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]]> Zeitschrift für
Politik, Literatur und Aunst
Herausgeber:
George (Lleinow
Zweites Vierteljahr
Berlin
Verlag der Grenzboten G. in. b. h.
Porträtgalerie, Eine nationale , von Heinz
Amelung.............2K, 529
-
El» „I-" anstelle der Seitenzahl bedeutet
Bücherkiste im Anzeigenteil des betr. Heftes.
ReckMalleczewe». Dr. Fritz: Emil Ludwig
contra Richard Wagner.......21. 374
—
Der englische Premierminister Asquith erklärte dieser Tage im
Unterhause: „Wie bereits wiederholt festgestellt wurde, ist England
durch keine geheime und dem Parlament unbekannte Verpflichtung
gezwungen, an irgendeinem Kriege teilzunehmen."Zeitungsnachricht
ir Edward Grey und Herr Ssasonow hatten im September 1912
auf dem schottischen Königsschlosse Balmoral eingehende Ge-
legenheit, sich über die zwischen den beiden Ländern schwebende
persische Frage schlüssig zu werden. Als das Ergebnis dieser
Unterredungen war am 1. Oktober des vergangenen Jahres bekannt
gegeben worden, daß keine der beiden Mächte die Absicht, noch das Verlangen
hege, Persien zu teilen; daß beide Regierungen, um die Zurückziehung ihrer
Truppen aus Persien zu ermöglichen, eingehende Erwägungen darüber anstellen,
wie man am besten die persische Regierung stärken könne, um sie in den Stand
zu setzen, die Ordnung wiederherzustellen und die Handelsstraßen zu sichern.
Die Betonung, mit der das amtliche Communiquö beiden Mächten die
Absicht abspricht, teilen zu wollen, verhüllt etwas durchsichtig die Tatsache, daß
die eine Macht sehr gerne teilen möchte, der Partner aber sich widersetzt. Die
„Erwägungen", wie die persische Regierung zu stärken sei, sprechen nicht gerade
von entschlossener und einheitlicher Initiative, das notwendigste zu geben, nämlich
Geld. Außerordentlich zögernd und bedächtig klang diese Kundgebung über die
persische Politik der beiden Ententemächte. Wenn man die Ereignisse in Persien
selbst, die jüngsten Erklärungen der Vertreter des britischen Auswärtigen Amtes
im Parlament und die Angriffe der englischen Opposition ins Auge faßt, so
wird es klar, daß die Bemühungen, eine klare Entscheidung zu vermeiden, von
der Themse und nicht von der Newa ausgehen.
Die allgemeine Billigung, die man — von indischen Mohammedanern
und ihren Freunden abgesehen — in England der auswärtigen Politik Sir
Edward Greys während der Balkankrise widerfahren läßt, erstreckt sich nicht
auf die persische Politik des Staatssekretärs. Das Problem, die englisch-russische
Freundschaft zu festigen und damit die Wahrung englischer Interessen gegen
Rußland zu verbinden, hat der Minister nicht so zu lösen vermocht, wie es
viele seiner Landsleute verlangten. Die Interessen der Mächte der Triple-
entente weisen eben nicht in allen Teilen der Welt die unerschütterliche Über¬
einstimmung auf, die man, zumal an der Seine als Kitt für diese politische
Gruppierung wünscht. Den englisch-russischen Gegensatz, der Jahrzehnte hin¬
durch einen stehenden Faktor in der hohen Politik bildete, wollte man vor sechs
Jahren auf der persischen Reibungsfläche durch einen Vertrag beheben, von dem
eine dauernde und befriedigende Lösung im Sinne aller Beteiligten erhofft wurde.
Die anarchischen Verhältnisse in Persien, deren Wirrnis seit dem Ende
des absolutistischen Regime am 5. August 1907 wuchs, bedrohen Handel und
Sicherheit der Einheimischen wie der Europäer in gleichem Maße. Rußland
ist mit 56 Prozent am persischen Außenhandel beteiligt. Sein Expansionsdrang
war ohnedies nach dem Kriege mit Japan wieder gegen die Südgrenze seiner
asiatischen Reichsteile gelenkt worden —, jedenfalls muß der Gefährdung des
russischen Handels in Persien ein Ende gemacht werden. Nächst Rußland hat
England mit 26,4 Prozent Beteiligung am Außenhandel das stärkste Interesse
an der Rückkehr geordneter Verhältnisse. Darin findet es sich mit Rußland
einig. Die Handelssphären der beiden Nationen sind ziemlich voneinander ge¬
schieden. Der Handel auf dem Landwege im Norden und über das Kaspische
Meer ist in russischen Händen. Der Küstenhandel am persischen Golf und die
gesamte überseeische Ausfuhr, namentlich nach Bombay, geht durch englische
Kaufleute und auf englischen Schiffen vor sich.
Wenn aber für Rußland eine tatsächliche Besitznahme seiner Interessen¬
sphäre die glatteste und gründlichste Lösung scheinen muß, so hat England
gar keine Neigung zu irgendeiner Ausdehnung seines Besitzes. Das britische
Reich ist territorial hier wie anderswo gesättigt. Ihm liegt nur an einer
strategischen Sicherung seiner heutigen Grenzen und. in Übereinstimmung mit
Rußland, an Zuständen, die normale Bedingungen für Handel und Wandel
schaffen. Diese strategischen Rücksichten müssen aber ein Vorschieben Rußlands
über das Hochplateau von Iran hinaus bedenklich erscheinen lassen, sie müssen
ebenso ein Vorrücken Englands vom indischen Zentrum weg verurteilen. Eng¬
land, das heute das Kaiserreich Indien mit einer Armee von der Größe des
bayerischen Heeres verteidigen will, kann kein neues offenes und schutzbedürftiges
Außengelünde brauchen. Rußland scheut nicht die Nachbarschaft Englands, aber
Großbritannien sehnt sich nicht nach Grenzgemeinschaft mit dem Ententefreund.
So muß England auf alle Fälle eine Teilung vermeiden, auf die Rußland
auch nicht zu bestehen braucht — eine Penetration vom Norden her bringt
Vorteile genug und stößt weniger auf abgemessene Grenzen. Unter solchen
Gesichtspunkten fanden sich die Kabinette von London und Se. Petersburg zu
dem Abkommen vom 31. August 1907. Dieser Vertrag besagt im wesentlichen:
„Beide Regierungen verpflichten sich, die Integrität und Unabhängigkeit
Persiens anzuerkennen. Großbritannien verzichtet auf politische oder kommerzielle
Konzessionen in dem Teil des Landes nördlich der Linie Kaer-i-Shirin, Ispahan.
Aezd und Kalb bis zu dem Treffpunkt der Grenzen von Persien, Rußland und
Afghanistan. Rußland seinerseits gibt die gleichen Garantien für das südöst-
liche Persien, begrenzt durch eine Linie von der afghanischen Grenze über Gazik
Birjand, Kerman und Bender Abbas. Beide Staaten willigen ein, eine Kon-
trolle über die Einkünfte der ihrem Einfluß unterstehenden Provinzen einzu¬
richten für den Fall, daß in der Ablösung oder Zinszahlung der Staatsschuld
Unregelmäßigkeiten entstehen."
Bei der geographischen Festlegung dieser Einflußsphären ist einmal bemerkens¬
wert, daß ein Wüstenstreifen beide Zonen trennt, dann aber, daß die britischen
Handelsinteressen. außer in Bender Abbas. vorwiegend in dem neutralen Süd-
westpersien und dem Gestade des Schad - el - Arad liegen. Man hat auf die
Einbeziehung dieses Teils aus dem Grunde verzichtet, daß Lord Kitchener. der
damals Oberkommandierender in Indien war, die Unmöglichkeit betonte, diese
Provinzen von Indien aus verteidigen zu können. El.tsprang so dieser
Verzicht strategischen Erwägungen, so waren auch wesentlich diese für die
Sicherung Südostversiens vor russischem Einfluß maßgebend, durch die man die
Deckung der Grenze von Belutschistan bezweckte.
Das Deutsche Reich erlangte die Wahrung seiner persischen Interessen durch
den Vertrag mit Rußland vom 19. August 1911. durch den bestimmte Garan¬
tien für eine projektierte Anschlußstrecke an die Bagdadbahn über Khanikin nach
Teheran gegeben werden.
Alle schönen Zukunftspläne aber, mögen sie Handelsstraßen oder Bahn¬
bauten betreffen, können erst dann verwirklicht werden, wenn die Ordnung im
Lande wiederhergestellt und somit dieses Ziel des russisch-englischen Vertrags
erfüllt ist. Man kann nicht gerade behaupten, daß dies geschehen ist. In dem
wirren Durcheinander, das der Einführung einer Verfassung folgte, wechselten
Kämpfe zwischen dem 1909 abgesetzten Schah Mohammed Ali> dem Parlament
der Medjlis, dem jetzigen Regenten, den verschiedenen Stämmen und Cliquen,
die bis heute das Land nicht zur Ruhe kommen lassen. Je einmal gaben die
Ereignisse den Schutzmächten Anlaß zu einem Ultimatum. Im Jahre 1911
waren wieder einmal englische Kaufleute durch Räuberbanden auf einer Kara-
wanenstmße ausgeplündert worden. Sir Edward Grey richtete die kategorische
Warnung nach Teheran, es sollte dem Räuberunwesen abgeholfen werden,
widrigenfalls er die indischen Militärbehörden mit der Sache betrauen werde.
Besser wurde es daraufhin nicht, im Gegenteil, ein paar Monate später wurde
der englische Konsul in Schiras bei einem Krawall verwundet. Aber was tat
die indische Militärbehörde? Hundertundsiebzig indische Ulanen landeten in
Buschir.
Sehr viel zielbewußter zeigte sich Rußland im November 1911, als es die
sofortige Entlassung des Kontrolleurs der Staatsfinanzen Herrn Shusters und
eines anderen Amerikaners forderte. Herr Shuster hatte sich unliebsam bemerkbar
gemacht, indem er mehrfach britische Untertanen auch innerhalb der russischen
Einflußsphäre mit Posten in der Steuerverwaltung bedachte. Die Medjlis
weigerten sich zunächst, dem russischen Verlangen zu entsprechen. Der Regent —
unter russischem Drucke handelnd — löste das Parlament auf und ernannte
Herrn Mornard, einen Belgier, auf russischen Wunsch zum Generalschatzmeister.
Die gewohnten Unruhen, die durch diese Krise neu auflebten, wurden noch durch
die Landung des Exschahs, den Nußland im richtigen Moment losgelassen hatte,
verstärkt. Natürlich bedingte dieses Durcheinander den Einmarsch neuer russischer
Truppen, die heute in Stärke von dreizehntausend Mann in Nordpersien stehen.
In Südpersien sind ein paar Schwadronen indischer Kavallerie und britische
Marineinfanterie — im ganzen dreizehnhundert Mann. Die englische Regierung
legt aber Wert darauf zu betonen, daß es sich nur um Konsulatswachen handelt.
Das englische Kabinett sieht das Heil einzig und allein in der Befestigung
einer möglichst selbständigen persischen Regierung — ist man einmal so weit,
dann würde auch, so läßt man sich versichern, das russische Okkupationskorps
aus Nordpersien zurückgezogen werden. Um einer Regierung einige Autorität
zu verleihen, mußte eine Gendarmerie geschaffen, mußte vor allem auch das
notwendigste Geld vorgestreckt werden. Nach einigem Zögern erhielt denn auch
Persien im März 1912 eine Anleihe von 4 Millionen Mark, 2 Millionen von
Rußland, 1^2 Millionen von England und eine halbe Million von Indien.
Mit einem Teil dieser Summe fand man den Exschah ab, der sich nach Odessa
begab, während sein Bruder Salar-ed-Dankes finanzielle Entschädigung zurück¬
wies und im Westen noch Souverän unter der Suzeränität des Schäds sein
will. Eine weitere Anleihe von je 4 Millionen Mark steht zurzeit den Re¬
gierungen von London und Petersburg zur Erwägung. England will die von
ihm gezahlte Summe hauptsächlich in der Provinz Farsistan verwandt wissen.
Als Gegenleistung für die erste Anleihe erklärte Persien offiziell sein Ein¬
verständnis mit dem englisch-russischen Abkommen, ferner versprach es die
Entlassung aller irregulären Truppen, dafür aber die Aufstellung einer kleinen
stehenden Macht zu Polizeizwecken, deren Organisation im Einvernehmen mit den
diplomatischen Vertretern Englands und Rußlands erfolgen solle.
Zur Leitung und Ausbildung dieser Gendarmerie wurden schwedische Offi¬
ziere berufen, von denen inzwischen einer ermordet wurde und die anderen sich
alle erdenkliche Mühe gaben, ihrer Aufgabe mit eingeborenen Untergebenen ge¬
recht zu werden.
Eine ausreichende Polizei, gesunde Finanzen und eine kräftige Zentralgewalt
bedingen sich gegenseitig. Diesem letzteren Ziel strebt England sehr ernstlich zu.
und es fand die höfliche Zustimmung Herrn Ssasonows bei feinem Besuch in
Batmoral. Von einer machtvollen Regierung ist bis jetzt noch nichts zu ver¬
spüren. Zwar hat man auf die Wiedereinberufung der Medjlis auf russischen
Wunsch verzichtet. Von dieser Körperschaft durfte auch kaum das Heil kommen.
Der Schah zählt vierzehn Jahre. Der Regent Nasr-ni-Mull begab sich im letzten
Juni nach Europa und versichert, aus Familienrücksichten verhindert zu sein, in
absehbarer Zeit sein ihm anvertrautes Vaterland wieder aufzusuchen. Es existiert
wohl ein Kabinett, an dessen Spitze Ala-es-Sultauch steht, allein irgendeine
Autorität hat es außerhalb der russischen Bajonette nicht, und vollends die
Nomadenstämme sind tatsächlich unabhängig.
Nußland würde wohl nichts dagegen haben, den Exschah. der wenigstens
ein Mann von gewisser Energie zu sein scheint, wieder einzusetzen. Allein Eng¬
land, vor allem die englischen Liberalen, bestehen auf ihrer Abneigung gegen
den Autokraten. So muß man sich möglicherweise auf eine dritte Persönlichkeit
einigen, die mit Hilfe europäischer Berater die dornenvolle Aufgabe übernehmen
muß. für den König der Könige die Regentschaft zu führen.
Ist nun aber glücklich eine Regierungsform gefunden, welche Stadt soll die
neue Hauptstadt sein? Die größeren historischen Städte liegen alle innerhalb der
russischen Demarkationslinie. Vielleicht wird man sich für Jspahan entscheiden,
das zwar auch innerhalb dieser Linie liegt, aber doch etwas mehr von englischem
Einfluß erreicht wird.
Heute steht England zu — zum heftigsten Unwillen der englischen Oppo¬
sition — wie der Gesandte Rußlands in Teheran der allmächtige Herr gegen¬
über dem persischen Kabinett ist. England solle, so verlangt die Opposition,
dem Wachstum des russischen Einflusses entgegenarbeiten. Man schlug zu diesem
Zwecke vor, den schwedischen Gendarmerieinstrukteuren indische Offiziere bei¬
zugeben — allein man kam von diesem Gedanken ab im Hinblick auf die mög¬
liche Rivalität. Bei den jüngsten Verhandlungen im englischen Parlament ver¬
langten die Redner der Opposition eine Revision des englisch-russischen Vertrags
und eine teilweise Einbeziehung der neutralen Sphäre am persischen Golf in
die englische Interessensphäre. Allein wie der Unterstaatssekretär für auswärtige
Angelegenheiten in der Unterhaussitzung vom 14. Februar erklärte, hält die
Regierung es für besser, diese Zone mit Konzessionen als mit Truppen zu be¬
legen. Die strategischen Bedenken, die im Jahre 1907 den Engländern ein
Hinausgehen über die Linie Benders Abbas-Kerman untunlich erscheinen ließen,
bestehen ja noch fort und so begnügte man sich mit der Option für eine Eisen¬
bahn von Mohammerah nach Khorramabad.
Was wird aus dieser neutralen Zone — Südwestpersien von Benders
Abbas bis zur türkischen Grenze und nordwärts bis gegen Jspahan — werden?
Darin liegt eigentlich das persische Problem. Wenn England sich hier
politisch für uninteressiert erklärt hat wegen der oben erwähnten strategrschen
Unmöglichkeit einer Verteidigung von Indien aus. wer will dann Rußland
hindern, dort Einfluß zu suchen. Die Demarkationslinie zwischen der russischen
und der neutralen Zone ist eine durchaus künstliche Grenze, über die der Gang
der Ereignisse so leicht führen kann. Die Straßen und Eisenbahnen, die Ru߬
land in seiner nordperstschen Domäne bauen wird, werden kaum respektvoll die
Richtung nach dem persischen Golf vermeiden. Die Kosaken, die gegen räube¬
rische Nomaden kämpfen, können auf ihren Zügen leicht südlicher geraten. Wie,
wenn zu dieser natürlichen Entwicklung der Drang des Zarenreiches nach dem
offenen Meer, der Trieb nach dem Schar-el-Arad, heute eine englische Binnen¬
see, hinzutritt?
Rußland hat ausgedehnte Bahnpläne in Persien. Zunächst wird es eine
Linie von der transkaukasischen Grenzstadt Julfa nach Täbris bauen. Das
weitreichendste Projekt ist aber eine transiranische Bahn. Man steht diesem Plan
in England mit dem gleichen Bedenken gegenüber wie der Untertunnelung des
Kanals. Eine Bahn, die Persien durchquert, würde dazu beitragen, die Isolierung
Indiens nach der Landseite und damit die eigentliche Stärke seiner Verteidigung
zu durchbrechen. Man liebt weder in England noch in Indien die Aussicht,
zur Sicherung des indischen Kaiserreichs Rüstungen nach dem Muster europäischer
Festlandsmächte betreiben zu müssen. Ein weiteres Bahnprojekt Bagdad—
Rhanikin—Teheran ist Gegenstand des deutsch-russischen Abkommens von 1911
gewesen. Diese Konzession kann unter bestimmten Umständen an die deutsche
Bagdadbahngesellschaft fallen — auch mit dieser Möglichkeit ist in England nicht
jedermann einverstanden.
England sieht sich nicht imstande, für seine Interessen im mittleren Osten
Rußland gegenüber mit Festigkeit einzutreten. Die Schwäche seiner Position
liegt einmal in der Unzulänglichkeit seiner indischen Landesverteidigung. Zum
andern aber wird ein energisches Auftreten gegenüber dem Partner durch die
europäische Ententepolitik gelähmt und durch die Furcht, Rußland an die Seite
Deutschlands zu treiben, wollte man sich seinen persischen Plänen nachdrücklich
widersetzen. So sucht denn die Politik Sir Edward Greys in Persien einer
Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Das Fortschreiten der russischen Bahn¬
bauten mag aber die Entwicklung, die England vermeiden möchte, beschleunigen
und den alten Gegensatz zwischen London und Se. Petersburg neu beleben.
n der nationalen Entrüstung, die anläßlich der Marokkover-
handlungcn im Sommer 1911 ausgelöst wurde, tauchten
historische Parallelen auf: die Zeit vor Olmütz im Jahre 1850
und vor dem Ausbruch des Krieges 1870. In beiden Fällen
anmaßende auswärtige Minister; dort der Österreicher
Schwarzenberg, der mit Krieg drohte, wenn Preußen nicht auf feine Unions¬
bestrebungen in Deutschland verzichte. Hier Gramont mit seinem Auftreten
gegen die Hohenzollernkandidatur und mit der Forderung, daß sie nie wieder
aufleben dürfe. Aber wie verschieden die Wirkung. Dort schwächliches Nach¬
geben, der Gang nach Olmütz und Verzicht auf die preußische Vorherrschaft in
Norddeutschland. Hier die rücksichtslose Entfachung des kuror teutonicu8
und Krieg.
Die Schlußfolgerung liegt nahe; aber sie ist übereilt, weil bei dem Vergleich
vergessen ist, daß derselbe Bismarck, der auf Gramonts Unverschämtheiten mit
der gepanzerten Faust antwortete, den Gang nach Olmütz und damit die Unter¬
werfung unter die diktatorische Bevormundung Österreichs gebilligt hat.
Gerade der Stimmung gegenüber, die durch den Abschluß des Marokko¬
handels ausgelöst wurde, ist es nicht ohne Interesse auf die Gedanken hinzu¬
weisen, die Bismarck in einer am 3. Dezember 1850 gehaltenen Rede aus¬
gesprochen hat: „die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates, und
dadurch unterscheidet er sich wesentlich von einem kleinen Staate, ist der staatliche
Egoismus und nicht die Romantik, und es ist eines großen Staates nicht
würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinem eigenen Interesse angehört.
Zeigen Sie mir also, meine Herren, ein des Krieges würdiges Ziel, und ich
will Ihnen beistimmen. Es ist leicht für einen Staatsmann, sei es in dem
Kabinette oder in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegs¬
trompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder von
dieser Tribüne donnernde Reden zu halten und es dem Musketier, der auf
dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt
oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der
sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach
dem Kriege noch stichhaltig ist." Also aus realpolitischen Gründen verwarf
Bismarck damals den Krieg. War die Lage günstig und standen wirklich große
nationale Fragen auf dem Spiel, da griff er rücksichtslos durch, so 1870 und
mehr noch 1866. Gerade diesen Krieg hat Bismarck bewußt langer Hand vor¬
bereitet und allen Widerständen zum Trotz herbeigeführt.
Die Notwendigkeit des Krieges von 1866 ergab sich für Bismarck, so er¬
zählt er selbst, während seiner Frankfurter Wirksamkeit als Gesandter am
Bundestag. Damals zerrannen seine jugendlichen Illusionen von einer
Harmonisierung der deutschen Verhältnisse auf Grund preußisch-österreichischer
Freundschaft. Schon damals erkannte er, daß der gordische Knoten deutscher
Zustände sich nicht in Liebe lösen ließ, sondern militärisch durchhauen werden
mußte. Den Gegensatz anders als durch Krieg zu beseitigen, schien ihm eine
mathematische Unmöglichkeit.
Nachdem sich Bismarck klar geworden war, daß zur Erringung der
preußischen Vormachtstellung in Norddeutschland ein Krieg mit Österreich un¬
erläßlich sei. arbeitete er mit zäher Beharrlichkeit an seiner Vorbereitung.
Er richtete sein Augenmerk besonders darauf, die auswärtige Lage für feine
Pläne günstig zu gestalten und die inneren Hemmnisse zu beseitigen.
Im Interesse des ersten Zieles setzte er sich bald nach seiner Ernennung
zum Ministerpräsidenten mit den ungarischen Emigranten, den Todfeinden der
Habsburgischen Monarchie, in Verbindung. Und bald begannen auch seine
engen Beziehungen zu Napoleon dem Dritten.
In mehreren persönlichen Besprechungen gelingt es ihm, Napoleon für
seinen Plan, Österreich aus Deutschland auszuschalten und Norddeutschland
unter Preußens Führung zu einigen, zu gewinnen. Napoleon war es, der
Italien zum Abschluß mit Preußen drängte, weil sonst nach Bismarcks Ver¬
sicherung der König für einen Krieg nicht zu haben sei. Es unterliegt wohl
kaum noch einem Zweifel, daß Bismarck sich diese weitgehende Unterstützung
Napoleons durch die Zusage gewann, den französischen Absichten auf Belgien
nicht entgegenzutreten.
Aber dadurch, daß er der französischen Begehrlichkeit nach diesem Lande
Förderung verhieß, lenkte er zugleich das englische politische Interesse von der
bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzung in Mitteleuropa ab und erregte
in London starkes Mißtrauen gegen die französischen Bestrebungen. So findet
der wiederholte Versuch des Herzogs von Coburg, England zur Intervention
im Interesse des Friedens zu veranlassen, entschiedene Ablehnung. Charakte¬
ristisch für den Erfolg der Bismarckschen Politik ini Hinblick auf die Stellung
der Westmächte ist folgendes Chiffretelegramm, das mehrere Wochen vor Beginn
des Krieges in Coburg einlief: „Deinen Brief vom 11. (Mai) erhalten. Die
Gefahr ist nicht unterschätzt worden; alles ist geschehen, was möglich war.
Frankreich aber wollte durchaus nicht, und allein können wir nichts tun, und
überhaupt will das hiesige Gouvernement nicht in einen Krieg hineingezogen
werden. Victoria-London."
Die russische wohlwollende Neutralität war durch das Verhalten der
preußischen Regierung dem polnischen Aufstand 1863 gegenüber unbedingt sicher.
Ungleich schwieriger war es für Bismarck, die Hemmnisse zu beseitigen,
die sich im Innern Preußens und Deutschlands der Ausführung seiner Pläne
entgegensetzten. Es ist Bismarck wirklich nicht leicht geworden, die Deutschen
seiner Zeit, die in Sentimentalität und Phrasen zu zerfließen drohten, aus ihren
Träumen zu reißen und an seine waffenklirrende, von staatlichem Egoismus
beseelte Politik zu gewöhnen. Einen Vorgeschmack der Schwierigkeiten, die
ihm bei der Durchführung seiner realpolitischen Ziele bevorstanden, erhielt er
bei dem ersten Ministerrat nach dem Tode des dänischen Königs Friedrich des
Siebenten. Als er während der Sitzung den König kurz und schlicht aufforderte,
dem Beispiel seiner Vorfahren zu folgen und durch die Erwerbung der Herzog¬
tümer Schleswig-Holstein das Wachstum Preußens zu fördern, wies der König
nach der Sitzung den Protokollführer an. diese Auslassungen nicht in dem
amtlichen Protokoll anzuführen. „S. M. schien geglaubt zu haben." schreibt
Bismarck, „daß ich unter den bacchischen Eindrücken eines Frühstücks gesprochen
hätte und froh sein würde, nichts weiter davon zu hören. Der Kronprinz
hatte, während ich sprach, die Hände zum Himmel erhoben, als wenn er an
meinen gesunden Sinnen zweifelte ..."
Als Bismarck gar den Krieg mit Österreich als politische Notwendigkeit
forderte, stieß er auf den stärksten Widerstand. Gegen sich hatte er die über¬
wiegende Majorität des preußischen Volkes, soweit sie in der Stimmung der
liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses zum Ausdruck kam. Nicht einmal
alle konservativen Vertreter, deren Zahl so weit zurückgegangen war, daß sie,
wie der Berliner Witz feststellte, in einem Omnibus zum Dönhoffsplatz fahren
konnten, standen auf seiner Seite. Eine Gruppe konservativer Abgeordneter
sah in der engen Verbindung mit dem konservativen Österreich das einzige
Mittel, dem revolutionären Überschäumen der nationalen Volksbewegung
wirkungsvoll Halt zu gebieten. Und der König selbst stand diesem Gedanken¬
gang nicht fern, zumal wenn in ihm die Erinnerung an die Waffenbrüderschaft
mit Österreich zur Zeit der Befreiungskriege geweckt wurde.
Aber warum fand Bismarck mit seinem politischen Streben keinen Anklang
bei der nationalen Partei? Einigung Deutschlands unter Ausschluß Österreichs
war doch eines ihrer Ideale. Daß er erst Norddeutschland zusammenschließen
wollte, konnte man doch als Etappe zum Ziele gelten lassen. Nun in der
liberalen Volksbewegung, die Anfang der sechziger Jahre im Nationalverein
verkörpert war. lebte noch die Erinnerung an das Programm der Gothaischen
Partei, das eine Einigung Deutschlands mit Ausschluß Österreichs unter
Preußens Führung als erstrebenswertes Ziel enthielt; aber ihre Führer legten
keineswegs den Nachdruck auf die Vergrößerung der preußischen Machtstellung.
Sie sahen in der liberalen Organisation Deutschlands, in der Schaffung eines
Reichstages, von Reichsministerien und anderen liberalen Einrichtungen das
Hauptziel. Vor allem aber waren sie überzeugt, daß, wenn sich in Preußen
der Liberalismus durchgesetzt hätte, auch das übrige Deutschland allein schon
durch die alles fortreißende Macht der Ideen und der Volksbewegung zum
Anschluß an die neu zu begründende Reichseinheit gezwungen werden würde.
