten. Wenn jetzt in England
durch den Abschluß des russisch-japanischen Bündnisses eine gewisse Mi߬
stimmung erzeugt werbe, so könne dies für die Verwirklichung solcher Ziele nur
nachteilig sein. Man verschloß sich nicht der Erkenntnis, daß das Bündnis
nicht nur für die Zukunft eine gewaltige Hemmung für England, sondern auch
eine Gefahr für die Kriegsdauer felbst bilde. Außerdem verlor man im inneren
Kampfe gegen die rechtsstehenden Parteien einen Trumpf aus den Karten.
Sei es, daß wirklich eine Abmachung zwischen Japan und England bestanden
hat, wonach sich Japan England gegenüber verpflichtete, für den Fall eines
Sonderfriedens Rußlands mit Deutschland Rußland den Krieg zu erklären und
ihm in den Rücken zu fallen, sei es, daß die Tatsache einer solchen Abmachung
nur als Schreckmittel im innerpolitischen Kampfe von den linksstehenden Par¬
teisn gegenüber den rechtsstehenden gegen den Abschluß eines Sonderfriedens
benutzt wurde, jedenfalls war klar, daß es nicht mehr möglich war, dieses
Agitationsmittels sich zu bedienen.
Zweifellos ist, daß, ob eine solche Abmachung zwischen Japan und Eng¬
land vorgelegen hat oder nicht, die englischen Politiker unter allen Umständen
mit großem Schmerze auf das japanisch-russische Bündnis blicken mußten, und
daß die Engländer infolgedessen ein gewisses Interesse daran haben konnten,
in Rußland die Urheber dieser Politik zu entfernen.
Diese Gedankengänge hatten daher etwas durchaus einleuchtendes. Sie
wurden bestätigt durch eine Äußerung Miljukows über den Rücktritt von
Ssasonow, die aus mehr als einem Gesichtspunkte hochinteressant ist. Sie zeigt,
daß Miljükow als Führer der linksliberalen Kadetten mit der Politik Rußlands
im fernen Osten jedenfalls nicht einverstanden gewesen ist. Die Äußerung zeigt
aber doch zugleich, daß man nicht glauben kann, daß das Mißvergnügen der
linksliberalen, in dem englischen Fahrwasser schwimmenden russischen Politiker
gegen dieses Bündnis so groß gewesen ist, daß diese Kreise an dem Sturze
Ssasonows mit hätten arbeiten helfen. Denn Miljukow stellt ausdrücklich fest,
daß man vielleicht gar nicht Ssasonow persönlich allzusehr für den Abschluß
des Bündnisses verantwortlich machen dürfe, sondern daß andere Leute, und
zwar gerade Leute, die dem Nachfolger Ssasonows, Stürmer, nahe stehen,
die hauptsächlichsten Mitarbeiter an dem Bündnis gewesen sind. Wenn man
also eine Folgerung aus dem Verhalten Ssasonows zu den japanisch-russisch¬
englischen Fragen und die Konsequenzen, die sich persönlich für ihn daraus
ergaben, ziehen darf, so ist es wohl eher die, daß Ssasonow selbst schon während
der Verhandlungen mit Japan in einem Konflikte mit anderen mächtigeren
Kreisen in Rußland gestanden hat, in Konflikten, die dann vielleicht in der
Folge auch mit dazu beigetragen haben, ihm seine Stellung zu erschweren.
Diese Annahme erscheint um so glaubwürdiger, als wir keine weiteren
Anzeichen als die obengenannte Mißstimmung in England über das russisch-
japanische Bündnis für eine Unzufriedenheit Englands mit Ssasonow haben.
Im Gegentheil, die englische Presse ebenso wie die von England beeinflußte
linksliberale Presse Rußlands hat Ssasonow außerordentlich sympathische Worte
bei seinem Abgang gewidmet. Charakteristisch für die Anschauung dieser Kreise
ist folgender Passus aus einer Äußerung der „Rjetsch":
„Gleich Grey in England, Viviani und Briand in Frankreich, war Ssasonow
ein Mitschöpfer der antideutschen Koalition. Mögen die Talente der genannten
Staatsmänner größer oder kleiner sein, mögen ihre Verdienste oder Fehler
mehr oder minder schwer wiegen, der Name eines jeden von ihnen bedeutet
das Symbol für ein gewisses nationales und internationales Programm, ein
Symbol, das schon in sich die Garantie der Verwirklichung trug."
Man kann es verstehen, daß Ssasonow, der sich ja wirklich während des
Krieges zu einem Anhänger Englands und des russisch-englischen Bündnisses
H Wut pnx entwickelt hat, gerade von Miljukow und Genossen mit dem
höchsten Bedauern vermißt wird. Miljukow selbst äußert sich über die Per¬
sönlichkeit Ssasonows dahin, daß er im vollen Maße über jene Eigenschaften
verfügt habe, die den Engländern das vollkommene Gefühl des unbedingten
Glaubens an die Gewissenhaftigkeit ihres Partners, des kair pig^> beigebracht
hatten. Gerade dies persönliche Moment sei etwas in der auswärtigen Politik
Unwägbares und vollkommen Persönliches. Ssasonow habe dies Moment in
hohem Grade besessen. Charakteristisch dafür, wie hoch die Engländer das
Zusammenarbeiten mit Ssasonow schätzten, ist ja auch der Umstand, daß der
englische Botschafter kurz nach dem Rücktritt Ssasonows diesen in seinem
Sommeraufenthalt am Jmatra besucht hat.
Der Rücktritt Ssasonows ist also jedenfalls gegen den Willen Englands
nfolgt. Kommt seine Haltung während der russisch-japanischen Bündnis¬
verhandlungen dabei mit in Frage, so sind ausschlaggebend vielleicht zwei
weitere Momente gewesen: erstens die Stellung Ssasonows im Stürmerschen
Kabinett überhaupt. Wir haben in Rußland während des Krieges eine Periode
erlebt, wo es den Anschein hatte, als ob man den sogenannten Bestrebungen
der Gesellschaft entgegenkommen zu wollen schien. Männer wie Kriwoschein,
Samarin bildeten einmal eine Art Hoffnungssymbol für eine Verständigung
zwischen Regierung und Gesellschaft. Es kam das Ministerium Goremykin,
das diese Hoffnungen anfing zu begraben, es kamen die von Chwostow be¬
günstigten monarchistischen Kongresse, das offene Mißtrauen der Regierung
gegen die gesellschaftlichen Organisationen, es kam schließlich Stürmer, der voll¬
kommen, und da er eine aktivere Persönlichkeit ist als Goremykin, im offen¬
siveren Geiste als dieser die alten bürokratischen Ideale des gegen die Gesell«
schaft gerichteten offiziellen Rußlands wieder aufnahm. Die alten Männer, die
nicht in diesen Rahmen paßten, waren schon längst in der Versenkung ver¬
schwunden, und soweit sie noch da waren, wie der Graf Jgnatiew, bildeten sie
Anomalien, die doch früher oder später zugunsten einer einheitlicheren Aus¬
gestaltung des Kabinetts zum Verschwinden verurteilt sind. Ssasonow gehörte
mit zu diesen Anomalien. Er war ein westeuropäisch gerichteter Mann, der
mit Leuten wie Miljukow auf das intimste zusammenarbeitete. Es schien
zunächst während der Wandlungen im innerrussischen Leben, als ob Ssasonow,
der ja auch eigentlich mit der innerrussischen Politik nichts zu tun hatte, von
ihnen nicht berührt wurde. Mit Stürmers Auftreten auf die Bühne hat sich
darin eine gewisse Wandlung vollzogen. Es war von vornherein aufgefallen,
daß der neue Premier zwar allen Ministerien, nicht aber dem Ministerium an
der Sängerbrücke und dem Ministerium für Volksaufklärung feinen Antritts¬
besuch gemacht hatte. Das hatte programmatische Bedeutung. Es scheint, als
ob gleich von vornherein gewisse Gegensätze zwischen Stürmer und Ssasonow
vorhanden gewesen sind, die schließlich durch den Rücktritt Ssasonows zum
Austrag kamen. »
Endlich aber ist als unmittelbarer Anlaß, nicht als tieferliegender Grund
für den Rücktritt Ssasonows seine Haltung in der polnischen Frage mit aus¬
schlaggebend gewesen. Dies ist nicht nur aus den Äußerungen der englischen
Blätter zu schließen, sondern hauptsächlich auch aus einer Erklärung der
„Rußkoje Slowo", dem früheren Leiborgan von Ssasonow, in der die Meinungs¬
verschiedenheiten Stürmers und Ssasonows über die zukünftige Gestaltung
Polens direkt als Hauptgrund des Rücktritts Ssasonows angegeben werden.
Stürmer ist offenbar der auch von den maßgebenden Rechtsparteien Rußlands
gebilligten Ansicht, daß von einer Autonomie Polens, die weiter geht als etwa
die Gewährung einer provinziellen Selbstverwaltung, nicht die Rede sein kann.
Vielleicht billigt er sogar die Haltung der rechtsstehenden Presse, daß es über¬
haupt vorzeitig für Rußland sei, sich mit der polnischen Frage zu beschäftigen.
Seine absolut negative Haltung zur Polenfrage bedarf jedenfalls nach der
Veröffentlichung der ministeriellen Denkschrift vom April über die polnische
Frage, in der ausdrücklich festgestellt wird, daß die Mehrzahl der Polen auch
in Rußland sich auf die österreichisch-deutsche Seite gestellt haben, keiner
Erörterung mehr.
Das Ssasonowsche Projekt scheint polenfreundlicher gewesen zu sein als
die übrigen, genaues über seinen Inhalt wissen wir nicht. In der Minister¬
ratssitzung, in welcher über die verschiedenen Projekte abgestimmt worden ist
und in der Kryschanowsky, der antipolnische frühere Vorsitzende der russisch¬
polnischen Einigungskommission, eine Hauptrolle gespielt hat, ist das Projekt
Ssanonows verworfen und beschlossen worden, vorläufig nur eine Bekannt¬
machung zu erlassen, die den früheren nichtssagenden Aufruf des Großfürsten
Nikolai bekräftigt. Der Zar soll die Absicht haben, diese Beschlüsse zu
billigen.
Es liegt die Frage nahe, ob der Rücktritt Ssasonows und der Eintritt
Stürmers in das Ministerium irgendeine Änderung in der auswärtigen Politik
Rußlands herbeiführen kann. Wir finden verschiedentlich in auswärtigen Zei¬
tungen Ausführungen in diesem Sinne. Es werden Äußerungen extrem kon¬
servativer russischer Blätter, wie z. B. „swjet" und „Semschtschina" angeführt,
aus denen versucht wird, die Möglichkeit einer Änderung in der russischen
Politik durch Stürmer zu konstruieren. Man vergleiche dazu besonders die
Ausführungen des „Berner Bundes" vom 13. August 1916. Es erscheint mir
höchst zweifelhaft, ob eine solche Annahme auch nur den Schatten einer Berech¬
tigung hat. Die Äußerungen Stürmers, die bisher vorliegen, lassen jedenfalls
nicht darauf schließen, daß diese Ansichten richtig sind. In seiner bekannten
Erklärung nach der Rückkehr aus dem Hauptquartier findet sich der Passus:
„Deutschland hat den Krieg veranlaßt und führt ihn mit renommistischer Ver¬
achtung aller Kultur. Mag es dann auch die Folgen tragen. Unsere Ge¬
danken, Gefühle und Handlungen werden von einer einzigen gewaltigen Losung
diktiert: Krieg bis zum Ende. Das mir anvertraute Ministerium wird ohne
Zweifel alles tun, um den eingeschlagenen Weg Rußlands fest und klar weiter
An beschreiten." Im übrigen hat es allerdings Stürmer bisher abgelehnt, dieses
Thema weiter zu variieren. Mit Ausnahme einiger verstreuter Notizen in
ein paar ausgesuchten russischen Zeitungen ist nichts in die Öffentlichkeit ge¬
drungen. Die Notiz, die am Jahrestage des Kriegsbeginn in der „Nowoje
Wremja" und „Rußkoje Slovo" gleichlautend veröffentlicht worden ist, lautete
folgendermaßen: „An dem Tage, da/wir in das dritte Kriegsjahr eintreten,
ist die russische Regierung ebenso wie ihre treuen Alliierten mehr als je ent¬
schlossen, den Kampf gegen den Feind bis zum vollen und endgültigen Siege
fortzuführen." Sie ist sehr allgemein gehalten und hat die linksstehende
Presse in Rußland nicht beruhigt. Man befürchtet offenbar alles mögliche von
dem in den linksstehenden Schichten unsympathischen und in der äußeren Politik
uoch unbeschriebenen Stürmer. In der „Njetsch" heißt es sehr bezeichnend
über Stürmer:
„Sein Name sagt garnichts und bietet keinerlei Garantie. Daher ist es
erklärlich, daß in der russischen Öffentlichkeit die programmatischen Erklärungen
Stürmers mit derselben Neugierde erwartet werden wie in den alliierten Län¬
dern. Die unklaren Worte Stürmers, seine Zitate aus alten Dokumenten im
Gespräche mit unbekannten Journalisten können die geschilderte Neugierde selbst¬
verständlich nicht befriedigen. Man hätte erwarten können, daß Stürmer beim
ersten Besuch im Außenministerium eine Programmrede halten wird, er zog
es aber vor, kein Wort zu sagen. Will man aber in seinen Telegrammen
an Grey und Briand irgend ein Programm suchen, so stößt man nur auf
Worte, die von Stürmer in allen öffentlichen Kundgebungen an das alliierte
Ausland schon oft gebraucht wurden. Darf dies so gedeutet werden, als ob
die Grundpfeiler der bisherigen russischen Außenpolitik unerschüttert dastehen?"
Die englischen Zeitungen, die ein guter Gradmesser für das, was in
Rußland vorgeht, sind, begnügen sich damit, festzustellen, das Stürmer alles
beim alten lassen würde, und daß sein Name kein neues Programm mit sich
bringe, aber es schimmert ein Unterton von Angst durch. Kürzlich wurde in
deutschen Zeitungen sogar von einem amtlichen englischen Schritt bei Stürmer
berichtet. Ob er wirklich erfolgt ist, wissen wir nicht.
Die „Njetsch" macht sich in ihrer letzten Wochenübersicht über die Äußerungen
der deutschen Presse lustig, die in Ssasonows Nachfolger angeblich einen
Opportunisten und einen von Chauvinismus freien Mann sieht, und, wie
Miljukow behauptet, darüber ziemlich kühne Schlüsse zieht. Derartige Äußerungen
der deutschen Presse existieren wohl nur in der Phantasie des Herrn Miljukow.
Wir haben keinen Anlaß, irgendwelche voreilige Unruhe bei der Beurteilung
russischer Ereignisse zu zeigen. Interessant ist, daß Miljukow seine Ausführungen
mit folgenden Sätzen schließt: „Welches auch immer unser Verhältnis zu den
persönlichen Besonderheiten der Politik von B. W. Stürmer sind, uns allen ist
klar, daß die Politik Rußlands ohne Schwanken durch die gegenwärtige Gruppierung
der Weltmächte bestimmt wird. Im Gegensatz dazu schimmert in der deutschen
Presse die Hoffnung auf Veränderung in diesen Grundlagen selbst und
insbesondere in den Beziehungen zwischen den Verbündeten hindurch."
Wir können uns mit diesen Feststellungen begnügen, und die ganze Frage,
für die uns weiteres Material nicht zur Verfügung steht, damit auf sich beruhen
lassen. Die nächste Zukunft wird mehr Gelegenheit geben, ein klares Bild über
die Absichten und die Ansichten Stürmers als Außenminister zu gewinnen.*)
Weniger wichtig, aber doch auch ebenso bezeichnend wie der Rücktritt
Ssasonows ist der Rücktritt Naumows im Landwirtschaftsministerium und sein
Ersatz durch den Grasen Bobrinski. Graf Bobrinski ist bisher Gehilfe des
Ministers des Innern gewesen. Von ihm, als dem ehemaligen Führer der Rechts¬
partei in der Duma erwartete man einen großen Einfluß auf die innere Politik.
Hat er den auch nicht gehabt, so war doch schon seine Ernennung bedeutsam
und Naumows Entfernung paßt gut in den allgemeinen Rahmen der Stürmer¬
politik. Naumow war einer von denjenigen Leuten, die mit der Duma und der
sogenannten Gesellschaft zusammenzuarbeiten sich nicht genierten. Seine ersten
Erklärungen in der Duma über die Ernährungsfrage und über seine Bestre¬
bungen wurden daher von gewissen Kreisen sympathisch aufgenommen, er wurde
in der Duma mit Beifallrufen begrüßt. Er hatte im allgemeinen eine gute
Presse und es scheint, daß er sich in der Ernährungsfrage bemüht hat, mit den
gesellschaftlichen Organisationen zusammenzuwirken und daß er deren Ver¬
trauen gewonnen hatte. Dabei ist er einerseits mit den maßgebenden Männern
der Stürmerschen Richtung, andererseits mit den Agrariern zusammengestoßen,
die die von Naumow angesetzten Höchstpreise außerordentlich unbequem fanden.
Man sprach eigentlich schon im Anfang der Ernennung Naumows von seinem
Weggange, und bereits einige Zeit hat er sein Ministerium mit Urlaub ver¬
lassen. So hat sich eigentlich seit der Zeit, wo Stürmer ihn an der Beant¬
wortung der agrarischen Jnterpellation im Reichstage verhindert hat, kein
Mensch darüber gewundert, daß Naumow eines Tages gehen würde. Die
linksliberalen Schichten in Rußland sind über alle diese Wechsel nicht gerade
erbaut, und man sieht voraus, daß noch weitere Veränderungen kommen werden.
Pokrowski und Purischkewitsch werden als Leute genannt, von deren Talenten
man Großes erwartet. Das würde eine weitere Rechts-Orientierung des
Kabinetts bedeuten.
Die ganze Entwicklung scheint darauf hinzudeuten, daß es so kommt.
Damit bringt die Stürmersche Ära neue interessante Probleme, die zu beobachten
auch für uns lohnen wird.
le Geschichte des deutschen Zeitungswesens bedarf trotz Salomons
grundlegenden dreibändigen Werke noch immer sorgfältiger
SpezialUntersuchungen, damit sich ein umfassendes Bild von der
Entwicklung der deutschen Zeitungen gestalten läßt. Was ins¬
besondere die deutschen Zeitschriften angeht, so ist auf diesem
Gebiete herzlich wenig getan. Es wird daher willkommen sein, wenn wir an
dieser Stelle einmal den Spuren nachgehen, die der deutsche Geist in einem
Teil des von uns besetzten Gebietes bereits im achtzehnten Jahrhundert gerade
in der Zeitungs- und Zeitschriften-Literatur hinterlassen hat.
Die erste wirkliche Zeitung Polens und Warschaus heißt in deutscher
Übersetzung folgendermaßen: „Ordinärer polnischer Merkurius. enthaltend die
Geschichte der ganzen Welt zur öffentlichen Belehrung". Vorher waren nur
die auch im übrigen Europa bekannten Avisen, Relationen usw. herausgekommen,
die nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Lande durch umherziehende
Druckereien verbreitet wurden. Herausgeber des „Merkurius" war ein gewisser
I. A. Gorczyn. Die erste Nummer erschien am 3. Januar 1661 in Krakau.
Doch bereits mit der achtundzwanzigsten Nummer siedelte der „Merkurius" am
4. Mai nach Warschau über. Von dieser Zeit an war Warschau das Zentrum
des polnischen Zeitungswesens. Die Periode, die mit dem „Merkurius" einsetzte,
dauerte etwa hundert Jahre, bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, und
war, wie die ganze polnische Literatur dieser Zeit, ein Produkt der jesuitisch-
makkaromschen Kultur. Die ersten Zeitungen wurden von Jesuiten und
Piaristen herausgegeben. Nach und nach wurden nicht nur politische Verhältnisse
berührt, sondern auch Gegenstände von ausschließlich lokalem Interesse. Die
wichtigste polnische Warschauer Zeitung dieser Zeit wurde im Jahre 1729 von
Jan Naumanski gegründet. Sie hieß zuerst „Nowiny polskie" (Polnische
Neuigkeiten) und hielt sich am Leben unter dem Namen „Kurjer Polski" und
anderen Bezeichnungen bis zum Jahre 1799. Bis zur Thronbesteigung
Poniatowskis ist die Entwicklung des polnischen Zeitungswesens außerordentlich
gering. Die Geistlichkeit übte strenge Zensur. Jesuiten und Piaristen wollten
nicht, daß sich andere mit der Herausgabe von Zeitungen beschäftigten. In
diesen Jahren erschienen in ganz Polen nur ein bis drei Zeitungen gleichzeitig.
Im ganzen erschienen bis 1764 fünfundvierzig verschiedene Zeitungen.
Die entscheidendsten Anregungen erhielt das polnische Zeitungswesen durch
die in deutscher Sprache und von Deutschen herausgegebenen Zeitungen, die
vom Jahre 1757 an in Warschau herausgebracht wurden. Denn die „Deutsche
Warschauer Zeitung", die seit dem 10. August 1915 in der von uns besetztem
Hauptstadt Polens erscheint, ist nicht das einzige und nicht das erste deutsche
Organ Warschaus. Die Zeitung verfügt vielmehr über eine nach Qualität und
Quantität bemerkenswerte Zahl von Ahnen, die näher zu betrachten schon
darum eine lohnende Aufgabe ist, weil durch eine solche Würdigung naturgemäß
ganz von selbst ein Licht fällt auf die historischen, literarischen und allgemein
kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen.
Das erste deutschsprachige Organ waren die „Warschauer Zeitungen" vom
Jahre 1757. Die erste Nummer erschien am 3. September, die letzte, die
sechsunddreißigste, am 31. Dezember. Format und Umfang entsprachen noch
im großen und ganzen denen der Relationen und Flugblätter, mit denen
Deutschland seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts überschwemmt wurde
und die namentlich zur Zeit der Türken- und Franzosenkriege unheimlich
anschwollen. Jede Nummer umfaßte vier Seiten, hatte eine „Beylage zum
(von Ur. 6 an „zu den") Warschauer Zeitungen" von dem gleichen Umfang
und kam zweimal in der Woche, alle drei oder vier Tage, heraus. Der enge
Zusammenhang, der auch noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
zwischen dem Nachrichtendienst und der Post bestand, trat auch bei den „War¬
schauer Zeitungen" zutage durch die Gestalt eines blasenden „Postreuters", der
sich am Kopfe jeder Nummer befand.
Herausgegeben wurde die Zeitung durch die Mitglieder des Piaristen-
ordens, die, nachdem sie 1642 aus Böhmen und Mähren vertrieben worden
waren, einen Zufluchtsort in Warschau bei König Wladislaus dem Vierten
gefunden hatten, und die für die Hebung der Bildung in Polen Hervorragendes
leisteten. Die Ankündigung ihres neuen Unternehmens in deutscher Sprache
lautet: „Neben dem (I) bekannten Französischen Zeitungen werden künftig alle
Wochen 2. mahl Deutsche Zeitungen, bey dem P. P. Scholar. Piarum, gedruckt,
welche in der ihnen zugehörigen Buchdruckerey, Mittwochs und Sonnabends
des Abends um 5 Uhr abgehohlet werden können; die Bezahlung ist jedes mahl
1. Schostack.*) Diejenigen aber, welche auf das ganzen Jahr pränumerieren
wollen, zahlen 2. Ducaten." Daraus ist aber ersichtlich, daß die Piaristen
eine eigene Druckerei besaßen, in der die „Warschauer Zeitungen" gedruckt
wurden. Nun berichtet aber u. a/Chelmicki (Bibliothek der christlichen Werke.
Band 31—32. 41—42), daß die Piaristen von dem erwähnten, ihnen wohl¬
gesinnten polnischen König einen Platz an der Ecke der heutigen Miodowa-
und Dlugastraße zum Geschenk erhielten, der zunächst mit einer hölzernen Kirche
und verschiedenen hölzernen Häusern bebaut wurde. Um 1690, so berichtet
der angeführte Gelehrte weiter, begannen die Brüder, an Stelle der hölzernen
Gebäude solche aus Stein zu errichten, und um dieselbe Zeit erwarben sie von
den Nachkommen eines gewissen Elert dessen Buchdruckerei. Über deren Lage
wird nichts Näheres berichtet. Da wir aber nun wissen, daß das Gebäude
der jetzigen deutschen Presseverwaltung ein ehemaliges Piaristenkloster*) war und
neben diesem Gebäude tatsächlich eine Druckerei seit langem liegt, so dürfen
wir mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie identisch ist mit der
Druckerei der Piaristen, in der die „Warschauer Zeitungen" entstanden. Ist
das aber so, so folgt weiter —, da an eben dieser Stelle heute Verlag,
Redaktion und Druckerei der „Deutschen Warschauer Zeitung" untergebracht
sind —. daß diese an derselben Stelle das Licht der Welt erblickte, wo vor
mehr als hundertundfunfzig Jahren die erste Warschauer Zeitung in deutscher
Sprache entstand.
Das Deutsch dieser Zeitung ist nur wenig verschieden von dem, das man
in ähnlichen Erzeugnissen zu gleicher Zeit in Deutschland vorfindet. Die Reform-
sxwegung des jungen Lessing war erst im Entstehen begriffen und erstreckte sich
ja auch in der Heimat erst sehr viel später auf publizistische Organe dieser
Art. Aber der — gelegentlich doch modernisierte — sächsische Kanzleistil ist
für jeden Leser durchaus verständlich. Überhaupt ist die Zeitung so recht
eigentlich eine sächsische Zeitung, und obgleich die Epoche des Gegensatzes
zwischen Sachsen und Preußen längst einer innigen Freundschaft Platz gemacht
hat, so liegt doch gerade darin ihr Wert für die Gegenwart, zumal der Inhalt
auch noch sonst schlagende Parallelen zu unseren bewegten Zeitläuften liefert.
Noch heute findet man auf den alten Meilensteinen der kleinen erzgebirgi-
schen Städte auf einer Seite das sächsische zweigeteilte Wappen, links die Kur¬
schwerter, rechts die sächsische Raute, auf der anderen Seite das viergeteilte
polnische Wappen, links oben und rechts unten den weißen polnischen Adler,
ni den beiden anderen Feldern den litauischen Reiter. Auch die Entfernung
»ach Warschau, als der zweiten Hauptstadt des sächsisch-polnischen Staates, ist
auf diesen Meilensteinen angegeben. Auf dem Denkmal August des Starken in
Dresden steht u. a. der Titel: Kex poloniae, der dem heutigen Geschlecht
vergangene Zeiten in Erinnerung bringt. Der Sohn und Nachfolger dieses
August, unter dem Namen August der Dritte, König von Polen, mußte am
10. September 17S6 vor den Truppen Friedrichs des Großen Dresden ver¬
lassen und verlegte die Regierung nach Warschau. In diese Zeit fällt das
Erscheinen unserer Zeitung. Schritt für Schritt begleitete sie die Kriegsereig¬
nisse, etwa von Friedrichs Aufgabe Ostpreußens infolge der unglücklichen Schlacht
bei Großjägersdorf über die Eroberung von Berlin durch Haddik bis zu dem
durch die Schlacht bei Leuthen gekennzeichneten Wendepunkt in ausführlichen
Nachrichten von den verschiedenen Kriegsschauplätzen und in einem Bericht des
österreichischen Hauptquartiers, der gewöhnlich den einzigen Inhalt der Beilage
ausmachte. Wie heute Deutschland und Österreich, so war damals Preußen
von Feinden umstellt und den heutigen Aushungerungsplänen Englands entspricht
die „Unhinlänglichkeit des Brodes", die bei den Armeen Preußens verschie¬
dentlich triumphierend festgestellt wird. Die Geheimhaltung von Niederlagen
und das Aufbauschen unwesentlicher Erfolge gab es auch damals schon. Daß
alles schon einmal und früh dagewesen ist, geht aus einer Leipziger Meldung her¬
vor, wonach Universitäten und Bibliotheken in Lazarette umgewandelt sind usw.
Nachdem am 31. Dezember 1757 die letzte Nummer der „Warschauer
Zeitungen" erschienen war, gingen die Piaristen sofort daran, eine neue
Zeitung in französischer Sprache herauszugeben, die in Form und Anlage eine
unmittelbare Fortsetzung des deutschen Organs darstellt. Die „Gazette de
Varsovie" erschien in den Jahren 1758 bis 1764. Trotz der französischen
Sprache, haben wir das Recht, sie als ein deutsches Organ anzusehen. Einmal
vertritt auch sie, wie die „Warschauer Zeitungen", den österreichisch-sächsisch¬
polnischen Standpunkt im siebenjährigen Kriege, beschäftigt sich also mit deutschen
Angelegenheiten, die zugleich die Angelegenheiten Polens waren. Zweitens
war damals das Erscheinen von Zeitungen in französischer Sprache auch in
Deutschland selbst durchaus nichts Ungewöhnliches. War doch sogar in Berlin
auf besonderen Wunsch Friedrichs des Großen ein „Journal de Berlin" ge¬
gründet worden, das von dem Philosophie-Professor am Französischen Gymnasium,
Johann Heinrich Samuel Formen herausgegeben wurde, der verschiedene litera¬
rische Veröffentlichungen in französischer Sprache in die Welt geschickt hat.
Überhaupt erschienen die bedeutendsten deutschen Organe dieser Zeit, die gegen
Friedrich den Großen Stellung nahmen und den österreichischen und katholischen
Standpunkt vertraten, ausnahmslos in französischer Sprache. Es sei nur an
die „Gazette de Cologne", an die „Gazette d'Erlangen" und die „Gazette de
Gotha" erinnert.
Während des Erscheinens der „Gazette de Varsovie" wurde die Druckerei
der Piaristen wesentlich verbessert. Wie erwähnt, hatten die geistlichen Brüder
die Druckerei von einem gewissen Elert gekauft. Dieser Peter Elert war im
Dienste des späteren Königs Johann Casimir und als Musiker am Hofe des
Königs Wladislaus des Vierten in Warschau tätig. 1641 heiratete er ein
Fräulein Elisabeth Piotrkowczyk, die einer bekannten Druckerfamilie entstammte.
Durch diese Ehe kam er selbst auf den Gedanken, eine Druckerei zu gründen.
Er erhielt das Recht, die Landtagsgesetze zu drucken. Das erste Privilegium
für ihn, das ihm von Wladislaus dem Vierten gewährt wurde, datiert vom
12. Januar 1643; danach hatte er die Befugnis, eine Druckerei zu eröffnen,
und eine Buchhandlung in Tätigkeit zu setzen. In diesem Erlaß wird er be¬
reits als Königlicher Buchdrucker und Buchhändler bezeichnet. Nach seinem
Tode übernahm die Witwe und ihre Kinder die Druckerei. Ein Privilegium
für sie und ihr Geschlecht hat Johann Castmir in Grodno am 11. Januar 1653
ausgefertigt. Durch dieses war die Druckerei der Stadtjurisdiktion entzogen
und der Marschalljurisdiktion, das heißt der des Kronmarschalls und damit der
des Königs unterstellt. Die Elertsche Familie hatte sich beständigen Wohl¬
wollens des Königs zu erfreuen. Vom Jahre 1668 an war ihr Haus von
jeder Militär- und Lattdtagsabgeordneten-Einquartierung befreit. Vom Jahre
1676 an wurde die Druckerei ausschließlich von Elerts Erben geführt. Sie
war übrigens lange Zeit die einzige in Warschau. Einen Teil davon er¬
warben die Plansten bereits 1675. Im Jahre 1696 hatten sie die ganze
Druckerei übernommen. August der Zweite gab ihnen für diese Druckerei im
Jahre 1701 ein neues Privilegium. Auch das Privilegium für den Druck der
Landtagsgesetze ging an die Piaristen über, doch hatten sie deshalb und wegen
des Druckes anderer Werke verschiedentlich Streitigkeiten mit den Jesuiten. Die
Druckerei wurde mehrere Male verbessert, so ließ man z. B. neue Typen und
Pressen aus Leipzig kommen. Zur Zeit der Leitung der Druckerei durch einen
Pater Bielski wurden Typen in Warschau gegossen und auch aus Berlin be¬
zogen. Die Druckerei der Piaristen gehörte noch während der ersten Jahre des
neunzehnten Jahrhunderts zu den rührigsten in Polen. Sie hat hauptsächlich
politisch-ökonomische, staatswissenschaftliche und theologische Bücher gedrückt.
Interessant aber ist es, daß sich unter den von ihnen herausgegebenen Werken
auch historisch-politische Nachrichten über Voltaire befinden.
Wie die deutschen „Warschauer Zeitungen" erschien auch die „Gazette de
Varsovie" zweimal wöchentlich. Auch sie hat eine Beilage, welche die Kriegs¬
berichte der Friedrich feindlichen Mächte enthält. Anstatt aus vier Seiten, wie
bei den „Warschauer Zeitungen" besteht diese Beilage mehrfach aus nur zweien.
Da jedoch der Druck bedeutend kleiner ist, ist der Inhalt weit reichhaltiger,
umsomehr, als hier stark ins einzelne gehende Angaben über die verschiedenen
Kriegsoperationen gemacht werden. An die Stelle des blasenden Postreiters
am Kopfe jeder Nummer tritt zunächst eine sehr kriegerische Vignette: eine Art
Nike, die Schlachttrompete am Munde, steht auf der polnischen Krone, die auf
dem viergeteilten polnischen Wappen ruht, ihr zur Seite scheinen sich zwei
Kriegsjungfrauen inmitten von Speeren, Kanonenrohren und Kugeln zu bewegen.
Offenbar hat man sich dann bald darauf besonnen, daß es Pflicht sei, der
Sehnsucht nach Frieden Ausdruck zu verleihen. Jedenfalls trägt die Zeitung
von der achten Nummer an ein friedliches Emblem: die Nike hat einem Friedens¬
engel mit der Friedensschalmei, die Kriegsjungfrauen den ruhenden Symbolen
des Ackerbaues und der Industrie Platz machen müssen. Die französische Sprache,
im ganzen moderner als die gleichzeitige deutsche, erklärt sich natürlich aus dem
Bestreben, dem Blatte einen größeren Leserkreis zu sichern. Daß es nicht nur
mit einem polnischen oder gar Warschauer rechnete, geht daraus hervor, daß
einmal — im ersten Jahrgang Ur. 163 — auf die „lectsurZ LtranZers"
ausdrücklich Bezug genommen wird.
Der Unterschied, der zwischen Zeitung und Zeitschrift heute besteht, war
im achtzehnten Jahrhundert schon vorhanden. Während aber gegenwärtig beide
in der Wahl ihrer Stoffe im großen und ganzen übereinstimmen, wenn man
von ausgesprochenen Fachblättern absieht und nur — was allerdings sehr
wesentlich ist — die Art der Behandlung verschieden ist, war im achtzehnten Jahr¬
hundert die Verschiedenheit insofern weitergehend, als die Tageszeitungen, auch
wenn sie nicht täglich erschienen, zum größten Teil durchweg die Gegenstände
der Tagespolitik behandelten und alles andere, wie Kunst. Wissenschaft, Literatur,
besonderen Organen überließen. In Deutschland und in Polen war es wenigstens
so, wenn auch hin und wieder Zeitungen auftauchen, die ihren Inhalt nicht
nur politischen Stoffkreisen entnehmen. Ist es nötig, die gelehrt-poetischen
periodischen Veröffentlichungen Gottscheds, der Bremer Beiträge und namentlich
die Bibliotheken Nicolais kennen zu lernen, wenn man sich mit dem deutschen
Zeitungswesen des achtzehnten Jahrhunderts bekannt machen will, so können
wir in Bezug auf Warschau die entsprechenden Organe auch nicht übergehen,
umsoweniger, als Polen schon ziemlich früh über derartige „Bibliotheken" in
deutscher Sprache verfügte.
Ein polnischer Nicolai, aber noch ungleich vielseitiger als dieser, war
Laurentz Mitzler von Kokos, der Typus eines Gelehrten, wie ihn das siebzehnte
und achtzehnte Jahrhundert in Deutschland reichlich hervorbrachte. Ein Polyhistor,
der auf allen Gebieten zu Hause war. zugleich Theologe, Philosoph, Jurist,
Mediziner, Musiker und Poet, ein ungemein beweglicher, aber wie es nicht
anders sein konnte oberflächlicher Geist, der dennoch zweifellos eine künstlerischere
Natur als Nicolai gewesen ist.
Laurentz Mitzler von Kokos wurde am 25. Juni 1711 zu Wettelsheim im
Herzogtum Ansbach als Sohn eines höheren Beamten geboren. Nach Ab¬
solvierung theologischer Studien in Leipzig widmete er sich der Philosophie und
der Musik, um sich danach auch noch der Rechtswissenschaft und der Medizin
zuzuwenden. In Leipzig hielt er bereits 1736 Vorträge über Mathematik,
Philosophie und Musik. Gleichzeitig fing er an. sich schriftstellerisch zu betätigen.
Zwischen 1736 und 1743 gab er philosophische Abhandlungen, Dichtungen mit
Musik und musikwissenschaftliche Werke heraus, unter denen „Die Anfangsgründe
des Generalbasses", „Der musikalische Starstecher" und „(Zraäu8 x>3rrms8um"
hervorragen. Sein Ruf als Musikkenner verbreitete sich schnell. Dies ver¬
anlaßte ihn 1738, gemeinsam mit Lucchesini und dem Kapellmeister Baemler,
einen musikalischen Verein zu begründen, in dem musiktheoretische Fragen
besprochen wurden. Als Sekretär dieses Vereins hat er von 1739 an eine
musikalische Bibliothek herausgegeben, worin er sich in scharfer Form über
verschiedene musikwissenschaftliche Probleme mit einem der größten Musikkenner
jener Tage, Johann Matheson, auseinandersetzte.
Im Jahre 1743 berief der spätere Kanzler Johann Malachowski Mitzler
als Erzieher seiner Söhne nach Polen. Sechs Jahre lang lebte Mitzler auf
dem Gute Malachowskis im Gouvernement Raton. Namentlich seine medi¬
zinischen Studien setzte er hier fort. Er erfand einen Universalwundbalsam; auf
Grund einer Dissertation über diese Erfindung verlieh ihm die Universität
Erfurt die medizinische Doktorwürde. Doch seiner immer nach Neuem ver¬
langenden Natur genügte diese vielseitige Beschäftigung als Lehrer und Arzt
nicht. Er begann sich in freien Stunden mit der polnischen Literatur zu
beschäftigen und als er sich 1749 in Warschau niederließ, wo er schnell den
Ruf eines der bedeutendsten Ärzte erlangte, dehnte er die begonnenen Studien
auf ihm bisher unbekannte Gebiete aus. Mit Vorurteilen gegen die polnische
Literatur war er, wie er selbst erzählt, nach Warschau gekommen. Jetzt gingen
ihm die Augen auf und er wünschte, diesem Vorurteil auch bei anderen zu
begegnen. So entstand der Plan, eine literarische Zeitschrift zu begründen,
die das Ausland mit der älteren und gleichzeitigen polnischen Literatur bekannt
machen sollte. Das Ergebnis war die Gründung der „Warschauer Bibliothek",
die in den Jahren 1753 bis 1755 erschien. Daß sich Mitzler für die deutsche
Sprache entschied, beweist, daß er vor allem die Deutschen im Auge hatte,
die in jener Zeit durch Sachsen mit Polen näher verbunden waren. Er glaubte,
daß die deutsche Sprache allen Gelehrten bekannt sei, und sagt darüber selbst:
„Die Gelehrten in Pohlen, denen diese Monatsschrift nützlich sein soll, verstehen
fast alle deutsch. . ., die Ausländer so für anderen einen Zusammenhang mit
Pohlen haben, verstehen gleichfalls die in Europa so dankbare Sprache der
Deutschen, und wir sind überzeugt, daß zur Erreichung unserer Absicht, die
deutsche Sprache sich viel besser schickt als die lateinische, von der pohlnischer
als einer unter den Ausländern sehr unbekannten Mundart nicht zu gedenken".
Mitzler machte sich mit dem ihm eigenen Enthusiasmus an die Arbeit und war
nicht nur der Leiter der Zeitschrift, sondern auch der einzige Mitarbeiter.
Woher die Mittel kamen, die zum Druck nötig waren, läßt sich nicht feststellen.
Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß Mitzler nicht auf eine ständige Unterstützung
rechnen konnte, sondern daß er die Kosten größtenteils aus eigenen Mitteln
behende, ein Umstand, der seine Verdienste noch wesentlich erhöht.
Die Mitzlersche Zeitschrift war eine wissenschaftliche Veröffentlichung nach
dem Muster ähnlicher Organe des Auslandes, namentlich Deutschlands. Ihr
Inhalt ist beherrscht von dem rein verstandesmäßigen Standpunkt der Auf¬
klärung. In seiner Vorrede sagt Mitzler, daß er nicht für die breite Masse
der Umgekehrten schriebe, „weil sie verschiedenes darinnen finden möchten, so
ihnen nicht anständig". Der Zweck war der jener ausländischen Zeitschriften,
d. h. die Publikation von Rezensionen und der Abdruck von verschiedenartigen
Werken, wie er selbst sagt, „Nachrichten und bescheidene Urtheile, wie auch
fleißige Auszüge von allen pohlnischer Büchern und Schriften fo verdienen
angemerket werden, von sehr seltenen, kleinen und dabei wichtigen Werkchen
ganze Übersetzungen und Lebensbeschreibungen von merkwürdigen Befördern
der Wissenschaften und Gelehrten sowohl verstorbenen als lebenden". Charakte-
ristisch für seine Natur ist es, daß er es, im Gegensatz zu stets kampfbereiten
Männern, wie Gottsched und Nicolai, ausdrücklich ablehnt, seine Zeitschrift zum
Felde einer Gelehrtenpolemik zu machen: „Am meisten werden wir für theolo¬
gische Zänkereien uns in Acht nehmen, als von welchen die Menschen den
wenigsten Nutzen und die meisten Leser den größten Ekel haben".
Alle zwei Monate sollte ein Heft der „Bibliothek" erscheinen, aber von
sechs Heften, die angekündigt worden waren, sind im Lause von etwa zwei
Jahren nur vier herausgekommen. Das erste wurde wahrscheinlich im Herbst
1753 veröffentlicht, ein zweites 1754, das dritte und vierte Anfang 1755.
Die Hefte enthielten sechs bis acht Aufsätze im Umfang von viereinhalb bis
fünfeinhalb Bogen und beschäftigen sich mit der zeitgenössischen und weit mehr
mit der älteren polnischen Literatur. Das Material dazu erhielt Mitzler durch
die Zaluskische Bibliothek, über deren Bedeutung für sein Organ er selbst aus¬
führt: „Diese Bibliothek ist es eben, welche unsere gegenwärtige „Warschauer
Bibliothek" erzeuget und ohne sie würden wir garnichts ausrichten können, da
wir hingegen durch Hilfe der fo ungemein zahlreichen, kostbaren und vortrefflichen
Zaluskischen Bibliothek, denen Kennern der Wissenschaften so viel gutes, merk¬
würdiges und seltenes vorlegen werden, so sie vielleicht von Pohlen nicht ver¬
muthet Hütten".
Mitzler benutzte nicht nur die Drucke dieser Bibliothek, sondern auch die
Handschriften, von denen er Auszüge und manchmal auch teilweise Abdrucke
wiedergab. Beträchtliche Schwierigkeiten stellten sich der Betrachtung der zeit¬
genössischen Literatur entgegen, Ha es sehr unbequem war, bei dem Mangel an
ständigen buchhändlerischen Beziehungen zwischen Warschau und den Provinz¬
städten, das Material zu beschaffen. Von vielen Werken, die in anderen Städten
herausgegeben wurden, hatte man in Warschau keine Nachricht. Um dem
abzuhelfen, hat Mitzler, wahrscheinlich im Einvernehmen mit Zaluski, im „Kurjer
Polski" eine Aufforderung an die Druckereileiter ergehen lassen, mit der Bitte,
ein Exemplar an die Zaluskische Bibliothek abzuführen, damit es in der
„Warschauer Bibliothek" besprochen werden könne. Wie in manchen ausländischen
Organen jener Zeit nehmen auch in der „WarschauerBibliothek" Naturwissenschaften
und Medizin den Hauptplatz ein. Bei seinen Zeitgenossen fand dies keinen Anklang,
so daß Janocki auf Zustimmung rechnen konnte, wenn er in seinem „Lexicon
der itzt lebenden Gelehrten in P." von Mitzler sagt: „Er ist für seine medizinische
Ausarbeitungen und chymische Erfindungen so sehr eingenommen, daß er sie
Zum größten Verdrusse der Liebhaber der polnischen Sachen überall zu häufig
einschaltet". Mitzler aber war in seine naturwissenschaftlichen Studien so ver¬
sunken, daß er in der „Bibliothek" einmal meint, es sei für einen vielarbeitenden
Gelehrten unmöglich, der Welt und einer Frau zugleich dienen zu können, ohne
sich und seine Familie vielen Widerwärtigkeiten auszusetzen. Es mag dies ein
Vorgefühl seines eigenen Schicksals gewesen sein; denn Mitzler heiratete eine
Frau, die soviel Verständnis für ihn und sein Schaffen bewies, daß sie noch
bei seinen Lebzeiten die Werke ihres Mannes Bogen für Bogen als wertlose
Makulatur an die Juden verkaufte.
Neben Naturwissenschaften und Medizin berücksichtigt die „Warschauer
Bibliothek" am meisten die Geschichte Polens. Unter den übrigen wissen¬
schaftlichen Gebieten behandelte Mitzler vor allem die Bibliographie, wofür
ihm das Material aus zeitgenössischen bibliographischen Werken von Zaluski
und Janocki. Bibliothekar an der Zaluskischen Bibliothek, geliefert wurde.
Theologie, Philosophie, Philologie, Rechtswissenschaft u. a. sind stiefmütterlich
bedacht. Am Ende jeden Heftes gab er als eine Art entschuldigender Er¬
gänzung eine Bibliographie von Neuerscheinungen der verschiedenen Wissens¬
gebiete und von Zeit zu Zeit Notizen über deren Inhalt. Über theologische
Werke und Predigten wollte er nichts als die Titel geben, weil „unser Beruf
nicht ist, Sünder zu bekehren, sondern Wissenschafften und Litteratur in Pohlen
erweitern zu helfen, wer also mehr von den Predigten wissen will, der muß
sie selbst lesen". Bei philosophischen Werken kam es wohl vor, daß er mehr
als den Titel gab, und bei einer Arbeit über die Philosophie Christian Wolffs
fügte er einiges über deren Verbreitung in Polen hinzu und bemerkte stolz,
daß er „einer der ersten Apostel der Wolffischen Philosophie in Pohlen" ge¬
wesen sei.
Am wenigsten beschäftigte sich die „Bibliothek" mit Poesie. Nur wenige
Notizen über lateinische und polnische Dichtungen sind über die Hefte aus¬
gestreut. Wie bezeichnend aber ist es, daß Mitzler nur zwei Dichter lobt, und
zwar seinen Gönner und Freund Zaluski, der. eine Bibliographie in Versen
schrieb, und die Werke Elschbieta Druschbazkas! Die Arbeiten dieser be¬
rühmtesten polnischen Dichterin wären vermutlich unbekannt geblieben, wenn nicht
der stets bereite Mäcen Zaluski seine Sammlung von „Rythmen lebender
Dichter" mit ihren Gedichten eröffnet hätte. Wird schon dadurch das Lob des
im Grunde amusischen Mitzler verständlich, so leuchtet es uns weiter ein, wenn
wir daran denken, daß auch die Druschbazka mit ihren stets hervortretenden
didaktischen Absichten ganz in der plattesten Aufklärung wurzelt und z. B. Ge¬
dichte an einen Krakauer Bischof ihrer Zeit, der den Glauben an Gespenster
und Teufel austreiben sollte, veröffentlichte, sowie an einen Referendar, der
die verschlafenen Köpfe geweckt hatte. Genau so wenig ausführlich äußert sich
Mitzler über die zeitgenössischen und literarischen Bewegungen und über den
Zustand der Wissenschaften in Polen. Nur einmal, gleich im ersten Heft, läßt
er sich an der Spitze der Rubrik „Pohlnische gelehrte Neuigkeiten" über dies
höchst interessante Thema näher aus. Erscheint uns der Inhalt dieser
„Bibliothek" nicht gerade sehr abwechslungsreich, so ist auch die Darstellung
sehr weitschweifig und nur selten etwas gewürzt. An russische Bibltotheks-
besucher mit weitem Gewissen aus der jüngsten Vergangenheit werden wir er¬
innert, wenn sich Mitzler mit seltenem Sarkasmus über die Entwender von
Büchern aus der Zaluskischen Bibliothek äußert und betont, etwas wider den
Willen des Besitzers nehmen, heißt mit einem Wort stehlen. Charakteristisch
sür Mitzler ist die außerordentliche Vorsicht, mit der er die angezeigten Bücher
bespricht, Dadurch erhält seine Kritik einen allgemeinen blassen Ton. Aus
Furcht anzustoßen, erhebt sie sich kaum über Allgemeinheiten. Tadelnde
Äußerungen oder spezielle lobende Urteile fehlen fast ganz. Im Gegensatz zu
der deutschen und namentlich zu der französischen Kritik jener Tage, die in
Berücksichtigung des einzelnen des Guten wieder allzuviel tat.
Indessen, nur wo es sich um literarische Kritik handelt, verfährt Mitzler in dieser
Weise. Dort, wo das Wohl der Nation in Frage kommt, hat er den Mut,
auch ihre Fehler rücksichtslos ans Licht zu ziehen und sie darum zu tadeln.
Namentlich die geringe Achtung, die den Wissenschaften in Polen gezollt wird,
kann er nicht verzeihen. Ganz gehörig geht er mit den Polen ins Gericht,
wenn er sich zusammen mit Zalnski über ihre „ungemeine Nachlastgkeit in
Bekanntmachung ihrer Schrifften" beschwert. Er wirft seinen Landsleuten
vor, daß sie auf dem Gebiete der Wissenschaften und Künste immer die letzten
seien. „Fraget man nach der Ursach, so sind wir mit der richtigen Antwort
gleich fertig: Von der nachläsigen Erziehung junger Leute; welche daher
kommt, daß Akademien und Schulen nicht so bestellt sind, wie sie sein sollten
und könnten". Mit großer Freiheit und Kühnheit wirft er den Polen vor,
daß sie die Wahrheit nicht vertragen können und die redlichsten Skribenten zu
Sklaven machen wollen. Das Publikum war über solche Angriffe natürlich
sehr erbost und warf Mitzler vor, daß er die polnische Nation verkennte.
Und sogar ein so hervorragend begabter und freidenkender Geist wie Janocki
meinte, daß sich Mitzler „in seinen Beurteilungen derer Polen allzu streng
erweise". Auf diese Kritik durfte Mitzler mit Recht stolz erwidern: „Im
Reich der Wissenschaften gehet die Wahrheit über alles, wie kann sich also ein
redlicher Skribent überwinden, solche nicht zu bekennen, und zum Nutzen der
jetzigen und der Nachwelt zu wahren----Niemand lasse sich also in Zukunft
befremden, wenn wir ferner zur Beförderung des Guten die Wahrheit ohn¬
gescheut schreiben werden. Die Wahrheit soll unseren Kiel führen und die Be¬
scheidenheit soll den Ausdruck an die Hand geben".
Es ist schade, daß Mitzler nicht in diesem Sinne fortgefahren ist. Er
glaubte offenbar, wenn er weiter nach solchen Grundsätzen schriebe, in Polen
unmöglich zu werden. Es ist daher begreiflich, daß er seine Zeitschrift, da er
sie nach seiner Überzeugung nicht fortsetzen zu können glaubte, überhaupt ein-
gehen ließ. So bietet uns diese erste polnische literarische Zeitschrift in deutscher
Sprache, die zugleich die erste literarische Zeitschrift in Polen überhaupt war.
im großen und ganzen nur ein gut aufgestelltes Programm, das nicht in der¬
selben Weise durchgeführt worden ist. Mitzlers Verdienst bleibt es aber, einen
Anstoß gegeben zu haben, und jedenfalls hat die „Warschauer Bibliothek"
dazu geholfen, daß. wie es Mitzler selbst von einer Arbeit Janockis sagt, „nun
die Ausländer und sonderlich die Deutschen anfangen, die polnischen Skribenten
genauer kennen zu lernen und daß bey vielen auf die Unwissenheit sich
gründende Vorurtheil, als wenn die Polen keine Skribenten hätten, abzulegen".
Fast gleichzeitig mit Mitzlers „Warschauer Bibliothek" erschien das „Journal
literaire de Pologne", ebenfalls herausgegeben von einem Manne deutscher Ab¬
stammung. Dies war Christian Boguslav Friese, ein geborener Sachse. Frieses
Vater siedelte im achtzehnten Jahrhundert nach Polen über und zog nach
Warschau. Als Protestant wurde er hier ein Schirmherr der evangelischen
Konfession und zur Zeit Poniatowskis Förderer der Dissidentenrechte in Polen.
Der junge Friese eröffnete seine literarische Tätigkeit mit einer Dissertation
über eines der ältesten griechischen Bücher, die in Polen gedruckt worden sind,
über die „Kommentarien zu Aristoteles", die Georg Libanus, Professor an der
Krakauer Akademie, 1537 herausgegeben hatte. Nachdem Friese dann Sekretär
des Großmarschalls Bielinski geworden war, kam er auf den Gedanken, eine
Zeitschrift zu gründen. Er begriff sehr wohl, daß die Zeitungen Mitzlers zum
großen Teil nur deshalb einen so geringen Erfolg hatten, weil die deutsche
Sprache den polnischen Gelehrten zumeist fremd war. So beschloß er, eine
französische Zeitschrift ins Leben zu rufen, und auf diese Weise trat er, der
Deutsche, mit Mitzler, dem Deutschen, in Wettbewerb. Der erste Band der
neuen Zeitschrift erschien im September 1754 und umfaßte zweihundertzweiund-
siebzig Seiten. In jedem Jahre sollten zwei Bände erscheinen, aber im ganzen
sind überhaupt nur zwei herausgekommen, von denen indessen bisher bloß einer
bekannt geworden ist. Es ist im Grunde eine neue Auflage der „Warschauer
Bibliothek" und kann daher in seiner ganzen Struktur als ein deutsches Er¬
zeugnis angesehen werden^ Auch Frieses Kritik ist ganz blaß und allgemein.
Trotzdem wurde auch an diesem Organ von den Polen etwas Anstößiges ge¬
funden, so daß Mitzler recht zu haben schien, wenn er damals sagte: „Nelius
L83S in polonia tacere quam herbere".
Ein Jahr nach der Thronbesteigung Poniatowskis, im Jahre 1765, er¬
schien die erste Nummer einer polnischen moralischen Wochenschrift, die sich
das größte Verdienst um das bürgerliche und geistige Leben in Polen erwarb
und die mithalf, den Boden zu bereiten, aus dem im Jahre 1791 die Kon¬
stitution vom 3. Mai emporwuchs. Es war dies der „Monitor", der, bis zum
Jahre 1784 erschienen, zu den wenigen Zeitschriften in Polen gehört, die sich
über einen Zeitraum von mehreren Jahren erhalten konnten. Ein um so
ehrenvolleres Zeugnis für den Herausgeber und namentlich für seine Leser, als
jener aus seinem Herzen keine Mördergrube machte und mit diesen und ihren
Sitten und Gebräuchen sehr scharf ins Gericht ging. Herausgegeben wurde
die Wochenschrift von dem Jesuiten und späteren königlichen Rat Franz
Bohomolez, der zu den regsten und erfolgreichsten Mitarbeitern Poniatowskis
bei dem von dem König beabsichtigten Reformwerk in Polen gehörte. Der
„Monitor" erschien in der Mitzlerschen Druckerei und Mitzler, der so eifrig
bemüht war, sein geliebtes Polen in Deutschland bekannt zu machen, ist es
auch, der die ersten beiden Bände vom Jahre 1765 und 1766 ins Deutsche
übersetzt hat. Den zweiten Band aufzutreiben war uns bisher nicht möglich,
während sich der erste auf der Universitätsbibliothek in Göttingen vorfand.
Bohomolez' Ziel war es. durch den „Monitor" „die Frucht seiner (nämlich
des „Monitor") Gedanken unter unsern Mitbürgern zum Vortheil derselben
auszubreiten und das Samenkorn seiner nöthigen Erinnerungen bei einigen auf
den milden Acker biegsamer Gemüther fallen zu lassen". Was Mitzler ver¬
anlaßte, an eine Übertragung ins Deutsche zu denken, war vor allem, dem
Auslande und in erster Linie den Deutschen zu zeigen, daß man sich in Polen
alle Mühe gäbe, daß, wie es in der Vorrede heißt, „Verstand, Tugend, Wissen«
schaften, Künste, die Handlung, gute Sitten nebst der Gerechtigkeit eben so, wie
bey denen auf das beste in Europa eingerichteten Staaten blühen möge".
Diesem Ziel hatte Mitzler bereits selbst in seinen periodischen Veröffentlichungen
zugestrebt. Es ist ein schönes Zeichen für seinen Charakter, der sich dadurch
vorteilhaft von dem seines Freundes, des deutschen Literaturpapstes Gottsched,
mit dem ihn sonst vieles verband, unterschied, daß er das, was ihm selbst
nicht gelang, bei einem anderen neidlos anerkannte und gewillt war, es weithin
bekannt zu machen. Unterstützt wurde Mitzler in seinem Unternehmen durch
einen Gelehrten in Thorn und durch einen Pastor Nikisch in Großpolen. Ihm
selbst fiel aber die Hauptaufgabe zu, und er wird sich um so lieber der Über¬
setzung unterzogen haben, als der „Monitor" erfüllt ist von jener Selbständig¬
keit und Tapferkeit, die keine Rücksicht nimmt auf die Meinung der Leute und
seine Ansichten so vertritt, wie sie es für richtig hält. Hier fand Mitzler also
einen Ton, der ihm selbst aus der Seele gesprochen war, den er aber in seinen
eigenen Veröffentlichungen nicht anzuwenden wagte, nachdem er sich wegen seiner
Aufrichtigkeit hatte Vermahnungen gefallen lassen müssen.
Der „Monitor" gehört zu jener Gattung moralischer Wochenschriften, wie
sie während des achtzehnten Jahrhunderts nach dem Vorbild des „spectator",
des „Toller" und des „Guardian" namentlich in Deutschland an allen Ecken
und Enden, selbst in den kleinsten Provinzen, aufkamen. So langweilig die
Lektüre der meisten dieser Wochenschriften ist, so darf doch nicht verkannt
werden, daß sie dazu beitrugen, den Geschmack zu verbessern, das Interesse
sür Kunst und Wissenschaft zu heben und überhaupt mit Erfolg bemüht
waren, die Masse des Bürgertums für geistige und kulturelle Aufgaben zu
interessieren. Der „Monitor" steht nach Stil und Anlage durchaus unter
'deutschem Einfluß und wenn er auch an Bedeutung nicht etwa mit Gersten-
^rgs „Hypochondristen" verglichen werden kann, so steht er doch, was die
Munterkeit und Lebhaftigkeit des Stils anlangt, über den breiten Bettelsuppen
des Rationalismus, die in den meisten moralischen Wochenschriften dem Leser
vorgesetzt wurden. Es versteht sich von selbst, daß der „Monitor" auch da.
wo er allgemeine Dinge behandelt, in erster Linie polnische Verhältnisse vor
Augen hat. In der Tat stellt er eine vortreffliche Quelle dar für das polnische
Wesen und Leben im dritten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts. Ganz im
Geiste der Aufklärung beschäftigt sich der „Monitor" gern mit Wesen und
Wert der Tugend, die ja für den Rationalisten auch die Grundlage für alle
künstlerische Betätigung sein muß. Wie sehr aber schon damals das polnische
Leben politisch und sozial orientiert war, geht daraus hervor, daß sich der
„Monitor" mit künstlerischen Dingen fast gar nicht, sondern zum allergrößten
Teil mit den Sitten und der Regierungsart in Polen beschäftigt, mit der Er¬
ziehung der polnischen Jugend, mit dem polnischen Adel, wobei er sich als
durchaus demokratisch erweist, mit der polnischen Sprache im Gegensatz zu den
deutschen moralischen Wochenschriften, in denen die Fragen der Poetik einen
großen Raum einnehmen, mit den politischen und sozialen Reformen.
Nur einmal widmet er zwei Nummern dem Theater. Das ist um so
begreiflicher, als Bohomolez zu denen gehört, die sich um die im Jahre des
Erscheinens des „Monitor" eröffnete erste ständige polnische Schaubühne ver¬
dient gemacht hatten, und eine Reihe Schul- und anderer Komödien geliefert
hat. In der Auffassung der Bühne steht der „Monitor" durchaus auf dem
Boden der Ausklärung, die nicht begreift, daß jede Kunst ihre Regel in sich
selbst trägt und daß die Schaubühne, wie der Unterricht, lehrreich an Tugend
sein müssen. Auch er ist der Ansicht, daß das Theater eine moralische Anstalt
sei, nicht in dem richtigen Sinne, daß unmittelbar aus der Kunst eine Ethik
zwangslos hervorgeht, sondern daß das Schauspiel mit der Absicht geschrieben
werde, zu lehren und die Tugend seiner Hörer zu verbessern. Wie wenig er
selbst von dem Wesen der klassischen Kunst verstanden hat, geht daraus hervor,
daß er meint, in allen Städten Griechenlands hätte es nur deshalb Schau¬
spiele gegeben, um dem Müßiggang vorzubeugen, „der oft ein öffentliches
Mißvergnügen und aufrührische Anschläge ausgehecket hat". Recht aber hat
er mit der Behauptung, es sei ein untrügliches Zeichen für den Verfall des
Gemeinwesens, wenn die Schauspiele anfingen, aus der Art zu schlagen, d. h.
wenn sie unsittlich würden. Freilich von einem tieferen Eindringen in das
Wesen der dramatischen Kunst finden wir in seinen Ausführungen keine Spur.
Sie halten sich vielmehr durchaus an Allgemeinheiten, und wenn der „Monitor"
Shakespeare und Addisson, den Begründer der moralischen Wochenschriften und
Verfasser theatralischer Werke, in einem Atem nennt, so begreifen wir, wieviel
ästhetische Arbeit zu jener Zeit in Polen genau so wie in Deutschland noch
geleistet werden mußte, ehe der gerade in dieser Hinsicht verhängnisvolle Ein¬
fluß der Aufklärung überwunden war.
Noch auf einen sehr wichtigen Faktor der Kunstentwicklung ist hinzuweisen.
In keinem Lande Europas, mit Ausnahme von England, hat die Kunst nach
1840 noch kulturbildend gewirkt. Das tut sie nur, wo sie in organischem
Zusammenhang mit dem Leben steht, wo sie reale und allgemeine Bedürfnisse
befriedigt, als etwas Unentbehrliebes, Selbstverständliches empfunden wird. In
einer Zeit jedoch, wo die Kunst als Luxus galt, wo man, resigniert oder
spöttisch, zwischen „Kunst" oder „Poesie" und „Leben" einen Unterschied
machte, wo der Künstler, größtenteils durch Ausfall des vermittelnden Kunst¬
handwerks den Zusammenhang mit dem Publikum verlor, sich gegen seine Ver-
ständnislosigkeit, seine Gleichgültigkeit, seinen Spott, ja seinen Haß durchsetzen
mußte (nicht immer zum Vorteil seiner Kunst, die dadurch häufig genug etwas
Forciertes bekam), da mußte die Kunst immer mehr aus einer öffentlichen
und allgemeinen zu einer esoterischen Angelegenheit der Künstlerkreise werden,
mußten Artistentum und unbeschränkt ausströmender Individualismus die selt¬
samsten Blüten treiben. Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Künstler
wieder den Zusammenhang mit dem Publikum gewinnen kann, weil dieses mit
einem Male der Kunst bedarf wie nie zuvor. Das Gefühlsleben ist durch
den Krieg auf das mannigfachste berührt und erregt worden, die Erregung
verlangt nach gestaltender Festigung, nach dem allgemeinen Ausdruck,
in dem alle sich finden, verlangt ungestüm nach Anschauung, wünscht
die Siege verherrlicht, die Gefallenen geehrt zu sehen. Damit ist der
Kunst ein reiches Betätigungsfeld geboten. Gelingt es dem Künstler, diese
allgemeinen Bedürfnisse zu befriedigen — und wie sollte es nicht, da er
durch den Krieg aus seiner isolierten Stellung herausgerissen und ein Teil
vom Ganzen geworden ist —, so kann eine für die Entwicklung der Kunst
höchst günstige Wechselwirkung eintreten. Das lebendige Bedürfnis hält den
heute vielfach durch allzu schrankenlose Freiheit verdorbenen, haltlos den
Launen eines egoistischen und unfruchtbaren Individualismus verfallenen, in
kraftversplitternden Experimenten vugabondierenden Geist des Künstlers „bei
der Stange" (In der Beschränkung erst zeigt sich der Meister!), zwingt ihn
zum Eingehen auf die Aufgabe, zum Erfassen der Lebens- gleich Wirkungs¬
bedingungen seiner Kunst; der Künstler hingegen hat bei dem neuerwachten
künstlerischen Interesse des Publikums die Möglichkeit, durch vortreffliche
Leistungen den Geschmack der Menge zu heben, sie an Gutes zu gewöhnen, die
Überlegenheit guter über mittelmäßige und oberflächliche Arbeit darzutun.