Trotz der üblen Erfahrungen des Jahres 1848 glaubte man an die Möglichkeit
dieser akademischen Lösung der deutschen Frage und verabscheute jeden Versuch
einer kriegerischen Auseinandersetzung.
Gerade im Interesse der deutschen Einheit hielt man darum den Sturz
des konservativen Regiments in Preußen, den Sturz Bismarcks für unbedingt
notwendig. In seinen kriegerischen Absichten sah man nur eine mutwillige
Störung der in so gutem Fluß befindlichen nationalen Bewegung; ihn selbst
faßte man als Spieler auf, der alles auf eine Karte, auf den Krieg setzte, um
über die inneren Schwierigkeiten hinweg zu kommen.
Der Kronprinz von Preußen befand sich völlig im Banne dieser Gedanken¬
gänge. Im Hinblick aus die Bismarckschen Bestrebungen äußerte er: „Diejenigen,
welche den König, meinen allergnädigsten Herrn, auf solche Wege führen, be¬
trachte ich als die allergefährlichsten Ratgeber für Krone und Vaterland."
„Tollkühnheit und Frivolität" sah er in Bismarcks Verhalten. Und aus seiner
Auffassung, daß nur durch ein den Forderungen der Zeit gemäßes, entschieden
liberales Regiment im Innern die Herrschaft Preußens in Deutschland hergestellt
werden könnte, machte der Kronprinz auch Fernerstehenden gegenüber kein Hehl.
Die Anschauungen seiner Verwandten in Coburg und Karlsruhe und die
seines Freundes, des Herzogs von Augustenburg, bewegten sich auf derselben
Linie. Sie betonten, daß Annexionen in Norddeutschland die deutschen Fürsten
mit dem höchsten Mißtrauen gegen die preußische Politik erfüllen und die
Intervention des Auslandes im Gefolge haben müßten. Schließlich arbeitete
die Königin Victoria in ihrer temperamentvollen Weise gegen den abscheulichen
Menschen, wie sie Bismarck in einem ihrer Privatbriefe nannte.
Von allen Seiten wurde so der Versuch gemacht und immer wieder er¬
neuert, die Friedensliebe des Königs und seine politische Vorliebe für Österreich
gegen den Minister aufzurufen.
Bei diesem Kampf um den König hatte Bismarck nur wenige Getreue
zur Seite. Roon, den Kriegsminister, in erster Linie, dann besonders Gustav
von Alvensleben, den Generaladjutanten, der sich später im Kriege 1870 als
Kommandeur des vierten Armeekorps bei Beaumont auszeichnete. So mußte
Bismarck seine ganze staatsmännische Kunst, zuweilen gepaart mit seinem rück¬
sichtslosen Zorn und seiner vulkanischen Leidenschaft, ins Feld führen, um den
König bewußt oder unbewußt für den Dienst an der nationalen Sache zu
gewinnen. Wenn man die kühle diplomatische Geschichtsschreibung Snbels liest,
ahnt man nicht, mit welcher Leidenschaft die sich gegenüberstehenden Parteien
um den entscheidenden Einfluß auf den König rangen.
Benedetti gegenüber hat Bismarck in dieser Zeit die Äußerung getan:
Der König ist so geartet, daß man, um ihn zur Einforderung eines Rechts
zu bestimmen, beweisen muß, daß andere es ihm bestreiten. Aber wenn er
überzeugt ist, daß man seine Autorität mißachtet, daß man ihren Gebrauch
einzuschränken wagt, so kann man energische Beschlüsse vorschlagen, ohne die
Besorgnis, er werde sie ablehnen.
Aus dieser Erkenntnis heraus wird Bismarck nicht müde, das Rechts¬
empfinden des Königs als seinen besten Bundesgenossen wachzurufen. Es war
ihm schon gelungen, die ursprüngliche Sympathie des Königs für den Herzog
von Augustenburg dadurch in das Gegenteil zu verkehren, daß er immer wieder
die Frage erörterte: Darf der Erbprinz von Augustenburg in Kiel Wohnsitz
nehmen, sich mit einer Regierung umgeben, sich als Herzog von Schleswig-
Holstein huldigen lassen, obwohl der Wiener Friede und der Gasteiner Vertrag
den Herrschern von Preußen und Österreich den souveränen Besitz der Herzog¬
tümer zugesprochen haben? Ist es nicht ein unerhörter Eingriff in die verbrieften
Rechte des Königs von Preußen? Besonders beeinflußte er damals den König
durch den Nachweis, daß der Herzog in engster Verbindung mit der deutschen
Bewegungspartei stände und von ihr, die durchaus in den Ideen des Jahres 1848
wurzele, Durchsetzung seiner Ansprüche erwarte. Bismarck selbst hat diese
nationale Bewegung nicht eben hoch eingeschätzt. Er bezeichnete ihre Führer
als Schwätzer und Schwindler, sprach von Bierhaus-Enthustasmus und er¬
wartete von ihr im Ernstfall keinen Schuß und wenig Groschen. Anders der
König. Er war davon überzeugt, daß die demokratische Partei absichtlich oder
unwillkürlich Anarchie und Königsmord herbeiführe. Diese pessimistische Auf.
fafsung war aus seinen Erlebnissen und Eindrücken im Jahre 1848 entsprungen.
Es war ja für ihn die schmerzlichste Erinnerung seines Lebens, daß er sich im
März 1848 in der Kleidung eines Dieners den seitens des Pöbels drohenden
Mißhandlungen hatte entziehen müssen.
Bei diesem Gedankengang des Königs war es Bismarck höchst willkommen,
daß die österreichische Regierung, bald nachdem Graf Mensdorff Minister¬
präsident geworden war. den Herzog von Augustenburg als ihren Kandidaten
für die Herzogtümer feierlich proklamierte. Denn nun konnte Bismarck die in
ihrer Wirkung schon erprobten Vorhaltungen wiederholen, besonders als der
österreichische Statthalter Versammlungen und Umtriebe zugunsten des Herzogs
ruhig gewähren ließ. Bereits am 26. Januar 1866 beklagte sich eine preußische
Note darüber, daß die österreichische Regierung in den Herzogtümern Mittel
der Aufwiegelung gegen Preußen in Bewegung setzte. Das war die Tonart,
die beim König auf besonderes Verständnis stieß: Österreich, seither der Hort
der Legitimität, jetzt der Feind feierlich abgeschlossener Verträge I
So brachte es Bismarck nach heißem Bemühen und zuweilen erst nach
drastisch einseitiger Auslegung des Vorgehens und der Pläne der österreichischen
Regierung dahin, daß der König glaubte, Österreich wage, sein Erbe an Macht
und Recht anzutasten, und er sei genötigt, zu seiner Verteidigung das Schwert
zu ziehen.
Die rücksichtslos subjektive Färbung der politischen Absichten des Gegners
und der Erfolg, der nur zu bald zutage trat, erhöhte die leidenschaftliche Ent¬
rüstung seiner politischen Widersacher und verdoppelte ihre Anstrengungen, den
Ministerpräsidenten, von dessen Einfluß auf den König man nicht bloß den
unheilvollsten aller Kriege, sondern eine Katastrophe für den Staat und die
Monarchie befürchtete, zu stürzen.
An der Hand politischer Korrespondenzen, die in wichtigen Teilen unver¬
öffentlichtes Material enthalten, soll die gefährlichste Intrige, die den Sturz
Bismarcks bezweckte, in ihrem Verlauf dargestellt werden. Teilnehmer sind der
Herzog Ernst der Zweite, der österreichische Ministerpräsident Graf Mensdorff,
ein Vetter des Herzogs von Koburg und der Königin von England, der Kron¬
prinz Friedrich Wilhelm und die Königin Augusta.
Am 22. März 1866 übergab der Adjutant des Herzogs von Koburg in
Berlin zwei Schreiben: ein Geburtstagsschreiben an König Wilhelm und einen
Brief an den Kronprinzen von Preußen. Beide Schreiben verfolgen das Ziel,
den gefährdeten Frieden zu erhalten.
Herzog Ernst der Zweite an König Wilhelm.
Gotha, 21. März 66.
Ich kann nicht umhin, dem Drange meines Herzens zu folgen, Dir für
den festlichen Tag meine ebenso herzlich als wohlgemeinten Glückwünsche zu
Füßen zu legen und Dir meine Freude auszusprechen, daß Du sowohl in körper¬
licher als geistiger Kraft allen den sonst bei viel Jüngeren sich fühlbar machenden
Einflüssen der Jahre so glücklich die Spitze bietest. — Ein jedes neue Jahr, das
man betritt, soll seinen Charakter an der Stirn tragen. Unser aller sehnlichster
Wunsch liegt diesmal in dem einen Wörtchen „Friede". Möchtest Du in Deinem
neuen Lebensjahr zur Freude Deutschlands und zur Beruhigung ganz Europas
dieses so schwer bedrohte und doch so kostbare Gut uns zu erhalten wissen!
Wir, die wir Dich kennen und die wir so eklatante Proben von Deinem
persönlichen Gerechtigkeitssinn und Deiner kaltblütigen Enthaltsamkeit haben,
wenn es darauf ankam, die Verherrlichung Preußens auf Kosten Deiner Bundes¬
brüder zu suchen, sind fest überzeugt, daß Du allen Verlockungen und allem
Drängen, es zum Zweck der Vergrößerung Preußens durch ein deutsches Erbland
bis zum Bruderkrieg kommen zu lassen, widerstehen wirst. Noch sind alle Deiner
Worte und Deines Handgelübdes in Baden eingedenk, wofür sie Dich damals
gesegnet haben. Wie soll es möglich sein, daß Du dahin gelangen könntest,
vielleicht schon in kurzem das friedliche Deutschland in ein Schlachtfeld zu ver¬
wandeln.
Wir sind uns vollkommen klar darüber, daß mit dem ersten vergossenen
Tropfen Bruderblutes die Kriegsfurien in all ihrer alten Leidenschaft ent¬
fesselt sein werden und daß es dann in keines Macht und Willen mehr liegt,
sie ik Grenzen zu bannen und die unausbleibliche Einmischung des Auslandes
auszuschließen.
Und wie sollte solch ein Krieg enden?
Doch das sind alles wenig festliche Betrachtungen, die mir wie Schatten
über die Freude des feierlichen Tages hinwegflogen. Mögen sie zerfließen vor
dem Glänze Deiner Gerechtigkeit!
In dieser Hoffnung lasse mich die wärmsten Glückwünsche wiederholen, mit
denen ich in aufrichtiger Verehrung bin. allergnädigster König.
Konzept.
Ernst der Zweite an Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen.
Gotha. 21. März 66.
Ich schicke Dir Schleinitz mit einem Gratulationsbrief an den König und
habe darin zugleich meine großen Bedenken ausgesprochen über die Wege, die
man zu tun im Begriff scheint. — Du kannst Dir meine Ansichten über einen
Bruderkrieg denken, und wie wenig ich in Eurem eigenen Interesse wünschen
kann, Preußen in Deutschland durch das Schwert vergrößert zu sehen. Welche
Gefahren laufen wir nicht und lauft Ihr nicht selbst. — Ich beauftragte Schleinitz
mit mündlichen Äußerungen, da man schriftlich ein mümoire füllen könnte;
hoffentlich bringt er günstigere Nachrichten. Sollte es wirklich zum äußersten
kommen, so müßte ich schon wegen der eigenen Stellung nach Berlin eilen. Jetzt
halte ich es wirklich für schädlich . . .
Die Antwort des Königs lautet wie folgt:
König Wilhelm an Herzog Ernst.
Berlin. 26. März 1866.
Empfange meinen besten Dank für Deine freundlichen Wünsche zum 22.
Gewiß, ich kann es dem Himmel nicht genug danken, daß, da er mich einmal
dies hohe Alter erreichen lassen will, er mir auch die geistigen und körperlichen
Kräfte noch erhält — mich nicht zum Kinderspott werden ließ! Doch wie lange
dies so gehen wird, weiß auch der Himmel nur allein.
Sehr recht hast Du, mein neu betretenes Jahr als unter trüben Auspizien
sich darstellend zu bezeichnen. Was in meinen Kräften steht, den Frieden zu
erhalten, wird wahrhaftig geschehen, so lange es meines Landes Ehre möglich
macht. Wenn Österreich aber nicht aufhört, nicht nur in den Herzogtümern,
sondern in ganz Europa und weiter, diese meine Ehre auf die insultierendste
Weise anzugreifen . . ., um Preußen überall verhaßt zu machen, dann ist meine
Geduld zu Ende. Gastein ist aus dem Gefühl hervorgegangen, daß der Halb-
huberschen Mißregierung ein Ende gemacht werden müsse, um in Frieden neben¬
einander in den Herzogtümern bestehen zu können. Kaum aber waren zwei
Monate vergangen, als die Mißregierung in erhöhtem und stets steigendem
Grade wieder eintrat. Meine gerechtesten Beschwerden im Januar wurden
unter dem 7. Februar auf eine für mich verletzende Art zurückgewiesen. Seitdem
sprechen nur die Zeitungen in gegenseitig vehementer Sprache. Seit vierzehn
Tagen rüstet Österreich und konzentriert Truppenmassen, die schlesischen Grenzen
umspinnend, und dennoch habe ich bis heute nicht einen Mann gerührt, Beweises
genug, daß ich nicht der Provozierende bin. Die Zukunft der Herzogtümer ist
in Gastein der Zukunftsvereinbarung von neuem vorbehalten worden. Die Zeit
bis dahin aber durch Insulten und Invektiven zu benutzen, um jede Sympathie
mir zu rauben, ist illoyal und ungerecht. Will Österreich den Krieg, so werde
ich ihm nicht ausweichen! Alle mit demselben verbundenen Gefahren sehe ich
gerade so an, wie Du. Wer mit mir gehet, wird nie etwas von Preußen zu
besorgen haben, trotz dem seit einundfünfzig Jahren bestehenden eauLNemar,
daß Preußens drei Könige nur auf die Annexion feiner deutschen Nachbarn
ausgehn!! Wenn auch eine Bundesreform namentlich für Norddeutschland
nötig scheint, wozu Du das erste Beispiel und den ersten Schritt getan hast, so
ist dies niemals Annexion. Wie ich in Baden an Eurer Aller Spitze vereint
mit Euch stand, so stehe ich auch heute noch, wenn die Rivalität Österreichs sich
endlich in die bundesfreundliche Anerkennung Preußens, als ebenbürtiger Macht,
umgestaltete. Dies glaubte ich 1864 nach dem Friedensschluß erreicht; die ein¬
einhalb Jahre beweisen aber, daß dem nicht so ist! Wäre es der Fall gewesen,
so standet Ihr Alle hinter uns! Warum standet Ihr nicht so, als 1864
Preußen und Österreich zusammenstanden? Das vermeintliche Recht der Augusten-
burger machte viele von Euch zu unseren Gegnern; jenes Recht ist nur auf
einzelne Landesteile erweislich möglich, nicht auf die Gesamtherzogtümer; der
Spruch meiner Kronsyndici ist für mich das Entscheidende. Daneben stehet die
öffentliche Meinung und das Verlangen meines Landes, das in der Annexion
der Herzogtümer Ersatz für geopfertes Gut und Blut sieht, — Preußens und
Deutschlands Interessen sind identisch bei dem Besitz jener Länder durch ersteres.
Warum also Krieg?? — Da hast Du in wenig Worten mein Glaubens¬
bekenntnis über die momentane politische Lage! Gott wird weiter seinen Willen
erblicken lassen!
Zugleich mit dem königlichen Schreiben überbrachte Schleinitz einen Brief
des Kronprinzen von tief pessimistischen Inhalt.
Kronprinz Friedrich Wilhelm an Herzog Ernst den Zweiten").
Berlin, den 26. März 1866.
Bestens für Deinen Brief dankend, benutze ich gleichfalls Schleinitz, um
Dir, wenn auch nur allgemein gehalten, zu sagen, daß ich namenlose Pein in
diesen Tagen aufstehe.
Bruderkrieg ist das nämliche Wort, welches ich gebrauche, um aus-
zusprechen, wie ich Bismarcks Entschluß: den Krieg mit Österreich uns auf.
zuerlegen. ansehe. Noch stehen die Dinge wohl nicht zum Äußersten, bei
Bismarcks Talent aber, die Dinge also zu färben, wie er sie angesehen haben
will, muß ich befürchten, daß er dem König so zusetzen wird, daß wir wirklich
das Unerhörte erleben werden.
Der König ist entschieden nicht kriegslustig, vielmehr sich vollkommen der
ungeheueren Verantwortlichkeit bewußt, die er übernimmt, wenn er solch einen
Krieg beginnt. Aber er ist gereizt durch Österreichs Auftreten sowohl im
Holsteinschen wie auch in der Presse; diese zwei Punkte werden natürlich
geflissentlich und geschickt benutzt, um beständig neue Reizmittel abzugeben. Und
nun vollends in Böhmen und Galizien Truppenbewegungen stattfinden, wird
dieser Umstand erst recht Öl ins Feuer gießen. Bismarck ignoriert mich voll¬
ständig. Seit dem Herbstmanöver in Sachsen hat er für gut befunden, mir
bis heute faktisch nicht eine Silbe über die brennende Frage zukommen zu
lassen. Ich natürlich erwidere sein Benehmen, was mir wenigstens den Vorteil
gewährt, mich unbefangen äußern zu können. Ich erfahre mitunter durch den
König den augenblicklichen Stand der Dinge und spreche mit ihm offen. Sonst
erfahre ich nur das, was jeder auf der Straße vernehmen kann.
Unerklärlich bleibt mir Bismarcks Tollkühnheit, einen deutschen Krieg in
deutschen Landen gegen die Sympathie des engeren wie des weiteren Vaterlandes
zu unternehmen, zumal nichts in der Welt dem Kaiser Napoleon willkommener
sein kann, wie die sichere Aussicht, in Deutschland den Friedensstifter alsdann
spielen zu können.
Man stützt sich aber hier auf die günstige Lage des Augenblicks (?), auf
die noch einige Jahre vorwaltende Überlegenheit der preußischen gezogenen
Feuerwaffen und meint, Italien werde auch losgehen, wenn wir es tun.
Des Pudels Kern ist: Bismarck hat des Königs ursprüngliche absolu¬
tistische Gesinnung mit der Gegenwart in eine Scheinverträglichkeit zu bringen
verstanden, wobei er nebst seinen Ministerkollegen von Konflikt zu Konflikt mit
dem Lande sich tiefer in die Unhaltbarkeit seines Systems hineingeritten hat.
Jetzt soll der Krieg ihm heraushelfen; weil einmal er glaubt, dann und infolge
der erwarteten Siege das Land auf seine Seite treten zu sehen, ferner aber
weil er auf den (so!) Chaos rechnet, der aus jenem Kriege entstehen wird, um
denselben zugunsten Preußens auszubeuten.
Wenn wir aber nicht gleich siegen, wenn die Nachbarn sich gegen uns
erklären — was dann? Das ist das Schauerliche, das ebenso möglich ist, wie
die Erfolge, auf die man hier so sehr zuversichtlich rechnet.
Mit gebundenen Händen überantworten wir uns einem blinden Schicksal!
Ich werde meinerseits nichts unversucht lassen, um dem Unheil zu begegnen,
abzuwehren, zu warnen, zu verhindern! Du weißt aber, wie wenig ich vermag!
Der Tante küssen Vicky und ich die Hand, und mit tausend herzlichen
Grüßen der ersteren an Dich, wie immer, mein teuerer, lieber Onkel,
Mehr noch als das Schreiben des Kronprinzen bewies dem Herzog die
Antwort des Königs, daß Bismarck im Begriffe stand, sein heißersehntes Ziel
zu erreichen. Denn auch die Stimmen der nächsten Angehörigen des Königs
hatten ihre Wirkung verloren. Nur durch ein möglichst offensichtliches Eintreten
Österreichs für den Frieden konnte im letzten Augenblick das Spiel des Ministers
in Verwirrung gebracht werden. Der Herzog richtete deshalb an seinen Vetter,
den österreichischen Ministerpräsidenten, folgendes Schreiben.
Konzept.
Ernst der Zweite an Graf Alexander Mensdorff.
Gotha, den 27. März 1866.
In der jetzigen kritischen Lage möchte ich keinen Augenblick zögern, Dir
ganz im Vertrauen Kenntnis von zwei wichtigen Handschreiben zu geben, die
ich soeben von Berlin erhalte und welche Euch authentisch darlegen, wie man
höchsten Ortes in Berlin denkt und daß es, wenn es Euch um Erhaltung des
Friedens zu tun ist, die höchste Zeit wird, den einzigen Weg einzuschlagen, der
das Gewebe von Täuschung und Mißverständnis noch durchdringen kann, den
von Person zu Person, vom Kaiser an den König direkt.
Ich hatte Schleinitz nach Berlin geschickt, um dem König aus Anlaß seines
Geburtstages einen Brief zu überbringen, in dem ich ihn bei allen Seiten
seines Charakters, die mir zugänglich schienen, angriff, um ihn vor den Ver¬
lockungen zu einem so unseligen Kriege wie dem um die unrechtmäßige Er¬
werbung eines deutschen Erblandes mit Osterreich aufs inständigste zu warnen.
Die Antwort ist die anliegende, in der der König nur sich selbst als den be¬
leidigten und bedrohten Teil hinstellt. Meine zuverlässigen Nachrichten aus
Berlin sind im übrigen folgende: der König ist vollständig von Bismarck um¬
garnt. Die systematische Bearbeitung geht so weit, daß ihm Eure Depeschen
oder Mitteilungen, wenn sie dem Minister nicht konvenieren, nicht vorgelegt,
die Zeitungen gefälscht, Eure aufsetzenden Blätter absichtlich verbreitet, Eure
Truppen in vergrößertem Maßstab vorgetragen werden. Der König selbst zwar
sträubt sich noch gegen den Krieg, aber Bismarck — darauf dürft Ihr Euch
verlassen — will ihn (soll er doch bereits sein Privatvermögen mobilisiert und
in der Bank von Brüssel angelegt haben, um nötigenfalls, wenn die Dinge
unglücklich gehen, selbst in Sicherheit zu sein.)
Außer ihm will zwar eigentlich in Preußen, einige immer kriegslustige
junge Militärs abgerechnet, kein Mensch den Krieg, und aus dem hier ganz
konfidentiell abschriftlich beiliegenden Briefe des Kronprinzen an mich wirst Du
dessen Denkungsweife ersehen; aber alles dies wird sich ändern, sobald der
Plan Bismarcks ausgeführt sein wird, Euch soweit zu drängen, daß Ihr den
ersten Schuß tut und Preußen in der Rolle des angegriffenen Teils dasteht und
die Ehre seiner Armee engagiert ist. Da nun eben bereits das eklatante Rund-
schreiben Bismarcks an die deutschen Regierungen in Szene gesetzt ist, in welchen!
letztere kategorisch aufgefordert werden, sich zu erklären, ob Preußen auf ihre
Unterstützung rechnen könne, wenn es von Österreich angegriffen oder durch
Demonstrationen genötigt werden sollte, selbst anzugreifen, so dürste es die
höchste Zeit sein, das einzige Mittel beim König anzuwenden, von dem ich mir
noch eine Wirkung auf ihn verspreche, am besten eine persönliche Zusammenkunft,
mindestens aber ein direktes Handschreiben des Kaisers an ihn, durch welches
dem Ideengange, in den sich der König hat einspinnen lassen, vom Kaiser selbst
eine diametral entgegengesetzte Richtung durch unleugbare Tatsachen gegeben
würde, also durch Hinweis auf Eure vollkommene Uneigennützigkeit in der Sache
der Herzogtümer, Eure Achtung des preußischen Besitztitels, Eure Nichtbeteiligung
an den Auslassungen der Presse, durch Betonung allerhöchst persönlichen Wunsches
der Freundschaft und Allianz mit Preußen zum Wohle beider Länder und
Europas, aber auch zugleich des festen Entschlusses, die eigene Gleichberechtigung
in der Herzogtümerfrage sich nicht schmälern lassen zu wollen, also selbst nur
in der Position des Angegriffenen zu stehen. Es könnte darin auch der König
direkt vor den unheilvollen Ratschlägen seines Ministers gewarnt werden, der
offen seinen Wunsch, mit Österreich zu brechen, ausgesprochen, und es dürste
schließlich ein Appell an die Waffenbrüderschaft und die von seinem Vater
ererbten Gesinnungen guter Freundschaft mit Österreich erfolgen, die man jetzt
durch allerhand untergeordnete Rücksichten unter dem Titel provozierter Ge-
fährdung von Staatsinteressen und Staatsehre in blutigen Bruderkrieg zu ver¬
wandeln im Begriff stehe, zu deren Wiederherstellung aber der Kaiser, sobald
nur das Interesse Österreichs gewahrt werde, die brüderliche Hand biete.
Solch ein Schreiben, durch irgendeinen Spezialgesandten direkt in des
Königs Hand gelegt, dürfte das einzige Mittel sein, von dem ich mir. wenn
nicht eine persönliche Zusammenkunft möglich ist. jetzt noch Erfolg verspreche.
Noch ist der König, wenn nicht alle Anzeichen trügen, nicht zum Äußersten
entschlossen; aber ein Tag zu spät, und das Schlimmste ist vielleicht unwider¬
ruflich geschehen. Ich bitte Dich persönlich, beide anliegende Handschreiben dem
Kaiser vorzulegen, mit der Bitte um die größte Diskretion, und mir dieselben,
Jn Wien wurde den Ratschlägen, die der Herzog empfohlen, nicht ent¬
sprochen. Bei der gespannten Lage konnte von einem persönlichen Zusammen¬
treffen der Herrscher nicht mehr die Rede sein. Auch von einem Handschreiben
des Kaisers wurde abgesehen. Dagegen entwarf Mensdorff nach den ihm in
dem herzoglichen Schreiben an die Hand gegebenen Gesichtspunkten ein Schreiben
an seinen Vetter augenscheinlich zu dem Zweck, daß es von ihm nach Berlin
weitergegeben werden sollte. In einem Punkt ging der österreichische Minister¬
präsident sogar über die Vorschläge des Herzogs von Koburg hinaus. Er hob
zwar hervor, daß es dem Kaiser Franz Joseph nicht zugemutet werden könne,
daß er österreichisches Blut habe vergießen lassen, um einseitig Preußen zum
Nachteil der österreichischen Stellung im Bunde zu vergrößern. Anderseits
deutete er jedoch an, daß die durch die Gasteiner Konvention Preußen ein¬
geräumte Bevorzugung bei der schließlichen Lösung gewiß noch eine präzisere
Form erlangt haben würde. Es entsprach dieser Hinweis ganz seiner Auf¬
fassung, die er in Wien der Kriegspartei gegenüber vertrat, Österreich möge
sich um den Preis einiger Zugeständnisse in Deutschland mit König Wilhelm
über den Kopf seines Ministers hinweg verständigen.
Doch hören wir den Wortlaut des Briefes:
Graf Mensdorff an Herzog Ernst den Zweiten*).
Wien, 31. März 1866.
Baron v. Meyern wird Dir berichten, wie wenig hier irgend jemand an
einen Angriff auf Preußen denkt. Das in Berlin eingeschlagene Verfahren läßt
sich schwer anders erklären, als daß man eben hofft, indem man leichtsinnig
mit der in Deutschlands friedliche Gauen geschleuderten Brandfackel einen in
seinen Folgen unberechenbaren Weltbrand entzündet, in dem daraus entstehenden
Chaos einige Vorteile für Preußen zu fischen. Werden sie des Preises wert sein?
Mit Perfidie hat man dem König alles, was von österreichischer Seite
geschehen ist, als feindliche Demonstrationen gegen seine Person und seine Ehre
und alle gehässigen Artikel einer, dank der ihr gewährten Freiheit, schranken¬
losen Presse als österreichischer Jnspirierung entsprungen darzustellen gesucht.