Der Kunstkritik aber erwächst die schwere und verantwortungsreiche Auf¬
gabe, die Allzufixen, die, von den Wellen der Aktualität getragen, den ernsten
Künstlern den Rang abzulaufen trachten, fernzuhalten und eine leichtsinnige
Spekulation, wie sie im Kunstgewerbe und illustrierten Zeitschriften sich bereits
breit zu machen beginnt, erbarmungslos zu verfolgen, guten Leistungen da¬
gegen Eingang und Verbreitung zu verschaffen. Auch eine neue, eine lebendig
wirkende Kunst werden dann unsere heimkehrenden Kämpfer als Siegespreis
begrüßen können.
Alle» Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
_nicht verbürgt werden kann.__
egationsrat Freiherr von Richthofen, hat in einem beachtenswerten
Aufsatz*) die Bildung einer Kommission für auswärtige Angelegen¬
heiten empfohlen. Er weist ebenso maßvoll, wie unzweideutig
darauf hin, daß die Wünsche des Reichstages nach einem be-
scheidenen Anteil an den Entschließungen der Negierung in den
wichtigsten Angelegenheiten weder bei der Entstehung des Weltkrieges, noch bei
den seitdem aufgetretenen politischen Fragen Berücksichtigung gefunden hätten.
Während der langwierigen Verhandlungen, welche der italienischen Kriegs¬
erklärung vorausgingen, habe der Reichstag die Rolle eines stummen Zu¬
schauers spielen müssen. Auch bei dem Abschluß des Bündnisses mit der
Türkei und mit Bulgarien sei dem Reichstag nicht der geringste Einfluß ein¬
geräumt. Ebenso finde bei den jetzt im Vordergrunde stehenden Fragen des
Unterseebootskrieges und der Kriegsziele keinerlei Mitwirkung der Volksvertretung
statt, obwohl die Lösung dieser Fragen die Lebensinteressen der Nation be¬
rühre. Daher insbesondere schreibe sich das Mißtrauen der Bevölkerung, das
die Regierung so oft beklagt habe. Nach von Richthofen entspricht es nur
der außerordentlichen Lage und wird auch zur Beruhigung der Bevölkerung
beitragen, wenn für die Dauer des Krieges auch auf dem Gebiete der aus¬
wärtigen Angelegenheiten ein Zusammenarbeiten der Regierung mit der Volks¬
vertretung ermöglicht werde. Zu dem Zweck empfiehlt er die Einsetzung einer
ständigen Kommission mit der Aufgabe, nicht nur Vorträge entgegenzunehmen,
sondern auch auf Grund der Einsichtnahme in das Material sich ein Urteil
über die politische und militärische Lage zu bilden und dann mit zu beraten.
Die Berechtigung zu einer solchen Mahnung wird man dem Verfasser, der dem
Reichstag, wie dem Auswärtigen Amt lange genug angehört hat, um die
Notwendigkeit einer derartigen Maßnahme beurteilen zu können, kaum be¬
streikn. Der sehr bemerkenswerte Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt
werden. Doch ist es wohl kein Zufall, wenn von Richthofen für die aus¬
wärtigen Angelegenheiten eine Maßregel empfiehlt, wie ich sie in den „Grenz¬
boten" vom 31. Mai 1916 für die Finanzen glaubte, vorschlagen zu sollen.
Es wurde dort befürwortet, behufs Deckung der durch den Krieg verursachten
Kosten einen ständigen Finanzausschuß zu bilden, der es ermöglicht, daß
Regierung und Reichstag von vornherein gemeinsam arbeiten, und nicht erst,
wenn Gesetzesvorschläge fertig vorliegen. Das bisherige Verfahren hat in
manchen Fällen einen beträchtlichen Verlust an Zeit, heftige Streitigkeiten,
einen Wechsel in den höchsten Ämtern des Reiches und jahrelange Verbitterung
unter den Parteien und innerhalb der Bevölkerung zur Folge gehubt. Diese
üblen Folgen lassen sich ganz oder doch zum guten Teil vermeiden, wenn die
beiden Faktoren der Gesetzgebung von vornherein miteinander in Verbindung
treten und von vornherein die Verständigung suchen und anbahnen, die sie
schließlich doch finden müssen. Die gesetzgeberische Arbeit wird auf diesem
Wege nicht nur schneller gefördert, sie wird auch besser und gründlicher sein
können. Der Austausch der Ansichten in gemeinsamen Beratungen deZ Finanz¬
ausschusses mit der Regierung wird — zumal unter dem Zwange der gegen¬
wärtigen Verhältnisse — über gewisse Fragen in Kürze zu einer grundsätzlichen
Einigung führen, so daß an die Ausarbeitung ohne die Befürchtung, der ganze
Gesetzentwurf werde möglicherweise in den Papierkorb wandern, herangegangen
werden kann. Aber auch in Bezug auf streitige Fragen wird ein ständiges
Zusammenwirken mit dem Ausblick auf ein hohes Ziel manches Mißverständnis
und manche Voreingenommenheit aus dem Wege räumen und den Boden für
die notwendige Verständigung ebnen. Die Kenntnisse und praktischen Er¬
fahrungen jedes einzelnen, mag es sich um Gewerbe. Handel, Landwirtschaft
oder um Finanzpolitik handeln, kommen auf dem natürlichen Wege der
mündlichen Aussprache allen zugute. Eine Aussprache gibt Anregung
zu neuen Gedanken, neuen Vorschlägen, wohl auch zu neuen Studien.
Wer hätte es nicht schon erlebt, daß Schwierigkeiten, die anfangs un¬
überwindlich schienen, bei ruhiger und gründlicher Besprechung in
einem — nicht zu großen — sachverständigen Kreise mit Hilfe von Vor¬
schlägen von der einen, Gegenvorschlägen von der anderen Seite fast spielend
ihre Lösung finden. Bei derartigen Beratungen ist auch weniger äußerer Anlaß
vorhanden, hartnäckig bei der eigenen Meinung zu verbleiben. Sie ist noch
nicht förmlich und endgültig, und namentlich noch nicht öffentlich festgelegt.
Anders steht es mit einem fertigen Gesetzentwurf der Regierung und mit den
Verhandlungen darüber. Hat das Reichsschatzamt in langer und angestrengter
Arbeit das Material über eine Finanzfrage zusammengetragen, verarbeitet und
eine Gesetzesvorlage mit Begründung aufgestellt, ist. die Vorlage vom Reichs--
justizamt und von sämtlichen fünfundzwanzig Bundesregierungen geprüft, begut¬
achtet und mit oder ohne Änderungen genehmigt, vom Reichskanzler im Namen
des Kaisers dem Reichstag zur verfassungsmäßigen Beschlußfassung überreicht,
so liegt nicht mehr die unverbindliche Meinungsäußerung eines einzelnen Re-
gierungsvertreters vor, sondern ein förmlicher, feierlicher Beschluß der ver¬
bündeten Regierungen, für den sie einzutreten haben und einzutreten entschlossen
sind. Die beauftragten Bundesratsbevollmächtigten haben die amtliche Pflicht,
und daneben ein natürliches, menschliches Interesse, eine ihnen anvertraute,
unter ihrer Mitwirkung zustande gekommene Vorlage durchzubringen, ein Interesse,
das um so größer ist, als ihre eigene Stellung durch den Ausgang der Ver¬
handlungen nach der einen oder anderen Richtung nahe berührt werden kann.
So erklärt es sich, daß die Negierung geUeigt ist, in dem Widerspruch und in
Einwendungen gegen ihre Vorlage eine absichtliche Opposition, eine unsachliche
Kritik zu erblicken, besonders, wenn die Sachkunde der widersprechenden Ab¬
geordneten zweifelhaft erscheint. Der Reichstag seinerseits glaubt wohl zu wissen,
daß der von der Regierung vorgeschlagene Weg, wenn er überhaupt Billigung
verdient, nicht der einzig gangbare ist; ihm erscheint das Auftreten der Ne¬
gierung leicht als einseitig, rechthaberisch oder auch beeinflußt von der Rücksicht
auf diese oder jene Partei. Auch für die einzelnen Mitglieder des Reichstages,
die von der Tribüne herab, vielleicht mit größerer Schärfe und Bestimmtheit,
als beabsichtigt war, vor der Öffentlichkeit ihre Erklärungen abgegeben haben,
gibt es schwer ein Zurück. Auf beiden Seiten entsteht so Kampfesstimmung.
Die Tagespresse gießt Ol ins Feuer. Aus einer einfachen sachlichen Frage der
Steuer- und Finanzpolitik entsteht plötzlich eine hochpolitische Machtfrage. Leitende
Persönlichkeiten vermeinen mit der streitigen Vorlage, je nach dem Ergebnis der
Abstimmung, stehen oder fallen zu müssen. Wichtige Ämter werden vorzeitig
erledigt. Den Schaden trägt zunächst die Reichskasse, also die Gesamtheit, die
soviel mehr an Gehältern und Ruhegehältern entrichten muß, je häufiger hohe
Beamte der Reichsverwaltung wechseln. Daß aber auch für die Verwaltung
selbst und für die Führung der Reichsgeschäfte ein häufiger Wechsel nachteilig
ist. liegt auf der Hand. Das Vertrauen, das ein hochgestellter Beamter durch
seine Amtsführung, durch die besondere Kenntnis seines Faches, durch die Be¬
ziehungen zu den übrigen Regierungsstellen und zu den führenden Mitgliedern
des Reichstages, durch sein ganzes persönliches Austreten sich erwirbt, geht nicht
ohne weiteres auf einen Nachfolger über. In der Verwaltung im allgemeinen
und in der schwierigen, zurzeit vor die denkbar schwierigste Aufgabe gestellten
Finanzverwaltung ist Stetigkeit von besonderem Wert. Alles, was diese Stetigkeit
gefährdet, sollte nach Möglichkeit ferngehalten, was sie fördert, unterstützt werden.
Auch nach dieser Richtung wird ein ständiger Finanzausschuß, als der gegebene
Vermittler zwischen Negierung und Reichstag, wie eine Art von Puffer, Zu¬
sammenstöße und Entgleisungen verhüten. Bewährt er sich nach den ver¬
schiedenen Seiten hin, wie zu erwarten ist, so könnte er Vorläufer und Ansatz
M einer bedeutsamen Organisation werden, die kürzlich in diesen Blättern be¬
fürwortet wurde. Amtsgerichtsrat Schneider empfahl in den „Grenzboten" vom
16- August 1916 unter Berufung auf E. von Hartmann und Ökonomierat
Hösch die Errichtung eines Reichsvolkswirtschaftsrates, der den sachver¬
ständigen Berater bei der Anfertigung von Zoll- und Wirtschaftsgesetzen bilden
soll. Denn nach dem Friedensschlüsse werde der Abbau der Kriegswirtschaft,
ihre Überführung in die Friedenswirtschaft und die künftige Gestaltung der
deutschen Wirtschaftspolitik Probleme aufrollen, die mit der überkommenen
Arbeitsweise unserer Bureaukratie — im besten Sinne des Wortes — nicht
gelöst werden könnten. Dieser Frage beizeiten näherzutreten, erscheint in der
Tat wichtig und dringlich. Nichts aber ist wichtiger und dringlicher — ab¬
gesehen von der Aufgabe, den Krieg zum guten Ende zu führen —, als die
Mittel zur Deckung der Kosten zu beschaffen, die der Krieg verursacht hat. Die
sechstausend Millionen jährlicher Mehreinnahmen des Reiches, die dazu er¬
forderlich sind, können bei Beendigung des Krieges nicht erst gesucht werden,
sondern sie müssen gefunden, beschlossen und bereit sein. Diesem Zweck in erster
Linie soll der Vorschlag eines ständigen Finanzansschusses dienen.
chon vor dem Kriege konnte man sagen, daß die Zeit des extremen
Individualismus überwunden war. Die alte Manchesterlehre
in ihrer reinsten Form, wonach für den Staat am besten gesorgt
war, wenn jeder einzelne für sich selbst am besten zu sorgen
suchte, hatte weder in der Theorie noch in der Praxis einen
nennenswerten Kreis von Anhängern, man war zur Einsicht gekommen, daß
zum mindesten mit dem berechtigten Selbstinteresse ein bewußtes Interesse für
die Gesamtheit und den Staat Hand in Hand gehen müßte. Es ist bekannt,
in welchem Maße sich die Sache durch den Krieg noch weiter zu Gunsten des
Gemeinsinnes verschoben hat. Ein nationalökonomischer, ein soziologischer Lehr¬
meister ersten Ranges ist der Krieg, er zeigt uns besser, als alle dicken Lehr¬
bücher es können, wo die Grenzen zwischen Individualismus und Sozialismus
liegen. Daß die Staatintervention nicht überall am Platze ist, erkennen wir
tagtäglich, andererseits aber wird niemand, der diese große Zeit offenen Auges
durchlebt, jemals wieder daran zweifeln dürfen, daß, um sich dem Wortlaut
jener Definition anzuschließen, der einzelne am besten für sich selber sorgt,
wenn er zugleich für die Allgemeinheit zu sorgen sucht, und zwar wird die
Geltung dieses Satzes um so größer sein, je größer die Beoeutung des einzelnen
oder seines Standes und Berufes innerhalb der Gesamtheit ist. Der Rang
verpflichtet; wer aber im wirtschaftlichen Leben eine besonders wichtige Rolle
spielt, folgt nicht allein seiner Anstandspflicht, sondern auch den Gesetzen poli¬
tischer Klugheit, wenn er nicht allein an sich selbst, sondern zugleich an alle
seine Berufsgenossen, an die Hebung seines ganzes Standes und letzten Endes
der gesamten nationalen Wohlfahrt denkt. Ideelle und materielle Interessen
verbinden sich hier zu vollkommener Harmonie, das Gute ist zugleich das
Nützliche, wahre Humanität vereinigt sich mit kluger Kalkulation. Jede Kritik
daran, ob die aus solche Weise zustande kommenden Handlungen mehr aus
diesem oder mehr aus jenem Motiv hervorgehen, ist überflüssig und schädlich,
die Wahrheit ist, daß in den allermeisten Fällen beide Komponenten gleichwertig
zusammengewirkt haben.
Es war notwendig, diese kurze Betrachtung voranzuschicken, um den rechten
Maßstab zu gewinnen für gewisse, erfreuliche Strömungen, die gegenwärtig in
den führenden Kreisen der deutschen Arbeitgeberschaft zutage treten. Wie man
weiß, haben sich die deutschen Unternehmer im Laufe der letzten Jahrzehnte,
ganz besonders seit dem Anfang der neunziger Jahre, zu großen, umfassenden
Verbänden zusammengeschlossen, richtiger gesagt, zusammenschließen müssen, weil
gegen den Druck der zu mächtigen Verbänden vereinigten Arbeiterschaft natur¬
gemäß ein Gegendruck geschaffen werden mußte. Hüben und drüben wurden
die Organisationen ausgebaut, heute liegt die Sache so, daß im Unternehmertum,
in der Industrie wie im Handwerk, kaum noch wesentliche Kreise vorhanden
sind, die außerhalb der Organisation stehen. Kurze Zeit vor dem Kriege ist
es gelungen, auch die bis dahin noch auf verschiedenen Wegen marschierenden
Vereinsgruppen zusammenzufassen und in der „Vereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände" einen Gipfelpunkt zu begründen, den man wohl ohne
Übertreibung als eine für alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen
des Unternehmertums maßgebende Zentrale betrachten kann. Selbstverständlich
hat der Krieg das Seinige dazu beigetragen, um diesen Zusammenhalt noch
weiterhin zu befestigen; kleine Sprünge und Lücken, die in dem großen Gebäude
noch vorhanden waren, wurden ausgeglichen, und es fanden sich sogar zu ein¬
trächtiger Arbeit diejenigen Verbände zusammen, die bis dahin um ihrer rein¬
wirtschaftlichen Stellungnahme willen eine volle Gemeinschaft noch immer ab¬
gelehnt hatten. Gleichzeitig hat es der Krieg, der freiwillige oder erzwungene
Burgfrieden mit sich gebracht, daß der Kampfcharakter, der Abwehrcharakter
der Arbeitgeberverbände mehr und mehr zurücktrat, sodaß auch hierdurch Raum
geschaffen wurde sür die Erkenntnis, es sei an der Zeit, statt der bloß negativen
oder regulierenden Tätigkeit, auch positive, schaffende Aufgaben in Angriff zu
nehmen. Die führenden Männer der deutschen Industrie, denen ohnehin das
Schaffen, das Wirken und Fertigstellen viel besser liegt, als das Abwehren,
das Verweigern, das Neinsagen, werden, so hat es den Anschein, diese ihre
produktive Anlage in einer Weise auch für die Allgemeinheit ausnützen, die auf
das ganze soziale Leben die wichtigsten und fruchtbarsten Wirkungen ausüben
dürfte. Kurz gesagt handelt es sich darum, daß die Arbeitgeberoerbände als
solche vorbereitende Schritte tun, um auf den verschiedensten sozialen Gebieten
eine tiefgreifende Wirksamkeit zu entfalten, eine Wirksamkeit, wie sie einerseits
der Zeitlage entspricht, und wie sie andererseits durch die Stellung der Arbeit¬
geber im deutschen Wirtschaftsleben bedingt und zugleich, dank den an dieser
Stelle vorhandenen materiellen Kräften, ermöglicht wird. Nicht als wenn es
sich um etwas absolut Neues handelt! Was die deutschen Arbeitgeber im ein¬
zelnen an privater Wohlfahrtspflege geleistet haben, ist bekannt genug. Die
Gründung von Arbeiterwohnungen, Pensionskassen und anderen Stiftungen
gehört zu den ansprechendsten Kapiteln der modernen Jndustriegeschichtc. Wie
die deutsche staatliche Sozialpolitik ihresgleichen nicht hat, so können auch die
privaten Wohlfahrtseinrichtungen, insbesondere unserer großen Werke aller Welt
zum Vorbild dienen. Auch die Verbände sind gewiß nicht untätig gewesen;
die Bestimmung der meisten Statuten dieser Vereinigungen, wonach sie gegründet
sind, nicht allein „zur Abwehr unberechtigter Forderungen der Arbeiterschaft",
sondern auch „zur Pflege und Förderung aller auf die Arbeiterschaft bezüglichen
Verhältnisse", ist weit mehr, als man gemeinhin glaubt, verwirklicht worden.
Äußerlich sind als sozialpolitische Schöpfungen der Arbeitgeberverbände bisher
am meisten die Arbeitsnachweise der Arbeitgeber bekannt geworden. Nun also
wird es darauf ankommen, das, was bisher die einzelnen Arbeitgeber für sich
und einzelne Arbeitgeberverbände in beschränkterem Umfange unternommen
haben, auf eine breitere Grundlage zu stellen, und durch die Hineintragung,
neuer Gesichtspunkte den so wesentlich veränderten Ansprüchen unserer Zeit
Rechnung zu tragen.
In der Zeitschrift der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände"
(Ur. 13 vom 1. Juli) hat der Geschäftsführer dieser Organisation Dr. Tänzler
einen programmatischen Artikel veröffentlicht, der in großen Zügen die neuen, dem
Unternehmertum erwachsenden Aufgaben umschreibt. An diese Ausführungen
anknüpfend wollen wir versuchen, uns ein Bild von der Bedeutung zu machen,
die unzweifelhaft der Idee einer solchen aktiven, im Dienste der Gesamtheit
stehenden Arbeitgeberpolitik für das ganze öffentliche Leben zukommt. Die
nächste Aufgabe ist selbstverständlich die Fürsorge für die Kriegsinvaliden, für
die Hinterbliebenen der gefallenen Arbeiter und für alle Kreise, die eben durch
den Krieg in Not geraten sind, soweit es sich um Angehörige des gewerblichen
Lebens handelt. Im weiteren Sinne wird es auch zu den notwendigen Arbeiten
des Unternehmertums gehören, die Sachschäden, die der Krieg verursacht hat,
zu mildern, an ihrer Ausgleichung mitzuhelfen. (Wiederaufbau Ostpreußens,
Sicherstellung deutscher Forderungen an das feindliche Ausland usw.) Es ist
leider ein fast unermeßliches Gebiet, das sich hier eröffnet. Andererseits aber
hat die Tagespresse schon wiederholt berichten dürfen, daß gerade diese Aufgaben
von den Organisationen des Unternehmertums mit größter Energie in Angriff
genommen worden sind. Die Spenden an gemeinnützige Kriegsuntcrnehmungen
(Rotes Kreuz. Lazarettzüge. Hilfsvereine usw.) belaufen sich auf viele Millionen,
und ebenso große Summen haben die Arbeitgeberverbände für das Wohl der
im Felde stehenden Arbeiter und ihrer Familien gestiftet. Die Behandlung
und Versorgung der Kriegsbeschädigten steht schon seit Jahr und Tag als
wichtigster Gegenstand fast auf jeder Versammlung eines Arbeitgeberverbandes.
Maßgebend für das ganze Vorgehen ist der Beschluß der Vereinigung der
deutschen Arbeitgeberverbände vom 19. März 1915, in dem die sämtlichen
Arbeitgeberverbände ihre freudige Bereitwilligkeit zu einer tatkräftigen Mit¬
wirkung in der Fürsorge für die Kriegsbeschädigten zum Ausdruck gebracht
haben. Auch hier wächst aber die Summe der praktischen Aufgaben beinahe
ins Unendliche, es handelt sich um die Berufsberatung und Berufsausbildung
der Invaliden, um die Begründung von Ausbildungslazaretten, um technische
Hilfsmittel für solche Arbeiter, die den vollen Gebrauch ihrer Glieder eingebüßt
haben, vor allem auch um die richtige Verteilung und Arbeitsvermittlung.
Daß diese und ähnliche Aufgaben positiver Art aus dem Kriege erwachsen
würden, war jedoch vorauszusehen, und man braucht über diese selbstverständliche
Erweiterung des Bereiches der arbeitgcberischen Tätigkeit kaum weitere Erörte¬
rungen anzustellen. Der eigentliche Fortschritt liegt in anderer Richtung. Wir
wollen gleich auf den wichtigsten Punkt eingehen. Die Arbeitgeberverbände
werden sich in Zukunft eingehend mit der Jugendpflege zu befassen haben, und
es hat den Anschein, als wenn diese Notwendigkeit bereits ebenfalls in weiten
Kreisen anerkannt wird. Zu einer Bearbeitung dieses Gebietes, sei es durch
selbständige Maßnahmen, sei es durch Unterstützung bestehender Einrichtungen,
sind die Unternehmer aus folgenden Gründen genötigt. Erstlich haben die
Sozialdemokratie und die mit ihr verbündeten Gewerkschaften umfassende Vor¬
kehrungen getroffen, um die Jugend schon von früh auf in ihre Macht zu
bekommen, und das neue Vereinsgesetz bietet ihnen für diese Versuche eine
willkommene Handhabe. Will man also den jungen Nachwuchs nicht ohne
weiteres dieser bestimmten, politischen Parteigruppe überlassen, so ist es die
höchste Zeit, daß man den jungen Leuten wenigstens die Möglichkeit bietet, auch
auf anderen Geleisen vorwärts zu kommen. Zweitens wird das deutsche
Unternehmertum angesichts der Notwendigkeit, in Zukunft noch weit mehr
als früher eine straff durchgeführte Ökonomie menschlicher Arbeit betreiben
zu müssen, beizeiten Vorkehrungen zu treffen haben, um sich für Handel und
Gewerbe einen möglichst tüchtigen, körperlich, moralisch und geistig gesunden
Nachwuchs zu sichern. In den Handelskriegen, die auf den Kampf der Waffen
folgen werden, wird die Qualitätsarbeit eine Hauptrolle spielen, ganz anders
noch als bisher wird der einzelne Arbeiter seinen Platz auszufüllen haben.
Drittens dürfen sich die Arbeitgeberverbände der Erkenntnis nicht entziehen, daß
es gerade ihres Amtes ist, alles aufzuwenden, um der leider mehr und mehr
hervortretenden Verflachung und Verrohung der Jugend entgegenzuarbeiten.
Es läßt sich ja nicht leugnen, daß eine fortschreitende Industrialisierung, daß
das Entstehen der großen Industriestädte mancherlei hygienische und moralische
Gefahren mit sich gebracht hat. Die Arbeitgeber wissen ein Lied davon zu
singen, welche Schwierigkeiten sich oft genug aus der Unbotmäßigkeit und dem
Übermut der jugendlichen Arbeiter im Betriebe ergeben. Diese Zustände haben
sich während des Krieges oft bis zur Unertmglichkeit gesteigert. Endlich darf
man gewiß die Jugendfürsorge als eine Aufgabe bezeichnen, die so sehr im
allgemeinen nationalen Interesse liegt, daß die Mitwirkung der ganzen Nation
als erwünscht und notwendig angesehen werden muß. Wollen sich die Unter¬
nehmer mit Recht zu den führenden Ständen des Volkes zählen, so dürfen sie
dem „Kampfe um die Jugend", der heute einen so breiten Raum in unserm
Kulturleben einnimmt, nicht mit verschränkten Armen zusehen.*)
Ein Weiteres kommt hinzu! Das Proletariat rechnet es zu seinen schlimmsten
Nachteilen, daß ihm die wirtschaftlichen Verhältnisse jeden Aufstieg in eine
höhere Gesellschaftsschicht unmöglich gemacht hätten. Im Klassenkampf und in
der politischen Agitation hat dieses Argument von jeher die größte Rolle
gespielt. Über seine Berechtigung freilich läßt sich streiten, die Dinge haben
sich in den letzten Jahrzehnten stark zum Bessern gewandt, und manche Zu¬
sammenstellungen, wie sie z. B, Krupp gemacht hat, ergeben die erfreuliche
Tatsache, daß auch Arbeiterkinder den Weg nach oben nicht verschlossen finden,
wenn sie nur selbst die nötige Begabung und Willenskraft mitbringen. Jedoch
läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Hinsicht noch viel zu wünschen übrig
bleibt. Manches gut veranlagte Kind aus Arbeiterkreisen kommt nicht vorwärts,
weil entweder sein Talent überhaupt nicht erkannt wird, oder weil die äußeren
Umstünde einen Emporstieg allzu sehr erschweren. Hier Abhilfe zu schaffen,
das wäre in Wahrheit eine Aufgabe „des Schweißes der Edelsten wert", und
die Jugendpflege ist vielleicht berufen, die nötige Vorarbeit oder Mitarbeit zu
leisten. Ein weitblickender Führer der süddeutschen Industrie, der Generaldirektor
der Maschinenfabriken Nürnberg - Augsburg, Reichsrat von Rieppel, hat mit
Recht darauf hingewiesen, daß Berufsberatung und Berufshilfe in dem Sinne,
daß der Tüchtige, welcher Herkunft er auch sei, auf den richtigen Platz gestellt
wird, zu den ernstesten Pflichten unserer kommenden Sozialpolitik gezählt werden
müssen. Ein Volk, das in einem so gewaltigen Kriege so bewundernswerte
Fähigkeiten bewiesen hat, verdient es gewiß, daß man ihm als schönsten Lohn
*) Was die Jugendpflege im einzelnen bedeutet und in welcher Weise sich etwa die
Arbeitgeberschaft daran beteiligen kann, das ist ausführlich in einer Reihe von Aufsätzen
dargelegt, die der Geschäftsführer des Hamburgischen Landesverbandes für Jugendpflege,
Kuhlendahl, in der „Deutschen Arbeitgeber-Zeitung" (Jahrg. 1916, Ur. 3, 4, 6, 23 und 29)
veröffentlicht hat. Hier ist genau angegeben, welche Aufgaben die zu errichtenden Jugend¬
heime zu lösen haben: Handfertigkeitsunterricht, Büchereibetrieb, Vorträge, gesellige und
unterrichtende Veranstaltungen, körperliche Übungen, kurzum, ein Gemeinschaftsleben, das der
körperlichen, sittlichen und geistigen Ertüchtigung dient, kommt in Betracht, und die Grund¬
züge hierfür bilden den Inhalt der erwähnten Aufsätze.
Über die Berufsberatung und Berufsvermittlung in ihrem Verhältnis zur Arbeitgeber¬
schaft unterrichtet ein Aussatz des Schulrat Dr. Thomae im „Arbeitgeber" (Ur. 12 vom
15. Juni). Es sei hierbei bemerkt, daß bereits in einer Anzahl von Städten Berufsberatungs¬
stellen eingerichtet sind, zum Teil schon unter Mitwirkung von Arbeitgeberverbänden.
seiner Opferwilligkeit die Wege zu höherer Kultur und höherem Lebensgenuß
ebnet. Nicht schematisch darf verfahren werden, wohl aber gebieten es mora¬
lische, politische und wirtschaftliche Rücksichten, daß dem hellen Kopf und dem
festen Willen ein freies Feld fruchtbarer Beendigung eröffnet wird. Im einzelnen
werden diese Dinge noch emsig bearbeitet werden müssen. An die Jugendpflege
hat sich aber jedenfalls die Berufsberatung anzugliedern; wieweit dann etwa
Freistellen an mittleren und höheren Lehranstalten, Stipendien oder sonstige
Unterstützungen zu schaffen sind, mag vorläufig dahingestellt bleiben.
Vorbedingung jeder durchgreifenden Jugendpflege ist eine gesunde und
systematische Wohnungspflege; die beste Jugendpflege wird keine nachhaltigen
Erfolge zeitigen, wenn das Gute, das sie stiftet, sofort wieder durch unzuläng¬
liche Wohnungsverhältnisse vernichtet wird. Es wird nun ernstlicher Erwägungen
bedürfen, um festzustellen, in welcher Art die Arbeitgeberverbände sich an den
bereits vorhandenen Bestrebungen der einzelnen Arbeitgeber in Sachen der
Wohnungsfrage helfend und fördernd beteiligen können. Es liegt auf der
Hand, daß Arbeiterwohnungen, die nicht von einem einzelnen Werk errichtet
und deren Bewohner daher auch nicht im geringsten von diesem Werk abhängig
sind, große Vorteile besitzen und jedenfalls den Arbeitern selbst als eine Wohl-
fahrtseinrichtung erscheinen müssen, gegen die sich die oft erhobenen Anklagen
und Vorwürfe nicht wohl wiederholen lassen. Den örtlichen Arbeitgeber¬
verbänden aber wird es, von allen ideellen Vorzügen abgesehen, in wirtschaft¬
licher Beziehung sehr zugute kommen, wenn in ihrem Bezirk gut eingerichtete,
billige und gesunde Arbeiterwohnungen vorhanden sind, die einen Stamm
heimatstreuer Arbeiter beherbergen. Die leidige Fluktuation der Arbeiterschaft
wird auf diese Weise wirksam bekämpft werden können, die Arbeiter werden
der Willkür habgieriger Hauswirte entzogen, und wenn man auf die schon
bestehenden Arbeiterkolonien (bei Bremen, im rheinisch-westfälischen Bezirk, in
Oberschlesien und im Saargebiet) hinblickt und die Vorteile ermißt, die dein
Arbeiter aus einem Stückchen eigenen Gartenlandes und aus der Kleintierzucht
erwachsen, so wird man auch den wirtschaftlichen Wert einer solchen, großzügig
angefaßten Wohnungspolitik kaum zu hoch in Anschlag bringen können. Dabei
soll übrigens nicht gesagt werden, daß die Anlage solcher ländlichen Siedelungen
den einzigen Weg für eine sachgemäße Lösung der Wohnungsfrage bedeutet.
Eines schickt sich nicht für alle! In größeren Städten wird es oft ebenso gut
und besser sein, wenn in der Nähe der Fabrik aus genossenschaftlicher Grundlage
geräumige Wohnhäuser, mit allen Bequemlichkeiten moderner Technik aus¬
gestattet, errichtet werden. Es gibt in der Industrie zahlreiche Anhänger auch
dieses Systems, und je nach den Verhältnissen wird man sich für das mit dem
kleinen Gärtchen, dem Hühnerhof und dem Schweinekoben verbundene Eigenhaus
oder für das städtische, große Mietshaus entscheiden müssen. Aber gleichviel
auf welche Weise man eine Hebung der Wohnungszustände anstrebt, etwas
nird geschehen müssen, denn mehr und mehr bewahrheitet sich der Satz des
englischen Staatsmannes, daß ein Volk leicht zu gut essen und trinken, aber
niemals zu gut wohnen kann. Gesunde Wohnungen werden die Kampffähigkeit
des Volkes, die kriegerische wie die friedliche, erhöhen, sie werden das beste
Mittel darstellen, um den Geburtenrückgang aufzuhalten, sie werden das meiste
dazu beitragen, um die ganze Volksmoral zu heben und an die Stelle der
materialistischen Weltanschauung eine höhere Lebensauffassung, ein festeres und
vertieftes Familienleben treten zu lassen. Daß die Arbeitgeberschaft an einer
solchen Entwicklung in jeder Hinsicht auf das lebhafteste interessiert ist, dafür
braucht ein näherer Beweis nicht erbracht zu werden.*)
Den beiden Aufgaben der Jugendpflege (einschließlich der Berufsberatung
und Förderung befähigter Elemente) und der Wohnungsfürsorge stellen sich die
zahlreichen sonstigen Einrichtungen zur Seite, durch die das soziale Wohl der
Arbeiterschaft vermehrt und gesichert werden kann. Auch hier wird vielfach die
Organisation fortzuführen und zu vervollkommnen haben, was die einzelnen
Unternehmer schon mit so gutem Erfolge in die Wege geleitet haben. Man
denke z. B. an die Ernährungsfrage! Gemeinsamer Bezug billiger Nahrungs¬
mittel, die eigene Bewirtschaftung von Ländereien, eigene Viehzucht und ähn¬
liches —, diese Gedanken mochten noch vor einigen Jahren höchst seltsam und
undurchführbar erscheinen, heute haben wir gelernt, daß solche Aufgaben sehr
gut auch in den Bereich einer industriellen Interessengemeinschaft hineinpassen,
und überall können wir beobachten, wie sehr solche Maßnahmen dazu
beitragen, nicht allein die wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft zu verbessern
und eine Sicherheit gegen die Folgen wechselnder Geschäftslage zu schaffen,
sondern auch dem ganzen Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
eine freundlichere Gestaltung zu verleihen. Zu den sozialen Aufgaben des
Unternehmertums wird auch die Förderung der Werkvereine, der sogenannten
gelben Arbeiterverbande, d. h. solcher Verbünde, die auf wirtschaftsfriedlicher
und nationaler Grundlage stehen, zu rechnen sein. Es ist das freilich ein
umstrittenes Kapitel, und in der Zeit des Burgfriedens ist nicht leicht darüber
zu reden, aber soviel darf doch gesagt werden, daß auch an diesem Punkte die
positive Arbeit des Unternehmertums bereits kräftig eingesetzt hat, und daß alle
Angriffe und Entstellungen nichts daran ändern werden, daß diese in nationaler
und wirtschaftlicher Hinsicht gleich wichtige und fruchtbare Bewegung auch
weiterhin die verdiente Unterstützung finden wird.
Neben all diese, auf sozialem Gebiete liegenden Ziele stellt sich aber die
gewaltige Menge der rein wirtschaftlichen, technischen und politischen Fragen,
an deren Lösung mitzuarbeiten das Unternehmertum ebenfalls berufen ist. Dem
Kriege wird voraussichtlich eine Zeit scharfer Auseinandersetzungen auf allen
möglichen Gebieten folgen; wir werden kräftig zu ringen haben, um unsere
frühere Stellung auf dem Weltmarkt zurückzugewinnen, wir werden mit neuen,
handelspolitischen Beziehungen (Verhältnis zu Österreich, zu den Balkanstaaten
usw.) zu rechnen haben, wir werden aber auch in der inneren Politik auf
manche Spannung, auf manche „Neuorientierung" gefaßt sein müssen. Wohl
oder übel, es ist die Aufgabe des Unternehmertums, auch bei solchen Gelegen¬
heiten mit zu raten und mit zu taten. Sicherlich, schwere Arbeit sür den
Unternehmer, der gerade genug zu tun hat, wenn er den eigenen Betrieb
überwachen und kräftigen, den Fortschritten des Handels und der Technik folgen
soll! Aber gerade darum wird in Zukunft nicht mehr allein der einzelne
Unternehmer, sondern in der Hauptsache die berufene Interessenvertretung des
Unternehmertums ihres Amtes zu walten haben. Es wird darauf ankommen,
im engeren Kreise wie im großen Rahmen der ganzen Volkswirtschaft die rechte
Mitte zu halten zwischen freier, persönlicher Betätigung und geschlossener,
organisierter Gemeinschaftsarbeit. steuert das Unternehmertum auf dieser Linie
vorwärts, erfüllt es dabei die praktische Arbeit, die sich ihm von allen Seiten
her entgegendrängt, so wird dem inneren Frieden des deutschen Volkes ebenso
gedient sein, wie dem materiellen Wohlstand der ganzen Nation, wie dem Ansehen
und der Größe des Vaterlandes!
In der engeren Heimat ruhen die Wur¬
zeln der nationalen Kraft. Mit Recht Wird
daher in neuerer Zeit auf die Heimatgeschichte
besonderer Wert gelegt, und ein preußischer
Ministerialerlaß ,vom 2. September 1915
schreibt auch ihre Berücksichtigung für den
Unterricht vor. Leider ist es in dieser Hin¬
sicht mit den Hilfsmitteln vielfach noch recht
schwach bestellt. Die kleine soeben erschienene
Geschichte der Grafschaft Wernigerode ist
auf diesem Gebiete ein Meisterwerk. Wenn
sie an dieser Stelle Besprechung findet, so
geschieht dies weniger um der Grafschaft
Wernigerode willen, obgleich sie für jeden,
der sie kennt, ein schönes und glückliches
Ländchen ist, als weil die Darstellung vor¬
bildlich und bahnbrechend wirken kann für
andere Heimatgeschichten dieser Art. Mitten
in den Stürmen des Weltkrieges werden wir
in ein idyllisches Stilleben geführt. Möglichst
an bekannte, geschichtlich bedeutsame Örtlich-
keiten anknüpfend führt uns der Verfasser von
den ältesten Zeiten durch die Reihen der
Wermgeröder Grafen, die uns im großen
und ganzen herzlich gleichgültig sein können
bis auf einige bedeutende Persönlichkeiten des
Geschlechtes wie Juliane, die Mutter des
großen Oraniers, und die Mitglieder jenes
or. Heinrich Drees: Geschichte der Gr«f-
schuft Wernigerode. Wernigerode 1916.
Kommissionsverlag von Paul Jüttners Buch¬
handlung (Paul Schulze). 96 S.
an den Hainbund anknüpfenden Dichterkreises,
auch den Grafen und den ersten Fürsten
Otto, den Staatsmann der Bismarckschen Zeit.
Glücklicherweise beschränkt sich der Verfasser
nicht darauf, vor den Reihen der gräflichen
Landesherren untertänigst zu ersterben, son¬
dern hebt überall die kulturgeschichtlich wich¬
tigen Gesichtspunkte hervor. Die kurze Zu¬
sammendrängung des Stoffes läßt vielfach
nur ahnen, wie viel Arbeit dahinter steckt.
Mag das Buch auch Wohl Schulzwecken zu
dienen bestimmt sein, so ist es doch kein
bloßes Schulbuch. Niemand wird das Buch
ohne mannigfache Anregung und Belehrung
aus der Hand legen. Namentlich wer den
Harz bereist, kann sich auf dieser heimats¬
geschichtlichen Grundlage größere Vorteile
und Genüsse verschaffen als auf Grund eines
bloßen Reisehandbuches. In diesem Sinne
ist dem Buche eine recht weite Verbreitung
zu wünschen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
Dp. MOttKI5!.!S'
iiiW Mer
i. NecKlb. am Nüriwsee -—
sammelte gewissenliskte Vorbereitung tur alle LmMrigsn-, ?una- u. Keikeprürung
uncl
lWiiW kUellUtM
- (NarK)--
Nönero privatselmle mit Internat (2. ?t. VI—II).
Veiäe /in8wider x>ol3ekelt V/asser unä Walä 8cur Ze8unä Zele^en.
IZe8onäers tur LLNüIer, die spex. i^öräei'unK unä Obliul beäürfen.
Qrünälicnei- Unterrient in Kleinen Klassen unä Kursen. Vol-züAliene
VerpfleZunZ. ." " Nan vel-I^nZs Prospekt.
Imperium iacile eis artibus retinetur,
quibus initio p^reuen est.
s ist ein alter Streit, ob Politik eine Aufgabe sei, moralische
Versuche zu veranstalten und sür gut erkannte Theorien in Wirk¬
lichkeit umzusetzen, oder aber eine Kunst, Macht zu erwerben und
in der menschlichen Gesellschaft einen bestimmten Willen zur
Geltung zu bringen. Die Entscheidung darüber läßt sich keines¬
wegs mit wenigen Worten treffen, namentlich weil es ja möglich ist, den Macht¬
erwerb und die Machtbetätigung als Mittel zur Erfüllung sittlicher Aufgaben
zu betrachten. Jedenfalls scheint es, daß beide, Machttrieb und ethische Er¬
kenntnis, nebeneinander und wohl auch oft gegeneinander und vielfach ver¬
schlungen den politischen Willen bestimmen und demnach als seelische Grundlagen
vorhandener politischer Gebilde in Betracht kommen. Wollte man nun bei
einem bestimmten solcher Gebilde die Willensvoraussetzungen seiner Existenz
einmal erforschen, so wird die Aufgabe meist nicht leicht sein, zumal wenn die
Grundlagen eines Staates schon in alter Zeit geschaffen worden sind. Denn
die seelischen Zustände einer weitabliegenden Zeit sind ein Forschungsgebiet,
das der historischen Wissenschaft schwer zugänglich ist. Die „Deutsche Geschichte"
von Lamprecht enthält vorzüglich Versuche, von dem Seelenleben auch der
älteren deutschen Vergangenheit Begriffe zu bilden, und wo das etwa nicht
geglückt sein sollte, wenigstens die Aufgabe und ihre Schwierigkeit ins rechte
Licht zu stellen. Im Hinblick auf unsern gegenwärtigen Staat, das neue
Deutsche Reich, verspricht ein Versuch, eine solche Aufgabe zu lösen, verhältnis¬
mäßig guten Erfolg. Denn das Reich ist in einer Zeit entstanden, die nicht
weitab von der unseren liegt, aus der viele unmittelbare Quellen erhalten sind;
und es ist nicht aus halb- oder unbewußten Trieben erwachsen, sondern von
einem großen und zwar dem eigenen Volke im vollen Lichte der Kultur mit
bewußtem Willen angestrebt worden. Hier lohnt es sich wohl, einmal nach
den Faktoren dieses Willens zu fragen: ob ethisch-kulturelle Überzeugungen oder
der Drang zur Macht, zur Geltung im Rate der Völker ihn mehr und an
besserem Erfolg bestimmten.
Es ist kein Zweifel — schon Treitschke hat das mit Recht betont —, daß
der nationale Gedanke in Deutschland eher als ethisch-literarische Forderung
aufgetreten ist, denn als wirtschaftlich-machtpolitischer Anspruch. Aus den
Humanitätsgedanken der Aufklärung, so universalistisch sie von Haus aus waren,
erwuchs in folgerichtiger Fortentwicklung die Idee der Nation. Wir sehen sie
reifen in unsrer klassischen Philosophie und Dichtung, volkstümlich werden in
der Romantik, ehe noch die staatlich »wirtschaftlichen Verhältnisse als solche soweit
fortgeschritten waren, daß ihnen die Erfüllung der nationalen Forderungen ein
Bedürfnis erschien. Der Druck der napoleonischen Fremdherrschaft war es
zunächst, der die Deutschen die Unzulänglichkeit ihres zerfahrenen politischen
Zustandes am eigenen Leibe spüren ließ, und die erwachenden Interessen der
Industrie und des Handels, die eine Überwindung der wirtschaftlichen Zer¬
splitterung und des Krühwinkelgeistes verlangten, reihten allmählich die nationale
Idee unter die Forderungen der täglichen Arbeit aufstrebender Volkskreise ein.
Der Freiheitskampf gegen Napoleon ist weit überwiegend mit sittlichen
Argumenten geführt worden. Man begehrte die nationale Unabhängigkeit als
Menschenrecht, mau empfand das Machtstreben des korsischen Eroberers als
einen Frevel gegen Gott und die Menschheit und sprach pathetisch von der
Strafe, die ihn durch die Waffen der Freiheitskämpfer ereilen müsse. „Heilig"
nannte man die Allianz, in der damals Österreich, Rußland und Preußen
beisammenstanden. Es war „kein Krieg, von dem die Kronen wissen", sondern
ein „Kreuzzug" und ein „heiliger Krieg". Gänzlich fern lag den Deutschen
der Gedanke, Macht in Europa zu erlangen. Sonst hätte man sich nicht bei
Verfassung des Deutschen Bundes, wie sie der Wiener Kongreß schließlich
feststellte, beruhigt. Denn sie war zu allem eher geeignet als zu einem In¬
strument nationaler Macht. Der Bund war militärisch jämmerlich, und wenn
Deutschland seit 1814 unabhängig von Fremdherrschaft blieb, so war das nicht
Verdienst des Bundes, sondern seiner militärkräftigen Glieder Österreich und
Preußen und Folge des Gleichgewichts der europäischen Großmächte. Als nun
trotzdem die Unzulänglichkeit des Bundes immer offenbarer wurde und der
nationale Gedanke Fortschritte machte, blieb doch das ethische Interesse für ihn
grundlegend. Nach nationaler Einheit zu streben um der Macht und Welt¬
geltung willen, womöglich gar auf Kosten auswärtiger Staaten, wäre von der
deutscheu öffentlichen Meinung als Äußerung eines unwürdigen National¬
egoismus verworfen worden.
Noch bei unserm ersten eigentlichen Reichsgründungsversuch, der im Jahre
1848 begann, herrschen die ethischen Beweggründe und das human-nationale
Pathos vor. Ganz charakteristisch hierfür ist das Ideal, das die Brust des
Fürsten erfüllte, dem man damals die deutsche Kaiserkrone zudachte. Friedrich
Wilhelm der Vierte ersehnte die Wiederherstellung des universalen christlichen
Kaisertums und sah in ihm einen Eckstein von Gottes Ordnung auf Erden.
Das Haus Österreich besaß den alleinigen Anspruch auf diese geweihte Krone.
Darum hielt es der König für Usurpation, nach ihr zu greifen, wenn nicht der
rechtmäßige Träger unzweideutig und freiwillig auf sie verzichtete. Er war
folgerichtig durch alle Wechselfälle der Jahre 1848 und 1849, durch alles
Zureden wohlmeinender Parteiführer und Minister nicht dazu zu bringen, eine
deutsche Politik ohne Rücksicht auf Österreich oder gar gegen dieses zu treiben.
An dieser sittlichen nationalen Überzeugung des Königs ist das Verfassungswerk
der Paulskirche, nachdem über tausend Hindernisse hinweg doch etwas zustande
zu kommen schien, gescheitert. Dabei waren die Staatsmänner, die Friedrich
Wilhelm auf die Bahn einer deutschen Politik vom preußischen Gesichtspunkte
ans zu drängen suchten, ihrerseits durchaus keine Propheten des nackten Staats¬
egoismus. Auch sie hofften ohne Blut und Eisen, durch Verträge, die
niemandem sehr weh tun sollten, und durch freiwillige Vereinbarung eine
deutsche Einheit aufrichten zu können.
Das Jahr 1848 kennt in der preußischen Politik noch keinen Bismarck-
geist, wenn es auch nicht ganz an Staatsmännern fehlte, die die Lösung der
deutschen Frage mit richtigerer Einschätzung machtpolitischer Gesichtspunkte be¬
urteilten. Zu ihnen gehörte der preußische Bundestagsgesandte Graf Dönhoff.
Es ist bezeichnend, daß dieser Mann an derselben Stelle stand, an der später
Bismarck das deutsche Problem mit durchdringender Einsicht studierte. Wir
haben die Kopie einer Denkschrift Dönhoffs schon vom September 1847*),
worin er eine Förderung der deutschen Einheit ohne und selbst gegen Österreich
mittels Aufrichtung von SpezialVereinen mit andern deutschen Staaten nach
dem Muster des Zollvereins empfahl. Wie in diesem für die Zollpolitik, so
sollten nach und nach für andere Kompetenzen parallele Verbände geschaffen
werden und in dieser Weise allmählich eine deutsche Einheit nach praktischen
Interessen unter rein preußischer Führung erwachsen. Die in Deutschland
damals noch ungewohnte ökonomisch-praktische Begründung der nationalen
Politik klingt hier also deutlich durch. Nicht von der nationalen Idee, sondern
von den Notwendigkeiten der Wirtschaft, Verwaltung, Landesverteidigung und
vom Interesse Preußens geht Dönhoff ans. Er ist sich Aar, daß solche Politik
nur gegen Österreich gemacht werden könne, nur hofft er etwas optimistisch,
der Kaiserstaat werde ihre Ergebnisse schließlich wie den Zollverein still¬
schweigend anerkennen. Die Denkschrift hatte an maßgebender Stelle keinen
Erfolg. Aber als ein halbes Jahr später die Funken der Februarrevolution
über den Rhein flogen und in Deutschland zündeten, da hielt Dönhoff seine
Zeit für gekommen. Wie vorher von den Gewissensbedenken gegen den Bruch
mit Österreich, so war er jetzt auch von Scheu vor dem „Bündnis mit der
Revolution" frei. Er hielt eine offene Verständigung der deutschen Regierungen
und Preußens an ihrer Spitze mit der liberalen Pariei für das Gebot der
Stunde zur Niederhaltung der demokratischen Revolution und zur Aufrichtung
der deutschen Einheit. Er riß seit dem 1. März den eingeschüchterten Bundestag
aus seinem bisherigen Phlegma zu einer aktiven liberalen Politik sort, suchte
aber vergeblich für seine Pläne in Berlin Anklang zu finden. In vieler Be¬
ziehung dürfen wir den Minister des Innern, Bodelschwingh, als seinen Ge¬
sinnungsgenossen betrachten, es gelang aber beiden nicht, ihren der politischen
Denkweise des Königs gänzlich fremden Gedanken in der Regierung Boden zu
verschaffen, und mit dem Zusammenbruch des alten Preußens am 18. März
war der günstige Augenblick versäumt. Die Liberalen glaubten der preußischen
Staatsmacht nicht mehr zu bedürfen, das reine Prinzip fühlte sich nunmehr
erst recht als Herrn der Lage.
Dönhoff hat nachmals die Politik Camphausens unterstützt, die der seinen
sehr ähnlich sieht, aber doch von etwas veränderten Grundlagen ausgeht. Auch
Camphausen wollte Preußen zu einem Bündnis mit dem Liberalismus be¬
stimmen. Aber die Gedanken des zum Minister ausgerückten Kölner Kauf¬
manns und rheinischen Parteiführers waren von Haus aus ideologischer und
ähnelten in dieser Beziehung mehr denen Heinrichs von Gagern, des Führers
der Paulskirche. Gagern war kein Preuße und hätte es am liebsten gesehen,
wenn das Haus Hohenzollern für die Kaiserkrone, die er ihm zudachte, ganz
aufgehört hätte, eine preußische Königskrone zu tragen. Die acht preußischen
Provinzen sollten selbständige Einzelstaaten des Reiches werden, nur daß sie
als Landesherrn gemeinsam den Kaiser gehabt hätten, statt wie die anderen
Staaten ihre eigenen Fürsten. Hingegen war Camphausen überzeugter Preuße
und wollte die preußische Staatsmacht innerhalb des Reiches unverkürzt und
ungeteilt erhalten. Aber in dem mehr ethischen als machtpolitischen Ausgangs¬
punkt ihrer deutschen Ideen stimmen Camphausen und Gagern überein gegen
Dönhoff, der den preußischen Staatsegoismus und den deutschen Machtgedanken
stärker betonte. Camphausen hat auch als Staatsmann den friedliebenden
Charakter des Kaufmanns behalten und immer lieber durch Vereinbarung als
durch das Risiko eines offenen Bruches seine Ziele erreichen wollen. In die
Unzulänglichkeit solcher Mittel hat Radowitz wahrscheinlich eine klarere Einsicht
besessen als Camphausen. Radowitz war der alte Vertraute Friedrich Wil¬
helms des Vierten, der nach dem Scheitern des Frankfurter Verfassungswerkes
und der Politik Camphausens die Lösung der deutschen Frage in die Hand
nahm und als Leiter der sogenannten preußischen Unionspolitik in den Jahren
1849 und 1850 in der deutschen Geschichte allgemein bekannt ist. Radowitz
ist an staatsmännischer Begabung und politischem Gedankenreichtum über
Camphausen und Gagern zu stellen, zweifellos auch über Dönhoff, der es zu
einer eigentlich leitenden Stellung ja nicht hat bringen können. Als Mann der
Tat reicht er, wie alle andern, an Bismarck nicht heran. Auch er war ein
Politiker von ethischen Grundansichten. Er teilte die großdeutsch-christlich¬
universalistischen Ideen seines gekrönten Freundes, war aber weniger Romantiker
und besaß einen klareren Blick für das Mögliche und für gangbare Wege zum
Ziel. Wie für den König seine romantische Religiosität, so ist für Radowitz
bezeichnend, daß er bewußter politischer Katholik, als Abgeordneter in Frankfurt
Führer des dortigen katholischen Vereins war. Der Vorteil, den der Katholik
vor dem evangelischen Romantiker in der Politik hat, liegt auf der Hand.
Denn die katholische Kirche vereinigt in einer Weise, die nicht leicht wieder zu
erreichen ist, eine ethisch-dogmatische Weltansicht mit dem Instinkt für Praxis
und Macht, wobei diese als Mittel zum Zweck in die Weltanschauung selber
eingeordnet werden. Radowitz konnte sich so bei völlig fremden Prinzipien in
manchen Punkten mit Dönhosf berühren. Auch er gedachte durch Spezial-
vereine von praktischen Bedürfnissen aus der deutschen Einheit Schritt für
Schritt näher zu kommen, und auch er wußte, daß man nur ohne oder gegen
Osterreich etwas erreichen konnte. Trotzdem glaubte er dann wieder an eine
höhere europäische Zusammengehörigkeit des erst unter sich geeinigten kleineren
Deutschlands mit Österreich. Der engere Bund sollte von einem weiteren um¬
schlossen sein. Diese Situation des jetzigen Weltkrieges hat, wie er, auch
Gagern vorausgeahnt, und Camphausen hat sie als möglich gelten lassen.
Zur Ausführung seiner Pläne ist Radowitz freilich zuletzt doch nicht imstande
gewesen, weil sich Preußen vor einem Krieg gegen Österreich als der Konsequenz
seiner Unionspolitek damals scheute und sich in Olmütz der siegreichen Staats¬
kunst des Fürsten Schwarzenberg unterwarf. Erst das rücksichtslose Bekenntnis
zum entschiedenen Machtprinzip in der deutschen Politik Preußens hat ihr
nachher unter Bismarck den Sieg verschafft.
Daß die deutsche Frage wirklich nur durch Blut und Eisen gelöst werden
könne, das haben unter den Politikern von 1848 eigentlich nur die reinen
Revolutionäre, die Republikaner der Paulskirche und vor allem die Führer der
verschiedenen sächsisch-südwestdeutschen Aufstände erkannt. Diese Radikalen er¬
strebten die Verjagung sämtlicher Fürsten und die Umwandlung Deutschlands
in eine unitarische Republik. Als die Nationalversammlung für konstituierend
und souverän erklärt wurde, machte Otto von Corvin, der schon im April 1848
als einer der Führer des ersten badischen Aufstandes hervorgetreten war, den
Vorschlag, sofort eine Armee unter dem Befehl der Frankfurter zu bilden, als
deren Grundstock tausende von brodlosen deutschen Arbeitern in Paris zur Ver¬
fügung standen. Auf dieser Seite sah man also ein, daß die Volksvertretung
niemals ihren Souveränitätsanspruch durchsetzen werde, wenn sie nicht für
eigene Machtmittel gegen die Einzelstaaten und Fürsten sorge. Die Paulskirche
hat das von vornherein nicht begriffen und von ihrem Standpunkt aus gar nicht
begreifen können. Den Radikalen fehlte alle wirkliche Macht zur Durchführung
ihrer Pläne, aber nicht die Einsicht in die machtpolitischen Realitäten. In dieser
Beziehung hatten sie mehr Bismarckgeist als andere achtundvierziger Politiker.
Der eigentliche Sieger in der ganzen Bewegung der Jahre 1848 bis 1850
war die durch den Fürsten Felix Schwarzenberg erneuerte österreichische Staats¬
macht. An ihr scheiterte die preußische Unionspolitik. Schwarzenberg wäre
wahrscheinlich in der Lage gewesen, die deutsche Frage im österreichischen Sinne
zu lösen, wenn er dieser Ausgabe das nötige Interesse entgegengebracht hätte.
Er ist an realpolitischer Tatkraft mit Bismarck zu vergleichen, aber ihm fehlte
die Überzeugung von einem deutschen Beruf Österreichs. Seine deutsche Politik
verstand es meisterhaft, dem preußischen Konkurrenten die Waffen aus der
Hand zu schlagen, aber nach dem Stege nun selbst ein neues Deutschland zu
schaffen, dazu verstand er sich nicht. Er bekämpfte die preußische Politik unter
Radowitz im Bunde mit den Mittelstaaten. Die Kleinstaaten sollten faktisch
mediatisiert und der Souveränität der Königreiche unterstellt werden. Im
Bundeszentralorgan, bestehend aus einem Königskollegium und einer Ver¬
tretung der Kammern und Regierungen, sollten nur Österreich, Preußen,
Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover vertreten sein, und der Bund
sollte zu einem leistungsfähigen Gesamtkörper gestaltet werden. Der öster¬
reichische Handelsminister Brück entwickelte ein Programm, das bei seiner
Durchführung die heute wieder erstrebte mitteleuropäische Wirtschafts- und
Militäreinheit auf der Grundlage dieses sechsköpfigen Staatenbundes ver¬
wirklicht hätte. Aber Schwarzenberg nahm an diesen Plänen keinen inneren
Anteil. Er benutzte sie bloß zur Bekämpfung Preußens. Über den deutschen
Nationalgedanken dachte er skeptisch und begnügte sich nach dem Siege über
Preußen, als auf den Dresdner Konferenzen 1851 sich den Bruckschen Wirt-
schastsplänen Widerstände entgegenstellten, mit der einfachen Wiederherstellung
des alten Bundestages in Frankfurt. Schwarzenbergs früher Tod beraubte
überdies Österreich bald dieses kraftvollen Führers, und die Leistungsfähigkeit
der zentralisierten neu-österreichischen Staatsmacht nahm von da an ganz all¬
mählich ab bis zur Katastrophe von 1866, die den Kaiserstaat zur heutigen
österreichisch-ungarischen Monarchie umgestaltete. Die positive Lösung der
deutschen Frage, die Österreich kurz vorher noch einmal versuchte, ging nicht in
den Bahnen der Schwarzenbergschen Machtpolitik, sondern hoffte wie die
Frankfurter Großdeutschen von 1848 auf eine Reform des unreformierbaren
Deutschen Bundes. Der leitende Geist dieser Pläne war denn auch derselbe
Minister Schmerling, der schon in der Paulskirche das kleindeutsche Programm
der Erbkaiserpartei bekämpft hatte. Auf dem Frankfurter Fürstentag von 1863
beantragte er ein fünfköpfiges Direktorium, eine Delegiertenversammlung aus
den Einzellandtagen mit beratender Stimme, ein Bundesgericht und für
wichtige Angelegenheiten periodische Fürstenkongresse. Der Geist Schwarzen¬
bergs, der in der Macht den Quell politischer Gestaltung erkannte, lebte in diesen
Versuchen nicht mehr. Inzwischen war seine Erkenntnis in Preußen aufgegangen.
Die Originalität der deutschen Politik Bismarcks besteht nicht in ihrem
Inhalt. Der ehemalige Gegner der Staatsmänner von 1848 hat, als er
selber berufen wurde, die deutsche Frage zu lösen, auf viele ihrer Pläne und
Gedanken zurückgegriffen. Selbst vor demokratischen Institutionen wie dem
allgemeinen Wahlrecht hat er sich nicht gescheut. Aber Bismarck war nicht
gebunden durch jene ethische Grundanschauung von der deutschen Einheit und
dem weltgeschichtlichen Beruf des deutschen Volkes, von der die Politiker der
Paulskirche und die Staatsmänner Friedrich Wilhelms des Vierten bei allen
Verschiedenheiten unter sich meist ausgingen. Die Grundpfeiler seiner Welt¬
anschauung waren Standesbewußtsein und Königstreue; alle Politik über den
Grenzen altpreußischen Staatslebens war für ihn mehr oder weniger ein Gebiet
jenseits von Gut und Böse, wo die Macht das entscheidende Wort zu sprechen
hat. Darin gleicht Bismarck dem Fürsten Schwarzenberg: wie dieser die deutsche
Politik einzig und allein vom österreichischen Staatsinteresse aus beurteilte, so
er vom preußischen, nur daß sie ihm von diesem aus nicht so nebensächlich
erschien wie dem österreichischen Grandseigneur. Weniger um Deutschland als
um Preußens willen ging er an die Lösung der nationalen Frage. Denn
Preußen an der Spitze Deutschlands stellt eine größere Macht dar als Preußen
allein. Und nicht weil er die nationale Einheit für ein Menschenrecht des
deutschen Volkes angesehen hätte, erstrebte er sie. sondern weil er der Nation
ein größeres Gewicht in Europa verschaffen wollte. Uns sind heute Dinge
wie Weltgeltung und Großmachtsansehen unsres Volkes vertraute Begriffe
geworden, wenigstens ist das Verständnis für ihre Bedeutung heute weiten
Kreisen zugänglich. Damals aber waren Bismarcks Gedankengänge noch etwas
Besonderes. Das deutsche Volk war gewohnt, seine Einheit zu ersehnen, weil
es ein Recht darauf hätte, entweder ein historisches, das man aus der mittel¬
alterlichen Kaiserherrlichkeit ableitete, oder ein rationales, weil die Philosophie
den Menschen und Völkern ein Selbstbestimmungsrecht zusprach. Bismarck
dagegen wurzelte in anderen Rechtsüberzeugungen: er glaubte an ein Recht
seines Staates auf Leben und Wachstum. Schon als jungem Mann schien
ihm der Zweck der deutschen Einheit in der Machtgestaltung des Vaterlandes
zu liegen. Deswegen war auch das Ziel seiner Politik einfach die Erhöhung
der preußischen Macht. Es schloß die kleindeutsche Einheit in sich, ohne daß
sie gerade Selbstzweck gewesen wäre. Auch mit einer auf Norddeutschland
beschränkten Hegemonie hätte sich Bismarck begnügt, wenn es ihm nicht die
Fehler der französischen Politik möglich gemacht hätten, unmittelbar nach dem
Erwerb der norddeutschen Vorherrschaft schon Höheres ins Auge zu fassen
(vgl. meinen Aufsatz „Frankreich und die Gründung des Norddeutschen Bundes"
in Ur. 29 der „Grenzboten" 1916). Der machtpolitischen Grundüberzeugung
Bismarcks entsprachen auch die Mittel seiner Leitung. Von vornherein rechnete
er mit einer Entscheidung durch Blut und Eisen. Die ethischen Stimmungen
der Politik der Heiligen Allianz, die proösterreichischen so gut wie die antifran-
zösischen, hielt er nieder. Erst spannte er im Schleswig-holsteinschen Konflikt
die österreichische Politik vor seinen Wagen, und dann lief er der verschlagenen
Staatskunst Napoleons des Dritten den Rang ab, indem er sie um alle
territorialen wie moralischen Kompensationshoffnungen nach dem Siege über
Österreich betrog. Daher der Schlachtruf: „Kevanetie pour Laäo^va,!", mit
dem Paris in den Krieg von 1870 ging. Ohne, ja an gewissen kritischen
Punkten selbst gegen den Willen seines Königs hat Bismarck diese Machtpolitik
durchgeführt; gegen den Willen der deutschen öffentlichen Meinung ganz gewiß.
König Wilhelm hielt ihn ja nur, weil er ihn gegen diese öffentliche Meinung
brauchte, um seinen Konflikt gegen den preußischen Landtag durchzuführen. Den
liberalen Rechtsfanatikern der inneren Politik ist Bismarck mit denselben macht¬
politischen Grundsätzen entgegengetreten, nach denen er in den auswärtigen
und deutschen Fragen verfuhr. Seine staatsmännische Persönlichkeit bietet
darum ein Bild einheitlicher Überzeugung, das sich um so schärfer abhebt, je
mehr in der deutschen oder wenigstens preußischen Staatskunst vor ihm andere
Grundsätze herrschend waren.