Einige Dislozierungen, die hauptsächlich wegen der in Böhmen stattgehabten
Unruhen vorgenommen wurden und welche sich schließlich auf die Verstärkung
der in jener Provinz garnisonierenden Truppen von drei auf vier Brigaden
Infanterie auf dem Friedensfuß und der Verlegung so vieler Kavallerie dahin,
als wie stets in den ruhigsten Zeiten dort stationiert, beschränkte, wurden gleich¬
falls als eine Bedrohung Preußens geschildert. Wenn außerdem auf dem
Papier einige Vorkehrungen getroffen wurden und das Heranziehen einiger der
entferntesten Kavallerieregimenter stattfand, so waren die Äußerungen des preußi¬
schen Ministerpräsidenten, der jedem, der es hören wollte, von der Unvermeid¬
lichkeit eines Krieges mit Österreich sprach, während gleichzeitig, wie dies bereits
zur Zeit vor der Gasteiner Konvention geschehen war, und was ich aus der
allersichersten Quelle weiß, Unterhandlungen mit Florenz gepflogen wurden,
wohl für Österreich ein hinreichender Grund zur Vorsicht.
Seit den von uns im vergangenen Jahre zurückgewiesenen Februarforde¬
rungen ist preußischerseits kein erneuter Vorschlag an uns ergangen, und doch
ist von österreichischer Seite alles geschehen, was die berechtigten Ansprüche
Preußens sichern konnte. Nur war es dem Kaiser, meinem allergnädigsten
Herrn, nicht zuzumuten, daß er österreichisches Blut habe im Norden vergießen,
lassen, um einseitig Preußen zum Nachteil unserer Stellung im deutschen Bunde
zu vergrößern. Weiß Gott, daß weder dabei der Kaiser noch dessen Ratgeber
von irgendeiner Gehässigkeit gegen die allgemein so hochgeehrte Person des
meinem allergnädigsten Herrn so innig befreundeten Königs geleitet wurden,
aber man konnte weder dem eigenen Lande noch Europa gegenüber seine Gro߬
machtstellung abdizieren und sich dem allgemeinen Gespötte preisgeben. Bei der
durch die Gasteiner Konvention Preußen eingeräumten Bevorzugung, welche bei
der schließlichen Lösung gewiß noch eine präzisere Form erlangt haben würde,
ist der überwiegende Einfluß, den Preußen schon naturgemäß durch seine geo¬
graphische Lage im Norden ausübt, sür alle Zukunft gesichert worden. — Ein
Krieg in Deutschland kann nur dem Auslande zugute kommen, und nie dürfte
sich das alte lateinische Sprichwort: inter äuobu3 IiZitantibu8 (so!) teitius
Zauäet glänzender bewahrheiten, als gerade bei einem solchen Kampfe. Die
Zukunft birgt ohnehin Zündstoff genug in ihrem Schoße, — der doch über
kurz oder lang nicht ausbleibende Tod des dritten Napoleon wird sicher ge¬
waltige Konvulsionen nach sich ziehen. Dies sollte genügen, um Österreich und
Preußen von Entzweiung abzuhalten, da sie in jener Zeit berufen sein werden,
entscheidend einzugreifen im Geiste der Ordnung und des Rechts. Darum sollte
es sich auch jeder Konservative zur Pflicht machen, alles aufzubieten, die beiden
Staaten einig zu erhalten, damit sie in der bezeichneten Epoche ihr Machtwort
vereint ertönen zu lassen vermögen.
Wie soll die Geschichte es einst beurteilen, wenn zwei Fürsten, deren Freund¬
schaft auf gegenseitige Achtung und Zuneigung begründet ist. ihren Feinden das
erwünschte Schauspiel eines Bruderkrieges geben, aus dem eben nur diese letzteren
Vorteil und Gewinn ziehen würden. Wir in Österreich müssen die Verant-
wortung von uns weisen, den Anstoß zu einem der unseligsten Kriege, der je
gratuitement in Szene gesetzt worden mare, gegeben zu haben. Wenn es aber,
was Gott und die Weisheit der von ihm erleuchteten Fürsten verhüten möge,
doch zum Äußersten kommen sollte, so werden wir jeden Angriff mit dem Ein¬
sätze aller Mittel und aller uns innewohnenden Kraft zurückschlagen. In einem
so ungerecht provozierten Kampfe kann der Kaiser auf die opferwillige Treue
seiner Völker unbedingt zählen, da sie bei dem Gedanken an eine solche Even¬
tualität das gleiche Gefühl tiefen Unwillens.durchglüht. Ich kann und will es
nicht glauben, daß es zu so etwas Ungeheuerlichen kommt. Von Kind auf
war ich in dem Glauben erzogen, daß die Einigkeit der deutschen Großmächte
eine Notwendigkeit für die Sicherheit Deutschlands und eine Bürgschaft für die
Macht und Größe beider Staaten sei. Ebenso habe ich stets mit treuer Ver¬
ehrung an der ritterlichen Person des Königs Wilhelm gehangen, der mir von
Jugend auf stets freundlich und gnädig begegnet war, weshalb mir der Ge¬
danke, daß nicht ein friedlicher, beide Teile nicht verletzender Ausgleich möglich
sei, nicht einleuchten will. Er muß und wird gefunden werden, wenn Leiden¬
schaftslosigkeit und Gerechtigkeitssinn nicht ans dem Rate der Souveräne ge¬
wichen sind. Nur müßten freilich vor allem die Waffen aus der Hand gelegt
werden, da sich Österreich nun und nimmer einen Ausgleich abtrotzen lassen
wird. Heute übergibt Graf Karolyi in Berlin eine Erklärung, welche die Ab¬
leugnung jeder kriegerischen Absicht gegen Preußen enthält und verlangt eine
gleiche von Preußen.
Wenn es nicht gelingt, diese zu erhalten, so geht wahrscheinlich die Steige¬
rung von militärischen Vorkehrungen fort, bis der Krieg unvermeidlich wird.
Es mag dies im Interesse einzelner maßgebender Personen liegen, deren Zahl
ist aber klein; — unverantwortlich wäre es, wenn ihre Ansicht gegen die über¬
wiegende Mehrzahl durchdränge.
Empfange zum Schlüsse meinen herzlichsten Dank für Deine freundlichen
Zeilen, die ich auch dem Kaiser zeigte, welcher Dich grüßen läßt und Deinen
wahrhaft patriotischen Bestrebungen zur Erzielung einer auch von ihm aufrichtig
gewünschten Verständigung vollste Anerkennung zollt. Aus meinem in Eile
geschriebenen Brief wirst Du ersehen, daß auch ich nach demselben Ziele strebe.
Der Koburger Spezialgesandte Herr von Meyern, der Überbringer des
herzoglichen Schreibens, nahm den Mensdorffschen Brief mit nach Koburg
zurück, und bereits am 2. April wurde er dem König von Preußen mit folgendem
Begleitschreiben des Koburger Herzogs ausgehändigt
Ernst der Zweite an König Wilhelm.
Gotha. den 2. April 66.
durch H. von Schleinitz.
Konzept.
Deine Nachrichten, die Du so gnädig warst, mir in Deinem Briefe vom
26. v. M. über Eure Stellung zu Österreich zukommen zu lassen und die mir
fast gleichzeitig bekannt gewordene überraschende Aufforderung Deines Gou¬
vernements an die deutschen Regierungen, sich zu erklären, was sie im Fall
eines Krieges zwischen Preußen und Österreich tun würden, haben mich so
alarmiert, daß ich für nötig befunden habe, sofort einen Vertrauten nach Wien
zu senden, um sich genau zu unterrichten, ob man denn wirklich dort uner¬
hörterweise so kriegerisch gesinnt sein sollte, wie man es Dich glauben gemacht
zu haben scheint.
Es ist mir eine wahre Herzenserleichterung, jetzt aus sichersten Quellen zu
hören, daß glücklicherweise in Wien gerade das Entgegengesetzte der Fall ist.
Man denkt nicht daran, Euch zu irgend etwas durch militärische Anstalten
nötigen zu wollen, ja man hält einen Krieg zwischen Preußen und Österreich
sogar dort wie anderwärts für etwas Ungeheuerliches. Aber allerdings erklärt
man in Wien, durch die Art und Weise, wie Graf Bismarck privatim und
offen seinen Wunsch, einen Krieg mit Österreich herbeizuführen, zu erkennen
gegeben habe und durch die letzte Maßregel in Schleswig, die man als einen
weiteren Schritt zu einem beabsichtigten Bruche ansieht, so frappiert worden zu
sein, daß man sich zu einigen defensiven Vorbereitungen in den österreichisch¬
preußischen Grenzländern bewogen gefunden habe, um sich von einen: für so
unberechenbar gehaltenen Gegner nicht überraschen zu lassen. Übrigens be¬
stehen diese Vorbereitungen, wie mir konstatiert wird, lediglich in Dislokationen
einiger Brigaden auf dem Friedensfuße (Kompagnie 70 Mann, Brigade
2000 Mann), was soviel wie gar nichts heißt. Nicht ein Urlauber ist ein¬
berufen, nicht ein Pferd ist zu kaufen befohlen worden. In Wien, höre ich.
lächelt man über den von den Zeitungen in Berlin aufgesprengten österreichischen
Rüstungs- und Angriffselfer.
Zum Überfluß bin ich in der Lage. Dir einen authentischen Beweis darüber
zu geben, wie man an maßgebender Stelle in Wien die Situation auffaßt,
indem ich mir die Indiskretion gestatte, Dich zu bitten, von dem beiliegenden
Privatschreiben des Grafen A. Mensdorff an mich Einsicht zu nehmen und mir
dasselbe dann gnädigst zurückstellen lassen zu wollen.
Ich schließe in der freudigen Hoffnung, daß alle in den letzten Tagen so
verhängnisvollen Mißverständnisse sich noch lösen werden und daß es Deiner
persönlichen Weisheit und Mäßigung gelingen wird, auch in der Hauptfrage
eine nach allen Richtungen genügende Lösung zu finden.
Es ist charakteristisch für das Verhältnis des Königs zu Bismarck, daß er
seinem Ministerpräsidenten das Schreiben mit dem Ersuchen um sein Gutachten
weitergibt. Damit war die Intrige mißglückt. In welchem Maße sich Bismarcks
Zorn auf ihren Urheber entlud, kann man aus dem in dem Anhang zu den
Gedanken und Erinnerungen I S. 129 ff. abgedruckten Brief an König Wilhelm
ersehen.
Bismarck an König Wilhelm
Berlin, den 3. April 18LK.
haben durch Abeken zu befehlen geruht, daß ich mich über die Frage äußere,
ob der ehrfurchtsvoll wieder beigefügte Brief des Herzogs von Koburg zu
beantworten sei. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, daß der Herzog von
Koburg seit vier Jahren an jeder Intrige gegen Eurer Majestät innere und
auswärtige Politik beteiligt gewesen ist. Seine Hoheit hat wesentlich zur Herbei¬
führung demokratischer Wahlen in Preußen durch Geld und Einfluß mitgewirkt,
sich in den Vereinen zur Bewaffnung des Volkes (Büchsen-Groschen-Vereinen)
beteiligt und der Monarchie gegenüber sich so verhalten, daß Ew. Majestät in
einem längeren Schreiben dem Herzoge schlagende Vorhaltungen machten und
den Besuch desselben wegen des üblen Eindruckes in der Armee ablehnten.
Der Herzog mit seinen Beamten Samwer und Franke ist der Hauptträger des
antipreußischen Augustenburgertums, ohne ihn hätte der Erbprinz mit sich reden
lassen. Der Herzog hat die Abberufung Lord Napiers, als eines zu preußischen
Diplomaten, herbeigeführt. Die Einwirkung des Herzogs auf Seine Kgl. Hoheit
den Kronprinzen erlaube ich mir ehrfurchtsvoll anzudeuten. Gewiß aber sage
ich nicht zu viel, wenn ich Seine Hoheit als einen der unversöhnlichsten Wider¬
sacher der Politik Eurer Majestät bezeichne und von ihm keine Hingebung für
Eurer Majestät Ehre und Vorteil gewärtige.
Das vorliegende Schreiben des Herzogs, der offenbar zum Behufe der
Mitteilung an Eure Majestät bestellte, durchweg unwahre Brief des Grafen
Mensdorff verrät einen Zusammenhang mit den Eröffnungen, die von der
Königin Viktoria durch Vermittlung Sr. Kgl. Hoheit des Kronprinzen an Eure
Majestät gelangten, und gewiß werden Allerhöchstdenselben ähnliche Insinuationen
auch von anderer Seite zugehen. Das alles beruht ohne Zweifel auf einem
wohlkombinierten Plane, nach welchem die offenen und heimlichen Gegner der
Politik Eurer Majestät bemüht sind, Allerhöchstdieselben zur Nachgiebigkeit gegen
Osterreich zu bereden und eine andere Politik dadurch anzubahnen, daß zunächst
Eurer Majestät jetziges Ministerium und ich insbesondere als Ursache allen Übels
dargestellt werde. Eure Majestät sind gewiß ohne meine Versicherung überzeugt,
daß ich, auch wenn meine Gesundheit von den letzten Jahren unberührt geblieben
wäre, doch jederzeit gern und mit lebenslänglicher Dankbarkeit für Eurer Majestät
vielfache Gnade in den Ruhestand übergehen würde, auch dann, wenn mit
meinem Verbleiben im Dienste keine Nachteile für Eure Majestät verbunden
wären, um wie viel mehr also, wenn mein Rücktritt für König und Vaterland
irgendwelchen Nutzen bringen könnte.
Ich sehe aber keine Möglichkeit, daß irgendein anderer Minister Eurer
Majestät irgendeine andere Politik als die bisher verfolgte und in dem Conseil
vom 28. Februar genehmigte, mit Ehren anraten könnte, denn diese Politik ist
von jeder Parteifärbung unabhängig, nur durch Preußens Interesse geboten,
durch die Situation unvermeidlich gemacht. Wenn der Herzog von Koburg eine
andere Politik, wie sie den Wiener Vorschriften zusagt. empfiehlt, so hebe ich
ehrfurchtsvoll hervor, daß derselbe Herr seit vier Jahren alles empfohlen hat.
was den monarchischen Interessen und insbesondere den preußischen entgegen¬
gesetzt war. Eure Majestät haben dem Herzoge dennoch die Ehre erzeigt,
seinen vom 22. eingegangenen Brief zu beantworten. Wollten Eure Majestät
diesen jetzigen Brief mit seiner beleidigenden und wahrheitswidrigen Einlage
auch beantworten, so würden Allerhöchstdieselben Ihre Gegner ermutigen. Ihre
Diener entmutigen.
Das Schreiben schließt mit folgenden Sätzen:
Mein aller untertänigster Vorschlag geht (deshalb) dahin, daß Eure Majestät
geruhen wollen, den Brief des Herzogs unbeantwortet zu lassen und dem
Adjutanten nicht zu verhehlen, daß die Übersendung der Einlage Allerhöchst¬
dieselben nicht angenehm berührt hat. Ist die Persönlichkeit des Adjutanten
dazu geeignet, so wäre es vielleicht gut, mündlich anzudeuten, daß Eure Majestät
qie Absichtlichkeit des ganzen Manövers mit dem Mensdorffschen Briefe voll«
kommen durchschauen und den Ton des letzteren daher nicht goutieren.
Nach dem Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen (I 132) hat König
Wilhelm den wenig verbindlichen Rat seines Ministers befolgt; denn es findet
sich hier, sogar in autographischer Nachbildung, ein Notizzettel des Königs für
den Adjutanten Leutnant von Schleinitz als mündliche Antwort an den Herzog
von Koburg. und in einem Schreiben an Bismarck. auf das ich an späterer
Stelle eingehen werde, betont der König, daß er dem Herzog nicht geantwortet
habe. Im Koburger Archiv ist jedoch, von demselben Tage datiert, ein Brief
des Königs erhalten, der zwar mit dem Gedankengang des Notizzettels an¬
nähernd übereinstimmt, im Wortlaut aber völlig abweicht und ausführliche,
teilweise charakteristische Zusätze aufweist. Ich hebe nur hervor: Auf Minister
Äußerungen pflegt man nicht döfensiv Rüstung in dem jetzigen Maße wie in
Böhmen anzuordnen.
Im einzelnen lautet der Brief wie folgt:
Fürstliche Gegner Bismarcks
König Wilhelm an Herzog Ernst den Zweiten.
4. April 186«.
Schon im July 1865 rüstete ich, da ich Krieg befürchten mußte. Gastein
erhielt den Frieden.
Seitdem wurde es schlimmer als zuvor.
Daher Kriegs Luft; aber auf Minister Äußerung pflegt man nicht döfensiv
Rüstungen in dem jetzigen Maße wie in Böhmen anzuordnen.
Wir wissen sehr wohl, was in Böhmen stehet, wer in seinem Standbezirk
stehet, was auf dem Marsch ist.
Man will uns täuschen, weil noch alles auf dem Friedensfuß, und spricht
von Judenkrawall Unterdrückung, die im südlichen Böhmen stattfinden und
nicht im nördlichen, wo alle Truppen konzentriert sind.
Pferdelieferungen sind stipuliert, aber Pferde noch nicht abgeliefert.
Das alles fand statt, ehe in Preußen auch nur ein Mann und Pferd
gerührt ward. Vom 13. bis 28. März sah ich dem allen staunend zu! Dann
erst traf ich die bekannten Anordnungen. .
Wie kann man also behaupten, daß Preußen Offensivabsichtxn hegte?
Gegen die man sich schützen müsse!
Österreich hat alle Anordnungen getroffen, um so schnell wie Preußen
mobil werden zu können, p>u8 einer Anzahl von zwölf Kavallerieregimentern in
Böhmen.
Dies ist Antwort auf den M-Brief; und meine Antwort nach Wien auf
die Carolui-Note wird Dir alles nähere zeigen.
W. 4. April 66.
Es scheint fast, als ob der König gegen den Willen und ohne Vorwissen,
des Ministers die rücksichtslose Form der Antwort unterlassen hat. Auch sonst
ist das Verhalten des Königs in der kurzen Zeitspanne, in die die koburgisch-
englischen Beeinflussungsversuche fallen, die in ihrer Wirkung durch ungünstige
Berichte des preußischen Botschafters in Paris über Napoleons Verhalten umer-
stützt wurden, nicht frei von Schwankungen.
Am 3. April erbittet der König die Antwort auf die österreichische Note
vom 31. März, die er auf Abekens Zureden, trotz seiner Empfindung,, sie sei
doch etwas sehr kalt und schroff im Vergleich zu der Österreichs, schon genehmigt
hatte, zurück, um sie nochmals durchzulesen. Trotz des wiederholten energischen
Protestes Bismarcks nimmt der König einzelne Änderungen vor. In Berlin
kommen auch sofort Gerüchte auf, der König zaudere, so entschlossen gegen
Österreich vorzugehen, wie Bismarck wolle. Schärfer als vorher erhebt die
Friedenspartei ihre Stimme. So erklärt damals der liberale Führer Theodor
Bethmann-Hollweg: wenn das so fortgehe, werde er sein Gut verkaufen und
sich anderswo ansiedeln; denn in einem Lande, in dem solche Tollheiten getrieben
würden, könne man nicht bleiben. Von der Ursache dieser Wirkungen ziehen
die Worte des eingeweihten Kriegsministers Roon den Schleier. Denn gerade
damals beklagt er sich bitter über die Koburger Manscherei und die Haus- und
Familienwanzen, die sich in den königlichen Schlössern eingenistet haben.
Gerade aus diesen Folgen erkannte Bismarck, wie verhängnisvoll das
Vorgehen des Herzogs von Koburg für die Durchführung seiner Pläne werden
konnte. Er begnügte sich deshalb nicht mit der scharfen Zurückweisung, zu der
er den König bestimmt zu haben glaubte, sondern er hielt es, zu einer Zeit,
wo er nach dem Urteil Roons in herkulischer Tag- und Nachtarbeit nervös
abgenutzt war. für nötig, persönlich in der Presse einen Kampf gegen den
Herzog zu eröffnen, um ihn politisch an den Pranger zu stellen. In der
Kölnischen Zeitung und in der Kreuzzeitung erscheinen mehrere Artikel. Zu
zweien von ihnen hat sich Bismarck ausdrücklich als Verfasser bekannt. Sie
tragen auch von seinem Geist und seiner Rücksichtslosigkeit nicht wenige Spuren.
Einige Proben mögen das beweisen.
"Wir haben schon gestern konstatiert, daß kein preußischer Minister, wer
es auch sei, in den Elbherzogtümern eine andere Politik treiben könne und
dürfe als die, welche der jetzigen Aktion des preußischen Kabinetts zum Grunde
liegt und daß ein Verlassen dieser Bahn überhaupt nicht zu den Dingen gehört,
welche als möglich gedacht werden können.
Um so überraschender klingt uns deshalb die Nachricht, daß ein viel¬
genannter deutscher Fürst, der Herzog von Koburg, nichtsdestoweniger seine be¬
kannten Hebel anzusetzen versucht, um, allerdings zunächst nur in indirekter
Weise, Preußen aus seiner bisherigen Bahn herauszuwerfen.
Es ist — wie man uns versichert — der preußische Ministerpräsident,
welchen er sich als Objekt des Angriffs ausersehen, und man hat beliebt, diesen
Anlauf unter dem wohlklingenden Namen einer Vermittlung zwischen Preußen
und Österreich diplomatisch einzuführen. Gewiß ist — wir leugnen es nicht —
ein solches Vorgehen eine glänzende Schmeichelei für den Grafen Bismarck.
Dennoch aber ist solch ein Versuch einem König von Preußen gegenüber diplo¬
matisch zu ungewöhnlich, als daß er nicht fast als eine Beleidigung erscheinen müßte.
Es ist ja nicht der Minister, sondern es ist das Königreich Preußen, mit
welchem das Kaiserliche Kabinett zu Wien sich in Konflikt befindet. — und das
Engagement Preußens in den obschwebenden Fragen geht höher und tiefer, als
es durch einen Personenwechsel erledigt werden könnte.
Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß der Herzog von Koburg
in betreff der Person einen recht geschickten Griff getan, uno daß er sehr wohl
weiß, was er tut. wenn er den Grafen Bismarck auf allen geraden und un¬
geraden Wegen mit allen bekannten und unbekannten Mitteln, und Aufgebot
aller Streitkräfte intra et extra muro8 anzugreifen versucht.
Graf Bismarck ist in diesem Moment allerdings mehr als em einzelner
Mann; er ist der Repräsentant eines Systems, das und eben in den Augen
Europas gleichzeitig desavouiert werden würde; wir begreifen deshalb auch den
Eifer der „stillen Preußenfreunde" in Wien, vor allem den Mann wegvermitteln
zu lassen, dessen Beseitigung von selbst vieles andere nach sich ziehen würde.
Auch der Wolf war ja bereit, mit dem Hirten um den Preis des treuen
Wächters zu „vermitteln". Was man aber in Koburg wie in Wien nicht gründ¬
lich erwogen zu haben scheint, das ist die Frage: ob denn der Herzog von Koburg
wohl die geeignete Persönlichkeit ist, um Preußen gegenüber mit Erfolg als
Vermittler auftreten zu können; ob die Haltung der jetzt so sehr friedlichen und
zur Vermittlung geneigten österreichischen Staatsmänner in der Tat von der Art
war, um den diplomatischen Angelhaken als den Anker des Friedens erscheinen
zu lassen.
Unsererseits wenigstens entsinnen wir uns kaum, den „fürstlichen Vermittler"
jemals anderswo als auf feiten der Gegner Preußens gefunden zu haben, —
sei es, daß er als Schützenkönig und Nationalvereins-Herzog Deutsche Kaiser-
Generalprobe abgehalten, sei es, daß er als einfacher deutscher Patriot der
preußischen Fortschrittspartei die Wege geebnet.
Was kann es also sein, was den Herzog von Koburg dessenungeachtet
heute zu einem so warmen Freunde Preußens macht? und was hat sich in
Wien begeben, daß man dort plötzlich nur noch den einen Streitpunkt und die
eine Aufgabe kennt, den König von Preußen in seinem Kabinett besser bedient
zu sehen?
Wäre es so gemeint, daß Preußen um den Preis des Grafen Bismarck
alles das gewinnen könnte, was es gewinnen muß, — wir meinen, es würde
diesem selbst sein Leben nicht zu teuer sein.
Vielleicht aber ist es doch nicht so gemeint, und einige nähere Details
werden wohl bessere Aufklärung geben."
Ist der Herr Herzog von Koburg in der Tat der geeignete Mann, als
deutscher Friedensstifter und als „Vermittler" zwischen Preußen und Österreich
aufzutreten? Dürfen die gegenwärtig leitenden Staatsmänner Österreichs mit
Fug den Anspruch erheben, als selbstvergessene Schwärmer für die Größe und
Ehre Preußens betrachtet und aufgenommen zu werden? — Wir werfen diese
Fragen nicht auf, um neue Zwistigkeiten durch die Erinnerung an alte zu
steigern und zu schüren; wir dürfen sie aber nicht umgehen, weil leider nur zu
Viele — auch da, wo man es nicht glauben sollte — vergessen zu haben
scheinen, daß man sich in Wien auf die Psychologie versteht und daß man es
natürlich vorzieht, wenn es sein kann, seine Zwecke nicht durch Krieg, sondern
auf billigeren Wege zu erreichen. Krieg verlangt Geld, „viel Geld", und
bleibt doch immer ein bedenkliches, zweifelhaftes Spiel, wogegen eine „Ver¬
mittlung" wie die, mit welcher wir es hier zu tun haben, außer gewissen be¬
kannten baren Auslagen keine großen Unkosten verursacht, und außerdem den
Vorteil gewährt, selbst wenn sie mißlingt, beschränkteren Patrioten gegenüber
als deutsche Bundestreue und edle Selbstverleugnung verwertet werden zu können.
Schauen wir deshalb der Frage etwas näher ins Gesicht, ob der Herzog
Ernst begründete Aussicht hat. mit seiner Vermittlerrolle zu reussieren, so müssen
wir zunächst das österreichische Dementi jener Rolle auf seinen wahren Wert
zurückführen. Wir sind in dieser Beziehung soweit unterrichtet, um zu wissen
woran wir sind, und daß die Handhabung doch nicht fein genug war, um die
Illusion bis ans Ende aufrecht erhalten zu können. Der Hauptgrund dieses
Mißerfolges war die Künstlichkeit, mit welcher das patriotische Schauspiel in
Szene gesetzt wurde. Umgeben mit dem ganzen politischen Apparat seiner
Familie und gewohnt, diesen stets in vollem Orchester spielen zu lassen, wider¬
fuhr Sr. Hoheit dem Herzoge von Koburg das eigentümliche Mißgeschick, eine
zu volltönende Resonanz seiner Melodie zu finden und in der vielstimmigen
Warnung vor der Gefährlichkeit der preußischen Politik, seine Vermittlerrolle
einfach als eine diplomatische Verschwörung enthüllt zu sehen. Man weiß in
Berlin, daß der Graf Bismarck dem Herzog von Koburg und seinen politischen
Freunden sehr unbequem ist; man weiß nicht minder, daß die leitenden Staats¬
männer in Wien wohl lieber mit einem anderen auswärtigen Minister Preußens
verhandelten. Und wie der Dichter sagt — es macht der Vorteil den Ge¬
fährten. Um deswillen hätte es auch kaum der politischen Vergangenheit des
fürstlichen Vermittlers bedurft, um seine Aussaat hier auf einen unfruchtbaren
Boden fallen zu lassen. Man kennt den Mann, man kennt den Zweck, man
kennt die Mittel — und es dürfte förderlicher gewesen sein, wenn man in Wien
den gewöhnlichen Geschäftsgang nicht verlassen hätte. Zur Begründung dieses
Wunsches wird es kaum vonnöten sein, dem Wiener Kabinett einen kurzen
Abriß der preußischen Geschichte und der österreichischen Politik seit den Tagen
des großen Kurfürsten bis auf den heutigen Tag vorzuführen. Die Geschichte der
letzten Jahre spricht laut und beredt genug, um die Wahrheit zu erhärten, daß in
Wien das diplomatische Hilfsbüchlein des großen Friedrich die meiste Anerkennung
gefunden hat. und daß uns deshalb auch nichts in dem Maße eine Aussicht auf einen
dauernden ehrenvollen Frieden gewährt, als wenn wir dem Wiener Kabinett keinen
Zweifel darüber lassen, daß wir mit demselben nicht über Ministerveränderung
in Preußen, sondern über die ebenbürtige Stellung in Deutschland verhandeln."
Die Artikel hatten ein interessantes Nachspiel. Die Kronprinzessin, empört
über die Art. wie ihrem Onkel mitgespielt war, bat ihre Schwiegermutter, die
Königin Augusta. dem König die beiden Artikel der Kreuzzeitung mit Protest
zu überreichen. Die Königin hat dies getan:
Königin Augusta an König Wilhelm*):
(wohl 7. April 1866)
Entschuldige diese Mitteilung (zwei Nummern der Kreuzzeitung Ur. 78 und 79)
Vickys. die ich pflichtgemäß zu Deiner Kenntnis bringe.
"
Du hast die loyale Absicht ihres Onkels nicht verkannt, durch die persön¬
lichen Beziehungen, die ihm zu Gebote stehen, die ernste Sachlage möglichst
zugunsten Deines eigenen Wunsches, die ehrenvolle Erhaltung des Friedens
betreffend, aufzuklären, und sich dafür, wie sonst, in direkte Verbindung und
Dir zu setzen.
In demselben Augenblick wird er von bekannter Seite auf eine Art behandelt,
die ihn als deutschen Bundesfürsten verletzen und seine vielfachen verwandt¬
schaftlichen Beziehungen kränken muß.
Wenn sich nicht der Herzog durch sein persönliches Attachement für Dich,
das er nie verleugnet hat, gebunden fühlt, wäre er berechtigt, sofort seinen
Brief an Dich zu veröffentlichen und zu beweisen, wie er gehandelt hat und
welcher Lohn ihm dafür zuteil wird.
(In Abschrift nach Koburg geschickt; Abschrift von der Hand des Kron¬
prinzen, ebenso das Nachwort: i
Der König erwiderte mündlich: „Er habe dem Minister geschrieben, daß
er die Artikel nicht billige und eine Rektifikation wünsche, wenn man Einfluß
auf die Zeitung habe.")
In der Tat liegt im Anhang zu den G. und (I 132) ein Brief des
Königs vor, der die Veröffentlichungen tadelt und mit der Bitte schließt, demi
Unwesen der Kreuzzeitung gegen den Herzog von Koburg ein Ende zu machen.
König Wilhelm an Bismarck.
7. April 1866,
Mir werden soeben die Um. 78 und 79 der Kreuzzeitung vorgelegt durch
fremde Hand (da ich diese Zeitung seit 1861 l^Krönungsartikel im Juni^ nicht
mehr halte) wegen der Schmähartikel auf den Herzog von Koburg. Mir ist
das sehr unangenehm, da nur Sie und die Königin und Kronprinzliche Herr¬
schaften Kenntnis von den Briefen des Herzogs an mich hatten, daher die
Quelle des Artikels sofort zu erraten ist. Da Sie mir immer sagten, daß die
Negierung keinen Einfluß auf die Kreuzzeitung habe, so scheint hier doch ein
Fall vorzuliegen, der dem widerspricht? Die Art, wie ich dem Herzog ant¬
wortete und das zweitemal nicht antwortete, bewies ihm, daß ich keine Fort¬
setzung der Korrespondenz wollte. Aber solche Artikel wie quest. müssen ihn
noch feindlicher gegen uns stimmen, und das ist nicht politisch richtig in diesem
Momente. Ich bitte Sie also, dem Unwesen der Kreuzzeitung gegen den
Herzog ein Ende zu machen. W.
Doch Bismarck nahm diesen königlichen Tadel nicht ruhig hin. Noch ein-
mal bietet er alles auf, seinen königlichen Herrn von der Berechtigung seines
Vorgehens, von dem Unrecht seiner fürstlichen Gegner schlagend zu überzeugen.
Seine in dem Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I, 133 ff. ver¬
öffentlichten Ausführungen bilden den leidenschaftlichen Schlußakkord der politischen
Auseinandersetzung.
Bismarck an König Wilhelm.*)
Berlin, den 7. April 186«;.
bitte ich alleruntertänigst um Verzeihung, wenn ich durch die Artikel über die
Vermittlung des Herzogs von Koburg, welche sich nicht an den Brief desselben,
sondern an eine Reihe anderer Zeitungsartikel über diese Vermittlung an¬
schließen, Allerhöchstdero Unzufriedenheit mir zugezogen habe. Ich würde es
niemals wagen, Eure Majestät zu täuschen, und gestehe offen, daß ich diese
Artikel in der Hauptsache selbst veranlaßt habe, da ich, wie jeder andre meiner
Kollegen, zwar nicht den Einfluß auf die Kreuzzeitung habe, aus ihr fernzu¬
halten, was ich will, aber doch so viel, daß sie aufnimmt, was ihrer Tendenz
nicht gerade widerspricht; dasselbe Verhältnis findet mit der Spenerschen, der
Nationalzeitung und vielen andern statt, und glaube ich auch nicht, diese Art
Einfluß jemals in Abrede gestellt zu haben.
Es hatte mir geschienen, daß Eure Majestät selbst über die Unaufrichtigkeit
in dem Verfahren des Herzogs und des Grafen Mensdorff entrüstet waren;
Eure Majestät verzeihen aber großmütig den Mangel an Ehrerbietung, der in
einem solchen Verfahren liegt, wie die früheren Feindseligkeiten des Herzogs,
der Eurer Majestät und dem preußischen Staate durch Begünstigung der
Demokratie, durch Störung des Verhältnisses zu England mehr Schaden getan
hat, als er jemals durch eine Militärkonoention wieder gut machen kann, und
der seine wahren Gesinnungen gegen Eure Majestät zur Zeit des Frankfurter
Fürstentags gezeigt hat. Eure Majestät werden an meiner Hingebung und an
meinem Gehorsam keinen Zweifel haben, erwarten Allerhöchstdieselben aber
nicht das Uebermenschliche von mir, daß ich ruhigen Blutes jederzeit bleibe,
wenn ich sehen muß, wie mir der schwere, ich darf wohl sagen aufreibende
Dienst, der mir obliegt, absichtlich erschwert wird durch die Ungnade solcher
hochgestellten Persönlichkeiten, denen das Gelingen preußischer Politik, denen
der Ruhm Eurer Majestät und des Königlichen Hauses nach menschlicher Er¬
wartung mehr als Allen am Herzen liegen sollte. Und weshalb trifft mich
diese unversöhnliche Ungnade, dieser Kampf gegen mächtige Einflüsse, den ich
auf jedem Schritte der mühevollen Bahn zu bestehen habe? Nur weil ich
mich nicht dazu verstehe, zweien Herren zu dienen, andere Politik als die
Eurer Majestät zu machen, anderen Einflüssen als den Befehlen Eurer Majestät
Rechnung zu tragen. Mein Vergehen ist daß ich bereit war, Eurer Majestät
mit Ihrem Willen zu dienen, als andere es sich versagten, daß ich nicht An¬
stand nahm, Eurer Majestät zu gehorchen, auf die Gefahr hin, mir die Ungnade
derer zuzuziehen, die Eurer Majestät am nächsten stehn. Ich könnte Frieden
haben, wenn ich. wie manche meiner Vorgänger, mich dazu verstehen wollte,
das. was mir von anderer Seite aufgetragen wird, bei Eurer Majestät als
meine eigne Überzeugung vorzutragen, und wenn ich namentlich in der inneren
Politik, in der Militärorganisation zum Nachgeben raten wollte; denn in der
äußeren Politik geschieht ja eigentlich nichts anderes, als was früher von denen,
die mich anfeinden, gewollt wurde. ^
Verzeihen Eure Majestät, wenn mich in diesen Kämpfen das Gefühl,
ungerecht angegriffen zu werden aus dem einzigen Grunde, weil ich meine
Pflicht gegen Eure Majestät ohne Seitenblicke zu erfüllen suche, die Ruhe ver¬
lieren läßt, die ich selbst gern bewahren möchte. Zum Beweise, daß die Ver¬
mittlung des Herzogs schon länger Gegenstand der Presse ist, und von Wien
aus zuerst besprochen wurde, lege ich einige Zeitungsartikel ehrfurchtsvoll bei.
Die Gedankengänge dieses Schreibens waren auf die bereits charakterisierte
Eigenart König Wilhelms berechnet und haben ihre Wirkung nicht verfehlt.
Der Versuch des Herzogs von Koburg, den König von seinem Minister zu
trennen, war gescheitert. Am 8. April unterzeichnete der König den Bündnis¬
vertrag mit Italien. Am 9. April wurde der Antrag Preußens auf Berufung
eines deutschen Parlaments auf Grund des allgemeinen Stimmrechts durch
direkte Wahlen am Bundestag übergeben und geheime Verhandlungen mit
Bauern über den Ausschluß Österreichs aus dem neu zu schaffenden Bund, über
Preußens Vormachtstellung in Norddeutschland und Bayerns im Süden Deutsch¬
lands begonnen.
Ernst der Zweite hatte bereits nach Eintreffen des früher erwähnte» könig¬
lichen Briefes sein Spiel verloren gegeben. Das zeigt folgendes Telegramm
an den Grafen Mensdorff: König schenkt keinen Glauben; entgegengesetzte
Rapporte. Persönlich immer noch aufgebracht. Direkter Schritt notwendig.
Große Mäßigung empfehlenswert.
Es darf wohl angenommen werden, daß die österreichische Note vom
7. April unter dem Eindruck und dein Einfluß dieses Telegramms entstanden
ist. Sie enthielt ein ernstes, friedliches Angebot und gab König Wilhelm die
ersehnte Gelegenheit, der Welt seine angezweifelte Friedensliebe zu zeigen.
Eine Zeitlang hatte es zur größten Beunruhigung Bismarcks wirklich den An¬
schein, als ob die Kriegsgefahr noch beschworen werden könnte. Denn der
König milderte den Entwurf der Bismarckschen Antwortnote zweimal und schickte
ihn zweimal zurück. Ihr Kerngedanke war die preußische Bereitwilligkeit, die
Rüstungen rückgängig zu machen, wenn Österreich sich derselben Friedcnsmaß-
regel anschließe. Österreich ging aufs bereitwilligste auf den Vorschlag ein.
Bismarcks Pläne waren arg gefährdet. Daß sie nicht endgültig durchkreuzt
wurden, dafür sorgte, wie so oft, die Torheit seiner Gegner. Gerade in diesen
Tagen der neu erwachten Friedenshoffnung setzte der österreichische Generalstab
die Mobilmachung gegen Italien durch, das möglicherweise infolge des fried¬
lichen Umschwungs in Deutschland besonders kriegerisch zu lärmen begonnen
hatte. Damit war der Stein ins Rollen gekommen; an ein Aufhalten war
nicht mehr zu denken.
Der telegraphische Wunsch, den die Königin von England am 7. April
nach Koburg übermittelt hatte, ist erfreulicherweise nicht in Erfüllung gegangen.
Sie hat depeschiert:
Viktoria an Ernst den Zweiten."
„^
7. April Windsor Castle.
Dank für Brief vom 2. Ich habe ihn mit Deinen Einlagen Lord Clarendon
übergeben und schicke Dir hiermit Clarendons Brief . . .
... Gott gebe, daß dieses schändliche, sündhafte Benehmen Bismarcks
reichlich bestraft und der Frieden erhalten sein möge.
me kurze Bemerkung im preußischen Haushaltsetat für 1913 kündet
ein neues Reichsamt an. Beim Neubau des seit langem mehr
als unzureichenden Geheimen Staatsarchivs in Berlin ist gleich¬
zeitig ein Bauplatz für ein neu zu begründendes Reichsarchiv,
räumlich getrennt und selbständig erweiterungsfähig, vorgesehen.
Ausführliche Motive sollen erst dem nächsten Haushaltsetat des Reiches bei¬
gelegt werden, da zurzeit noch nicht mit Bestimmtheit angegeben werden kann,
welchen Raum die reponierten Registraturen der Reichsämter benötigen. Deren
Kanzleien sind bereits jetzt, nach dreiundvierzigjähriger Arbeit so überfüllt, daß
sich eine Entlastung als unbedingt nötig erweist. Die historische Wissenschaft
hat heute, da die Trüger der Verhandlungen von 1870 alle dahingegangen
sind, ein Anrecht auf Ordnung und Einsicht der Akten, in denen die Arbeit
der Paladine des alten Kaisers niedergelegt ist. Darüber hinaus aber erheischt
der Gedanke eines Reichsarchivs noch besondere Bedeutung.- das alte Deutsche
Reich hat sich trotz einer fast tausendjährigen Geschichte nie dauernd ein selb¬
ständiges Archiv schaffen können.
Die deutschen Könige des früheren Mittelalters führten zumeist ein Wander¬
leben. Mit ihnen zog Kanzlei und Registratur von Bischofssitz zu Bischofssitz.
von Pfalz zu Pfalz. Daß unter diesen Umständen alle Stücke, die für die
laufenden Geschäfte entbehrlich schienen, langsam abbröckelten, vielleicht in dieser
oder jener Pfalz liegen blieben, ist selbstverständlich. Als Aachen unter den
Karolingern zeitweise eine Art ständiger Residenz wurde, sind hier wohl die
wichtigeren Archivalien, in gewisser Verbindung vielleicht mit der Hofbibliothek,
niedergelegt worden. Schon in der Mitte des neunten Jahrhunderts aber ver¬
schwindet dieses Pfalzarchiv. Als Inhaber des normannischen Königreichs in
Unteritalien und Sizilien mit seinem vorbildlich gegliederten Verwaltungsschema
haben unter allen deutschen Königsgeschlechtern erst die letzten Staufer den
Wert eines geordneten Archivs kennen und schätzen gelernt. In Neapel grün¬
deten sie ein Haus- und Staatsarchiv, das jedoch unter den Stürmen der
nächsten Jahrzehnte bis auf wenige Bruchstücke vernichtet wurde.
Nur ein günstiger Zufall hat uns ein Jahrhundert später einen Teil der
Reichskanzlei und ihrer Registratur erhalten. Am 24. August 1313 starb in
dem toskanischen Städtchen Buonconvento Kaiser Heinrich der Siebente, der
noch einmal das Erbe der Staufer hatte wiederherstellen wollen. Seine Schätze
brachten feine Getreuen in die Heimat zurück. Die Urkunden und laufenden
Akten sind zum Teil von dem aus Savoyen stammenden Kammernotar nach
Turin verschleppt worden, wo sie noch heute einen wertvollen Bestandteil des
königlich italienischen Staatsarchivs bilden. Die große Masse der Archivalien
gelangte, ebenfalls durch persönliche Beziehungen, in das Archiv des Dom¬
kapitels zu Pisa. Von hier kamen sie erst später auf unaufgeklärtem Wege
zumeist in das Hausarchw des toskanischen Geschlechts der Roncioni, die so
in unseren Tagen Hüter alten, wertvollsten „Reichsguts" sind.
Die Königsgeschlechter des vierzehnten Jahrhunderts, denen die Erlangung
der Krone ja nur ein Teil ihrer Hauspolitik war, vereinigten stillschweigend die
in ihrer Kanzlei erwachsenen Akten mit ihrem Hausarchiv, — soweit sie die
ihnen nur zufällig zuströmenden Stücke überhaupt des Aufhebens wert erachteten.
Der Begriff des Reichsarchiv>° in eigentlichen Sinne, als Eigentum des Reiches,
tritt erst im fünfzehnten Jahrhundert auf. Von der einen Seite drängte das
römische Recht auf scharfe Scheidung von Privat- und öffentlich-rechtlichen Ur¬
kunden, auf der anderen Seite verlangten die „Stände" jetzt Einsicht und Kon¬
trolle über die Reichsgeschäfte. 1422 schuf Kaiser Sigmund bewußt ein Reichs¬
archiv, indem er die Registerbücher seiner Vorgänger mit der eigenen Registratur
vereinigte und die Reichsgeschäfte gesondert führen ließ. Die Entwürfe einer
„Reichsreform" von 1495 sahen die Unabhängigkeit von Reichskanzlei und
Reichsarchiv von dem jeweiligen Reichsoberhaupt, ihre eigene Verwaltung durch
den „obersten Reichsrat" vor. In der Tat erkannte Maximilian der Erste jetzt
das Eigentumsrecht des Reiches am Reichsarchiv ausdrücklich an. Eine dauernde
Ordnung aber wurde weder damals noch später geschaffen. Seit dem Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts entwickelten sich vielmehr aus der Vielgestaltigkeit
der Reichsverwaltung nach und nach nicht weniger als vier verschiedene „Reichsarchive".
Am organischsten erwuchs das Archiv des Reichskammergerichts in Speyer,
später in Wetzlar. In jahrhundertelangem Bestand häuften sich in ihm die
Prozeßakten, heute eine schier unerschöpfliche Quelle vor allem der neuen Wissen¬
schaft der Fanliliengeschichte. Seine Schätze sind 1845 unter die damaligen
Bundesstaaten verteilt worden. Nach 1871 hat auch Elsaß-Lothringen seinen
Anteil erhalten. Nur ein „untrennbarer" Bestand sowie alle Akten, die bei der
Auflösung des Archivs an Preußen fielen, stehen jetzt als selbständiges Staats¬
archiv in Wetzlar unter besonderer Verwaltung.
Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, ebenfalls gesondert, das
Archiv des alten, berühmten und berüchtigten Reichshofrath aufgestellt, das unter
Aufsicht des Erzkanzlers, des Kurfürsten von Mainz, der Reichsvizekanzler leitete.
Die Akten der eigentlichen „Reichskanzlei" dagegen, die unter der unmittelbaren
Aufsicht und Obhut des Mainzer Kurfürsten in dessen Residenzen Mainz und
Erfurt die „Reichs"geschäfte führte, wurden nach der Neuordnung der deutschen
Verhältnisse 1815 dem Bundestag in Frankfurt am Main unterstellt. Von hier
entführte sie 1866 die österreichische Regierung ohne jeden Rechtsgrund und
gliederte sie dem K. und K. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ein. Nur
einzelne Splitter sind in dem Archiv des Kurfürstentums Mainz geblieben, das
jetzt im Kreisarchiv zu Würzburg, zum Teil auch im Hausarchiv der Grafen
Schönborn, der Inhaber des Kurhuts im siebzehnten Jahrhundert, in Wiesenteid
in Franken ruht.
Das vierte „Reichsarchiv" endlich hat sich aus der Registratur des Regens¬
burger Reichstags entwickelt. Die Grafen von Pappenheim führten als Reichs-
erbmarschälle die Aufsicht und Verwaltung. In ihrem Hausarchiv auf Schloß
Pappenheim sind die hier erwachsenen Akten untergebracht, da sich nach dem
schmählichen Ende des alten Reichs niemand als „Erbe" des seligen Reichstags
bekennen wollte.
In der bunten Mannigfaltigkeit dieser Bestände, in der Rechtlosigkeit des
.'Reichsarchivs" und in seinen wechselvollen Schicksalen spiegelt sich die ganze
Schwäche des Reichs vielleicht stärker noch, als es uns die Urkunden und Akten
selbst berichten könnten. Im zufällig, meist rechtlos erworbenen Besitz von
alten Familien in Deutschland und Italien, im Archivgewölbe geistlicher und
weltlicher Körperschaften ruht die Überlieferung des alten „Reiches . Allem
die Reihenfolge der Orte und Landschaften, wo der Historiker heute seine Nach¬
forschungen anstellen muß, erzählt seine Geschichte: Neapel, Turm/ut Pisa;
Karlsruhe (für Ruprecht von der Pfalz). München und Wien; Wetzlar Frank¬
furt. Würzburg. Pappenheim. Wiesenteid und wieder Wien, das sind d,e Etappen
der Reichsverwaltunq bis 1806.
Mit dem Rheinbund entschwand das Deutsche Ne:et, Em Ne.chsarch w
aber hat sich noch im neunzehnten Jahrhundert der eutsche Parttkulan«
selbstbewußt geschaffen. Als Bayern seinen Besitzstand unter dem ^Napoleons aus den Trümmern des alten Reiches mehr als verdoppelte, dachten
die Wittelsbacher und ihr Volk ernstlich daran, das neue Bayerische „Reich"
ebenbürtig den „übrigen" Großmächten zur Seite zu stellen. 1808 wurde das
„Allgemeine Reichsarchiv" in München mit der Bestimmung gegründet, alle
Besitztitel der alten und neuen Provinzen zu vereinigen. Sein erster Direktor
wurde der Ritter von Lang, dessen lebendig geschriebene Memoiren die ganze
Schwäche und Trostlosigkeit des Bureaukratismus und Partikularismus der
bayerischen Verwaltung bis ins Kleinste wiedergeben. Das einzige „Reichs-
archiv", das Deutschland zurzeit besitzt, spiegelt in seinem Namen die tiefste
Schmach des deutschen Namens, die Blütezeit des mittelstaatlichen Partiku¬
larismus.
Aus diesen traurigen Erinnerungen, die sich für uns bisher an den Begriff
des „Reichsarchivs" knüpften, weist der Entschluß, die im laufenden Geschäfts¬
gang entbehrlich gewordenen Akten der Behörden des neuen Reiches in tech¬
nischer Vollkommenheit zu sammeln und zu bearbeiten, hinaus in eine frohe
Zukunft. Er kündet die feste Zuversicht, daß das 1870 geschaffene, mit Blut
und Eisen gekittete Werk von dauerndem Bestände ist und sein soll, daß wir
künftigen Geschlechtern die Bearbeitung unserer Geschichte stolz und selbstbewußt
überlassen dürfen.
eit Beginn des neuen Jahrhunderts kommt von Zeit zu Zeit
spärliche Kunde von der westlichsten der britischen Inseln, berichtend
von einer literarisch-nationalen Bewegung, die sich mit dem stolzen
Namen der irischen Renaissance nennt. Die galische Liga ist der
treibende Faktor dieser Bewegung. Und wiewohl es sich ein paar
praktisch veranlagte Männer angelegen sein lassen, vor allem an der Verbesserung
der wirtschaftlichen Lage zu arbeiten, nämlich das Landvolk über die Nutzlosig¬
keit primitiver Betriebe in Ackerbau und Viehzucht aufzuklären, ruht doch die
Führung in den Händen einiger Literaten, die sich alles Heil von der geistigen
Erziehung des irischen Volkes versprechen. In bezug auf die Wege, mittels
derer dies zu erreichen wäre, bestehen eigentümliche Meinungsverschiedenheiten.
Dublin ein neues Florenz, das alle Künste als Krone trägt — dies ungefähr
ist das Ziel. Den einen scheint es erreichbar nur dann, wenn die Volkssprache
in ihr altes Recht tritt, wogegen sich der Einwand erhebt, daß das galische
Idiom bereits auf einer sehr primitiven Entwicklungsstufe von der englischen
Sprache verdrängt wurde und daß ihm somit lange Jahrhunderte hindurch die
feine Ziselierarbeit der Dichter und Denker gefehlt hat, durch die eine Sprache
erst für den Ausdruck künstlerischer Werte abgestimmt wird. Dem überzeugungs¬
treuen Katholiken ist die römische Religion in Irland untrennbar vom nationalen
Gedanken, während die Gegner dieser Ansicht eben im römischen Dogma die
Ursache des tiefen Niedergangs sehen. In der sehr sympathischen Persönlichkeit
George Russells. der die Weltliteratur mit einigen wunderbar stimmungsvollen
Gedichtsammlungen, gezeichnet L., bereichert hat, gesellt sich der Schar der
Führer gar ein Vorkämpfer der altkeltischen Naturreligion, der sich von der Er¬
schließung des Mysteriums der alten Druidenlehren weltbeglückende Resultate
verspricht. Zwischen diesen heterogenen Strömungen gibt es allerlei Übergänge.
Mancher der jüngeren verharrt unschlüssig an den Kreuzwegen. Aber es ist
außerordentlich charakteristisch sür die Art dieses Geisteslebens, daß das politische
Element nur flüchtig hineinspielt; die Abkehr von den Wirklichkeiten der irdischen
Erscheinungswelt war von alters ein Kennzeichen der keltischen Mythologie
und Dichtung.
Einstweilen bestehen diese heterogenen Richtungen noch ziemlich friedlich
nebeneinander; um des genieinsamen Ziels willen läßt ein jeder des andern
Sonderüberzeugung über Mittel und Wege gelten und konzentriert sich darauf,
innerhalb des eigenen engen Kreises so intensiv wie möglich zu wirken. Ein
übersichtliches Vergleichen zwischen Ziel und Wegen aber ist nicht die Sache
dieses wunderlichen Völkchens. Das bringt nur ein von außen Hereinkommender
fertig, einer, den vorübergehend die Harfenklänge der irischen Volkstradition
War bezaubern konnten, der dann aber doch wieder den ihm Freund gewordenen
und ihm dennoch wesensfremden Künstlern den Rücken kehrte und eigene Wege
ging. Als George Moore sich der Bewegung anschloß mit der Parole, sein
ganzes künftiges Schaffen der Mischen Sache zu weihen, durste man mit Recht
auf das Resultat gespannt sein. Er ist geborener Ire und mehr als einer
unter seinen Vorfahren hat dem unglücklichen Vaterlande das eigene Wohl auf¬
geopfert. Aber der Enkel war der Heimat doch fremd geworden. Lange Kte-
rarische Lehrjahre in Paris, etliche erfolgreiche Romane (Esther Waters. Evelyn
Jnnes). in denen sich keine Spur von keltischen Elementen findet - das alles
'muß bergehohe Scheidewände zwischen den Enkel irischer Pawoten und sein
Stammland gelegt haben. Und dann kam es doch plötzlich über ihn - em
Heimweh - eine Regung des Blutes? Er beschreibt es als eine Stimme, die
er deutlich hörte: „Geh nach Irland!" An anderen Stellen tauchen Erklärungen
°uf. die den ungewöhnlichen Entschluß vielleicht begreiflicher machen Den
Ästheten Moore lockte die junge, urwüchsige Sprache, die aus ,hr zur Entfaltung
strebende neue Kunst. Der Zug der Kunst geht unaufhaltsam westwärts phrlo-
sophiert er; alle Länder der alten Welt hat sie besucht und es es meh rhre
Art. sich zum zweitenmal zu Gaste zu bitten. Warum oll e sie nun meh da
grüne Erin heimsuchen und ihm eine neue Blütezeit bererten? W^und Sagen der Künstlerliga an seine Ohren klang, tönte so herrschend neu.
wie nie gehörte Harmonien. Allerlei Kindheitserinnerungen spielten eine weich¬
lockende Begleitung; er erzählt, wie er sich als Knabe einst in die Wildnis ge¬
wagt und angelnd am Eingang einer Felshöhle den Elfenkönig gesehen habe.
Und das Kind habe ihn gefragt, wie weit es von Kingstown ins Elfenreich
wäre. Darauf habe jener geantwortet, daß sich allmonatlich aus dem Meere
eine große Welle höbe, von der müsse man sich mitnehmen lassen und dann der
nächsten warten und ein Stück weiter wiederum der nächsten, bis zur neunten.
Diese aber trüge den erdenmüden Wanderer ins Elfenland. — So erzählt der
Mann, der seinen Dichtungen stets den Reiz persönlicher Bekenntnisse zu geben
weiß, mit schlicht überzeugender Innigkeit, und der Leser, dem die Geschichte der
Mischen Literatur nicht fremd ist, spürt in solchen und ähnlichen Stellen intensiv
die Stimme des keltischen Bluts und fühlt, daß sie für ein sensitives Dichtcr-
gemüt recht wohl die Form hörbarer Rede annehmen konnte.,
Wenn jedoch die ererbten Impulse ein Teil des Menschen sind, so bildet
sich der andere durch Erziehung und Umgebung. Der George Moore, der mit
den Mystikern Jeats und Russell rasch Freundschaft schließt und die alte Schul¬
kameradschaft mit dem rechtgläubigen Katholiken Edward Martyn herzlich er¬
neuert, kann sein altes Selbst nicht verleugnen. Der Künstler in ihm gibt sich
der neuen Gedankenwelt gefangen, der Philosoph steht beobachtend daneben,
selten würdigend und anerkennend, oft unzufrieden kritisch und im Laufe der
Zeit mehr und mehr ernüchtert. Das erste in jener Zeit entstandene Buch, die
8kort 8tot^-Sammlung „l'Ke untilleä t^iolä" offenbart sehr deutlich die Ent¬
täuschung, die am großen Werke Schaffenden gar so oft in Träumen hin¬
dämmern und darüber die im Augenblick notwendige Tat verpassen zu sehen.
Dunkler Nebel der Mutlosigkeit liegt über dem kleinen Buch, das dennoch
in bezug auf künstlerisch plastische Gestaltung sehr hoch bewertetwerden muß, besonders
im Vergleich zu den landläufigen Erscheinungen der schönen Literatur in England.