In unsrer heutigen politischen Öffentlichkeit und in den Stimmungen, mit
denen unser Volk den gegenwärtigen Krieg durchkämpft, stehen sich immer noch
die beiden Grundauffassungen über Politik, die ethische und die des Macht¬
gedankens, die bismarckische und die vorbismarckische gegenüber. Wir haben
unter uns ebensogut Leute, die sich die Leiden des Krieges mit dem Gedanken
an die Weltmacht des deutschen Volkes versüßen, wie solche, die sich mit dem
Recht, das doch endlich Recht bleiben müsse, und mit der Hoffnung auf eine
sittlich bessere Zukunft der Menschheit trösten. Beide Grundstimmungen brauchen
nicht scharf geschieden zu sein. Doch wird es dem Burgfrieden dienen, wenn
man sich der Tatsache dieser polaren Gruppierung der Anschauungen wenigstens
bewußt wird. Von hier aus wird man z. B. die viel beanstandeten Aus¬
führungen des Münchener Professors F. W. Förster über deutsche Politik leicht
begreifen, wenn auch nicht billigen. Es ist kein Zweifel, daß unser Deutsches
Reich auf der Grundlage eines ausgesprochen machtpolitischen Willens erwachsen
ist, der den Gesinnungen der meisten Deutschen damals nicht entsprach und
vielleicht noch weniger entsprochen hätte, wenn er ihnen vollständig zum Be¬
wußtsein gekommen wäre. Darum betont dieser Aufsatz das Besondere des
Geistes der Bismarckschen Staatskunst, der vorher unter deutschen Politikern
selten war. Diesen Bismarckgeist glaubt Förster auch heute noch ablehnen zu
müssen, obwohl der gegenwärtige Krieg von der ehernen Notwendigkeit der
Macht, die natürlich Heil und Unheil wirken kann, eindringlich genug zu uns
redet. Die Deutlichkeit des Försterschen Standpunktes ist an sich anzuerkennen,
aber wenn seine politische Moral den Lebensbedingungen des Staates nicht
gerecht wird und die Sprache der Erfahrungen dieses Krieges nicht versteht, dann
ist ihre Unzulänglichkeit erwiesen. Das Christentum für seine Sache ausschließlich
in Anspruch zu nehmen, dazu hat Förster kein Recht. Er nennt den Geist des
neuen Deutschen Reiches „heidnisch", weil er seine Überzeugungen mit Christi
Lehre identifiziert. Es gibt aber ein Christentum, das den Machtgedanken
nicht verwirft, vielmehr ihn in sich selbst verkörpert und durch äußere Geltung
und Zucht für die Heilsverkündigung den Boden bewahrt, auf dem sie wirken
kann. Das ist das Christentum, das Kirche geworden ist, und in diesem
Kirchentum nicht etwa eine Verfälschung oder bestenfalls einen Notbehelf des
Christentums sieht, sondern ein Stück seines notwendigen Wesens. Auch Bis-
marck, dieser Apostel „heidnischer" Grundsätze in der deutschen Politik, war ein
frommer Christ, sogar ein Bekehrter, der sich durch eigenes Ringen nach einer
pantheistischen Jugend den Weg zum Glauben zurückgebahnt hatte. Auch der
Vertreter rücksichtsloser Machtpolitik kann für eine sittlich gute Sache kämpfen.
Wer immerfort die Gerechtigkeit im Munde führt und ein fertiges Bild von
Gut und Böse in der Welt hat, kann leicht in einen sehr unchristlichen religiösen
Hochmut verfallen und da verurteilen, wo uns Menschen kein Richteramt zu¬
steht. Die ethischen Politiker neigen immer ein wenig dazu, Vorsehung zu
spielen. Die Weltgeschichte aber geht oft andere Wege, sie urteilt nach dem
Kern und nach den Früchten, nicht nach den Mitteln, mit denen eine Sache
sich durchsetzt. Durch Blut und Gewalt schreitet manchmal eine bessere Zu¬
kunft als auf dem engen Pfade ängstlicher Gerechtigkeit.
Auch uns wird der Krieg beim Friedensschluß oder später wahrscheinlich
dazu berufen, neue politische Gebilde zu gestalten. Wir wollen dabei jenes
Wortes altrömischer politischer Erbweisheit gedenken, das vor diesem Aufsatz
steht. Dieser sollte in aller Kürze zeigen, daß das Deutsche Reich auf macht¬
politischen Grundlagen geschaffen worden ist und nur auf ihnen errichtet werden
konnte, nachdem es auf andere Weise vergeblich versucht worden war. Auch
die Erfolge dieses Krieges, mögen sie nun groß oder klein ausfallen, wird nur
die Macht erringen und bewahren können. Nicht die Verderblichkeit der Macht¬
politik hat der Krieg erwiesen, sondern ihre immer neu befestigte eiserne Not¬
wendigkeit. Unsere heutigen Feinde können auch nach dem Kriege nur durch
unsere Macht und Tüchtigkeit zur Respektierung unseres Daseins veranlaßt
werden, und unsere Bundesgenossen können nur an unserer Seite bleiben,
wenn in dem mitteleuropäisch-orientalischen Kulturverbande feste Machtverhält¬
nisse vorhanden und die Kompetenzen der einzelnen Mächte genau abgegrenzt
sind. Ein Gebilde machtpolitischer Kompromisse, wie das Bismarcksche Deutsche
Reich wird auch der Staatenbund sein müssen, zu dem dieser Krieg die Vor¬
aussetzungen schafft. In der Politik können nicht die Ideen über die Mächte
herrschen, sondern die Mächte herrschen allein und umhegen dann Gebiete, in
denen die sittlichen und schöpferischen Genien ihre Arbeit zu entfalten ver¬
mögen, in der wir die Bürgschaft für das ewige Heil und die bessere Zukunft
der Menschheit finden.
AM^
Mi
V- s ist Tatsache, daß die Mechanik des anglo-amerikanischen Geistes
für die germanischen Völker so lange ein unverstehbares Pharo-
!men bleiben wird, als es dem Militarismus, dieser lediglich auf
das Zweckmäßige und Vorteilhafte gerichteten Denkungsweise ver¬
sagt bleibt, sich derart in germanisches Geistes- und Empfindungs¬
leben einzufressen, daß er in ihm zum ausschlaggebenden Faktor wird und alle
durch eine ethisch-moralische Weltanschauung wacherhaltenen Regungen als über¬
wundene Sentimentalitäten zur Seite schiebt. Ein Volk, das. wie die Nord¬
amerikaner englischer Herkunft, im Geldverdienen seinen einzigen, auf alle
Fülle aber seinen höchsten Daseinszweck erkannt hat, und das sich in Hinsicht
auf die anzuwendenden Mittel, oft auf Kosten seiner moralischen Qualitäten,
die schrankenloseste Weitherzigkeit und Freiheit gestatten zu dürfen glaubt, wird
dem germanischen Menschenschlage, dessen Denk- und Handlungsweise in dem
kategorischen Imperativ der strengsten Pflichterfüllung ihren charakteristischen
Ausdruck findet, noch auf lange Zeit hinaus innerlich fremd bleiben. Diese
Erkenntnis muß dem Deutschen stets gegenwärtig bleiben, wenn er es unter¬
nimmt, die Auffassung des Amerikaners über Neutralität und die aus dieser
entspringenden Handlungsweisen und Gepflogenheiten während des Weltkrieges
seinem Verständnis näher bringen zu wollen.
Die Kenner amerikanischer Verhältnisse waren sich schon längst vor Aus¬
bruch des Weltkrieges bewußt, daß man in den Kreisen der amerikanischen
Finanz und Industrie mit der Möglichkeit eines europäischen Krieges als mit
der Aussicht auf äußerst günstige Geschäftszeiten rechnete, und daß auch
ein großer Teil der Nordamerikaner, die deutschen Herkommens sind, sich dieser
Anschauung angeschlossen hatte. Ihnen blieb daher die große Enttäuschung
erspart, die das deutsche Volk und seine Verbündeten befiel, als im Oktober
1914 die erste Kunde von den amerikanischen Kriegslieferungen an die Entente-
staaten zu uns herüber kam. Das deutsche Volk sah in diesen nach und nach
ins Phantastische wachsenden Lieferungen von Kriegsgeräten und Munition an
seine Feinde eine feindselige Stellungsnahme, die nach seinem völkerrechtlichen
Empfinden nicht mit der von der amerikanischen Regierung zugesicherten Neu¬
tralität in Einklang zu bringen war. Seinen amtlichen Ausdruck fand diese
deutsche Auffassung der Sachlage in den Vorstellungen, die der deutsche Bot-
Schafter Graf Bernsdorff in Washington erhob, die aber von feiten der ameri¬
kanischen Regierung unberücksichtigt gelassen wurden.
Es mag indessen zugestanden werden, daß das amerikanische Volk, als es
begann die Energien seiner Wirtschaft und Industrie in den Dienst der Sache unserer
Feinde zu stellen, sich weder von Sympathien mit der Mächtegruppe des Vier¬
verbandes noch von feindseliger Stimmung gegen Deutschland und seine Ver¬
bündeten leiten ließ, sondern lediglich von Erwägungen, die der vorteilhaften
Ausnützung der gegebenen Geschäftslage galten. Es ist mit großer Wahrschein¬
lichkeit anzunehmen, daß auch die Aufträge der Zentralmächte in den Vereinigten
Staaten ihre Erledigung gefunden hätten, sofern sie nur den erwarteten
Gewinn gebracht hätten, und wenn nicht die durch England angestrebte
Blockade jede Einfuhr aus Amerika nach Deutschland unterbunden hätte. Wir
wissen, daß trotz der englischen Blockade ein allerdings sehr beschränkter Handel
durch das neutrale europäische Ausland mit Amerika geführt wurde, und wir
lasen in der Tagespresse, daß man in Amerika nach Eintreffen des ersten
deutschen Handels-Unterseebootes erwog, in welcher Weise diese überraschende
Neuerung zu einer Neubelebung und Erweiterung der Ausfuhr nach Deutsch¬
land auszubauen sei. Alles dies zeigt, daß der Amerikaner sich nüchternen
Sinnes jeder Gelegenheit bedienen würde, die es ihm ermöglicht auch in den
Zentralstaaten Europas seinen Gewinn zu finden.
Wenn sich nun in der amerikanischen Presse eine betont deutschfeindliche
Stimmung heraushob, die während der Verhandlungen über den deutschen
Unterseebootkrieg einen gewissen Höhepunkt erreichte, so ist diese Erscheinung
wohl in erster Linie der Einwirkung gewisser Jndustriekreise zuzuschreiben, welche
das Vorhandensein einer günstigen Gelegenheit zu erkennen glaubten, einen lästigen
Konkurrenten, Deutschlands kraftvolle Industrie und tatkräftigen Außenhandel,
mit Leichtigkeit und auf lange Zeit hinaus vom Weltmarkt verscheuchen zu
können. Die Bestrebungen dieser Gruppen sind trotz ihres starken Einflusses
auf die Regierung der Vereinigten Staaten bis jetzt erfolglos geblieben.
Der Beginn des europäischen Krieges fand die Vereinigten Staaten in einer
ungünstigen wirtschaftlichen Lage. Besonders der Eisenmarkt zeigte vor Ausbruch
des Krieges eine abwärtsgehende Konjunktur, die ihren Ausdruck in dem Nieder¬
gange der Roheisenerzeugung fand: sie war auf 60 Prozent ihrer größten
Leistungsfähigkeit zurückgegangen, die Stahlerzeugung in Chicago sogar auf
30 Prozent. Erst im November sollte sich eine, zunächst allmählich einsetzend,
sodann aber mit Riesenschritten vorwärtsstrebende Aufwärtsbewegung erkennbar
machen. Zunächst aber brachte der Krieg das amerikanische Wirtschaftsleben in
eine schwierige Lage, und es schien als würde auch dieses unter den Folgen
des Kriegsausbruches zu leiden haben. Die Ausfuhr wie die Einfuhr wurden
auf das empfindlichste getroffen, da England die wichtigsten Erzeugnisse der
amerikanischen Industrie und Landwirtschaft als Bannware erklärte, eine Ma߬
nahme, unter der die Ausfuhr von Kupfer, Petroleum und Baumwolle am
schwersten zu leiden hatte. Für die eingebrachte Baumwollernte war zu be¬
fürchten, daß sie überhaupt jede Aussicht auf Absatz verlieren würde. Der
europäische Geldmarkt war gesperrt, und auf dem amerikanischen trat eine starke
Goldentziehung ein, da die Guthaben der europäischen Mächte in Amerika mit
Kriegsbeginn abgehoben wurden. Die Abhängigkeit der amerikanischen Industrie
von der europäischen, besonders der deutschen, machte sich drückend fühlbar, und
große Fabrikationszweige Amerikas waren genötigt, wegen des Fehlens not¬
wendiger, aus Europa bezogener Materialien weitgehendste Vetriebseinstellungen
vorzunehmen.
Wenn, wie schon gesagt, der November des ersten Kriegsjahres bereits
einen Umschwung zum Besseren brachte, so trat dieses doch keineswegs mit der
erwarteten Entschiedenheit ein, da man in Amerika mit einem baldigen Friedens¬
schluß der Kriegsführenden rechnete. So ist es zu erklären, daß der Beschäfti¬
gungsgrad der amerikanischen Industrie noch im Mai 1915 75 Prozent der
normalen Höhe nicht überschritten hatte.
Erst, als man in Amerika die Überzeugung gewann, daß der Krieg in
Europa noch Monate, vielleicht Jahre andauern würde, als man anfing den
Aussprüchen der englischen Minister, die einen jahrelang währenden Krieg in
Aussicht stellten, ernst zu nehmen, und als man von der Rüstung der englischen
Industrie und der Aufstellung der Kitchenerschen Armee vernahm, begann die
amerikanische Industrie mit der ihr eigentümlichen Tatkraft und Behendigkeit
an die Auswertung der ihr neuerstandenen und große Gewinne in Aussicht
stellenden Geschäftslage zu gehen. England, Frankreich und Rußland, deren
Industrien sich den durch den Krieg an sie gestellten Anforderungen nicht ge¬
wachsen zeigten, und in denen sich die Umstellung auf die durch den Krieg
geschaffene neue Lage nur fehr langsam und unvollkommen und bei weitem
nicht mit der in Deutschland zutage getretenen Entschlossenheit und Einmütig¬
keit vollzog, sahen sich in der Beschaffung der zur Kriegsführung erforderlichen
Waffen, Munition und allen übrigen Kriegsgeräten auf die weitgehendste
Unterstützung des neutralen Auslandes angewiesen. In jener Zeit war es,
daß Lloyd George den Ausspruch tat: „Dieser Krieg wird nicht auf den
Schlachtfeldern gewonnen, sondern von den Arbeitern in den Fabriken." Wenn
er mit diesen Worten zunächst die Fabrikarbeiter Englands und seiner Ver¬
bündeten zu größeren und gleichmäßigeren Leistungen anzuspornen wünschte,
so zeigten sie doch auch auf einen gangbaren Weg, das Arbeiterheer des neu¬
tralen Amerikas in friedlicher Art an den Kriegsanftrengungen der Entente
teilnehmen zu lassen. Daß England mit gutem Grund und großer Sicherheit
auf die industrielle Mithilfe Amerikas rechnen konnte, geht denn auch aus den
jüngst veröffentlichen Briefen Sir Roger Casements hervor. Casement schildert
die in dieser Hinsicht in Amerika herrschende Stimmung mit den trefflichen
Worten: „Ein Weltreich, das man Demokratie nennt, und in dem man, ohne
selbst kämpfen zu müssen, Reichtum erwerben kann durch systematisches Plündern
unter dem Namen von Handel und Geldgeschäften, das alles leuchtet außer¬
ordentlich der Sorte von Männern ein, die hier (in Amerika) das Heft in den
Händen haben."
Einer der ersten aus diesem Kreise einflußreicher Männer in Amerika, der
an die Erfüllung eines größeren Kriegsauftrages ging, war Charles M. Schwab,
der Präsident der Bethlehem Skeet Corporation. Es sind dies dieselben Werke,
die vor Ausbruch des Krieges in der deutschen Fach- und Tagesliteratur oft in
Verbindung mit dem Namen des amerikanischen Betriebsorganisators Fred. W.
Taylor genannt wurden, und von deren Betriebskapital sich vor Ausbruch des
Krieges noch 20 Prozent in deutschen Händen befand. Schwab erhielt für die
französische Heeresleitung einen Auftrag auf neunhundert sechszöllige Feld¬
geschütze bei einem Einheitspreis von 27 000 bis 30 000 Dollar für das
Geschütz. Im November 1914 hatte sich der Auftragbestand an Kriegslieferung
bei der Bethlehem Skeet Corporation bereits auf 110 Millionen Dollars erhöht.
Der nun einsetzende Milliardensegen, der sich in Form von Kriegsaufträgen
über die amerikanische Industrie ergoß, wurde, wie zu erwarten war, von
diesem glücklichen Lande mit größter Bereitwilligkeit und ebenso großem Eifer
aufgefangen. Er verteilte sich auf die Großkapitalisten, die Industriellen, die
Nahrungsmittelproduzenten und vor allem auf die Börsenleute und sickerte
durch bis zum Fabrikarbeiter und Tagelöhner. Selbst der Baumwollbauer
sah sich infolge einer Mißernte und der Inanspruchnahme von seiten der
englischen Textilindustrie seiner Sorgen enthoben, die ihm der Kriegsausbruch
zunächst gebracht hatte.
Vor allem aber handelte es sich um die Herstellung und Ausfuhr von
Waffen, Munition, Kraftwagen und Stacheldraht. Welchen Umfang diese Aus¬
fuhr bereits im August 1915 angenommen hatte, zeigen folgende Zahlen, welche
der „New Aorker Handelszeitung" vom 14.August 1915 entnommen sind. Danach
belief sich der Auftragbestand im damaligen Zeitpunkt auf 1 808 000 000 Dollar,
von denen bis dahin allerdings Aufträge im Werte von 751 000 000 Dollar
noch nicht bestätigt waren. Hiervon entfallen 1 258 000 000 Dollar für Auf¬
träge auf Waffen, Munition und Explosivstoffe; Bethlehem Skeet Corporation
wird mit einer Viertelmilliarde Dollar genannt, Du Pont Nemour Powder Co.
hatte für 200 Millionen Dollar Explosivstoffe zu liefern, Crucible Skeet Co. für
96 Millionen und Westinghouse Electric u. Mfg. Co. für 70 Millionen Dollar
Gewehre und Geschosse. U. S. Cartridge Co. 600 Millionen Patronen, Winchester
Arms Co. für 100 Millionen, Remington Arms Co. für 96 Millionen Dollar
Gewehre, Cott Fire Arms Co. für 15 Millionen Dollar Maschinengewehre usw.
Weitere 200 Millionen Dollar entfallen auf Motorwagenlieferungen der Pressed
Skeet Car Co., 50 Millionen Dollar auf zu liefernde Motorboote der Electric
Boat Co., 12 Millionen Dollar auf Schienen- und Stahlmaterial, 25 Mil¬
lionen Dollar auf Fahrzeuge und Geschirre, 8 Millionen Dollar auf Woll¬
decken und 255 Millionen Dollar auf verschiedenes anderes Material.
Angeregt durch diese unter den günstigsten Zahlungsbedingungen ab¬
geschlossenen Millionen-Aufträge trat in den für Kriegslieferungen nicht in
Frage kommenden Industrien eine Fabrikationsumschaltung zutage, wie wir
sie auch in der deutschen Industrie kennen gelernt haben. Die vorhandenen
Einrichtungen wurden benutzt, erweitert und ergänzt, um sie ebenfalls in den
Dienst der Kriegslieferung zu stellen. Wenn aber diese Umschattung in Deutsch¬
land durch die Notwendigkeit hervorgerufen worden war bestehende Betriebe
überhaupt aufrecht zu erhalten und weiterhin durch den Zwang alle ver¬
fügbaren Kräfte in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen, so war
es in Amerika einzig und allein Profitgier, das Bestreben ebenfalls an den
Millionengewinnen teilzunehmen, welche diese Industrien?erke bewog ihre bis¬
herige Fabrikation ganz oder teilweise aufzugeben und Waffen. Munition und
andere Kriegsgerätschaften zu erzeugen. Die Westinghouse Electric u. Mfg. Co.
richtete sich ein, um für 35 Millionen Dollar Geschosse für Rußland und für
54 Millionen Dollar Gewehre für die englische Regierung herzustellen; die
Baldwin Locomotive Co. erzeugte Munition und Gewehre im Werte von
80 Millionen Dollar, Schreibmaschinenfabriken fabrizierten Schrapnellzünder
und Werkzeugmaschinenfabriken Granaten. Daß man sich dabei einer markt¬
schreierischen Reklame bediente, um die Aufmerksamkeit der für die Entente¬
staaten tätigen Auftraggeber auf sich zu ziehen, ist bei den in Amerika
herrschenden Geschäftsgepflogenheiten nicht verwunderlich. Den Höhepunkt von
Unerhörtheit und Frevelhaftigkeit erreichte die Anpreisung der Cleveland Automatic
Machine Co., Cleveland, Ohio, die im Anzeigenteil des „American Machinist"
vom 6. Mai 1915 Ausnahme fand und in Deutschland Abscheu und berechtigte
Entrüstung hervorgerufen hatte. Diese Fabrik, welche bisher Werkzeugmaschinen
herstellte, hatte die Fabrikation von Granaten aufgenommen und pries ihr Er¬
zeugnis an genannter Stelle mit dem Hinweis an, daß die Detonation der
Ladung durch zwei explosive Säuren bewirkt wird. „Die Sprengstücke über¬
ziehen sich bei der Explosion mit diesen Säuren", so heißt es in der An¬
preisung, „und die dadurch hervorgerufenen Wunden bewirken einen schrecklichen
Tod (äeatk in ternble aZony) binnen vier Stunden, wenn nicht sofort Hilfe
da ist. Wie die Verhältnisse im Schützengraben liegen, ist es unmöglich, ärzt¬
liche Hilfe zur Verhütung des tötlichen Ausganges rechtzeitig heranzuziehen.
Befindet sich die Wunde im Körper oder im Kopf, so muß sie überhaupt
sofort ausgebrannt werden; sind die Gliedmaßen getroffen, so müssen sie ab¬
genommen werden, da es kein anderes Mittel zu geben scheint, mit dem man
dem Gifte wirksam begegnet. Man kann also daraus ersehen, daß unsere
Granate bedeutend leistungsfähiger (!) ist als das gewöhnliche Schrapnell, da
die von Schrapnellkugeln und Sprengstücken im Fleisch hervorgerufenen Wunden
nicht so gefährlich sind und sie keinen giftigen Bestandteil haben, der eine so¬
fortige Hilfe notwendig macht." Es ist unmöglich beim Lesen dieses Muster¬
stückes amerikanischer Reklame nicht daran zu denken, daß es gerade die Regie-
rung dieses Landes ist, welche sich mit unermüdlichem Pathos zum Hüter der
„höchsten Güter der Menschheit" bestellt glaubt. In der Redaktionsstube in
Berlin, in der die deutsche Ausgabe des „American Machinist" unter dem Namen
„Zeitschrift für praktischen Maschinenbau" besorgt wurde, kam die „giftige Granate"
der Cleveland Automatic Machine Co. zum ersten Male zum Explodieren: der
berechtigte Entrüstungssturm, der sich in Deutschland beim Bekanntwerden dieser
Anpreisung erhob, veranlaßte die genannte Schriftleitung, ihre Zeitschrift weiterhin
in Deutschland nicht mehr erscheinen zu lassen.
Wie leicht man in Amerika überhaupt dazu neigt im Interesse eines guten
Geschäftes alle übrigen Rücksichten, selbst die Rücksicht auf die Neutralität, bei¬
seite zu setzen, zeigt ein Fall, den die Zeitschrift „Deutscher Werkzeugmaschinen¬
bau" vom 27. Januar 1916 veröffentlicht. Hiernach soll die Wagener Electric
Co. in Se. Louis nach Erlangung eines größeren Auftrages alle in ihrem
Werke angestellten Deutschen und Amerikaner mit deutschen Namen oder deutscher
Herkunft entlassen haben. —
In welcher rücksichtslosen Weise die Ausbeutung der Kriegslonjunktur in
Amerika betrieben wurde, zeigt am eindringlichsten die Steigerung der Aus¬
fuhrziffer von 2113 Millionen Dollar am Ende 1914 auf 3547 Millionen Dollar
Ende 1915, also um 1434 Millionen Dollar! Diese Steigerung erstreckt sich
nahezu ausschließlich auf Bedarfsartikel des Krieges und wurde bewirkt durch
die Aufträge der Ententestaaten. Die Ausfuhr hatte am Ende 1915 die Ein¬
fuhr um 1,75 Milliarden Dollar überholt, das war das außerordentlich günstige
Ergebnis des Geschäftsjahres 1915.
Das Jahr 1916 brachte eine weitere Steigerung der Ausfuhr von Waffen,
Munition und Kriegsartikel. Die Ausfuhr von Explosivstoffen, die im April
1915 etwas über 6 Millionen Dollar betrug, stieg in diesem Jahre auf
über 56 Millionen Dollar. Die Stacheldrahtlieferung hatte sich in derselben
Zeit von 2 Millionen auf 4^ Millionen Dollar erhöht. Ferner erhielten die
Ententestaaten für 23 Millionen Dollar verschiedenes anderes Kriegsmaterial
geliefert gegenüber für nicht ganz 4 Millionen im gleichen Monat des Vor¬
jahres. Verfolgen wir die Ausfuhrziffern nach den Ententestaaten während
der Monate Juli bis einschließlich Februar in den Jahren 1913/14. 1914/15
und 1915/16, so ist die Ausfuhr in dem letzten Jahre gewachsen von 446 und
606 auf 906 Millionen Dollar nach England, von 121 und 218 auf
347 Millionen Dollar nach Frankreich, von 18 und 20 auf 165 (!) Mil¬
lionen Dollar nach Rußland und von 53 und 116 auf 182 Millionen Dollar
nach Italien. Die Steigerung der Gesamtausfuhr nack den vier genannten
Ländern unserer verbündeten Feinde wird demzufolge durch die Zahlen: 638.
860 und 1600 Millionen Dollar für die genannten acht Monate gekennzeichnet.
Die letzten Zahlen zeigen, wie weit die englische Regierung den Gedanken
an Kriegsende und Friedensschluß von sich wies. Bedenkt man, daß inzwischen
auch die Industrien der Entente-Staaten, vor allem diejenigen Englands und
Frankreichs sich auf den Krieg eingestellt hatten — in England stehen zurzeit
4052 Werkstätten unter Aufsicht des Mnnitionsministeriums — und daß seit
Februar die amerikanische Ausfuhr nach Europa eine weitere Steigerung erfahren
hat. so ist der Eifer und die Energie ohne weiteres zu erkennen, mit welchen
unsere Feinde die Vorbereitungen zu der jetzt gegen die Mittelmächte unter¬
nommenen Generaloffensive betrieben haben. Aber es ist auch zu erkennen,
daß diese Offensive ohne die geschilderte weitreichende Mithilfe und Mitarbeit
der Industrie Amerikas für unsere Feinde eine Unmöglichkeit geblieben wäre.
Die Vermittelung der Aufträge zwischen der Entente und der amerikanischen
Industrie besorgt in erster Linie das Haus I. P. Morgan u. Co. in New Uork,
das, gestützt auf seine Zweigniederlassungen in London und Paris, heute als
der Regierungsagent der Entente angesprochen werden muß. In dem Bank¬
gebäude in New Aork legen die amerikanischen Fabrikanten ihre Muster von
Kriegsartikel vor, und von dort aus werden die erteilten Aufträge bestätigt
und die Rechnungen beglichen. Die Bezahlung erfolgt in Dollar und Cent,
wodurch sich die Geschäftsabschlüsse von der sinkenden Valuta der kriegführenden
Länder unabhängig machen.
Der Ertrag dieser Millionenabschlüsse ergibt nun für die amerikanischen
Fabrikanten nicht ohne weiteres Reingewinne. Ein großer Teil derselben ist
für die Abschreibungen einzusetzen, welche die ausgedehnten Neubauten und neu
eingestellten Maschinenanlagen zu amortisieren haben. Außerdem sind die Preise
für Rohmaterialien nicht unbeträchtlich gestiegen. Das Pfund Kupfer, das im
Dezember 1914 mit 0,126 Dollar bezahlt wurde, erreichte im selben Monat
1915 einen Preis von 0,2 Dollar; die Tonne Roheisen stieg in derselben Zeit
von 15,14 Dollar auf 17,13 Dollar. Auch die Arbeitslöhne haben natur¬
gemäß eine Steigerung erfahren. Daß dennoch die Reingewinne ganz außer¬
ordentlich hohe sind, zeigen am eindeutigsten die Kurssteigerungen. Hier hat
die schon genannte Bethlehem Skeet Corporation, die vor dem Kriege nicht in
der Lage war eine Dividende zu verteilen, einen Rekord aufgestellt. Bei einem
früheren Kapitalbestand von 24578400 Dollar war der Kurs von 30 am
Ende Juli 1914 auf 257 im folgenden Jahre gestiegen, eine Steigerung, die
einen Wertzuwachs von nahezu 60 Millionen Dollar darstellt. Welchen Vorteil
z. B. die Betriebsumstellung auf Heereslieferung der Baldwin Locomotive Co.
einbrachte, erhellt der Umstand, daß dieses Werk, welches 1914 350000 Dollar
Gewinn ausschüttete, 1915 dagegen die stattliche Summe von 3,8 Millionen
Dollar zur Verteilung brachte. Da sich die Verhältnisse in den übrigen für
die Entente arbeitenden Industrien in ähnlicher Weise gestaltet haben, so ist
wohl zu verstehen, wenn man in Amerika den europäischen Krieg als einen
Glücksfall einschätzt und durchaus kein Interesse daran hat, diesen gewinn¬
bringenden Zustand vorzeitig abzukürzen.
Der Ertrag, den diese mit Millionen rechnenden Lieferungsabschlüsse
erbrachten, mußte den Vorrat an gemünzten und ungemünztem Gold, über
den die Vereinigten Staaten verfügen, in der günstigsten Weise beeinflussen.
Das erste Kriegsjahr brachte, wie bereits angedeutet, zunächst eine Gold-
entziehung. Bei einer jährlichen Eigenproduktion von etwa 90 Millionen Dollar
betrug im Jahre 1914 die Goldeinfuhr 57,38 Millionen Dollar, der eine
Ausfuhr von 222,61 Millionen Dollar gegenüberstand. Die Goldentziehung,
die das Land in diesem Jahre erlitt, ist demzufolge mit 165,22 Millionen
Dollar zu bewerten. Die Zahlen des Jahres 1915 zeigen den jähen, über alle
Erwartungen günstigen Umschwung: die Goldeinfuhr war auf 451,95 Millionen
Dollar gestiegen, während die Ausfuhr auf 31,42 Millionen Dollar zurück¬
gegangen war; der, abgerechnet der Eigenproduktion, erfolgte Zuwachs belief
sich demnach auf 420,53 Millionen Dollar. Der Staatssekretär des Schatz¬
amtes konnte somit bereits Ende 1915 mitteilen, daß der Goldbestand der
Vereinigten Staaten von etwa 1,8 Milliarden Dollar im Anfang des Jahres
auf weit über 2 Milliarden Dollar angewachsen war. Das Wachstum des
amerikanischen Goldvorrates ist seit jener Mitteilung nicht stehengeblieben. So
lesen wir z. B. in dem New Aorker „Journal of Commerce", daß von Mitte
Mai bis Ende Juni 1916 allem 450 Millionen Mark Gold für englische
Rechnung in New Aork eingegangen sind, von denen ein Teil zur Bezahlung
der Kriegslieferungen, ein anderer zur Stützung des englischen Wechsel¬
kurses dienen.
Allerdings ist nicht zu leugnen, daß in diesem leuchtenden Bilde ungeahnter
Geschäftsgewinne und Millioneneinnahmen auch einige Schatten zu erkennen
sind. Der Niedergang der Einwanderung machte sich als Arbeitermangel
fühlbar, der indessen dadurch ausgeglichen wurde, daß einige ausgedehnte
Fabrikationszweige an dem allgemeinen Aufstieg nicht teilnehmen konnten und
ihre Arbeiter entlassen mußten. Diese Zweige leiden außerordentlich unter dem
Einfluß des europäischen Krieges. Es sind hier zu nennen die Papier- und
Textilindustrie, die infolge des Mangels an deutschen Teerfarben ihre Fabri¬
kation nicht aufrechterhalten können, die Nähmaschinenindustrie, deren Ausfuhr
im Jahre 1915 auf ein Zehntel von 1913 zurückgegangen ist, die Schreib-
Maschinenindustrie und die Industrie landwirtschaftlicher Maschinen, deren Aus¬
suhrziffern ebenfalls weit hinter denen von 1913 zurückgeblieben sind.
Einen weiteren Gegenstand ernstlicher Sorge inmitten des allgemeinen
Freudentaumels bildete der von Deutschland eingeleitete und während mehreren
Monaten mit Nachdruck geführte Unterseebootskrieg. Wenn man auch in der
Vernichtung der auf dem Transport nach England befindlichen Waren keine
ernstliche Bedrohung der Ausfuhr erblickte — das Risiko der Überfahrt hatte
der Besteller zu tragen —, so stieg doch in dem sich immer fühlbarer machenden
Frachtraummangel eine ernstliche Gefahr auf, von der zu befürchten war, daß
sie schließlich die weitere Ausbeutung der durch den europäischen Krieg geschaffenen
Konjunktur unmöglich machen würde. Wir werden in Deutschland durch nichts
davon abzubringen sein, die Politik Wilsons in Fragen des Unterseebootskrieges
lediglich in dieser Beleuchtung zu sehen, und alle noch so hochtönenden Phrasen
des Präsidenten der Vereinigten Staaten werden nicht imstande sein, die
Beweggründe zu der von ihm gewählten Auslegung des zur See geltenden
Völkerrechts zu verschleiern. Wir wissen, daß es der amerikanischen Staats¬
leitung gelungen ist. diese Bedrohung des Kriegsgeschäftes — vorläufig
wenigstens — wirkungslos zu machen.
Daß die günstige Geschäftslage nicht dauernd anhält, weiß man in Amerika,
aber der dem Aankee eigentümliche Optimismus weicht im allgemeinen Gedanken¬
gängen aus, die besorgniserregenden kommenden Dingen entgegenführen. Was
wird aus den ausgedehnten Neuanlagen, den in ihnen investierten Kapitalien
und den angeworbenen Arbeitermassen, wenn eines Tages die Millionenaufträge
der kriegführenden Staaten ausbleiben? Tatsächlich scheint das amerikanische
Wirtschaftsleben einer Katastrophe von bisher ungekannter Heftigkeit entgegen¬
zutreiben, und schon jetzt machen sich Anzeichen geltend, welche die Periode des
geschäftlichen Niederganges einzuleiten scheinen: seit nämlich die Industrien
unserer verbündeten Feinde sich selbst auf den Krieg und die Herstellung von
Kriegsmaterial eingestellt haben, dringt in immer steigendem Maße die Kunde
von Betriebseinschränkungen und Arbeiterentlassungen in der amerikanischen
Industrie zu uns herüber. Indessen wird sich auch hier der Optimismus des
Amerikaners als berechtigt erweisen, da ihm der europäische Krieg nicht nur
die Mittel in die Hand gegeben hat einer drohenden Katastrophe auszuweichen,
sondern ihm auch den Weg gezeigt und geebnet hat. der zu diesem Zweck ein¬
zuschlagen ist.
Wir haben gesehen, daß trotz einiger wenigen ungünstigen Folgen den
Amerikanern die von ihnen gewählte Auslegung und Handhabung der Neutralität
in wirtschaftlicher Hinficht ungeahnte Gewinne gebracht hat. Infolge der
stetig wachsenden Preise für Kriegsmaterial und der eingetretenen Überwertung
der amerikanischen Währung sah sich Amerika in die glückliche Lage versetzt, in
nie erwarteter billigen Weise seine Schulden abzustoßen, derart, daß sich dieses
glückliche Land heute auf dem besten Wege befindet die Rolle des größten
Schuldnerlandes der Welt mit der des größten Gläubigerlandes zu vertauschen.
Der leicht erworbene Reichtum in Verbindung mit einer auf hohe Leistungen
eingestellten Industrie werden es den Amerikanern nunmehr auch ermöglichen
intensiver als bisher die Eroberung der außereuropäischen Märkte, die bis vor
Ausbruch des Krieges in erster Linie von den kriegführenden Staaten versorgt
wurden, zu betreiben. Deutschland wurde durch die englische Blockade fast voll¬
ständig vom Weltmarkt abgeschnitten, und seine Feinde sahen sich genötigt die
zur Versorgung des Weltmarktes angesetzten wirtschaftlichen Energien nahezu
vollständig in den Dienst des Krieges zu stellen. Wenn nun die Vereinigten
Staaten von dieser für sie günstigen Lage am Weltmarkt erhofft hatten, ohne
große Schwierigkeiten alle nunmehr unversorgt bleibenden Märkte an sich reißen
zu können, so sahen sie sich in ihren Hoffnungen dennoch getäuscht. Die Wirkun-
gen des europäischen Krieges machten sich auch in diesen vom Kriegsschauplatz
weltentlegenen Ländern fühlbar und brachten ihnen wirtschaftliche Unsicherheiten
und Schwierigkeiten, die eine energische Bearbeitung ihrer Märkte für die
Dauer des Krieges auszuschließen scheinen. Andererseits ist die amerikanische
Industrie durch die Aufträge der Ententestaaten derart beansprucht, daß es
ihr zunächst noch unmöglich sein dürfte, mit der Kraft, Entschlossenheit und
weit vorausdenkenden Umsicht vorzugehen, wie sie eine erfolgreiche Bearbeitung
neuer Märkte erheischt. Während der Dauer des Krieges wird Amerika daher
fast ausschließlich Arbeit zu leisten haben, welche die Durchführung dieses Pro¬
grammes für die Zeit vorbereitet, in welcher die wirtschaftliche Kraft des Landes
sich entschiedener in den Dienst dieser Aufgabe stellen kann. So sehen wir
denn in Amerika schon während des Krieges starke Organisationen entstehen,
welche mit großem Eifer in der Richtung dieses Zieles arbeiten. Vornehmlich
gilt ihr Interesse den Staaten des südamerikanischen Kontinentes. Mit diesen
Ländern haben Deutschland und England vor dem Kriege mit großer Sorgfalt
und Umsicht gute Geschäftsverbindungen angebahnt. In ihren öffentlichen An¬
lagen sind große Summen deutschen Geldes angelegt, es sind deutsche Bank¬
häuser errichtet, welche die Unternehmungen in diesen Ländern stützen, und
nahezu 75 Prozent der leitenden Persönlichkeiten jener Betriebe, die für die
Ausfuhr in Frage kommen, sind Deutsche und Engländer. Diese Erfolge,
welche die europäischen Staaten nach Überwindung mannigfaltiger Fehlschläge
und Enttäuschungen errungen haben, für das amerikanische Wirtschaftsleben
auszubeuten ist Ziel und Aufgabe der von der „National-City-Bank" in New
Uork organisierten „American International Corporation". Die National-
City-Bank, deren Aufsichtsrat Morgan als einflußreichste Persönlichkeit angehört,
geht dabei in der Weise vor, daß sie in den Hauptstädten der in Frage stehen¬
den südamerikanischen Länder, in Rio de Janeiro, in Santos und Buenos
Aires Filialen errichtet, welche die Aufgabe haben, dem amerikanischen Gelde
den Zutritt zu den großen öffentlichen Unternehmen zu erschließen und private
Unternehmungen in jenen Ländern zu finanzieren. Die Anbahnung der Ge¬
schäftsverbindungen wird durch die International Corporation, welcher 50 Millio¬
nen Dollar zur Verfügung stehen follen, in die Wege geleitet.
Um in den beteiligten Industrie- und Handelskreisen Amerikas das Inter¬
esse an der Ausfuhr nach den südamerikanischen und überhaupt allen Ländern,
die für den amerikanischen Export geeignet erscheinen, in erhöhtem Maße an¬
zuregen, werden in den Vereinigten Staaten Wanderausstellungen ins Leben
gerufen, zu denen vor allen die amerikanischen Handelsattaches alle jene Gegen¬
stände herbeischaffen, welche sich mit Berücksichtigung der Bedürfnisse der zu
bearbeitenden Länder für den Export eignen. Diese Ausstellungen, welche
das „Bureau of Foreign and Domestic Commerce" in New York aufstellt, und
die durch alle größeren Industriestädte Nordamerikas wandern, zeigen aber
nicht allein die in Frage kommenden Jndustrieerzeugnisse. sondern geben auch
die von der bisherigen Erzeugern geforderten Preise bekannt und erteilen wert¬
volle Aufschlüsse über bewährte Herstellungsmethoden.
Mit welcher Entschiedenheit sich die interessierten Kreise Amerikas dieser
für sie wichtigen und unserem späteren Außenhandel Gefahr bringenden Aufgabe
zuwenden, geht daraus hervor, daß es ihnen nicht nur gelungen ist die Auf¬
merksamkeit ihrer Regierung auf ihre Bestrebungen zu lenken, sondern darüber
hinaus eine äußerst wirkungsvolle amtliche Unterstützung genießen. Bereits 1912
wurde in Washington die „Chamber of Commerce of the United Staates" ge¬
gründet, ein Amt, dem heute nahezu alle Handelskammern der Vereinigten
Staaten angehören. Dieses Zentralamt in Washington versorgt die amerika¬
nischen Gesandtschaften mit Handelsattachös, die in äußerst gründlicher Weise
bemüht sind, die in Handel und Industrie vorliegenden Verhältnisse der Länder
zu studieren, nach denen sie entsandt sind und die Ergebnisse ihrer Untersuchungen
möglichst lückenlos der Zentralstelle in Washington zu übermitteln. Von dort
aus soll dieses wichtige Wissen an im Inlande zu errichtende Zweigstellen
weitergegeben werden, die es dann ihrerseits ohne weitere Vermittelung zur
Kenntnis der interessierten Industrien und Handelshäuser gelangen lassen. Um
sich in eingehendster Weise in den exportierenden Industrien Europas orien¬
tieren zu können, zieht das Zentralamt die Zollverwaltung ihres Landes zur
Mitarbeit heran und sieht sich durch diese — auf keinen Fall einwandsfreie —
Maßnahme in die Lage versetzt wichtige Aufschlüsse über Herstellung, Preis¬
bildung und Geschäftsgepflogenheiten ohne erhebliche Mühewaltungen zu erlangen,
um so mehr, als die von diesen Machenschaften betroffenen europäischen In¬
dustrien sich im Interesse ihres Außenhandels mit Amerika in einer geradezu
lästigen Zwangslage befinden, die sie einer rücksichtslosen Geschäftsspionage
ausliefert.
Daß alle diese Unternehmungen und Gründungen für die deutsche Industrie,
die nach dem Kriege bestrebt sein wird, die alten Geschäftsverbindungen nach
dem Auslande wieder aufzunehmen, eine ernstliche Gefahr in sich bergen, liegt
auf der Hand. Vergegenwärtigt man sich weiterhin, daß unsere Industrie nach
Friedensschluß nicht ohne weiteres mit der alten Tatkraft und hochgespannter
Energie auf dem Plane erscheinen kann, daß andererseits in Amerika nach dem
Kriege ein erhöhter Gold- und Kapitalbesttz vorhanden sein wird, der in Ver¬
bindung mit ausgedehnten neueren, gut eingerichteten und zum guten Teil ab¬
geschriebenen Fabriksanlagen bestrebt ist, beim Ausbleiben der Aufträge für die
Ententestaaten weiterzuarbeiten, so erkennt man leicht den gewaltigen Vorteil
Amerikas, mit dem es in den Kampf um den Weltmarkt eintreten wird. Amerika,
dessen Finanzkraft, Industrie und Handel durch den europäischen Krieg eine
ungeahnte Kräftigung erfahren haben, wird der weiteren Entfaltung des
deutschen Wirtschaftslebens im Auslande einen machtvollen Widerstand entgegen¬
setzen, ja, es ist vorauszusehen, daß es ihm auf seinem ureigensten Markte, in
Deutschland selbst, Konkurrenz machen wird.
Aber auch in Deutschland sieht man nicht untätig den kommenden Dingen
entgegen. Die interessierten Kreise sind sich vollauf der Schwierigkeit bewußt,
die zu überwinden sind, um die früher eroberten Absatzgebiete nach dem Kriege
wiederzuerlangen und zu erhalten, und sie haben erkannt, daß der Zusammen¬
schluß deutscher Exporteure in einer machtvollen Organisation eine unerläßliche
Notwendigkeit geworden ist. Im Anschluß an eine schon im Februar des vorigen
Jahres stattgefundene Versammlung des Vereins Hamburger Exporteure und auf
Anregung von seiten der „Zentral-Einkaufs-Genossenschaft" in Berlin hat sich
nunmehr mit einem Vermögen von 1 Million Mark die Gründung der
„Deutschen Außenhandels G. in. b. H." vollzogen. Außer dem Verein Ham¬
burger Exporteure haben sich ihr bereits weitere Exportverbände in fast allen
wichtigsten deutschen Handelsstädten angeschlossen. Als ihre nächstliegendste Auf¬
gabe erkennt diese neue Organisation, Fühlung mit der Reichsregierung zu nehmen,
um dieser bei Bearbeitung von Handelsverträgen und überhaupt in allen
handelspolitischen Fragen ihre weitreichenden Kenntnisse und Erfahrungen zur
Verfügung zu stellen im Interesse des deutschen Außenhandels.
Wenn wir nun in „Daily News" lesen: „Der große Einbruch Deutschlands
in die Wirtschaftsgebiete seiner Nachbarn war möglich durch höhere wissenschaftliche
Ausbildung, bessere Geschüftspraxis, höhere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse
der Kunden und der Sorgfalt, die das Deutsche Reich selbst den Interessen der
Handelswelt entgegenbrachte, besseres Zusammenarbeiten zwischen Handel und
Konsulardienst", so ist der deutsche Außenhandel berechtigt, dem drohenden
Konkurrenzkampfe mit Amerika auf dem Weltmarkte voll Vertrauen entgegen¬
zusehen, denn die angeführten Eigenschaften kann der Krieg dem deutschen Wirt¬
schaftsleben nicht rauben. Eine Nation, welche fähig ist während eines alle
Kräfte und Interessen in angestrengtester Anspannung haltenden Krieges einen
so großzügigen und die zukünftige Gestaltung des Seeverkehrs beeinflussenden
Gedanken, wie er der Schaffung des Handels-Unterseebootes zugrunde liegt,
aufzunehmen und innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten zu ver¬
wirklichen, braucht um seine wirtschaftliche Zukunft nicht zu bangen, trotz
aller Schwierigkeiten, die ihr von seiten der verbündeten Feinde bereitet werden,
und von Amerika, das durch die durch den Krieg geschaffene Lage auch auf dem
Weltmarkt als tertiu3 Zauewns feine Geschäfte macht.
Es ist erklärlich, daß die politische Haltung der amerikanischen Regierung
und die von den Amerikanern betriebene rücksichtslose geschäftliche Ausbeutung
der Kriegslage, die in erster Linie unseren Feinden unbeschränkte Mengen Kriegs¬
material in die Hände liefert, in Deutschland eine feindliche Erbitterung gegen
Amerika hervorgerufen haben. Es wird nicht zu hindern sein, daß die jetzt in
Deutschland lebende Generation den Amerikaner stets als denjenigen im Gedächtnis
behalten wird, der, dicht im Rücken unserer Feinde stehend, ihnen mit Eifer und
Behendigkeit die Waffen und Geschosse reichte, welche Deutschlands nationale und
wirtschaftliche Kraft zu vernichten bestimmt waren. So berechtigt auch diese im
deutschen Volke lebendigen Empfindungen sind, so darf doch nicht vergessen werden,
daß nach dem Kriege trotz allem Deutschland und Amerika, was Ein- und Aus¬
fuhr betrifft, in erhöhtem Maße in Wechselwirkung treten werden, da die deutsche
Industrie in der Beschaffung der fehlenden, durch die Absperrung aufgebrauchten
Rohmaterialien ebenso auf Amerika, wie die amerikanische Industrie in vielen
Dingen unbedingt auf deutsche Erzeugnisse angewiesen ist.
urch den Krieg ist die Forderung der sogenannten „Einheitsschule"
noch drängender geworden als vorher. Mit dem Schlagwort
„Ein Volk, ein Heer, eine Schule" hat man sie populär gestaltet
und sich infolgedessen der Mühe überhoben gefühlt, eine klare
und deutliche Definition des Begriffs zu geben. Ein kurzer
historischer Rückblick soll uns zu ihr leiten.
Die Volksschule, die Karl der Große vorausahnend hatte gründen wollen,
wurde erst achthundert Jahre später durch die Reformation ins Leben gerufen, aus
den beiden Ideen des allgemeinen Priestertums und der Gleichheit der Menschen
heraus. Jeder soll sich sein verantwortliches Urteil in Sachen der Religion selber
bilden können, daher muß er das Minimum von Bildung besitzen, das ihn hierzu
befähigt. Die im achtzehnten Jahrhundert durchgeführte allgemeine Volksschule
gründet sich also auf die deutsche Muttersprache. Den Gedanken der Verbindung
dieser Einrichtung mit den für die höhere Bildung getroffenen Einrichtungen konnte
erst die Zeit ausdenken — abgesehen von der Theorie des Comenius — die die
Stützen des Thrones gerade in den Besuchern der Volksschule gefunden hatte: Süvern
verlangte in seinem Entwurf zur Reformation des Bildungswesens eine organische
Verbindung von Volks-, Realschule und Gymnasium, unbeschadet ihrer speziellen
Zwecke. Die Forderung blieb auf dem Papier. Die Folgezeit umwob sie mit
einem Glorienschein, indem sie ihre Ausführung verhinderte. Die Kämpfe um
die Konstitution, dann um das Reich, waren Schulinteressen nicht günstig, am
wenigsten der Fortbildung der Volksschule und den Forderungen ihrer Lehrer.
Um so zäher hielten sie an dem Ideal der Einheitsschule fest: schon 1872 ver¬
langten sie ihre Durchführung, und die letzte Versammlung in Kiel 1914 hat
gezeigt, daß sie — mit neuen Begründungen — auf demselben Standpunkt stehen.
Die Einheitsschule ist ihnen die Schule, die jedem Bürger gestattet, seinem
Kinde die Bildung zu gewähren, auf welche es nach seinen Fähigkeiten Anspruch
erheben darf. Die allgemeine Volksschule soll ein Minimum, die Einheitsschule
ein Maximum von Bildung geben. Dazu ist eine Umgestaltung unseres
Bildungswesens nötig; sie wird mit folgender Begründung verlangt:
Angesichts der immer größer werdenden Spaltung unseres Volkes in Klassen,
die sich nicht mehr verstehen, hat die Schule die Pflicht, für größeres Verständnis,
größeren Zusammenhalt zu sorgen. Der Staat aber muß im eigenen Interesse
den niederen Schichten, aus denen heute die Begabten wegen ihrer Armut nicht
zur Höhe der Bildung gelangen können, zu Hilfe kommen. Im Namen der
Sozialethik, nicht auf Grund pädagogischer Ausstellungen wird eine Refor-
mierung der Schule verlangt — so einschneidend, daß sie das historisch Ge¬
wordene völlig über den Haufen wirft.
Es ist nun eine ziemlich schwierige Frage, ob in der Pädagogik überhaupt
derartige Rücksichten als bewegende Ursachen für Reformen in Betracht kommen
dürfen. Die Vertreter des Prinzips von der völligen Abgeschlossenheit der
Schule dem Leben gegenüber, d. h. also der Richtung, die im vorigen Jahr¬
hundert die maßgebende war, werden a priori diese Forderung ablehnen: ihnen
ist die Schule Selbstzweck, die Bildung um ihrer selbst willen da. Aber auch
wenn man diesen Standpunkt nicht teilt und wenn man aus der Erwägung
heraus, daß die Erziehung sozusagen die Selbsttätige Fortpflanzung der menschlichen
Gesellschaft*) ist, den Einfluß des Lebens und damit natürlich auch der sozialen
Rücksichten auf die Pädagogik fordert, fo erscheint es als ein Gebot der Selbst-
erhaltung für alle Erziehung, wenn sie da, wo pädagogische und soziale Gesichts¬
punkte in Widerspruch geraten, die pädagogischen in den Vordergrund stellt.
Es muß hier also gleich im Anfang mit aller Bestimmtheit gesagt werden, daß
es falsch ist, eine soziale oder besser gesagt sozialistische Forderung einzuführen,
wenn die erziehungstechnischen Bedenken so stark sind, daß von diesem Gesichts¬
punkte aus gegen jene Einspruch erhoben werden muß.
Prüfen wir nun zunächst die sozialethische Begründung auf ihre Richtigkeit:
Die Forderung einer Bildung«- oder Geistesaristokratie, die unabhängig von
Abstammung und Besitz die Ämter lediglich den Tüchtigsten zugänglich machen
soll, hat etwas außerordentlich Bestechendes. Noch stärker muß der Wunsch
einleuchten, namentlich während des jetzigen Krieges, daß die ständischen, politischen,
gefühlsmäßigen Scheidewände in unserem Volke fallen und das Bewußtsein der
Zusammengehörigkeit aller so gestärkt aus dieser großen Zeit hervorgeht, daß
die Klassengegensätze verschwinden. Es fragt sich also nur: wie gestaltet sich
der vorgeschlagene Weg, und wird er unter allen Umständen Erfolg haben?
Zunächst soll die gemeinsame Erziehung in der Volksschule nach denjenigen
Verfechtern des Prinzips der Einheitsschule, die sich auf der mittleren Linie
bewegen, sechs Jahre betragen. Sie versprechen sich davon ein Doppeltes:
einmal, daß die gemeinsam Erzogenen sich nicht mehr fremd gegenüberstehen,
sondern zusammenhalten werden, dann aber auch, daß die Differenzierung nach
der Begabung zu einer Zeit eintreten wird, wo diese überhaupt erst erkannt
werden kann. Denn etwa im zwölften Jahre würde dann nach dem gemeinsamen
Unterricht in der Volksschule die große Spaltung eintreten: die Begabten
würden in die höheren Schulen übertreten, die Unbegabten dagegen in der
Volksschule bleiben. Sie versprechen sich außerdem davon mit Notwendigkeit
eine Hebung der Volksschule, da ja nun auch die Begüterten, deren Söhne in
der Volksschule zurückbleiben, sich für sie interessieren werden: so wird also der
Makel, der bis heute noch an der Volksschule hängt, daß sie nämlich eine
Armenschule ist, schwinden.
Es liegt nun auf der Hand, daß die ethische Wirkung der Gemeinschafts¬
erziehung sich durchaus nicht auf der gewünschten Linie bewegen muß, daß
vielmehr bei diesem System auch eine Erweiterung der Kluft zwischen dem
schlecht genährten und gehaltenen Arbeiterkinde und dem verwöhnten Sproß
des reichen Hauses — der Neid ist bekanntlich eine mächtige Triebfeder! —
die Folge sein könnte. Aber mehr: der Zwang zur gemeinschaftlichen Volks¬
schulerziehung setzt das gesetzliche Verbot der Privatschulen voraus .- diese Ar
des Liberalismus hat etwas durchaus Illiberales an sich/) Mit den Privat-t
Schulen müssen natürlich auch die Vorschulen fallen, d. h. die freie Konkurrenz
muß überhaupt ausgeschaltet werden, womit dann das liberale Prinzip, für
das die Verfechter der Einheitsschule einzutreten glauben, stark durchlöchert wird.
Indessen: auch Owen**) hat den individuellen Liberalismus durchbrochen.
Zu Recht besteht der Satz, daß die Selbstbestimmung des einzelnen vor dem
Schaden, den die Gesamtheit erleiden würde, haltmachen muß. Wenn dieser
Einwand hier zutrifft, so muß zweierlei erweislich sein: der Schaden muß ein
so großer sein, daß er unzweifelhaft für den Gesamtorganismus verhängnisvolle
Folgen hat, und das Heilmittel muß keinerlei Bedenken in bezug auf seine
Durchführbarkeit unterliegen.
Die Vorschulen, sagt man. sind Standesschulen: nach einer privaten
Statistik vom Jahre 1911 lieferte der Mittelstand in Preußen in die Vorschulen
65, die oberen Stände ebenso wie die unteren etwas über 17 °/g Schüler.***)
^ Auch das trifft nicht zu, daß etwa der Zutritt zu den höheren Schulen
den minderbemittelten Klassen nicht offen stehe. Dies ist im Gegenteil nach
den Erklärungen des Ministers in den Verhandlungen des Staatshaushalts¬
ausschusses in weitestgehenden Maß der Fall. Nach einer Ermittlung, die er
anstellen ließ, ergaben sich nach Stichproben, die die Provinzialschulkollegien
veranstalteten, für die Eltern im allgemeinen ein Verhältnis der Klassen
1:2:3*) wie 14.1 "/„ : 64°/g : 21.9°/g. Betrachtet man die Beamtensöhne
für sich, so ergibt sich das Verhältnis 16 : 65.4 : 18.6 bei den Nichtbeamten
12 : 63 : 24°/g. Die dritte Klasse ist sonach stärker vertreten als die erste.
Unterstützt wird dies Verhältnis durch die Schulgeldbesreiungen, die mindestens
5°/g, meistens aber 10 °/g betragen. Im ganzen wird bei den höheren
Schulen ein Schulgelderlaß von dreieinviertel Millionen Mark bei einem Ge¬
samteinkommen von etwa sechsunddreißig Millionen Mark gewährt. Man kann
also beim besten Willen nicht sagen, daß die höheren Schulen sich eigensinnig
vor dem Zufluß aus den unteren Klassen verschließen — im Gegenteil, wo
der Staat oder der Patron der Anstalt helfend eingreifen kann, wird dies gern
und in durchaus freigiebiger Weise getan.
Auf der anderen Seite wird von den Vertretern der höheren Schule selber
über den Ballast geklagt, den sie durch das Mitschleppen uutalentierter Söhne
begüterter Familien erhalten, und gewiß ist das ein recht schwieriger Punkt.
Wie Hartnacke**) richtig ausführt, ist dies sogar eine der bedeutungs¬
vollsten Fragen, die der Lösung harren. Die große Schwierigkeit, die sich hier
auftut, ist die Verquickung der Bildungsziele, die die höhere Schule verfolgt,
mit der Erlangung von Berechtigungen, die im öffentlichen Leben eine große
Rolle spielen. Es handelt sich also um die Frage, wieweit die Schule dem
einzelnen in dem Streben nach Geltendmachung seiner persönlichen Mittel zur
Förderung seiner Kinder im Leben entgegenkommen muß, ohne andererseits
die Interessen des Staates oder des Patrons der Anstalt, der für den Schüler
Aufwendungen macht, zu verletzen und ohne endlich das Staatsleben mit
Untüchtigen, aber zur Erlangung von Stellen im öffentlichen Dienst Berechtigten
zu überlasten.
Dieses Problem versucht eine kürzlich erschienene sehr interessante Schrift
des Reichstagsabgeordneten Kuckhoff***) mit der Formel zu beantworten: Die
höhere Schule hat die Pflicht, ihre Schüler in dem Augenblicke, wo ihre
theoretische Bildung entsprechend ihren geistigen Fähigkeiten auf den Höhepunkt
gelangt ist, an das Leben abzugeben und folglich in die obersten Klassen nur
diejenigen zu übernehmen, welche unter allen Umständen für hochwertige
Stellungen, sei es im Studium oder im Erwerbsleben, geeignet sind. Mit
dieser Formulierung wird man sich namentlich, wenn man die Pflicht der
Schule, auch nach Möglichkeit für das Unterkommen der abzustoßenden Schüler
im Erwerbsleben zu sorgen, konstruiert, einverstanden erklären können. Aber
auch abgesehen von dieser theoretischen Forderung für die Zukunft besitzt die
höhere Schule schon jetzt manmqfalliize Möglichkeiten, wirklich ungeeignete
Schüler abzustoßen. Es ist noch nicht lange her. daß ein Erlaß des Ministers
in Preußen geradezu derartige Maßregeln den höheren Schulen anempfahl.
Einen Unterschied aber zwischen den einzelnen Bevölkerungsklafsen in dem
Streben nach Berechtigungen zu machen, ist überhaupt nicht angängig. Der
Gebildete, der noch dazu imstande ist, kraft seines Besitzes seinen Sohn auch
ohne Staatsprüfungen durchs Leben zu bringen, wird ihn sicher noch eher von
der höheren Schule nehmen als der weniger Begüterte, der dem Wahne lebt,
daß die Abftempelung durch Examina sein Kind in eine „höhere" Sphäre hebt.*)
Scheint somit der Beweis erbracht, daß die Schädigung, die der Volks¬
organismus durch das Bestehen der höheren Schulen, so wie sie augenblicklich
sind, erleidet, nicht allzu groß ist, so ist zweifellos das vorgeschlagene Heilmittel
der Einheitsschule höchst bedenklich.
Glauben wir den Verfechtern der Einheitsschultheorie, so wird nach
Öffnung der hindernden Schranken sich ein breiter Strom Begabter aus den
unteren Volksständen in die höheren Schulen ergießen.**) Es wird dann also
dieselbe Überfüllung der gelehrten Berufe eintreten, die wir schon heute mit
Bedauern registrieren. Aber es wird dann ein großer Teil der nun mit
Berechtigungen Ausgestatteten nicht imstande sein, sich ohne Hilfe des Staates,
der während der Schulzeit für ihn gesorgt hat, weiter zu behaupten. Es ist
ja ganz selbstverständlich, daß die Einheitsschulfreunde mit ihren Forderungen
auf materielle Unterstützung schon in der Schule nicht bei der Schuldgeld¬
befreiung stehen bleiben können, sondern daß sie noch nebenbei verlangen, daß
den Familien, welchen durch die Entziehung ihrer Kinder (durch den Besuch
der höheren Schule) eine Arbeitskraft geraubt wird, diese noch außerdem durch
Geldunterstützung ersetzt wird. Wenn nun der junge Mensch nach bestandenen
Examen auf die Universität übertritt, so muß er zunächst ein Stipendium
erhalten, ferner muß seine Familie weiter entschädigt werden; endlich muß er
die Universität kostenlos besuchen können. Was geschieht nun, wenn er sein
Studium beendet hat und nicht sofort eine Anstellung erhält? Der Staat,
der ihn soweit gebracht hat, hat nicht nur ein Interesse, sondern geradezu die
Pflicht, ihm sobald wie möglich mit Hintansetzung aller anderen Bewerber ein
Amt zu verschaffen. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Forderung den
sozialistischen Zukunftsstaat zur Voraussetzung hat.
Nur in Parenthese füge ich hier hinzu, daß diese ganze Schlußfolgerung
überhaupt den Interessen des Staates deshalb zuwiderläuft, weil er ja schon
heute überreichlich durch den Zustrom der Berechtigten seine Bedürfnisse an
Beamten befriedigt sieht.
Aber schon in dem Augenblick, in dem der Familie durch Gewährung von
Vorteilen und durch den Anreiz, ihren Sohn in die höhere Sphäre gehoben zu
sehen, die Verfügung über das Kind entzogen wird, erhebt sich ein außer¬
ordentlich gewichtiges Bedenken. Der stärkste Wunsch jedes Vaters muß natur¬
gemäß der sein, seinen Sohn sich zu Höherem entwickeln zu sehen. Wenn ihm
dies nun mühelos durch Staatsunterstützung usw. gelingt, so wird das Fundament
unserer Volkswirtschaft, der Spartrieb des einzelnen, der die Hebung des
Volksvermögens erst möglich macht, verschwinden. Dieses sozial-ethische Bedenken
ist vielleicht das schwerste, das gegen die Schaffung einer Einheitsschule spricht.
Weiter werden eine Reihe pädagogischer Bedenken geltend gemacht werden
müssen. Zunächst würde die Einheitsschule uns eine Überschätzung des Intellektes
bringen, die uns um Jahrzehnte zurückwerfen würde. Wir haben gelernt, daß
es mindestens ebenso wichtig ist, den Willen zu bilden und seine Richtung
durch die Erziehung zu beeinflussen, wie das Talent zu züchten. Einseitige
Berufsbildung ohne festen Willen ist Zeit- und Kraftvergeudung! Gerade die
Willensbildung aber muß in einer Schule zurücktreten, die die Pflege der Be¬
gabung so stark in den Vordergrund rückt und durch die Erleichterungen, die
sie in Aussicht stellt, die Energie zum mindesten nicht anspornt. Und dieselbe
Forderung, die politisch uns den Zukunftsstaat bringen will, soll pädagogisch
den schlimmsten Rückschritt bedeuten?
Wenden wir uns nun den Einzelwünschen zu. Zunächst der gemeinsame
Unterbau, in den also die Eltern illiberalerweise gezwungen werden, ihre Kinder
zu senden. Dem berechtigten Einwand, daß die Volksschule eine Volksschule
sein soll, nicht aber eine Vorbereitungsanstalt für eine ganz andere Art von
Schulen, versucht man mit der Begründung entgegenzutreten, daß die „gehobene"
Volksschule auch diese Pflicht erfüllen könne. Die Kinder der unteren Stände
sollen in Kindergärten eine Erziehung erhalten, die sie den begüterteren gleich¬
stellt (d. h. man will die Auflösung der Familie, die man beklagt, noch
beschleunigen!). Man will also das Kind des Arbeiters mit einem Schlage
zum Gebildeten durch künstliche Päppelung erheben, während bis jetzt gerade
die allmähliche Hebung der Familie eine Gewähr für die Dauer zu geben
schien. Die Hemmungen, die sich durch die minderbegünstigte Lage der Eltern
ergaben, zu überwinden, schien ein Zeichen des Talentes oder gar des Genies,
jedenfalls aber des Charakters: jetzt räumt man diese Hemmungen fort, um
der Begabung auch ohne Willensstärke vorwärtszuhelfen.