Der drei Jahre später erschienene Roman „T'Ke I^sKe" urteilt schon milder,
bereitet aber gleichzeitig das philosophische Fazit vor, das Moore aus seinen
Erfahrungen in Irland einerseits für die Sache der Mischen Renaissance,
anderseits für sich selbst zieht. Klar ausgesprochen wird es am Schluß der
zusammengehörenden Bände „etait ana I^aröwsII": „v^ve" und „Salve" (diese,
wie die andern hier genannten Werke Moores, sind in der Tauchnitz-Ausgabe
zugänglich), die in der Form reizvoll hingeplauderter Erinnerungen eine Dar¬
stellung der Bewegung geben und durch manche Offenherzigkeit von einigen der
ernsthaften Enthusiasten vielleicht nicht ganz angenehm empfunden werden können.
Solcher Empfindlichkeit zu begegnen, ist ein kurzes Vorwort vorangestellt worden,
das darauf hinweist, der Dichter habe sein Material auf die nämliche Art ver¬
arbeitet, wie er es im Roman tun würde. Ein Vorbehalt ähnlich demjenigen,
wie ihn Goethe seinem „Dichtung und Wahrheit" beigegeben hat, nur daß der
feinfühlige Leser hier sehr viel klarer zu scheiden imstande sein wird. Denn
die geschilderte Periode liegt ja der Gegenwart um soviel näher, und der
Schreibende ist ein Mensch, dem das rückhaltlose Bekennen alles in der Stille
und im Austausch mit andern Persönlichkeiten Durchlebten ein angeborenes Be¬
dürfnis ist. Es ist ein Ringen nach Wahrheit, eingeschlossen in eine sehr per¬
sönliche Form, und wer zur Ergänzung die Individualität dieser Führenden
ans ihren Werken kennen gelernt hat, wird Moores Charakterstudien durch ein
Temperament gesehen mit Freude begrüßen.
War doch jene Zeit, als Moore sich der Bewegung anschloß, eine der
interessantesten in der Geschichte der jüngsten englischen Literatur. Denn man
darf dieses Spezialgebiet, das aus nationalen Motiven heraus sich dem Sämmel-
begriff englische Literatur oft feindselig gegenüberstellt, ihm dennoch eingliedern,
weil die englische Sprache einer großen Mehrheit seiner Dichter als Medium
dient. Viele haben von Anfang an betont, daß die irische Volkssprache tot
und nicht wieder zum Leben zu erwecken sei, andere, und unter ihnen Moore,
haben eine solche Erweckung zwar ersehnt, sind indessen in ihren Hoffnungen
enttäuscht worden und selbst die für die galische Sprache unentwegt Begeisterten
haben mit der Schwierigkeit der mannigfaltigen Dialektteilung zu kämpfen. Und
wenn nun auch die unermüdlich tätige Sammlerin follloristischer Denkmäler.
Lady Gregory. sogar etliche fremde Dichtungen, darunter Moliöres „Nöäocin
malZrö lui" und den „Leapin". sowie Sudermanns „Teja" in das heimat¬
liche Idiom übersetzt hat. so dürfte die Spaltung in Jahrzehnten nicht zu über¬
brücken sein.
Ein anderes Element, das die eng national sein wollende galische Dichter-
gruppe der Weltliteratur einordnet, ist die eigentümliche Verbindung dieser
heimatwüchsigen Dichtung Mit einer Seelenanalyse, die dem Maeterlinckfreunde
sogleich vertraut sein wird, weil sie der Weltanschauung dieses Dichters und
Denkers innig verwandt erscheint. Die feinen Unterschiede, die Umbildungen,
die das urwüchsig nationale Element in den Händen eines Yeats erfahrt, treten
am klarsten hervor, sobald man mit dem Werk eines wurzelechten Iren, etwa
dem des Präsidenten-der galischen Liga. Douglas Hyde. in Berührung kommt.
Hier umweht uns der herbe Wind der fremden Geistesregion, die in den Zerren
der bereits mehrfach genannten irischen Mystiker nur ein reizvolles Lüftchen ent¬
sendet. Jedenfalls spiegeln sich alle diese Schattierungen wensiv^in einem groß n
Unternehmen, dem irischen Nationaltheat-r. bei dessen Gründung Moore zu¬
gegen war und das unter verschiedenen Namen seine Lebensfähigkeit b^r^jüngste Zeit und in den letzten Jahren sogar durch sehr erfolgreiche
reisen erwiesen hat. Yeats' Anschauung, daß das Thea -r em '.^in die Höhe und Weite wachsenden Nationalbewußtseins" sei. hat sich hiermit
^^
GeorgeMooreplaudert nun aus. wie es zu Be^amU^was den beteiligte., blutiger Ernst war. erscheint nun dem Le^ristischer Beleuch?ung ganz so. wie es der Man^^der die Regieversuche eines Häufleins glühend begeisterter, aber rührend uuer-
fahrener Dichter begutachten sollte. Moores Scharfblick war es zu danken, daß
unzulängliche Darsteller rechtzeitig durch andere ersetzt wurden, solche, die sich
durch Ueats gutgemeinte Bemühungen, die Vortragsweise der alten Rhapsoden
wieder zu beleben, nicht beirren ließen. Trotzdem geschah es, daß die Premiere
des seither unzählige Male mit Erfolg aufgeführten Ueatsschen Stückes „Lountesg
Latnleen" durchfiel, weil der Dichter hinter dem Rücken des regieführendcn
Freundes in Gglway einen Trupp Landfrauen angeworben hatte, die mit der
schrillen Echtheit ihres Volksgesangs, des navire, die ganz auf verhaltene Töne
gestimmte Poesie des Dramas störten. Der sehr bald nachher aufgeführte Ein¬
akter „Latnleen ni ttoulinan" von Ueats mußte nun freilich unmittelbar zu
den Herzen eines irischen Auditoriums sprechen. Das Stück ist ein Symbol
eingeschlossen in eine einfach und großzügig entwickelte Handlung. Latnleen
ni ttoullnar>! ist bekanntlich einer der poetischen Namen, mit denen irische
Patrioten ihr Land bezeichneten — in jener Zeit, wo ihnen von Englands
Unduldsamkeit politische Verfolgung aus den geringfügigsten Ursachen drohte.
So besang man die Heimat unter der Maske einer geliebten Frau, und etwas
von dieser von innigstem Fühlen durchtränkten Poesie ist dem Iren auch heute
noch eigen. „Irland ist kein geographischer Begriff, sondern eine Persönlichkeit",
sagt Moore einmal. Bei Ueats nun erscheint Lattileen ni ttoulitmn als ge¬
beugte Greisin, um Hilfe flehend gegen die Fremden, die raubend in ihrem
Hause weilen. Solche Hilfe zu suchen wandert sie rastlos und kann doch als
Lohn nur Tränen und schmählichen Tod verheißen. Aber seit mehr als hundert
Jahren folgen ihr dennoch die besten Männer von Irland und auch der junge
Hochzeiter im Stück verläßt um ihretwillen Braut und Heim und geht der
Davoneilenden nach. Die alten Eltern fragen ihren jüngsten, eben eintretenden
Knaben, wo sie blieb: „Trafst du eine alte Frau auf dem Wege?" „Nein,"
antwortet er; „aber ich sah ein junges Weib und es schritt daher gleich einer
Königin!"
Diesem patriotischen Appell ist der Humor gefolgt, meist in kleinen Ein¬
aktern, die rasch gelernt und rasch verstanden wurden. Es entstand dann auch
in einer merkwürdigen Zusammenarbeit von Moore und Ueats die dramatisierte
Heldenlegende „Diarmuid und Grania", bei der Ueats das Verlangen stellte,
Moore solle den Text französisch schreiben, wonach er ins Englische und dann
ins Irische übersetzt werden sollte. Man merkt aus der gesteigerten Ironie der
Erzählung, daß Moore hier wohl bereits die UnHaltbarkeit der Verbindung
einsah.
Der zweite Band „Salve" bereitet dann auch die Trennung der Wege
vor. Mehr und mehr festigte sich in Moore die Überzeugung, daß Irland allein
seinem orthodoxen Katholizismus den Niedergang zu danken habe. Den schärfsten
Ausdruck fand diese Meinung in einem damals viel erörterten offenen Briefe
an die „IriZNlimes": „Wann wird mein unglückliches Land die Augen von
Rom wenden — der Ursache all seines Leides? Seit Jahrhunderten hat Rom
Jrla"d verraten. Im fünften Jahrhundert verfluchte ein rönnscher Erzbischof
Tara. Im elften lud ein römischer Bischof Heinrich den Zweiten ein, Irland
zu besetzen. Im achtzehnten Jahrhundert erklärten sich irische Bischöfe bereit,
ihr Gehalt von England anzunehmen. Im neunzehnten Jahrhundert, als Irland
siegreich auf der Schwelle der Freiheit stand, stürzte eine Phalanx von Priestern,
Schulter an Schulter, Parnell. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
ließen Maynooth und der römischkatholische Erzbischof die Parlamentspartei im
Stich — der eine in der Hoffnung, eine katholische Universität durchzusetzen,
der andere um einen Kardinalshut. Diese Verräterei darf uns nicht überraschen.
In jedem Lande ist Rom antinational gewesen. Rom fragt nach keinem Vater¬
land, nicht einmal in Italien. Sein Ziel sucht nach einer weiterspannenden
Gemeinschaft als die Nationalität es ist. und je und je hat ihm ein englischer
Herzog mehr gegolten, als die ganze Provinz Connaught."
Die Bitterkeit dieses Hasses hat sich bei Moore kaum gemildert, aber das
Buch ,.8alve" legt die psychologischen Übergänge klar. Es zeigt den Dichter
im Widerstreit mit seinem an der Kirche festhaltenden Bruder und mit seinen
ebenso gesinnten Freunden, die Moores offenen Bruch mit der katholischen
Religion sehr schmerzlich empfunden haben. Es ist begreiflich, daß dieser Zwie¬
spalt die Trennung Moores von Irland beschleunigt hat. Eine warme, dank¬
bare Würdigung der künstlerischen Werte, die der Dichter im Verkehr mit den
Mischen Freunden empfing, geht Hand in Hand mit der Verurteilung des
Katholizismus, den er den kulturfeindlichen Mächten einordnet. Anderseits verbot
ihm sein stark entwickelter Wirklichkeitssinn, sich der ebenfalls antikatholischen,
zur Mystik neigenden Strömung anzuschließen. ^ lZ. ist ihm der innig ver¬
ehrte Freund, der ihn „fühlen läßt, daß das Jenseits nicht finster, sondern voll
weichen Dämmerlichtes ist und daß eine unsichtbare Hand einen Schicksalsfaden
durch das einförmige Gewirk des Lebens webt"; für seine Visionen aber hat
der Skeptiker nur ein Lächeln.
Eigentümlich fesselnd entrollt sich so in ungewöhnlicher Beleuchtung das
ungewöhnliche Bild der Mischen Renaissance. Und vielleicht spricht die Tat¬
sache, daß diese Bewegung ein so wesensfremdes Element wie Moore in ehre
Kreise zu ziehen vermochte, am deutlichsten für die in ihr ruhende Kraft
eine Kraft, die in ferner Zukunft ihre belebenden Ströme wohl auch nach außen
und vielleicht gar ins feindliche Lager der englischen Literatur entsenden kann.
in starker und andauernder wirtschaftlicher Aufschwung, namentlich
wenn er internationaler Art ist, wird schließlich immer zu einer
Verteuerung des Geldes und zu einer Überanspannung führen.
Daher ist jede Periode einer industriellen Hochkonjunktur mit
einer gewissen Pressung des Geldmarktes unweigerlich verbunden.
Diese letztere kann aber eine sehr verschiedene Gestaltung annehmen: es kann
entweder ein langsamer Ausgleich eintreten, indem die Verteuerung des Leih¬
geldes ein allmähliches Einschränken der industriellen Ansprüche erzwingt und
ein langsameres Laufen der Maschine herbeiführt, oder es kann bei dem Zu¬
sammentreffen ungünstiger Umstände, vor allem bei vorhandener Überspekulation
dieser Ausgleich sich auch in gewaltsamen Formen vollziehen und in einer wirt¬
schaftlichen Katastrophe endigen. An der gegenwärtigen Situation auf dem
Geldmarkt ist nun das eigentümlich, daß die vorhandenen Geldschwierigkeiten
nicht sowohl die Folge der industriellen Entwicklung als die Folge äußerer
Umstände, nämlich der schwierigen politischen Lage sind, unter der wir seit
Jahr und Tag zu leiden haben. Die Zuspitzung der politischen Verhältnisse
hat Deutschland von den ausländischen Geldern entblößt, welche im Betrage
von vielen Hunderten von Millionen früher unser Wirtschaftsleben befruchteten
und mit denen zu rechnen wir uns nur allzusehr gewöhnt hatten. Die Kriegs¬
furcht des vergangenen Herbstes hat sodann wieder Hunderte von Millionen
baren Geldes in die Truhen und Kisten gebannt, aus welchen Verstecken sie
heute noch nicht wieder den Weg zum Markte zurückgefunden haben. Man hat
es für übertrieben gehalten, als seinerzeit die Summe des thesaurierten Hart¬
geldes auf mindestens 400 Millionen Mark geschätzt wurde. In der Zwischen¬
zeit haben aber die Reichsbankausweise des letzten Quartals den ziffermäßigen
Beweis dafür erbracht, daß in dieser Zeit dem Institut fast der zehnfache
Betrag von Zahlungsmitteln entzogen worden ist als sonst in regulären Zeiten.
Und der bekannt gewordene Erlaß der Reichsregierung an die einzelnen Bundes¬
staaten, in welchem die Hilfe der letzteren zur Aufklärung der Bevölkerung und
zur strafrechtlichen Verfolgung der Personen erbeten wird, die unter Ausnutzung
der Panik Reichsbanknoten und Papiergeld mit einem Disagio gegen bares
Geld aufkaufen, spricht zur Genüge für den Grad der eingetretenen Beun¬
ruhigung. Wenn somit die Summen, welche der Volkswirtschaft infolge der
politischen Verhältnisse entzogen worden sind, auf mehr als eine Milliarde Mark
Zu schätzen sind, so bedeutet das einen Kraftverlust, der auch in ruhigen Zeiten
nur schwer überwunden werden kann. Doppelt empfindlich aber muß eine
solche Blutentziehung werden, wenn die allgemeine Wirtschaftslage nicht ein
ruhiges Erholen und Sammeln gestattet, sondern die äußerste Anspannung der
Kräfte fordert. Das aber ist gerade die merkwürdige Erscheinung der jüngsten
Zeit gewesen. Trotz alles Kriegslärms und aller Panik hat sich der wirtschaft¬
liche Aufschwung, da er die Folge einer Weltkonjunktur ist. nicht zurückdämmen
lassen. Es ist das eine geradezu erstaunliche Tatsache. Wäre der politische
Himmel ganz wolkenlos, lebte ganz Europa ini tiefsten, unzerstörbaren Völker¬
frieden, stände uns Geld in Hülle und Fülle zu Gebote: unsere Bergwerke
hätten nicht mehr Kohlen fördern, unsere Hütten nicht fieberhafter arbeiten
können, als sie es in dieser politisch so unruhigen und gefährlichen Zeit getan
haben. Jeder Monat bringt neue Rekordziffern. Die Beteiligungsquoten
im Kohlensyndikat, die man ehedem als unerreichbare Größen auch in
günstigsten Zeiten betrachtet hatte, sind längst überschritten; fast 11 Prozent
beträgt der Mehrabsatz des Syndikats im Monat Januar! Da ist es
denn erklärlich, wenn unter dem Zusammenwirken dieser Umstände, einer
Hochkonjunktur von nie erlebter Stärke, und einer geschwächten monetären
Position, die Lage des Geldmarktes eine Verfassung gewonnen hat. die zu
den schwersten Bedenken Anlaß gibt und den Anschein erweckt, als treibe alles
einer Krisis entgegen. Der Privatdiskont seit Wochen auf 6 Prozent. Ultimo¬
geld 8^ Prozent am Ende März; Geld für Hypotheken auch zu druckends en
Bedingungen nicht aufzutreiben, die Schatzscheinemission Preußens em ellatanter
Mißerfolg, die Reichsbank nur mit Mühe imstande, den sechsprozenttgen ^Zins-
fuß festzuhalten: das sind Erscheinungen, welche der nächsten Zukunft em
schlimmes Prognostikon stellen.
Mitten in diese Zeit schwerster Geldsorgen fiel nun die Ankündigung
der großen deutschen Wehrvorlage und der Milliardensteuer. Es ist be-
Miflich. daß schon die bloße Ankündigung eine tiefgehende Wirkung ausübt
und daß man sich allenthalben die Frage vorlegte, ob eine solche finanzpolitische
Maßregel in der gegenwärtigen Zeit ohne die schwerste Erschütterung des Wirt¬
schaftslebens überhaupt durchführbar sei. Es ist in den letzten Wochen hierher
gar vielerlei geschrieben und debattiert worden. Nachdem anfänglich der Ge¬
danke, die bedeutenden einmaligen Kosten der Heeresverstärkung durch eme all¬
gemeine Besitzsteu-r aufzubringen, eine sympathische Aufnahme gefunden hatte,
sind allmählich auch absprechende Kritiken laut geworden, d.e freilich meist insofern
der festen Grundlage entbehrten, als ja der Plan der Neichsregierung nur in
großen Umrissen bekannt war und sehr wichtige und entscheidende Einzelheiten
sich der öffentlichen Kenntnis entzogen.
Nunmehr sind die Pläne der Regierung veröffentlicht; Kritik und Gegen--
kritik haben jetzt mit Recht das Wort. Es war politisch klug von der Regierung
gehandelt, schnelle Arbeit zu machen und durch schleunige Veröffentlichung der
Vorlagen dem haltlosen Debattieren und Nörgeln, welches die ursprüngliche
Freude des Entschlusses zu verkümmern drohte, den Boden zu entziehen. Es
ist ein ungeheures Stück Arbeit, welches in diesen weitausgreifenden Vorlagen
in unglaublich kurzer Zeit geleistet worden ist. Und man darf im voraus
zusammenfassend sagen: ein Stück vorzügliche Arbeit. Wenn sonst die
Steuervorlagen des Reichs zu berechtigten Bedenken und zu begründeter Kritik
Anlaß gegeben haben, so wird dies angesichts dieser Vorlagen nur in ver¬
schwindenden Maße der Fall sein können. Vor allem aber vermag man nun¬
mehr die voraussichtliche Rückwirkung dieser bedeutungsvollen Steueraktion auf
die allgemeine Wirtschaftslage mit einiger Sicherheit abzuschätzen und die da¬
gegen erhobenen Bedenken auf ihr richtiges Maß zurückzuführen. Um es kurz
zu rekapitulieren, so sollen die einmaligen Ausgaben durch einen Wehrbeilrag
von '/z Prozent vom Vermögen, der nur die kleinen unter 10 000 Mark freiläßt
und auch die Aktiengesellschaften trifft, gedeckt werden. Dabei ist für eine
Heranziehung der großen Einkommen über 50 000 Mark, falls die Inhaber
keine entsprechende Vermögenssteuer zu zahlen haben, Sorge getragen. Die
laufenden Ausgaben werden, abgesehen von einer Hinausschiebung der Er¬
mäßigung des Grundstücksstempels und der Zuckersteuer durch Anlage aus die
Bundesstaaten aufgebracht, die ihrerseits diese Beträge im Wege der Besteuerung
von Einkommen, Ertrag oder Vermögen decken müssen, ferner durch Übergang
der Besteuerung der Gesellschaftsverträge und Versicherungen auf das Reich und
endlich durch ein Erbrecht des Reiches, für das in den Grenzboten der un¬
ermüdliche Justizrat Bamberger gemeinsam mit dem Herausgeber schon seit
Jahren eingetreten ist*). Es ist also der Gedanke, den Hauptteil der Kosten
durch eine einmalige Abgabe vom Vermögen zu bestreiten, festgehalten worden
und man hat bei Deckung der laufenden Ausgaben darauf Bedacht genommen,
daß die Hauptlast wiederum dem fundierten Besitz in Form von Einkommen-,
Vermögens-, Vermögenszuwachssteuer zufällt und hat sich davor gehütet, neue
Abgaben zu ersinnen, die Handel und Verkehr mit neuen und schwer übersehbaren
Lasten bedenken. Es ist hier nicht der Ort, die Einzelheiten der Steuervorlagen
nach ihrer finanzpolitischen Bedeutung zu würdigen. Vermutlich wird sich ja
an die Ausbildung des Systems der Matrikularbeiträge (der unseres Erachtens
in dieser Form der reichsgesetzlich vorgeschriebenen Deckung keine Bedenken ent¬
gegenstehen) manche Erörterung anknüpfen. Dagegen ist es am Platz, einen
^nel auf die Tragweite der Vorlagen für das gesamte Wirtschaftsleben zu werfen.
Man hat den „mittelalterlichen" Gedanken der einmaligen Vermögens¬
abgabe heftig angegriffen und die „moderne" Form der Anleihedeckung als die
einzig richtige bezeichnet, von der man sich auch durch die augenblickliche „Borg¬
scheu" und die Angst vor dem Kursrückgang der Neichsanleihe nicht sollte ab¬
halten lassen. Bei dieser Argumentation tritt die deutsche Vorliebe des
Theoretisierens wieder recht augenfällig zutage. Geht doch ein angesehener
Nationalökonom soweit, es für Torheit zu erklären, wenn man die „gerechtere
und zweckmäßigere" Anleihedeckung aus Angst vor einem Kurssturz vermeiden
wolle; nicht etwa weil er einen solchen Kurssturz nicht befürchtet, sondern weil
er meint, ein Kurssturz werde sich auch bei Steuerdeckung nicht vermeiden lassen.
Man glaubt also im Kreise gewisser Theoretiker ernstlich, das Reich könne
in der heutigen Zeit eine Anleihe von über eine Milliarde Mark an den
Markt bringen! Und dies, wo einige Wochen zuvor 200 Millionen Schatz-
anweisungen (also nicht Rente) sich als unanbringlich erwiesen haben, weil für
kurzfristige Kapitalanlagen auch allererster Qualität kein Geld vorhanden ist.
Man glaubt an die Möglichkeit einer Anleiheemission, obwohl alle Kultur¬
staaten nur auf den Augenblick einer Erleichterung des Geldmarkts warten, um
Milliardenbeträge von ihm zu heischen I Im Ernst wird man solche An¬
schauungen nicht verteidigen können. Geht man davon aus, daß diese be¬
deutenden Aufwendungen Deutschlands notwendig und zwar augenblicklich not¬
wendig sind, so bleibt schlechterdings gar kein anderes Mittel übrig, als das,
die erforderliche Summe im Besteuerungswege aufzubringen. Und diese Auf-
bringung durch eine einmalige Abgabe vom Vermögen hat unleugbar etwas
Großzügiges und Bestechendes. Veranlagungsschwierigkeiten im einzelnen mögen
sich ergeben; sie sind aber dadurch gemindert, daß die Veranlagung selbst den
Einzelstaaten überlassen ist. . ,
,^„
Wichtig für unsere Betrachtung ist natürlich die Frage, ob d.e Aufbringung
der Milliarde, sei es im Steuer- sei es im Anleihewege, geeignet ist das wir -
schaftliche Gleichgewicht zu stören und einen nachteiligen Einfluß auf das wirt¬
schaftliche Leben auszuüben. Die Debatte hierüber ist freilich insofern müßig.
als, wenn die politische Notwendigkeit der Aufbringung be-ahd wird, man
etwaige Störungen des Wirtschaftslebens mit in den ^Kauf nehmen mußte
und nur darauf bedacht sein könnte, sie durch entsprechende Maßnahmen zu
mildern. Indessen ist diese Befürchtung ganz unbegründet. Es sind die eigen¬
tümlichsten Ansichten über die mutmaßliche Wirkung ^ser Mit^tag- getreten. Hauptsächlich wird damit argumentiert, daß durch diese Steuer
dem Land Kapital zu unproduktiven Zwecke entzogen und investiert werde,
daß die „Kaufkraft" des Publikums um den Betrag dieser Steuer, also um
eine Milliarde geschwächt werde und daß also eine verderbliche Rückwirkung
dieser „Kapitalentziehung" und Schwächung der Kaufkraft unausbleiblich sei.
Ein Professor der Staatswissenschaften hat sogar in apodiktischer Form das
Axiom aufgestellt, daß jede produktive Ausgabe dahin tendiere, den Zinsfuß
zu erniedrigen, den Konsolskurs zu steigern; daß aber jede unproduktive (also
vornehmlich solche zu Militärzwecken) dahin tendiere, den Zinsfuß zu steigern
und den Kurs zu erniedrigen. Von dieser Auffassung aus wird der Steuer¬
vorlage eine gleich verderbliche Wirkung auf den Geldmarkt und den Konsolskurs
vorausgesagt.
. Bei alledem handelt es sich um handgreifliche Trugschlüsse. Zunächst ist
jenes Axiom des national-ökonomischen Professors grundfalsch und findet in den
Tatsachen absolut keine Stütze. Nur eine Wechselwirkung zwischen Zinsfuß und
Anleihekurs ist tatsächlich vorhanden, derart, daß bei teueren Geldstand die
Anleihekurse sinken und umgekehrt. Wo aber bleibt der Beweis dafür, daß
produktive Anlagen den Zinsfuß erniedrigen? Jede Hochkonjunktur widerlegt
diesen apodiktischen Satz auf das schlagendste. Denn jede Hochkonjunktur sührt,
wie oben gesagt, schließlich zu einer Geldteuerung, weil die produktiven An¬
lagen, die Erweiterungsbauten und Neugründungen der Industrie, den vor¬
handenen Kapitalvorrat übersteigen und weil die dringende Nachfrage nach
Kapital den Wert desselben und damit den Zinsfuß erhöht. Für den letzteren
ist eben allein das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entscheidend,
nicht der Verwendungszweck des Kapitals.
Nicht minder schief ist die Ausfassung, als werde durch die Steuer Kapital
investiert oder die Kaufkraft geschwächt. Um den letzten Einwand vorwegzu¬
nehmen, so ist doch offenbar, daß der angeblich verminderten Kaufkraft der
Steuerzahler die vermehrte Kaufkraft des Reichs gegenübersteht. Die Milliarde,
welche das Reich den Steuerzahlern entzieht, dient unmittelbar dem Zwecke,
als Kaufsumme für die verschiedenartigsten Zwecke, von der Anschaffung von
Armeematerial bis zur Beschaffung von Arbeitskraft in Form von Gehältern,
auf dem Markte zu erscheinen. Es handelt sich also für die Volkswirtschaft nicht
um eine Schwächung, sondern um eine Potenzierung der Kaufkraft dieser Summe.
Und ebenso unrichtig ist die Auffassung, als werde dieses Kapital dem Verkehr
oder der produktiven Anlage entzogen, um unproduktiv investiert zu werden.
Man muß, um diese Frage richtig zu beurteilen, den Blick auf die Gesamtheit
der Erscheinungen heften. Da steht es denn volkswirtschaftlich so. daß diese
Steuer, mag sie sich auch eine Vermögenssteuer nennen und nach dem Vermögen
erhoben werden, praktisch doch von dem Volkseinkommen gezahlt wird.
schätzungsweise beträgt unser jährlicher Kapitalszuwachs etwa vier Milliarden
Mark. Das ist die Summe, welche zur produktiven Anlage und Thesaurierung
jährlich verfügbar ist. Die Wirkung der Milliardensteuer wird also praktisch
die sein, daß im laufenden Jahr die Übersparung sich um ein Viertel ver¬
mindert. Dieses Viertel wird nun aber nicht im Kasten eingesperrt und der
Volkswirtschaft entzogen, sondern es dient in der Hand des Staates dazu.
Handel und Gewerbe zu unterstützen. Es findet also in der Tat produktive
Verwendung und zwar auch in gesteigerter Form, weil die Zuführung so großer
Summen dem gewerblichen Leben einen gesteigerten Ansporn verleihen wird.