Am Schluß dieses Unterbaues erhebt sich die Frage: wer darf nun in die
höhere Schule gelangen? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder wir
kommen zu einer unzweifelhaft richtigen Methode der Jntelligenzprüsung, oder
der Lehrer, der den Knaben bis dahin unterrichtet hat, erhält ein inappellables
Recht auf Einreihung des Schülers entweder in die obere Stufe der Volks-
schule, wodurch dieser dann ein- für allemal als zur misera pied8 auch in geistiger
Beziehung gehörig gebrandmarkt wird, oder in die höhere Schule. Die erste
Eventualität wird ziemlich sicher nicht eintreffen; einseitige Begabungen (wie z. B.
für die Dichtkunst, wofür Gerhart Hauptmanns Abgang aus Quarta ein klassisches
Beispiel ist) treten oft erst später auf, unsere allgemeinen psychologischen Kenntnisse
vom Kindesalter aber, so respektabel sie auch erscheinen mögen, sind doch noch
minimal und sicher nicht ausreichend für zweifellose Feststellungen. Dem Volksschul¬
lehrer aber diese Verantwortung aufbürden, hieße von ihm Unmögliches verlangen.
Die Begabung einzig und allein soll zu ihrem Recht kommen: dann dürfen
die Schüler natürlich nicht mehr so milde wie heutzutage geprüft werden.
Schon heute aber rufen die Reformer dreimal wehe über die höhere Schule,
die gegen das Staatsinteresse handelt, wenn sie die Schwächeren unterdrückt.
Dafür gibt es dann allerdings in der Einheitsschule die Gabelungen, die die
Einseitigkeit zum Prinzip erheben werden. Wie aber diejenigen, die bei stren¬
gerer Handhabung ihren Weg nicht machen können, zu einer abgeschlossenen
Bildung gelangen sollen, wird nicht gesagt.
Schon jetzt aber beginnt sich die Einsicht sogar in sozialdemokratischen
Kreisen zu regen, daß die so entstehende, von Begabungen völlig freie Volks¬
schule den Interessen der Arbeiterklasse durchaus nicht entspricht. Die geistigen
Führer, die Bahnbrecher, würden ja der Arbeiterklasse völlig mangeln, wenn
die Volksschule in der Weise, wie es die Einheitsschulschwärmer wünschen,
„ausgepowert" würde; alle diejenigen, die. wie die Höherbegabten nun an das
Staatsinteresse durch die Gewährung des freien Schulbesuches, der Stipendien usw.
gebunden würden, werden sich natürlich hüten, ihre Laufbahn durch Hinneigung
zur arbeitenden Klasse zu kompromittieren. So hat denn auch neulich die
„Bremer Bürgerzeitung" sich offen gegen die Einheitsschule erklärt.
Und damit komme ich auf die sozial-ethische Forderung zurück, die uns
im Anfang beschäftigte: untere und obere Stände sollen wieder Fühlung
gewinnen. Und das will die Einheitsschule erreichen, wenn sie nach abge-
geschlossenem Unterbau die Unbegabten durch eine viel tiefere Kluft als sie
heute besteht, von den Begabten trennt! Denn es ist klar, daß die auf der
Volksschule Verbleibenden nun auch in keiner Weise das Interesse der höheren
Stände wecken können: ist doch unter ihnen nach amtlicher Bescheinigung auch
nicht ein einziger mehr, der fähig wäre, etwas aus sich zu machen!
Es ist begreiflich, daß bei diesem Stande der Dinge der philosophisch
geschulte Pädagoge tiefer zu schürfen versucht und die Ursachen des eigentüm¬
lichen Irrtums der Einheitsschulschwärmer aufdecken will. So hat denn der
hervorragende Pädagoge der Berliner Universität, Ferdinand Jakob Schmidt
vor einiger Zeit einen vielbeachteten Vortrag*) in der Comenius-Gesellschaft
gehalten, in dem er diese Frage genau behandelte. Er kommt zu folgendem
Resultat:
Alle Pädagogik beruht auf den beiden Elementen der Erziehung und des
Unterrichts. Der Unterricht differenziert, die Erziehung sozialisiert. Je nach
der Begabung des einzelnen wird er nach dieser oder jener Richtung hin mehr
leisten. Er wird also nicht nur dieses oder jenes Fach bevorzugen, sondern er
wird auch innerhalb des bestehenden Unterrichtssystems besser auf diesem oder
jenem Anstaltstyp fortkommen.
Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit entsprechend der menschlichen Natur
die Forderung, daß der Unterricht nicht uniform, sondern multiform sein muß.
Der Organismus unseres Schulwesens, in dem jeder einzelne Typus und jede
einzelne Stufe (Volksschule, Mittelschule, höhere Schule) einen bestimmten, von
den anderen verschiedenen Selbstzweck verfolgt, muß also als Organismus
erhalten werden, und gerade das ist es, was die Versechter der Einheitsschule
verhindern wollen. Sie wollen — mit einem treffenden Wort hat es Schmidt
so genannt — eine Gleichheitsschule schaffen, durch die der Organismus zu
einem Mechanismus würde, weil die einzelnen Schulgattungen lediglich dem
Prinzip dieser Gleichheitsschule sich unterordnen müßten. Wenn diese Über¬
legung noch eines handgreiflicheren Beweises bedürfte, so liegt er darin, daß
sämtliche Verfechter der Einheitsschulidee zugeben, daß die Mittelschule innerhalb
ihres Systems überhaupt keinen Platz hat.
Trotzdem gibt Schmidt vollkommen zu, daß der Wunsch nach einer
Einheit des Unterrichts berechtigt ist, und er sucht das Fundament folgerichtig
auf dem Gebiete der Erziehung: sämtliche Schulen müssen jnoch in viel höherem
Maße als es bis jetzt schon geschehen ist, Erziehungsschulen werden.
So hat Schmidt unleugbar das Verdienst, den Fundamentalirrtum der
ganzen Einheitsschulbewegung aufgedeckt und zugleich den Weg gewiesen zu
haben, auf dem das an sich berechtigte Bestreben befriedigt werden kann, ohne
daß der Volksorganismus geschädigt wird.
Mit der vorstehenden Zusammenfassung scheinen die Hauptgründe, die
gegen eine Einführung der Einheitsschule bei uns sprechen, dargelegt zu sein.
Das Wort, das der Kultusminister seinerzeit im Abgeordnetenhause sprach,
wird in absehbarer Zeit trotz aller Sonderinteressev vielleicht doch noch einmal
Allgemeingut werden: „Die Einheitsschule ist ein Traum, und noch nicht
einmal ein schöner!"
Eine neue jüdische Zeitschrift. Dr. Martin
Bub er vereinigt mit deutscher Wissenschaft
und Gesinnung glühende Liebe zu seinem
Volke und jenes tiefe Verständnis jüdischen
Wesens, das er in seinem (bei Kurt Wolfs
in Leipzig 1916 erschienenen) Buche „Vom
Geiste des Judentums" offenbart. Er ver¬
körpert also in seiner Person die Vermittlung
zwischen Orient und Okzident, zu welcher,
wie er in dem genannten Buche nachzuweisen
versucht, die Juden berufen seien. Von der¬
selben Idee geleitet, gibt er (bei R. Löwit
in Berlin und Wien) die Monatsschrift „Der
Jude" heraus, „die, nicht in Parteiprogrammen
befangen, alle um das lebendige Judentum
bemühten Kräfte zusammenfassen soll." Sie
sei schon vor dem Kriege geplant worden,
aber der Krieg habe ihr noch besondere Auf¬
gaben gestellt. „Das äußere Schicksal eines
großen Teils des jüdischen Volkes ist in eine
Umwandlung eingetreten, die sich nicht voll¬
ziehen darf, ohne daß das seine Zukunft
bejahende Judentum sein Wort dazu spricht."
Da die starke jüdische Bevölkerung des bis
vor kurzem russischen Polens nicht bloß die
Juden, sondern auch unsere Regierung vor
Probleme stellt, deren Wichtigkeit und Schwie¬
rigkeit schon vielfach, auch vom Herausgeber
der „Grenzboten", hervorgehoben worden ist,
so verdient diese Zeitschrift, die ohne Zweifel
manch brauchbares Material liefern wird,
auch von den Politikern beachtet zu werden.
Im einleitenden Artikel des ersten Heftes
schreibt der Herausgeber: „Hunderttausende
von Juden kämpfen gegeneinander; und das
Entscheidende ist: sie kämpfen nicht aus Zwang,
sondern aus Gefühl der übermächtigen Pflicht.
Auch von denen, die in Rußlands Heere
stehen, sind sehr viele nicht als Getriebene
anzusehen.... Sie wollen sich in der
virilem, übervirilen Welt, die ihre Mitwelt
ist, bewähren, sie wollen als sich Bewährende
in der großen und lebensvollen Gemeinschaft,
die sie einfordert, leben und sterben ....
Der Geist dieses heutigen Europas, welcher
der Geist der standhaften Zerrissenheit und
des selbstmörderischen Opfermuth ist, hat auch
die Juden ergriffen." Moses Calaary be¬
handelt das Problem der eigentümlichen
Sprache der osteuropäischenJuden; an Proben,
denen er plattdeutsche gegenüberstellt, versucht
er nachzuweisen, daß das Jiddisch kein Jargon,
kein deutscher Dialekt, sondern so gut wie
das Holländische eine Sprache sei. Von
den übrigen Beiträgen des Heftes seien nur
genannt Alfons Paquets „Gedanken zum
jetzigen Problem" und Max Brods „Erfah¬
rungen im ostjüdischen Schulwerk."
'
Im dritten Hefte wirft Julius Berger
den deutschen Juden vor, sie hätten die
ihnen zufallende Aufgabe, an dem Probleme
des osteuropäischen Judentums mitzuarbeiten,
bis jetzt nicht erfaßt. Sie hätten zwar schon
im Frieden ein HilfsWerk organisiert und
dieses dann zu einem Kriegshilfswerk um¬
gebaut, darauf auch viel Geld und Mühe
verwendet, allein dieses Werk leide an dem
Grundfehler der Bevormundung; die östlichen
Juden würden lediglich als Objekte der
Wohltätigkeit behandelt; das HilfsWerk schwebe
darum in Gefahr, „keine andere dauernde
Wirkung in Polen zu hinterlassen, als die
bekannten Nebenerscheinungen einer sozial
rückständigen Philanthropie, und die unver¬
gleichliche Möglichkeit einer sozialenBetätigung
größten Umfangs zu einer organisierten Er¬
ziehung zum Schnorrertum herabzudrücken."
Er schildert den Eindruck, den der Polnische
Jude auf unsere Feldgrauen mache, als
keineswegs ganz ungünstig, aber bei der
elenden Lage des dortigen Judentums natür¬
lich weit entfernt vom Imposanten und
Erhabenen. Die deutschen Juden nun fühlten
sich von den Berichten über diesen Eindruck
mitgetroffen, „und alles, worüber der deutsche
Soldat achselzuckend und mit einem gewissen
gutmütigen Verständnis hinweggeht, wird im
deutschen Juden zur fressenden Wunde, zur
bohrenden Angst, man könne ihn »nit seinem
östlichen Volksgenossen^ identifizieren." Her¬
mann Cohen erzählt von den Eindrücken,
die er in seinem Vaterhause vom östlichen
Judentum empfangen habe. Es seien unter
den Hilfesuchenden nicht selten rabbinische
Gelehrte gewesen, und die talmudischen Ge¬
spräche, die sein fronimer Vater mit ihnen
geführt habe, hätten oft den Sabbattisch
gewürzt; darum habe er keine Spur von
Verachtung gegen dieses Judentum empfunden,
sondern es sei in seiner Erinnerung mit der
Vorstellung geistiger Würde verknüpft. Er
erörtert den Zwiespalt zwischen dem von
Mendelssohn ins moderne Geistesleben ein¬
geführten deutschen Judentum und dem ortho¬
doxen des Ostens, behauptet, jenes sei dem
Wesentlichen des jüdischen Glaubens, dem
Monotheismus, treu geblieben, und berichtet
über seinen schon in der Ausführung begriffenen
Plan, durch VortragSreisen beizutragen „zur
Begründung einer freien, kraftvollen, im
Einklange mit der Kulturhöhe stehenden
Religiosität im Osten, und auf die Stiftung
von Pflanzstätten für die Wissenschaft des
Judentums als von Horten solcher Religiosität
hinzuwirken." Als besonders wichtig seien
von Beiträgen dieses Heftes noch erwähnt
„Fragen des ostjüdischen Wirtschaftslebens"
von Jakob Leszczynski und ein Aufsatz über
jüdische Erziehung von Siegfried Bernfeld.
Diese Proben dürften hinreichen, zu beweisen,
daß Bubers Zeitschrift von den Staatsbeamten
und den Politikern, die bet der Neuordnung
der Dinge im Osten mitzuwirken berufen
sind, nicht unbeachtet gelassen werden darf.
Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften,
Bd. II. Weltanschauung und Analyse des
Menschen seit Renaissance und Reformation.
S28 Seiten. G. B. Teubner, Leipzig und
Berlin 1914, geh. 12 Mark, geb. 14 Mark.
Die von allen Freunden Diltheys lang¬
ersehnte Sammlung seiner leider so vielfach
verstreuten Arbeiten, die Neuausgabe der
älteren Werke und die Publikation der in
dem handschriftlichen Nachlaß enthaltenen
Arbeiten und Ideen bot außerordentliche
Schwierigkeiten. Die Arbeitsweise Diltheys,
der immer aus der Fülle der Gesichte und
neuer Ideen heraus schaffend die Entwürfe
und begonnenen Untersuchungen umformte,
hat ihn an der Vollendung der meisten seiner
Schriften gehindert und hat diese, obwohl
sie stets in einem großen und einheitlichen
Zusammenhang gedacht waren, in ihren:
gegenseitigen Verhältnis und in der bestimm¬
ten Verknüpfung, durch die sie sich zu einem
Ganzen abrunden sollten, nicht immer deutlich
werden lassen. Hatte Dilthey in dem ersten
Bande seiner „Einleitung in die Geistes¬
wissenschaften" den systematischen Grundriß
seiner Auffassung von dem Wesen der geistigen
Welt und zugleich eine in sich geschlossene
Darstellung von der Entwicklung der geistigen
Kultur des Abendlandes bis zum Ausgang
des Mittelalters gegeben, so ist er in der
Fortführung seiner Studien sowohl in dem
Ausbau der systematischen Grundansichten
wie in der Ausgestaltung seiner Anschauung
von der Entwicklung von Kunst, Religion
und Philosophie in der neueren Zeit nicht
mehr zu einer endgültigen Fassung gekommen.
Aber die zahlreichen Abhandlungen, in denen
er die Ergebnisse seiner immer auf das Ganze
gerichteten Forschung niederlegte und die
eine Tiefe des Denkens und eine Feinheit
des geschichtlichen Sinnes bezeugen, durch
welche Dilthey allen zeitgenössischen Historikern
der Philosophie überlegen war, bieten, zu¬
sammen genommen, einen Ersatz für das,
was er uns selber schuldig geblieben ist.
In dem vorliegenden Bande von Diltheys
gesammelten Schriften, der als zweiter be¬
zeichnet ist, sind die Abhandlungen zusammen¬
gestellt, die sich auf die Fortsetzung seiner
Studien über die europäische Geistesgeschichte,
insbesondere über die Zeit vom fünfzehnten
bis zum siebzehnten Jahrhundert beziehen.
Ihren Inhalt bilden die Aufsätze- Auffassung
und Analyse des Menschen im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert, das natürliche
System der Geisteswissenschaften, die Auto¬
nomie des Denkens, Giordano Bruno, der
entwicklungsgeschichtliche Pantheismus, aus
der Zeit der Spinozastunden Goethes, die
Funktion der Anthropologie in der Kultur
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhun¬
derts. Sie sind hier so abgedruckt, wie sie
zuerst erschienen; doch hat der Herausgeber,
Professor Georg Misch in Marburg, in
sehr vorsichtiger und glücklicher Weise einige
Ergänzungen aus den Handschriften hinzu¬
gefügt, die die ursprüngliche Darstellung an
nicht unwichtigen Punkten abrunden. So
enthüllt sich in diesem Bande eine Gesamt¬
auffassung des wichtigen Zeitalters der Refor¬
mation, der Renaissance und der werdenden
Aufklärung; er wird allen denen, die sich
mit dem religiösen und philosophischen Leben
dieser Epoche beschäftigen wollen, unentbehr¬
lich sein; er wird darüber hinaus jedem
literarisch interessierten Leser eine unver-
siegliche Quelle der Belehrung und des Ge¬
nusses sein.
Es ist zu wünschen, daß der Krieg die
Fortsetzung der Ausgabe nicht allzusehr ver¬
zögere. Wenn die weiteren Bände vorliegen,
wird sich Gelegenheit geben, das dann ab¬
geschlossene Lebenswerk Diltheys eingehend
zu würdigen.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
«MI^zi
i. NecKlb. am Müritxsee
Lctinelle Aewissenligfte Vorbereitung tur ale LinzaliriZen-, prima- u. Keikeprütung
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Min» Milium
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Homere privatscnule mit Internat Xe. VI—II).
Lsiäe Anstalten xvisLNen V/asser unä seur Zesunä ZeleZen.
Lssonäers tur Lcnüler, 6le spex. t^öräerunA unä Obnut bedürfen.
Qrünäliener I^nterrielit in Kleinen Klagen unä Kursen. Vorziüsliene
VerpllsAunZ. - - IVian verlanZe Prospekt.
Aer Krieg ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Die Anstren¬
gungen der Feinde haben ihr Höchstmaß erreicht. Ihre Zahl ist noch größer
geworden. Weniger als je dürfen Deutschlands Kämpfer, draußen wie drinnen,
jetzt nachlassen. Noch müssen alle Kräfte, angespannt bis aufs Äußerste, ein¬
gesetzt werden, um unerschüttert festzustehen, wie bisher, so auch im Toben des
nahenden Endkampfes. Ungeheuer sind die Ansprüche, die an Deutschland
gestellt werden, in jeglicher Hinsicht, aber ihnen muß genügt werden. Wir
müssen Sieger bleiben, schlechthin, ans jedem Gebiet, mit den Waffen,
mit der Technik, mit der Organisation, nicht zuletzt auch mit dem Gelde!
Darum darf hinter dem gewaltigen Erfolg der früheren Kriegsanleihen
der der fünften nicht zurückbleiben. Mehr als die bisherigen wird sie ma߬
gebend werden für die fernere Dauer des Krieges; auf ein finanzielles Er¬
schlaffen Deutschlands setzt der Feind große Erwartungen. Jedes Zeichen der
Erschöpfung bei uns würde seinen Mut beleben, den Krieg verlängern. Zeigen
wir ihm unsere unverminderte Stärke und Entschlossenheit, an ihr müssen seine
Hoffnungen zuschanden werden.
Mit Ränken und Kniffen, mit Nechtsbrüchen und Plackereien führt der
Feind den Krieg, Heuchelei und Lüge sind seine Waffen. Mit harten Schlägen
antwortet der Deutsche. Die Zeit ist wieder da zu neuer Tat, zu neuem Schlag.
Wieder wird ganz Deutschlands Kraft und Wille aufgeboten. Keiner darf
fehlen, jeder muß beitragen mit allem, was er hat und geben kann, daß die
neue Kriegsanleihe werde, was sie unbedingt werden muß:
Für uns ein glorreicher Sieg,
für den Feind ein vernichtender Schlag!
ach den letzten Nachrichten, die aus Rußland eingetroffen sind
— durch die Tätigkeit unserer Unterseeboote im Bodenlöcher
Meerbusen ist der Postverkehr zwischen Rußland und Schweden
zeitweise unterbrochen, und daher kommen die Zeitungen nur
spärlich herüber — ist man in Rußland des Eingreifens Rumäniens
in der letzten Zeit ziemlich sicher gewesen. Es scheint, daß Stürmer sich vor¬
genommen hatte, als Außenminister hier seine ersten Lorbeeren zu pflücken.
Er hat die feste Sprache, die ein russischer Minister im Innern zu führen
gewöhnt ist, auf das Äußere übertragen. Was die Lockungen und Anerbietungen
der Entente in Rumänien noch nicht ganz vermocht hatten, das brachte Stürmers
Hinweis auf die an der Grenze stehenden russischen Heere fertig. Rußland
hat Rumänien ein Ultimatum gestellt und von Bmtianu Aufklärung über seine
Haltung innerhalb einer bestimmten Frist verlangt. Von der Antwort in dem
einen oder dem anderen Sinne werde es abhängen, welche Haltung Rußland
in Zukunft Rumänien gegenüber einnehmen werde. „Und willst du nicht mein
Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein." Es ist nicht ausgeschlossen,
daß sich Bmtianu, der längst im Innern seiner Seele entschieden hatte, dieses
russische Ultimatum bestellt hat, um dem König und den Parteiführern gegen¬
über darauf hinweisen zu können. Jedenfalls zeigt der Vorgang, was die
kleinen Staaten, die der Entente auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind,
auch später von ihr zu erwarten haben. Es ist beinahe eine politische Platt¬
heit, daß Rußland aus seinem Wege nach Konstantinopel nur hörige Vasallen¬
staaten brauchen kann. Rumänien wird noch einmal die Wahrheit dieses
Satzes am eigenen Leibe verspüren, wenn keine schützende Hand der Mittel¬
mächte mehr über dem Lande, das seine Verbündeten verraten hat, walten
wird. Wir können aus dem Vorgang lernen, wie Politik und Strategie in
geeigneten Momenten zusammenwirken müssen. Möchte das Zusammenwirken
der beiden Männer Bethmann Hollweg und Hindenburg uns in Zukunft die¬
jenige Einheitlichkeit des politischen und strategischen Handelns verbürgen, die
wir brauchen.
In Rußland spielt außer dem rumänischen Eingreifen der Besuch japanischer
Gäste eine gewisse Rolle in der öffentlichen Diskussion. Diese Delegation setzt
sich hauptsächlich aus Mitgliedern der japanischen Ersten Kammer zusammen
(zu erwähnen sind Graf Teraschima, Graf Jnuje, der frühere Gesandte in
Belgien Kato), und die in Petersburg anwesenden Mitglieder des russischen
Reichsrates haben die Organisation des Empfanges für die japanischen Kollegen
in die Hand genommen. Eine Reihe von rauschenden Festlichkeiten, Besuch
von Moskau und anderen größeren russischen Städten sind geplant. Da der
Delegation auch kaufmännische Mitglieder zugeteilt sind, unterliegt es keinem
Zweifel, daß Vorbereitungen für eine japanisch-russische Handelskonvention
neben Handels- und Industriespionage der eigentliche Zweck des Besuches ist.
Hand in Hand damit geht der Wunsch nach einer Vertiefung der Freundschafts¬
gefühle, die auf Grund des russisch-japanischen Bündnisses zwischen den beiden
Ländern entstanden sind. Die Gefühle scheinen allerdings vorläufig noch etwas
einseitige zu sein, und den Russen wird bange vor den weitgehenden Absichten
der Japaner. Am 13. August haben in Tokio Festlichkeiten aus Anlaß der
russisch-japanischen Vereinbarungen stattgefunden, und der japanische Premier¬
minister hat auf dem Festessen des Verbandes der japanischen Handelskammern
sich dahin geäußert, „daß die neuen Vereinbarungen das Ergebnis der Anstren¬
gungen Japans seien, sein Prestige in der Welt zu heben und eine Ausnahme'
Stellung im fernen Osten einzunehmen. Die Pariser wirtschaftliche Konferenz
sei faktisch ein wirtschaftlicher Verband der Ententemächte, und die japanischen
Kaufleute und Industriellen müßten alle Anstrengungen machen, um die russisch-
japanische Vereinbarung im Interesse der Erweiterung der Handelsbeziehungen
zu Nußland auszunutzen. Den japanischen Waren werde es jetzt nicht schwer
sein, in Rußland mit den deutschen Waren zu konkurrieren, und Japan könne
sich wenigstens die Hälfte des deutschen Imports nach Rußland sichern."
Diese Äußerung hat die Russen traurig gemacht. Die „Rjetsch" sagt
melancholisch „die Hälfte der deutschen Einfuhr nach Rußland!" Diese Formel
gebe eine Vorstellung von den Aufgaben, die Japan seiner jungen Industrie und
seinem Handel stellt und den Hoffnungen, die Japan auf den russischen Markt
setzt. Wenn auch die japanischen Gäste in Rußland die Aufnahme finden würden,
die von Hochachtung für den jetzigen Verbündeten erfüllt sei, so gehöre zu einem
guten Einverständnis mit Japan doch, daß es auch Rußland die erwünschten
politischen und wirtschaftlichen Resultate bringe. „Wir müssen unsere begrün¬
deten Interessen mit einer Energie verteidigen, die jener unserer Freunde im
fernen Osten nicht nachsteht." „Mro Rossii", das bei den Moskaner freieren
Zensurverhältnissen klarer sprechen kann, nimmt den Gedanken der „Rjetsch"
auf. Es zweifelt, daß die Vorteile der wirtschaftlichen Beziehungen zu Japan
gegenseitig sein werden. Das Abkommen mit Japan habe genugsam bewiesen,
„daß gewöhnlich nur die Vorteile auf feiten Japans, die Nachteile auf feiten
Rußlands liegen". Die früher sehr angesehene russische Monatsschrift „Wjestnik
Jewropu" kommt ganz im allgemeinen ohne Zusammenhang mit Japan auf
die Beschlüsse der Pariser Wirtschaftskonferenz zurück. Sie äußert ihre Meinung
dahin, daß es klar sei, daß Rußland in allen diesen Kombinationen nur die
Rolle eines leidenden Teiles zugedacht sei, indem Rußland nach Ausschluß des
deutschen Konkurrenten das Objekt der industriellen Ausbeutung seitens der
Kapitalisten der Alliierten werden soll.
Das russisch-japanische Bündnis findet jedenfalls in der russischen öffent¬
lichen Meinung bei weitem nicht diejenige enthusiastische Aufnahme, die es in
Japan gefunden hat. Von allgemeineren Betrachtungen über das Bündnis ist
beachtenswert ein Artikel der „Birsjewyje Wjedomosti", aus dem ich folgende
Stellen zitieren möchte:
„Viel Energie und Arbeit des Volkes wird nach dem Kriege darauf ver¬
wandt werden müssen, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, und
gleichfalls muß eine innere Schöpfungsarbeit einsetzen, die dazu bestimmt ist,
das Leben des Landes zu erneuern und die schlafenden produktiven Kräfte des¬
selben x.u erwecken. Wir brauchen deshalb im fernen Osten einen treuen Freund,
der uns nicht verrät und nicht betrügt. Japan ist ein derartiger Freund.
Gestützt auf seine Freundschaft können wir uns ruhig der uns notwendigen
schöpferischen Arbeit in Europa und bei uns zu Hause widmen.
Wir haben uns eine gemäßigte und loyale Politik Japans in China ge¬
sichert. Als bester Beweis hierfür dient die Rückgabe der von Japan eroberten
Festung Tsingtau an China. Gleichzeitig haben die Anzeichen des japanischen
Eindringens in das Innere des Festlandes aufgehört, uns zu beunruhigen.
Der japanische Gedanke ist gegenwärtig auf den asiatischen Teil des Stillen
Ozeans konzentriert. Zwischen den Vereinigten Staaten und Japan kommt
immer mehr der beiderseitige Wunsch zum Ausdruck, die Einflußsphären des
Ozeans friedlich zu teilen. Die Vereinbarung mit England, welcher in nächster
Zukunft der Ausgangspunkt der ganzen russischen Politik zu werden bestimmt
ist, und insonderheit desjenigen Teiles, der die russisch-japanischen Interessen
berührt, bildet für uns eine Rückversicherung, die unsere Position in Asien
garantiert. Aus diesem Grunde hoben wir den Japanern bei Ausarbeitung
der letzten Vereinbarung freiwillig den zwischen Sungart und Kuantschensy ge¬
legenen Teil der ostsibirischen Bahn abgetreten und ihnen das Recht der
Schiffahrt auf dem Sungari eingeräumt. Durch Abtretung dieses Teiles der
Bahn haben wir ohne Frage diejenigen Transporte nach Dalny abgelenkt, die
bisher nach Wladiwostok gingen und haben auf diese Weise erheblich die
Chancen der japanischen südmandschurischen Bahn verbessert. Dadurch aber
haben wir Japan für die unschätzbaren Dienste belohnt, die es uns im gegen¬
wärtigen Kriege durch Zustellung von Kriegsmaterial erwiesen hat und gleich¬
falls durch den Export von Getreide für Europa auf seinen Dampfern aus
Wladiwostok und Import von Baumwolle, Maschinen u. a. aus Amerika.
Das Erscheinen von japanischen Waren auf unseren Märkten wird nur günstig
für den russischen Käufer fein. Die Freundschaft der Völker wird aber nicht
allein durch die runden Ziffern des Warenaustausches begründet. Wir haben
noch andere Beweise des tiefen Interesses seitens Japans für unser Land, und
alles dies im Zusammenhang mit der bevorstehenden Ankunft der Vertreter der
japanischen Öffentlichkeit gibt uns Grund zu dem Glauben, daß die begonnene
russisch-japanische Freundschaft in naher Zukunft sich in ein unzerreißbares und
langandauerndes Bündnis verwandeln wird."
Diese Zeilen sind in mehr als einer Hinsicht interessant. Zunächst klingt
auch aus ihnen hervor, daß eine gewisse Angst vor Japan in Rußland besteht.
Man wünscht, daß das Bündnis mit England eine Art Rückversicherung gegen¬
über etwaigen Machtgelüsten Japans gibt und freut sich feststellen zu können,
daß die japanischen Machtbestrebungen „gemäßigt" sind. Man möchte sie gern
auf die Inselwelt des Stillen Ozeans ablenken und man begünstigt rusfischer-
seits einen japanisch-amerikanischen Vertrag, der eine Teilung der Einflußsphären
im Stillen Ozean mit sich bringen würde. Selbst ist man sich ganz klar, daß
man im Osten eine Politik der Entsagung treiben muß. Man ist durch den
Krieg schon erschöpft, wird sich nach dem Kriege wieder innerlich konsolidieren
müssen und hofft auf Ruhe von feiten des guten Freundes, dem man sür seine
„unschätzbaren Dienste" während des Krieges zu so großem Danke verpflichtet ist.
Das ganze Verhältnis zwischen den drei Ländern Rußland—Japan—England
ist somit ein äußerst kompliziertes und innerlich nicht ganz ausgeglichenes. Rußland
hat mit Japan ein Bündnis, das sich sicherlich auch einmal gegen England richten
kann (ich betone hierbei das „kann"). Japan hat mit England ein Bündnis,
das sich bereits einmal gegen Nußland gerichtet hat, und Rußland hat, wie
sich aus dem obigen offenbar auf guten Informationen beruhende Zitat ergibt,
eine Abmachung mit England, die eine Art Rückverstchernng gegen Japan bildet.
In der Kompliziertheit dieser unnatürlichen Verhältnisse liegt für uns ein gewisser
Trost für die Zukunft. Je verschlungener solche Abmachungen sind, um so weniger
werden sie in einem Ernstfalle, wenn es inzwischen Reibungen auf allen Seiten
gegeben hat, halten. Und solche Reibungen werden da sein. Sie machen
sich schon jetzt geltend. Zwischen Nußland und Japan sehen wir ein leichtes
Gefühl des Unbehagens sich entwickeln. Intensives Arbeiten der Japaner in Ost¬
sibirien, in der Mongolei, wo es auch schon Zwischenfälle gegeben hat, und
in China kann dieses Unbehagen mehren.
England und Japan sehen sich im fernen Osten mit Mißtrauen an. Es
gibt eine großjapanische Partei, von der sich allerdings die japanische Regierung
vorläufig in kluger Mäßigung zurückhält, die auf jeden Fall, wenn es nötig
ist, auch gegen England, die Führerschaft in China und überhaupt im fernen
Osten an sich reißen möchte. Mit seltener Offenheit hat sich darüber vor einiger
Zeit die japanische Monatsschrift „Dal Nippon" ausgesprochen. Japan müsse
jetzt den Augenblick erfassen „auf dem chinesischen Festlande, in Indien, in der
Südsee, in Australien, in Nord- und Südamerika die Probleme zu lösen".
Diktatorschaft im fernen Osten und Unabhängigkeit von England, das sind die
beiden Kernpunkte des groß-japanischen Denkens. „Keine Macht hat das Recht,
Japan die Führerschaft in China streitig zu machen, solange sich Japan
verpflichtet, die Bürgschaft für Aufrechterhaltung der Politik der offenen Tür
und den Schutz des chinesischen Länderbestandes zu übernehmen." Putnam
Weale, der als guter Kenner des fernen Ostens die Gefahren sieht, die Englands
Machtstellung von Japan drohen, versucht darzulegen, daß Japans jetzige und
künftige wirtschaftliche Stellung für Englands Handel im Osten nicht bedrohlich
sei. Fritz Secker hat im Ostasiatischen Lloyd demgegenüber auf die ungeheure
Kräftigung hingewiesen, die Japan durch den gegenwärtigen Krieg erfahren
hat. Die wirtschaftlichen Kräfte Japans entfalten sich; schon jetzt „verbraucht
es jährlich 1.4 Millionen Tonnen Stahl". Es braucht die Rohstoff- und Eisenerz-
zufnhren aus China. Dieses Bedürfnis wird mit eine Triebfeder für eine
aktive Politik Japans im fernen Osten sein. Solche wirtschaftlichen Beweggründe
sind sicherlich nicht zu unterschätzen; aber man kann wohl sagen, daß Japan
auch ohne sie imperialistische Politik treiben wird und muß. In England fühlt
man das deutlich, wenngleich man es nur vereinzelt ausspricht. „Die Zukunft
von Chinas Unabhängigkeit und der offenen Tür hängt an den Aussichten
eines leidlich frühen Friedens", so hat neulich noch die „Nation" es offen
ausgesprochen. Man weiß, daß Japan jeden japanisch-chinesischen Zwischenfall,
jede Unruhe in China für eine England unwillkommene Einmischung benutzen
kann. In Japan andrerseits fühlt man, daß England zurzeit der einzige
unbequeme Hemmungsgrund im Osten ist — und das gibt für die Zukunft
möglicherweise Reibungsflächen, die sich erweitern können.
Und nun das Kapitel Nußland-England. Es verlohnt sich, auch darauf
einen Blick zu werfen. Ich möchte hier nicht näher auf die Auslassungen des
Herausgebers des „Rossiskij Grashdcmin", des bekannten Herrn Bulatzel, ein¬
gehen, der neulich ein Gespräch mit dem verstorbenen Petersburger Stadt¬
hauptmann Kleigels veröffentlicht hat, in dem die Rede vom Schicksal Rußlands
gewesen ist. „Rußland ist, so heißt es da, auf ewig dazu verurteilt, die
Kastanien für andere Völker aus dem Kriegsfeuer herauszuholen. Der Mangel
an Voraussicht, die politische Kurzsichtigkeit und der immer wachsende englische
Einfluß haben den Verstorbenen (Kleigels) sehr bekümmert." Der Verfasser
dieser Zeilen ist ein politischer Einspänner in Rußland, ohne weiten Widerhall
in der Öffentlichkeit,, wir wollen es daher getrost den Russen selbst überlassen,
aus dem Streite zwischen den englischen Ehrendoktoren Miljukom, Struve usw.
und den Herrn Bulatzel und seinen Freunden das Fazit zu ziehen. Wenn die
ersteren aber darauf rechnen, durch einen leichten Ansturm etwa mit Hilfe der
Rumänen dem Kriege ein schnelles Ende zu bereiten, so irren sie sich ebenso
gewaltig — wie sie sich bisher geirrt haben. Nicht umsonst hat ein Hindenburg,
dessen Kraft die Russen gefühlt haben, den Oberbefehl über die sieggewohnten
deutschen Heere übernommen. Die Russen, in deren Land der Krieg zum
Hauptteil geführt worden ist, werden es weiter in immer stärkerem Maße zu
spüren haben, was es heißt, mit dem Deutschen Reiche im Kriege zu liegen.
Rußland wird aus diesem Kriege weißgeblutet hervorgehen und alle seine
Träume werden in Nichts zurücksinken. Was werden ihm seine Verträge
nutzen, die es mit England geschlossen hat, selbst den Fall angenommen, den
keiner von uns für möglich hält, daß Deutschland und seine Verbündeten unter¬
liegen? Was soll es mit den von England versprochenen Dardanellen, dem
Ausgang zu einem Meere, in dem England mit einer gewaltigen Flotte un¬
umschränkt gebieten würde, mit einer vollkommen ruinierten Landwirtschaft, mit
einer am Boden liegenden Industrie und für immer heruntergewirtschafteten
Finanzen, nachdem feine Goldproduktion und seine Goldbestände, seine Berg¬
werke und womöglich Eisenbahnen inzwischen an Engländer und Amerikaner
übergegangen sein werden? Rußland würde, ebenso wie es jetzt in Bezug auf
den fernen Osten eine 80Lieta,3 leonina mit Japan eingehen mußte, auf Jahr¬
zehnte, ja vielleicht auf immer zu einer Politik der Entsagung der einzig über¬
bleibenden Großmacht, England, gegenüber gezwungen sein. Die Russen haben
sich seinerzeit über die harmlosen wirtschaftlichen Pläne Deutschlands in der
Türkei und in Kleinasten beschwert gefühlt (vergl. Mitrofanow und Gesinnungs¬
genossen). Was wollen aber diese Pläne bedeuten gegenüber einem England,
das von Indien über Mesopotamien, Arabien und Syrien seine feste Brücke
nach Ägypten gebaut hätte!
Wir wissen wenig über den jetzt zwischen England und Rußland ab¬
geschlossenen Vertrag über Persien, der die alte Abmachung von 1907 zu einem
wesentlichen Teile verändert. Persien wird durch ihn in ein englisch »russisches
Protektorat verwandelt. Die Finanzen des Landes werden von einem englisch¬
russisch-persischen Rate, dem ein Belgier (!) vorsitzt, geführt werden. Im
Norden wird Rußlands Einfluß überwiegen, im Süden der Englands. Jeder
der beiden Vertragschließenden wird die Militärmacht in seinem Einflußgebiet
(man stellt sich hier wie dort eine von Persern gebildete Truppe von je elf¬
tausend Mann vor) in den Händen haben. Aber hat man etwas davon
gehört, daß England den Russen Zutritt zum Persischen Golf gestattet? Das
einzige Ergebnis des Vertrages für Rußland wird das sein, daß die englisch¬
indische Militärmacht sich am Persischen Golf immer mehr festigt, daß Afghanistan
ganz von ihr umklammert ein für allemal dem englischen Einflüsse unterliegen
wird und daß sich der gewaltige englische Block von Süden her fester an Ru߬
land heranlegen würde. Wie unsicher die Verhältnisse in den russisch-zentral¬
asiatischen Besitzungen sind, sehen wir jetzt aus der Ernennung Kuropatkins
und der Proklamierung des Kriegszustandes in Turkestan. Wird es der
englischen Regierungskunst in einem späteren Kriege Englands mit Rußland
nicht leicht gelingen, in diesen mohamedanischen Gebieten die gewünschten anti-
russischen Tendenzen hervorzurufen und die Volksstämme von Indien her zum
Aufmarsch gegen Rußland zu bringen? In einem solchen Kriege, in dem ein
geschlagenes Deutschland und ein vernichtetes Frankreich in Europa zurück¬
geblieben wären, würde es England möglich sein, durch ein paar Schiffe an den
Dardanellen, im Persischen Golf, in der Ostsee und im Weißen Meer unter
Mithilfe von Japan, Nußland im eigenen Fett ersticken zu lassen —
vorausgesetzt, daß überhaupt ein Widerstand von Rußland gewagt werden
würde.
Für uns muß es auf jeden Fall tröstlich sein, zu sehen, daß auch da die
Bäume nicht in den Himmel wachsen werden. Haben diese Gesichtspunkte
vielleicht für den Augenblick keine Bedeutung, so werden sie es später haben,
denn jede Schuld, und namentlich die politische, rächt sich auf Erden.
Endlich noch ein paar Worte zur polnischen Frage. Diese scheint durch
Stürmers Eingreifen vorläufig in Rußland zu einem gewissen Ruhepunkt ge¬
kommen zu sein. Man will der Zukunft nicht vorgreifen und sich alle Freiheit
des Handelns Polen gegenüber vorbehalten. In dem „Rußkoje Slowo" erschien
eine offiziöse Notiz, wonach der in Vorbereitung befindliche Aufruf an die
Polen „nicht eher veröffentlicht werden wird, als bis die russischen Heere in
das Königreich Polen eingerückt sind, d. h. nicht früher, als bis die Forcierung
der Buglmie erfolgt ist. Wenn inzwischen irgend welche Akte der Deutschen
und Österreicher in der polnischen Frage erfolgen sollten, so wird die russische
Regierung unverzüglich mit einem Gegenakt antworten." Diese Entscheidung
der russischen Regierung wird vor allem von England und Frankreich bedauert
werden, wo man gewünscht hätte, daß sich Rußland durch einen feierlichen Alt
auch Deutschland und Österreich gegenüber für immer und alle Zukunft festlegen
möchte. Aus diesem Gesichtspunkte sind auch die Ausführungen gewisser
russischer Zeitungen zu verstehen, die sich dafür eingesetzt hatten, daß Rußland
nicht durch innerrussischen Akt, sondern durch diplomatische Notifikation an die
Mächte seine Entschlüsse in der polnischen Frage kundgeben soll. Während
des Aufenthalts von Miljukow und Struve in England, dürfte die englische
Regierung in demselben Sinne auf die ihr ergebenen russischen Politiker
eingewirkt haben.
Alles das hat vorläufig rein akademischen Charakter. Immerhin hat auch
die Polenfrage schließlich einen Hintergrund, der auf die Beziehungen zwischen
Rußland und seinen Verbündeten einen gewissen, wenn auch nicht großen
Einfluß hat.
Uns kann es auch hier gleichgültig sein, was die Entente denkt und
beabsichtigt. Das Geschick Polens wird nicht mehr durch Worte der Entente,
sondern durch die Taten Deutschlands und Österreich-Ungarns beeinflußt.
om inneren Frieden des deutschen Volkes" ist während des Krieges
öfter geredet und auch geschrieben worden. Es soll jeder mit¬
helfen, daß etwas von den guten Wünschen in Erfüllung geht.
Die politischen und sozialen Kämpfe werden freilich nicht schweigen,
auch die konfessionellen nicht; aber gerade auf diesem Gebiete
können bei einiger Einsicht die schärfsten Spitzen abgebrochen werden, wenn man
sich weiter wie im Kriege um gegenseitige Förderung bemüht. Auf katholischer
Seite ist schon lange vor dem August 1914 die Parole „Heraus aus dem
Turm!" ausgegeben worden. Wir wollen hoffen, daß sie nicht nur ehrlich
gemeint ist, sondern auch bei allen, die es angeht, immer mehr Anklang findet.
Umgekehrt ist von den Bekennern protestantischer und liberaler Weltanschauungen
zu wünschen, daß sie nicht durch unnötige Betonung der Schattenseiten, die der
katholische Glaube in ihren Augen hat, die Ausführung dieser Losung ihresseits
erschweren. Seit Jahren nun schon stehen wir, Katholiken und Protestanten,
nebeneinander, kämpfen für ein Reich und ein Volk, geben Gut und Blut der
eine für den andern. Beide Konfessionen müssen unwiderruflich in Sturm und
Sonnenschein unter einem Dache wohnen; sie müssen sich verstehen. Zu solchem
Verständnis muß auf protestantischer Seite wachsende Erkenntnis katholischen
Lebens und vor allem auch der Geschichte und der Politik des modernen
deutschen Katholizismus beitragen. In der Reichsgründungszeit brachte der
Gang der Dinge die deutschen Katholiken in einen gewissen Gegensatz zu dem
kleindeutschen Reichspatriotismus. Dieser Gegensatz, längst schon verwischt, ist
durch den Krieg endgültig überwunden. Und da auch die römische Kurie eine
vorbildliche Neutralität bewahrt, ist vielleicht Aussicht, daß das oeutsch-eoange«
lische Mißtrauen gegen die fremdländische Leitung der katholischen Kirche nicht
mehr hervortritt. Im übrigen kommt es darauf an, das geistige Leben hüben
und drüben in erhöhte Wechselwirkung zu setzen, oder wenn gegenseitige „Wir¬
kung" im Interesse der konfessionellen Reinheit vielleicht nicht erwünscht wäre,
jedenfalls in leidenschaftslose Wechselerkenntnis. Über die Auseinandersetzung
der auf Kant begründeten modernen Erkenntnistheorie mit der neuthomistischen
Philosophie der Kirche kann ich im Rahmen dieses Aufsatzes nichts sagen. Der
gebildete Protestant pflegt von diesem Gegensatz selten mehr zu wissen, als
was ihm etwa Paniscus „PKilosoplua militans" davon erzählt. Es ist aber
immerhin zweifelhaft, ob Paulsen dem Neuthomismus gerecht wird. Auch mit
ihm sollte man sich mehr Mühe geben, ehe man ihn verwirft. Doch wollen
diese Zeilen nicht vom philosophischen, sondern vom politischen Katholizismus
und seiner Geschichte im neunzehnten Jahrhundert reden. Sie möchten außer¬
halb der kirchen- und parteigeschichtlichen Fachwissenschaft anregen zur Erkenntnis
der historischen Richtungen des neueren Katholizismus und zum Studium der
Ideale und der Politik der kirchlichen Partei im deutschen Staatsleben.
Einen Überblick über die Entwicklung der neueren katholischen Kirche als
Rechtsordnung und der Hauptrichtungen in ihren Verfassungskämpfen gewährt
in ausgezeichneter Klarheit und Knappheit die kleine Schrift von Fritz Vigener
„Gallikanismus und episkopalistische Strömungen im deutschen Katholizismus
zwischen Trioentinum und Vaticanum" (München—Berlin, R. Oldenbourg,
1913; Preis 1.50 Mark). Daß der Papst in Sachen des Glaubens und der
Moral unfehlbarer Monarch der Kirche sei, ist ja keineswegs ein altes Dogma,
sondern erst im Jahre 1870 zur offiziellen Lehre der Kirche erhoben worden.
Unfehlbar ist seit alter Zeit nur die Kirche als solche. Diese aber gilt seit dem
Kirchenvater Cyprian als repräsentiert durch die Gesamtheit und Einheit des
Episkopats. Unter den Bischöfen war der Papst doch eigentlich nur der primus
inter pares, und wenn auch seine Macht mit der wachsenden Zentralisation
und Zucht der Kirche stieg, so war doch noch auf dem Konzil von Trient,
dessen Stimmung an sich zentralistisch genug war, da es galt den Glauben der
katholischen Kirche gegen die protestantische Häresie scharf abzugrenzen, keine
Möglichkeit, dem Papst eine absolute Herrschaft über die Kirche zuzuschreiben.
Auch im neueren Katholizismus standen sich also die Auffassungen des Kuria-
lismus und Episkopalismus noch Jahrhunderte lang unentschieden gegenüber.
Der Episkopalismus schloß in sich nationalkirchliche Gebilde, wie sie insbesondere
die alte Kirche Frankreichs, die man darum die gallikanische nannte, durchzu¬
setzen verstanden hat, und sogar territorialistisch-ständische Bestrebungen, die
zumal in Deutschland gewöhnlich waren, weil die Kirchenfiirsten hier zugleich
als Landesherren und Reichsstände fungierten. Ein deutscher Bischof, Johannes
Nikolaus von Hontheim, Weihbischof von Trier, hat unter dem Namen
Febronius dem episkopalistischen Standpunkt die theoretische Grundlegung und
prinzipielle Rechtfertigung geschrieben (1763). Den päpstlichen Primat läßt
Febronius durchaus gelten, nicht aber die Vorgesetztenstellung des Papstes über
den Bischöfen. Nicht der Papst, sondern die Kirche, also der ganze Episkopat,
hat die Schlüsselgewalt. Die Bischöfe müssen neben dem Papst ihre ebenso
unmittelbar apostolische Weihe zur Geltung bringen. Man hat die Vertreter
des episkopalistischen Kirchensystems seitdem oft Febronianer genannt, und die
kurialistischen Katholiken haben sie halbe Ketzer gescholten und für rationalistische
Zerstörer der historischen Kirche gehalten. Nicht mit Recht. Der Febronianismus
ist scharf zu scheiden von den Kirchenlehrer der Aufklärung, die auch im katho-
lischen Klerus des achtzehnten Jahrhunderts Anhänger fanden und den Glauben
auf die Vernunft gründen wollten. Er ist eine gut katholische Theorie, denn
er läßt die Unfehlbarkeit der Kirche als solcher restlos bestehen, wenn er dabei
auch versöhnlich gegen das Luthertum war und einer Wiedervereinigung der
Konfessionen gern die Wege geebnet hätte. Der Febronianismus ist als inner¬
kirchliche Antithese die Voraussetzung der streng kurialistisch und römisch-univer-
saliftisch auftretenden neukatholischen Bewegung in dem durch Revolution und
Restauration gründlich umgepflügten Europa des neunzehnten Jahrhunderts.
Die durch den Wiener Kongreß restaurierten deutschen Regierungen huldigten
sämtlich dem StaatskirchensvsteM, das auch in der Geistlichkeit, zumal im hohen
Klerus, viele überzeugte Vertreter fand. Demgegenüber regte sich neben andern
Freiheitsidealen auch das Ideal der Freiheit der Kirche vom Polizeistaat und
fand ganz von selber gegen die staatskirchlichen Elemente in der überstaatlichen
und übernationalen Zentrale in Rom seine natürliche Stütze. Es ist eine un¬
zweifelhafte Tatsache, daß die liberalen Freiheitslehrer gewaltig dazu beigetragen
haben, die Macht des konsequenten Kurialismus über katholische Seelen zu be¬
festigen. Es ist auch für heutige Liberale, zumal soweit sie antikirchlich sein
zu müssen glauben, höchst wichtig, sich eine klare Einsicht in diese historischen
Konsequenzen ihrer eignen Theorien gegenwärtig zu halten. Für die historisch
Gebildeten der vormärzlichen Zeit wirkte neben dem Liberalismus besonders
noch der Einfluß der Romantik dahin, das kirchliche Feuer anzufachen, und
die verwandten Strömungen der romanischen Nachbarländer wirkten anregend
über die Grenzen herüber. Liberalismus, Romantik und die romanischen
Revolutions- und Restaurationsideen sind also die Taufpaten des deutschen
politischen Katholizismus des neunzehnten Jahrhunderts. Es sind erlauchte
Namen von geistigen Grundlagen der modernen Kultur überhaupt. Wenn
man sich das klar macht, wird man inne, daß das katholische Geistesleben
keineswegs veraltet ist.
Über die Einwirkung der romanischen liberalen und Restaurationsideen
kann man sich in zwei neuen Abhandlungen unterrichten: Alexander Schnütgen
„Das Elsaß und die Erneuerung des katholischen Lebens in Deutschland
von 1814 bis 1848" (Straßburg, Herder 1913) und Lukas Schwahn „Die
Beziehungen der katholischen Rheinlande und Belgiens in den Jahren 1830 bis
1840" (Straßburg, Herder 1914). Beide Arbeiten sind im Rahmen der von
Professor Martin spähn herausgegebenen „Straßburger Beiträge zur neueren
Geschichte" erschienen. Schon aus ihrem Titel ersehen wir, wo wir die Ein-
bruchstellen der romanischen Ideen nach Deutschland zu suchen haben: das
damals zu Frankreich gehörige Elsaß und das von französischem Einfluß be¬
herrschte Belgien, beides Länder eines hochstehenden selbstbewußten katholischen
Geisteslebens, bildeten die Vermittler. Besonders die Schrift von Schnütgen
enthält eine treffliche knappe und sachliche Schilderung des Erziehungs- und
Bildungseinflusfes elsässischer Geistlicher auf das katholische Deutschland seit
1814. Die von Schwcchn mußte mehr in die Breite gehen und Einzelheiten
zusammenstellen, weil der belgische Einfluß auf den rheinischen Katholizismus
durch eine Menge von Persönlichkeiten und Pretzorganen vermittelt worden
ist. Während die Einwirkungen aus Belgien in erster Linie von den Er¬
eignissen des Jahres 1830 und demzufolge von der großen allgemeinen west¬
europäischen Revolutionstheorien ausgehen, entspringt die über das Elsaß
fließende Gedankenströmung den geistigen Quellen der Restauration. Nach der
überspannten Maskerade des Vernunftgötzendienstes der Revolution hatte
Napoleon zunächst die äußere Form, die legitime Dynastie dann auch die
innere Macht des Katholizismus in Frankreich wieder hergestellt. Damals
entdeckte Chateaubriand, der Verfasser des „Q6nie ein LKristianisrrie" die
ästhetischen Reize des katholischen Glaubens, und Josef de Maistre — seiner
Staatsangehörigkeit nach kein Franzose, sondern königlich Sardinischer Gesandter
in Se. Petersburg — schuf in seinem Buche „Du pape" dem konsequenten
Kurialismus der römischen Weltkirche ein glänzendes Programm. Die erste
Hochburg dieses neukmholischen Geistes in Deutschland wurde Mainz, wo der
Elsäßer Colmar seit 1302 Bischof, der Elsäßer Liebermann seit 1804 Superior
des Priesterseminars war. Beide waren Zöglinge des Seminars in Stra߬
burg, wo schon zurzeit des ancien r6Zinc unter Leitung ehemaliger Jesuiten
ein sittenstrenger, der kirchenauflösenden Aufklärung abholder Geist gepflegt
wurde. Colmar war ein rein religiöser Charakter, der sich nur als Hirt der
ihm anvertrauten Herde fühlte, Liebermann mehr Theoretiker und Politiker.
Er ist als Erzieher eines antirationalistijchen streng kirchlichen und dem Papst
ergebenen Nachwuchses im Klerus ebenso wichtig, wie als Theologe und
Übersetzer zahlreicher französischer Erbauungsschristen. Bald scharten sich Gleich¬
gesinnte um Colmar und Liebermann, und der eigentlich programmatisch und
propagandistisch veranlagte Kopf unter ihnen war der Elsäßer Raeß, der
seinen Gesinnungsgenossen mit seinem Landsmann Weis zusammen das erste
Preßorgan schuf: die 1821 begründete Zeitschrift „Der Katholik". Dies
wurde nun der eigentliche Mittelpunkt der gegen Staatskirchentum und
Febronianisnlus, sowie gegen verständnislose Kirchenpolitik protestantischer
Regierungen für Freiheit und Einheit der Kirche streitenden neukatholisch-
. kurialem Partei. Hier vor allem fand de Maistre seine eifrigen Verkünder.
Das Buch ,,vu pays" hat der „Katholik" eingehend besprochen und seine
völlige Übereinstimmung mit ihm hervorgehoben. Und hier im „Katholik"
vollzog sich auch das Bündnis der katholischen deutschen Romantik mit den
romanischen Nsstaumtionsgedanken. Der fromme Dichter Clemens Brentano
schloß sich un Raeß an, und beide vereint gewannen den berühmten Publizisten
Görres, den Herold des deutschen Nationalgeoankens, völlig für die katholische
Kirche. Görres hat sogar eine kurze Zeit lang die Zeitschrift geleitet. Die
Erfolge blieben nicht ohne Wirkung auf die Haltung des Mainzer Kreises.
Hatten Colmar und Liebermann von Haus aus noch jeden Angriff auf
gallikanische Anschauungen vermieden, so wurde die Haltung ihrer Freunde im
„Katholik" von Jahr zu Jahr entschiedener kurialistisch. Restauration und
Romantik haben dem Episkopalismus in der katholischen Kirchlichkeit den
Boden entzogen. Bald sollte die Aufnahme liberaler Freiheitsideale und der
Kampf gegen den Polizeistaat der über die Berge nach Rom schauenden Partei
auch die Popularität bei den katholischen Volksmassen sichern.
Dem Mainzer Kreis hat auch Ludwig Bergsträßer in seinen „Studien zur
Vorgeschichte der Zentrumspartei" („Beiträge zur Parteigeschichte", heraus¬
gegeben von Adalbert Wahl, Bd. I. Tübingen Mohr IMebeckZ 1910) eine
Darstellung gewidmet. Im übrigen legt dieses Buch hauptsächlich verdienst¬
liche Sonderuntersuchungen über die Entstehung der katholischen Partei in
Bayern und im Großherzogtum Hessen-Darmstadt vor. Auch in Bayern läßt
sich die Entwicklung mancher Persönlichkeiten vom Episkopalismus zu kurialisti-
schen Anschauungen verfolgen (Weihbischof Zirkel von Würzburg). 1814 er¬
folgte die Gründung eines „Literarischen Vereins zur Aufrechterhaltung, Ver¬
teidigung und Auslegung der römisch-katholischen Religion". Er gab eine
„Literaturzeitung" zur Vertretung seiner Sache heraus, die erst ein gewisser
Felder, seit 1818 Mastiaux redigierte. Die bayerische Zweite Kammer, zu der
damals die Geistlichkeit als besondere Klasse wählte, war das erste deutsche
Parlament, in dem sich eine Art kleiner katholischer Fraktion von fünf Ab¬
geordneten der strengen Richtung des Klerus zusammenfand. Daneben ist
Hessen-Darmstadt einer derjenigen Staaten, in dessen Landtag am frühesten
katholische Interessen ihre Vertreter fanden. Hier waren dies in der Zweiten
Kammer bemerkenswerterweise keine Geistlichen, fondern zwei rheinhessische
Großkaufleute Kertell und Lauteren und ein ehemaliger Professor und Landwirt
Rech. Daß hier in Hessen Kaufleute als Wortführer des politischen Katholi¬
zismus auftraten, fällt besonders dem auf, der die Haltung dieses Standes im
preußischen Rheinland und in Westfalen kennt. Dort erscheinen nämlich die
Kaufleute und Fabrikanten meistens als Gründer der liberalen Partei, während
die Katholiken neben Adel und Geistlichkeit besonders an den rheinischen Juristen
(Bauerband, Ferd. Walter, die beiden Reichensperger) einen Rückhalt fanden.
Interessant ist der Werdegang des Abgeordneten Rech. Er war von Haus
aus Priester und theologischer Professor in Bonn, aber keineswegs Kurialist,
sondern Febronianer, ja mehr als das: Aufklärer und ausgesprochener Kantianer.
Von Kant ging er später zur antirationalistischen Glaubensphilosophie Jacobis
über, die beiläufig auch auf bayerische Katholiken besondere Einflüsse ausgeübt
hat, trat aber trotzdem damals noch aus dem Priesterstande aus und heiratete.
Erst nachdem er die gelehrte Laufbahn aufgegeben hatte und Landwirt ge¬
worden war, fand er von neuem Anschluß an die katholische Kirche. Der
abtrünnige Priester endete als katholischer Abgeordneter und universalistisch
gesinnter Mitarbeiter des Mainzer „Katholik", nachdem er sich mit allen
Richtungen der protestantischen Philosophie von Kant bis zu Jacobi aus-
einandergesetzt hatte. Dabei war er nie em Fanatiker und hat keine mystische
Bekehrung erlebt. Durch ruhiges Denken bahnte er sich aus eigner Kraft den
Weg ins katholische Geistesleben zurück: ein lebendiger Zeuge dafür, daß der
Protestantismus keinen Anlaß hat, die Überlegenheit seiner Philosophie für eine
selbstverständliche Sache zu halten.
Etwas anderer Art, wie schon angedeutet, als die der vom Mainzer Kreis
ausgehenden Propaganda, waren die Quellen der neukatholischen Bewegung im
preußischen Rheinland. Zunächst erstarkte die katholische Konfession als Stütze
des partikulanstischen Bewußtseins gegen Preußen. Dann aber wirkte stark das
Vorbild des Katholizismus im benachbarten Belgien ein. Diesen Beziehungen
ist das bereits erwähnte Buch von Schwahn gewidmet. Belgien hatte sich in
seiner siegreichen Revolution gegen Holland, an der die Katholiken ebenso
wesentlich beteiligt waren wie die Liberalen, zum Bannerträger des sogenannten
liberalen Katholizismus eines Lamennais gemacht. In diesen Anschauungen
erschien die katholische Kirche als Hort der politischen Freiheit, der Errungen¬
schaften von 1789, des Rechtes aller Unterdrückten. Hat doch nachmals auch
die Februarrevolution in Gestalt des Dominikaners Lacordaire einen schwung¬
vollen priesterlichen Lobredner auf der Kanzel von Notre Dame in Paris ge¬
funden. Damals, 1830, blieb diese katholische Revolutionspropaganda in Belgien
siegreich und richtete sich einen Staat nach ihrem Willen ein: Parlaments¬
herrschaft, Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, freie Schule, freie katholische
Universität in Löwen. Mächtig fachte dieses Vorbild im Rheinland den, Freiheits¬
willen aller derer an, die in der Abhängigkeit der katholischen Kirche von der
protestantischen preußischen Regierung einen unleidlichen Zustand sahen. Das
Signal zum offenen Kampfe gab der Ausbruch des Kölner Kirchenstreites zwischen
der Regierung und dem Erzbischof von Köln. Neben dem Buche von Schwahn
haben diese Ereignisse eine interessante Sonderdarstellung in der Schrift von
Paul Vogel „Beiträge zur Geschichte des Kölner Kirchenstreits" (Studien zur rhei¬
nischen Geschichte V, Bonn, A. Marcus und E. Weber >Dr. Albert AhnZ. 1913)
gefunden. Zur Zeit der Besitzergreifung der Rheinlande durch Preußen (1315)
war der religiöse Jndifferentismus der Aufklärungszeit noch weit im Lande ver¬
breitet gewesen. Die Universität Bonn war eine Hochburg staatsfreundlicher
katholischer Theologie. Sie war noch in den dreißiger Jahren beherrscht von
der Lehre des Professors Hermes, der den katholischen Glauben auf die reine
Vernunft Kants, also auf die protestantische Philosophie begründen wollte. Und
air der Spitze der Kölner Erzdiözese stand bis 1835 ein hochgebildeter aristo¬
kratischer Vertreter des Staatskirchentums, Graf Spiegel. Aber mehr und mehr
gewannen besonders im niederen Klerus die neukatholischen, kurialistischen Ideen
Boden. Sie erfuhren unter dem Einflüsse Belgiens eine bewußt politische Zu¬
spitzung, und der Staat war unklug genug, ihnen nach Spiegels Tode in der
Person des Grafen Clemens August zu Droste-Vischering auf den Erzstuhl des
heiligen Köln zu verhelfen. Droste war zwar kein Politiker, aber, um so mehr
religiöser Eiferer für die Reinheit und Wahrheit seiner Kirche. Er ertrug nicht
mehr die bisherige -ziemlich unehrliche Praxis in der Zulässigkeit der Einsegnung
gemischter Ehen, die der katholische Priester nach der Lehre seiner Kirche nur
dann gewähren durfte, wenn man versprach, die Kinder katholisch erziehen zu
lassen, während der preußische Staat sie ohne diese Klausel verlangte. Als der
Erzbischof den Gehorsam verweigerte, auch nicht freiwillig sein Amt niederlegen
wollte, ließ ihn die Regierung samt seinem Geheimsekretär am 20. November 1837
verhaften und nach der Festung Minden bringen. Dieses Ereignis erregte den
leidenschaftlichen Widerspruch der gesamten rheinischen Bevölkerung; das Mär-
tyrertum des Erzbischofs wurde der wirkungsvollste Agitattonsstoff der katholischen
Partei in ganz Deutschland. Über die Stellungnahme der Öffentlichkeit für und
wider gewährt das Buch von Vogel einen reichhaltigen Überblick. Der Streit selber
wurde nach Jahren unter Friedrich Wilhelm dem Vierten nur der Form, nicht
der Sache nach zugunsten des Staates beigelegt, aber seine bleibende Folge war
die Organisation einer starken katholischen Oppositionspartei im Rheinland, die
es verstand, wachsenden Einfluß in der Öffentlichkeit zu erlangen. Die vierziger
Jahre find eine Zeit hochgehender nicht nur politisch-sozialer, sondern auch
religiöser Leidenschaften. In Preußen machte die Bewegung der protestantischen
„Lichtfreunde" von sich reden; in Leipzig kam es 1845 zu einer blutigen
Demonstration des protestantischen Volkes gegen den katholischen sächsischen Hof;
und in der deutsch-katholischen Bewegung glaubten viele Gegner Roms eine
neue Reformation und den endgültigen Sturz der Macht des Papstes über
Deutschland zu erkennen. Auf der andern Seite hielt der Katholizismus bei
der Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier 1844 seine erste große Heerschau
ab und brachte sich in der öffentlichen Meinung immer stärker zur Geltung.
Wichtige Preßorgane für ihn wurden nach dem Mainzer „Katholik" die Münchner
„Historisch-politischen Blätter", vom Görreskreis herausgegeben, und die Aschaffen-
burger „Katholische Kirchenzeitung". Im Rheinland viel gelesen wurde die
„Luxemburger Zeitung". Die rheinischen Katholiken versuchten lange Zeit ver¬
gebens, sich eine eigene Tageszeitung zu verschaffen. Die Regierung versagte
zu jeder Neugründung die Konzession, und die bestehenden Blätter waren Re¬
gierungsorgane oder hingen der liberalen Partei an. Eine Zeitlang wurden
große Anstrengungen gemacht, die liberale „Kölnische Zeitung" zu gewinnen.*)
Es glückte aber weder im Guten noch durch Boykott, und so mußten die
rheinischen Katholiken zufrieden sein, wenn sie in der Koblenzer „Rhein- und
Moselzeitung" wenigstens ein kleines Lokalblatt für ihre Sache erobern konnten.
Diesem dadurch zu ungeahnter Bedeutung gelangten Blättchen hat Friedrich
Mönckmeier eine wissenschaftliche Monographie gewidmet, die frisch geschrieben
und auch für Nichtspezialiften lesbar ist („Die Rhein- und Moselzeitung"..
Studien zur rheinischen Geschichte IV, A. Marcus und E. Weber ^Or. Albert
Ahn^, Bonn 1912). Der eigentliche Aufschwung der katholischen Presse konnte
erst 1848 beginnen. Über ihre Geschichte unterrichtet im Zusammenhang die
große, noch nicht abgeschlossene Biographie, die Dr. Karl Bachem seinem Vater,
dem katholischen Zeitungsmann Josef Bachem in Köln, geschrieben hat.
Das Jahr der deutschen Revolution ist auch für den parteipolitischer
Katholizismus von überragender Bedeutung. Dieses Thema behandelt die letzte
Untersuchung, auf die ich hier hinweisen will, die Schrift von Franz Schnabel
„Der Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre
1848" (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Heft 29,
Carl Winter, Heidelberg 1910). Der Katholizismus verstand es, im rechten
Moment auf den Boden der Errungenschaften der Revolution zu treten, und
der Episkopat erwies sich dabei als sicherer Führer, voran der diplomatisch hoch¬
begabte Erzbischof Geißel von Köln. Schnabel gibt einen Überblick über die
Taktik der katholischen Partei bei den Wahlen und im Parlament und über
ihre Erfolge. Am interessantesten liest sich die Schilderung der Charakterköpfe
des „katholischen Vereins" in Frankfurt, einer Elite, deren Gedankenreichtum
man mit Genuß studiert, und dessen mannigfaltige geistige Struktur einem die
Großartigkeit der einen Macht der Kirche, die alle diese sonst weit auseinander¬
strebenden Köpfe in ihrem Banne hielt, nur um so eindringlicher vor Augen
führt. Neben Kirchenfürsten wie Geißel und dem Fürstbischof Diepenbrock
von Breslau saß hier Radowitz, der unergründliche Freund Friedrich Wilhelms
des Vierten, neben dem Grandseigneur Fürsten Felix Lichnowsky der Tiroler
Bauernagitator Beda Weber, neben dem rheinischen Juristen August Reichens-
perger die Bayern Sepp und Döllinger, die später altkatholisch gewordenen
geistigen Erben des großen Görres. Und keineswegs waren es nur geborene
Söhne der Kirche, die hier ihrem religiös-politischen Ideal ihre Dienste weihten.
Es ist charakteristisch für die gesamte neukatholische Bewegung, daß zahlreiche
Konvertiten, also Männer, die sich vom protestantischen Geistesleben unbefriedigt
abgewandt hatten, in ihrer vordersten Reihe standen. Von ihnen finden wir
hier Georg Philipps aus der Stadt der reinen Vernunft, jetzt einer der kon¬
sequentesten Kämpfer für die absolute kirchliche Idee. Protestant war damals
noch der Historiker Gfrörer, ehemaliger schwäbischer Stifter, ein leidenschaft¬
licher Schwärmer für die Staats- und Kircheneinheit des Mittelalters. Er hoffte
auf die Wiedervereinigung der Konfessionen, und erst als er diese Hoffnung
verlor, wurde er Katholik. Bis an sein Lebensende blieb Lutheraner Gfrörers
Gesinnungs- und Fachgenosfe Friedrich Böhmer, ein Sohn der Reichsstadt
Frankfurt, allen Freunden des deutschen Mittelalters wohl bekannt als der
Herausgeber der Regesten der deutschen Kaiserzeit. Er ist ein Vertreter jenes
historisch gerichteten Luthertums, das an dem Bewußtsein der heiligen geistigen
allgemeinen Kirche im Sinne des dritten Artikels und an der sakramentalen
Heilsvermittlung festhält und sich darin manchmal dem Katholizismus ver¬
wandter fühlen kann als dem, was sich sonst noch protestantisch nennt; jenes
Luthertums, das sich auf den Luther des Marburger Religionsgesprächs berufen
kann, der zu dem religiösen Individualisten Zwingli sagte: „Ihr habt einen
anderen Geist als wir!" So ist der Lutheraner Böhmer mehr noch als alle
Konvertiten ein Zeuge dafür, daß die Bedeutung der neukatholischen Geistes¬
bewegung hinausreicht über die Grenzen der speziellen römisch-katholischen Kon¬
fession.
Damit kehrt unser Aufsatz zu seinem leitenden Gedanken zurück. Gelingt es
durch Erkenntnis katholischer politisch-kultureller Lebensvorgänge in protestantischen
Kreisen die Überzeugung ' zu befestigen, daß katholische Weltanschauung eine
gleichwertige und diskutierbare Sache sei, dann haben wir Aussicht, auf dem
Wege zu nicht nur politischer sondern geistiger Parität ein Stück voranzukommen
und der inneren Einheit des deutschen Volkes neue Wege zu ebnen. neidlose
gegenseitige Förderung der Konfessionen im Dienste des Vaterlandes, überall wo
es nicht auf Kosten der einen geht, ist eine Notwendigkeit unserer zukünftigen
Politik. So z. B. könnte man aus dem Buche von Schwahn über die
Beziehungen der katholischen Rheinlande zu Belgien die Anregung schöpfen,
neugeartete Beziehungen dieser ursprünglich verwandten Stämme nach dem
Weltkrieg anzubahnen. Im Bunde mit der katholischen Kirche können wir an:
ehesten hoffen, das heute verwelschte Belgien wieder zum Bewußsein seiner
germanischen Vergangenheit und zu einer inneren Annäherung an Deutschland
zu bringen. Man darf sich durch die deutschfeindliche Haltung des jetzigen
Erzbischofs von Mecheln nicht irre machen lassen. Seit den Tagen des Dichters
Hendrik Conscience ist doch das katholische Flandern die Stütze des germanischen
Bewußtseins in Belgien, und wenn wir die Kirche gewinnen, werden wir tiefer
in die Volksseele eindringen als nur durch den Einfluß der vlämischen Universität
in Gent und der Handelsinteressen von Antwerpen. Und so gibt es noch mehr
Stellen auf der Erde, wo nach dem Kriege das Interesse der katholischen Kirche
mit dem des Reiches Hand in Hand gehen wird. Unsere kulturellen Orientinteressen
lassen eine Annäherung der griechischen und orientalischen Christen an das
abendländische Geistesleben wünschenswert erscheinen, die nur mit Hilfe der
katholischen Kirche Aussicht auf guten Erfolg hat. Derartige Förderung der
römischen Kirche muß auch dem protestantischen Publikum am Herzen liegen. Sie
ist aber nur möglich, wenn man ihr nationale Leistungsfähigkeit zutraut, und
ich meine, daß man dieses Zutrauen durch Studium des Geisteslebens und der
Geschichte der deutschen Katholiken befestigen kann. Darum möchte dieser
Aufsatz ernsthafte und wenn möglich liebevolle Beschäftigung mit dem Wesen
unserer katholischen deutschen Volksgenossen dringend empfehlen.
in in Frankreich vor dem heutigen Kriege überall bekanntes Bild
stellt eine entschlossen blickende Frauengestalt dar, die einem
sterbenden Soldaten sorgend die Waffe aus der Hand nimmt.
Die Worte: ()nana meine. Wenn auch, stehen bisweilen unter
dieser beliebten Darstellung. Wenn auch der einzelne dahinstarb,
der Sieg noch nicht errungen wurde — ()nana-meine — die große Idee
einer restlosen Vergeltung erlittener nationaler Schmach wird auf leisen Flügeln
durch viele Generationen hindurch einer hoffnungsvollerer Zeit entgegengetragen.
An allen Stellen, wo völkische Kraft erweckt und der Gedanke an das ruhm¬
reiche Frankreich wachgehalten werden soll, erscheint im Geiste oder durch
Flammenschrift an der Wand der Öffentlichkeit gezeichnet das stolze Wort:
()u3ne!-meme. Nicht zuletzt muß die spezifisch-militärische Jugendvorbereitung
in Frankreich als ein günstiger Faktor zur Erlangung nationaler Wehrkraft im
Sinne dieses Trostspruches gedeutet werden. Schon kurz nach 1370 setzten
Bewegungen dieser Art ein, und diese Strömungen flössen aus den volkstüm¬
lichen Turm- und Schützenvereinen in die breiten Massen des Volkes hinein.
Die militärischen Dienststellen blieben zunächst stumm und gaben vor dem
Jahre 1900 keinerlei Weisungen über Inhalt und Form einer Wehrerziehung.
Aber von diesem Zeitpunkt ab findet diese militär-püdagogische Frage innerhalb
der gesetzgebenden Körperschaften eine sehr deutliche Beachtung. Als oberstes
Gesetz spricht ein ehemaliger Kriegsminister die planvolle Fortführung der
moralischen und körperlichen Betätigungen der ersten Jugendjahre mit dem
Wunsche aus, daß die allgemeine Körperkraft der Rekruten durch die Vor¬
übungen so gefördert werden möchte, daß in Zukunft die Krankenhäuser nicht
so sehr überhäuft werden durch die große Zahl derer, die sich den Anstrengungen
der ersten Ausbildungsmonate nicht gewachsen zeigen. Die Betonung soldatischer
Tugenden im Werdegang des jugendlichen Gemüts soll jeder antimilitaristischen
Propaganda von innen heraus entgegenarbeiten. Man kann bei der Lektüre
des Originaltextes sich des Eindrucks nicht erwehren, daß von der französischen
Jugendbewegung auch eine wirksame Eindämmung antimilitaristischer Zeit¬
strömungen erhofft wird. Es gehen die in neuerer Zeit sehr beachtenswerten
Bestrebungen außerdem dahin, ein großes und in der Welt geachtetes, allen
Forderungen und Schicksalsfällen gewachsenes Frankreich dadurch zu erzeugen,
daß die Jugend die erste Grundlage eines Volkes in Waffen bildet. Die
militärische Vorbereitung soll in einem Alter beginnen, wo der junge Mann
kräftig genug ist, eine Waffe zu tragen. Die Republik gilt für alle Zeiten als
unbesiegbar, wenn vor der aktiven Dienstpflicht und nach der Entlassung aus
dem Heeresverband der Franzose sich im Schießen und Turnen ohne Unter¬
brechung übt. Damit ergibt sich ein Volksheer, das neben dem Charakter der
stehenden Streitkräfte noch die dauernde Übung nach schweizer Art in sich birgt.
So war ein guter Boden theoretischer Erkenntnis für das wertvolle Samenkorn
einer praktischen Verwirklichung gegeben.
Die ersten Schritte waren durch die Gesetze vom 27. Juli 1880 und vom
28. März 1882 erfolgt, die einen gesetzlichen Turnunterricht in allen Staats-,
Gemeinde- und Kreisknabenschulen einführten, gleichsam als Ausgleich für die
schon früher von fünf auf drei Jahre verkürzte Dienstzeit. . Im Jahre 1882
vollzog sich die Organisation der sogenannten Schülerbataillone (batailions
LLoIail-e3). die jedoch wegen ihrer rein militärischen Eigenart innerhalb der
Jugend niemals Begeisterung erwecken konnten. Den stärksten Antrieb erhielt
die Frage mittelbar durch das Gesetz über die zweijährige Dienstzeit vom
21. März 1905. Der Artikel 94 kündigt ein besonderes Gesetz über die
Jugendvorbereitung an. Darin soll eine gleichmäßige Turnausbildung auf
allen Schulen verlangt und zugleich der Ausbau einer militärischen Jugend¬
organisation für alle jungen Leute zwischen 17 und 20 Jahren gegeben werden.
Schon im Jahre 1903 wurde durch die Initiative des damaligen Kriegs¬
ministers Andr6 denjenigen Jungmannen nach vier Monaten aktiven Dienstes
Beförderungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt, die eine erfolgreiche Teilnahme
an einem durch ministerielle Verfügung aufgestellten Lehrgang nachzuweisen
imstande waren (Lertikjcat 6'aptituä-z militaiie). Das Gesetz über die zwei¬
jährige Dienstzeit (1905) berücksichtigte in seinem Artikel 50 das „Lei-tikieat
ä'clptituäe mititairL", indem die mit dieser Bescheinigung versehenen Achtzehn¬
jährigen eine dreijährige Verpflichtung „le äevancement ä'appel" eingehen
konnten mit der Aussicht, schon nach zwei Jahren entlassen zu werden, wenn
sie späterhin eine Reihe festgelegter Übungen ableisten. Die Begünstigungen
und die Zugkraft dieser Bestimmung lag in der Möglichkeit einer frühzeitigen
Erledigung der Heerespflicht, ein Umstand, der im Getriebe des wirtschaftlichen
Lebens Vorteile bietet. In der Folge gab ein Rundschreiben des Kriegs¬
ministeriums vom 19. Februar 1907 Wege an für die Durchführung des
Schießunterrichts an den Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten. Mit der
größten Sorgfalt sollen geeignete Unteroffiziere als Lehrpersonal ausgewählt
und der ganze Lehrgang durch einen Offizier geleitet und überwacht werden.
Inzwischen hatten sich in den verschiedensten Landesteilen Gesellschaften zur
praktischen Förderung der militärischen Vorbereitung gebildet. (LvLiötes as
pi^Mration union-e). Eine ministerielle Äußerung vom 7. November 1908
gibt diesen Gesellschaften amtliche Richtlinien für die Organisation und den
Dienstbetrieb an und bestimmt die von dem jungen Franzosen zu fordernden
körperlichen und militärischen Fähigkeiten, wenn auf die Erlangung des Be¬
fähigungszeugnisses, des „bi-epee 6'aptituäe". Wert gelegt wird. In dem
gleichen Schriftstück erhalten die von der Regierung anerkannten Gesellschaften
neben einer Anzahl Berechtigungen das Anrecht auf die Namensführung:
„LociötßL ÄZAröe8 par le (Zouvörnement", mit der gekürzten Bezeichnung
3. Q. Der auffallendste Markstein aus dem Wege zur Förderung der Wehr-
haftigkeit der französischen Jugend ist in dem Gesetzentwurf vom 5. Juni 1908 zu
erblicken, der den Landständen die Einführung einer gesetzlichen Verpflichtung zur
Teilnahme an den Übungen der militärischen Vorbereitung sür alle Jugendlichen
eines bestimmten Altersabschnittes vorschlägt. Der in Frankreich sehr häufige
Wechsel der Ministerien hat den Vorschlag noch nicht zum Gesetz werden lassen;
jedenfalls aber war die öffentliche Meinung durchaus für einen solchen Gang
der Dinge, und es ist mit größter Sicherheit anzunehmen, daß nach dem Kriege
die Würfel in dieser Richtung fallen werden. Immer deutlicher gaben die
Regierungskreise ihre hohe Wertschätzung einer militärischen Jugendvorbereitung
durch die Einführung weiterer Vergünstigungen kund. Das Gesetz vom
7. August 1913 verlieh den Besitzern des „LsrtMcat ni'aptitucle militaire"
insofern einen noch nachdrücklicheren Vorteil, als sie den Truppenteil wählen
können, bei dem sie mit dem achtzehnten Lebensjahr die dreijährige Verpflichtung
des „tZevancsment ä'appel" eingehen wollen. Im Jahre 1913 ging Frank¬
reich unter dem Druck Rußlands wieder zur dreijährigen Dienstzeit über; trotz¬
dem wurde an dem Ausbau der militärischen Jugendvorbereitung eifrig weiter¬
gearbeitet. Man sah die großen Vorteile einer körperlichen Vorbildung wohl
ein, man freute sich unter den Besitzern des „brevet a"aptitu6e militaire"
geeignete Anwärter für die niederen Chargen zu finden, und man hoffte nicht
zuletzt auf dieser Bahn die nationale Flut ins Steigen zu bringen. (I^a
pr^paration miliwire entrstient äans le peuple et clam8 les eng,88C8 Je3
VI-M8 3meinend8 6e patnoti3ins). Durch eine Bestimmung vom 15. Oktober
1913 wurden in allen einundzwanzig Armeekorpsbezirken Posten im Range
von Divisionsgenerälen geschaffen, denen außer den Reserveformationen die
militärische Jugendorganisation ihres Bezirks unterstellt wurde. Diese Offiziere
leiten in militärischen Fragen die 3. 0. und die Schießvereine ihres Korps¬
bezirks. Dadurch haben sich Regierung und Kriegsministerium einen starken
Einfluß auf die Entwicklung dieses Wehrproblems gesichert. Es ist auffallend,
mit welcher Begeisterung die Bürger sich überall zu Vereinigungen im Sinne
der Regierungsbestrebungen zusammenscharten. Zu Hunderten wuchsen Gesell¬
schaften aus dem französischen Boden hervor. Sie vereinigten sich unter dem
Einfluß der allgemeinen großen Idee einer Steigerung der nationalen Volkskraft
und stark durchdrungen von dem Hoffnungsspruch „l)nana-meme" zu einem
mächtigen Verbände „8vU8 Is tiers uniqus ä'llnion ass 80Li6es8 cle prö-
parstion miliwire su Trance".
Ihr klar umrissenes Programm legt auf die Schießübungen mit dem
Jnfanteriegewehr einen ganz besonderen Wert. In zweiter Linie wird die
Marschfähigkeit und die Förderung der physischen Gewandtheit betont; alles aber
wird umwoben von dem häufigen Hinweis auf die Erhaltung und Mehrung
des militärischen Geistes, glühender Begeisterung und selbstloser Vaterlands¬
liebe. Im praktischen Betrieb wird den verschiedensten Faktoren wie Klima,
Landessitten, Berufsleben, körperliche und geistige Vorbildung Rechnung ge¬
tragen. Eine Übung wöchentlich von höchstens zwei Stunden (außer bei
Märschen) soll die Regel bilden. Als gewöhnliche und praktischste Versamm¬
lungszeit wird erfahrungsgemäß ausdrücklich der Sonntag genannt. Im
Oktober und November werden Turnen, militärische Einzelausbildungen und
die den Schießdienst vorbereitenden Übungen berücksichtigt. Die Monate des
Winters und des ersten Frühjahrs sind theoretischen Unterweisungen über die
Schießlehre, das Kartenwesen, die staatsbürgerliche Erziehung, die Körperpflege,
die Folgen des Alkoholgenusses und der Geschlechtskrankheiten, die französische
Kolonialmacht und den Krieg 1870/71 zugedacht. Von Mitte März oder
April ab sollen die praktischen Tätigkeiten des Schießdienstes, des Kartenlesens
im Gelände, der Geländcbeurteilung und Geländebenutzung und der Übungs-
mürsche in den Vordergrund treten. Schieß- und Marschdienst wird mit
großem Nachdruck für diejenigen jungen Leute regelmäßig abgehalten, die im
Oktober des laufenden Jahres eingezogen werden. Als eine besonders wichtige
Aufgabe der Führer gilt das Erforschen und die Beeinflußung der jugendlichen
Seele, damit eine mutige, vaterlandsliebende, kameradschaftlich fühlende, an
Gehorsam und soldatische Zucht gewöhnte Jugend über die Schwelle der Armee
tritt. Eine Reihe von Sportausübungen (Radfahren, Schwimmen, Skifahren,
Schlittschuhlaufen, Ballspiele, Degenfechten und Bogenschießen) sollen eine über
dem Durchschnitt stehende Geschicklichkeit und vielseitige Körperausbildung er¬
zeugen. Zur Abwicklung des ganzen Programms werden nach französischer
Meinung ungefähr drei Jahre, mindestens aber zwei Jahre nötig sein. Für
die Zweige der Schießausbildung werden auch für den begabten und ge-
schickten Schüler mindestens zwei Ausbtldungsjahre gefordert. Es erscheint
vielleicht in diesem Zusammenhang nötig, darüber nachzudenken, ob das in
Frankreich geübte Bogenschießen nicht auch eine gute Augengewöhnung und
Zielübung für die deutsche Jugend werden könnte. Das französische Programm
ist von Anfang an dadurch auf eine breite und sehr volkstümliche Basis ge¬
stellt worden, daß neben den eigentlichen Vereinen zur militärischen Jugend-
Vorbereitung fast jeder Turm- und Schießverein eine, sagen wir einmal, be¬
sondere Wehrabteilung besitzt. (Sections annexöe8.) Wenn auch in Deutschland
aus der Schöpfungskraft unserer Turm- und Schießvereine vereinzelt Ähnliches
hervorgegangen ist, so dürfen wir nicht vergessen, daß in Frankreich alles dies
unter der unmittelbarsten Leitung und Aufsicht der Regierungsbehörden und
militärischer Dienststellen vor sich geht.
Was in der emsigen Tätigkeit der Vereinigungen aller Art in den sehr
methodisch aufgebauten Lehrgängen erreicht wird, tritt alljährlich bei der Ab¬
nahme des brevet et'aptitucie militaiie vor den Augen der maßgebenden
Faktoren in die Erscheinung. In der Tat ist der Besitz dieses Prüfungs¬
zeugnisses für die Armee und den jungen Franzosen von erheblichem Nutzen.
Es setzt ihn in den Stand, ein „Zevancement d'appel" einzugehen und läßt
ihn auch bei normalem Eintritt innerhalb seiner Jahresklasse einen Truppenteil
Auswählen. Im Truppenverbande selbst haben alle Träger des brevet
6'aptltuäe das Anrecht auf eine Beförderung zum Korporal oder Brigadier
schon nach 4 Monaten. Auch bei besonderen Verwendungen als Musiker oder
Radfahrer erhalten die Geprüften das Vorrecht. Die Prüfungskommissionen
bilden sich bei den einzelnen Truppenteilen, sie bestehen aus aktiven Offizieren,
z. B. aus einem Major, einem Hauptmann und einem Leutnant. Die Prü¬
fung kann auch nach dem Eintritt ins Heer, in den ersten zehn Tagen nach
der Einstellung abgelegt werden. Die Mehrzahl der Kandidaten melden sich
jedoch schon vor dem 1. Juni ihres Einstellungsjahres. Zwischen dem 1. und
31. Juli finden dann die Prüfungen statt. Die verlangten Leistungen dieses
Examens sind wohl zu beachten. Die Notengebung als Urteilsmaß ist in der
folgenden Stufenleiter festgelegt:
Das Zeugnis wird nur denjenigen ausgehändigt, die keine Zensur unter
7 erhalten und mindestens die Punktzahl 700 erreichen. Jede Note wird mit
einem dem Dienstzweig eigenen Koeffizienten multipliziert. Die Summe aller
dieser Teilprodukte ergibt die Punktzahl. Die meisten Übungen werden von
allen Prüfungen gleichmäßig gewünscht. In einzelnen Zweigen tritt schon
eine Teilung ein zwischen den Anwärtern für die Fußtruppen und denjenigen
jungen Leuten, die ein Examen für den Dienst bei berittenen Formationen
abzulegen gedenken. Die späteren Jnfanteristen müssen zwei Märsche von je
24 Kilometern, ohne Waffe und Belastung in weniger als sechs Stunden —
den zweiten vierundzwanzig Stunden nach dem ersten —, ausführen. Die der
Marschleistung entsprechende Punktzahl kann von zehn auf zwanzig erhöht
werden, je nachdem der Prüfung imstande ist, fünfzehn Minuten nach dem
Ende des zweiten Marsches eine Reihe von Hindernissen zu nehmen, deren
Zahl und Beschaffenheit neben der allgemeinen Verfassung des Körpers nach
dieser Anstrengung die Höhe der Zusatzpunkte über der Normalzahl zehn be¬
stimmen. Für die Prüflinge der berittenen Truppengattung wird an Stelle der
Marschtüchtigkeit eine gewisse Reit- und Leitfähigkeit in allen Gangarten, aber
nur in der Reitbahn verlangt, verbunden mit einigen Kenntnissen über den
Bau und die Pflege des Pferdes. Beiden Gruppen gemeinsam und in dem¬
selben Grade wird die Schießprüfung abgenommen. Nach zwei Probeschüssen
müssen in fortlaufender Reihe je sechs Kugeln im stehenden, knieenden und
liegenden Anschlag abgefeuert werden. Scheibenart (Achsenscheibe) und Scheiben¬
größe (zwei Meter im Quadrat) sind vorgeschrieben. Eine feste Schußweite ist
nicht angegeben. Sie regelt sich vielmehr durch die Festsetzung, daß der Durch¬
messer des um den Mittelpunkt des Achsenkreuzes gelegten schwarzen Schie߬
blechs ein Tausendstel der Schießdistanz betragen muß. Zwei Kreise, von
denen der größere ein Zweihundertstel der Entfernung des Schützen als Durch¬
messer hat und ein kleinerer, der nur halb so groß ist, teilen die Scheiben¬
fläche in verschiedene Abschnitte ein. Die Bewertung ist nach allen möglichen
Abstufungen geregelt. Die Punktzahl 20 wird stets gegeben, wenn alle
achtzehn Treffer innerhalb des kleineren Kreises liegen. Eine theoretische
Wissensprobe über die allgemeine Theorie des Schießens, der Flughahn, die
Visierlinie. die Abgangsrichtung und Schußweite, die Bedeutung und An¬
wendung der Visiereinrichtung beschließt diesen Teil der Rekrutenprüfung. Im
weiteren Verlauf werden sechs verschiedenen Gruppen entnommene Freiübungen
geprüft. Je ein Lauf von 60 Metern in 10 Sekunden und von 2 Kilometern
in 10 Minuten, ein Weitsprung von 3,20 Metern, ein Hochsprung von 1 Meter,
beide ohne Sprungbrett und mit beliebigem Anlauf, sollen die allgemeine
physische Verfassung und die erreichte Stufe körperlicher Geschicklichkeit zeigen.
Die folgenden Prüfungsstoffe beziehen sich auf die Grundlagen eines an¬
gewandten Turnens im Gelände. Die Muskelstärke der Finger, der Hand¬
gelenke und der Arme wird durch Hangeln am Doppeltau bis zu 5 Meter
Höhe und einige leichtere Übungen am Reck nachgewiesen. Wert legt man in
Frankreich aus die Pflege des Boxens, von dem im Rahmen des brevet
et'aptitucZe Arm- und Beinstoß mit der entsprechenden Abwehr gefordert wird.
Mit diesen ziemlich vielseitigen Examensgegenständen ist die praktische Prüfung
beendet. Aber noch ist der junge Mann nicht am Ziel: er muß weiterhin
Sinn und Anwendung des Kartenmaßstabes und die einfachsten Regeln der
Projektionslehre erklären können. Nur ein genaues Verständnis der Dar¬
stellung von Geländeformen durch Schichtlinien und Schraffierungen kann ihm
bei den auf diesem Gebiete nicht geringen Anforderungen eine gute Note ein¬
bringen. Endlich soll der junge Franzose mit den Grundlagen einer gesunden
Lebensführung im allgemeinen und mit all den Maßregeln vertraut sein, die
im soldatischen Dienst bei großen Anstrengungen oder starken Einflüssen des
Klimas und der Witterung beachtet werden müssen. Im Prüfungsplan der
Gesundheitslehre stehen ausdrücklich Vorbeugung und Bekämpfung der ver-
breitetsten Volksseuchen, wie Tuberkulose, des Alkoholmißbrauchs und der Ge¬
schlechtskrankheiten. Es steht außer Frage, daß die erfolgreiche Ablegung
dieser Wehrprüfung planmäßige Vorübungen in allen Zweigen und eine ernste
Zusammenarbeit von Körper und Geist voraussetzt. Gewandt als Soldat ist
der Franzose, der mit einer solchen körperlichen Durchbildung und geistigen
Schulung in den Verband des Heeres eintritt.
Bei einer Anerkennung dieses geistvollen, mit praktischer Voraussicht und
fachmännischer Klugheit entwickelten körperlichen Übungssystems auf militär¬
pädagogischer Grundlage für den Bereich der landsturmpflichtigen französischen
Jungmannen müssen wir zugleich die neueren Bestrebungen auf diesem Gebiete
voll würdigen, die in Unterricht und Schrift die Bedeutung der moralischen
Pflichten des werdenden Mannes der Jugend eindringlich zu Gemüte führen.
Dem französischen Jüngling wird klar gemacht, daß nicht kriegerische Absichten
die Richtung des Strebens nach Wehrmacht bestimmen, sondern ein Festhalten
des ideellen, durch die hohen Grundsätze der französischen Revolution geschaffenen,
tiefgehenden Einflusses des französischen Gedankens in der Welt. Die Erinnerung
an trübe Zeiten bedingt eine ständige Stählung nationaler Kraft. „I^on8
ce>n8ervon8 le 8c>uvenil- ac no8 6ouleur3, ac ahme que non8 con8erv0N8
Lslui nie I'inkluenLe kranLAl8L, qui g, kaltes Ä et-avsr3 le nouae Je8 Arara3
prinLlpe8 ac la Kövolution . . . Die Soldatenzeit muß eine mit Stolz
getragene staatsbürgerliche Pflicht sein. Manneszucht geht aus dem Pflicht¬
gefühl und der Vernunft hervor und gründet sich auf die Einsicht der notwendigen
Bedürfnisse eines in glorreicher geschichtlicher Entwicklung in Besitz. Geist
und Würde groß gewordenen demokratischen Staatswesens. Zudem verlangt
das völlige Schwinden des ganz instinktiv begeisternd wirkenden Masseneinsatzes
der Truppe auf kleiner Fläche aus den Methoden moderner Kriegsführung
und der Vereinsamung des Soldaten im heutigen Gefecht eine so weitgehende
äußere und besonders innere Durchbildung des einzelnen, daß schon im Gange
der militärischen Vorbereitung auf die große Wichtigkeit selbständigen Handelns,
auf die Kraft starker Willenstätigkeit und gesicherter sittlicher Stärke mit Nach¬
druck hingewiesen wird. Siegesgewißheit dank einer Überlegenheit des „esprit
kranca,i8" soll Wille, Herz und Sinne mit republikanischen Geiste erfüllen,
um gegen jeden Gegner und überall das Vaterland zu verteidigen. Gründlich
erfaßt, werden diese Faktoren durch die >,L. ^. O." in die Landesteile
getragen, von allen Behörden kraftvoll unterstützt. Und um die volle Sicherheit
solcher Lehrrichtungen zu verbürgen, werden in dem für die Hand der Jugend
bestimmten, von einem Stabsoffiziere verfaßten Leitfaden Sinn und Bedeutung
der sittlichen Grundlagen der Menschenpersönlichkeit leicht faßlich und sehr aus¬
führlich behandelt.
Zu einer nach der Auffassung maßgebender deutscher Kreise zu starken
Neigung verfrühten Anlernens bestimmter Militär-technischer Formen und der
mustergültigen Berücksichtigung ethischer Einwirkungen auf das junge Gemüt
kommt als dritter Pfeiler, auf denen das Gebäude der militärischen Vorbereitung
ruht, die bewußte Pflege der Idee einer historisch begründeten staatsbürgerlichen
Erziehung (öäucation civiqus) hinzu. Das jugendliche Verständnis in staatlichen
Angelegenheiten soll mit der wörtlichen Kenntnis der 17 Artikel umfassenden
Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte durch die konstituierende Versamm¬
lung vom 6. August 1789 eingeleitet werden. Solcherlei Worte machen auf das
empfängliche Gemüt des Jünglings tiefen Eindruck, und er wird mit innerster
Begeisterung diesen frischen Hauch der nationalen Geschichte in sich aufnehmen als
einen heiligen Ansporn zur Erhaltung und Festigung dieser sturmumbrausten Ge-
danken seiner Ahnen. So wird eine in milderen Farben leuchtende Vergangenheit
sinnreich verknüpft mit den Forderungen des Tages, das geistige Schwert der
Jugend geschärft, die vaterländische Saite zum Klingen gebracht und der junge Fran¬
zose in den Verteidigungsdienst einer hehren Sache gestellt. Die mehr praktischen
Fragen über die Regierungsformen, die gesetzgebende Macht, die ausübende
Gewalt und die Gerichtsbarkeit werden in einer dem französischen Wesen
eigenen, klaren und lebhaften Darstellungsart für das Selbststudium zusammen¬
gestellt. Immer und überall der gleiche und starke Ausdruck der herrschenden
Staatsform und republikanischen Gesinnung. An die Betrachtung des Staats¬
lebens schließt sich die genaue Beschreibung der Heeresorganisation, der
Zusammensetzung der heimatlichen und kolonialen Streitkräfte, sowie des Ersatz¬
geschäftes an. Auch hier Weitsicht in Plan und Aufbau mit dem fernen,
dumpf, aber deutlich vernehmbaren Grollen des ()uancZ-nome.
in
zum Kampf in der Heimat!
Ruch dieser Kampf muß gewonnen werden.
Die lebte Hoffnung der Feinde: un5 finanziell
niederzuringen - werde zuschanden! Ve5lialb
muß jederWeutscheKrieg5anIeil?e zeichnen, so¬
viel er Kann - auch der Kleinste Getrag Kilst den
Krieg verkürzen! Kein Deutscher darf bei
dem Aufmarsch der Milliarden fehlen!
Rü5kunst erden» bereitwillig!! die nächste
Sank, Sparkasse, Mastanstalt, Lebensvec-
Iichecung5gelel!habille, Kreditgenossenschaft.Z
>le deutsche Lyrik hat zwar durch den Weltkrieg keinen überwälti¬
genden Aufschwung erfahren, aber sie hat sich den großen Ereig¬
nissen gewachsen gezeigt. Was die letzten Jahrzehnte sich an
neuen Gefühlswerten und Ausdrucksmöglichkeiten erobert hatten,
ist besonders unter dem mächtigen Eindruck des ersten Kriegsjahres
dem dichterischen Ausdruck des Erlebnisses zugute gekommen, sodaß ein vor¬
sichtiger Beurteiler wie Walter Breche*) der Kriegsdichtung unserer Tage nach¬
sagen durfte, daß sie hinter derjenigen früherer Zeiten, besonders etwa des
siebenjährigen und des Befreiungskrieges, geschweige denn des Jahres 1870/7-1
keineswegs zurückstehe. Aber diese Kriegsdichtung, an der auch deutsche Frauen
hervorragenden Anteil haben,**) ist doch nur zum kleinen Teil sangbar und
soweit volkstümlich gehalten, daß sie in den Mund des Volkes und zumal des
Heeres eindringen konnte. Von der Kriegsliederdichtung ist also die Betrach¬
tung des wirklich gesungenen Soldatenliedes wohl zu scheiden. Mit jenen wird
sich die zeitgenössische Literaturgeschichte vor allem zu befassen haben, mit diesen
die Volkskunde, aber auch die Kriegsgeschichte. Denn was und wie unsere
Soldaten singen, ist ein deutliches Kennzeichen für den Geist im Heere und
darum der steten Aufmerksamkeit unserer Heeresverwaltung gewiß.
Das Lied hält die Gesamtheit auf dem Marsche und im Lager zusammen,
es spinnt zarte und doch unzerreißbare Fäden zwischen der Front und der
Heimat, um derentwillen der Soldat im Felde steht, es dient aber auch un¬
mittelbar den Zwecken der kriegerischen Ausbildung. Schon 1870 war ein
trotz einer gewissen Neigung zur Phrase so unmittelbar packendes Lied wie die
„Wacht am Rhein" ein köstlicher Besitz, dem die Franzosen mit ihren Chansons
nichts gleichwertiges an die Seite zu setzen hatten. Der heutige Krieg aber
stellt doch noch ganz andere Anforderungen an die Nerven und an den mora¬
lischen Mut des einzelnen Mannes aus dem Volke. „Darum ist gerade heut
das Lied und seine Pflege für die Truppe so bedeutsam und insbesondere für
ihre Moral so wichtig. Einer Truppe, die frisch und gut, sowie rhythmisch
singt, bringt der höhere Vorgesetzte ohne weiteres Vertrauen entgegen. Daher
die Gesangsübungen im Heere, die auch jetzt im Kriege, wo es immer die
Verhältnisse gestatten, vor allem auch bei der Truppenausbildung, mit besonde¬
rem Eifer gepflegt werden. Da wird uns von Übungsplätzen hinter der Front
berichtet, daß es für schlechtes Singen Nachexerzieren gibt, und bei den auszu¬
bildenden Truppen übt man direkt Gesang im Marschieren, um Gesang und
Marschschritt zusammenzupassen." So faßt die Erfahrungen vieler Beobachter
aus den verschiedensten Dienstgraden und Stellungen einer der aufmerksamsten
und liebevollsten Beobachter des Volksliedes in seinem Werden und Wandern
zusammen — Professor John Meier in Freiburg i. B., der Leiter des großen
deutschen Volksliedarchivs, der erst kürzlich Aufrufe zur Verzeichnung der bei
unsern Truppen gesungenen Lieder in den wichtigsten Tagesblättern ausgehen
ließ,*) und der nun auf Grund des bisher gesammelten Stoffes im knappen
Überblick eine fesselnde und genußreiche Darstellung des „Deutschen Soldaten¬
liedes im Felde" gegeben hat.**)
Aus den reichen Mitteilungen, die dieser Darstellung zugrunde liegen,
entnehmen wir mit aufrichtiger Freude, daß es jener etwas gewaltsamen Auf¬
forderungen zum Singen an unsere Soldaten nur in den seltensten Fällen
bedarf. Im allgemeinen regt sich überall die deutsche Sangeslust und ermög¬
licht dem Kundigen einen unmittelbaren Einblick in die Seele und in die augen¬
blickliche Stimmung der Truppe. Dabei ist es ziemlich gleichgiltig, ob das,
was gesungen wird, auch an Ort und Stelle entstanden oder von sern oder
nah übernommen worden ist. Nur in den allerseltensten Fällen werden sich
unter den Soldaten selbst schöpferische Geister finden, die ein flottes, lebens¬
kräftiges Lied auf ein kriegerisches Erlebnis zu erfinden vermögen. Das meiste,
was von einzelnen oder von Gruppen gedichtet wird, geht wieder unter, sobald
sich der ursprüngliche Zuhörerkreis aufgelöst hat, es sei denn, daß die Gedichte
eine innere Bedeutung haben, die sie weit über den engen Kreis hinausträgt,
oder daß sie sich gleich an eine größere Gemeinschaft wenden. Das letztere
gilt von den Regimentsliedern, wie sie besonders einzelnen Offizieren gelungen sind:
So beginnt ein frischer Sang, den der Generalleutnant Freiherr von
Henning auf Schönhof nach einem alten Husarenliede gedichtet hat. das der
Regimentskoch zu pfeifen pflegte.
Weitaus die meisten Lieder sind älteren Herkommens, werden aber zum
Teil mit zeitgemäßen Abänderungen gesungen oder gar sehr frei erweitert
und mit einander verbunden. Die Art nun, wie die Soldaten unbewußt aus
der großen Masse des ihnen Überlieferten einzelnes auswählen und festhalten,
eröffnen dem Kenner tiefe Einblicke in die Seele unserer Feldgrauen. Man
würde sehr irren, wollte man glauben, daß unsere Soldaten viel von dem
Hurrakitsch sich aneigneten, der in den ersten Kriegsmonaten durch die Spalten
unserer Zeitungen ging; noch weniger aber pflegt der gemeine Mann das
getragene, vaterländische Lied im engeren Sinn des Wortes. Im Anfange
freilich, als Jünglinge der gebildeten Stände in Massen als Kriegsfreiwillige
zu den Fahnen eilten, da drang der Liedervorrat der Wandervögel, der Turn¬
vereine und der akademischen Verbindungen in die weitesten Kreise des Heeres
und niemals wird in Deutschland der ergreifende Tagesbericht an Schillers
Geburtstag 1914 vergessen werden, als ganze Regimenter, meist rheinische
Studenten, unter dem Gesänge „Deutschland, Deutschland über alles" die
feindliche Stellung bei Langemark erstürmten. Mit dem Zusammenschmelzen
dieser Art Rekruten und mit ihrer Abwanderung in die Offiziersaspirantenkurse
sind aber diese Töne allmählich verstummt, und der Gesang der Soldaten
spiegelt nun um so reiner jene Stimmung, mit der die große Masse unseres
Volkes in den Kampf zieht.
Hier und „vor allem bei den aus der Landbevölkerung stammenden Soldaten
haben wir nicht jenen Rausch der Begeisterung, wohl aber ruhige, stumme,
unwiderstehliche Entschlossenheit, die auf die Dauer mehr wert ist", wie
John Meier mit gesundem Verständnis sagt. Auch der Gesang dieser Kreise
will eben als Ganzes gewürdigt werden, zumal die einzelnen Lieder an Wert
hinter denen früherer Jahrhunderte zurückstehen. Alles, was mit dem wirklichen
Kampfe, ja mit dem Dienst überhaupt zusammenhängt, erscheint dem Soldaten
so handgreiflich nahe und so selbstverständlich, daß es zu keinem dichterisch-
musikalischen Ausdruck gelangt. Allenfalls werden nach glücklich überstandener
Gefahr, beim Abzüge aus schwieriger Stellung und in der Freude des Sieges
ganz vereinzelt vaterländische und geistliche Lieder, dann aber die eigentlichen
Soldatengesänge angestimmt, die den Stolz des Kanoniers auf seinen Truppenteil,
des Baiern auf seinen Kontingent zum Ausdruck bringen. Aber selbst diese
Lieder sind doch nur dann lebendig, wenn sie jene Töne anschlagen, die nun
einmal unserm Soldaten am nächsten liegen, sobald es ihm überhaupt ums
Singen zu tun ist. Man mag da über kitschige Sentimentalität und über eine
gewisse Gedankenlosigkeit oder gar Verrohung schmälen, wenn man will: was
aus der Tiefe des Soldatenherzens empordringt und ihn zum Singen zwingt,
ist immer wieder der Gedanke an die Heimat, an den Abschied und an das
Wiedersehn; wie beim Landvolk ertönen die schwermütigen Weisen vom Scheiden
und von verlorenem Glück gerade dann, wenn man zu einer gewissen gemütlichen
Fröhlichkeit gelangt ist und so schlägt denn auch die weiche Stimmung des Kriegers
gar leicht in ausgelassene Lustigkeit um. Daß damit das wirkliche Seelenleben
des Soldaten nicht erledigt ist, weiß jeder, der die Volksseele kennt, und unsre
Feldgrauen sind darum nicht um einen Gran untüchtiger in: Sturm und in
der Verteidigung gefährdeter Stellungen, weil sie vorher noch voll inbrünstiger
Sehnsucht gesungen haben:
Wo überhaupt religiöses Gefühl vorhanden ist, da ist es darum nicht
schwächer, weil unmittelbar auf einen ernsten Gesang wie „Ich bete an die
Macht der Liebe" ein lustiges Trinklied folgt; und die Liebe zum Landesvater
erleidet keinen Abbruch dadurch, daß ein Gesang zu seinen Ehren übergeht in
„Ein Prosit der Gemütlichkeit". Dennoch kann Meier treffliche Beispiele für
den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Stimmung und Lied aufbringen.
Ist es nicht ergreifend, was einer seiner Gewährsmänner berichtet: „Wir hatten
einige Male Wache auf der berüchtigten Höhe 60 vor Uvern; davor der
wunderbare Lillebeker See. Hier hörte ich zum ersten Male im Anblick des
vom Monde beleuchteten Sees das Lied ,Still ruht der See' singen mit einer
Heiligkeit, als wären es Engelsstimmen, . . . und doch waren es nur drei
deutsche Soldaten, die es sangen." Aber man darf sich eben nicht wundern,
wenn diese zarten Töne plötzlich in ihr Gegenteil umzuschlagen scheinen. „Es
findet dadurch die notwendige Entspannung des Gefühls statt, und deshalb
darf man sich über derartiges nicht aufregen."
Nach alledem, was wir da über die Auswahl der gesungenen Lieder
erfahren, kann es uns nicht wundern, wenn wir auch bei den merkwürdigen
potpourriartigen Neuschöpfungen von Gesängen durch Zusammensetzung bekannter
Weisen und Texte eine derartige Mischung von Erröten und Heiteren, von
hinschmelzender Sehnsucht und ausgelassener Lustigkeit oder Selbstironie an¬
treffen. Auf diese Weise wird eben die Gleichgewichtslage des Gefühls her¬
gestellt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das vielerörterte Lied: „Ich hatt'
einen Kameraden" mit der Gloria-Viktoria Fortsetzung, die nur ein Philister
und Pendant dem Soldaten meiden kann. Meier bringt gerade für dieses Lied
alles Erwünschte bei und greift von dem Einzelfalle immer wieder hinüber auf
die Bildungsgesetze des Volksliedes überhaupt, wo eine einzelne Strophe oder
ein Strophenteil, wenn auch in veränderter Fassung, zum Refrain erstarrt oder
wo eine von Hause aus recht anders geartete Weise etwas gewaltsam in den
Marschrhythmus gepreßt wird. So läßt sich der Abschnitt: „Gloria. Viktoria"
nach den Ermittlungen Max Friedländers auf ein 1864 verfaßtes Gedicht von
Georg Hesekiel („Preußens Gloria") zurückführen und die Phrasen von den
Vöglein im Walde und vom Wiedersehen in der Heimat stammen gewiß aus
irgend welchem andern Volksliede oder volksmäßigen Kunstliebe, das sich schou
noch wird aufspüren lassen. Die Vertonung dieser Zeilen aber klingt unver¬
kennbar an Knakes schönes Lied an: „Wo findet die Seele die Heimat, die
Ruh?", das wieder mit dem alten Weihnachtsliede: „Ihr Kinderlein kommet"
(weiterhin auch mit der englischen, ursprünglich aber sizilianischen Melodie:
„l-lomo, sweet Kome") zusammenhängt! Und die Auflösung in den Takten:
„Die sangen so wunder-wunderschön" scheint wieder auf ganz andern Ursprung
hinzuweisen, denn sie erinnert bedenklich an das studentische: „Bei uns gehts
immer haste nicht gesehn". Aber weiter im Text! Der Gedanke des „Wieder¬
sehens" will weiter ausgeführt werden und so kommt aus einem andern Liede
der berlinische Refrain hinzu: „Wer weiß, ob wir uns wiedersehn, am grünen
Strand der Spree", nach einer Lieblingsmelodie des Soldaten: „Ich schieß
den Hirsch im wilden Forst". Und beim Wiedersehen denkt der Soldat an
den Abschied von Hause und sofort stellt sich ein anderer sentimentaler Strophen¬
teil ein, dessen Vorgeschichte man bei Meier nachlesen möge:
Aber schon ist es der Traumseligkeit zuviel. Die Stimmung des Soldaten
überschlägt sich und das Ganze endet mit einer tollen Kapriole:
... wenn es nicht noch gröber kommt! Für den, der das Volk kennt, be¬
deuten diese Gesänge keine Entartung, sie entsprechen nur der besonderen Lage,
in die das Volkslied unter militärischen und zumal unter kriegerischen Verhält¬
nissen gerät. Alles, was wir sonst über Ungleichungen, über das Zersingen
und Verschmelzen, über das Umdichten und Variieren, über Aufbau und Ver¬
fall von Volksliedern hören, nimmt hier oft geradezu groteske Form an und
doch verrät es allenthalben den Pulsschlag des Volkes, dessen bester und ge¬
sundester Teil ja gerade draußen in den Schützengräben und auf den stolzen
Schiffen unserer Flotte steht. Nur keine Sorge, daß über der scheinbaren
„Entartung" im Kriege das Volkslied „eingehen" könnte: unsere Krieger
werden mit derselben, ja vielleicht mit noch größerer Liebe wie früher zum
echten Volkslied zurückkehren, wenn ihr kühnes Ringen den verdienten Erfolg
gefunden haben wird.
Und wenn es dazu kommt, so wollen wir dankbar eines Bundesgenossen
gedenken, der einen nicht geringen Teil am Gelingen hat, des „deutschen
Soldatenliedes im Felde".*)
Alle« Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bet Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werde» linn.
v»-. MOtt/^ST'
IN vlireii
!. UecKlb. am Uüritxsee -—
Sclmelle gewissenliakte Vorbereitung tur ale LinMrigen-, ?rims- u. KeiteprütunZ
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Homere privatsLNule mit Internat i^x. Xe. VI—II).
Leiäe /mswlten 2>visLnen V/asser unä XV^Ja ssnr Zesunä ZelsZen.
Kesonäers tur Zeliüler, alle spe^. I^öräerunA unä Obnut beciürken.
Qrünäliener I^nterricnt in Kleinen Klagen uncl Kursen. Vor^uAliene
VerpfleZunZ. - Nan verlange Prospekt.
edesmal. wenn Deutschland zu einer neuen Anleihe schreitet, geben
sich die „Sachverständigen" in London und Paris redliche Mühe,
im „Economist" und „Economist europöen" nachzuweisen, daß wir
vor einer finanziellen Katastrophe stünden. Zweierlei Hoffnungen
werden eben auf dem anderen Ufer gehegt: daß wir entweder
finanziell oder ökonomisch zusammenbrechen. Oder beides zugleich. Erst am
29. August brachte der „Telegraaf", dessen Abhängigkeit vom England-
blvck bekannt ist, einen Aufsatz über Deutschlands neue Ernte, dessen Schlu߬
sätze die bestimmte Erwartung formulierten, daß die Ernte von 1917 un¬
bedingt den Zusammenbruch Deutschlands bringen müsse. Es fehle an Kunst¬
dünger, besonders an Stickstoff, ferner reichten auf die Dauer die Arbeitskräfte
nicht aus, um den notwendigen Umfang der Produktion aufrechtzuerhalten.
Die Rechnung ist ja nicht neu, und wir wissen auch, wie sie entstanden ist.
In England sind Auszüge aus den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche
Reich in Übersetzungen verbreitet, die dartun sollen, daß Deutschland unter allen
Umständen einmal den Zustand ökonomischer Erschöpfung erreichen müsse. Wenn
nicht in zwei, dann in drei oder vier Jahren. Vorschub hat dieser Ansicht auch
ein Aufsatz im „Nauticus" 1914 geleistet, der leider noch rechtzeitig nach Eng¬
land gelangte und der mit vielen abwegigen Schlüssen bewies, daß Deutschland
mit einem Drittel seines Nahrungsmittelbedarfs auf das Ausland angewiesen
sei. daß eine vollständige Blockade uns also wohl niederringen könne.
So lange das nicht erreicht ist und wir wissen, daß dieser Zustand niemals
erreicht wird, wenn wir nur gelassen bleiben, Einschränkungen ruhig hinnehmen
und den von ethischen Hemmungen jeder Art befreiten Kriegsprofitlern die
Riesengewinne durch Zuschlage bei der Einkommen- und Vermögenssteuer recht¬
zeitig wieder abnehmen, so lange werden die Gelehrten der Londoner City für
den eigenen Gebrauch immer wieder vorhalten, daß wir unsere finanziellen
Hilfsquellen vollständig ausgeschöpft haben. Tatsächlich hat der Krieg dem
Block der Zentralmächte absolut und relativ weniger finanzielle Lasten auferlegt
als England und seinen Verbündeten. Vor dem Krieg war der Stand der
Staatsschulden:
Kriegsanleihen seit 1. August 1914:
Sie veränderten den Stand der Staatsschulden am 1. September 1916
in folgender Form:
Während die Zentralmächte ihre Anleihen hauptsächlich auf langfristigen
Terminen abschlossen, haben England. Frankreich und Rußland alte und neue
Kreditoperationen vornehmen müssen, mit dem Ergebnis, daß rund zwei Drittel
ihrer Kriegsanleihen von 107,4 Milliarden Mark als fließende Schulden anzu¬
sprechen sind. Allerdings wirkt dabei die verschieden geartete Organisation der
Kapitalmärkte mit. Während Deutschland vorzog, den Nettoüberschuß des Volks¬
einkommens in heimischen industriellen Neuanlagen, in Pfandbriefen und Spar¬
kassen unterzubringen, pflegten England und Frankreich die Kapitalanlage im
Auslande. Daß es infolgedessen den Westmächten nicht oder nur schwer gelingt,
ihre Kriegskosten in festen Schulden zu fundieren, läßt nicht den Schluß zu,
als ob sie auf dem eigenen Markt nicht genügend Vertrauen fänden oder gar,
daß die Reserven erschöpft seien. Die Sorgen der City sind vielmehr anderer
Natur. Die Westmächte sind nicht entfernt in der Lage, den Bedarf an Kriegs-
Materialien aller Art selbst herzustellen. Dafür haben sie die berühmte Formel
aufgebracht, daß ihnen die Hilfskräfte der ganzen Welt zur Verfügung stünden.
Das ist richtig, mit dem Nachsatz, daß der Gebrauch der Kräfte teuer bezahlt
werden muß, so teuer, daß er in absehbarer Zeit zu einer finanziellen Erschöpfung
der Westmächte führt. Sie ziehen es vor, ihre Operationen mit den Vereinigten
Staaten hinter dichten Schleiern vorzunehmen. Allein wir wissen doch, daß
die Union seit Beginn des Krieges für rund 12 Milliarden Mark Kriegsmaterial
aller Art lieferte, daß England und Frankreich sie bezahlten, indem sie Milliarden
an Auslandswerten abführten. Die Liste der Auslandswerte, die das englische
Schatzamt als Sicherheiten in New Jork hinterlegt, umfaßt außer südamerikanischen
Werten auch schon Stadtanleihen europäischer Hauptstädte, wie Kopenhagen
und Stockholm. Das legt den Schluß nahe, daß die Bestände an Werttiteln
der nordamerikanischen Union, die England im Besitz hatte, erschöpft sind.
Das bis 1914 in den Vereinigten Staaten angelegte englische Kapital
wurde auf 12 Milliarden Mark geschätzt. Diese 12 Milliarden müssen also
wohl in der Hauptsache zurückgeflossen sein, zumal die Liste der nordameri¬
kanischen Werte fast vollständig war. Das vor dem Krieg im Auslande (ohne
Kolonien) angelegte britische Kapital betrug rund 40 Milliarden Mark. Es
wäre wichtig, festzustellen, wie hoch die Summen sind, die England bis heute
an Auslandswerten abgestoßen hat. Die Zinsen und andere Dienste der Kapital¬
anlagen im Auslande waren bislang eine der Säulen der englischen Zahlungs¬
bilanz. Wenn sie schwach sind, rüttelt das an den Fundamenten der Londoner
City, da England mit den Erträgnissen der Zahlungsbilanz nicht nur das
Passionen der Handelsbilanz deckte, sondern auch noch einen Überschuß besaß,
der in der Regel immer wieder zu Neuanlagen benutzt wurde. So wie Eng¬
land die Technik des Finanzkapitals ausgebildet hatte, brachte es ihm nicht nur
Zinsen, sondern auch Gewinne, da mit der Hergabe die Verpflichtung zur Ab¬
nahme englischer Fabrikate verbunden war. Auf diesem Wege macht England
gerade den vielumworbenen südamerikanischen Markt von sich abhängig.
Nun hat das britische Schatzamt neuerdings auf die Liste der verpfändeten
Werte vornehmlich südamerikanische Anleihen gesetzt. Es sind darunter sämtliche
seit 1839 in London abgeschlossene Anleihen Argentiniens, ebenso die Chiles
seit 1885. Mit der Verschärfung dieser Werte an die nordamerikanische Union
schreitet die Entwicklung kräftig fort, die Englands Handelssuprematie in
Lateinisch-Amerika brechen muß. Mißliebig hatte es die Londoner City schon
aufgenommen, daß die ABC-Staaten ihren Kapitalbedarf in Wallstreet und
nicht mehr in Lombardstreet deckten. Rund 350 Millionen Mark hat New York
bereits in Argentinien angelegt. Andere amerikanische Banken haben die übrigen
ABC-Staaten poussiere, wie das Bankhaus Chartier u. Co in Philadelphia,
das mit der chilenischen Negierung im Juli eine Anleihe von 120 Millionen
Mark zu 6 Prozent abschloß, die zum Bau von Eisenbahnen verwendet werden
sollen. In Argentinien sind Englands Kapitalinteressen auf 7,5, in Brasilien
auf 3,6, in Chile auf 3,2 Milliarden Mark zu schätzen. Dieser Milliarden¬
abfluß hat zwar unmittelbar den Erfolg, daß er für alle Welt sichtbar den
Sterlingkurs hält, aber nur so lange, als diese außerordentlichen Verhältnisse
anhalten. Indessen ist der Prozeß der Verschärfung der Werte nicht beendet.
Der Krieg soll nach englischen Versicherungen noch Jahre dauern. Der englische
Schatzkanzler hat vor einigen Wochen im Unterhaus erklärt, die Kriegskosten
würden Ende März 1917 für Altengland auf 69 Milliarden'Mark gestiegen
sein, was nicht zu schrecken brauche, weil das britische Nationaleinkommen rund
56 Milliarden betrage. Dabei hat der ehrenwerte Herr die erste Summe
erheblich unter- und die zweite Summe überschätzt. Die Kriegskosten Englands
und seiner Verbündeten betragen jetzt täglich rund 280. Millionen Mark, die
England in der Hauptsache unmittelbar oder mittelbar zu decken hat, da sowohl
Rußland, als auch Frankreich und Italien am Ende ihrer Kräfte angelangt
sind. Für den Monat wären also rund 8,4 Milliarden Mark Kriegskosten zu
decken, die allerdings zum Teil in den Ländern der Kriegführenden für den
selbst hergestellten Bedarf bleiben, zum anderen Teil aber nach den Vereinigten
Staaten wandern. Es ist wahrscheinlich, daß bis Ende März rund 22 Milliarden
Mark nach der Union abgeflossen sein werden, zumal die Munitionslieferungen usw.
seit Frühjahr 1916 durchschnittlich rund 400 Millionen Mark sür den Monat
betragen. Daß sich die Amerikaner alles gut bezahlen lassen, rücksichtslos die
Preise in die Höhe treiben, das ist die Schattenseite des Geschäftes für die
Alliierten und wofür die probritischen Stimmungen in der Union nicht einen
gleichwertigen Ersatz bieten.
Indessen handelt es sich für Altengland darum, ob es nach dem Kriege
die Absicht ausführen kann, die verschärften Werte wieder einzulösen. Jahr
für Jahr müßten Milliarden dafür mobil gemacht werden, mit dem Erfolg,
daß der Sterlingkurs auf New Uork ungünstig stünde. Dazu wirkt mit, daß
der englische Handel mit der Union immer passiv war, daß z. B. 1913 der
amerikanische Import den britischen Export nach der Union um rund 2,2 Milliarden
Mark überstieg. Vor dem Kriege hatten die Vereinigten Staaten Verpflichtungen
aus Kapitalanlagen, die durch den Besitzwechsel amerikanischer Werte im Kriege
einfach fortfallen. Steht aber der Sterlingkurs auf New Uork ungünstig, dann
muß England den Import aus der Union erheblich teurer als unter normalen
Verhältnissen bezahlen. Dieser Umstand ist bei der Diskussion über den „Wirt¬
schaftskrieg" so gut wie gar nicht beachtet worden. Die Waffe, die England
damit gegen uns schmieden will, ist stumpf. Wenn es mit seinen Verbündeten
in eine praktisch undurchführbare Zollunion träte, fo müßten die Zollschranken sich
auch gegen die Neutralen richten. Ist der Sterlingskurs auf New Aork ungünstig,
und er muß es sein, wenn England seine Pfänder auslösen will, muß Eng¬
land selbst die Halb- und Ganzfabrikate in der Union teuerer bezahlen, als es
sie in Deutschland erhalten könnte. Was wieder zur Folge haben würde, daß
England auf dem Weltmarkt distanziert wäre, weil es nicht mehr zu konkurrenz-
fähigen Preisen anbieten kann. Diese Gefahr hat die City allerdings auch
erkannt, vermeidet aber, offen darüber zu reden. Der Abwendung der Gefahr
diente die Pariser Konferenz, die die Verbündeten zu einer wechselseitigen Be¬
fruchtung ihrer ökonomischen Energien veranlassen soll. Allein England verfolgt
auch dabei unmittelbar seine eigenen Interessen, wenn es sein muß, auf Kosten
seiner Waffen geführten von heute. Bezeichnend hierfür ist ein Aufsatz, der am
9. September 1916 im „Economist" erschien. In akademischer Form werden
in ihm die Handelsbeziehungen Englands und Rußlands untersucht, erwähnt,
daß Rußland einmal der Weizenlieferant Altenglands war, daß es im Fall
einer Mißernte in Nordamerika oder Australien sogar noch 1904, 1905 und
1910 ausgeholfen habe. Der Aufsatz entdeckt dann förmlich, daß Rußland als
Lieferant von Nahrungs- und Genußmitteln und von Rohstoffen weit hinter
den Vereinigten Staaten stehe. Daß die Dardanellen zuvor erobert werden
müssen, ist für den „Economist" mehr Tatsache als Voraussetzung. Der Zweck
der Übung enthüllt sich damit: England braucht für Nahrungsmittel und Roh¬
stoffe einen Lieferanten, dem es nicht verschuldet ist; es will der Gefahr aus¬
weichen, von der nordamerikanischen Union abhängig zu werden. Und da
Rußland erhebliche Verpflichtungen gegenüber London hat, deckt es diese
zum Teil durch Warenausfuhr. Mit Abänderung des Abzuändernden gelten
diese Verhältnisse auch für Frankreich. Es hat ebenfalls einige Milliarden
in der Union verpfändet; der tatsächliche Betrag läßt sich nicht feststellen, ist
keineswegs aus den offiziellen Angaben zu entnehmen. Eher sind Schlüsse aus
der Höhe des Notenumlaufs in Frankreich möglich, wenn man die Neigung
der Franzosen zur Thesaurierung berücksichtigt. Der Notenumlauf hat 13 Milliarden
Mark bereits überschritten, obschon er nur für eine Bevölkerung von 36 Millionen
bestimmt ist. Wenn trotzdem die französische Valuta als relativ günstig bezeichnet
werden kann, so erhellt daraus, daß nicht die Inflation mit Papiergeld allein
die Ursache der gewiesenen Wechselkurse sein kann. Dies behauptet unter anderen
auch Professor Gustaf Cassel in seiner Studie über Deutschlands wirtschaftliche
Widerstandskraft, in der er die Erklärung für die ungünstige Valuta Deutschlands
in der Überflutung mit Papiergeld sucht. Das ist schon als Tatsache nicht
richtig, weil der Notenumlauf in Frankreich relativ und absolut höher ist.
Trotzdem darf nicht verkannt werden, daß ein Zusammenhang der un¬
günstigen Valuta Deutschlands mit seinen Geldverhältnissen besteht. Hier
offenbart sich die Schädlichkeit und Gemeingefährlichkeit der Preistreibereien.
England hat einen hoch ausgebildeten bargeldlosen Zahlungsverkehr, der ihm
ermöglicht, die Banknotenausgabe auf ein unerläßliches Maß zu beschränken.
Daß wir ebenso zu dieser Sitte übergehen müssen, ist nicht nur eine kriegs¬
wirtschaftlich gebotene Notwendigkeit, sondern muß eine dauernde Einrichtung
und Gewohnheit bleiben. Unsere Valuta beeinflußt das nur mittelbar; ihre
Verbesserung wird die Aufhebung der Blockade und den freien Eingang zu
den Weltmärkten bringen. Wobei aber damit zu rechnen ist, daß die vor dem
Krieg geltenden Pariverhältnisse nicht wieder erreicht werden, weil die inter¬
nationalen Verschiebungen auf dem Geldmarkt zu tief und zu nachhaltig sind.
Die Leidtragenden sind vornehmlich England und seine Verbündeten, weil die
während des Krieges eingegangene Verschuldung nach dem Kriege in den
Wechselkursen zum Ausdruck kommen muß. Das Höchstmaß wirtschaftlicher
Erzeugung, das wir vom Weltmarkt abgeschlossen leisten, hat durch die Preis¬
treibereien zwar einen größeren Wert bekommen, der sich aber nur gegen uns
lichtet. Und dieser „größere" Wert hat sein Spiegelbild in den Wechselkursen.