Auf der anderen Seite wäre es freilich ebenso verkehrt, jede Rückwirkung
einer so großen Abgabe auf den Geldmarkt zu leugnen. Es liegt ungefähr das
gleiche Verhältnis vor wie bei einem starken Quartalstermin. Es wird dem
Markt behufs Flüssigmachung der Summen für eine kurze Zeit Geld entzogen,
welches ihm alsbald nachher wieder zuströmt. Handelte es sich darum, den
Milliardenbetrag auf einmal und auf einen bestimmten Termin aufzubringen,
so könnte man wohl angesichts der augenblicklichen Lage des Geldmarktes
Befürchtungen hegen. Allein das ist schon durch den Veranlagungs- und Er¬
hebungsmodus ausgeschlossen. Es bleibt geraume Zeit, sich auf die Aufbringung
dieser Summen einzurichten. Und diese Raten sind, verglichen mit den Bedürf.
Nissen, welche unser Geldmarkt sonst auch in normalen Zeiten zu befriedigen hat,
durchaus nicht so ungeheuerlich. Wird für ein außerordentliches Bedürfnis,
etwa eine große ausländische Anleihe, vorgesorgt, so vollzieht sich die Geld-
beschaffung meist ohne alle Schwierigkeiten. Der Zinsfuß steigt deshalb noch
nicht um Bruchteile eines Prozents. Mit der Aufbringung dieser Steuerbetrage
wird es nicht anders sein.
Wir dürfen also behaupten, daß die Befürchtungen, welche man im Hin-
blick auf diese außerordentliche Steuer zu erwecken und zu nähren versucht hat.
in das Reich der Fabel gehören. Wir dürfen die Gewißheit haben, daß eine
allgemeine Störung des Wirtschaftslebens von der Aufbringung dieser Steuer
nicht
Ein preußisches Ansiedlungsamt? Dem
Plane der Errichtung einer besonderen staat¬
lichen AnsiedlungSbehörde steht die Regierung
einstweilen noch ablehnend gegenüber. „Einem
solchen Projekt," so führte der Ministerpräsident
in» vorigen Jahre aus, „würde entgegenstehen,
daß wir damit den Grundbesitz noch mehr
mobilisieren würden, als er es leider schon
ist, daß wir die Güterpreise weiter in un¬
gesunder Weise steigern würden, und daß es
uns wahrscheinlich sehr schwer werden würde,
auf diesem Wege leistungsfähige Neusiedlung
zu schaffen. Und darauf kommt es doch an,
daß die Neusiedler unter wirtschaftlich ge¬
sunden Bedingungen, daß sie nicht zu teuer
wirtschaften." Es sind keine Anzeichen dafür
vorhanden, daß die Regierung gegenwärtig
anders darüber dächte.
Den hiermit zum Ausdruck gebrachten Be¬
denken wird man sich kaum verschließen können.
Dennoch dürfte es angebracht erscheinen, darauf
hinzuweisen, daß von hervorragenden Sach¬
kennern sowohl im Preußischen Parlament wie
in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur
immer wieder die Notwendigkeit einer behörd¬
lichen Zentralisierung der neudeutschen Binnen¬
siedlungspolitik betont worden ist.
Bei der Beratung des Besitzbefestigungsge¬
setzes im Hause der Abgeordneten (74. Sitzung
vom 17. Mai 1912, Seite 6174) wies der
Abgeordnete Viereck darauf hin, daß, während
auf dem Platten Lande die Aufgaben der Ost-
markenpolitik sowohl durch Ansiedlung wie
durch Besitzbefestigung sich nach einem gro߬
zügigen Plane vollzögen, für die Städte ein
einheitlicher Plan anscheinend fehle. Beteiligt
seien an der Ostmarkenpolitik in den Städten
der Minister des Innern im allgemeinen und
namentlich in bezug auf die kulturelle Hebung,
an der auch der Kultusminister Anteil hat,
ferner der Landwirtschaftsminister durch die
Unterstützung der Pfandbriefanstalt und die
Förderung der Arbeiteransiedlung, sowie der
Eisenbahnminister durch Verbesserung des
Verkehrs und Seßhaftmachung von Arbeitern.
Es sollten auch beteiligt sein der Handels-
mimster, indem er Handel und Gewerbe in
den Ostmarken einer besonderen Prüfung und
Förderung unterzöge und auch Wohl der
Kriegsminister, indem er prüfte, wo man den
Städten durch Garnisonen aufhelfen könnte
und müßte. „Wenn man eine einheitliche
Durchführung der Pläne der Regierung be¬
absichtigt, so vermisse ich, daß dafür keine
einheitliche Instanz vorhanden ist, welche
prüft, wie die Tätigkeit in den einzelnen
Zweigen zusammenwirkt und wie die eine die
andere beeinflußt oder gar zurückdrängt! ich
vermisse auch die gemeinschaftliche Anleitung
für die Gesichtspunkte, nach denen die Ost¬
markenpolitik im ganzen zu führen ist. Ich
möchte Wohl wünschen, daß hierfür eine
Zentralinstanz geschaffen würde, die Wohl in
den Händen des Herrn Ministerpräsidenten
liegen müßte."
In Anlehnung an diese Gedankengänge
bemerkte Freiherr von Zedlitz und Neukirch
in der darauffolgenden Sitzung (Haus der
Abgeordneten, 75. Sitzung vom 18. Mai 1912,
Seite 6240): „Ich glaube, es verdient ernste
Erwägung, ob man nicht die Ansiedlungs-
kommissionen als Zentralstelle für die gesamte
innere Kolonisation unserer östlichen Landes¬
teile einsetzt. Diese Funktion würde sie auf
das ausgezeichnetste ausführen können, sie
würde ihre Erfahrung und ihr Personal in
den Dienst der großen Kultnraufgaben
stellen..."
Im Herrenhause nahm bei dem gleichen
Beratungsgegenstande der Herzog zu Trachen-
berg Fürst von Hatzfeld in seiner vielbeachteten
Rede, in der er unter anderem auf den groß-
Zügigen, aber leider vereitelten Miquelschen
Kolonisationsplan hinwies, auch zu dieser
Frage das Wort: „Ich will dahingestellt sein
lassen, ob es angezeigt ist, etwa eine neue
Ansiedlungskommission für unsere östlichen
Provinzen einzurichten oder die Befugnisse
der Posener Kommission auf die Nachbar-
Provinzen auszudehnen. Freilich wird eine
solche kolonisatorische Tätigkeit nicht vollständig
von den lokalen Instanzen losgelöst werden
dürfen, namentlich nicht losgelöst werden
dürfen von der Mitarbeit der preußischen
Oberpräsidenten."
Der ehemalige Frankfurter General¬
kommissionspräsident, jetzige Präsident des
Oberlandeskulturgerichts, Wirklicher Geheimer
Oberregierungsrat Dr. Metz, gelangt am
Schlüsse seines Rückblickes auf die Tätigkeit
der Generalkommissionen bis Ende 1910 im
„Archiv für innere 'Kolonisation" Band IV,
Heft 2, Seite 51 ff. gleichfalls zur Erörterung
der Frage, ob es nicht an der Zeit sei, an
eine unifassende Neuorganisation des Koloni¬
sationswesens zu denken, bei der die Besied¬
lung der Moore an erster Stelle zu berück¬
sichtigen wäre. Er führt dazu aus: „Hält
man provinzielle Behörden für entbehrlich,
dann wird man doch, zahlreichen Anregungen
aus beteiligten Kreisen folgend, eine Stelle
schaffen müssen, die das gesamte Kolonisations¬
wesen zu beaufsichtigen und zu leiten hätte.
Sie hätte selbstverständlich in Verwaltungs-
sachen von dem Staatsministerium oder von
den drei besonders beteiligten Ministern der
Landwirtschaft, des Innern und der Finanzen
allgemeine dienstliche Anweisungen zu emp¬
fangen, in, übrigen aber müßte sie mit einer
weitgehenden Selbständigkeit ausgerüstet sein.
Sie wäre zusammenzusetzen aus Beamten,
Meliorationstechnikern, Landwirten und Moor¬
sachverständigen, die die verschiedenen Arten
der inneren kolonisatorischen Tätigkeit aus
Erfahrung kennen. Eine solche Behörde
könnte u. a. bewährte Einrichtungen in einer
Provinz daraufhin Prüfen, ob sie auch auf
andere Gegenden zu übertragen wären. Sie
hätte rechtzeitig vorbeugend einzuschreiten,
wenn z. B. Gesellschaften ohne genügende
finanzielle Sicherheit begründet würden,
und den zuständigen Ministerien alle Be¬
denken vorzutragen und zu begutachten,
die ihr entgegentreten. Sie hätte auch die
zwischen den Beteiligten vorkommenden
Streitigkeiten zu entscheiden. Sie könnte
dafür sorgen, daß richtig kolonisiert würde,
daß z.B. die neuen Gemeinden gehörig mit
Land ausgestattet würden, daß nicht in ein¬
zelnen Gegenden zu viel Großbetrieb zer¬
schlagen würde, in anderen zu wenig,
daß die Moore sobald wie möglich be¬
siedelt würden. Ihr wäre auch die Aus¬
führung eines etwa kommenden Parzellie¬
rungsgesetzes zu übertragen usw. Der vom
Hauptausschuß des Mecklenburgischen Patrio¬
tischen Vereins und vom Präsidium des land¬
wirtschaftlichen Vereins gebildete Ausschuß für
Ansiedlungswesen spricht sich über die Be¬
hördenorganisation in Mecklenburg wie folgt
aus: „Unser Land bedarf eines einheitlichen
Ansiedlungsamtes zur planmäßigen Leitung
der inneren Kolonisation unter gebührender
Berücksichtigung der Landarbeiterfrage. Be¬
darf es dessen für Mecklenburg, so ist es für
Preußen uni so nötiger, als hier eine Zer¬
splitterung besteht, die auf die Dauer befrie¬
digende Ergebnisse nicht zu zeitigen vermag^"
In einer Abhandlung über die Arbeiter-
ansiedlung in Preußen in der eben genannten
Zeitschrift Band III Seite 303 bemerkt Ober-
landeskulturgerichtsrat Pagenkopf: „Wenig
förderlich für die Entwicklung (der Arbeiter-
ansiedlung) ist auch der Umstand, daß die
Frage der Organisation der staatlichen Be¬
siedlungsbehörde eingeleitet, aber nicht durch¬
geführt ist. Eine Staatsbehörde, die die
Leitung des ganzen Besiedlungswesens hat,
über den Besiedlungsgesellschaften steht und
selbsttätig mit der erforderlichen Sachkunde
vorgehen kann, ist nötig für eine großzügige
Besiedlung. Der jetzige Schwebezustand mit
seinen Unklarheiten muß naturgemäß lähmend
wirken."
Ziehen wir aus dem hier Vorgetragenen
das Fazit, so stehen wir der Tatsache gegen¬
über, daß maßgebende Persönlichkeiten, darunter
erfahrene Praktiker der inneren Kolonisation,
für eine einheitliche Aufsicht und Leitung des
gesamten Siedlungswerkes eintreten. Wer
mit der inneren Kolonisation näher vertraut
ist, wird ja keineswegs verkennen, daß jene
ideale Forderung der Errichtung eines Zentral¬
amts für die innere Kolonisation eine Zweck¬
mäßigkeitsfrage einschließt, die vom praktischen
Gesichtspunkt entscheidend bestimmt wird.
Trotzdem wäre es nicht nur ungerecht, sondern
auch kurzsichtig, die ganze Frage schlechthin
und für immer als undiskutabel abzutun.
Hätte man es in den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts nicht für eine Utopie
bezeichnet, von einem dereinstigen selbständigen
Reichskolonialamt 'mit einem Staatssekretär
an der Spitze zu sprechen? Wer aber wollte
behaupten, daß das gewaltige Werk der inneren
Kolonisation und derOdlandbesiedlung weniger
umfangreich und verantwortungsvoll in seiner
Durchführung und weniger bedeutsam und
einschneidend in seinen Wirkungen auf unser
gesäumtes Wirtschaftsleben sich darstellt als
die äußere Kolonisaiion?
Den Kerngedanken, der sich aus den oben
wiedergegebenen Zitaten sachverständiger Aus¬
lassungen im Parlament und Fachliteratur
heraustost, könnten wir in die klare Forde¬
rung fassen: die spezifische Ostmarkenpolitik
muß einmünden in eine das gesamte Wirt¬
schaftsleben, insbesondere der Abwanderungs¬
provinzen umfassende innere Kolonisations¬
politik.
größten Kolonisators, den Preußen erlebt,
unzählige Male in Wort und Schrift auf die
vorbildliche Siedlungsarbeit Friedrichs des
Großen hingewiesen worden. Das charakte¬
ristische der friderizianischon Kolonisations-
Politik kommt darin zum Ausdruck, daß die
damalige Ansiedlungstätigkeit als in sich ge¬
schlossener Verwaltungszweig betrachtet und
behandelt wurde.
Wenn die Schaffung einer besonderen
Zentralinstanz gegenwärtig als inopportun
erscheint, so drängt dennoch der unbedingt
berechtigte Kern der Forderung einer Ver¬
einheitlichung nach Verwirklichung: es ist un¬
erläßlich, daß das Werk der inneren Kolonisa¬
tion in allen seinen Ausstrahlungen von einem
Geist erfüllt und von einem klaren Willen
der Siaatsregierung gelenkt wird, der sich
auf alle in Betracht kommenden Faktoren der
verschiedenen Ressorts auswirkt.
Ein so hochgestecktes Ziel, wie es die
innere Kolonisation vor sich steht, erheischt
die Arbeit von Generationen und bedarf eines
weitsichtigen Planes. Nur dann vermögen
wir das Ziel, die rationelle Verteilung und
Besiedelung des deutschen Volksbodens mit
vollem Erfolge zu erreichen, wenn einmal die
weitesten Kreise des Volkes von der national¬
wirtschaftlichen Bedeutung der Binnensiedlung
durchdrungen sind und auf der anderen Seite
die Behörden, nicht nur die unmittelbar mit
der Durchführung der Besiedelung betrauten
Generalkommissionen, sondern auch alle anderen
Behörden, namentlich die der Staats- und
Selbstverwaltung sich berufen fühlen, bei der
inneren Kolonisation tatkräftig mitzuwirken.
Es ist in diesem Jubiläumsjahre des
cum man heute über Balkanfragen spricht, muß man sich zunächst
immer gegenwärtig halten, daß man sich mit Dingen beschäftigt,
bei denen jeder neue Tag eine neue Überraschung bringen kann.
Von vornherein hat man sich also zu sagen, daß es ganz un¬
möglich ist, vorauszubestimmen, wie es kommen wird. Es ist
schon viel, wenn es gelingt, in dem Erkennen dessen, was kommen kann, nicht
allzuweit von der Wirklichkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit abzuirren. Diese
Erwägung könnte vielleicht als Mittel erscheinen, um von diesen Fragen über¬
haupt abzuschrecken, anderseits aber berühren die Ereignisse auf dem Balkan
so wichtige Interessen, die uns alle angehen, daß der Politiker sich der Not¬
wendigkeit, sie zu erörtern, nicht entziehen kann. Es kann aber in diesem Falle
nicht seines Amtes sein, den Vorhang vor der Zukunft vorwitzig lüften zu
wollen; er soll vielmehr versuchen, das Bild der jeweiligen Gegenwart dem
allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Damit sollen auch die Grenzen der
hier gestellten Aufgabe bezeichnet sein.
Als der Krieg auf der Balkanhalbinsel ausbrach, gingen die Bemühungen
der Großmächte zunächst dahin, den Status quo zu erhalten. Man hat dieses
Bemühen verspottet und es als einen Beweis für die Kurzsichtigkeit der
Zünftigen Diplomatie angesehen, die einmal wieder nicht erkannt habe, was
jedem Schulknaben in Europa auf den ersten Blick klar gewesen sei. Dieser
Spott war vom Laien- und Biertischstandpunkt zwar begreiflich, in Wahrheit
aber sehr unberechtigt; es wird dabei vergessen, daß es, wollte man sehr schwer¬
wiegende Folgen verhüten, vor allem nötig war, das Gemeinsame in den poli¬
tischen Absichten der Großmächte möglichst schnell auf eine bestimmte Formel
zu bringen, um einen Ausgangspunkt für ein einiges Vorgehen zu gewinnen.
Diese Formel konnte nur in dem Bekenntnis aller Mächte zu dem bestehenden,
völkerrechtlich anerkannten Rechtszustand gefunden werden. Als sich dann die
Unmöglichkeit der Erhaltung des 8tatu8 quo herausgestellt hatte, waren die
diplomatischen Grundlagen der weiteren Einigkeit der Mächte bereits so befestigt,
daß die Zustimmung aller Mächte zu dem Grundsatz „Der Balkan den Balkan¬
völkern" erlangt werden konnte. Indem sich die Großmächte diesen Grundsatz
zu eigen machten — was eben nicht möglich gewesen wäre, ohne die vor¬
herige Einigung unter der Fahne des Ltatug c>ne» —, trugen sie einerseits
den wirklichen Geschehnissen Rechnung, anderseits wahrten sie sich ihre Mit¬
wirkung an dem weiteren Gang der Ereignisse. In diesem Zusammenhange
taucht aber auch sogleich der Gedanke auf. einen neuen Staat auf der Balkan-
Halbinsel zu errichten, ein unabhängiges Albanien.
Der Vorschlag hatte insofern etwas Überraschendes, als es bisher nur
verhältnismäßig wenigen, in derartige Bestrebungen besonders eingeweihten
Leuten zum Bewußtsein gekommen war, daß die Albanesen solche Wünsche
hegten. Gewiß, jeder Gebildete hatte wohl etwas von diesem Lande und seinen
Bewohnern gehört, aber die Vorstellungen, zu denen sich diese meist spärlich
empfangenen Eindrücke aus Schulerinnerungen, Zeitungen und Büchern ver¬
dichteten, gingen wohl nur bei wenigen darüber hinaus, daß man es bei diesen
Albanesen eigentlich mit einer recht wilden und ungemütlichen Gesellschaft zu
tun habe und daß ihnen irgendwo allein zu begegnen im allgemeinen nicht
ratsam sei. Die meisten Menschen sehen sich also der albanischen Frage gegen¬
über in der Lage, daß sie gewissermaßen in der Registratur ihrer politischen
und geographischen Vorstellungen eigens ein neues Fach anlegen müssen. Wer
hätte noch vor kurzem daran gedacht, daß dieses Durcheinander von bluts¬
verwandten Stämmen, das nacheinander das on5ant Zat6 Abdul Hamids und
das erkant terrible der jungen Türkei gewesen war, plötzlich ein politisches
Gemeinwesen in der Reihe der selbständigen europäischen Staaten werden solle?
Was war nun die Veranlassung, daß sich die Mächte in dieser anscheinend
so unerwartet großmütiger Weise eines Volksstammes annahmen, der bisher
doch nur so bescheidene Beweise seiner Fähigkeit zu einer politischen Rolle ge¬
geben hat? Man erklärt sich das am einfachsten aus dem Wege, daß
nach dem Verzicht auf den Ztatu8 quo das ganze Interesse der
Mächte darauf gerichtet sein mußte, die Orientfrage endlich einmal
vollständig zu lösen.
Das Grundübel, das diese Angelegenheit niemals zur Ruhe kommen ließ,
war die Schwäche der Türkei. Man hatte aus dieser Tatsache nur deshalb
nicht das Nötige zu folgern gewagt, weil mehrere Großmächte an dem Fort¬
bestande der Türkei ein lebhaftes Interesse hatten und durch weitere Los¬
reißung von Gebietsteilen diesen Fortbestand gefährdet glaubten. Seit dem
letzten Russisch-türkischen Kriege hatten jedoch schärfere Beobachter allmählich
die Überzeugung gewonnen, daß von einem unaufhaltsamen Verfall der Türkei,
der nur durch künstliches Stützen ihres abbröckelnden Besitzstandes mühsam hin¬
gehalten werden könne, gar keine Rede sei. Freilich gehören die Türken nicht
zu den Völkern, die ihre geschichtliche Aufgabe als Träger und Verbreiter einer
höheren Kultur zu lösen haben. Aber sie sind ein tüchtiges, gesundes Volk,
das durch eine ganze Reihe von trefflichen Charaktereigenschaften wohl noch
imstande ist, auf geeignetem Boden eine dankbare und ehrenvolle politische
Stellung auszufüllen. Ich habe in dieser Zeitschrift einmal in anderem Zu¬
sammenhange darauf hingewiesen, daß die Türkei erst dann „der kranke Mann"
in Europa wurde, als es der Erobererrolle, die es so lange in ausgesprochenem
Gegensatz zu dem christlichen Europa und im Namen der Religion Mohammeds
festzustellen versucht hatte, endgültig entsagte. Diese Entsagung, die in der
Reform Mahmuds des Zweiten ihren sichtbaren Ausdruck fand, war allerdings
nicht freiwillig; zu einer solchen Rolle reichte eben die Kraft nicht mehr hin.
Aber diese religiöse Mission der osmanischen Eroberer — wenn man es kurz
so nennen darf — war doch schon eine Überschreitung der natürlichen Kraft¬
grenzen, die das türkische Volk wohl vorübergehend, aber nicht auf die Dauer
mißachten konnte. Das Erlahmen der durch religiöse Begeisterung entfachten
und durch den Rausch der Macht getragenen Erobererkraft schließt die innere
Sammlung und das Wiedererstarken nationaler Kraft nicht aus. Das weniger
auf den Islam als auf nationales Bewußtsein und nationale Eigentümlich¬
keiten gestützte Osmanentum verlor nun freilich seine Überlegenheit gegenüber
den inzwischen gleichfalls national erstarkten christlichen Balkanvölkern. Aber
genau in demselben Maße wurde die Türkei innerlich kräftiger. Als sie noch
über Bulgaren, Serben und Rumänen herrschte, war das Reich „der kranke
Mann". Das ist anders geworden, seit dieses unnatürliche Verhältnis gelöst
worden ist. Noch schleppt das osmanische Reich manches Wesensfremde mit
sich herum. Formen, in die es noch nicht hineingewachsen ist. Aber die völlige
Gesundung wird erleichtert, wenn es in den Bereich zurückkehrt, in den die
Natur es gewiesen hat, wenn es sich, ohne fremde Mißgunst fürchten zu müssen,
den seinen Kräften entsprechenden Aufgaben da widmen kann, wo seine Volksart
geschlossen lebt und den ihr zusagenden Lebensbedingungen begegnet.
Das ist die Einsicht, die der Balkankrieg gebracht hat. Die europäische
Türkei im alten Sinne ist fortan unmöglich und nicht mehr lebensfähig. Aber
in Kleinasien und Vorderasien wird das Osmanentum wohl imstande sein, seine
alte Kraft wiederzufinden und ein gesundes Volk einer zweckmäßigen, nicht mit
Unmöglichkeiten beschwerten Staatsordnung und einer eigenen Kultur zuzuführen.
Wenn dieser neuen Türkei der Besitz von Konstantinopel und eines zur Ver-
teidigung der Hauptstadt notwendigen Teiles von Rumelien erhalten bleibt, so
ändert diese aus bekannten politischen Rücksichten gegebene Lösung nichts daran,
daß die Türkei ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt künstig in Asien findet und
von allen den Sorgen befreit wird, die bisher wohl eigentlich die Ursache ihrer
Schwäche gewesen sind. Es ist natürlich, daß diese Lösung in der Türkei selbst
vorläufig mit Bitterkeit aufgenommen und als ein Zeichen des Übelwollens
der Mächte gedeutet wird. Denn sie verletzt zunächst die Empfindungen, die
von dem nationalen Ehrgefühl unzertrennlich sind. Aber das ist unvermeidlich
nach den Niederlagen, die die Türkei nun einmal erlitten hat. Jenes nahe¬
liegende Empfinden kann selbst für die befreundeten Mächte nicht maßgebend
sein. Sie haben nichts anderes zu tun, als eine Lösung schaffen zu helfen, in
der sich deren eigene Interessen mit denen der Türkei begegnen.
Steht es nun aber fest, daß die Herrschaft der Türkei in Europa westlich
von einer vor Konstantinopel gezogenen Linie nicht mehr haltbar ist, so ist es
um so mehr eine Pflicht der Großmächte, die eine endgültige Regelung der
Balkanfrage herbeiführen wollen, nicht Ursachen neuer Reibungen fortbestehen
zu lassen. Und solche Reibungen würden sicherlich nicht ausbleiben, wenn es
den slawischen Balkanstaaten in Gemeinschaft mit Griechenland gestattet würde,
das bisherige türkische Gebiet restlos auszuteilen. Nicht etwa als ob den Süd¬
slawen und Griechen dieser Besitz nicht zu gönnen wäre; denn das landesübliche
Gerede von dem ungeheuren slawischen Wall, der im Südosten als Fortsetzung
der russischen Macht aufgerichtet werde, braucht man als ruhiger Beurteiler
dieser Verhältnisse nicht nachzusprechen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß in
dieser neuen Ordnung der Dinge wieder ein Element der Unruhe vorhanden
sein würde, das in seinen Nachwirkungen ähnliche Verhältnisse herbeiführen
würde, wie sie Europa nun lange genug bis zum Überdruß ertragen hat.
Und das soll eben durch ein unabhängiges Albanien verhütet werden.
Um die verschiedenen Ansichten über die Bewohner Albaniens und die
Gründe für ihre geplante staatliche Unabhängigkeit deutlich zu machen, wird es
notwendig sein, auch auf die Geschichte Albaniens einzugehen. Hierbei
wird es allerdings nicht darauf ankommen, alle gelehrten Meinungen über die
Herkunft der Albanesen wiederzugeben und zu würdigen; es genügt, festzustellen,
daß sie Nachkommen von Stämmen sind, die schon in uralter Zeit im Lande
saßen und sich durch ihre dem indogermanischen Sprachstamm zugehörende
Sprache ebenso von den Griechen wie von den späteren Einwanderern unter¬
schieden. Demgegenüber kommt es wenig darauf an. ob alle Stämme des
albanischen Volks sich zu allen Zeiten vollständige Rassereinheit bewahrt haben.
Soweit fremde Elemente hinzugekommen sind, haben sie sich der albanischen
Art vollkommen angepaßt, so daß die Albanesen zweifellos als eine von Griechen
und Slawen bestimmt zu. unterscheidende Nationalität anzusehen sind. Der
zweite, auch für die Gegenwart wichtige Umstand ist, daß die Vorfahren der
heutigen Albanesen in dem Lande, das sie jetzt bewohnen, schon zu der Zeit
saßen, als die Einwanderung der Slawen begann. Und diese mächtige Slawen-
sind, die sich über die Balkanhalbinsel ergoß und dort die ganzen Bevölkerungs-
Verhältnisse von Grund aus veränderte, — die sogar dem lebenszähen Hellenentum
beinahe den Garaus gemacht hätte und ihm zum wenigsten eine ganz neue
Blutmischung gab, die dem alten ugrisch - türkischen Volk der Bulgaren einen
neuen nationalen Stempel aufdrückte und es für alle Zeiten in die Reihen der
slawischen Völker hinüberführte, — diese Flut fremder Einwanderer hat nur
einer Volksart nichts anzuhaben vermocht: — den Albanesen. Dabei fand
keineswegs eine künstliche Absperrung statt, war durchaus nicht über einen
Mangel an freundnachbarlicher Gesinnung zu klagen. Aber der albanische Stolz
war so mächtig und so unbesiegbar, daß in den angeborenen Instinkten dieses
Volkes eine feste Schranke aufgerichtet war, die kein Zerfließen der nationalen
Art vor fremden Einflüssen gestattete.