Andersgeartet sind die Verschuldungen Rußlands und Italiens, aber nur
im Ziel, nicht dem Grunde nach. Während die Westmächte ihre finanziellen
Reserven zu Gunsten der Vereinigten Staaten mobilisiertem, sind Rußland und
Italien Verpflichtungen in Paris und London eingegangen, deren tatsächlicher
Umfang aus den amtlichen Veröffentlichungen nicht festzustellen ist. Rußland
hängt allein in London mit mehr als drei Milliarden Kriegspromessen, während
die Verschuldung gegenüber Frankreich vor dem Kriege schon auf 17 Milliar¬
den Mark berechnet wurde, zu der sich während des Krieges die von der Bank
von Frankreich vorgeschossene Kuponzahlung gesellt, die mit andern Leistungen
zusammen etwa 2 Milliarden Mark beträgt. Rußland besitzt heute eine Staats¬
schuld von 44 Milliarden Mark, zu der allerdings noch Nachzügler kommen
werden. Der russische Staatshaushalt war für 1914 mit 7 Milliarden Mark
in Einnahme und Ausgabe abgeglichen; uuter den Ausgaben standen 1 Milliarde
für die Staatsschuld an zweiter Stelle. Die Verzinsung einer Staatsschuld
von 50 Milliarden zu nur 5 Prozent (für die Kriegsanleihen 5^ Prozent,
für den Dreijahreskredit von 250 Millionen Mark in den Vereinigten Staaten
sogar 6^/2 Prozent) würde allem 2,5 Milliarden Mark erfordern, die aufzu¬
bringen selbst für ein Rußland in den alten Grenzen angesichts der Kriegs¬
zerstörungen unmöglich wäre. Auch nicht wenn man auf das Alkoholmonopol
zurückgriffe, das dem russischen Reiche vor dem Kriege rund 2 Milliarden Mark
einbrachte. England und Nordamerika haben sich überdies der Bodenschätze
im Ural bemächtigt, sowie sich sonstige Sicherheiten für die Kriegslieferungen
erteilen lassen. Hier wird das Schicksal Frankreichs zur Tragödie, denn es
wird in erster Reihe den finanziellen Zusammenbruch Rußlands bis in die
Tiefen seiner Volkswirtschaft spüren. Zu der eigensten Schuldenlast Frankreichs
von vielleicht 70 Milliarden Mark nach dem Kriege kommt der Verlust der
russischen Milliarden, die kein Kriegsglück mehr abzuwenden vermag. Frank¬
reich, das vor dem Kriege für die Verzinsung seiner Staatsschuld 1,1 Milliar¬
den Mark aufzubringen hatte, die allerdings hauptsächlich im Lande blieben, müßte
nach dem Kriege rund 3^ Milliarden Mark für diesen Posten zahlen, während
sein Haushalt im letzten Friedensjahr rechnungsmäßig um 4,2 Milliarden Mark
Einnahmen auswies. Italien kämpft heute mit einer Schuldenlast von 17 Milliar¬
den Mark, die nach dem Kriege auf vielleicht 25 Milliarden Mark anschwellen
wird, die bei durchschnittlich 5 Prozent Verzinsung 1,5 Milliarden Mark ver-
langen, während die Staatseinnahmen im letzten Friedensjahr kaum 2.1 Milliar¬
den Mark betrugen. Nun ist das allerdings nickt der Maßstab, an der die
finanzielle Tragfähigkeit der Kriegführenden nach Friedensschluß gemessen
werden kann. Wollte man eine ähnliche Rechnung für Deutschland aufmachen,
so stünden wir vor 10.5 Milliarden Einnahmen des Reichs und der Bundes¬
staaten, die freilich durch Ausgaben im gleichen Betrage verzehrt werden. Allein
die Eisenbahnen bringen dem Reich und den Staaten jährlich über 3 Milliar¬
den Mark, ein Posten, den Frankreich und England nicht kennen, während er bei
Rußland vor dem Kriege 1,6 Milliarden Mark ausmachte. Was unsere finan¬
zielle Stärke und Sicherheit nach dem Kriege gewährleistet, ist, daß wie uns
nicht an das Ausland verschulden mußten, daß die Kriegsschulden auf lange
Termine abgeschlossen wurden, die für die Dispositionen unseres Geldmarktes
also bekannte Größen sind. Demgegenüber sind die Verhältnisse der englischen
Finanzen mehr als undurchsichtig. Nicht nur muß der Abfluß der Auslands'
guthaben einwirken, sondern auch der während des Krieges in England in
Schatzscheinen angelegten fremden Gelder. Gewiß hat man sie zum Teil in
vier- und fünfjährigen Schatzscheinen eingefangen, allein sie werden nach dem
Kriege die Tendenz zur Abwanderung haben, um anderswo höherverzinsliche
Anlagen zu suchen. Dem wird England zwar vorbeugen, vielleicht durch An¬
ziehung der Diskontschraube, aber das wäre kein Mittel, um den beginnenden
Verfall der Finanzherrschaft aufzuhalten.
Schließlich hängt die Gestaltung der Finanzen nach dem Kriege von der
unerschütterten Produktionskraft ab, weiter davon, welche Verschiebungen die
Zahlungsbilanzen der kriegführenden Staaten erleiden. England und seine
Verbündeten haben die Hilfsquellen der Welt in Anspruch genommen, was
ihnen eine Last aufbürdete, unter der der eine oder der andere der Pariser
Verschworenen zusammenbrechen muß. Daß es gerade die Vereinigten Staaten
sind, in die der Reichtum des alten Europas abfloß, wohlgemerkt aber nur
der unserer Gegner, erleichtert den Zentralmächten nach dem Kriege die Auf¬
nahme der weltwirtschaftlichen Beziehungen. England und Frankreich werden
ihre Rohstoffe aus der Union künstig teuer bezahlen müssen, also auch ent¬
sprechend teurer produzieren. Das haben die Urheber der Pariser Konferenzen
vorausgesehen und deshalb beizeiten Vorsorge treffen wollen, sich gegen die
günstiger gestellte deutsche Exportindustrie durch Zollmauern zu schützen. Nicht
Angriffsziele hat der Pariser Wirtschaftsblock aufstellen, sondern Verteidigungs¬
mittel ersinnen wollen, die doch niemals so groß und so fest sein können, um
die sehr realen wirtschaftlichen Interessen des Weltmarktes den Zwecken einer
fehlgeschlagenen Politik unterzuordnen.
Diese Erwägungen müssen dazu führen, die fünfte Kriegsanleihe zu einer
neuen Waffe zu machen, die England das Schicksal bereiten hilft, das Deutsch¬
land zugedacht war.
eopold von Ranke bezeichnet in seinen Denkwürdigkeiten des
Staatskanzlers Hardenberg den Kampf wider England als das
größte Weltverhältnis, in welchem sich Napoleon überhaupt
bewegte, den eigentlichen Faden, an dem sich sein genialisches
Tun und Lassen anknüpft. Denn sicher kann von jener Be¬
trachtungsweise, die in dem großen Korsen nur den machthaberischen Eroberer
erblickt, keine Brücke führen zum Verständnis des napoleonischen Genius. Die
Lebensaufgabe des Imperators war der Kampf gegen das britische Weltreich.
Und, um diesen Kampf durchfechten zu können, mußte sein ganzes Streben
darauf gerichtet sein, eine Hegemonie Frankreichs auf dem Kontinent zu erlangen,
deren Wesensgehalt einen fundamentalen Gegenpol zu der traditionellen aus¬
wärtigen Politik Englands darstellte. Denn eine französische Weltmachtpolitik
mußte mit der englischen mit organischer Notwendigkeit kollidieren, weil sie
deren rücksichtslosen Anspruch auf alleinigen Besitz der Welt und ihrer Ver¬
kehrswege in höchstem Maße einzuengen drohte. Des Korsen Ringen bedeutet
letzten Endes einen Kampf titanenhafter Größe auf Leben und Tod wider die
Macht des Schicksals, an dem seine Kraft sich unaufhörlich zermürbte und
zermürben mußte.
Schon zu Ende des Jahres l 800 hatte der erste Konsul selbst nachzuweisen
versucht, in welchen Bahnen die französische Politik auf dem Kontinent sich
bewegen und wie sie notwendig in schärfsten Gegensatz zu den Richtungen
der britischen Politik geraten müsse. Für die historische Wissenschaft liegt
bekanntlich der Kernpunkt des Problems Napoleon—England in der Frage
welche von beiden Mächten, Frankreich oder Großbritannien, den Friedens¬
vertrag von Amiens (1802) verletzt und die Wiederaufnahme des Krieges
gewollt hat, des Krieges, in den nach und nach der ganze Kontinent hinein¬
gerissen wurde und der erst mit der Verbannung Napoleons auf Se. Helena
seinen Abschluß fand. In diesen Kriegen ward der diplomatische Hauptzweck
Englands erreicht, der ihm im Kampf gegen den Korsen die ihm nottuenden
kontinentalen Verbündeten sichern sollte. Aus solchen Erwägungen heraus
konnte ein französisches Blatt jener Zeit in manchem Betracht mit vollem Recht
schreiben: „Diese Russen, diese Österreicher, diese Türken, diese Neapolitaner
sind ja nichts anderes als englische Soldaten, denen ihre Führer täglich in
ihre verschiedenen Sprachen die Befehle übersetzen, die ihnen das Kabinett von
Se. James zusammen mit ihrem Sold zugehen läßt." Der Erfolg im Kampf
der beiden größten Gegner war eben in erster Linie bedingt durch das Gewinnen
starker Mächte als Verbündete. Der englischen Diplomatie, die mit Verstellung.
Fälschung. Bestechung zu arbeiten sich nie gescheut hat, ist auch vor einem
Jahrhundert diese Aufgabe nach zähen Kämpfen voll und ganz gelungen.
Es ist als das bleibende Verdienst des jungen Historikers Otto Brandt, die um¬
fassende Napoleonliteratnr der Lenz, Noloff. Philippson, Driault. Rose, Fournier.
Coquette und in Sonderheit das welthistorische Verhältnis des Korsen zur
englischen Weltmacht durch erstmals angeführtes Quellenmaterial und tief¬
schürfende wissenschaftliche Analysen zu neuer Bedeutsamkeit und Aktualität
emporgehoben zu haben. Für England galt — wie Brandt in seinem Werke,
dem er den Titel: „England und die Napoleonische Weltpolitik (1800—1803)"
gibt (Verlag von Carl Winter, Heidelberg. 1916, Preis 6 M.), nachzuweisen
unternimmt — wie jede, so auch eine französische Hegemonie auf dem
Kontinent, die sich hier nur als die natürliche Folge des Friedensvertrages
von Amiens herausgebildet hatte, als schwerste Verletzung des obersten
Prinzips seiner auswärtigen Politik, der Aufrechterhaltung des europäischen
Gleichgewichts. Und die große Gefahr, die schon allein in der Tatsache des
Emporkommens und der Erstarkung Frankreichs gegeben war, mußte für Eng¬
land noch weit empfindlicher und drückender werden, wenn dieser französische Zug
nach realer Macht sich nicht mehr auf den Kontinent allein beschränkte, sondern
in der ganzen Welt sich durchzusetzen suchte, wenn er zugleich sich in einer rück¬
sichtslosen und systematischen Kolonial- und Handelspolitik äußerte. K. Kjellön
charakterisiert die Psyche dieser auswärtigen Politik Englands in treffenden
Worten: „Verbindung zwischen England und schwächeren Staaten auf dem
Kontinent gegenüber dem stärksten. Dies ist das Geheimnis der englischen
Staatskunst, das direkt der Jnsularität und Struktur des Reiches entsprungen
ist, nämlich, sich auf diplomatischem Wege einen oder mehrere .Kontinental-
degen" zu verschaffen, die in ihrem eigenen Interesse Englands Kämpfe aus¬
fechten, bis das europäische Gleichgewicht wiederhergestellt — und Englands
Planetarisches Übergewicht gesichert ist." Und dies ist in der Tat die festeste
und gewichtigste Tradition der auswärtigen Politik des englischen Weltreiches
der neueren Geschichte.
Vor offenen und versteckten Brüchen von Rechtsverträgen, vor Nicht¬
beachtung eingegangener Verpflichtungen, vor Verletzungen von Rechten anderer
Staaten aber schreckte das England der napoleonischen Ära genau so wenig
zurück wie das zeitgenössische. Es fiel den von ihrer Regierung instruierten
Offizieren der britischen Truppen, die Malta besetzt hielten, nicht ein. Befehl
Zu erteilen, dieses gemäß dem Friedensverträge von Amiens zu räumen. Durch
den Besitz dieser Insel und den von Gibraltar war England geradezu eine
Mittelmeermacht geworden, die Ägypten, den Suezkanal und damit den Zugang
auch Indien beherrschte. Jmnier deutlicher gab es seine Absicht zu erkennen,
die Insel nicht mehr herauszugeben oder zu verlassen. Für die napoleonische
Weltpolitik war diese Situation von Übel. Denn für sie mußte vor allem
gelten, eine einflußreiche Position im Mittelmeer zu schaffen, ein Gegengewicht
zu der Alleinherrschaft der Engländer, das der große Korse in der Besetzung
der italienischen Küsten erblickte. In Italien erkannte er einen der gewichtigsten
Faktoren für die Lösung jeglicher Mittelmeerfragen.
, Rußlands Haltung war bei der Lösung der Maltasrage von entscheidenden
Belang. Solange England in dieser Hinsicht der russischen Unterstützung noch
nicht sicher war, zeigte sich seine Politik zurückhaltend und unentschlossen; es
wagte nicht, die Proklamation der Besitznahme Maltas auszusprechen.
Mit der Stunde aber, in der es der englischen Diplomatie und gleicher¬
maßen dem englischen Golde gelungen war, in Rußland den lange ersehnten
Verbündeten auf dem Festland gegen Frankreichs Übergewicht zu finden, ging
es festen Schrittes und unentwegt auf sein Ziel los, während der Vollendung
militärischer Rüstungen noch mit Scheinverhandlungen manöverierend. Er¬
leichtert ward für England diese Annäherung an das Zarenreich besonders
durch den Umstand, daß das unerhörte Emporkommen Frankreichs als Welt¬
macht auch in Petersburg und bei seinen reaktionären Machthabern stärkstes
Mißfallen erregte. Alexander der Erste bezeichnete im Jahre 1803 den
großen Korsen als einen der berüchtigsten Tyrannen, den die Geschichte hervor¬
gebracht habe.
Schon im Dezember des Jahres 1802 riet der russische Kanzler Alexander
Woronzow dem britischen Gesandten, England solle sich hüten Malta aufzu¬
geben; und wenige Wochen später versicherte diesem der Vertraute des Zaren
sogar, der Monarch wünsche geradezu, daß die Engländer Malta besetzt
hielten. Rußland hatte sich mit diesen Erklärungen an England verschrieben:
dies war das erfolgreiche und erstaunliche Ergebnis der Kunst einer mit allen
Mitteln arbeitenden Diplomatie. Daß diese unnatürliche russisch-englische
Koalition nicht von Dauer sein konnte, da die beiden Mächte in ihrer aus¬
wärtigen Politik die größten Neibungsflächen besaßen, mußte klar auf der
Hand liegen. Aber in dem Kampf Napoleons gegen die britische Weltmacht
bildete gerade dieses Verhältnis Rußland-England den Angelpunkt des ganzen
Problems, wie in unserem Zeitalter die Tatsache einer russisch-englischen
Entente das Haupterfordernis der Einkreisungspolitik Eduards des Siebenten
und damit der diplomatischen Gesamtentstehungsgeschichte des jetzigen Welt¬
krieges ausmachte. Auch heute sind die lange gesuchten Degen auf dem Kon-
ünent im Kampf für englische Interessen, und es gilt für die englische Politik,
diese günstige Konjunktur nach allen Seiten hin auszunützen. Auch heute
gilt es, diese russisch-englische Koalition zu sprengen. Unverhohlen äußerte sich
schon vor mehr als 100 Jahren Lord Withworth einmal zu Markow über
das Wesen der damaligen englischen Politik: ,Ma Lour vouckrs, 8an8 äoute
se pi-^valoir cios av-lntaAL3 ac 3a pvZition actuelle qui met Ä moins
ac portsr ^l la I^ran?e ach coupL ers8 sen3idle8 3An8 en avoir risn
Ä reckoutsr."
Solcher Art war England in Stand gesetzt mit aller Rücksichtslosigkeit
auf den Bruch mit Napoleon loszusteuern und konnte dem immer noch die
äußersten Anstrengungen auf eine Intervention machenden Kaiser der Franzosen
die naiv ironische Antwort erteilen, es wolle zwar in die Rückgabe der Insel
an den Orden einwilligen, es müsse jedoch das Recht der dauernden Besetzung
der Forts durch englische Truppen anerkannt werden. Die Ablehnung des
englischen Ultimatums durch Napoleon brachte den Krieg, den er hatte kommen
sehen, aber anrichten vermeiden konnte. England, das in diesem gewaltigen
Kampf gegen den korsischen Emporkömmling als endgültiger Sieger hervorging,
hat nicht nur Malta und die beherrschende Position selner Weltgeltung im
Mittelmeer festgehalten, sondern es hat in diesem Völkerringen der ersten Zeit¬
spanne des neunzehnten Jahrhunderts neue koloniale Herrschaftsgebiete und
dadurch eine weitere unbeschränkte Entwicklungsmöglichkeit für seinen See¬
handel gewonnen, es hat als die in diesen Kriegen am wenigsten aktive Macht
als die alleinige Weltmacht das blutige Kampffeld verlassen.
Dieser siegreiche Kampf Englands, der doch in Wirklichkeit das Werk
seiner Verbündeten war, ist gleichsam der krönende Abschluß jener gigantischen
britischen Weltmachtstellung, die es heute instant gesetzt hat, die gewaltigste
Koalition, welche die Geschichte kennt, gegen den neuen kontinentalen und welt¬
politischen Emporkömmling in Bewegung zu setzen.
Daß aber dieses England nicht mehr als der unbeteiligte Sieger aus dem
heutigen Weltbrande hervorgehen wird, wie dies vor einem Jahrhundert der
Fall war — das ist heute schon eine schwerlich zu leugnende Tatsache, die
auch den zeitgenössischen englischen Staatslenkern zur Offenbarung zu werden
scheint. Es kämpft heute an der Spitze einer Mächtegruppe, die von ihm
keine realen Garantien zu erwarten hat, mit den gleichen oder wahlverwandten
Mitteln, mit der gleichen Unmoral und Skrupellosigkeit, mit der gleichen rück¬
sichtslosen Kriegführung, mit der gleichen verlogenen Diplomatie, mit dem
gleichen Anspruch auf die unbeschränkte Herrschaft in der Welt.
Aber es hat diesen Daseinskampf gegen ein Volk zu führen, an dessen
ungebrochener Kraft seine wie seiner Kontinentaldegen Anstrengungen kläglich
Zerschellen werden, gegen ein Volk, das über die Mittel verfügt, die dem Imperator
Frankreichs mangelten: geistige Konzentration und wissenschaftliche Organisation.
Sie sind die Gradmesser der Kraft Deutschlands, die ragendsten Faustpfänder
des deutschen Militarismus, gegen die eine selbstsüchtige und schrankenlose Er¬
werbsgenossenschaft, wie sie der Vierverband darstellt, keinen greifbaren Fort¬
schritt zu erzielen vermag.
Wir haben heute die waffengewaltige Kriegsmacht zu Gebote, die der
große Korse ersehnte, die er nur zu einem Teil zur Verfügung hatte, da er
eine jeder Weltpolitik nottuende starke Flotte nicht besaß, obschon er mit be¬
wunderungswürdiger Tatkraft zuversichtlich und fieberhaft an einer Hebung des
französischen Marinewesens arbeitete. Denn er erkannte, daß eine kampfes¬
starke Flotte die erste Vorbedingung für eine Niederwerfung Englands sei.
Solches rastlose Wachstum der französischen Marine konnte denn auch seine
Wirkung in der öffentlichen Meinung Großbritanniens nicht verfehlen. Der
Ausbau einer französischen Flotte hätte jedoch nach Napoleons eigener Ansicht
mindestens eines Jahrzehntes friedfertiger Arbeit bedurft, die ihm anrichten
beschieden war, auf die er aber seine Politik eingestellt hatte, seine Politik, die
nichts gemein hat mit der vielgepriesenen „Legende von der Eroberungsbestie."
Hatte Napoleon den Daseinskampf gegen die britische Weltmacht nicht zur
siegreichen Entscheidung durchzukämpfen vermocht, in erster Linie nicht infolge
der Ohnmacht Frankreichs gegen die allgewaltige meerbeherrschende Flotte Eng¬
lands, so steht es ulls heute zu, diesen Kampf, der eins ist mit dem des ersten
Napoleon, wider unseren größten und mächtigsten Gegner durchzufechten. Wäre es
vor einem Jahrhundert dem Kaiser der Franzosen anstatt dem englischen Golde und
der englischen Diplomatie gelungen. Rußland auf seine Seite zu bringen, so hätte
England vielleicht schon damals die beherrschende Stellung seiner Weltgeltung
eingebüßt. Auch seine heutigen Diplomaten und Staatslenker wissen nur
zu gut, daß, sobald einer ihrer jetzigen Kontinentaldegen der Entente den
Rücken kehrt, der Vorabend einer Katastrophe der britischen Weltstellung an¬
gebrochen ist.
Ein letztes aber unausbleibliches Ergebnis dieses blutigen Krieges muß
und wird es sein, daß — wenn nicht schon vor dem Frieden, so doch in
nicht allzuferner Zukunft — die uns heute feindlich gegenüberstehende Mächte¬
gruppe gesprengt und England in isolierterer Position notwendig zur Ge¬
währung von weitgehenden Konzessionen bereit sein wird, um den Grad seiner
Ohnmacht nicht offen zu Tage treten lassen zu müssen. Dem planetarischen
Übergewicht Englands geraten durch die ständig wachsende Intensität der inneren
und äußeren Gefahren mehr und mehr die haltenden Fugen ins Wanken. Der
Tag des völligen Zusammenbruches der traditionellen britischen Weltpolitik ist
unabwendbar.
er Reichsausschuß der Kriegsbeschädigtenfürsorge hatte für den
23., 24. und 25. August zu seiner ersten allgemeinen Tagung
nach Cöln a. Rh. eingeladen. Anlaß zu dieser Tagung gab die
von der Stadt Cöln eingerichtete Ausstellung für Kriegsfürsorge.
Die Verhandlungen wurden mit einem Vortrag des Vorsitzenden
des Reichsausschusses, Landesdirektor von Winterfeldt-Berlin, eröffnet, der die
Organisation und bisherige Arbeit der bürgerlichen Kriegs¬
beschädigtenfürsorge schilderte.
Den ersten Schritt einer planmäßigen Kriegsbeschädigtenfürsorge tat in
Preußen die Provinz Westfalen schon im Spätherbst 1914 durch eine Abgren¬
zung der verschiedenen Arbeitsgebiete. Dann folgte die Provinz Brandenburg,
welche die Kriegsbeschädigtenfürsorge zu einer kommunalen Angelegenheit machte.
Die übrigen Provinzen Preußens nahmen dann nach dem Vorgange der beiden
genannten Provinzen ebenfalls die Kriegsbeschädigtenfürsorge als in ihren
Bereich gehörend aus. In den übrigen Bundesstaaten wurden in enger Ver¬
bindung mit den zentralen Regierungsstellen Fürsorgeorganisationen geschaffen.
Gegenwärtig bestehen etwa 7000 Geschäftsstellen der Kriegsbeschädigtenfürsorge
im ganzen Reiche. Bei der vielfältigen Gliederung und dem weiten Umfange
der Geschäfte war ein einheitliches Vorgehen, ein fester Arbeitsplan unbedingt
erforderlich. Es mußte hierfür eine Zentralstelle geschaffen werden. Am
16. September 1915 konnte diese Zentralstelle unter dem Namen „Neichsausschuß
der Kriegsbeschädigtenfürsorge" ins Leben treten. Alle Fürsorgeorganisationen
Deutschlands, soweit sie unter staatlicher oder provinzieller Leitung in Zusammen¬
fassung der interessierten staatlichen und kommunalen, wirtschaftlichen und charita-
tiven Organe und Vereinigungen tätig sind, sind in dem Reichsausschuß vereinigt.
Für die Erledigung der reichen Aufgaben wurde ein Reichsarbeitsausschuß
gebildet. Die Neichsgeschästsstelle in Berlin, mit Herrn Oberbürgermeister Gelb
«n der Spitze, sorgt für die laufende Geschäftsführung. Der weite Umfang
der Geschäfte machten es erforderlich, daß für die einzelnen Arbeitsgebiete zehn
Sonderausschüsse gebildet wurden. Diese haben die Vorarbeiten für die Bera¬
tungen des Reichsarbeitsausschusses zu leisten.
Man darf im allgemeinen sagen, daß die Wege der Kriegsbeschädigten-
sürsorge richtig erkannt sind. Das Ziel liegt noch weit. Insbesondere ist die
Arbeitsnachweisfrage noch nicht befriedigend gelöst. — spontan wird die Für¬
sorge noch getragen von der Gesinnung brüderlicher Liebe. Das reicht aber
für die Zukunft nicht aus. Sie muß eine Sache nüchterner Notwendigkeit
werden. Fassen wir die Fürsorge auf als eine Sache bitterer Notwendigkeit,
dann wird sie zu dem großartigsten Geschehnis dieser Tage des Weltkrieges werden.
In einem zweiten Vortrag behandelte der Oberregierungsrat im Staats¬
ministerium des Innern Dr. Schweyer - München die bürgerliche Kriegs¬
beschädigtenfürsorge und die Gesetzgebung. Der Ausbau der bürger¬
lichen Fürsorge zu einem System ist eine Schöpfung der Gegenwart. Das
Gesamtgebiet der Fürsorge läßt sich nicht leicht durch Gesetze fest umschließen.
Die gesetzliche Fürsorge fällt unwesentlichen mit der militärischen Fürsorgezusammen.
Die bürgerliche Fürsorge will nicht in erster Linie reglementieren, sondern
den Kriegsbeschädigten in den bürgerlichen Beruf überführen. Die gesetzlichen
Unterlagen der Kriegsbeschüdigtenfürsorge sind gegeben in dem Mannschaftsver-
sorgungsgesetz von 1906 und in den ihm angeschlossenen Fürsorgegesetzen für
Tropendienst, Luftdienst und Kraftfahrerdienst. Diese gesetzlichen Bestimmungen
sind nicht allgemein bekannt. Die Fürsorgestellen haben die Aufgabe, notwen¬
dige Aufklärung zu verbreiten. Daneben müssen sie hinwirken auf einen gesetz¬
lichen Ausbau, damit Notwendiges durch Zweckmäßiges ergänzt werden kann
und damit der Kriegsbeschädigte nicht der Armenpflege anheimfällt.
Hinsichtlich der Rente ist zu fordern, daß diese entweder lebenslänglich
oder für die etwa festgesetzte Zeit in unabänderlicher Höhe gezahlt wird. Kür¬
zungen der Rente haben eine sehr bedauerliche Wirkung. Neben der Dauer¬
rente aber muß eine Übergangsrente möglich sein und die Nachprüfungsfrist
muß mindestens zwei Jahre dauern. Nur in dem Falle, wo die Voraussetzungen
für die Bewilligung einer Rente sich ganz wesentlich geändert haben, sollte eine
Änderung der Rente möglich sein.
Bedauerlich ist an der heutigen Handhabung des Militärversorgungsgesetzes,
daß in der Bewilligung der Verstümmelungszulagen große Ungleichmäßigst
herrscht. Auch haben die Verstümmelungen des Gesichtes und des Schädels,
die in den Nahkämpfen dieses Krieges überaus häufig sind, im Gesetz nicht
die nötige Berücksichtigung erfahren.
Für einen Ausbau der gesetzlichen Bestimmungen ist es notwendig, die
Erfahrungen der Versicherungsämter und der Unfallämter ausgiebig zu benutzen.
Bei der heutigen Anwendung der Versorgungsgesetze ist nur der Dienstgrad des
zu Versorgenden maßgebend. Seine Persönlichkeit und die Familienverhältnisse
bleiben unberücksichtigt. Auch darin ist eine Änderung notwendig. Man muß
verlangen, daß Kriegsbeschädigte der sozialen Schicht, der sie früher angehörten,
erhalten bleiben. Zwar läßt das Gesetz auch in seiner heutigen Fassung im
Falle der Bedürftigkeit eine Zuschußrente zu. Diese wird jedoch zu selten be¬
willigt. Bedürftigkeit liegt immer dann vor, wenn es unmöglich ist. durch
Rente und Lohn den früheren Arbeitsverdienst auch nur annähernd zu erreichen-
Die hier bis jetzt skizzierten Forderungen sind von ihrer Verwirklichung
leider noch weit entfernt. Günstiger liegen die Verhältnisse bei dem Kapital-
abfindungsgesetz: hier kann als Abfindung der 8^fache bis l^fache Betrag
der kapitalisierungsfähigen Zulagen (Kriegszulage und Verstmnmelungszulage)
bewilligt werden. Es ist dadurch die Möglichkeit gegeben, wenn auch nur für
den Fall der Ansiedlung, den Kriegsbeschädigten mit einem größeren Kapital
zu versorgen. Mangelhaft ist die gesetzliche Regelung der Kriegsbeschädigungeu,
die durch feindliche Fliegerangriffe hervorgerufen sind. Für entstandene Sach¬
schäden fehlt bisher jede gesetzliche Regelung.
In einem Vortrag über Landwirtschaft und Kriegsbeschädigten¬
fürsorge legte Direktor a. D. Professor von Strebe!-Stuttgart dar, daß Fu߬
invaliden im allgemeinen in der Landwirtschaft ausnahmslos wieder unterzu¬
bringen sind. Die unvermeidliche Erschwerung des Betriebes muß eben hin¬
genommen werden. Es ist aber notwendig, die kriegsbeschädigten Landwirte
in landwirtschaftlicher Atmosphäre zu belassen und für sie eigene landwirtschaft¬
liche Lazarette, die mit Gutsbetrieben verbunden sind und unter militärischer
Leitung stehen, einzurichten. Es ist nicht wohlgetan, die Landwirte erst auf
längere Zeit in städtischer Lebensweise zu belassen, weil sie sonst leicht die Lust
zum Landleben verlieren. Die Landwirtschaft wird in Zukunft noch viel mehr
Kräfte gebrauchen als bisher. Das Einarbeiten in den landwirtschaftlichen
Beruf im eigenen Betriebe und bei dem alten Arbeitgeber ist im allgemeinen
nicht zu empfehlen. Der Kriegsbeschädigte wird zu sehr bedauert und bemit¬
leidet. Er soll erst dann in den alten Betrieb zurückkehren, wenn er sich ein¬
gearbeitet hat.
Wünschenswert aber ist es, die Zeit im Lazarett und beim Ersatz-Bataillon
abzukürzen und die Rente schnell festzusetzen. Dabei ist es notwendig, daß die
Arbeitsfähigkeit nicht überschätzt wird und dann Arbeiten von ihm verlangt
werden, die er nicht mehr vollbringen kann. Eingehend aber muß geprüft
werden, ob der Kriegsbeschädigte, der eine landwirtschaftliche Arbeit tatsächlich
verrichten kann, auch in der Lage ist, diese Arbeit längere Zeit hintereinander
zu leisten, wie es die Praxis verlangt. '
Im engen Zusammenhange mit der soeben besprochenen Frage steht die
der ländlichen Siedlung, über die Regierungspräsident von Schwerin-
Frankfurt a. O. nachstehende Ausführungen machte: Die Siedlungsbestrebungen
für sämtliche Kriegsbeschädigte haben ihre kräftigste Stütze gefunden im Kapital-
abfindungsgesetz. Dadurch werden tausende von kleinen selbständigen Existenzen
geschaffen werden. Die Reichsgesetzgebung hat hier eingegriffen in die Staats-
gesetzgebung. In allen Teilen des Reiches muß aber gleichmäßig vorgegangen
werden, damit Abwanderung aus den weniger gut gestellten Gebieten vermieden
wird. Die Erfahrungen mit dem preußischen Nentengutgesetz von 1890/91
und 1901 haben ergeben, daß bei Rentengütern Zwangsvollstreckungen
uur äußerst selten vorkommen und auch dann nur wegen Untüchtigkeit des
Besitzers. Das Kapitalabfindungsgesetz wird der Zusammenballung der Bevölke¬
rung in den Großstädten segensreich entgegenwirken.
Die Kleinsiedlungen verbürgen eine größere wirtschaftliche Ausnutzung des
Bodens, besonders durch den Kartoffelbau. Der Kartoffelbau hat in seiner
Bedeutung den Getreidebau bereits überholt. Als ländliche Siedlungen muß
man alle diejenigen bezeichnen, bei denen die Nahrungserzeugung einen wesent¬
lichen Teil des Bedarfs für die Familie deckt, im Gegensatz zu den städtischen,
bei denen die Nahrungsmittelerzeugung zwar vorhanden, aber nicht wesentlich
ist. Gemeinnützige Gesellschaften müssen mithelfen, die Segnungen des Kapital¬
abfindungsgesetzes allenthalben zu verwirklichen. Mehrere Bundesstaaten haben
bereits Ausführungsgesetze zum Kapitalabfmdungsgesetz erlassen. Bayern schreibt
als die Mindestgröße von Siedlungen die Größe von fünf Hektar vor. Sachsen
hat den weitesten Nahmen gefaßt, indem es die Möglichkeit der Ansiedelung
allen Kriegsteilnehmern eröffnet hat. Der Beweggrund liegt wohl darin, daß
in Sachsen die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe im Rückgang begriffen sind.
Zwar entstammt die Hälfte der Kriegsbeschädigten dem Lande. Trotzdem
bedarf die Anstedlung Kriegsbeschädigter in Städten und halbländlicher Siedlung
mit Gärten besonderer Berücksichtigung, wie dies Wirklicher Geheimer Rat
Dr. Dernburg-Berlin in seinem Vortrag über Städtische Siedlung ausführte.
Alle Forderungen für gute städtische Wohnungen gelten im besonderen Maße
für die Kriegsbeschädigten. Von der Ansiedlung Kriegsbeschädigter in Jnvaliden-
kolonien ist entschieden abzuraten. Ein Teil der Kriegsbeschädigten wird sich in
Kleinhans- und Genossenschaftskolonien ansiedeln lassen, die Mehrzahl wird jedoch
nach wie vor im Mietshause wohnen wollen. Nebenbeschäftigung, verwandt¬
schaftliche Beziehungen und namentlich auch der Betrieb kleiner selbständiger
Geschäfte wird dazu treiben. Es ist die Frage, ob für die Zukunft genügend
Kleinwohnungen vorhanden sein werden. Bisher haben sich zur Schaffung von
Kleinwohnungen neben den Spar- und Bauvereinen besondere Arbeiter- oder
Unterbeamtenkategorien hervorgetan, namentlich von der Post und der Eisenbahn.
Dazu soll als neues Glied die Siedlung von Kriegsbeschädigten hinzukommen
und die Dezentralisation der Städte erweitern helfen. Für die Ansiedlung der
Kriegsbeschädigten ist die Form des Kleineigentums vorzuziehen. Die Kosten
sollten gedeckt werden durch Hergabe von zwei Hypotheken. Die erste aus
Staatsmitteln und die zweite aus anderen Mitteln, namentlich mit Hilfe der
Kleinwohnuugsvereine.
Am zweiten Verhandlungstage kamen zunächst zwei Ärzte zum Wort.
Die ärztliche Fürsorge für die Kriegsverstümmelten umfaßt, so
führte Medizinalrat Dr. Rebentisch-Offenbach a. M. aus, die an ihren Gliedmaßen
Verstümmelten, Erblindeten, Erlaubten und diejenigen mit Stimm- und Sprach¬
störungen. Ein hoher Prozentsatz der selbst schwer Verstümmelten wird wieder
arbeitsfähig. Siechtum mit dauernder fremder Pflege ist verhältnißmäßig selten
und im ganzen nur erforderlich bei schweren Verletzungen des Zentralnervensystems.
Von besonderer Bedeutung unter den Kriegsverstümmelten sind die Hand¬
verletzten. Die erste Sorge ist hier die Erzielung eines tragfähigen stumpfes.
Darum müssen Nachamputationen möglichst bald erfolgen. Die Knochenteile
sollen genügend von Weichteilen bedeckt sein. Schmerzhafte Zusammenbällungen
von Nervenmasse im Stumpf, Stumpfneurosen und Hautfalten, in denen Unred¬
lichkeiten sich festsetzen, müssen unbedingt entfernt werden. Ein geeignetes Kunst¬
glied sollte, sobald es irgend angeht, in Gebrauch genommen werden, damit die
Muskeln nicht erst entarten oder schwinden. Große Sorgfalt ist den Bandagen
zuzuwenden. Leider ist es noch nicht geglückt, einen allen billigen Anforderungen
genügenden Kunstarbeitsarm zu schaffen.
Für Kopfarbeiter liegt eine geeignete Lösung vor im Carnesarm. Möglichst
früh muß anregende Tätigkeit einsetzen, wenn möglich im alten Berufe und als
Ergänzung die Beteiligung an Spiel und Sport, Schwimmen. Kegelspiel.
Neben den Körperübungen müssen Berufsübungen stattfinden. Die Arbeitsanne
sollten schon in der Lazarettwerkstatt und fachmännischer Unterstützung ausgeprobt
werden und unbedingt ist zu verlangen, daß der Amputierte mit seiner Prothese und
ihren Ansatzstücken sowie deren Wirkungsart im Lazarett vertraut gemacht worden ist.
Die ärztlichen Maßnahmen für die Kriegsverstümmelten bleiben jedoch immer etwas
Halbes, wenn nicht ein lückenloses Zusammenarbeiten der militärischen und der bürger¬
lichen Fürsorge erreicht wird. Hier ist der Arzt der geeignete Verbindungsmann.
Die zweite Gruppe unter den Kriegsbeschädigten bilden die Kriegskranken,
die mit Störungen der Verdauungsorgane, Atmungsorgane, Kreislauforgane,
Harnwerkzeuge, mit Krankheiten des Stoffwechsels, mit rheumatischen Leiden,
mit übertragbaren Krankheiten oder mit krankhaften Neubildungen aus dem
Felde zurückkehren. Diesen galt ein Vortrag des Wirklichen Geheimen Ober¬
medizinalrats Professor Dr. Dietrich-Berlin.
Die ärztliche Fürsorge für die Kriegskranken beginnt im Kriegs¬
lazarett und setzt sich fort in den Etappenlazaretten, großen, und allen modernen
Einrichtungen versehenen Krankenhäusern. Die Kranken werden womöglich schon
in den Etappenlazaretten zur größtmöglichen Gesundung gebracht und gehen,
wenn nötig, von dort in die Heilstättenbehandlung, für die im Armeeverord¬
nungsblatt vom 25. April 1916 eine Übersicht gegeben ist. Für dauernd
Anstaltspflegebedürftige wird sich das Jnvalidenheim wohl nicht umgehen lassen.
Da es sich bei den Gelähmten, Tuberkulösen, Lungenkranken und Herzkranken
nicht um Verstümmelte, sondern um kranke Menschen handelt, ist eine besondere
seelische Beeinflussung nötig. Man muß sie möglichst bald in geordnete Ver¬
hältnisse zu geeigneter Beschäftigung und in eine ihnen zuträgliche Umgebung
bringen. Die Berufsberatung gestaltet sich bei den Kriegskranken gewöhnlich
viel schwieriger als bei den Verstümmelten, weil sie im allgemeinen nicht recht
Neigung haben, über den Beruf zu sprechen. Es empfiehlt sich, in Städten
und Kreisen Fürsorgestellen für die Kriegskranken einzurichten, für deren Arbeits¬
weise die Lungenfürsorgestelle ein zweckmäßiges Muster sein kann.
Die Hinterbliebenenfürsorge erläuterte Bürgermeister von Hollander-
Mannheim.
Redner gab zunächst einen Überblick über die Fürsorge für die Hinter¬
bliebenen der im Felde Gefallenen, die geregelt ist durch das Gesetz vom
vom 17. Mai 1907 und ergänzt wurde durch das Kapitalabfindungsgesetz von
1916. Daß die Kapitalabfindung nur für Grunderwerb, nicht aber zur Be¬
schaffung eines Geschäftskapitals möglich ist, ist in mancher Hinsicht zu be¬
dauern. Doch ist anzuerkennen, daß eine Prüfung zu schwierig und unsicher
und eine gesetzliche Regelung wohl kaum möglich gewesen wäre. Die Ver¬
pflichtung des Reiches, für die Hinterbliebenen der Gefallenen zu sorgen, kann
nicht als eine Verpflichtung zum Schadenersatz aufgefaßt werden; sie ist viel¬
mehr eine Ehrenpflicht des Volkes gegenüber den gefallenen Helden. Ein
großer Mangel des Hinterbliebenen-Versorgungsgesetzes ist, daß die bisherige
soziale Lage der Familie des Gefallenen nicht berücksichtigt wird. Die Renten
gewähren nur den Unterhalt einer gewöhnlichen Tagelöhnerfamilie. Es muß
deshalb gefordert werden, daß das frühere Einkommen des Gefallenen bei der
Rentenfestsetzung berücksichtigt wird. Da aber selbst die beste Gesetzgebung nicht
allen Ansprüchen gerecht werden kann, muß eine ausgleichende Versorgung der
Witwen und Waisen von privater Seite ergänzend eingreifen. Diese Ergänzung
will die Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Felde Gefallenen schaffen.
Die Kriegswaisen müssen möglichst der mütterlichen Erziehung anvertraut oder in
Familienpflege gegeben werden. Besondere Kriegswaisenhäuser sind grund¬
sätzlich zu verwerfen. Die bisherigen Waisenhäuser genügen.
Die Kriegsbeschädigtenfürsorge in der Industrie wurde vom Hütten-
dcrektor Probst - Düsseldorf vom Standpunkt der Arbeitgeber behandelt. Er
besprach zunächst die Herstellung von Prothesen. Vor dem Kriege war die Her¬
stellung der Prothesen eine Aufgabe der Orthopädiemechaniker. Jetzt hat sich
die Industrie der Erzeugung von Prothesen und der Zubehörteile angenommen.
Die anfänglichen Konstruktionsschwierigkeiten sind zu einem guten Teile über¬
wunden. Fachzeitschriften und die Preisausschreiben des Vereins deutscher
Ingenieure mit ihren ganz bestimmten Forderungen haben eine gewisse För¬
derung, wenn auch noch keinen vollen Erfolg gezeigt. — Im Februar 1916
entstand die Prüfstelle für Ersatzglieder in Berlin. Dieser wurden weitere Prüf¬
stellen angegliedert in Düsseldorf, Hamburg, Gleiwitz und Danzig.
Eine Umfrage bei den Industriellen hat ergeben, daß für die Beschäftigung
von Kriegsbeschädigten die Schaffung von besonderen Spezialmaschinen nicht er¬
wünscht und nicht erforderlich ist. Die Durchführbarkeit der Arbeitstherapie in
dem erweiterten Sinne der Lazarettwerkstätten ist angezweifelt worden. Dennoch
hat sie sich bewährt, wie es die Beschäftigung von Kriegsbeschädigten in den
Fabriken von Krupp und Röchling bewiesen hat. Krupp und Gruson haben
auch viele Blinde als Kontrollwärter für feine Messungen angelernt und mit
ihnen gute Erfahrungen gemacht. Aufgabe der Verwundetenschulen muß es sein,
ungeschulte in geschulte Arbeiter umzubilden. Der Kriegsbeschädigte muß das
Bewußtsein erhalten, daß er vollwertige Arbeit leisten kann. Daß dies möglich
ist. beweisen die Kriegsbeschädigten, die bereits zehn Stunden täglich an der
Werkbank tätig sind.
Den Standpunkt der Arbeitnehmer vertrat Generalkommissions¬
vorsitzender Legten, M. d. N., in Berlin. Die Zurückführung der Kriegsbeschädigten
in die Industrie, so sagte er, ist aus volkswirtschaftlichen und ethischen Gründen
notwendig. Der Kriegsbeschädigte kann von seiner Rente nicht leben. Er muß
arbeiten und darf nicht in körperliche und geistige Trägheit verfallen. Er muß
aber an den geeigneten Platz gestellt werden und das stellt hohe Anforderungen
an seine Anpassungsfähigkeit. Unerläßlich ist eine zuverlässige Beratung durch
Vertreter der Arbeitergeber und Arbeitnehmer. Darum sind Arbeitsgemeinschaften
zu fordern, wie sie in der Holzindustrie bereits geschaffen sind. Vorsicht ist
notwendig bei Versprechungen, denn Versprechungen müssen auch erfüllt werden.
Interessengegensätze zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen aufhören.
Der Kriegsbeschädigte soll der Gewerkschaft angehören dürfen nicht um Lohn¬
forderungen zu stellen, sondern um ihn der Vorteile der Organisation teilhaftig
zu machen und ihn vor dem Lohnkampf zu bewahren. Die Militärrente darf
um keinen Preis zu einem Mittel der Lohndrückern werden. Unsere Volks¬
wirtschaft hat das größte Interesse, die Kaufkraft der breiten Masse zu erhalten.
Sie würde unweigerlich gemindert werden durch Lohndrückerei wegen der Rente.
Die staatlichen Betriebe müssen hier mit einem guten Beispiele vorangehen.
Die Erklärungen des Ministers von Breitenbach haben einen freudigen Widerhall
in der Arbeiterschaft gefunden. Andererseits soll auch der Arbeiter dem Kriegs¬
beschädigten mit gleichem oder höherem Einkommen nicht mißgünstig gegenüber«
stehen. Die Arbeitsgemeinschaften müssen hier die Gegensätze ausgleichen. Daß
dies möglich ist, beweist das Vorgeben der Buchdrucker und des Kriegsfürsorge-
ansschusses für das Baugewerbe. — Die Schwierigkeit in der Unterbringung
Kriegsbeschädigter in der Industrie werden wachsen, wenn die Millionen von
der Front zurückkehren. Deshalb ist es die wichtigste Sorge, so gut zu
organisieren, daß Schwierigkeiten dauernd vermieden werden und daß die große
Dankesschuld des Vaterlandes gegen seine Krieger abgetragen werden kann.
In der Aussprache forderte Reichstagsabgeordneter Giesberts als Sprecher
der Gewerkschaftsgruppen reichsgesetzliche Regelung der Kriegsbeschädigtenfürsorge
und vollberechtigte Hinzuziehung der Arbeiter- und Angestelltenorganisationen.
Am Nachmittag fand für den engeren Kreis der Interessenten eine Aus¬
sprache über die Erfahrungen statt, die in der Praxis mit den Prothesen gemacht
worden find. „Was sagen die Amputierten selbst?" so leitete Landesrat
Dr. Horion-Düsseldorf feinen Vortrag ein, der durch statistische Tabellen wir¬
kungsvoll unterstützt wurde. Die Antwort auf diese Frage ist im Lazarett und
im freien Wettbewerb der Arbeit verschieden. Im Lazarett heißt es meist „die
Prothese ist brauchbar", im Leben „die Prothese genügt nicht" und doch kommt
es darauf an, die Amputierten wieder für das Leben zu gewinnen. Der
Referent hat 388 Fälle von Amputierten geprüft und das Ergebnis in
sechs Tabellen zusammengestellt. Von den geprüften 388 armamputierten
Kriegsbeschädigten sind in ihrem alten Beruf ohne Ausbildung 76, mit Aus¬
bildung 13 geblieben. Einen verwandten Beruf ergriffen 25 ohne und 15 mit
Ausbildung. 192 sind in einen anderen neuen Beruf ohne Ausbildung über¬
gegangen. Hier handelt es sich durchweg nur um Aushelfsberufe: Boten,
Pförtner. Einem neuen Beruf nach erhaltener Ausbildung wandten sich
18 Amputierte zu. 5 armamputierte Kriegsbeschädigte lehnten jeden Rat ab
und 44 waren arbeitslos.
Von 46 Exartikulierten benutzt keiner seine Prothese bei der Arbeit. Von
245 Oberarmamputierten gebrauchen nur 35, von 65 Unterarmamputierten nur
11 ihre Prothese.
Dr. InZ. K. c. Hartmann-Berlin, Senatspräsident im Reichsversicherungsamt,
berichtet sodann über die Tätigkeit der Prüfstellen für Ersatzglieder. Eine
sachgemäße Prüfung von Ersatzgliedern ist nur möglich durch die gemeinsame
Arbeit von orthopädischen Ärzten, orthopädischen Mechanikern und amputierten
Arbeitern. Bisher gibt es noch zu wenig Sachverständige. Die Veröffent¬
lichung der bisherigen Ergebnisse ist schwierig, weil die Erfinder nicht mit der
Veröffentlichung jeden Urteils ohne weiteres einverstanden sein können. Den
Sanitätsämtern steht jedoch das Prüfungsergebnis über jedes geprüfte Ersatz¬
glied zur Verfügung. Die Prüfstelle hat bisher 16 Arbeitsarme durchgeprüft
und 15 befinden sich zurzeit in der Prüfung. In letzter Zeit sind auch Ersatz¬
beine und Ansatzstücke sowie Radialisschienen geprüft worden. Universalersatz¬
glieder gibt es noch nicht. Immer noch ist es notwendig, je nach dem Zwecke,
von dem Guten das Beste zu nehmen.
Der dritte Tag begann mit dem Vortrag von Bürgermeister Dr. Luppe-
Frankfurt a. M. über die Unterbringung der Kriegsbeschädigten im
öffentlichen Dienst. Der Redner warnte vor der Begünstigung eines
Zustroms Kriegsbeschädigter in den Staats- und Kommunaldienst. Man muß
dem Kriegsbeschädigten die Überzeugung beibringen, daß der öffentliche Dienst
genug zu tun hat, seine eigenen Kriegsbeschädigten wieder aufzunehmen. Die
wirtschaftliche Entwicklung wird die staatlichen und Gemeindebehörden zwingen,
die Zahl der Stellen zu verringern. Die Grenzen der Aufnahmefähigkeit werden
sehr bald erreicht sein oder sind schon überschritten.
Über die Verwendungsmöglichkeit der Kriegsbeschädigten im
Handel sprach Kommerzienrat Soennecken-Bonn vom Standpunkt der Arbeit¬
geber. Deutschlands wachsender Welthandel konnte vor dem Kriege einen
großen Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung beschäftigen. Wir wissen jedoch
nicht, wie sich in der Zukunft die allgemeine Lage gestalten wird. Zu hoffen
ist, daß die bisherigen Angehörigen des Handelsstandes in ihrem Berufe bleiben
können. Ein Arbeitswechsel innerhalb des Berufes ist vielfach möglich, weil
der kaufmännische Kriegsbeschädigte vertraut mit dem Geiste kaufmännischer
Berufe ist. Dagegen ist es dringend notwendig, ungelernte Leute oder nicht
genügend vorgebildete vorzubilden. Über die Unterbringung kriegsbeschädigter
Offiziere im Handel hat der Deutsche Handelstag bereits mit dem Hilfsbund
für kriegsverletzte Offiziere Verhandlungen angeknüpft. Es bleibt aber noch zu
fordern, daß der Offizier, der in den Handel übergehen will, vorher eine
mindestens sechsmonatliche theoretische und eine mindestens achtmonatliche
praktische Vorbildung auf sich nimmt. Auf jeden Fall muß die Stellen¬
vermittlung durch die Privatstellenvermittlung vermieden werden. Die private
Stellenvermittlung hat kein Interesse daran, Dauerstellungen zu vermitteln.
Das gleiche Thema, aber vom Standpunkt der kaufmännischen Angestellten,
behandelte Kaufmann Döring-Hamburg. Gegenwärtig stehen etwa sechshundert¬
tausend kaufmännische Angestellte im Felde, daher sind in den kaufmännischen
Betrieben zurzeit viele Lücken. Es werden aber auch Hunderttausende in die
alten Stellungen zurückkehren. Ob sich die zerrissenen Fäden der Weltwirtschaft
wieder anknüpfen werden, ob der Haß gegen Deutschland sich wieder legen
wird, davon wird es abhängen, wieviele Stellen sich später den kaufmännischen
Angestellten wieder öffnen. Die nicht kaufmännisch vorgebildeten Kriegs¬
beschädigten suchen sogenannte leichte Stellen. Dennoch irren sie sich in den
Anforderungen, die diese leichten Stellen fordern. Mindestens muß ver¬
langt werden: die Kenntnis der deutschen Sprache und der kaufmännischen
Gepflogenheiten. Zur Bekämpfung des Zustroms ungeeigneter Elemente ist
eine staatliche Aufsicht der Privathandelsschulen notwendig. Ein kurzer Unter¬
richt im Maschinenschreiben, Stenographie und Buchführung reicht für den
ungelernten Kriegsbeschädigten nicht aus. Die Berufsberatungsausschüsse müssen
kaufmännische Kräfte als Berufsberater heranziehen. Die ungelernten Kräfte
sind noch am ersten in der Registratur und im Bürodienst zu verwenden.
Gegenwärtig sind viele weibliche Hilfskräfte in derartige Stellen eingewandert.
Hier ist eine Änderung unbedingt notwendig.
Als nächster Redner sprach Obermeister Bienert-Chemnitz über die Ver¬
wendungsmöglichkeit der Kriegsbeschädigten im Handwerk. Die
wirtschaftlichen Schäden des Handwerks sind schon jetzt sehr große und es sind
Befürchtungen aufgetaucht, daß das deutsche Handwerk nach dem Kriege ver¬
nichtet sein würde. Diesen Befürchtungen kann der Vortragende sich nicht
anschließen. Das Handwerk wird auch nach dem Kriege die nötigen Arbeits¬
kräfte zur Verfügung haben müssen. Dazu ist notwendig, daß jeder kriegs-
beschädigte Handwerksgeselle seinem Beruf, wenn irgend möglich, erhalten bleibt.
Zunächst muß die Arbeitseutwöhnung bekämpft werden und daneben muß der
Zulauf zu den ungelernten Berufen und zu den Beamtenstellen aufgehalten werden.
Unbedingt ist der Zusammenschluß von Meistern, Gesellen, Gewerbeinspektoren, Ge¬
werbeschulen zu gemeinsamer Arbeit zu fordern. Berufliche und ärztliche Beratung
sind zu vereinigen, namentlich für die älteren Gesellen, die umlernen müssen.
Im vierten Vortrag erläuterte Rechtsrat Dr. Fischer-Nürnberg den
Arbeitsnachweis für Kriegsbeschädigte. Der Kriegsbeschädigte soll nicht
auf Mitleid angewiesen sein, sondern auch unter rein wirtschaftlichen Bedingungen
sein Brot verdienen können. Hier fällt dem Arbeitsnachweis die schwierigste
Aufgabe der Fürsorge zu. Allgemeine Grundsätze für die Organisation der
Arbeitsvermittlung zu geben, ist kaum möglich. Jede Organisation ist gut, die
sich bewährt hat. Wo ein öffentliches Arbeitsamt besteht, muß es mit der
Fürsorge verbunden werden. Die private Stellenvermittlung ist wegen der
Spekulationsgefahr auszuschließen.
In der Aussprache verlangte der Reichstagsabgeordnete Giebel, daß bei
staatlichen Aufträgen eine Vertragsklausel die Einstellung einer gewissen Anzahl
von Kriegsbeschädigten durchsetzt.
Marx-Berlin betont, daß die Kriegsbeschädigtenfürsorge für die Dauer
nicht mit einem weichen Herzen zu machen ist. Es ist vielmehr gesetzlich zu
verlangen, daß sämtliche Kriegsbeschädigte wieder in ihren alten Stellungen
beschäftigt werden, wie man es in Ungarn gemacht hat.
In der Schlußsitzung sprach an erster Stelle Freifrau von Bisstng-Berlin
über die Mitarbeit der Frau in der Kriegsbeschädigtenfürsorge. Die
Vaterländischen Frauenvereine, Verein für Jugendschutz und Jugendwohlsahrt u. a.
haben sich zusammengeschlossen zu einem Zentralkomitee, aus der Ansicht, daß
die Kriegsbeschädigtenfürsorge in vielen Füllen die Beeinflussung der ganzen
Familie verlangt und zu einen: guten Teil Frauenarbeit ist. Die Fürsorge¬
rinnen bedürfen für ihren Beruf einer eingehenden Schulung und sollen in
größeren Städten mit gut arbeitenden Fürsorgestellen den Gesamtumfang der
Fürsorge kennen lernen. Die Fürsorge der Frau soll nach Ansicht der Referentin
schon im Lazarett beginnen und bei der Rückkehr des Kriegsbeschädigten in seine
Familie zu einem guten Teil schon getan sein. Schwierig ist besonders die
Lage der kriegsgetrauten Ehefrauen. Viele von ihnen sind Ehefrauen geworden,
als sie kaum das Leben und den angetrauten Mann kannten. Hier wird die
Fürsorge doppelt notwendig und sorgsam sein müssen.
An letzter Stelle sprach Pastor Kießling-Hamburg über die Fürsorge
für die Familien der Kriegsbeschädigten. Die Rente muß den wirtschaft¬
lichen Verhältnissen der Kriegsbeschädigten Rechnung tragen. Dennoch ist die
Familienfürsorge nötig. Was den Kriegshinterbliebenen recht ist. sollte den
Kriegsbeschädigten billig sein, nämlich die Möglichkeit, ihre Kinder im Stande
des Vaters zu erziehen. Vor einer unüberlegten Verpflanzung in ganz neue
Verhältnisse soll man sich hüten, besonders vor der ungesunden Verpflanzung
Kriegsbeschädigter auf das Land. Für die wirtschaftliche Sicherheit der Familie
des Kriegsbeschädigten darf und muß die Erwerbskraft der Frau mithelfen.
Hier kann vielleicht ein gewisser Austausch der erwerbs- und der Hauswirt-
schaftlichen Arbeit erwünscht und nützlich sein. Dauernde Erfolge werden nur
möglich sein durch die Zusammenarbeit von ärztlicher und Arbeitsfürsorge.
Besonders schwierig wird die Fürsorge für diejenigen Kriegsbeschädigten sein,
die wegen geistiger Erkrankungen entmündigt werden mußten. Es wird sich
empfehlen, die ganze Angelegenheit in die Hand einer Sammeloormundschaft
zu legen, nach Art der Berufsvormundschaft für die Jugendlichen. Unter
Familie ist in der Familienfürsorge derjenige Personenkreis zü verstehen, zu
dessen Lebensunterhalt der Kriegsbeschädigte wesentlich beigetragen hat. Träger
der Familienfürsorge soll nicht die Armenpflege sein, denn diese entrechtet, auch
nicht eine Behörde, denn diese muß sich zu sehr abhängig machen von Satzungen.
Die Fürsorgeeinrichtung muß ein Mittelding sein zwischen Behörde und Wohl¬
tätigkeitsverein.
Zu erwähnen wäre noch, daß den zur Tagung Erschienenen Gelegenheit
geboten war, Werkstätten und andere Anstalten, die in der Kriegsbeschädigten¬
fürsorge Vorbildliches leisten, zu besichtigen.
a Herr Professor l)r. W. M. Becker gerade die „Grenzboten"
(Ur. 33) gewählt hat, seine Ansicht über deutsche Kolonialpolitik
zu veröffentlichen, so darf ich wohl daran erinnern, daß ich genau
dasselbe Programm in derselben Zeitschrift 20 Jahre lang, von
1889 bis 1909, vertreten, auch in Büchern dargelegt und seine
Begründung 1905 in dem Büchlein „Die Zukunft des deutschen Volkes" zu¬
sammengefaßt habe, das auf Verlangen des Verlegers Emil Felder, Berlin,
1915 um ein aktuelles Kapitel vermehrt, noch einmal herausgegeben worden ist.
Professor Becker gedenkt des Humanitären Gedankens, mit dem der Leiter
des Reichskolonialamts einmal das Streben nach exotischen Kolonien gerecht¬
fertigt hat. Die Erörterung der Frage, welche Verpflichtungen die Kulturwelt
oder die weiße Nasse gegen die Farbigen hat. mag günstigeren Zeiten vor¬
behalten bleiben. Gar keine Frage aber ist eine Verpflichtung, die dieser Rasse
obliegt, sofern sie Christenheit ist. Denn als solche glaubt sie an die Offen¬
barung, und in dieser ist an das sie symbolisierende Urmenschenpaar das gött¬
liche Gebot ergangen: wachset und mehret euch, erfüllet die Erde und machet
sie euch Untertan. Beherrschung und Vollendung unsers Planeten ist die irdische
Aufgabe des Menschengeschlechts, und die höchste Nasse hat die Lösungsarbeit
zu leiten. Zu dieser gehört die Hebung der Naturschätze in Ländern, deren
Bewohner aus Lässigkeit oder Unfähigkeit der Aufgabe nicht völlig gewachsen
sind. Es wäre nun. wenn der Spaß nicht Blut kostete, äußerst spaßhaft, zu
sehen, wie die gescheiten Kulturvölker um einen Anteil an der Lösung der Auf¬
gabe sich balgen und raufen, in der irrigen Meinung, daß dabei ein Profit zu
machen sei, während der Staat, der subtropische oder Tropengebiete kolonisiert,
seitdem die räuberische Monopolwirtschaft aufgehört hat, nichts davon hat als
Arbeit, Kosten und Zersplitterung seiner Wehrkraft. Den vollen Gewinn der
Kolonisation solcher Gebiete haben allein die Nationen, die sich an ihr gar
nicht beteiligen; dadurch, daß wir selbst Kolonien erworben haben, sind uns
Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Kautschuk nicht um einen Pfennig verbilligt
worden. Der einzige Nutzen dieser Kolonien besteht darin, daß unsere jungen
Leute in der Welt herumkommen, und daß wir nicht in kleinbürgerlicher Enge
verkümmern, sondern den Blick in die Weite zu richten gewöhnt werden. Eng»
land zieht materiellen Gewinn nur aus den beiden Ländern, die von alten
Kulturvölkern bewohnt werden; die darum besteuert werden können und englische
Waren kaufen; Indien und Ägypten sind aber leider nur in je einem Exem¬
plare vorhanden. (Dasselbe gilt von niederländisch - Indien), Und wenn
Frankreich im gegenwärtigen Kriege einige hunderttausend Schwarze als Kanonen¬
futter verbrauchen kann, so verdankt es diesen zweifelhaften Vorteil der geogra¬
phischen Lage seines afrikanischen Kolonialreichs, die, wie ich oft ausgeführt
habe, und wie auch Professor Becker hervorhebt, dieses Kolonialreich als das
natürlichste von der Welt erscheinen läßt, während es eine große Dummheit
gewesen wäre, wenn die Deutschen Marokko hätten erobern wollen. Was Eng¬
land vor allem gebraucht hat, das waren Ansiedlerkolonien. Man stelle sich
vor, die Millionen Bewohner der Dominien und die noch zahlreicheren Millio¬
nen Uankees wären auf ihrer kleinen Heimatinsel zusammengepfercht geblieben!
Das ganze Land würde mit scheußlichen Sinns bedeckt sein. Freilich hätte
der größere Teil dieser Bevölkerungen gar nicht geboren werden können. Über¬
seeische Länder, die sich zu Ansiedlerkolonien eignen, sind aber nicht mehr vor¬
handen, und das Streben nach solchen ist zudem politisch bedenklich für einen
Staat, den seine geographische Lage, seine geschichtliche Entwicklung und seine
Volksart zum Kontinentalstaat prädestiniert haben.
Unentbehrliche Bodenerzeugnisse aber sind nicht Kaffee und Kakao, Baum¬
wolle und Kautschuk, sondern Brot, Fleisch und Milch. Deren Erwähnung
lenkt unsere Blicke nach Osteuropa und Westasien, denn bei deren zukünftiger
Gestaltung handelt es sich nicht bloß um unser Brot, sondern um das Brot
Europas. Die Vereinigten Staaten werden am längsten Weizenlieferanten
Europas gewesen sein. Zwar könnte ihr ungeheures Land, neunmal so groß
wie das Deutsche Reich, bequem 500 Millionen Menschen ernähren, aber der
Uankee treibt Raubbau, und der Fleischtrust ruiniert zudem die Viehzüchter,
so daß sich die Farmer scharenweise nach Kanada flüchten. Doch auch dieses
wird der fürchterliche Oktopus nicht verschonen; setzt er doch seine Saugwarzen
schon auf Argentinien, und Australien wird ihm nicht entgehen. Setzt ihm
nicht eine höhere Gewalt Schranken, so wird er nicht ruhen, bis er alles Brot
und Fleisch der Neuen Welt in „Kapital" verwandelt hat. daß heißt in einen
Papierhaufen, auf dem er dann freilich samt seinen Opfern verhungern muß.
Bei dieser Lage der Dinge eröffnen den übervölkerten Ländern des eigentlichen
Europas nur noch Osteuropa und Westasien Aussicht auf Rettung, da sie dünn
bevölkert und schlecht angebaut sind, ihr Bodenertrag darum auf ein mehrfaches
erhöht werden kann. Diese Erhöhung ist aber nur von Deutschen zu erwarten,
denn nur der deutsche Landwirt liebt und pflegt die Scholle und hängt an ihr;
der rein kapitalistisch denkende, fühlende und wirtschaftende Angelsachse saugt sie
aus und läßt sie im Stich, sobald sie nicht mehr rentiert, der Slawe aber wirt¬
schaftet liederlich und, unverständig, so lange er der deutschen Leitung und des
deutschen Vorbildes entbehrt. Namentlich den Russen können alle Agrarreformen
nicht viel nützen, solange sie unter sich bleiben. Am treffendsten und genauesten
hat ihre Triebhaftigkeit und Passivität ein Engländer geschildert, Sir Donald
Mackenzie Wallace, der namentlich zeigt, daß ihre Studierten und ihre
Großgrundbesitzer mit der reichlich importierten westeuropäischen Wissenschaft
Nichts anzufangen wissen, weil sie sie nur zu unfruchtbarem Theoretisteren ver¬
wenden. Und Witte hat bekannt, daß die Akademiker zwar als Studenten die
schönsten Hoffnungen erwecken, als Beamte dann aber nichts taugen. An Intelli¬
genz fehlt's ihnen nicht, wohl aber am besten: an praktischer Vernunft, an
Willenskraft, an Charakter. Wären die Engländer, unter denen es wenige gibt,
die, wie Wallace, ein offenes Auge für fremde Volksart haben, nicht durch
Unwissenheit und Hochmut verblendet, so würden sie die 1905 sich darbietende
günstige Gelegenheit benützt haben, ihren alten Feind für immer unschädlich zu
machen und die Ernährung ihrer Nachkommen zu sichern. John Bull würde
im Namen Europas dem deutschen Michel das Mandat erteilt haben: „ziehe
aus, schaffe Ordnung in diesem Chaos und rette das Brot Europas; du bist
der nächste dazu, und du bist der allein befähigte." Und Italien, das, wenn
auch nicht in demselben Maße wie England, ebenfalls der Nahrungsmittelein¬
fuhr bedarf, würde sich ihm angeschlossen haben.
In kurzen Thesen möchte ich die Tatsachen aussprechen, auf denen mein
schon vor 30 Jahren, als noch kein Mensch an Krieg dachte, stückweise veröffent¬
lichtes Programm beruht.
1. Die Südostgrenze des Deutschen Reiches ist militärisch unmöglich; halt¬
bar wird sie nur durch das Bündnis mit Österreich, und auch so bleibt sie
eine beständige Einladung der Kosaken zur Wiederholung ihres Besuches in
Ostpreußen.
2. Wir brauchen mehr Nahrungsmittel und darum Landzuwachs. Alle
Methoden, die Ernährung eines Volkes auf andere Weise als durch einen dem
Bevölkerungszuwachs entsprechenden Bodenzuwachs zu sichern, sind entweder
phantastisch oder gefährlich.
3. Desgleichen bedürfen wir der Erweiterung unsers Tätigkeitsspielraums
zur Versorgung unserer überschüssigen Intelligenz.
4. Expansion in teils dicht teils hinreichend bevölkerte Länder alter Kultur
ist unmöglich, darum kommt nur d.'r Osten und Südosten in Betracht.
Nun werden aber dortige Lanogebiete kaum in der Form von Annexion
nutzbar gemacht werden können. Die Integrität der Türkei darf nicht ange¬
tastet werden; und was Rußland betrifft, so ist zwar auf dessen Verkleinerung
hinzuarbeiten, aber die Eingliederung großer fremdsprachiger Länder in den
Reichskörper wäre höchst bedenklich. Unmöglich wäre sie nicht. Unmöglich sind
— vom Standpunkte einer besonnenen Politik aus gesehen — Annexionen im
Westen. Denn die Bevölkerung dieser Nationalstaaten ist nicht bloß mit ihrem
Boden, sondern auch eine jede mit ihren: Staate so verwachsen, daß sie sich
eher verblutet als davon läßt, und daß annektierte Stücke dieser Länder Eiter¬
beulen am Reichskörper sein würden. Die Fremdvölker des russischen Reiches
dagegen sind zwar ebenfalls mit ihrem Boden, mit ihrem Staate aber so wenig
verwachsen, daß sie von ihm losstreben und, wenn sie der Krieg nicht erlöst,
ihr Ziel durch gewaltsame Erhebung zu erreichen versuchen werden. Aber Auf¬
nahme ins Reich? Deutschland hat ja wohl an den Polen dreier preußischer
Provinzen genug und übergenug.
Die drei Bedürfnisse sind vorhanden, ihre Befriedigung ist Lebensbedingung
fürs deutsche Volk, die einzige mögliche Richtung ist in Ur. 4 gewiesen, die
gewöhnliche Methode der Befriedigung aber versperrt. Was bleibt da zu tun
übrig? Eine neue Methode muß gefunden werden. Zwei Worte mögen sie
andeuten: Mittelosteuropüischer Bund und friedliche Durchdringung. Das
eigentliche Rußland würde nicht in den Bund aufzunehmen, aber durch wirt¬
schaftliche und finanzielle Bindung zu leiten sein. Solche Bindung streben die
Union und England an; denen ist sie zu entwinden.
Zur friedlichen Durchdringung gehören vor allem deutsche Landwirte,
Bauernkolonien. Dr. Schiele und andere erklären es für ein Verbrechen, von
Kolonisation des Ostens durch deutsche Bauern zureden, da wir ja nicht genug
Bauer für die innere Kolonisation haben. Warum fehlt es uns daran? Weil
in jedem dicht bevölkerten und hochkultivierten Lande der Boden so teuer ist,
daß von den Söhnen eines Bauern nur einer Bauer werden kann, die übrigen
in die Stadt müssen, wo sie den ohnehin überzähligen Gewerbetreibenden,
Händlern, Beamten, Lehrern Konkurrenz machen. Steht wohlfeiler Boden im
Osten zur Verfügung, dann wird sich ein zweiter, ein dritter Sohn der Land¬
wirtschaft widmen, und schon hierdurch wird zugleich die Überproduktion an
„Intelligenz" gehemmt. Auch fällt bei der Kolonisation im Osten ein zweiter
Umstand hinweg, der die innere Kolonisation erschwert, und den besonders
Dr. Schiele wiederholt klar gemacht hat; er besteht in den hohen Leistungen
für Schule, Kirche, Straßen und andere Kulturbedürfnisse, die der Staat den
Kolonisten auflegt.
Zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges
hat der Sekretär der Wiener Handelskammer,
Dr. Sigmund Schilder, im ersten Bande
seiner „Entwicklungstendenzen der Weltwirt¬
schaft" die „planmäßigen Einwirkungen auf
die Weltwirtschaft" dargestellt und unter
anderem hervorgehoben, daß bei der Bewer¬
bung um Staatsanleihen und bei dem Versuch,
im Auslande Unternehmungen zu gründen
und Waren abzusetzen, das Gelingen zu einem
bedeutenden Teile von dem Rufe abhängt,
den der werbende Staat in der Welt genießt;
ein solcher Staat müsse als mächtig bekannt
sein, ohne Furcht oder Mißtrauen einzuflößen.
„Zur Bekämpfung etwa erwachenden Mi߬
trauens dient den Briten die von den ma߬
gebenden Männern des britischen Reiches
sowie von der britischen Presse trotz Irlands
und gewisser Maßregeln in Indien, Ägypten
Und anderwärts aufrecht erhaltene Legende
von der Freiheitlichleit und Menschlichkeit, die
dem britischen Regime zu allen Zeiten und
an allen Orten eigen gewesen sein soll.
Gleichzeitig dient der Geschäftsstörung der
Konkurrenten, besonders der europäischen, die
eifrige journalistische Verbreitung von allerlei
Schauergeschichten, die vom .drückenden
Despotismus der europäischen Militär¬
monarchien',! namentlich Deutschlands, und
deren angeblichen Intervention?- und Er-
oberungSgelüsten handeln." Die Verleum¬
dung Deutschlands hat also auch von eng¬
lischer Seite nicht erst mit dem Kriege be¬
gonnen, aber durch den Krieg ist es Wohl
jedem Deutschen klar geworden, ein wie ver¬
hängnisvoller Fehler es war, daß Planmäßige
Belehrung des Auslandes über deutsche Dinge
gänzlich unterlassen wurde. Unsere Regie¬
rung hat sich jetzt genötigt gesehen, die Volks¬
wirtschaft im Innern zu organisieren, sie
wird sich nach dem Friedensschluß der Pflicht
nicht entziehen, auch den Auslandsvcrkehr
planmäßig zu beeinflussen, unter anderem durch
eine den vaterländischen Interessen dienende
Presse, und alle am öffentlichen Leben nicht
bloß schwatzend teilnehmenden Politiker wer¬
den sie darin unterstützen. Wer aber in den
Weltverkehr eingreifen will, der nutz vor
allem seine Lage kennen, und diese Kenntnis
zu vermiteln ist das kleine Buch von Harms
bestimmt. Das Institut, welches er leitet
und das von Patrioten wie dem Kommerzien-
rat Bernhard Meyer in Leipzig durch Stif¬
tungen und laufende Beiträge unterstützt wird,
ist am 24. Februar 1911 eröffnet worden.
Harms gibt vierteljährlich das weltwirtschaft¬
liche Archiv heraus, jedesmal einen Band
von 1000 Seiten Lexikon 8°. Man darf
nun nicht glauben, solche Nachschlagewerke
wie das eben genannte oder die Volkswirt¬
schaftliche Chronik machten sein Büchlein über¬
flüssig. Nachschlagewerke sind eben zum Nach¬
schlagen, aber sie vermitteln nicht das Ver¬
ständnis der Statistik, und den Ungeübten
verwirren die ungeheuren Zahlenmassen.
Das vorliegende kleine Buch leitet zum ver¬
ständigen Gebrauch der statistischen Tabellen
an durch Erläuterungen und durch übersicht¬
liche Gruppierung. Noch in keinem großen
Nachschlagewerke habe ich z. B. eine so er¬
schöpfende und so klare Auskunft gefunden
über unsere Abhängigkeit vom Auslande in
Beziehung auf Rohstoffe, Nahrungs- und
Futtermittel. Harms skizziert die Entwicklung
Deutschlands vom Agrarlands zum Industrie-
lande, zeigt, wie unter den Produktions¬
faktoren die beiden für die Großindustrie
charakteristischen: das Unternehmergenie und
das Unternehmerkapital, auch bei uns an
Wichtigkeit stetig gewinnen, beschreibt die Lage
vor Ausbruch des Krieges und die Störung
durch den Krieg, berichtet über die letzte
Periode der deutschen Handelspolitik, wobei
Cciprivi einer glänzenden Rechtfertigung teil¬
haft wird, und gibt Winke für die in nächster
Zukunft einzuschlagenden Wege.
Jedes statistische Ergebnis des Verfassers
und jede der Folgerungen, die er daraus
zieht, ladet zur Erörterung heut brennender
Fragen ein. So z, B. lehnt er das Ideal
des geschlossenen Handelsstaates ab. Den
erstrebt Wohl auch kein Praktischer Politiker
im Ernste. Aber daß wir nach möglichster
Unabhängigkeit unserer Ernährung vom Aus¬
lande streben müssen, sagt doch anno 1916
jedem Deutschen sein Magen, sein Gaumen
und sein Geldtäschchen. Nimmt man nun
die Zoll-, Kornpreis- und Düngemittel¬
statistik zusammen, so überzeugt man sich,
daß unsere Landwirtschaft, deren großartige
Leistungen vollauf gewürdigt werden, mit
der Intensivizierung an der Grenze — zwar
nicht des technisch, aber — des ökonomisch
Möglichen angelangt ist, und daß sie uns mit
Getreide (von Fleisch, Milch und Butter gar
nicht zu reden) ausreichend nur dann ver¬
sorgen könnte, wenn exorbitante Agrarzölle
den landwirtschaftlichen Erzeugnissen dauernd
einen unerträglich hohen Preis sicherten. Das
mahnt uns, in der Begeisterung für unsere
industrielle Blüte den Produktionsfaktor
„Boden", „Land", nicht zu vergessen, dessen
genauere Betrachtung uns in die verbotene
Erörterung der Kriegsziele hineinlocken würde.
Aus dem Gange unserer wirtschaftlichen
Entwicklung folgert Harms, daß wir auf
Steigerung unserer überseeischen Ausfuhr be¬
dacht sein müssen, weil wir sonst auf die
Dauer die über See zu beziehenden Roh¬
stoffe nicht bezahlen könnten. Da wäre denn
zu untersuchen, ob in der Tat die Schafzucht
mit intensiver Landwirtschaft so unverträglich
ist, wie ziemlich allgemein geglaubt wird;
es gibt erfahrene Landwirte, die es ver¬
neinen. Jedenfalls ist der rasche Zusammen¬
bruch der heimischen Wollproduktion nicht
durch Plötzliche Verbesserung der Landwirt¬
schaft verursacht worden, sondern war die
Folge davon, daß die schlesischen Schafzüchter
durch den Verkauf von teuren Zuchtböcken
nach Australien eine Zeitlang glänzende Ge¬
schäfte machten. Die australischen Herden¬
besitzer, die den Boden umsonst haben, konnten
dann die Wolle ihrer veredelten Schafe frei¬
lich wohlfeiler verkaufen als die schlesischen.
Und in Beziehung auf die Baumwolle wäre
zu erwägen, ob wir nicht zu stärkerem
Leinengebrauch zurückkehren und den da¬
durch verminderten Baumwollenbedarf aus
der asiatischen Türkei decken können.
Harms warnt davor, sich durch Ein¬
mischung gefühlsmäßiger Ideale in die
Handels- und wirtschaftspolitischen Be¬
rechnungen zur Überschätzung des gehofften
mitteleuropäischen Wirtschastsbundes und der
Einbeziehung der Balkanstaaten in ihn ver¬
leiten zu lassen. Diese Warnung will ich
mir zu Herzen nehmen, da ich sie als auch
an mich gerichtet ansehen darf. Aber er hat
doch auch einen Trost für uns Schwärmer
übrig: „Andererseits ist es vermutlich richtig,
daß das deutsche Wirtschaftsleben vom nahen
Orient künftig viel Großes erwarten darf.
Hierfür müssen aber zunächst mancherlei
Boraussetzungen geschaffen werden, die vor
allem Zeit erfordern." Sollte nicht bei
weiter nordwärts gerichtetem Blick vielleicht
auch noch manches Tröstliche zu entdecken
Ein eigenartiger Reiz
liegt in dem Rückblick auf eine Strecke langer
mühevoller Arbeit. Dieses Genusses wegen
macht der Wanderer gerne halt, wenn er einen
Punkt erreicht hat, der ihm einen Über- und
Rückblick auf die hinter ihm liegende schwere
Wegestrecke gestattet.
Ein ähnliches Gefühl muß Dr. Mehrmann-
Koblenz gehabt haben, als er die letzte Zeile
zu seinem kürzlich erschienenen Buche „Der
diplomatische Krieg in Vorderasien", unter
besonderer Berücksichtigung der Geschichte der
Bagdadbahn (Verlag: Das größere Deutsch¬
land, Dresden) geschrieben hatte.
Seit fünfzehn Jahren hat er mit bewun-
dernswertem Fleiß alle Nachrichten gesammelt,
die ein brauchbarer Führer durch die ver¬
schlungenen Wege der Diplomatie in dem
Kampfe um die wirtschaftliche Erschließung der
asiatischen Türkei sein konnten. Als Quellen-
material hat Mehrmann nach seinen eigenen
Angaben fast ausschließlich die Tagespresse
zur Verfügung gestanden. Er hat keinen Ein¬
blick in Archive — auch nicht in die der am
Bau beteiligten Gesellschaften — gehabt. Trotz¬
dem hat er es verstanden, uns ein abge¬
schlossenes Bild von den wechselvollen diplo¬
matischen Kämpfen zu liefern, die jetzt zu dem
blutigen Kriege geführt haben, bei denen die
Feder durch das Schwert ersetzt wurde.
Über die Bagdadbahn-Politik ist viel ge¬
schrieben, lange bevor es bei uns eine solche
gab. Zunächst handelte es sich für Deutsch¬
land in erster Linie darum, daß der mit dem
Bau einer längeren Eisenbahnlinie verbundene
Nutzen einer deutschen Gesellschaft gesichert
wurde. Aus diesem mehr privat-wirtschaft¬
lichem Interesse entstand, vielleicht sogar un¬
bewußt, bei uns der Trieb, an der Er¬
schließung großer wichtiger Gebiete beteiligt
zu sein. Mählich erstarkte der Instinkt zum
Willen. Dadurch wurde aus der rein wirt¬
schaftlichen eine politische Frage. Die Lösung
hat die Diplomatie der europäischen Staaten
in heißem Bemühen versucht. Der Ausbruch
des gegenwärtigen Krieges zerstörte die Hoff¬
nungen der friedlichen Arbeit. Und, wie wir
hoffen, zum Glücke der Türkei und Deutsch¬
lands! Mit dem Schwerte soll ganze Arbeit
geschaffen werden, der Federkrieg hätte zu
Kompromissen geführt.
Mit diesen Worten Heines brachte während
des Russisch-türkischen Krieges ein politisches
Witzblatt die Sehnsucht Rußlands nach dem
Goldenen Horn zum Ausdruck. Sie treffen
auch für den gegenwärtigen Krieg zu. Ja,
sie könnten als Leitstern auf dem langen Wege
der russischen Diplomatie in den letzten Jahr¬
zehnten gelten. Das zeigt auch die Mehr-
mcmnsche Schrift. Mit einem Auge schielte
Rußland allerdings auch nach einem Wege
zum Indischen Meere.
Englands Interessen wurden naturgemäß
in erster Linie durch den Besitz Indiens be¬
stimmt, wo der Schienenstrang endigen sollte.
Durch den Endpunkt gewann die ganze Bahn¬
linie für London die höchste Bedeutung.
Es ist erklärlich, daß Deutschlands Aus¬
gabe überaus schwer war, seiner Politik gegen¬
über den beiden mächtigsten Staaten Europas
Geltung zu verschaffen. Ob unsere Diplo¬
matie in der Bewältigung dieser Arbeit ein
Meisterstück geliefert hat, überläßt auch Mehr¬
mann dem Urteil der Geschichte. Immerhin
erkennt er die Folgerichtigkeit an, mit der sich
die Handlung in dem ganzen Drama ent¬
wickelt.
Ich bedauere aufrichtig, daß mir das
Mehrmcmnsche Buch erst bekannt wurde, als
mein kurzer Aufsatz „Die türkischen Eisen¬
bahnen" (Ur. 23 der „Grenzboten"), schon im
Druck war. Ich hätte für meine Ausführungen
manche Anregung gewonnen. Mehrmann hat
das Kriegstagebuch im Stäbe des Führers
geschrieben, ich bei einem Stäbe in der Ge¬
fechtslinie. Der eine ist in der Lage, die
Zusammenhänge und Ursachen der Kriegs¬
handlung zu schildern, während der andere
nur den geschichtlichen Verlauf wiedergeben
kann. Die Notizen beider sind von Wert,
sie gewinnen aber durch die gegenseitige Er¬
gänzung. Ich kann daher den verehrten
Lesern der „Grenzboten", die sür diese ganze
Frage Interesse haben — und wer hätte das
nicht —, die Lektüre der Mehrmannschen
Schrift auf das wärmste empfehlen.
Von einer anderenScite behandeltvr.pkil.
Richard Hennig die Frage in der kleinen
Schrift „Die deutschen Bahnbauten in der
Türkei" <Heft 12: Länder und Völker der
Türkei, Schriftensammlung des deutschen
Vorderastatenkomitees, herausgegeben von
or. Hugo Grothe-Leipzig, Verlag von Veit u.
Konz, Leipzig; 0,so M.). Er untersucht in erster
Linie die Frage, was die deutschen Bahnen —
also die anatolische, die Bagdad- und die
Mekkabahn — während des gegenwärtigen
Krieges geleistet haben. Naturgemäß können
diese Angaben zurzeit nur einen allgemeinen
Überblick geben. Sie genügen aber, um dem
deutschen Ingenieur einen Ruhmeskranz zu
flechten. Das zeigt am klarsten die kurze
Antwort „Wo wären wir ohne die?" die
Balaaf Bei, der Leiter der türkischen Auslands¬
politik, einend deutschen Berichterstatter auf seine
Frage gab, welche Dienste die deutsche Bagdad¬
bahn der Türkei im Weltkrieg geleistet habe.
Der hohe militärische Wert der Bagdadbahn
und der anderen türkischen Eisenbahnen war
schon im türkischen Kriege 1912 offensichtlich
zutage getreten. Wenn die im Herbst 1912
vom Balkankrieg vollständig überraschte Türkei
nach den unglücklichen Kämpfen im Oktober
dem Ansturm der bulgarischen Armee in
der Tschatalscha-Stellung standhielt und da¬
durch Konstantinopel rettete, so dankte sie dies
in erster Linie der Möglichkeit, mit Hilfe der
Bagdadbahn aus den asiatischen Provinzen
beschleunigt Truppen heranzuziehen. Nähere
Angaben über den Nutzen der Bahnen in
jenem Kriege für die Türkei enthält der
Aussatz des Major Kübel im zweiten Heft
1913 der Vierteljahrsheftc fürTruppenführung
und Heereskunde (herausgegeben vom Großen
Generalstab): „Die Eisenbahnen der Türkei
und ih^e militärische Bedeutung". Hier finden
wir auch Angaben über die Leistungsfähigkeit
der Bahnen und bestimmte Borschläge für die
Erhöhung dieser Fähigkeit.
Wenn dereinst die Erfahrungen aus dem
jetzigen Kriege vorliegen, wird es eine dankens¬
werte Aufgabe sein, die Geschichte der tür¬
kischen Bahnen im Sinne von Richard Hennig,
also unter besonderer Berücksichtigung ihrer
militärischen Leistungsfähigkeit zu schreiben.
Alte und neue Schreibspiele zur Kurzwei
für unsere Feldgrauen und die Jugend heraus¬
gegeben und dem Vaterländischen Frauenverein
gewidmet von einem Landsturmhauptmann.
Züllchow bei Stettin, Verlag der Züllchower
Anstalten, 1915. — 99 Kriegsrätsel, ersonnen
von einem Landsturmhauptmann. Stiftungs¬
verlag Potsdam.
Der richtige Deutsche ist von einem starken
Bewegungs- und Tätigkeitsdrang« beseelt,
darum erfordert das monatelange untadige
Verweilen im Schützengraben ein höheres Maß
von Willensenergie als das dem Tode Ent¬
gegenstürmen in der Schlacht, und das Passive
Heldentum derer, die diese Geduldsprobe aus¬
halten ohne zu murren, ist nicht geringer zu
schätzen als das aktive im Kugelregen.
Die Zigarren- und Harmonikasendungen,
die Bücherwoche haben den Zweck, dieses
Heldentum oder Martyrium zu erleichtern.
Indes Rauchen allein tut'S nicht, immerfort
lesen kann man nicht, und das Kartenspiel hat
sein Bedenkliches. Da bereiten Spiele, wie sie
das oben genannte Büchlein lehrt, und das
Rätsellösen eine angenehme Abwechslung; es
sind allerliebste Sachen darin, die viel Spaß
machen, auch nützliche Sachen, geeignet, den
Scharfsinn und Witz der Jugend zu üben.
Selbstverständlich sind sie auch im Lazarett
und im Erholungsheim gut zu gebrauchen.
Absender vonLievesgabenpaketen undLazarett-
besucherinnen mögen diese Büchlein nicht über¬
sehen! Das Spielbuch kostet nur 2S Pf., das
Nätselbuch nur 20 Pf. Beide sind von den
Züllchower Anstalten (Fürsorge) zu beziehen.
Schafft das Gold zur Reichsbank!
Vermeidet die Zahlungen mit Bargeld!
Jeder Deutsche, der zur Verringerung des Bargeld-
umlauss beiträgt, stärkt die wirtschaftliche Kraft
des Vaterlandes.
Mancher Deutsche glaubt seiner vaterländischen Pflicht völlig genügt zu
haben, wenn er, statt wie füher Goldmünzen, jetzt Banknoten in der Geldbörse
mit sich führt oder daheim in der Schublade verwahrt hält. Das ist aber ein
Irrtum. Die Neichsbank ist nämlich gesetzlich verpflichtet, für je Dreihundert
Mark an Banknoten, die sich im Verkehr befinden, mindestens Hundert
Mark in Gold in ihren Kassen als Deckung bereitzuhalten. Es kommt aufs
gleiche hinaus, ob hundert Mark. Goldmünzen "oder dreihundert Mark Papiergeld
zur Reichsban! gebracht werden. Darum heißt es an jeden patriotischen
Deutschen die Mahnung richten:
Schränke den Vargeldverkehr ein!
Veredelt die Zahlungssitten!
Jeder, der noch kein Bankkonto hat, sollte sich sofort ein solches ein¬
richten, auf das er alles, nicht zum Lebensunterhalt unbedingt nötige Bargeld,
sowie seine sämtlichen laufenden Einnahmen einzahlt.
Die Errichtung eines Kontos bei einer Bank ist kostenfrei und der Konto¬
inhaber erhält sein jeweiliges Guthaben von der Bank verzinst.
Das bisher übliche Verfahren, Schulden mit Barzahlung oder Postanweisung
zu begleichen, darf nicht das herrschende bleiben. Richtig sind folgende Verfahren:
Erstens — und das ist die edelste Zahlungssitte —
Überweisung von Bank zu Bank.
Wie spielt sich diese ab?
Der Kontoinhaber beauftragt seine Bank, der Firma oder Privatperson,
der er etwas schuldet, den schuldigen Betrag auf deren Bankkonto zu überweisen.
Natürlich muß er seiner Bank den Namen der Bank angeben, bet welcher der
Zahlungsempfänger sein Konto unterhält. Jede größere Firma muß daher
heutzutage auf dem Kopf ihres Briefbogens vermerken, bei welcher Bank sie
ihr Konto führt. Außerdem gibt eine Anfrage am Fernsprecher, bisweilen auch
das Adreßbuch (z. B. in Berlin und Hamburg) hierüber Aufschluß.
Weiß man nur, daß der Zahlungsempfänger ein Bankkonto hat, kann
aber nicht feststellen, bei welcher Bank er es unterhält, so macht man zur
Begleichung seiner Schuld vom dem Scheckbuch Gebrauch.
Zweitens
Der Scheck mit dem Vermerk „Nur zur Verrechnung".
Mit dem Vermerk „Nur zur Verrechnung" kommt zum Ausdruck, daß der
Zahlungsempfänger keine Einlösungen des Schenks in bar, sondern nur die
Gutschrift auf seinem Konto verlangen kann. Bei Verrechnungsschecks ist auch
die Gefahr beseitigt, daß ein Unbefugter den Scheck einlösen kann, der Scheck
kann daher im gewöhnlichen Brief, ohne „Einschreiben", versandt werden, da
keine Barzahlung seitens der bezogenen Bank erfolgen darf. Nach den neuen
Steuergesetzen fällt der bisher auf dem Scheck lastende Scheckstempel von 10 Pf.
vom 1. Oktober d. I. an fort.
Drittens
Der sogenannte Barscheck, d. h. der Scheck
ohne den Vermerk „Nur zur Verrechnung".
Er kommt dann zur Anwendung, wenn der Zahlungsempfänger kein Bank¬
konto besitzt und daher bare Auszahlung verlangen muß. Er wird in dem
Maße aus dem Verkehr verschwinden, als wir uns dem ersehnten Ziel nähern,
daß jedermann in Deutschland, der Zahlungen zu leisten und zu empfangen
hat. ein Konto bei dem Postscheckamt, bei einer Bank oder einer sonstigen
Kreditanstalt besitzt.
Darum die ernste Mahnung in ernster Zeit:
Schaffe jeder sein Gold zur Reichsbank!
Mache jeder von der bankmäßigen Verrechnung Gebrauch!
Sorge jeder in seinem Bekannten- und Freundeskreis für Verbreitung des
bargeldlosen Verkehrs!
Jeder Pfennig, der bargeldlos verrechnet wird, ist eine Waffe gegen den
wirtschaftlichen Vernichtungskrieg unserer Feinde!
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
op. k/sz«M^ST'°«
i. UecKlb. am Nüritxsee
LeKnelle Zewissenliakte Vorbereitung tur ale Linjänrigen-, ?rima- u. üeifeprüfurig
un6
nelloziijlW kHe!i»Iier!
-"- Mark)----
Nönere privAtscnule mit Internat (2. Xe. VI—II).
IZeiäe Anstalten xxviscnen V/asser unä V/ala seur Zesunä ZeleZen.
IZssonäers tur Lenüler, alle spe^. l^oräerunA unä Obnut beäürken.
Qrünälicner tintement in Kleinen Klassen unä Kursen. Vor^llZIiene
VerpkleAUNZ. Nan vert^nZe Prospekt.
ir haben den Vorzug genossen, eine Weltwende mit vollem Bewußt¬
sein zu erleben. Denn es ist kein Zweifel, daß für den ganzen
europäischen Kulturkreis in den schwülen letzten Julitagen von 1914,
in jener angstvollen Spannung vor dem Ungewissen, das die
nächsten Wochen bringen sollten, eine Geschichtsepoche zu Grabe
stieg und eine neue heraufkam. Heute fühlt man sich von allem, was jenseits
des Kriegsaugusts liegt, unendlich weit entfernt durch die Fülle des Neuen, das
wir seitdem erlebt haben, durch den unermeßlichen Inhalt dieser gewaltigen zwei
Jahre. Wir Deutschen hatten uns gewöhnt, etwa im März 1890 bei dem
Rücktritt Bismarcks aus seinen Ämtern den letzten Einschnitt unserer Geschichte
zu machen. Was diesseits lag, das war unsere Zeit, das empfanden wir fast
allgemein als unsere politische Gegenwart. Diese Gegenwart machte nun der
Weltkrieg mit einem Schlage zur Vergangenheit, und wir haben demselben Stoff
gegenüber, der eben noch in unseren Zeitungen aktuell war, das Gefühl ge¬
wonnen, aus Zeitgenossen in Historiker verwandelt zu sein. Eine eigenartige
seltene Gunst ist damit denen zuteil geworden, die bemüht sind, aus der Ge¬
schichte für die Politik und aus der Politik für die Geschichte zu lernen. Sonst
reicht oft wohl kaum ein Menschenleben hin, um gegen Zeiten, die man selbst
durchlebt hat, einen gewissen Grad historischer Objektivität zu gewinnen. Uns
macht eine riesengroße Katastrophe des Völkerdaseins die Aufgabe verhältnis¬
mäßig leicht, Ereignisse und Kämpfe, die erst vor wenigen Jahren unsere Leiden,
schaften in Anspruch nahmen, als reine Vergangenheit zu betrachten, wenn wir
nur dem natürlichen Gefühl folgen, daß die Zeit, die seit dem Weltkrieg
angebrochen ist, auch wirklich eine neue sei. Wer heute Gelegenheit hat.
der nehme einmal alte Zeitungen zur Hand! Nur wenige Jahre sollen sie
zurückliegen. Man nehme Blätter aus den Monaten, wo sich bei uns die
Gemüter um Marokko erhitzten, aus der Zeit, wo die Türken bei Adrianopel
und Tschataldscha um ihr Reich kämpften, oder wo der Bukarester Friedens¬
kongreß die Dinge am Balkan für immer ordnen wollte, und werde sich
einmal klar darüber, wieviel von dem heute noch gilt, was damals als der
politischen Weisheit letzter Schluß erschien. Die Logik der Geschichte behandelt
die Logik der Menschen mit einer grandiosen Ironie: selbst im tiefernsten ge¬
waltigen Antlitz des Weltkriegs spielt noch etwas wie das leise Lächeln davon.
Wer im Marokkohandel den Bankrott deutscher Politik, wer angesichts des
Tschataldscharingens das Ende der Türkei prophezeie, der muß doch von diesem
Lächeln im Gesicht des Weltkriegs etwas spüren. Und zuckte es nicht eben
wieder einmal in den Augen des Kriegsgottes, als wir uns über die „Kriegs¬
ziele" in die Haare geraten wollten, und auf einmal alles verstummen mußte,
als das Fanat der rumänischen Kriegserklärung aufleuchtete, um uns zu zeigen,
wie wenig es an der Zeit sei, sich um die „Ziele" zu streiten, wo eben ein
neuer Anfang des blutigen Tanzes gemacht werden mußte!
Solche Gedanken drängten sich mir auf, als ich in diesen Tagen das Buch
von Daniel Frymann „Wenn ich der Kaiser wär'" wieder in die Hände bekam.
„Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten" heißt es im Untertitel und „Viel
Feind — viel Ehr'I" steht als Spruch auf dem ersten Blatte. Nun, was
dieses leicht hingeworfene Motto zu bedeuten hat, das haben wir erst durch
den Krieg erfahren: Viel Ehr', das heißt auch viel Blut und viele Tränen!
Das Buch ist 1912 erschienen und wollte wahrscheinlich nur der Politik des
Tages dienen. Es ist damals reichlich beachtet und gelesen worden, denn der
vierten Auflage, dem sechzehnten bis zwanzigsten Tausend, gehört das Exemplar
zu, das vor mir liegt. Im Weltkrieg noch gelesen zu werden wird es wohl
nicht beanspruchen, trotz des selbstbewußten Untertitels. Dennoch wäre es
vielleicht gut, wenn ein solches Buch einmal nicht mit seiner Epoche völlig
verschwände, wenn manche von denen, die es seiner Zeit mit leidenschaftlicher
Anteilnahme für oder wider gelesen haben, diese „politischen Wahrheiten und
Notwendigkeiten" heute noch einmal prüften, nachdem uns der Krieg in seine
politische Schule genommen hat.
Das Buch „Wenn ich der Kaiser wär'" war der Ausdruck einer politischen
Stimmung, die unmittelbar vor dem Kriege in weiteren Kreisen des deutschen
Bürgertums nicht ohne Echo geblieben ist. Weniger der Inhalt des Buches
an sich, als die breitere Resonanz, die ihm geworden ihl, mag es rechtfertigen,
daß ich überhaupt und gar heute noch von ihm zu sprechen unternehme. Diese
Stimmung war mit den politischen Leistungen der Reichsregierung von ihrem
Standpunkt aus ebenso radikal unzufrieden, wie die Sozialdemokratie auf Grund
ihrer prinzipiell ablehnenden politischen „Weltanschauung". Man hielt die Re¬
gierung nach innen wie nach außen für zu schwach und vermißte insbesondere
greifbare Erfolge unserer auswärtigen Politik. Wer entweder mit seinem Geld¬
beutel und seiner Arbeit oder auch bloß mit seiner Begeisterung Anteil an der
riesigen wirtschaftlichen Expansion des im neuen Reich geeinten deutschen Volkes
nahm, wer an der Geltung der deutschen Flagge auf den Weltmeeren seine
Freude hatte und aus eigener Erfahrung oder auch nur auf Grund seiner
historischen Durchschnittsbildung gelernt hatte, daß wirtschaftlicher Einfluß Macht
bedeute, daß aber wiederum diese Macht nur durch politische und Kriegsmacht
erhalten werden könne, der konnte leicht zu der Meinung kommen, daß unsere
politische Expansion zu der wirtschaftlichen in einem Mißverhältnis stehe. Das
Bürgertum, daß durch unerhörten wirtschaftlichen Fleiß und glänzende ökonomische
Siege reich geworden war oder wenigstens Familien aus seiner Mitte hatte
reich werden sehen, mußte politisch ein anspruchsvolleres Geschlecht werden als
das, das einst von der schwarz-rot-goldnen Trikolore geträumt, das nur die
deutsche Einheit ersehnt und von dem Gedanken einer „Expansion" keinen Be¬
griff gehabt hatte Eben hatte man von Bismarck gelernt, daß die deutsche
Frage nur mit Blut und Eisen gelöst werden konnte, daß man also die allzu
ideologischen Gedanken über Politik beiseite zu lassen habe. Und nun sah man
sich schon zu einer Weltpolitik berufen, nun trieb uns schon die deutsche Wirt¬
schaft aufs Meer hinaus und an ferne Küsten, nun galt es schon außerhalb
des alten Europa einen „Platz an der Sonne" zu erwerben. Kein Wunder,
wenn uns die alte Lektion noch im Ohre klang, und viele ohne weiteres glaubten,
nun könne auch die neue Weltpolitik nur in Blut und Eisen Erfolg haben.
Natürlich haben sie an sich ganz recht. So wenig wie einst die deutsche Frage
können auch die Fragen der Weltpolitik in letzter Linie anders gelöst werden
als durch Blut und Eisen. Aber sie müssen erst für solche Lösung reif werden.
Die Zeit muß erst erfüllt, die Mittel des Friedens erschöpft, die Instrumente
des Krieges bereit gestellt sein. „Ultimi ratio reZi8" steht auf den Kanonen.
Es gab aber Leute unter uns, bei denen die Kanone immer gleich prima oder
LLLUnäa ratio war. Der Bismarckgeist, dessen Bedeutung in Vergangenheit
und Gegenwart ich erst kürzlich in den Grenzboten zu würdigen versucht habe
Mr. 36 d. I.), wirkte im allgemeinen zwar segensreich, aber auf manche wohl¬
meinende und gerade gebildete Leute doch verwirrend, insofern er sie zu einem
ungerechten Urteil über unsre weltpolitische Staatskunst veranlaßte. Man ver¬
langte vom deutschen Reichskanzler viel zu häufig ein Auftreten in Kürassier¬
stiefeln und vermißte in den Reden des „neuen Kurses" immer wieder die
Bismarcksche Fraktur. Bismarck selber ist weit entfernt gewesen, immer Fraktur
zu reden; er verstand sich ausgezeichnet auch auf die sanften Register der Staats¬
kunst und auf die diplomatische Leisetreterei. Sonst wäre er ja nicht ein so
großer Diplomat gewesen. Aber das hatte die Bismarcklegende vergessen und
nur das Wort vom Blut und Eisen oder das von den Deutschen, die nichts,
aber auch gar nichts anderes als Gott fürchten, hastete im Gedächtnis. So ent¬
stand in uns angehenden Weltpolitikern viel zu sehr das Gefühl, wir brauchten
nur zu wollen, um aller Welt voran zu fein, wir brauchten nur zuzuschlagen,
um allen Völkern einen heiligen Schrecken einzuflößen, wir brauchten nur
zuzugreifen, um uns unseren Platz an der Sonne zu nehmen. Gewisse
Übertreibungen von der ganz besonderen Bedeutung der germanischen Rasse
auf Erden, und gewisse anspruchsvolle Prophezeiungen von der Rolle der
deutschen Kultur in der Welt kamen hinzu, um das falsche weltpolitische
Augenmaß noch verbreiteter zu machen.
So ist die Stimmung entstanden, in der die Ausführungen Frymanns
wurzeln, und die seinem Buche die weite Verbreitung verschafft hat. Der Krieg
hat uns inzwischen belehrt, daß wir der Anspannung aller Kräfte bedürfen, um
uns wirklich durchzusetzen. Als es vor zwei Jahren mißlang, Frankreich im
ersten Anlauf niederzuwerfen, da erkannten wir erst, daß von einem bloßen
Jnbesitznehmen der Weltmacht keine Rede sein könne; und als vor kurzem
Rumänien die Waffen wider uns erhob, da kam uns zu Bewußtsein, welche
ungeahnten Schwierigkeiten unserm Ringen immer von neuem erwachsen. Wenn's
nach der Meinung von Frymann gegangen wäre, dann hätten wir längst schon
mal sest zugreifen und Krieg führen sollen, spätestens in der Marokkokrise 1911.
Aber hätten wir den Weltkrieg, der sich etwa wegen Marokko entzündet hätte,
ebensogut ertragen, wie den jetzigen? Hätte damals das deutsche Volk auch
nur halb so willig die Leiden des Krieges auf sich genommen wie heute? Der
Fürstenmord von Serajewo war ein Schlag, den jeder unter uns gefühlt hat,
auch der Bauer und der Arbeiter. Das Interesse, das wir an Marokko hatten,
war bei weitem dem Volke nicht so verständlich. Es wäre höchst unbismarckisch
gewesen, um Marokko Krieg zu führen, denn Bismarck redete, wie man weiß,
nicht bloß Fraktur, sondern wog auch sehr sorgfältig das für gröbere Sinne
Unwägbare: die „Imponderabilien". Man wende nicht ein, daß Bismarck ja
den Krieg von 1866 gegen den Willen des Volkes geführt habe. Das ist
wohl wahr, aber er wagte es nur, weil er Österreich vorher diplomatisch völlig
isoliert hatte, und weil er wegen der Güte des preußischen Heeres auf einen
besonders raschen Sieg vertraute. Auch so war das Wagnis noch ungeheuer
groß, und die Schnelligkeit des Schlages von Königgrätz war Bismarcks größtes
Glück. Daß ein Krieg um Marokko nicht unter den Voraussetzungen des Kampfes
von 1866 hätte geführt werden können, war jederzeit klar.
Da sagten nun die Leute, deren Stimmung Frymann Ausdruck gab, das
sei eben leider nie zu erwarten, daß ein Krieg um Deutschlands Weltmacht
mit den Sympathien der Massen des Volkes geführt werden könne. Dafür
fehle dem Volke ewig das Verständnis. Darum schlug Frymann eine Reichs¬
reform vor, die durch offenen Staatsstreich den Einfluß der Massen brechen
und dem besitzenden und gebildeten Bürgertum das entscheidende Gewicht bei
den Wahlen geben sollte. Frymann nannte sich einen „Altliberalen", und ge¬
hörte zu den Leuten, die absolut von der einseitigen Art ihres in der Neichs-
gründungszeit und in gewissen Übertreibungen Treitschkes und verwandter Poli¬
tiker wurzelnden Patriotismus nicht umlernen wollten. Er kannte gegenüber
der Sozialdemokratie kein anderes Rezept als Todschlagen. Hätte sich eine
Frymannsche „Reichsreform" in diesem Kriege wirklich bewährt? Nutze
nicht die Mitarbeit vieler sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Organi¬
sationen jetzt viel mehr, als wenn wir ihren bösen Willen und ihre Verbitterung
zwingen müßten? So verkehrtes Urteil über Millionen deutscher Mitbürger,
wie es sich Frymann geleistet hat, darf in unserer inneren Politik nach dem
Kriege niemals wiederkehren. Auch eine solche angeblich „nationale" Recht¬
haberei gegenüber den Elsaß-Lothringern nicht mehr, die soweit ging, daß sie
behauptete, der Reichskanzler von Bethmann Hollweg gehöre vor einen Staats¬
gerichtshof, bloß weil er den Versuch gemacht hatte, im Reichslande mit einer
Verfassung zu regieren (Frymann S. 18).
Wir wollen nicht billige Kritik üben gegen ein Buch, das unter ganz
anderen Voraussetzungen geschrieben ist. Deswegen lasse ich das meiste, vor
allem auch die antisemitischen Tendenzen des Verfassers ganz beiseite. Es
handelt sich ja hier nicht um eine verspätete Würdigung des Buches, fondern
ich möchte zeigen, wie anders unser Standpunkt in Fragen der inneren und
auswärtigen Politik geworden ist, wie weit wir von den politischen Leiden¬
schaften der Zeit vor dem Kriege entfernt sind. In dem Tone Frymanns
kann heute niemand mehr unter uns reden. Der Verfasser selbst ist einsichtig
genug gewesen, um wenigstens nebenher anzudeuten, daß ein großer Krieg die
Voraussetzungen seines Buches beseitigen könne. Die große Leidenschaft des
Krieges hat die kleinen Leidenschaften voraugustlicher Polemik ausgelöscht. Die
deutsche Politik bis 1914 ist trotz ihrer zeitlichen Nähe für uns Geschichte ge¬
worden.
Das Auge des Historikers sieht aber denn doch die Linien der nachbis-
marckischen Politik klarer als das des Polemikers und des zu recht oder unrecht
besorgten Patrioten. Mit gutem Grunde hat einer der Hauptträger der nach-
bismarckischen Politik, unser Altreichskanzler Fürst Bülow, den jetzigen Zeit¬
punkt benutzt, um als Historiker über seine eigene Regierungstätigkeit Bericht
zu erstatten. Ein Wort zur rechten Stunde von den Lippen eines Berufenen
an uns ist dies in diesem Jahre erschienene Buch des Fürsten über „Deutsche
Politik". Wir schwer es dem deutschen Volke in Wirklichkeit gemacht wird,
sich in der Welt durchzusetzen, das spürt das ganze Volk erst heute am eignen
Leibe, wo der Krieg ihm seine Lehren aufzwingt. Vorher haben wir die Auf¬
gabe oft für zu leicht gehalten, sonst hätten nicht Bücher im Tone des Fry-
mannschen bei uns geschrieben werden können. Offenbar gewinnt man aber
von der Regierung den Eindruck, daß sie doch, wie es ihr ja auch zukommt,
ein richtigeres Augenmaß gehabt hat. Das Deutsche Reich ist nach seiner
Gründung und Befestigung nicht aus eignem freien Willen in die Weltpolitik
hineingegangen, sondern es ist den wirtschaftlichen Eroberungen seines Handels
und seiner Industrie gefolgt. Bismarck ging nur ganz zögernd über die ge¬
wohnte europäische Kontinentalpolitik hinaus. Er hat die Zeit reif werden
lassen und seinen Nachfolgern die großen neuen Aufgaben vorbehalten. Fürst
Bülow sagt mit Recht: Um unsere wirtschaftliche Expansion zu sichern, brauchten
wir vor allem eine Flotte. Erste Aufgabe unserer Weltpolitik war daher nichts
anderes, als den Ausbau dieser Flotte gegenüber dem Mißtrauen Englands
durchzuführen. Wie nun, wenn wir durch allzu aggressive Politik England irgend¬
eine Handhabe geboten hätten, uns den Krieg zu erklären und unsere Flotte
zu vernichten, ehe sie stark genug war, um ihm zu widerstehen! Darum war
in der Tat große Zurückhaltung bei den auswärtigen Verwicklungen für Deutsch¬
land geboten. Unsere für viele enttäuschende Haltung im Burenkrieg, während
des russisch-japanischen Konfliktes, unsere Zufriedenheit mit dem gewiß an sich
begrenzten Erfolg in Algeciras erklären sich so. Der Ausbau der Flotte war
nicht früher weit genug fortgeschritten als etwa bei Ablauf der Amtszeit des
Fürsten Bülow. Die Hauptsache war aber, daß er überhaupt gelang. Daß
er nicht schneller vorwärts ging, lag vor allem auch an innerpolitischen Wider¬
ständen. Man konnte vom deutschen Volke nicht verlangen, daß es den unge¬
wohnten Aufgaben der Weltpolitik gleich in allen seinen Teilen mit Verständnis
gegenübertrat. Die Parteien mußten erst nach und nach dafür erobert werden:
Nationalliberale und Konservative zuerst, bald auch das Zentrum, zuletzt endlich
der Freisinn. Ungefähr seit den Blockwahlen von 1907 waren die bürgerlichen
Parteien in Fragen der nationalen Expansion und der Wehrkraft einig. Auch
das ist als ein großer Erfolg unserer Weltpolitik zu betrachten, der uns nicht
von selber in den Schoß fiel. Im Weltkrieg selber ist nun auch der größere
Teil der noch fehlenden Sozialdemokratie in die nationale Phalanx eingeschwenkt.
Nachdem der Bau der Flotte durchgesetzt, und die deutschen Parteien für
die Weltpolitik gewonnen waren, brachte uns die böhmische Krise von 1908
den dritten großen Erfolg. Als Deutschland seine seit Jahrzehnten fest be¬
gründete Kontinentalmacht in die Wagschale warf, zerriß das Gewebe der Ein¬
kreisungspolitik Eduards des Siebenten, und Österreich-Ungarn setzte seine
Ansprüche gegen die feindlichen Mächte durch. Der Bund der beiden Zentral¬
mächte hatte seine Feuerprobe bestanden, und der Versuch Englands, Deutsch¬
land durch überlegene Diplomatie matt zu setzen, war gescheitert. England hat
diesen Versuch nicht wiederholt. Von da an war es klar, daß Deutschland,
wenn überhaupt, nur durch Waffengewalt würd? niedergezwungen werden können.
Als sich durch den Ausbruch des Weltkrieges dazu Gelegenheit fand, da hat
allerdings England diese benutzt. Der vierte bedeutende Erfolg unserer Welt¬
politik endlich ist errungen worden in unserer türkenfreundlichen Orientpolitik,
die seit dem Kaiserbesuch in Jerusalem und Damaskus konsequent durchgeführt
worden ist, der auch letzten Endes die Kaiserrede in Tanger und unsere Haltung
während der Balkankriege gedient hat. Der Weltkrieg hat gezeigt, daß die
unter uns doch recht behalten haben, die das Vertrauen auf unsere türkische
Hypothek nicht verloren, obwohl gerade manche unserer „nationalen" Zeitungen
in den Tagen der Tschataldschakämpfe reichlich kleinmütig den „jugendkräftigen"
Balkanstaaten in kritikloser Bewunderung zufielen. Auch Frymann riet schon
vor dem Kriege von 1912/13 zur Aufgabe der Türkei und hielt Rumänien
für den vollgültigen Ersatz, ein Zeichen, in wie verkehrter Beleuchtung er auch
hier die Dinge gesehen hat. Der Gewinn Bulgariens für unsere Partei ist
vielleicht von Haus aus nicht unser Verdienst als vielmehr das der Diplomatie
Österreich-Ungarns, die damit die Früchte ihres Eintretens sür eine Revision
des Bukarester Friedensvertrages von 1913 geerntet hat.
Es ist also nicht zweifelhaft, daß wenn man nur das richtige Augenmaß
anwendet, unsere auswärtige und innere Politik vor dem Kriege doch größere
Erfolge gehabt hat, als Frymann und diejenigen, die seine Stimmung teilten,
damals Wort haben wollten. Ich naße mir aber nicht an zu behaupten, daß
etwa nichts fehlgeschlagen sei und gar nichts mehr hätte erreicht werden können.
Vielleicht hätte ein rücksichtsloser Bestechungsfeldzug nach englisch-russisch-franzö¬
sischem Muster uns in der öffentlichen Meinung von Ländern wie Italien,
Rumänien oder Belgien eine günstigere Position verschafft. In diesem Punkte
muß unsere künftige auswärtige Politik alle Skrupel verlernen und mit allen
Mitteln arbeiten. Was wir mit Geld gewinnen, daran sparen wir Blut. Das
ist eine wichtige Lehre des Weltkrieges. Man kann auch bezweifeln, ob die
Behandlung Japans und Amerikas immer richtig war. Den „Panthersprung"
nach Agadir und das Marokko-Kongo-Abkommen hält Bülow, der dafür nicht
mehr verantwortlich zeichnet, zwischen den Zeilen offenbar selbst nicht für eine
Meisterleistung. Aber die Lichtseiten bleiben dessen ungeachtet bestehen, und
das eben ist das Verdienst des Weltkrieges, daß sie gegenüber der früheren
leidenschaftlichen Polemik nun zu ihrem Rechte kommen.
Der Weltkrieg mit seinen Tränen und Enttäuschungen, aber auch mit
seinen Siegen und wertvollen Erfahrungen ist unser bester politischer Erzieher.
Er gräbt den Ideologen das Wasser ab und nimmt den Frakturpolitikern, den
Vertretern eines mißverstandenen Bismarckgeistes, manchen Wind aus den
Segeln. Bevor das neue Reich gegründet wurde, bestimmten die Ideologen
unsern politischen Verstand. Dann kam die Bismarcktradition und auch die
Bismarcklegende obenauf, mit ihr jenes altliberale Reichspathos, das die Sozial¬
demokratie und den doch nicht immer ganz unberechtigten außerpreußischen
Partikularismus, zu dem auch die reichsländischen Autonomiebestrebungen zu
rechnen sind, so hoffnungslos unverdaulich fand, daß es sich, wie wenigstens
das Buch von Frymann zeigte, nur noch vom verzweifelten Dreinschlagen, vom
Staatsstreich, Erfolg versprach. Manche von uns waren nicht frei von einer
Michelstimmung, die von sich sagte: Wo ich hinhaue, wächst kein Gras mehr;
wenn ich nur erst einmal ordentlich zubauen könnte! Wir wünschten keinen
Krieg, aber wir hielten ihn für kein Unglück. Wir nannten Frankreich
dekadent, Rußland einen Koloß mit tönernen Füßen und Englands Armee
glaubten wir mit Bismarck bei ihrer Landung auf dem europäischen Konti¬
nent arretieren zu können. Erst der wirkliche Krieg hat uns die wahren
Machtmittel unserer Feinde gezeigt Und uns enthüllt, loie groß die Leistung
ist, eine deutsche Weltpolitik mit Erfolg zu treiben. Der Michelkultus darf
nach dem Kriege nicht wiederkehren. Politik ist eine hohe Kunst und
erfordert Menschen, die mehr sind als deutsche Michel. Ein ganzes
Volk kann nur allmählich zu wirklicher politischer Reife gelangen. Man darf
aber von den Deutschen, die auf glänzende Kulturleistun gen zurückblicken, die
seit dem alten Hellas und der italienischen Renaissance ihres gleichen suchen,
die jetzt ringsum von Feinden umlagert, durch ihre wissenschaftlichen und
technischen Fähigkeiten und durch ihre sittlichen Qualitäten sich behaupten, ohne
weiteres erwarten, daß sie lernen werden, wie vor dem Kriege schon nun
erst recht einer größeren politischen Reife zuzustreben. Das Vertrauen, das
das Volk in Waffen bewährt hat, wird schließlich auch das Volk in den
politischen Versammlungen nicht ganz zu Schanden werden lassen. Mag man
also der Demokratie ruhig geben, was man ihr doch nicht auf die Dauer
verweigern kann. An das rote Gespenst, das Frymann an die Wand malte,
glauben wir nicht mehr, auch wenn unser eigenes politisches Bekenntnis nicht
demokratisch ist. In der auswärtigen Politik aber würdige man mehr als
bisher die stillen Wege, die langsamen Erfolge und die verstandskühle Erwägung,
die Haß und Liebe, Begeisterung und Entrüstung gleichermaßen zurückhält.
Wir wollen uns nicht vornehmen, am deutschen Wesen die Welt genesen zu
lassen. Weltverbesserung ist nicht unsere Aufgabe, das bringt die Vorsehung
allein zuwege. Immer wieder, und gerade in diesem Kriege, werden bei uns
wohlgemeinte Bücher und Aufsätze geschrieben, die einen sittlichen Fortschritt
der Weltpolitik und eine ganz neue Kulturperiode der Menschheit durch deutschen
Sieg verlangen. Vor solchen Träumen von einer deutschen Kulturhegemonie
warnt sehr mit Recht auch Fürst Bülow in seinem Buche. Sagen wir lieber:
Wir wollen unseren Anteil an der Weltherrschaft und zwar in ehrlicher Arbeits¬
teilung mit den Völkern und Staaten, die uns in unserem Existenzkampf als
Bundesgenossen helfen. Damit sind wir ganz redlich und Freund und Feind
gut verständlich. Wir wollen denn doch nichts Irdisches anbeten: weder die
germanische Rasse, noch die deutsche Kultur, noch den preußischen Staats¬
gedanken. Aller wirklichen Vorzüge, die wir in diesen Gütern haben, wollen
wir von Herzen froh sein, im übrigen aber als gute Christen glauben, daß die
Welt nicht durch unsere Vernunft noch Kraft selig wird, wollen unsere Vergangen¬
heit ehren und unsere Zukunft mit kräftiger Hand so gestalten, daß wir und
unsre Kinder des Lebens wieder froh werden!
er Herausgeber dieser Zeitschrift hat im fünfundvierzigsten Hefte
des Jahrgangs 1914 in trefflicher Weise das Problem der Be¬
freiung der Ukraina von der russischen Herrschaft besprochen. Die
folgenden Blätter bringen einige weitere Beiträge zur Kenntnis
der Ruthenen und der ruthenischen Frage. Vorangeht eine kurze
Darstellung der Geschichte der Ruthenen - Ukrainer. Daran schließen sich Be¬
merkungen zum ukrainischen Problem, und zwar über die Errichtung einer auto¬
nomen ruthenischen Provinz in Osterreich. Endlich folgt eine Darlegung der
Namengebung der Ruthenen, da darüber große Unklarheit herrscht.
Die Slawen, die sich über das heutige Rußland ausgebreitet hatten, waren
in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in zahlreiche Stämme zerfallen und ver¬
mochten ebensowenig wie die Finnen aus sich selbst einen Staat zu gründen.
Das gelang erst den normannischen Wickinger-Warägern, die ebenso wie sie
ganz West- und Südeuropa raubend, aber auch staatengründend heimsuchten,
auch Osteuropa auf dem Austrvegr (Dura-Dniepr) bis nach Konstantinopel
durchzogen. Es ist unzweifelhaft, daß die ersten Staatgründungen der Wickinger
im nördlichen Rußland unter Finnen und Slawen stattfanden. Eine ihrer
ältesten Städte war dort Holmgadr oder Nowgorod. Doch wie alle Nord¬
männer drängten sie gegen Süden, um dem Meere und dem lockenden Buzanz,
das sie Mikligardr (die große Stadt) nannten, näher zu sein. So entstand
jedenfalls schon um 850 der Wickingerftaat in Kaenugardr (Kijew). Wegen
ihrer günstigen Lage wurde diese Stadt unter Oleg (nordisch Helgi) Mittelpunkt
des Reiches, das von der für die Waräger im Osten üblich gewordenen Be¬
zeichnung „Ros" seinen Namen erhielt. Der Name ging dann auf alle
Slawen Osteuropas über. Doch sind die Russen des alten Kijewer Reiches nicht
wesensgleich mit den heutigen Großrussen; sie sind von ihnen vielmehr in Sprache
und ethnographischen Eigenschaften verschieden. Auf die Moskowiter haben
vor allem, wie noch weiter unten gezeigt werden soll, mongolische Einflüsse
stärker eingewirkt.
Der Kijewer Staat entwickelte sich, solange der germanische Einfluß anhielt,
sehr glücklich. Schon Oleg beherrschte einen großen Teil des heutigen Rußland,
besiegte im Südosten die Tataren, zwang im Westen die Chorwaten (die Väter
der Kleinpolen) in Galizien zur Heerfolge und wurde Konstantinopel gefährlich.
Ein reiches Leben entwickelte sich in den folgenden anderthalb Jahrhunderten.
Am Anfang des zehnten Jahrhunderts scheint bereits ein lebhafter Handel über
Böhmen, Krakau und Galizien nach Kijew und Konstantinopel gegangen zu sein.
Um 960 bestehen schon Beziehungen Kijews zu Otto dem Großen; doch mi߬
langen die Versuche, Rußland für das römische Christentum zu gewinnen. Es
schloß sich (988) unter Wladimir endgültig dem griechischen Glauben an, da
die Verbindung mit Byzanz älter und stärker war. Dadurch wurde Rußland
aller Vorteile der damals noch hochstehenden byzantinischen Kultur teilhaft,
blieb aber dann ebenso zurück wie Byzanz und hatte überdies von den Griechen
den Haß gegen die germanisch-romanische Kultur übernommen.
Zunächst freilich war dem Kijewer Reich eine vorübergehende Blüte be-
schieden. Unter Jaroslaw (geht. 1054) erreichte sie ihren Höhepunkt. Damals
erregte Kijew auch die Bewunderung des Westens. Adam von Bremen nannte
Kijew eine Nebenbuhlerin Konstantinopels. Doch auch sür andere Teile seines
Reiches sorgte Jaroslaw. In Nowgorod gründete er z. B. eine Schule für
dreihundert Knaben. Den Einfluß dieser höheren Kultur verraten die ersten
Gesetzesaufzeichnungen (Ruskaja prawda) unter Jaroslaw, die wer.ig später ge¬
schriebenen ersten russischen Chroniken (darunter die allgemein bekannte des
Nestor), ferner das Heldengedicht vom Heereszuge des Fürsten Igor. Kijew
wurde damals der Sammelpunkt der Kaufleute aus dem Westen, Norden und
Süden. Wahrscheinlich setzte schon um diese Zeit die Ansiedlung der Regens¬
burger Kaufleute ein, die wir wenig später nachweisen können. Aber Jaroslaw
selbst begann auch schon die Zerstörung seines Reiches. Man glaubte nun die
Waräger entbehren zu können. Jaroslaw vertrieb sie. konnte aber ohne sie
nichts mehr gegen Konstantinopel ausrichten. Vor allem zeigte es sich, daß
ohne Unterstützung der germanischen Gefolgschaften die Vorherrschaft der Kijewer
Fürsten nicht erhalten werden konnte. Noch war die alte slawische Gewohnheit,
in unabhängigen kleinen Gebieten zu wohnen, nicht überwunden. Es begann
eine wilde Zeit der Thronkämpfe, die auswärtigen Fürsten Veranlassung zum
Eingreifen boten. Der polnische Herzog Boleslaw der Zweite plünderte Kijew
(1069). Rußland zerfiel in der Folge wie Polen in einige Teilfürstentümer.
Von diesen erlangte zunächst Halicz (so genannt nach seinem Hauptort,
davon Galizien) zeitweise größere Bedeutung. Es reichte in der zweiten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts vom Sanfluß (Grenze gegen Polen) bis an die
Donau und schien unter Jaroslaw Osmomysl (demi Achtsinnigen) Kijew ver¬
dunkeln zu wollen. Bald darauf beriefen die unbotmäßigen Adeligen (Bojaren)
den benachbarten Teilfürsten Roman von Wolhynien (nach dem Hauptort
Wladimir-Wolodomir auch Lodomerien genannt) ins Land. Roman vereinigte
Wolhynien, Halicz und das Gebiet von Kijew in seiner Hand. Doch auch dieser
auf ruthenischen Gebiet gelegene Staat hatte keinen Bestand. Nach der starken
Erschütterung durch die Mongoleneinfälle (1223 bis 1241) suchten seine Fürsten
in der Anlehnung an den Westen, in der Verbindung mit dem Papsttum und
durch deutsche Ansiedelung ihre Herrschaft zu stärken. Damals entstand auch
die nach einem ruthenischen Fürsten genannte Leoburg (Leinburg, Lemberg), die
wenig später schon ein blühendes deutsches Gemeinwesen aufwies. Wenige
Jahrzehnte später besetzte aber Kasimir von Polen Galizien und Wolhynien,
während die Litauer die anderen ruthenischen Länder bis über den Dniepr
(Podolien, Brazlaw und Kijew) an sich rissen. Durch die Vereinigung Litauens
und Polens kamen schließlich auch diese Gebiete an Polen. In dem wenig
kultivierten Litauen vermochten die Ruthenen wegen ihrer verhältnismäßig höheren
Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Das Ruthenische wurde
sogar dort Hof- und Amtssprache. Aber durch die immer engere Verbindung
Litauens mit Polen wurde die Lage der Ruthenen überaus schwierig. Die
Ruthenen galten wegen ihrer Abstammung und Religion als Untertanen ge¬
ringerer Art. Sie waren von verschiedenen Rechten (anfangs z. B. von der
Beteiligung mit deutschem Recht) ausgeschlossen. Selbstverständlich konnten sie
zu Ämtern nicht gelangen. Um der Bedrückung zu entgehen und eine Stellung
zu erringen, mußten die Ruthenen ihre Sprache und orthodoxe Religion auf¬
geben und Polen werden. Das taten auch ihre adeligen Großgrundbesitzer und
wohl alle, die auf Intelligenz Anspruch erhoben. Unerträglich wurde allmählich
der Druck auf die Bauern. Er traf die ruthenischen um so mehr, als diese
auch in ihrem Glauben durch die angestrebte und schließlich 1595 vollzogene
Union bedrückt wurden. Den unerträglichen polnischen Robotverhältnissen ent¬
zogen sich unzählige durch Flucht in die Karpathen, nach Oberungarn, vor allem
aber in die Moldau und in die Ukraine, das Grenzland des Ruthenengebietes
im Südosten.
Hier gelang es den Ruthenen nochmals ein eigenes Staatswesen zu
gründen. Der fortwährende Kriegszustand in der Nachbarschaft der Tataren
zwang die Grenzbewohner, die Ukrainer (Ukraina ---- Grenzland, Mary zu stetem
Kampf. Diese kriegerischen Grenzer nannten sich seit dem Anfang des fünf¬
zehnten Jahrhunderts „Kosaken" (Einrichtung und Namen sind tatarischen Ur¬
sprungs). Sie unterstanden damals den Großgrundbesitzern, die hier weite
Besitzungen erwarben und besiedelten, oder den Starosten des Grenzlandes.
Die polnischen Könige des sechzehnten Jahrhunderts suchten die Kosaken dem
polnischen Staatsorganismus einzufügen. Aber es sollte nur ein Teil als bevor¬
rechtete Krieger aufgenommen („registriert") werden, die anderen mußten zum
Bauernstand zurückkehren; damit waren die Kosaken nicht einverstanden. Es
kam zu Aufständen, die streng bestraft wurden. Nun flohen zahlreiche Kosaken
auf das linke Dnieprufer, und fo entstanden die Zaporoger Kosaken, deren
Name von ihren unterhalb der „poro^i" (Stromschnellen) des Dniepr gelegenen
Wohnsitzen und Festungen (8it8Lu) herrührt. Bedrückte Ruthenen und andere
Verfemte, die sich zu ihnen gesellten, verstärkten ihre Scharen und besiedelten
immer weiter das Land gegen Osten. So entstand eine Art von demokratischer
Republik unter der Leitung eines Hetman. Ob man dieses Gebilde einen Staat
im eigentlichen Sinne nennen darf, mag dahingestellt bleiben. Seit dem Ende
des sechzehnten Jahrhunderts begannen die Kämpfe der Kosaken gegen die Polen.