Um so merkwürdiger ist es, daß diese so fest und sicher ausgeprägte
nationale Art eigentlich niemals bis jetzt dahin gelangt ist, in sich selbst das
Bedürfnis nach einem eigenen Staat zu fühlen. Ein Russe, der gegen Ende
des vergangenen Jahres in den Nachrichten des Petersburger Auswärtigen
Amts einen sehr beachtenswerten und für die russischen Auffassungen lehrreichen
Aufsatz über Albanien veröffentlicht hat, nennt das albanische Volk „eine Masse,
der jede nationale und politische Idee fremd ist und deren Zusammenleben in
Stämmen und Familien einen Gegensatz zum Staatsgefühl darstellt". Nur
darf man sich freilich nicht vorstellen, daß das ganz allein auf natürlicher
Charakteranlage beruht,- es hat auch seine nachweisbaren äußeren
Gründe. Die Nationalität der Albanesen ist nicht minder stark und häufig
bedroht gewesen als die der anderen Balkanvölker, aber sie hatten zwei Vorteile
vor den anderen voraus. Erstens besaßen sie in ihren Sitten und sozialen
Einrichtungen eine solche Bedürfnislosigkeit und Ursprünglichkeit, daß die an sie
herantretende fremde Kultur keine Lockungen für sie besaß. Zweitens war es
die Unzugänglichkeit ausgedehnter Teile ihrer Heimat, die diesen abgehärteten,
fast kulturlosen Stämmen immer wieder eine Zuflucht bot, wohin die Fremd¬
herrschaft nicht dringen konnte und wollte. In unserer Zeit, die die starren
Eisregionen der Polargegenden durchforscht, die in das Herz der Wüsten ein¬
dringt und sich im Innern fremder Erdteile durch keine Fieberdünste und keine
Schrecken der Wildnis zurückhalten läßt, berührt es sonderbar, wenn man hört,
daß es in Europa, unserem Europa ein Land gibt, das noch kein Kartograph
vermessen, kein Forscher erschlossen hat. Dieses Land ist Albanien! Aus den
sicheren Einöden dieser großartigen, noch unberührten Gebirgsnatur konnten
diese schlichten, bedürfnislosen Menschen immer wieder in ungebändigter, un¬
gebrochener Freiheit hervortreten, um aller Verfolgungen machthungriger Eroberer,
aller Verlockungen der Außenwelt, die ihnen das Palladium ihres Volkstums
hätte rauben können, zu spotten.
Nur einmal haben sie doch so etwas wie einen Staat gebildet. Das war
im vierzehnten Jahrhundert, als von zwei Seiten fremde Mächte erstanden, die
sie zu erdrücken drohten. Da haben sich die Stämme zusammengetan, Um ihre
Freiheit ebenso gegen das von Norden andringende serbische Reich wie gegen
die von Süden und Südosten mit unwiderstehlicher Kraft vorstoßenden Osmanen
zu verteidigen. Aber nur ein Menschenalter später erlag Serbien selbst in der
Schlacht auf dem Kossovo - Felde dem gewaltigen Sultan Murad, und nun
brauste der Türkensturm auch über Albanien hin. Indessen die alten Osmanen-
sultane, insbesondere die Nachfolger Murads des Ersten, der bekanntlich selbst
in jener Schlacht nach schon erfochtenen Siege getötet wurde, waren nicht nur
wilde Eroberer, sondern auch kluge Männer, die zu erkennen wußten, welchen
Vorteil ihnen die als Feinde so schwer zu fassenden und gefährlichen, als
Freunde so harmlosen und unbeholfenen Albanesen gewähren konnten. Die
Türken begnügten sich mit dem Erfolge der äußerlichen und scheinbaren Unter¬
werfung Albaniens und ließen die Stämme gewähren, in richtiger Abschätzung
des Charakters der Albanesen, die nun wieder in das von altersher gewohnte
Clanwesen auseinanderfielen. Dieser Zustand wurde gegen die Mitte des fünf¬
zehnten Jahrhunderts noch einmal unterbrochen, diesmal nicht durch die gemein¬
same Furcht der Stämme vor der Fremdherrschaft, fondern durch die Macht
der Persönlichkeit und den Ehrgeiz eines genialen Menschen, wie ihn ein natur¬
frisches, kraftvolles Volkstum gelegentlich hervorbringt, wenn außergewöhnliche
Begabung Gelegenheit findet, aus der gewohnten Umgebung herauszutreten
und sich mit den Mitteln einer höheren Kultur zu vervollkommnen. Dieser
Mann war Georg Kastriota, dem die Türken später den Namen „Skan-
derbeg" gaben, denselben, womit sie den größten Eroberer des Altertums,
Alexander den Großen, zu bezeichnen pflegen. Skanderbegs Ehrgeiz, seinem
geeinten Volke dauernd die Unabhängigkeit zu erringen, wurde nicht erfüllt;
mit seinem Tode zerfiel seine Schöpfung. Aber es blieb dem Nationalbewußt-
fein der Albanesen die Erinnerung an eine Episode heldenhafter Kämpfe ein¬
gepflanzt, die ihnen ganz und gar gehörte und ein Idealbild ihrer Volksart
schuf. Dieser Held, der, am Sultanshof in fremdem Glauben erzogen und von
allen Lockmitteln höfischen und kriegerischen Glanzes umgeben, aus der Kraft
eigener Überzeugung den Weg zum Glauben feiner Väter zurückfindet und nun
mit der Mischung von Verschlagenheit und Kühnheit, die allen urwüchsigen
Völkern so besonders gut gefällt, die Fahne des Freiheitskampfes entrollt,
mußte um so tiefere Spuren seines Daseins hinterlassen, als er in der ganzen
Geschichte Albaniens eine einzig dastehende Gestalt geblieben ist. An eine
dauernde Zusammenfassung ihrer Kräfte haben die Albanesen nicht wieder
gedacht.
Trotzdem ist die Skanderbegzeit in einzelnen besonderen Nachwirkungen
geschichtlich bedeutungsvoll geworden. Der Widerstand Skanderbegs gegen die
Türkenherrschaft wäre wohl nicht so beachtet worden, wenn er nicht gerade in
die Zeit gefallen wäre, als die Eroberung von Konstantinopel die ganze abend¬
ländische Welt tief erschütterte und ihr die drohende Türkengefahr zum Bewußt-
sein brachte. So wurde der Freiheitskampf Albaniens in die Berechnungen
der europäischen Politik hineingezogen. Allerdings nicht immer in einem Sinne,
der den Albanesen günstig und angenehm war. Die Republik Venedig machte
mit den Türken gemeinsame Sache, weil sie hoffte durch ihre Hilfe gegen
Skanderbeg ihren bedrohten Besitz an der adriatischen Ostküste erhalten und
sogar — auf Kosten Albaniens — vergrößern zu können. Dagegen erhielt
Skanderbeg den Beistand des Papstes, der sich damals in einem politischen
Gegensatz zu Venedig befand, und damit auch anderer italienischer Staaten.
Schon damals wurde wohl der Grund gelegt zu engeren Beziehungen mit
Italien und zu dem Vordringen des römisch-katholischen Bekenntnisses in Albanien.
Die auf. den ersten Blick sehr kompliziert erscheinenden religiösen Verhält¬
nisse Albaniens erhalten durch die Kenntnis dieser geschichtlichen Vorgänge eine
einfache Erklärung. Wie die gesamte Bevölkerung der Balkanhalbinsel waren
die Albanesen zunächst Bekenner der griechisch-orthodoxen Kirche. Bei der Be¬
völkerung Südalbaniens, den sogenannten Tosken, erhielt sich dieser Bekenntnis¬
stand, weil sie von anderen Nationalitäten fast nur Griechen unter sich sahen.
Im Norden dagegen fand unter der albanischen Bevölkerung, die mit dem
Namen der Gegen zusammengefaßt wird, wie erwähnt, der römische Katholizismus
Aufnahme. Nachdem dazu einmal der Grund gelegt worden war, vermehrte
sich die Zahl der Katholiken. In Skutari bildete sich im Laufe der Zeit eine
Art von geistigem Zentrum dieses Bruchteils der Bevölkerung, der in den
Städten des Nordens Handel zu treiben anfing und hierbei vielfach mit Ita¬
lienern in Verbindung trat, später anch im Norden Beziehungen mit Kroatien
anknüpfte.
Die Türken machten gegenüber diesen Verhältnissen nur den Grundsatz
des islamitischen Rechts geltend, daß Andersgläubige keinen Grundbesitz zum
Eigentum erwerben durften. Im übrigen ließen sie den Albanesen, wie schon
bemerkt wurde, möglichst ihre Freiheit, und das belohnte sich dadurch, daß die
in allen diesen Fragen nichts weniger als empfindsamen Albanesen den Schutz
der türkischen Regierung gegenüber den ihnen äußerst unsympathischen Serben
gar nicht so übel fanden und sich gern bereit finden ließen, von so bequemen
Herren das Recht auf Grundbesitz durch Übertritt zum Islam zu erwerben.
Das geschah besonders im Norden und Osten in den fruchtbaren Ebenen, die
von der serbischen Bevölkerung allmählich durch Auswanderung infolge des
türkischen Druckes geräumt wurden. Während also Süd- und Mittelalbanien
griechisch-orthodox blieb, ging im Westen Nordalbaniens die Hauptmasse des
Volks — namentlich in den Städten — zum Katholizismus über; gleichzeitig
drang vom Osten her der Islam vor und nahm einen starken Bruchteil des
Volks für sich in Anspruch. Der Islam breitete sich auch im Süden aus.
gleichfalls von der Ostgrenze aus nach Westen vorrückend.
Man hätte denken sollen, daß diese religiöse Spaltung auch eine politische
Spaltung unter den Albanesen herbeiführen mußte. Das war aber nicht der
Fall. Während auf der einen Seite das ausgeprägte Nationalbewußtsein alle
religiösen Interessen weit in den Hintergrund schob, blieb auf der andern
Seite das Interesse an einer politischen Einigung der Stämme so gering, daß
die Verschiedenheit der Bekenntnisse gar keine Gelegenheit fand, irgendeine
Wirkung auszuüben. Sie konnte Leute nicht trennen, die ohnehin ihren eigenen
Weg gingen. Ihre Hauptbedeutung erhielten die konfessionellen Verhältnisse
erst dadurch, daß die Habsburgische Monarchie seit 1642 auf Grund eines be¬
sonderen Vertrages das Protektorat über die albanischen Katholiken beanspruchte,
während Rußland sich als politische Vormacht zum Schutz der orthodoxen
Christen betrachtete. Aber beides blieb lange Zeit hindurch gänzlich ohne
politische Folgen, weil keine der albanesischen Glaubensgemeinschaften das Be¬
dürfnis eines Glaubensprotektorates empfand.
Hiernach wird man sich bereits vorstellen können, wie sich das Verhältnis
zwischen den Albanesen und der Hohen Pforte im Laufe der Jahrhunderte ge¬
staltete. Der Mangel jedes politisch gefärbten Freiheitsgefühls bei den Alba¬
nesen machte der Pforte den Verzicht auf fühlbare Eingriffe in die Selbst¬
bestimmung des Landes leicht und legte dafür den Gedanken nahe, die politisch
so leicht zu lenkende, in ihrem Wesen aber unaustilgbare Sonderart dieser
Volksstämme gegen die dem Osmanenreich viel gefährlicheren slawischen Natio¬
nalitäten auszuspielen. Dabei konnte es allerdings geschehen, daß in Zeiten
der Schwäche des osmanischen Thrones eine ehrgeizige und mächtige Persön¬
lichkeit die Herrschaft über das albanische Volk vorübergehend der Pforte aus
der Hand nahm, ohne daß sich dieses Volk bei seiner politischen Indolenz dagegen
gewehrt hätte. Das hat seinerzeit der berühmte Ali Pascha von Janina
vermocht, dessen von wilder Romantik erfülltes Leben gewissermaßen das Vor¬
spiel des griechischen Freiheitskampfes bildete. Ali Pascha war selbst ein
mohammedanischer Toske (Südalbaner), aber man würde vollständig fehlgehen,
wenn man seine Herrschaft etwa als den ersten Versuch eines albanischen
Nationalstaats ansahe.
Niemand aber hat es besser verstanden, die Albanesen an die Interessen
des osmanischen Reiches zu fesseln, als Sultan Abdul Hamid der Zweite,
der den Wert des zähen albanischen Sondergeistes in seiner völlig isolierten
Stellung zwischen Griechen und Slawen ebenso richtig erkannte wie ihre poli¬
tische Harmlosigkeit. Der absoluten Ehrlichkeit und Eidestreue dieser schlicht
denkenden und fühlenden Menschen gewiß, gewann es der mißtrauischste aller
modernen Despoten über sich, den Schutz seiner Person in erster Linie einer
Albanesengarde anzuvertrauen, und kein Volksstamm, kein Gebietsteil des weiten
Reiches hat sich so außerordentlicher Gunst- und Vertrauensbeweise erfreut wie
Albanien. Gerade daß dieses Verhältnis ein rein persönliches war, machte
seine Stärke aus. Es beruhte auf einem vollständigen Mißverständnis, wenn
man in Europa glaubte, die Albanesen seien fanatische Mohammedaner und
Freunde des Alttttrkentums. Das waren sie nicht. Sie waren dem Mann
ergeben, der nach der Lage der Dinge, über deren Ursprung nachzuforschen
ihnen im Grunde sehr gleichgültig war, die Macht und den Willen hatte, ihnen
das zu gewähren, worauf sie Wert legten: ein ungestörtes Leben nach der
Väter Weise und die drei einzigen Rechte, in denen sich ihnen alles verkörperte,
was sie an politischen Forderungen auf dem Herzen hatten: Militärfreiheit,
Steuerfreiheit und das Recht des Waffentragens.
Und gerade daran rührte mit täppischer Hand das Jungtürkentum. das
den alten Herrn, der die Treue seiner Albanesen so zu schätzen gewußt hatte,
beseitigt hatte. Das alles paßte nicht in das Schema des modernen Staates,
in den die Türkei, es koste was es wolle, über Nacht umgewandelt werden
sollte. Nun rotten sich die aufgeregten Albanesen zusammen und rüsten sich
zum Aufstande. Es hat wirklich etwas Rührendes, zu sehen, wie diese Natur-«
linder sich doch immer wieder beruhigen und nach Hause schicken lassen, wenn
einer der hohen Herren aus Konstantinopel herbeieile und mit Versprechungen
hinsichtlich ihrer bescheidenen Forderungen ihnen gut zuredet. Aber das war
doch bei alledem nicht mehr zu verbergen: die Albanesen waren in dem Körper
der modernen Türkei ein kaum noch einzufügender Fremdkörper geworden. Denn
soviel Unfertiges und Unmögliches, soviel Asiatentum diese neue Türkei auch
noch in sich barg, so waren doch die Grundformen des Staatswesens so ver¬
ändert, daß mit einem so sonderbar veranlagten und entwickelten Volkstum wie
dem albanischen darin buchstäblich nichts anzufangen war. Daß nach dem
militärischen Zusammenbruch der Türkei Albanien nicht mehr ein Bestandteil
des Osmanenreichs bleiben konnte, lag für alle, die das künftige Schicksal der
Balkanhalbinsel zu überlegen hatten, klar zu Tage. Wie aber standen die
Albanesen nun zu den andern Balkanvülkern?
Die Zähigkeit, mit der die Albanesen der Hellenisierung und dann auch
der Slawisierung widerstanden haben, könnte vielleicht den Glauben erwecken,
daß sich hier ein starker nationaler Gegensatz entwickelt hat. Das ist in dieser
Allgemeinheit nicht richtig. Mit den Griechen haben sich die Albanesen immer
ganz gut vertragen und sind dabei doch Albanesen geblieben. Ja, man erinnere
sich einer kleinen Äußerlichkeit: die albanische Nationaltracht, die Fustanella, hat
ihren Siegeszug einstmals durch ganz Hellas bis zum Kap Matapan gehalten,
und noch heute stolziert die Elitetruppe des griechischen Heeres, die Evzonen.
in Athen in albanischer Tracht einher. Auch mit den Montenegrinern haben
die Albanesen keineswegs grundsätzlich unfreundlich gestanden. Die Bewohner
der Zeta — so hießen im Mittelalter die Schwarzen Berge — haben einst dem
tapferen Skanderbeg treulich beigestanden, und im allgemeinen find die Monte¬
negriner und Albanesen trotz gelegentlicher Fehden und Streitigkeiten gute Nach-
barn gewesen. Die Streitigkeiten beruhten nicht auf Nationalhaß, sondern auf
wirtschaftlicher Not. Die Bewohner des armen und rauhen Montenegro waren
ebenso wie die albanischen Malissoren gelegentlich auf Räubereien angewiesen.
Malissoren, d. h. Gebirgsleute, nennt man die Bewohner des unzugänglichen
und unwirtlichen Bergzuges, der sich durch Nordalbanien längs der monte¬
negrinischen Grenze hinzieht, im Gegensatz zu den kultivierteren Ansiedlern im
Kossovogebiet und den Bewohnern des südlichen, sanftere Formen zeigenden
Berglandes, den Miriditen. Eine weitere Erklärung der Fehden gibt das den
Montenegrinern und Albanesen gemeinsame Bestehen der Blutrache, einer Sitte,
die ja sehr barbarisch erscheint, über die wir uns aber insofern nicht allzu heftig
zu entrüsten brauchen, als sie gerade den edelsten und tüchtigsten Völkern auf
einem gewissen Kulturstandpunkt eigen zu sein pflegt. Davon haben auch unsere
eigenen Vorfahren keine Ausnahme gemacht und wir verdanken dieser Sitte das
herrlichste und großartigste Epos unserer Nationalliteratur, das Nibelungenlied,
dieses hohe Lied der Mannentreue und des aufopfernden Heldenmuth. Zwischen
Montenegrinern und Albanesen hat es also zeitweise Blutrache gegeben. Wurde
aber die Sache zu kompliziert und zu umfangreich, dann wurde ein Strich
darunter gemacht und nach einer entsprechenden Verhandlung ein „Blutfriede"
geschlossen. Dann lebten die Stämme wieder in herzlicher Eintracht; von
Nationalhaß ist keine Rede.
Etwas anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Albanesen und Serben.
Die Albanesen brachten den Serben aus Gründen, die ihren Ursprung wohl
noch in der Zeit der ersten serbischen Eroberungen haben, eine an Verachtung
grenzende Abneigung entgegen. Die Serben aber sahen in den Albanesen die
Werkzeuge der verhaßten türkischen Herrschaft, durch deren willige Hilfe sie aus
einem Teil der von ihnen einst besetzten und stets wieder beanspruchten Gebiete
— im Sandschak Novibazar und Altserbien — verdrängt worden waren. Allen
Anzeichen nach scheinen diese unfreundlichen Gefühle bei den Serben stärker zu
sein als bei den Albanesen, was sich aus dem beiderseitigen Nationalcharakter
leicht erklären läßt. Nun hat der jetzige Balkankrieg nicht nur diesen Haß bei
den Serben verschärft, sondern auch die Montenegriner in die gleiche Stimmung
hineingezogen. Denn die bloße Existenz der Albanesen stellt der Erfüllung
dringender Wünsche der kriegführenden Balkankönigreiche starke Hindernisse ent¬
gegen. Deshalb haben die Montenegriner gewaltsame Bekämpfungsversuche alba¬
nischer Katholiken zum orthodoxen Bekenntnis angestellt, während die Serben auf
ihrem Siegeszuge nach Süden die albanesische Bevölkerung, wo sie konnten, einfach
niedermetzelten. Wollte man jetzt Teile des Malissoren- und Miriditengebiets zu
Montenegro schlagen, die östlichen und nordöstlichen Albanesenstämme Serbien, die
Tosken Griechenland zuleiten, so würde, da die so geschaffenen Verhältnisse von den
Albanesen niemals gutwillig ertragen werden könnten, der Unfriede auf dem
Balkan verewigt werden, und zwar schlimmer, als es je zur Zeit der Türken¬
herrschaft geschehen ist. Dazu kommen die gewichtigen Gründe, die Österreich-
Ungarn und Italien veranlassen, Serbien infolge seiner politischen Haltung
keine politische Stellung an der Ostküste des Adriatischen Meeres zu gestatten.
Alle diese Gefahren, unter denen die europäischen Interessen allgemein leiden
würden, können nur vermieden werden, wenn das hauptsächlich von Albanesen
bewohnte Gebiet den Bestrebungen der Balkankönigreiche überhaupt entzogen,
also zu einem unabhängigen Staat gemacht wird.
Wie soll nun dieses Albanien, das zunächst noch keinen geschichtlichen Rechts¬
titel für sich auszuweisen hat, vielmehr vorerst nur ein geographischer oder viel¬
mehr ethnographischer Begriff ist, abgegrenzt werden? Der schwierigste Teil
dieser Frage ist der Absteckung der Nordgrenze, weil hier Montenegros einzige
Hoffnung auf einen Lohn für die übernommenen Kriegsopfer und Serbiens
Lieblingstraum von der Wiedergewinnung der alten Kernlande seiner mittel¬
alterlichen Größe zerstört werden muß. Beide Königreiche richten ihre Blicke
hoffnungsvoll nach Rußland, wo der Lärm der Panslawisten ihnen eine ähnliche
Lage vortäuscht wie 1877, als Alexander der Zweite, von dem gleichen Lärm
eingeschüchtert, für die Balkanslawen das Schwert zog. Aber die Lage ist doch
in Wahrheit eine andere, und Rußland hat Gründe genug, die gewiß nicht
aus Sentimentalität so fürsorglich hergestellte Einigkeit der Großmächte nicht zu
stören. So ist denn auch die Verständigung mit Österreich-Ungarn herbeigeführt
worden, das, ebenso wie Italien und vor allem auch England, ein bestimmtes
Interesse daran hat, daß der in Aussicht genommene neue Staat Albanien auch
lebensfähig wird. Dazu gehört aber, daß er in seinem nördlichen Teil, wo
der Kulturzustand der Malissoren ohnehin als erschwerendes Moment mitwirkt,
nicht die notwendigen Stützpunkte einer städtischen Kultur, eines auswärtigen
Handels und einer geordneten, entwicklungsfähigen Landwirtschaft verliert.
Darum bestand namentlich Österreich mit vollem Recht darauf, daß das neue
Albanien Skutari und Djakova erhalten sollte. Montenegro sollte durch Jpek,
Serbien durch andere eroberte Gebietsteile entschädigt werden. Dieser Lösung
aber wollte Rußland im Interesse der slawischen Königreiche nicht zustimmen,
bis man sich nach weiteren Verhandlungen einigte. Österreich erklärte sich damit
einverstanden, daß Djakova noch an Serbien fallen sollte, wofür Rußland zu¬
gestand, daß Skutari bei Albanien bleiben sollte. Die Bestimmung der Süd¬
grenze wird voraussichtlich nicht so viele Schwierigkeiten machen, wenn auch die
Abgrenzung Griechenland vielleicht einige Schmerzen und Enttäuschungen
verursachen wird. Da die Westgrenze Albaniens die adriatische Küste ist. so
bleibt dann nur noch die Ostgrenze zu bestimmen, wo es leichter sein wird, den
Wünschen Serbiens und Bulgariens entgegenzukommen. Schon jetzt steht fest,
daß die Einigkeit der Mächte durch die albanische Frage nicht gestört wird.
Früher bestand die Gefahr, daß Albanien zum Zankapfel zwischen Österreich-
Ungarn und Italien werden könnte. Diese Gefahr ist beseitigt, seit Italien
durch die Verstärkung seiner Stellung im Mittelmeer seit dem Tripoliskriege
die ängstliche Sorge um seine Stellung im Adriatischen Meer hat fallen lassen.
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So darf man wohl vertrauen, daß auch Montenegro seine schwere Enttäuschung
über den ihm aufgenötigten Verzicht auf Skutari überwinden wird.
Wird denn aber nun wirklich der neue Staat ein lebensfähiges Gebilde
sein? Das ist eine Frage, deren sichere Beantwortung erst die Zukunft bringen
wird. Wenn aber schon jetzt aus der bisherigen Geschichte und Art Albaniens
Schlüsse auf die Aussichtslosigkeit dieses Experiments gezogen werden, so läßt
sich dem mancherlei entgegenhalten. Auch dem bisherigen Albanien — richtiger
gesagt, den von Albanesen bewohnten Teilen der Wilajets Skutari, Janina,
Üsküb und Monastir — fehlte es nicht an kulturfähigen und der Kultur bereits
erschlossenen Gebieten. Aber diese Ansätze einer fortgeschrittenen Kultur kamen
nicht der albanischen Nation zugute, sondern schlössen sich an andere Jnteressen-
zentren an, die außerhalb des gemeinsamen Volkstums lagen, so daß auch Ver¬
bindungen mit anderen Kulturländern, z. B. mit Italien und den österreichisch¬
ungarischen Kronländern, wo sich zahlreiche Kolonien der intelligentesten und
entwicklungsfähigsten Köpfe Albaniens bildeten, für das Heimatland unwirksam
blieben. Wenn aber diese bereits vorhandenen geistig und wirtschaftlich reg¬
samen Elemente durch die Vereinigung aller Gebietsteile Albaniens ein Feld
finden, wo sie unmittelbar für ihre Heimat wirken und sich betätigen können,
so ist nicht einzusehen, warum sich nicht eine kluge und glückliche Regierung finden
soll, die mit dieser Hilfe und auf diesen Grundlagen und — man darf hinzufügen —
mit entsprechender Geduld, Ruhe und Zähigkeit die politische Erziehung ihres
Volkes in die Hand zu nehmen vermag. Das überstürzte Zurechtzimmern
eines allermodernsten Staatsgerüstes mit allerhand unberechtigten Voraus¬
setzungen und Erwartungen würde allerdings Rückschläge und peinliche Ein-
drücke bringen, aber das wäre kein Grund, den Versuch zu unterlassen, dieses
Volk, in dem noch soviel unentwickelte Tüchtigkeit, ein so vortrefflicher sitt¬
licher Kern schlummert, einer neuen, gesunden und stetigen Entwicklung zu¬
zuführen.
^v»! cum man den modernen „Gebildeten" über Herder befragt, so gerät
er in Verlegenheit. Er weiß aus seiner Schulzeit etwas vom
„Cid", von den Volksliedern, hat vielleicht etwas von den „Ideen"
gehört, aber lebendig ist ihm die Vorstellung dieses Mannes nicht.
^Die Schule ist daran nicht schuld. Denn sie kann unter den
Männern, die den Eingang zur neueren deutschen Geistesgeschichte bezeichnen,
außer Kant keinen dem jugendlichen Verständnis schwerer erschließen als Herder.
Und wer beschäftigt sich nach der Schule noch mit ihm?
Daß dieser Zustand eines Volkes nicht würdig ist, das für so viele kleine
Geister mit andächtiger Verehrung „Gemeinden" bildet, darüber wird kein
Zweifel sein. Aber man wird fragen müssen: Verlieren unsere gebildeten
Kreise, auf die soviele Tagesinteressen einstürmen, beträchtliche Werte, wenn sie
die Größen der Tagesmode einmal zurücksetzen, um Herder vorzulassen? Was
könnte dem Durchschnitt von uns Herder noch sein? Insbesondere: Könnte er
uns Führer sein?
Es ist nicht rätlich, sich in die gewaltige Masse Herderscher Schriften ohne
sachkundige Leitung hineinzuwagen. Die Biographie von Eugen Kühnemann
liegt jetzt in zweiter Auflage vor („Herder", München 1912, Beck) und gibt
sich schon in ihrer Titeländerung (die erste Auflage 1893 hieß „Herders Leben")
als einen Versuch, in die Persönlichkeit Herders selbst einzudringen. Das Wesen
dieses absonderlichen Menschen wird uns in diesem Buche wirklich lebendig.
Tiefen und Untiefen sind schärfer als früher erfaßt und begründet, und der
Niedergang des Gestirns in den Bedingungen seines Aufstiegs bereits erschaut.
Eine Würdigung von Herders Wesensart wird daher an dieses Buch anknüpfen
können.
Wer von dem Buche Kühnemanns herkommend sich die obige Frage vor¬
legt, der findet, daß Herders Natur nach sehr bemerkenswerten Seiten hin mit
den, Wesen vieler unserer Mitlebenden verwandt ist. So sehr, daß es eine
Gefahr bedeuten könnte, wenn sie sich in ihn hineinlebten und ihn als eine
Art Vorbild vor sich aufpflanzten. Ich denke an den Mangel der dauernden
Konzentration auf das zur Leistung ausersehene Gebiet. Dieser Gefahr ist
unsere Zeit in besonders starkem Maße ausgesetzt, und die Besten von uns am
meisten, weil die Masse der Eindrücke unerhört groß ist. und zwar die Auf¬
nahmefähigkeit, aber nicht die innere Bewältigung sich dem Andrange anpaßt.