Aber auch ihr tüchtigster Hetman Bostan Chmelnicki. der 1648 vom Dniepr
bis zum San (Galizien) alles Land gegen Polen in Aufruhr gebracht hatte,
sah sich genötigt bei den Tataren und Türken, die damals die Nordküste des
Schwarzen Meeres beherrschten, schließlich bei Moskau Hilfe zu suchen.
Damit war der letzte Versuch, im ruthenischen Gebiete ein selbständiges
Reich zu befestigen, gescheitert. Indem die Ruthenen bei Moskau Zuflucht
suchten, gaben sie den Anlaß zum Aufgehen des ruthenischen Gebietes in
den jüngeren russischen Staat. Dieser war aus einem der Teilfürstentümer
entstanden, in die das alte russische Reich zerfallen war. Nach dem Muster
und unter dem Einfluß der tatarischen Gewaltherrschaft wurden die Fürsten
dieses Gebietes unumschränkte Herrscher. Nach dem Verfalle der Mongolen-
Herrschaft hatten sich die Moskaner Fürsten selbständig gemacht. Es ist leicht
begreiflich, daß diese Alleinherrscher für die demokratischen Kosaken kein Ver¬
ständnis hatten. Schon 1667 verständigten sie sich mit Polen über die Teilung
der Ukraina; Rußland erhielt zunächst das Gebiet östlich von Dniepr und
Kijew, während Polen die westlichen Teile behielt. In beiden Anteilen währte
die Bedrückung weiter. Aufstände führten zu nichts. Jener des Hetman
Mazepa (1708) wurde trotz seiner Verbindung mit Karl dem Zwölften von
Schweden von Peter dem Großen unterdrückt, und Katharina die Zweite ver¬
nichtete die letzten Reste der alten Kosakenorganisation. Die heutigen Kosaken¬
regimenter haben damit nichts gemein. Im polnischen Anteil wurden ebenfalls
die Aufstände der „Hajdamaken" und zuletzt die sogenannte „Kolijivschtschyna"
niedergeworfen. Durch die Teilungen Polens (1772 bis 1795) kam sodann
auch das von Ruthenen bewohnte Gebiet rechts (westlich) vom Dniepr an
Rußland. Nur die Ruthenen in Ostgalizien fielen an Österreich. Außerdem
gelangten 1774 durch die Erwerbung der Bukowina die in diesem Lande
wohnenden Ruthenen unter österreichische Herrschaft. Ein kleiner Teil der
Ruthenen wohnt schließlich im nördlichen Ungarn.
In dem russischen Anteil Rutheniens wurde weiter mit größter Härte
gegen die Ruthenen verfahren. Trotzdem begann am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts ein neuer Aufschwung. Er ging von Ruthenen aus, die an
westeuropäischen Universitäten ihre Bildung genossen hatten. Einer der hervor¬
ragendsten Vertreter dieser Wiedergeburt war Kotlarewskyj, der 1798 die erste
moderne ruthenische Dichtung, eine Travestie der vergilischen Aeneis, geschrieben
hat. 1846/7 wurde in Kijew von ruthenischen Gelehrten und Schriftstellern die
Cyrill- und Methodgesellschaft gegründet, um ruthenische Kultur und Literatur
zu pflegen. Die russische Regierung löste sie auf, und ihre Seele, der größte
ruthenische Dichter Taras Schewtschenko, wurde als gemeiner Soldat in die
Festungen der Kirgisensteppe geschickt, wo er weder lesen noch schreiben durfte.
Um die ruthenische Literatur vollständig zu unterdrücken, wurde 1376 das
Erscheinen gedruckter Schriften in dieser Sprache, ebenso alle dramatischen Vor¬
stellungen und Vorträge ruthenischer Lieder verboten. Erst nach der Revolution
von 1905 und nach der Einführung 6er Verfassung trat eine Wendung zum
Besseren ein. Aber der Schaden, den die Ruthenen durch die lange Unter¬
drückung erlitten haben, ist unendlich groß und nicht so leicht und rasch zu
überwinden. Zu den schwersten Schäden zählt das Fehlen ruthenischer Volks¬
schulen, wie dies schon Cleinow scharf betont hat.
Besser gestaltete sich die Lage der Ruthenen in Galizien. Die absolutistische
österreichische Regierung förderte sie als Gegengewicht gegen die Polen, ihre
alten Bedränger. Diese Förderung des Bauernvolkes der Ruthenen ergab sich
übrigens schon aus der von der österreichischen Regierung allgemein angestrebten
Verbesserung der Lage der Bauern in Galizien, die auch für die polnischen sehr
drückend war. Die Ruthenen erwiesen sich für diese Obsorge dankbar; man
begann von den „Tirolern des Ostens" zu sprechen. Die Polen machten dafür
der österreichischen Regierung den Borwurf, die Ruthenen erst „entdeckt" zu
haben, denn bis dahin galten sie als eine Art griechisch-katholischer Polen.
Als dann Ende der 1860 er Jahre die Polen zur Herrschaft kamen und durch
ihre kluge Politik in Wien zu ungemessenem Einfluß gelangten, begann die
bekannte Bedrückung der Ruthenen und Deutschen in Galizen. Nun vermochte
die Zentralregierung wenig mehr zu helfen. „Gott ist hoch, der Kaiser ist
weit, Gerechtigkeit kann man nicht erreichen" wurde beim ruthenischen Bauern
eine geflügelte Redensart. In dieser Not griffen sie zum Wanderstab. Tausende
verließen ihre Heimat und wanderten nach Amerika. Vorwiegend in der
ruthenischen Intelligenz machten sich dagegen zwei Richtungen bemerkbar. Die
eine — meist mißvergnügte Pfarrer, Lehrer, Advokaten u. tgi. — ließen sich
von Rußland gewinnen. Die russische Propaganda hat schon seit mehr als
sieben Jahrzehnten in Galizien eingesetzt und unausgesetzt gewühlt. Als Vor¬
wand benutzte mau anfangs die Pflege der russischen Sprache und Literatur,
später die Herstellung des orthodoxen Glaubens, dem die Ruthenen entfremdet
worden waren. Die Anhänger Rußlands nannten sich „Altruthenen". Im
Gegensatz zu ihnen stand die jungruthenische Richtung, welche im Geiste des
ukrainischen Dichters Schewtschenko für die bedrückten Ruthenen den Kampf
gegen Rußland aufnahm. Die Jungruthenen traten zugleich für die Rechte
der Ruthenen in Galizien gegen die Polen auf. Unter ihrer Führung erfolgte
eine nationale und wirtschaftliche Organisation, die, zeitweilig von der öster¬
reichischen Regierung unterstützt, schöne Erfolge errang. Auch die Erforschung
ihrer Geschichte, Sprache und ihres Volktums schrieben sie auf ihr Programm
und gründeten als eine Akademie der Wissenschaften die Schewtschenko-
gesellschaft in Lemberg. Die jungruthenischen Schutzorganisationen in Galizien
wurden auch der Hort der russischen Ruthenen. Um ihre Stellung zu stärken,
suchten die Jungruthenen auch Anschluß an die Deutschen. Ihr höchstes politisches
Ziel bildet die Wiedererrichtung eines ruthenischen Staates — der Ukraina.
Über das Problem der freien Ukraina hat, wie schon bemerkt, Cleinow
ausführlich gehandelt.*) Darauf gehen wir hier nicht weiter ein. Indessen
fühlen die Ruthenen selbst, daß dieses Ziel noch in ferner Zukunft steht und nur
nach langer Vorbereitung zu erreichen ist. Sie haben daher für den Fall, daß
ihr Ideal nicht zu erlangen wäre, zumindestens die Schaffung der autonomen
ukrainischen Provinz in Österreich ins Auge gefaßt. Es soll nämlich Ostgalizien,
das vorwiegend von Ruthenen bewohnt ist, vom polnischen Westgalizien getrennt
und zu einer besonderen Provinz umgestaltet werden. Mit dieser sollen die
eventuell von Nußland befreiten ruthenischen Gebiete vereinigt werden.**)
Wie der Wunsch nach einer freien Ukraine den heftigsten Widerstand in
Rußland gefunden hat, so erregt die Forderung der Loslösung Ostgaliziens
von der polnischen Herrschaft den stärksten Widerspruch der Polen. Man darf
sagen, daß diese Forderung der galizischen Jungruthenen viel dazu beigetragen
hat, daß ein großer Teil der Polen im letzten Jahrzehnt sich dem Neoslawismus
und dem Russentum in die Arme warf: Polen und Russen wollten vereint die
ihnen gefährliche neue Richtung erdrücken. Die Polen erheben in ihren Pro¬
grammen Anspruch auf das „ungelenke Galizien". Die Ruthenen verweisen zur
Unterstützung ihrer Forderung auf die frühere Selbständigkeit des ruthenischen
Ostgalizien. Sie machen geltend, daß die österreichische Regierung auch schon
selbst daran gedacht hatte, die Verwaltung der großen Provinz zu teilen. Auch
betonen sie, daß die Polen die Ruthenen bedrücken und daß die fortwährende
Spannung eine geordnete, geregelte Verwaltung unmöglich mache. Die Polen ver¬
weisen dagegen auf ihre historischen Rechte und auf den Umstand, daß in Ostgalizien
auch viele Polen (34 Prozent) wohnen, Lemberg sogar bloß 20 Prozent Ruthenen
zählt. Dieser starke Prozentsatz von Polen würde sich nicht leicht der ruthenischen
Majorität fügen - dadurch entstünden in der neuen Provinz sofort arge Reibungen.
Auch wird betont, daß die Ruthenen kaum die nötigen Kräfte besitzen, um die
Provinz selbst verwalten zu können. In Ostgalizien zählt man 50 bis 75
Prozent Analphabeten (im russischen Ruthenengebiet sogar über 75 Prozent).
Schließlich ist zu befürchten, daß in dem abgetrennten Ostgalizien der Panslawismus
weiter um sich greifen wird, da die Jungruthenen ihm kaum Einhalt gebieten könnten.
Aus allem ist zu ersehen, daß gegenwärtig auch die Verwirklichung des
Wunsches der Ruthenen, eine eigene Provinz in Österreich zu erhalten, auf große
Schwierigkeiten stößt. Man wird daher diesen Grenzgebieten eine militärische
Verwaltung geben müssen, bis verschiedene Schwierigkeiten beseitigt und die
russische Politik in andere Bahnen gelenkt sein wird. Nur eine Erstarkung
unserer Ostgrenze unter militärischer Leitung kann die panslawistische Gefahr
eindämmen und eine endgültige Ordnung der Verhältnisse vorbereiten. Die
Militarisierung Ostgaliziens war schon unter Kaiser Josef dem Zweiten geplant
und der damals in der Bukowina geführten Militärverwaltung hatte das
Land viel zu verdanken.*)
Am Schlüsse wollen wir einige Bemerkungen über die Namengebung der
Ruthenen folgen lassen.
Zur Bezeichnung dieses etwa 33 Millionen zählenden Volkes bediente man
sich bis vor wenigen Jahren in der deutschen Sprache fast ausschließlich des
Namens Ruthenen. Daneben hörte man auch von Kleinrussen, Rotrussen und
Rusfinen sprechen. In neuerer Zeit erst ist von den Ruthenen selbst noch die
Bezeichnung Ukrainer zur Geltung gebracht worden; es geschah dies unter dem
Einfluß der von der russischen Ukraine ausgegangenen und genährten jung-
ruthenischen Bewegung.
Welche von diesen Bezeichnungen verdient im Deutschen deu Vorzug?
„Kleinrusse" ist unbedingt abzuweisen. Er ist irreführend, weil er die
Ruthenen mit den Russen identifiziert und sie gewissermaßen als ein Anhängsel
der Moskowiter („Großrussen") erscheinen läßt. Dieser Name wird
besonders von den Russen verwendet, weil er ihren politischen Ansprüchen ent¬
spricht. Ähnliches gilt von dem Ausdruck „Rotrusse." Der Name „Russine"
ist aus der ruthenischen Volksbezeichnung der Ruthenen (rü3^n) entstanden.
Er ist im deutschen Sprachgebrauch wenig verbreitet und wird von den Ruthenen
selbst nicht gern gehört. Seine weitere Pflege im Deutschen ist daher unstatthaft.
Aber auch die Bezeichnung Ukrainer erscheint im Deutschen bedenklich. Schon
Cleinow hat in seinem Artikel festgestellt, wie unsicher der Begriff der Ukraina
ist. Historisch war die Ukraina nur der südöstliche Teil des Nuthenengebiets
am Dniepr. Nie ist es früher üblich gewesen, das ganze von Ruthenen bewohnte
Gebiet als Ukraine zu bezeichnen. Es hätte dies auch keinen Sinn gehabt,
denn Ukraine heißt Mark, Grenzland. Es widerspricht daher jeder historischen
Überlieferung etwa auch Ostgalizien, die Bukowina und Nordostungarn (wo
ebenfalls Ruthenen wohnen) als Ukraina in Anspruch zu nehmen. Aber selbst
wenn man zugibt, daß das neue angestrebte ruthenische Reich nach seinem etwaigen
Hauptland (der Ukraina im Südosten) als „Ukraina" bezeichnet werden soll,
wie Österreich nach seinem alten Hauptland (Ostmark, Osterrichi), so muß man
sofort auch erinnern, daß „Österreicher" keine Bezeichnung für eine Nation ist.
Man muß ferner darauf hinweisen, wie irreführend die Bezeichnung „Ungar"
und „Böhme" ist. Der Ungar kann Magyare, Deutscher, Nuthene, Rumäne
usw. sein, der Böhme ist Tscheche oder Deutscher. Ebenso wird man
„Ukrainer" alle verschiedensprachigen Bewohner der Ukraina nennen, also auch
Russen. Türken, Polen, Deutsche, nicht nur Ruthenen. Die Ruthenen treten
für die Bezeichnung Ukrainer ein, trotzdem ihnen die erwähnten Schwierigkeiten
bekannt sein durften, weil sie die volkstümlichen Bezeihnungen für ihren Namen
(Rusun, - Nusnak, Ruski) wegen seiner Verwandtschaft mit den Russennamen
(Rossija, Russkije) vermeiden wollen.
Der Deutsche besitzt aber in dem seit dem zwölften Jahrhundert zuerst im
Lateinischen, dann auch in den westeuropäischen Sprachen eingebürgerten Namen
„Ruthene" eine treffliche Bezeichnung. Durch diese sprachliche Nebenform von
Russe ist die Scheidung zwischen Ruthenen und Russen klar durchgeführt. Unter
Ruthenen verstand man alle Slawen, die jetzt als Ukrainer in Anspruch genommen
werden. Auch in den ruthenischen Kreisen war die Bezeichnung „Ruthene" in
diesem Sinne anerkannt. So hat M. Kordeba noch 1896 in den „Zapyski"
der Schewetschenkogeschellschaft XI. Bd. die von mir vorgeschlagene Namengebung
gebilligt, wonach „Ruthene" als Gesamtbezeichnung für das ganze Volk im
Deutschen verwendet werden soll. A. Borwiüski kennt in seiner Schilderung der
Ruthenen-Russinen im Band Galizien des bekannten monumentalen Werkes
„Österreich-Ungarn in Wort und Bild" den Namen Ukrainer noch gar nicht. Erst
später begann, und zwar mit starken Schwankungen (man vergl. die Schriften
der Schewetschenkogesellschaft) seine Verwendung auch im Deutschen. Aus unseren
Bemerkungen dürfte sich ergeben haben, daß dies weder notwendig, noch vorteilhaft
ist, vielmehr allerlei Unzukömmlichkeiten nach sich ziehen muß. Wir haben mehr
als einen Grund, an den Bezeichnungen Ruthenen, ruthenisch festzuhalten.
Auch der alt belegte Namen „Ruthenier" (Rutenia) für die von den Ruthenen
bewohnten Gebiete ist nicht von der Hand zu weisen. Ukrainer können vor
der Hand für uns nur die Ruthenen in Rußland sein. Nach der Wiederbegründung
eines Staates Ukraina könnten dessen Angehörige als Ukrainer bezeichnet werden,
doch ohne Rücksicht auf ihre Nationalität.*)
Ml s ist ein bedeutungsvolles Zeichen der gewaltigen Stärke und
des unerschöpflichen Reichtums deutschen Geistes, daß mitten im
Toben des Weltkriegs, der alle militärischen, wirtschaftlichen,
moralischen und geistigen Kräfte unseres Volkes bis zu ihren
^Höchstleistungen anspannt, das wissenschaftliche Leben an den
deutschen Hochschulen der beiden mitteleuropäischen Kaiserreiche — abgesehen
von wenigen kleinen Fachhochschulen und der Universität Czernowitz — nach kurzer
Stockung in seiner alten Bahnen weitergeht. Ja, Deutschland hat sogar die Kraft be¬
sessen, zur Zeit der „ruhmvollen Verödung" der Hörsäle, der kausw mfrequentia,
wie der Philologe Böckh während der Freiheitskriege sagte, seinen alten Hochschulen
in der Universität Frankfurt eine neue hinzuzufügen und im feindlichen Auslande dem
polnischen Geistesleben durch Gründung der Warschauer Hochschulen und dem
vlämischen durch Umwandlung der Universität Gent zu einem glänzenden Siege
zu verhelfen. Nicht abseits vom Krieg oder gar völlig unbeeinflußt durch ihn,
vollzieht sich die Entwicklung der Wissenschaft; im Gegenteil, die tiefe Ein¬
wirkung der großen Zeitereignisse offenbart sich bei ihr schon jetzt und wird
auch fernerhin ein Umwerten und Neuwerten alter Urteile, eine Umwälzung
und Erneuerung überlebter Methoden und Denkweisen sowie eine Erweiterung
der Forschungsgebiete zur Folge haben, wie sie sich in der Schaffung des
Instituts für ostdeutsche Wirtschaft zu Königsberg und der Leipziger Forschungs¬
institute, im Ausbau des Kieler Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft,
sowie der Berliner Einrichtungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft noch während
des Weltkrieges gezeigt hat.
Die Anpassung an die herrschende Zeitlage und die ihr Rechnung tragende
Neuordnung des Hochschullebens ging nur allmählich, sowie unter mancherlei
Opfern und Zugeständnissen vor sich; weilten doch zahlreiche Hochschullehrer
bald nach Kriegsbeginn im Dienste des Vaterlandes fern von der ^Jena mater
und fehlte doch überall der größte Teil der akademischen Jugend, welche außer
etwa vierhundert studentischen Helferinnen rund sechzigtausend Krieger gestellt
hat, davon gegen vierzigtausend Universitätsstudenten. Daß an vielen Stellen,
zumal an den Universitäten, die Entwicklung trotzdem so glatt vonstatten ging,
war zum guten Teil ein Verdienst der Studentinnen, die gleich ihren Geschlechts¬
genossinnen in anderen Berufen voll vaterländischer Begeisterung und Hin-
gehender Opferwilligkeit in die Bresche sprangen und die Arbeit dort auf.
nahmen, wo ihre männlichen Kommilitonen hatten aufhören müssen.
Was die deutschen Hochschulen insgesamt für unser Volk in dieser schweren
Zeit des Weltkrieges geleistet haben, darüber fehlt uns heute noch jeder Über¬
blick, und es muß einer späteren Zusammenfassung vorbehalten bleiben, ihren
Anteil an den gewaltigen Ereignissen zu bestimmen und festzustellen, was ihre
Professoren als Politiker, Patrioten und Lehrer gewirkt und ihre sämtlichen
Angehörigen als Kriegsteilnehmer im Felde oder im Lazarett vollbracht und
durchlitten haben, wie die Daheimgebliebenen in der Verwundetenpflege und
Kricgsfürsorge, sowie auf allen Feldern sozialen Wirkens tätig gewesen sind, und
welche Steigerung das wissenschaftliche Leben durch den Krieg erfahren hat.
Berücksichtigt man allerdings die Zersplitterung der akademischen Literatur, die
Fülle von rasch verschwindenden Privatdrucken und die Sorglosigkeit, welche
gerade an den Hochschulen herrscht, wenn es gilt, Material zu ihrer Geschichte
zusammenzutragen, so fragt man sich unwillkürlich: wird es überhaupt möglich
sein, die Bedeutung unserer Hochschulen für die Volksentwicklung während des
Weltkrieges bis in alle Einzelheiten richtig darzustellen? Diese Frage muß
einstweilen unerörtert bleiben. Immerhin lohnt sich der Versuch, gewissermaßen
einen Querschnitt durch das akademische Leben der Gegenwart zu machen und
an ihm zu zeigen, welche charakteristischen Eigenschaften dem Beurteiler am deut¬
lichsten entgegentreten. Dies läßt sich ermöglichen, indem man die aus Hoch¬
schulkreisen stammende akademische Kriegsliteratur einer eingehenden Betrachtung
unterzieht und zwar besonders die in selbständigen Veröffentlichungen vor¬
liegende, welche durch die akademische und die Tagespresse nur in wenigen
Punkten verändert und ergänzt wird.
Es war erklärlich, daß die Hochschulen, deren Dozenten und Studenten
bei der Mobilmachung zu einem großen Teil nach allen Windrichtungen aus¬
einandergestoben, früher oder später in sich das Bedürfnis fühlten, mit
ihren ehemaligen Angehörigen wieder eine feste Verbindung anzuknüpfen, von
ihren Schicksalen etwas zu erfahren und ihnen von der Weiterentwicklung des
Hochschullebens zu berichten. Dieses Bedürfnis war zwar überall vorhanden,
aber nicht an allen Stellen bewirkte es selbständige Taten.
Von den Technischen Hochschulen gab nur München eine erweiterte Chronik
als Kriegsschrift heraus, welche insbesondere wertvolle Vergleiche zwischen der
Hochschulentwicklung von 1870 und der der Gegenwart zieht. Von den Gro߬
stadtuniversitäten begnügte sich Berlin damit, die zwei Rektoratsreden von
Professor von Wilamowitz-Moellendorff ins Feld zu schicken; Halle trat damit
hervor, daß es einen kurzen Gesamtbericht, bis Februar 1916 reichend, in
handlichem Format drucken und an seine draußen stehenden Angehörigen ver¬
senden ließ; in Breslau übernahm es der Verlag der „Hochschul-Rundschau",
den Kommilitonen im Felde eine inhaltlich wertvolle Sondernummer zu über¬
reichen, und die Universität Leipzig überließ es ihrem Studentenausschuß,
die akademische Entwicklung während des Krieges den im Kriegsdienst
Stehenden zu schildern. Mit einer eigenartigen und zartsinnigen Liebesgabe
trat lediglich die Universität München hervor, welche unter dem Rektorate von
Professor H. von Grauert im März 1916 eine von kurzem Text begleitete
Sammlung echt deutscher Bilder von Karl Spitzweg und Moritz von Schwind
für „unsere Brüder in fernen Landen und in den Lazaretten" herausgab.
Von den großen deutscheu Universitäten Österreichs machte sich nur die Wiens
bemerkbar, die in zwei besonderen Heften mit Stolz von einer umfangreichen
Kriegsschöpfung, dem von ihr errichteten Verwundetenspital, berichten konnte.
Dieses Zurücktreten der Großstadtuniversitäten bedeutet aber keineswegs
einen Mangel an Teilnahme am gewaltig flutenden Leben der Gegenwart.
Viele von ihren Dozenten wandten sich vielmehr mit ihrer Arbeit an weiteste
Volkskreise, und manche der von ihnen gehaltenen Reden, die teils in Samm¬
lungen, teils in Einzeldrucken vorliegen, sind bedeutungsvolle Stimmen aus
großer Zeit.*)
Die Kleinstadtuniversitäten, deren Lehrer sich ebenfalls und zwar stellen¬
weise sehr zahlreich als Redner vor größerem Publikum betätigten, sahen ein
Hauptarbeitsgebiet auf einem anderen Felde, und es zeigte sich bei einer Reihe
von ihnen das enge, vertraute Verhältnis zwischen Hochschule und Studenten¬
schaft im schönsten Lichte.
Die Universität Bonn sandte 1916 einen „Ostergruß" an ihre Angehörigen,
der eine Reihe wissenschaftlich gehaltener, fesselnd geschriebener Beiträge von
Bonner Dozenten enthält. Besondere Beziehung auf das akademische Leben
haben vor allem zwei Artikel. In einer kleinen Plauderei spricht Professor
Litzmann über das „Kriegserlebnis", das seinen Jüngern früher als ein fast
utopischer unzeitgemäßer Begriff erschienen sei, und in der wirkungsvollen, tief
religiösen Ansprache von Professor Tillmann wird in kurzer, aber klarer und
charakteristischer Weise die tiefe Bewegung geschildert, welche der Weltkrieg in
der akademischen Jugend auflöste.
Erlangen schickte 1915 einen „Gruß der Universität an ihre Studenten"
ins Feld, worin eine Reihe selbständiger kleiner Artikel das gesamte, von den dort
Lehrenden und Lernenden zurückersehnte Leben bis in seine Einzelheiten schildert
und die Liebe zu der von Albrecht Dürer malerisch verherrlichten fränkischen
Heimat erhöhen soll. Nicht schwer und tiefsinnig sind die einzelnen Beiträge; ein
leichter, warmer, herzlicher, wissenschaftlich angeregter Plauderton durchzieht das
Ganze, ja der kleine Artikel von Professor Oertmann über Erlanger Juristen¬
leben in der Kriegszeit besitzt insofern noch eine besondere Note, als er frischen,
humorvollen Scherz, der sonst kaum in der akademischen Kriegsliteratur zu
finden ist, zur Geltung kommen läßt. — In einem zweiten Gruß der
Universität: „Erlanger im Kriege" vom Jahre 1916 erzählen Angehörige der
^ima Mater in einfacher, ungezierter und anspruchsloser Weise von ihrem
Leben und Wirken draußen im Felde. Die Einzelbeitrüge sollen „im bescheidenen
und im intimen Rahmen der Universität" lehren, daß „der Krieg auch als
Säemann verstanden und wirksam wird" und „daß der deutsche Geist ans
diesem Kriege ungeschädigt, ja gekräftigt hervorgehe."
Die Universität Freiburg sandte nicht nur eine reizvolle Schilderung:
„Freiburg und der Breisgau im Krieg" von Professor Doflein ins Feld,
sondern auch einen selbständigen „Weihnachtsgruß 1915". Dieser bietet außer
den warmherzigen Worten des Prorektors Professor von Below eine Reihe
hübscher, stimmungsvoller Bilder aus der Gegenwart und Vergangenheit der
Universität, sowie eine Anzahl von Kriegsbriesen Freiburger Studenten und ein
humorgewürztes, wenn auch künstlerisch belangloses Zeitgedicht eines Musensohnes
auf das durch den Krieg veränderte Leben in Freiburg.
Die Universität Gießen hat außer mehreren kurzen Hochschulberichten in
pietätvoller Weise zwei Sonderheftchen erscheinen lassen, welche die Teilnahme
von Universitätsangehörigen am Kriege veranschaulichen. Außerdem ist von
ihr als eigenartige Liebesgabe ein „Universitätsbilderbuch" ins Feld geschickt
worden, das die Entwicklung der Hochschule von ihrer Gründung bis zur letzten
Gegenwart in gut ausgewählten charakteristischen Abbildungen darstellt und
vom Rektor Professor Sommer einen hübschen begleitenden Text in Knittelversen
erhalten hat.
In dem Weihnachtsgruß Göttingens überwiegen die kurzen, wissenschaftlich
gehaltenen Skizzen über allgemeine, den Krieg betreffende Fragen. Unmittelbar
auf das akademische Leben beziehen sich nur die väterlich tröstenden Worte
Professor Heubners an die vom Schicksal stiefmütterlich behandelten Feld¬
unterärzte und der Artikel von Professor Mirbt, welcher mit Stolz die während
des Krieges erfolgte Gründung der akademischen Lesehalle feiert.
Die „Kriegsausgabe" des Universitätskalenders, die die Universität Greifs¬
wald bearbeitet hat. trägt ein stark örtliches Gepräge, wodurch sie gerade sehr
anheimelnd wirkt. Wissenschaftlich vertiefte Aufsätze wechseln mit flott geschriebenen
ub, und die kleine, scharf beobachtete Studie: „Der Kriegsstudent" von
Dr. Bernhard Fischer verdient als wertvoller Beitrag zur studentischen Kultur¬
geschichte besondere Hervorhebung.
Die Universität Jena hat ebenso wie Gießen in zwei Sonderheften eine
Statistik seiner Kriegsteilnehmer herausgegeben. Außerdem ist von ihr 1915
ein zum Herzen sprechender Weihnachtsgruß des Prorektors Professor Thümmel
ausgegangen, welcher wegen der auf die Zukunft deutenden Reformgedanken
für die Studentenschaft von Wert erscheint.
Eine liebenswürdige Gabe ist der „Sonnwendgruß", den die Universität
Marburg ihren Jüngern 1916 ins Feld geschickt hat. Nicht schwere wissen¬
schaftliche Probleme werden in ihm erörtert, sondern allgemein interessierende,
auf den Krieg bezügliche Fragen bilden den Vorwurf der kurzen, leicht und
anregend geschriebenen Artikel, in denen sich die Vertreter der verschiedenen
Fakultäten an ihre alten Hörer wenden.
Inhaltlich einander verwandt, nur im Format verschieden sind der „Weih¬
nachtsgruß" der Universität Tübingen und die von ihr herausgegebene „Kriegs¬
zeitung", von der bis jetzt zwei Nummern vorliegen. Sie wollen in erster
Linie eine innige Verbindung zwischen den Zuhausegebliebenen und den im Felde
Stehenden herstellen, und zur Erreichung dieses Zieles dürften die anheimelnden
Bilder Tübingens von Ubbelohde und die gute Schilderung des gegenwärtigen
akademischen Lebens von Universitätssekretär Rienhardt wesentlich beitragen.
Indessen haben die beiden ersten Schriften keineswegs einen rein örtlichen
Charakter, vielmehr schiebt sich bei ihnen ebensosehr das mit der Universität
eng verbundene lehrhafte Element unauffällig in den Vordergrund.
Die Universität Würzburg endlich hat ihren Studenten eine eigenartige,
von den übrigen Hochschulen abweichende Liebesgabe ins Feld geschickt, ein aus
drei Teilen bestehendes Kunstblatt, das außer wohlgelungenen, derbe Kraft ver¬
ratenden Bildern von Heinz Schiestl zwei Gedichte bringt, eines zum Lob der
Stadt Würzburg, das andere zur Verherrlichung der akademischen Jugend
Deutschlands.
Aber nicht bloß das Verlangen, mit den im Felde Stehenden die Fühlung
zu erhalten, leitete die Daheimgebliebenen bei Abfassung und Versendung lite¬
rarischer Liebesgaben, sondern auch der Wunsch, die in der Ferne Weilenden
geistig und beruflich zu fördern. Am planmäßigsten und umfassendsten dürften
dies bisher die Universitäten Göttingen und München getan haben. Letztere
gab im Februar 1916 eine im ganzen allerdings wenig tröstliche „Zusammen¬
stellung über die derzeitigen mutmaßlichen Aussichten für bayrische Studierende
in verschiedenen akademischen Berufen" heraus, erstere verfaßte eine eigene
Denkschrift über die Einrichtung von Ergänzungskursen für Kriegsteilnehmer.
Eine Sammlung von fünf streng fachwissenschaftlichen Aufsätzen versandte die
Universität Heidelberg an ihre Studenten; sie sollen, wie der Prorektor Professor
Bauer im Vorwort schreibt, ein Gruß sein, „der Euch teilnehmen läßt an der
Arbeit, die wir daheim in aller Stille weiterpflegen, der Euch erinnert an die
Semester vor dem großen Krieg, der Euch hinführt zu den künftigen Tagen,
die ihr wieder mit uns in gemeinsamem Forschen nach Wahrheit zubringen
werdet."
An diese von einzelnen Hochschulen ausgehenden Veröffentlichungen, welche
zwar keine neuen großen Gedanken bieten, aber ein beachtenswertes geistiges
Niveau zeigen, reihen sich andere an, welche für die Studentenschaft im all¬
gemeinen bestimmt sind. Kurze kräftige, aphoristisch gehaltene Ansprachen an
die bei der Mobilmachung hinausziehenden Musensöhne, an die „Propheten
und Priester der deutschen Zukunft" bietet das Sammelheft: „Wenn es gilt fürs
Vaterland". Ein frisches, von treuherziger Begeisterung getragenes Lied:
„Studentenauszug" von Wilhelm Hermanns hat in ansprechender Vertonung
Josef Schacher der akademischen Jugend gewidmet. In hinreißender Sprache
und flammenden Worten, begeistert und begeisternd, stellt Professor Kühnemann
an den ersten Kriegslager den Hinausziehenden eindringlich vor die Augen,
welche Aufgaben sie zu erfüllen hätten, und läßt vor ihnen in der Ferne das
hehre Zukunftsideal erstehen, das ihnen in und nach dem Kriege vorschweben
soll: die von ihnen erkämpfte neue Gestalt der Welt, „bei welcher Deutschland
leben kann."
Nichts gedanklich Neues enthalten die zwölf „Flugblätter an die deutsche
Jugend", welche die Berliner Freie Studentenschaft herausgegeben hat; sie
wollen lediglich „der im Kampf und in der Heimat stehenden Jugend die
Forderungen ihrer unverwirklichten Meister in Erinnerung bringen und sie zur
Erfüllung bereit machen" sowie durch die Verbreitung dieser geistig gediegenen
und nicht veraltenden Ausführungen großer Denker und Dichter von Plato bis
Tolstoj. Ruskin und Kierkegaard in der Jugend aufbauende Kräfte wecken.
Noch andere Ziele hat sich die Züricher Freistudentenschaft bei der Herausgabe
der in ihrem Kreise gehaltenen Kriegsvorträge gesteckt. Sie wollte „besonders
auch durch die Hervorhebung der Kulturbedeutung der sich heute bekämpfenden
Völker" dahin wirken, „an Stelle des heutigen, zum guten Teil auf Unkenntnis
beruhenden Völkerhasses Verständnis und damit Achtung und Liebe zu pflegen,"
und so eine Aufgabe erfüllen, „die nicht nur dem Geiste wahrer akademischer
Bildung, sondern auch der Eigenart der schweizerischen Lage entspricht."
Was in den bisher genannten reichsdeutschen Liebesgaben nach Leben und
Verbreitung ringt, haben zwei große geistige Kreise in edlem Wettbewerb mit¬
einander zu sammeln und zu organisieren gesucht. Der erste ist der Kreis
katholischer Akademiker, der seinen Mittelpunkt in dem überaus rege und ziel¬
bewußt arbeitenden „Sekretariat sozialer Studentenarbeit" zu München-Gladbach
besitzt. Die von letzterem in Broschürenform herausgegebene Knegsliteratur,
welche in vielen Abzügen ins Feld geht*), behandelt in erster Linie wichtige
Tages fragen und allgemein interessante Gegenstände; an die Studentenschaft als
solche und zwar an ihren katholischen Teil wendet sich vor allem die vom
Katholischen Akademikerausschuß München veranstaltete Artikelsammlung: „Das
große Wecken". Dieses schlichte Büchlein zeigt ebenso wie die in vierter Auf¬
lage erschienene Schrift: „Kraft aus der Höhe", daß die katholische Kirche die
Zeichen der Zeit versteht und mit unerschrockenem Mut in die Gestaltung der
Zukunft eingreift. Nicht bloß ein berechtigter Stolz auf die Größe der Kirche
spricht aus den gehaltvollen Aufsätzen, die aus der Feder der besten katholischen
Gelehrten und geistlichen Führer stammen, sondern auch ein tiefes Verständnis
der Gegenwart, das sich mit einer heißen Liebe zum deutschen Volk und mit
einer pflichtbewußten seelsorgerischen Treue gegenüber dem lebenden Geschlecht
innig verbindet.
Der zweite Kreis, der in Frage kommt, ist nicht konfessionell begrenzt.
Von ihm stammt das großartig ausgestattete Unternehmen der „Liebesgaben
deutscher Hochschüler", die in dem äußerst rührigen Furche-Verlag (Kassel) er¬
schienen sind. Ursprünglich hervorgegangen aus den von Dr. Gerhard Nieder¬
meyer zu hoher Bedeutung entwickelten Bestrebungen des Deutschen Christlichen
Studentenbundes, hat diese Bewegung, die jetzt durch den allgemeinen „Deutschen
Studentendienst" dargestellt wird, auf die gesamte Bildungsschicht der Zukunft
zweifelslos einen tiefgehenden Einfluß. Über den ausgedehnten Wirkungskreis,
der auch die deutschen und die fremden Kriegsgefangenen umfaßt, und über die
vielseitige, mühevolle Arbeit, die immer noch zunimmt, gibt ein kurzer gedruckter
Bericht Dr. Niedermeyers lehrreiche Aufschlüsse. Die auf seine Anregungen ent¬
standenen „Liebesgaben", von denen bisher neun erschienen sind, wollen auf
der einen Seite die künstlerisch-religiöse Erbauung fördern, auf der anderen die
allgemeine und wissenschaftliche Belehrung. Jenem Zwecke dient in erster Linie
die mit Steinhausens Bildern geschmückte Neuausgabe des Johannes-Evangeliums,
die Professor Seeberg für alle vier Fakultäten verständlich bevorwortet hat.
ferner der Neudruck von Simrocks Heliand-Übersetzung, zu dem Jda Stroever
(Bremen) künstlerisch eigenartigen, durch seine Strichtechnik kraftvoll, aber auch
herb wirkenden Buchschmuck beigesteuert, außerdem die mit reizvollen Nachbildungen
feiner Handzeichnungen geschmückte Ludwig-Richter-Mappe und endlich die
Röthigsche Sammlung von vierzig wertvollen Kirchengesängen, welche altdeutsche
Lieder zu neuem Leben weckt.
Auch die übrigen Sammlungen bieten an vielen Stellen guten, stimmungs¬
vollen Buchschmuck, dagegen darf man die im „Deutschen März" in faksimilierter
Nachbildung gebrachten Grüße der deutschen Universttüts- und Hochschulrektoren
nicht vom künstlerischen Standpunkt aus werten. Sie wirken aber anheimelnd
auf den Leser als schönes Zeichen akademischen Gemeinschaftsgefühls. Soweit
nun diese Liebesgaben nicht Neudrucke älterer Kunst und Dichtung find, ent¬
halten sie ausnahmslos Beiträge aus der gegenwärtigen Ideenwelt, wobei
Wiederholungen einander ähnlicher Gedanken naturgemäß nicht selten vorkommen.
In ihnen gelangt die ernste Geistesarbeit unserer Zeit zum Ausdruck. Mancher
Hochschullehrer hält in diesen fast durchweg vollwertigen Aufsätzen belehrenden
Inhalts ein hochschulpädagogisches Privatissimum mit den fernweilenden Musen¬
söhnen ab und liefert den Beweis, daß er nicht nur Verbreiter und Vertreter
seiner Fachwissenschaft ist, sondern auch ein warmfühlender Berater der ihm
anvertrauten Hochschuljugend, dem es daran liegt, seinen Jüngern beim
Erarbeiten einer eigenen Weltanschauung helfend und fördernd zur Seite zu
stehen. Neben den Hochschullehrern kommen zahlreiche bedeutende Männer des
öffentlichen Lebens, Staatsmänner, hohe Beamte und Geistliche zu Wort —
alles „Stimmen aus dem geistigen Hauptquartier", wie ein Student urteilt —
und zwar sind die meisten Aufsätze durchströmt von einem starken christlichen
Empfinden, das sich seines Glaubens in keiner Weise vor der Öffentlichkeit
schämt. So wirken die Liebesgaben ebenso wie die beiden streng katholischen
als eine christliche Tendcnzliteratur im edelsten Sinne, als Zeichen eines neu¬
erwachten, tief innerlichen religiösen Glaubens, der sich kräftig genug fühlt, den
Kampf mit der andersdenkenden Welt aufzunehmen und zu einem siegreichen
Ende zu führen. Den einen oder anderen Leser stört vielleicht die stark christ¬
liche Note, oder sie fordert gar seinen Widerspruch heraus, aber selbst der,
welcher die Grundstimmung der Bücher nicht teilt, wird gern zugeben, daß sie
inhaltlich wertvoll sind und „als schöner Einschlag in das so oft eintönige
Schützengrabenleben" die ihnen zuteil gewordene Massenverbreitung in mehr
als 300000 Abzügen tatsächlich verdienen. Einen entschiedenen Mangel dagegen
erblicke ich darin, daß von den eigentlich studentischen Führern, älteren wie
jüngeren, fast keiner in den Büchern der Furche und der beiden katholischen
Verlage vertreten ist. Diese Nichtbeteiligung mag darin ihren Grund haben,
daß es den Herausgebern in erster Linie darauf ankam, Weltanschauungsfragen
mit voller Schärfe herauszuarbeiten, aber sie hat doch zur Folge, daß der
Zusammenhang mit dem für die Hochschuljugend wichtigen und vertrauten
Studentenleben nicht gefördert wird. In dieser Hinsicht haben die deutschen
Studentinnen einen praktischeren Sinn bewiesen. In dem schönen Sammel¬
buche: „Vor uns der Tag", dessen gutgewählter symbolischer Titel schon wie
ein jauchzender Jubelruf, wie ein der eigenen Kraft sicherer Gruß an die
Zukunft klingt, werden nicht nur mit ruhigem Stolze die Probleme, Forderungen
und Leistungen des gegenwärtigen Frauengeschlechts von einem der christlichen
Studentenbewegung verwandten Standpunkt erörtert und die Redereien vom
„Versagen der Frau im Kriege" glänzend widerlegt, sondern es nehmen darin
auch die vier Vertreterinnen der großen Studentinnenverbände das Wort und
verkündigen vernehmlich, aber ohne ruhmredige Übertreibung, was ihre Körper¬
schaften im Dienste der Allgemeinheit und der akademischen Jugend gewirkt
haben.
Fast sämtliche bisher genannten Veröffentlichungen besitzen als gemeinsames
Merkmal, daß sie für die im Kriege weilenden Akademiker bestimmt und zumeist
von den Daheimgebliebenen geschrieben sind. Sie führen in die Gedanken-
und Gefühlswelt der letzteren ein und stellen — zum größten Teil wenigstens
— sittliche Forderungen auf, die sie durch die Draußenstehenden, „unsere
Jugendschar, die Heilige Schar im deutschen Heer", wie sie der Würzburger
Rektor Professor Ernst Mauer rühmend nennt, gern erfüllt sehen möchten.
Sie entrollen vor uns Ideale, und es fragt sich nun, inwieweit diese der
Wirklichkeit entsprechen, und ob ein das Innenleben läuternder und veredelnder
Schützengrabengeist in der akademischen Jugend zum Durchbruch gekommen ist.
Um dies zu entscheiden, wäre eine Durchsicht und Prüfung der Feldpostbriefe,
Gedichte und Artikel der im Felde befindlichen Studenten nötig, aber das
Material dazu ist vorläufig noch im Privatbesitz verstreut oder in den bloß
kleinen Kreisen zugänglichen Verbindungszeitungen gedruckt und harrt einer
planmäßigen Sammlung. Allerdings haben dazu einzelne schon vorbereitende
Schritte getan. So plant der Verlag von Moritz Schauenburg in Lahr, in
einem „Gedenkbuch der deutschen Hochschulen" eine „zeitgeschichtliche Auslese"
aus der akademischen Kriegsdichtung zu geben, und Professor Witkop in Freiburg,
sowie der „Deutsche Studentendienst" bemühen sich mit Erfolg, studentische
Feldpostbriefe zu sammeln. In einer Kundgebung des „Studentendienstes"
(„Vom deutschen Michel") zu Neujahr 1916 heißt es beispielsweise: „Unsere
Sammlung von Feldpostbriefen und Berichten hat schon die stattliche Zahl von
38000 Einzelnummern erreicht und ist damit sicher die größte Sammlung von
Kriegsbriefen überhaupt. Ihren ganz besonderen Wert erhält sie jedoch nicht
durch die äußere Zahl, sondern durch die innere Tatsache, daß alle Briefe von
Studenten und anderen Akademikern herrühren und deshalb zum Teil ganz
außerordentlich bemerkenswerte und wertvolle Berichte und Schilderungen
enthalten. Die ganze Sammlung wird sorgfältig archivarisch verwahrt und so
ein unvergängliches Zeugnis und Denkmal dafür bleiben, wie sehr die deutsche
akademische Jugend diesen großen Krieg nicht nur im äußeren Dienst mitgemacht
und für ihn ihr Leben eingesetzt hat. sondern wie sehr sie ihn auch geistig
erfaßt und verarbeitet hat."
Aus dem vermutlich überreichen Schatz von studentischen Feldpostbriefen
besitzen wir vorläufig nur zwei Sammlungen. Die eine, welche das Echo auf
die erste Liebesgabe deutscher Hochschüler, die „Deutsche Weihnacht" (1914),
darstellt, ist von der Schriftleitung des genannten Buches herausgeben worden.
Sie enthält eine Auswahl charakteristischer brieflicher Äußerungen von Musen¬
söhnen, welche das Denken und Fühlen, überhaupt den ganzen Seelenzustand
der Briefschreiber deutlich erkennen lassen. Es sind zumeist kurze, rasch und
unbefangen hingeworfene Niederschriften, auch kleine Gedichte finden sich darunter,
sowie ein kunstlos entworfenes Bildchen von einem regengepeitschten Unterstand.
Im Gegensatz zu diesen, vom literarischen Standpunkt aus, zumeist anspruchs¬
losen Feldpoststimmen hat die von Professor Witkop veranstaltete Auswahl
teilweise eine hohe künstlerische Bedeutung. Die überaus geschickte und glückliche
Zusammenstellung, auf welche die akademische Jugend stolz sein kann, ist nur
als eine Vorausgabe zu betrachten, der nach dem Krieg eine endgültige und
reichhaltigere folgen soll. Sie gibt nicht nur die kriegerische Entwicklung im
Westen, Osten und Südosten bis zum serbischen Entscheidungskampf in großen
Zügen wieder, sondern sie zeigt auch, wie die Ereignisse der ersten Zeit, der
Heldenepoche des gewaltigen Kriegs, die Musensöhne bis ins Innerste erschütterte.
Ferner bieten die Briefe an zahlreichen Stellen charakteristische und scharf
erfaßte, künstlerisch wohlabgerundete Bilder aus dem Kriegerdasein, die einen
dauernden Wert besitzen. Auch enthüllt sich in ihnen das Seelenleben deutscher
Studenten in vollster Reinheit und Tiefe, und einzelnen gelingt es vielfach,
ihre innere Stimmung in treffender Weise zusammenzufassen, besonders im
ersten Kriegshalbjahr, als der Stellungskrieg die Gemüter noch nicht zermürbte.
In allen Feldpostbriefen beider Sammlungen zeigt sich das stolze Bewußtsein
der bedeutsamen Rolle, welche der deutsche Akademiker in diesem Kriege zu
spielen berufen ist, und die glühende Liebe zur Heimat, der Freiherr von
Maltzahn kurzen, beredten Ausdruck in nachstehendem Gedicht verliehen hat:
Auch empfindet die Jugend die ganze Schwere dieses Riesenkampfes.
„Für Dichtung, Kunst, Philosophie, Kultur geht ja der Kampf", schreibt
ein Student. „Er ist traurig, aber groß. Das ganze Leben hier im Feld
durchdringt ein erhabener Ernst. Der Tod ist täglicher Genosse, der alles
weiht. Man nimmt ihn nicht mehr feierlich und mit großen Klagen. Man
wird einfach, schlicht gegenüber feiner Majestät. Er ist wie manche Menschen,
die man liebt, wenn sie auch Ehrfurcht und Schauer einflößen." Und diese
Verinnerlichung. die sich besonders an manchem Abschiedsbrief so herrlich zeigt,
hat ein erhöhtes religiöses Fühlen zur Folge, das für einen größeren Teil der
Studenten jetzt typisch sein dürfte. „Beten sollt Ihr", schreibt ein Mediziner
an die Daheimgebliebenen, „das Arbeiten wollen wir dann schon besorgen.
Nicht als ob wir nicht auch beteten; aber Ihr könnt Euch gar nicht ausmalen,
wie das kräftigt, wenn man weiß, zu Hause sind sie am Beten. Unser irdisches
Vaterland soll immer enger mit unserm himmlischen zusammenkommen. Dann
kann man mit Gott fürs Vaterland sterben". Und ein anderer schreibt: „Man
ginge seelisch zu Grunde, fände man nicht den Glauben an eine gerecht waltende
überirdische Macht, und darum findet man diesen Glauben, und darum werden
wir Soldaten die Apostel eines starken Gottesglaubens sein, — und dieser
Gottesglaube führt uns zum Glauben an unser Volk und dieser Glaube zu
nner innigen Liebe und diese Liebe zur größten Opferbereitschaft."
lSchluß folgt)
n unserer rastlosen Entwicklung verdämmern allgemach selbst Er¬
scheinungen gewaltiger Menschengestalten. Darum wird es erlaubt
sein, auch in unserer sturmdurchtobten Zeit, in der rascher als je
Geschichte geschieht, ein paar Augenblicke halt zu machen und
zurückzuschauen nach einem Großen, der vor einem Jahr¬
hundert seinen Erdenlauf begann, der gewaltig ragte im Strom seiner Zeit,
und dessen Wirksamkeit noch machtvoll lebt in unseren Tagen: Es ist Friedrich
Oskar v. Schwarze, der erlauchte Mitschöpfer der geltenden Reichsjustizgesetze.
Im Jahrgang 1885 unserer Zeitschrift finden wir auf Seite 193 bis 199
unter der Überschrift „Odium cum cklZniwte" aus Anlaß des Scheidens
Friedrich Oskar v. Schwarzes aus dem Staatsdienst eine Würdigung seines
Lebens und Arbeitens. Als dort am Schlüsse der Wunsch ausgesprochen wurde,
saß ihm noch viele Jahre stillen und segensreichen Wirkens beschieden sein
möchten, hat man wohl noch nicht geahnt, daß schon des Todes Schatten den
Gefeierten umrauschten. Wehmütig berührt es heute, dort zu lesen: „Der¬
jenige, um deswillen durch die folgenden Zeilen unser Marsch auf wenige
Augenblicke unterbrochen werden soll, weilt noch unter uns, und die Zeit, wo
ein Biograph über ihn in erschöpfender Weise Rede zu stehen haben wird, liegt
hoffentlich noch fern. Hier handelt sich's nur erst, mit Hilfe einiger von be¬
freundeter Hand herrührender Notizen, um ein warmes Wort des Dankes und
der Anerkennung, das auch in diesen Blättern einer höchst angespannten, in
ungewöhnlichem Grade verdienstvoll und segensreich gewesenen Tätigkeit gezollt
werden soll, nachdem schwere Krankheit den rastlosen Arbeiter genötigt hat, seine
Hand vom Pfluge zurückzuziehen. Fügen wir gleich hinzu, daß sein Geist nichts
von seiner Frische und Spannkraft eingebüßt hat, und daß also seine Feder,
die so manche wissenschaftliche Tat fördern half, noch nicht in Pension ge¬
gangen ist."
Schwarze war einer jener seltenen, denen das Glück beschieden ist, schon
in der Blüte der Jahre die reifen Früchte der Lebensarbeit zu ernten und bis
in des Endes Nähe auf der Höhe der Kraft verharrend die ganze Fülle des
Erfolges zu schöpfen.
Am 30. September 1816 als Sohn des Bezirksarztes Dr. Schwarze,
dessen Verwandtschaft mit Carl Gottlieb Svarez. dem gefeierten Schöpfer des
Preußischen Allgemeinen Landrechts. Stölzel in des letzteren Lebensbeschreibung
nachgewiesen hat, in Löbau in Sachsen geboren, trat Friedrich Oskar mit
19 Jahren nach mit bester Note bestandener Prüfung in den Staatsdienst.
Rasch stieg er die Stufen der Beamtenpyramide hinan. Mit 22 Jahren war
er Vortragssekretär im sächsischen Kultusministerium, 1842 Assessor am Appella¬
tionsgericht in Dresden, 1346 Mitglied des Spruchkollegiums der Universität
Leipzig, und 1^/2 Jahr später saß der Zweiunddreißigjährige als Avellations-
rat im Obersten Gerichtshof in Dresden. 1856 wurde er Oberstaatsanwalt
und Chef der Sächsischen Staatsanwaltschaft, seit 1860 mit dem Titel eines
General-Staatsanwalts. In dieser Stellung verblieb er und lehnte sogar, wenn
auch sehr schwankend, eine Berufung an das Reichsgericht als Senatspräsident
ab. 1885 schied er als Wirklicher Geheimer Rat aus dem Dienst und starb
am 17. Januar 1886 in Dresden.
Diese amtliche Tätigkeit war begleitet von einer reichen gesetzgeberischen:
Schon 1848 wurde er zur Teilnahme am Entwurf einer Strafprozeßordnung
berufen, 1849 wurde er Mitglied der Gesetzgebungs-Kommission, und die 1856
in Kraft getretene, als Musterwerk noch jetzt anerkannte, auf Anklageform,
Mündlichkeit, Öffentlichkeit und freier Beweiswürdigung beruhende Strafproze߬
ordnung für das Königreich Sachsen ist sein Werk. Er hat darin die Berufung
nur zu Gunsten des Verurteilten zugelassen und den Staatsanwalt ans der
Stellung des nur betastenden Anklägers herausgehoben, indem er ihm die Aus¬
gabe zuwies, das zur Entlastung des Beschuldigten Geeignete nicht minder zu
beachten, als das ihn Belastende. Unter seiner wesentlichen Mitwirkung kamen
1868 das Revidierte Strafgesetzbuch (Abschaffung der Todesstrafe!) und die
Revidierte Strafprozeßordnung zustande, die er durch die Einführung des
Schöffengerichts auch für mittlere Strafsachen ergänzte. Sie bewährten sich
vollkommen und genossen des Ansehens der Juristen nicht minder als des Ver¬
trauens der Bevölkerung. Vorzüglich auf ihren Erfolg ist es zurückzuführen,
daß der Entwurf einer Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich von 1873
die Durchführung des Schöffengerichts-Systems unter Beseitigung des Ge¬
schworeneninstituts vorschlug und daß dieser Vorschlag von der vom Bundes¬
rat zur Beratung und Feststellung des Entwurfs eingesetzten Kommisston mit
erheblicher Mehrheit angenommen wurde. Wenn auch damals die Einführung
von Schöffengerichten für alle Strafsachen nicht ausführbar war, so hat
doch der erfolgreiche sächsische Versuch seine Bedeutung für die Zukunft nicht
eingebüßt, und das ist sonnt Schwarzes Verdienst.
Die politische Umgestaltung Deutschlands 1866 erweiterte das Feld seiner
gesetzgeberischen' Tätigkeit: von 1867 bis 1885 vertrat er im Reichstag den
Wahlkreis Dresden rechts der Elbe. Er gehörte zuerst der liberalen Reichs-,
partei, nach 1873 der Deutschen Reichspartei (Freikonservativen Partei) an, uno
zwar als einer ihrer Führer. Hier wirkte er mit an erster Stelle für die Her«
Stellung der deutschen Rechtseinheit als Vorsitzender in fast allen Reichstags-
kommissionen, denen die Beratung von Rechtsmaterien oblag, und seit der
Gründung des Norddeutschen Bundes gibt es kein Justizgesetz, auf dessen In¬
halt er nicht den tiefstgehenden Einfluß ausgeübt hätte. Insbesondere war er
Vorsitzender der Kommisston zur Beratung des Entwurfs des Strasgesetzbuches.
nachdem er schon als stellvertretender Vorsitzender an der Bundesratskommission
zur Beratung des Entwurfs teilgenommen und gemeinsam mit dem nach¬
maligen preußischen Justizminister Friedberg deren Beschlüsse redigiert und die
Motive bearbeitet hatte. Er war serner Referent über das Reichspreßgesetz,
Mitglied und Referent der Kommisston für den Wuchergesetzentwurf und der
Kommisston für den Gesetzentwurf betreffend die Entschädigung für unschuldig
erlittene Untersuchungs- und Strafhaft. Vor allem aber war er stellvertretender
Vorsitzender der Kommission zur Beratung der am 1. Oktober 1879 in Kraft
getretenen Reichsjustizgesetze (Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung, Konkurs¬
ordnung. Rechtsanwaltsordnung, Gerichtsverfassungsgesetz). Hierbei war er im
Plenum des Reichstags selbst Referent für die Strafprozeßordnung, bei der er
auf die Beteiligung des Laienelements auch in einzelrichterlichen Strafsachen —
Schöffengerichte — das Hauptgewicht legte.
Mit dem allen ist die Wirksamkeit dieses bedeutenden Lebens aber nicht
erschöpft: eine umfassende literarische Tätigkeit ging mit all dieser Arbeit Hand
in Hand. Von seinen zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten gehören die weitaus
meisten dem Strafrecht an; diese sind es, die seinen Namen weit über des
Deutschen Reiches Grenzen hinausgetragen haben. Als seine bedeutendsten Werke
seien hier nur genannt der „Kommentar zur Strafprozeßordnung für das
Königreich Sachsen", die „Grundsätze des Sächsischen Strafprozeßrechts", die
„Lehre von dem fortgesetzten Verbrechen", „Die zweite Instanz im mündlichen
Strafverfahren", „Das Schwurgericht und dessen Reform", die „Bemerkungen
zur Lehre von der Verjährung im Strafrecht", „Das Schöffengericht", der
„Kommentar zum Reichspreßgesetz", die „Erörterungen praktisch wichtiger Materien
aus dem Deutschen Strafprozeßrechte", der „Kommentar zur Deutschen Straf¬
prozeßordnung" und vor allem der in vielen Auflagen erschienene „Kommentar
zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich". Daneben erschienen in den
verschiedensten Zeitschriften eine große Zahl von Abhandlungen von ihm und
er widmete sich auch noch der Schriftleitung von Fachzeitschriften, so der „Neuen
Jahrbücher für sächsisches Strafrecht" und der „Sächsischen Gerichtszeitung".
Seit 1854 gab er den „Gerichtssaal" heraus und war auch an der Schriftleitung
der „Allgemeinen Deutschen Strafrechtszeitung" beteiligt. Besonders lebhaft
trat er noch in seinen letzten Lebensjahren für die Gewährung einer Ent¬
schädigung für unschuldig erlittene Haft und für die Abschaffung der Todes¬
strafe („Aphorismen über die Todesstrafe") ein. Mehrfach gab er im Auftrage
auswärtiger Regierungen Gutachten über Gesetzentwürfe ab. Genannt sei hier
nur sein Gutachten über das österreichische Strafrecht. Im Deutschen Jmisten-
wg. dessen Tätigkeit die Vereinheitlichung der deutschen Gesetzgebung in hervor-
ragendem Maße vorbereiten half, stand v. Schwarze in erster Reihe. Er war
einer seiner Begründer und befürwortete schon auf dem ersten Juristentage in
Berlin 1860 die nationale Einheit des Rechts. Ohne Unterbrechung gehörte
er der ständigen Deputation an und führte regelmäßig den Vorsitz in der
strafrechtlichen Abteilung, von dessen kräftiger und doch stets liebenswürdiger
Handhabung das Wort von der „eisernen Faust im Samthandschuh" herrührt.
In einem Leben von so ungeheurer Kraftentfaltung konnte der Ehren
anerkannte Zier nicht fehlen. Der Ehrendoktergrad der Wiener Universität, die.
Verleihung des Ehrenbürgerrechts der sächsischen Hauptstadt und seiner Geburts¬
stadt Löbau, sowie die Verleihung des erblichen Adels durch Kaiser Franz Josef
seien hier allein genannt.
Was Schwarze als Rechtsgelehrter geschaffen hat, gehört der Geschichte der
Wissenschaft an, in deren Ehrenbuch seine Gestalt hochragend eingezeichnet ist;
was er als Staatsmann gewirkt hat, lebt in der Geschichte seines Volkes.
Wie er sein Werk vollführte, ein hochbeschwingter Geist begleitet von einem
wirklichkeitfrohen, wahrhaft großen Menschenherzen, wird hell und segenbringend
hineinstrahlen in künftige Tage, in die Zeit, da dereinst nach einem deutschen
Frieden unserer Rechtspflege eine verheißungsvolle Zukunft erblühen wird.
Die Kriegsanleihe
ist die Waffe der
Oaheimgebliebenen!
Alfred Stern: Reden, Borträge und Ab¬
handlungen. I. G. Cottasche Buchhandlung,
Stuttgart und Berlin. 1914.
In dem vorliegenden Bande veröffentlicht
der durch seine sechsbändige „Geschichte Eu¬
ropas seit den Verträgen von 1815 bis zum
Frankfurter Frieden von 1871" bekannte Ge¬
lehrte eine Auswahl kleinerer Arbeiten, die
äußerst interessant geschrieben sind und be¬
sonders durch ihren formvollendeten Stil den
Leser zu fesseln wissen.
Von den vier hier zum Abdruck gelangten
Reden ist besonders die Festrede hervorzuheben,
die Stern zur Feier des hundertsten Geburts¬
tages Kaiser Wilhelms I. vor der deutschen
Kolonie in Bern am 21. März 1897 gehalten
hat, und die sich durch eine feine Charakteristik
des ersten deutschen Kaisers auszeichnet. Die
übrigen drei Reden beschäftigen sich mit dem
Frankfurter Schriftsteller GabrielRießer, einem
der bedeutendsten Vorkämpfer der Emanzi¬
pation der Juden in Deutschland um die
Mitte des verflossenen Jahrhunderts, mit den
berühmten Historikern Leopold von Ranke
und Georg Waitz und endlich mit dem fran¬
zösischen Gelehrten Gabriel Monod, der sich
als Gründer der „I^cone rlistorique" einen
Namen gemacht hat, und dessen Hauptarbeits-
seld auf dem Gebiete der mittelalterlichen
Geschichte lag.
Von den zum Abdruck gelangten Vor¬
trägen, die über „Wieland und die französische
Revolution", „Mary Wollstonecraft", die erste
Vorkämpferin der Gleichberechtigung der
Frau, „Moltke als Historiker" und „Beau¬
marchais" handeln, verdient die letzt¬
genannte Arbeit besondere Beachtung. An
der Hand von Beaumarchais' Leben und
Wirken gibt Stern einen interessanten Ein«
blick in den krankhaften Zustand des alten
Frankreichs im 18. Jahrhundert. Am
Schluß (S. 130/131) saßt er die allgemeine
geschichtliche Bedeutung Beaumarchais dahin
zusammen: „er hat, und mehr als er selbst,
das Kind des ancien röZime, sich dessen be¬
wußt war, auf die verschiedenste Weise, als
Schriftsteller und als Geschäftsmann, der Re¬
volution vorgearbeitet. Die großen Ereignisse
seines Lebens dienen dem revolutionären
Geiste. Sem berühmtester Prozeß enthüllt
die Mißbräuche des alten NechtswesenS und
führt zu einer moralischen Niederlage des
unumschränkten Königtums. Seine Unter¬
stützung der Amerikaner trägt dazu bei, die
Befreiung der Kolonien vorzubereiten, und
befördert die Rückwirkung dieses Ereignisses
auf die Ideen seines eigenen Volkes. Sein
vor allem bewundertes Lustspiel gibt den
ganzen Zustand der alten Gesellschaft dein
Spotte preis und steigert das Gefühl der
UnHaltbarkeit dieses Zustandes."
In den vier Abhandlungen, die in dem
Sternsehen Buche enthalten sind, beschäftigt
sich der Verfasser neben einer Arbeit über
„Mirabeau und Lavater" und einer über den
sogenannten „großen Plan des Fürsten von
Polognac vom Jahre 1829", der die Auf¬
teilung der Türkei und die Neugestaltung der
europäischen Landkarte zum Gegenstand hatte,
zunächst mit den Memoiren des großen fran¬
zösischen Staatsmannes Talleyrand. Stern
weist darauf hin, daß der Wert dieser Denk¬
würdigkeiten trotz ihres großen Umfanges
für die historische Forschung doch recht gering
ist, zumal sich noch nicht einmal mit
Bestimmtheit feststellen läßt, ob die uns in
einer Kopie Bacourts erhaltenen Memoiren
tatsächlich von Talleyrand selbst in der
Fassung niedergeschrieben sind, in der sie uns
vorliegen.
Die Abhandlung „GneisenauS Reise nach
London im Jahre 1809 und ihre Vor¬
geschichte" gibt endlich interessante Aufschlüsse
über einen Abschnitt aus Preußens Geschichte,
der noch wenig bekannt sein dürfte; sie
schildert die geheimen Verhandlungen und
Vorbereitungen für einen eventuellen Angriff
auf Napoleons Herrschaft während des
österreichisch-französischen Krieges von 1809,
der dann jedoch bekanntlich nur in kleineren
Teilaktionen, wie dem Schillschen Unter¬
nehmen und demjenigen des Herzogs von
Braunschweig, zur Ausführung gelangte.
Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.
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Lesonäers Mr Lcliüler, ale spex. I^üräerunA' unä Obnut beclürken.
Orünällcner I^nterricnt In Kleinen Klassen unä Kursen. Vor^üZIiLne
VerpkleZunZ. - lVl.an verlange Prospekt.