Für die entsprechende Wesensseite Herders ist z. B. das Reisejournal von 1769
mit seiner Fülle von klugen Einfällen bezeichnend. Schon geringe Anlässe be¬
wirken ein unabsehbares Ablaufen von Ideen, deren jede einen schöpferischen
Keim in sich trägt, aber im Gedränge nicht zur Auswirkung gelangt. Hier
fehlt Herder schon in äußerlich ungestörtesten Verhältnissen das, was unserer
Zeit überhaupt fehlt, die Sammlung, die innere Ruhe. Statt deren eine bis
ans Krankhafte gehende Jdeenflucht. Gewiß, alles, was in Herder aufging,
nahm Leben an, denn es stellte sich von selbst unter das obwaltende Gefühl,
es wurde von ihm getragen und so mit dem übrigen verbunden. Aber es ist
nur wie mit dem Lichte eines Scheinwerfers beleuchtet: der Lichtkegel irrt von
Gegenstand zu Gegenstand, ohne den Zusammenhang des blitzartig Erschauten
innerlich auch begrifflich erfassen zu lassen. Und so hat Herder nicht geleistet,
was ihn zum Führer in unserer zerfahrenen Zeit machen würde, die Durch¬
dringung alles einzelnen mit seinein Wesen zur Gestaltung eines persönlich-
sachlichen Ganzen. Was er geschaffen hat, sind fast immer nur Teile, oft
winzige Fragmente, Skizzen voll Tiefblick, voll von „hellseherischen Ahnungs¬
vermögen", für das es in Raum und Zeit keine Hindernisse gibt. Keineswegs
kleinlich: gerade in den Plänen zu künftigen Werken, wie zu jenem „Buch zur
menschlichen und christlichen Bildung" liegt ein großer Wurf; auch sonst tritt
er als Reformator der Gesamtwissenschaft auf, sein Blick umfaßt stets das Ganze
der Völker und Zeiten. Aber wenn der Leser in den Einzelergebnissen die
Spuren des Löwen erblickt, so ergreift ihn eine gewisse Beängstigung bei der
Frage, ob der Verfasser wirklich so groß und so klein zugleich sein kann, ob er
der seltene Mensch ist. der nicht nur ahnungsweise und gefühlsmäßig, sondern
wirklich das Weltall in sich aufbaut. So wird es wohl bei der klassischen
Äußerung Chamberlains sein Bewenden haben: „Herders Genialität übertrifft
bei weitem sein Talent, das ist sein Verhängnis, das hindert ihn. wahre
Meisterwerke zu vollenden. Die Welt aber fragt nicht viel nach dem Wesen
eines Mannes, sondern fast einzig nach seinen Taten; und als Tat läßt sie
nur das gelten, was sich ihr mit Gewalt aufzwingt."
Hinzu nehme man die Schwäche seiner Willensseite, wie sie in mehr als
einem wichtigen Moment seines Lebens als Entschlußunfähigkeit sich geltend
macht, und man versteht, wie ein solcher Geist, reizbar im höchsten Grade, nach
allen Seiten'gleichzeitig emporgezogen, nicht leicht den festen Boden findet, von
dem aus er den Aufbau seiner Anschauungen und seines Lehens beginnen kann.
Können wir diese Unsicherheit nicht auch um uns herum täglich bemerken? Und
die Untersuchung des Verhältnisses von Ich und Leben bei Herder führt nicht
minder in ein modernes Problem.
Schon früh hemmt ihn der Gegensatz, der in dem Bewußtsein der inneren
Fülle und der Unfähigkeit, sie restlos zu äußern, liegt. Hieraus entspringen
— sogar im Augenblick heftigsten Vordringens nach innerer Klärung! — kleine
Züge von Besorgnis, ob man ihn? auch die gebührende Anerkennung zolle. Auch
diese Abhängigkeit von äußerem Urteil, ein Zeichen des mangelnden inneren
Gleichgewichts, ist ein Zug, der in unserer Zeit liegt. Wenn Herder, mit seiner
Fülle der Gesichte, mit dem Gefühl, ein Reformator der Kulturphilosophie zu
sein, vom Menschenurteil beeinflußt wird, so ist es wohl ein Überbleibsel seiner
harten Jugend, eine Art Verkrüppelung, die wir an dem Wahrheitssucher be¬
sonders schmerzlich empfinden. Gar zu menschlich erscheint es uns, wenn er
den Mangel an innerer Sicherheit ersetzt durch eine zur Schau getragene Würde,
oder gar durch ein absprechendes, nörgelndes Wesen.
Kann uns, die wir in einer unharmonisch gärenden Zeit nach Bahnbrechern
in ein Land der Harmonie zwischen Wollen und Können, zwischen Ich und
Umwelt ausschauen, kann uns Herder ein Führer sein? Er lebt uns die
Schmerzen vor, die in dem Mißverhältnis der genialen Intuition und der
praktischen Auswirkung ihre Quelle haben. Er. d. h. seine Persönlichkeit, kann
uns als psychologisches Studienobjekt interessieren, er kann uns als Held einer
im tiefsten menschlichen Wesen beruhenden Tragik erscheinen, aber ein Führer,
ein Vorbild, die Verkörperung eines Ideals kann uns dieser von Grund aus
unglückliche Mensch nicht sein.
Und doch, wenn dem so ist, was verschaffte diesem Menschen die Anziehungs¬
kraft, woher stammt der beispiellose Reiz, den Herder während seiner Jugend
und selbst noch bis ins Alter hinein auf so viele Menschen, die in seinen Kreis
traten, ausgeübt hat? Das Geheimnis liegt in der Wärme seines Wesens.
Das Gefühl, womit er Menschen und Dinge aller Zeiten umfaßt, läßt ihn als
ein Wesen von einziger Art erscheinen, nicht die von den Dingen abgelöste
Schwärmerei, nicht Ästhetentum, sondern ein enthusiastisches Ergreifen und Zu-
eigenmachen alles Gegebenen. In wem dieser Ton gleiche Saiten erregte, der
konnte sich Herders Wesen nicht entziehen. So allein ist sein Verhältnis zu
Goethe zu verstehen, der durch die unfreundliche Schale ins Innere dieses
seltenen Menschen sah. Hier ist es, wo die Versenkung in Herders Schriften,
die Vorstellung von seiner Menschenart, eine wohltätige Wirkung auf uns Kinder
einer raschlebenden, verstandeskühlen Zeit üben könnte. Man muß Schriften
aus seiner ersten Lebenshälfte lesen, z. B. die „Älteste Urkunde des Menschen-
geschlechts", um zu verstehen, wie ihm in ganz unerhörtem Maße die Gabe
des Einfühlens in die Gegenstände gegeben war. Das Gefühl war das Grund¬
organ, mit dem er nahes und Fernes an sich zog und zu einer eigenen Art
von Klarheit brachte. Und er war sich dieser Wesensseite froh bewußt. Wie
er z. B. in den Briefen über Ossian das gefühlsmäßig Erlebte in der Dichtung
dem Ergrübeltem entgegenhielt, so möchte man heute oft auch auf anderen Ge¬
bieten des geistigen Lebens tun, wo verstandesdürre Arbeit das Herz unbefriedigt
läßt. Manche Ausfälle auf den platten Intellektualismus der Aufklärung seiner
Zeit könnten ebenso gut heute geschrieben sein. Gewiß hatte diese Art, an die
Dinge heranzutreten, ihre Schattenseite: es war Herder schwierig, wenn nicht
unmöglich, die Dinge objektiv zu betrachten; ohne Affektion der Gefühlsseite
war ihm jede Geistestätigkeit zuwider. Aber gerade da, wo der Denker zum
einfühlenden Seher wird, werden wir hingerissen von den weiten Blicken in
unbekannte Länder, deren Gefilde sich ihm und uns beleben durch die Kraft
der liebend hingegebenen Intuition.
Eben hierdurch ist Herder zu einem großen sa'emann geworden. Wo er
mühelos seine Ideen hinwirft, unausgeführte, weil zur Ausführung der Drang
der schöpferischen Stunde nicht Zeit ließ, da ist für uns Nachlebende ein Schacht
voll von Schätzen, die alle zu heben noch nicht gelingen wollte. Die Jnkonse¬
quenzen, die den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" anhaften,
das Unzureichende der Humanitätsidee als des Kernes und Sternes Herderscher
Zielsetzung sind ja längst erkannt. Aber daß ihm der Kulturhistoriker, der
Geschichtsphilosoph die weitesten Blicke, ja sozusagen die erste Begründung seines
Gedankengebäudes verdankt, wird darum nicht bestritten. Erst in den letzten
Jahrzehnten besinnen sich auch andere Wissenschaften darauf, was sie seinen
Anschauungen, ja auch seinen oft nur kurz hingeworfenen Andeutungen ver¬
danken. So hat der gewiß kompetente Wilhelm Wundt auf deu „Geist heutiger
Psychologie" hingewiesen, der — im Gegensatz zu den meisten späteren Werken
über das gleiche Thema — in Herders Schrift über den Ursprung der
Sprache lebendig sei. Wenn ich noch die Schriften des Juristen Viktor Ehrenberg
(„Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft", 1903), des Botanikers Adolf
Hansen („Häckels Welträtsel und Herders Weltanschauung", 1907), des Theo¬
logen Horst Stephan („Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die
Kirchengeschichte", 1905) nenne, so geschieht es, um zu erweisen, daß die Schätzung
Herders als eines Bahnbrechers oder doch Anregers auf den verschiedensten
Gebieten immer mehr Fortschritte macht.
So wäre denn zu sagen: Herder wird als vorbildliche Persönlichkeit unserem
Geschlechte, das der echten Heldenverehrung wieder dringend bedarf, nichts zu
bieten haben, desto mehr aber werden wir uns in seine Schriften vertiefen,
um einerseits den Reichtum des Gefühls zu kosten, in den er alles eintaucht,
und um anderseits, von welcher Wissenschaft aus wir bei ihm einkehren, bereichert
um Ausblicke, Anregungen und Ideen diesen eigenartig selbständigen Denker
zu verlassen.
Herders als eines Säemanns muß aber auch noch in einem anderen
Zusammenhang gedacht werden, auf einem Gebiete, das alle gebildeten Deutschen
angeht. Vor kurzem hat ein Buch von Günther Jacoby, „Herder als Faust"
(Leipzig 1911, Felix Meiner), berechtigtes Aufsehen erregt und ist. soviel ich
sehe, von der zünftigen Kritik nicht überall glimpflich behandelt worden. Auf
das in diesem Buche behandelte Problem möchte ich die Aufmerksamkeit noch
lenken; ist es doch auch ein Beitrag zu der Frage: Was ist uns Herder?
Im Mittelpunkt des Buches steht der bedeutsamste Vorgang, der sich in
Herders Leben überhaupt abgespielt hat: seine Berührung mit dem jungen
Goethe in Straßburg. Goethe, in dem tausend Keime sich regten, tausend
Ansätze auf Befruchtung harrten, in der Rolle des dankbaren, selbst unterwürfigen
Schülers gegenüber dem einzigartig Frühreifen, in dem sich Wissen und Schauen
zu einem gewaltigen Weltbilde, beseelt von tiefdurchwaltendem Gefühle, auszu-
wachsen strebte. Der persönliche Verkehr legte in Goethe den Grund zu einem
viele Jahre andauernden unerhörten Ausgeschlossensein der Seele für alle
Wesensäußerungen Herders. Goethe las nunmehr, was er von Herder las,
mit ganzem Gemüte. Vielleicht hat kein Mensch, auch Schiller nicht aus¬
genommen, je auf Goethe so stark gewirkt, und gewiß hat keiner in einem so
fruchtbaren Augenblick gewirkt wie Herder. Man wird sicher gut tun, den
Nachklang Herderscher Ideen in Goethes Anschauungen, die damals zuerst zu
dauernder Festigung strebten, mehr zu beachten als dies gewöhnlich geschieht.
Wenn nun Jacobo den Versuch unternimmt, aus diesem Gebiet eine Kern¬
frage, die nach Herders Einwirkung auf die Konzeption des Faustdramas, zu
untersuchen, so ist der Gedanke selbst nicht neu. Man hat auch früher schon
bemerkt, daß sich in Faust der Geist Herders regt. Doch ist niemand bisher
dem Gedanken auf den Grund gegangen. Es kam darauf an zu zeigen, wie
nahe die Persönlichkeit Herders der des Goethescher Faust steht, und wie daher
Goethe in ihm die lebendige Erscheinung des Aufstrebens vom Menschen zum
Übermenschen, die Durchdringung von Natur und Menschenleben mit eigenem
Gefühl und ihre Gestaltung und Durchfühlung als Kosmos, mithin das Nach¬
denken des göttlichen Gedankens erlebt haben müsse, hierdurch die Faustidee
auf eine Höhe erhebend, die keiner der vorausgegangenen Faustdichter erreichte.
Darüber wird kein Zweifel obwalten können: die für den Schüler nicht
immer erquickliche Lehre, in die Herder den jungen Goethe in Straßburg nahm,
und die sich in dem Briefwechsel der nächsten Jahre fortsetzte, bedeutete für
Goethe eine heilsame Erziehung; das „spechtische Wesen" wich einer zu¬
nehmenden Verinnerlichung. Aus Jacobys Darlegungen gewinnt man nun den
Eindruck, als habe Goethe Herders Persönlichkeit und seine Schriften mit einer
solchen Glut eingesogen, habe sich so mit Herder getränkt, daß er nicht nur in
Herders Leoensrichtung hineingezogen, nicht nur seinen Anschauungen gewonnen
worden sei, sondern daß bis in die Ausdrucksweise, bis in den sprachlichen
Rhythmus hinein Herders Wesen durch das seine hindurch sich auswirkt.
Am stärksten haben — immer als Persönlichkeitszeugnisse gefaßt — außer
den vor der Straßburger Begegnung schon erschienenen Herderschen Schriften
die der nächsten Jahre auf Goethe gewirkt: die „Älteste Urkunde". „Auch eine
Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", der Aufsatz „Über die
dem Menschen angeborene Lüge", eine Anzahl Gedichte über die Seele; am
unmittelbarsten als Zeugnis für Herders damaliges Innenleben spricht das
vielfach von faustischen Empfindungen durchzogene Reisetagebuch von 1769.
Die von Jacobo beobachtete Einwirkung auf die Gestaltung des Faustgedichtes
umfaßt die gedankliche Konzeption des Ganzen, die Nacht- und Erdgeistszene,
die Auseinandersetzungen mit Wagner und Mephisto, mit dem Schüler,
„Wald und Höhle", „Trüber Tag". Wir erleben Verzweiflung und Gottes¬
gewißheit, Geisterschau und Menschbewußtsein, Haß gegen die Schulwissenschaft
und Streben zur Kabbala, Spott über die Geschichtsphilosophie der Aufklärung
und ihre „pragmatischen Maximen" nochmals in Herders Gedankenwelt, indem
wir sie durch Fausts Inneres ziehen sehen. Der Wille zur Selbstvergottung,
dem wir im Faust begegnen, und das Zurückgestoßenwerden, das Herabsenken
zum Erdbedingten, die beiden Pole des Menschenseins — „zwei Seelen wohnen,
ach, in meiner Brust" — erscheinen wie in Faust so in Herder in typischer
Weise wirksam. Endlich ist es das gefühlsmäßige Ergreifen des Weltganzen,
auf das beider Drang ausmündet, nicht die verstandesmäßige Durchdringung,
die ja doch stets am iMorabimu8 scheitert.
Der große Apparat von Parallelstellen, durch den Jacoby diese Be¬
rührungen aufzuzeigen sucht, ist zweifellos sehr verdienstlich, indem er in den Geist
der Faustentstehung Einblick verschafft; doch wird man, ohne an der grundsätzlichen
Richtigkeit der gedanklichen Berührung zu zweifeln, bei manchen Zitaten das
Gefühl haben, daß sie an sich nicht ausreichten, um einen zwingenden Schluß
darauf zu bauen. Wie vieles von dem Gedankenreichtum in der Zeitatmosphäre
lag und bei gegebenem Nährboden an verschiedenen Stellen zugleich Keime
treiben konnte, wird im einzelnen schwer zu scheiden sein. Goethe aber hat
den Faust, den tiefen Sinn des Faustgeschehens, innerlich erlebt. Die Aus¬
strahlungen des Herderschen Geistes hatten Goethes Geist aufs stärkste befruchtet,
und so trägt die Faustdichtung, das Wesen Fausts neben anderen auch Herdersche
Züge. Wer da von Unselbständigkeit Goethes reden möchte — mit dem Neben¬
sinne von Plagiat — der verkennt doch das Verhältnis. „Vom Allgemeinen
ganz gesättigt" — um ein Wort Dilthens zu gebrauchen — tritt die Faust¬
fabel hervor. Aber zu diesem Allgemeinen, das in Goethes eigensten Wesen
sich bildet, hat Herder, soviel ein Mensch geben konnte, beigetragen, indem er
Goethes Wesen vom Sehen zum Schauen führte, ihn vor der Menschheit große
Fragen stellte, vor Probleme, die ihn selbst im Innersten bewegten, die er aber
dichterisch zu bewältigen unfähig war.
Zu den weniger einleuchtenden Ausführungen Jacobys möchte ich den
Versuch rechnen, in Herder den Vermittler von Lessings Faustplan an Goethe
zu erweisen. Eine Dramatisierung des Fauststoffes lag in der Luft, mindestens
seit dem Erscheinen von Lessings siebzehnten Literaturbrief; es war die Zeit,
5wo aus allen Zipfeln Deutschlands Fauste angekündigt waren", eine ganze
Anzahl hat in der nächsten Zeit das Licht der Welt erblickt. Die Tatsache,
daß beide Faustpläne ein Vorspiel haben, kann nach dem Vorgang von
Klopstocks Messias kaum mehr beweiskräftig sein; und der in dem Vorspiele
beider angedeutete rettende Ausgang durste dem ins allgemein Menschliche er¬
hobenen Stoff nicht fehlen, wollten die Dichter nicht hoffnungslosen Pessimismus
das Wort reden. Vielleicht darf man auch bei Goethe den rettenden Ausgang
des merkwürdigen alten Schauspieles „Turbo" als bekannt voraussetzen, das sich
überhaupt in manchen Punkten auffällig mit Goethes Faust berührt; seinem
Verfasser I. V. Andrea (f 1654) widmete ja Herder besondere Verehrung.
Aber derartige Einzelheiten mindern nicht den Wert von Jacobys Unter¬
suchung. Mancher nachdenkliche Literaturfreund wird nun in Herder die Züge
selbst aufsuchen, die er mit dem zum Repräsentanten des Menschengeschlechts
typisierten Faust gemein hat; man wird die halbvergessenen Schriften aus
seiner Werdezeit und der Bückeburger Periode wieder lesen, ja, man wird ver¬
sucht sein, sie gewissermaßen als Kommentar zu Goethes Faust zu lesen.
Wem zu glauben ist, redlicher Freund,
das kann ich dir sagen:
Glaube dem Leben I ES lehrt ^
Goethe besser als Redner und Buch.
^^as Februarheft der Preußischen Jahrbücher bringt aus der
M Feder des Rittergutsbesitzers Sigismund von Chlapowski auf
Turco unter der Überschrift „Der wirtschaftliche Wert der bäuer-
lichen Kolonisation im Osten" einen Aufsatz, der allgemeines Staunen
erregt. Der Verfasser kritisiert darin die Bedeutung der Preußischen
Ansiedlungspolitik für dieAgrar- und Erwerbsverhältnisse derAnsiedlungsprovinzen.
Und diese Kritik schließt mit einer unbedingten Verurteilung der Ziele und der
Tätigkeit der Ansiedlungskommission, da der Kleingrundbesitz nicht auf der
gleichen Höhe wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit mit dem Großgrundbesitz stehe.
Wäre diese mit den herrschenden Anschauungen im Widerspruch stehende An¬
sicht richtig, so müßten die kolonisatorischen Arbeiten nicht nur in den An-
siedlungsprovinzen, sondern auch in den übrigen Landesteilen einer scharfen
Nachprüfung unterzogen, vielleicht ganz eingestellt werden; denn der Verfasser
sagt selbst (Seite 265), daß nicht alle, aber immerhin viele seiner Unter¬
suchungen auf die Kolonisationsbestrebungen im ganzen preußischen Osten be¬
zogen werden könnten.
Erwägt man, daß gerade jetzt wieder sehr bedeutende Summen für die
Fortsetzung der kolonisatorischen Tätigkeit der Ansiedlungskommission und für
die Förderung der Kolonisation in den anderen Landesteilen gefordert werden,
so ist es geboten, zu dem eigenartigen Aufsatz des Herrn von Chlapowski
Stellung zu nehmen.
Seinen Ausführungen ist aber in keiner wesentlichen Richtung beizutreten;
wohl aber sind sie geeignet, die öffentliche Meinung irre zu führen.
Der Verfasser ermittelt (I) die Selbstkosten der Ansiedlungskommission
— außer dem Kaufpreis — an Wirtschaftszuschüssen, Meliorationen, Vorflut-
regulierungen, Wege- und Brückenbauten, Zinsverlusten und Kosten der Frei¬
jahre") für die Stelle durchschnittlich auf 8630 Mark, denen an Baukosten, die
der einzelne Ansiedler aufzubringen hat, 600 Mark für den Hektar, bei einer
Stelle von Is Hektar also 9000 Mark hinzutraten. Danach wäre jede Stelle
von vornherein mit 17630 Mark belastet, ganz abgesehen von den Kosten des
Landerwerbs.
Sodann bespricht er ausführlich (II) die Bodenpreisfrage und das reißende
Steigen der Preise seit 1902, ebenso erörtert er die Behauptung, die Preis¬
steigerung sei eine Folge der Konkurrenz auf dem Grundstücksmarkt und ein
Ausfluß des sogenannten Kampfes um den Boden. Die Nichtigkeit dieser Be¬
hauptung bestreitet er im allgemeinen, indem er die Tätigkeit der polnischen
Parzellierungsinstitute und die Landerwerbungen polnischer Großgrundbesitzer
als für die Bodenpreisfrage wenig erheblich hinstellt, wenn er auch ihre preis¬
treibende Wirkung nicht völlig verneint (Seite 279, 291).
Nach dem Tiefstand der Landwirtschaft in den achtziger und Anfang der
neunziger Jahre sei durch das Zusammenwirken verschiedener wirtschaftlicher
Kräfte als: der besseren Konjunktur, des Ausbaues der Verkehrsmittel, der
Fortschritte der Landeskultur überhaupt, der besseren Betriebsweise, der Ent¬
wicklung der landwirtschaftlichen Technik, nicht zum mindesten der großen
„Investitionen" seitens der Privatbesitzer, ein mächtiger Umschwung zum
Besseren eingetreten, der die Landwirtschaft Posens allmählich auf ein sehr hohes
„Niveau" gebracht habe. Zum Beweise werden die Reinertrage von vier
Rittergütern aus einer Reihe von Jahren mitgeteilt, auf die der Verfasser
offenbar hohen Wert legt. Diese vier Güter bringen danach seit einer Reihe
von Jahren steigende Reinertrage, die sich für den Hektar für das letzte Jahr
auf 210,79 Mark und 197,09 Mark (1909/10). 146.00 Mark (1910/11) und
269.81 Mark (1911/12) belaufen.
Aus allem diesem folgert der Verfasser (Seite 290). daß die Rentabilität
des landwirtschaftlich genutzten Bodens sehr erheblich zugenommen habe.
Während früher Reinertrage von 40 Mark für den Hektar als befriedigend
angesehen worden seien, gelte heute das Doppelte und unter günstigen Verhält¬
nissen das Drei- bis Vierfache als die normale Bodenrenke (Seite 290). „Die
Grundstückspreise sind dementsprechend gestiegen. Kein Wunder. Sie haben
den Ertragswert vieler Güter noch bei weitem nicht erreicht." Möchte nun
auch die größere Nachfrage und die Parzellierungstätigkeit zu einer rapiden
Steigerung des Bodenwertes das ihrige beigetragen haben, so sei damit noch
keineswegs erwiesen, daß die gezählten Bodenpreise als wirtschaftlich ungerecht¬
fertigt zu bezeichnen seien (Seite 291).
Man kann dem Verfasser fast alles, was er aus den beiden ersten sehr
ausführlich gehaltenen Abschnitten — 29 Druckseiten — folgert, unbedenklich
zugeben: daß die Kosten der Besiedlung sehr hoch sind, daß die Werte, aber
auch die Erträge, außerordentlich gestiegen sind und daß man deshalb die
Frage aufwerfen darf, ob jetzt noch die Zerlegung eines Großbetriebes in zahl¬
reiche Kleinbetriebe wirtschaftlich gerechtfertigt ist. Diese Frage verneint der
Verfasser. Die am meisten gerühmten Erfolge der Bauernansiedlung seien auf
die von der Anftedlungskommission ausgeführten sehr kostspieligen Meliorationen
zurückzuführen. Solche seien mit gleichem Erfolg auch von Grundbesitzern aus¬
geführt. Diese Werterhöhung sei von der eigentlichen Besiedlungsarbeit scharf
zu trennen. Außerdem kämen für die Besiedlungsfrage folgende drei Punkte
in Betracht (Seite 296):
„1. daß vor Jahren weite Gebiete des Ostens in bezug auf landwirtschaft¬
liche Kultur zurückgeblieben waren,
2. daß die landwirtschaftliche Bevölkerung kapitalsarm war, ,
3. daß der Grund und Boden 'noch bis etwa 1902 zu Spottpreisen zu
haben war."
Diese besonderen Umstände, die vormals die Kolonisation in jenen Landes¬
teilen begünstigten, gehörten der Geschichte an.
In langen Ausführungen werden nun die Gründe erörtert, die die Vor¬
züge des Großbetriebes gegenüber dem Kleinbetrieb ausmachen sollen. In der
Zusammenstellung dieser Vorzüge (Seite 313) wird unter 1 nur nachgegeben,
daß in bezug auf die laufenden Produktionskosten sich möglicherweise ein
kleiner Vorteil zugunsten des Kleinbetriebes ergebe. Dann aber wird
weiter ausgeführt:
Von der Vervollkommnung des Maschinenwesens (2) und der Ausbildung
des Verkehrswesens (3) hätten die großen Güter weit mehr Vorteil.
Der Großbetrieb sei in der Lage, den Anbau derjenigen Erzeugnisse zu
forcieren, die eine höhere Rente vom Grund und Boden bringen — der Klein¬
betrieb nicht (4), auch erziele der Großbetrieb im allgemeinen höhere Roherträge (5).
Die klimatischen Verhältnisse von Posen—Westpreußen bevorzugten den An¬
bau derjenigen Erzeugnisse, welche für den Großbetrieb hauptsächlich in Frage
kommen, und seien für Viehzucht, die den wichtigsten Erwerbszweig kleiner Wirt¬
schaften bilde, weniger günstig.
In diesen Tatsachen liege die wirtschaftliche Überlegenheit der großen
Güter begründet. Diese These finde ihre Bestätigung in der geringen Höhe
der von den Ansiedlern bezahlten Renten, die nach genauer Berechnung für
alle bis Ende 1910 ausgelegten Stellen für den Hektar 25,45 oder für den
Morgen 6,36 Mark, für die nach 1904, also zur Zeit der höheren Güterpreise,
aufgeteilten Güter für den Hektar 31,90 oder 7,97 Mark für den Morgen be¬
trügen. Im Großbetrieb würden, sobald die Vorbedingungen sür einen inten¬
siven Betrieb gegeben seien, und bei befriedigenden Kulturzustande Reinertrage
erzielt, die die üblichen Ansiedlerrenten um das Vierfache, ja noch mehr, über¬
träfen. Aus allen diesen Gründen hält sich der Verfasser für berechtigt, die
Ansiedler als Staatspensionäre auf Kosten der Allgemeinheit zu bezeichnen, ti.e
Verdoppelung oder Verdreifachung der bisherigen Renten zu fordern und die
Fortsetzung der Ansiedlungspolitik als eine kostspielige Entwertung des Grund
und Bodens zu bezeichnen.
Mit diesen scharfen Anklagen hätte der Verfasser etwas vorsichtiger sein
sollen. Durch seine Gegenüberstellung der aus einzelnen Großbetrieben erzielten
Reinertrage und der Ansiedlerrenten hat Herr von Chlapowski allen seinen
Darlegungen den Boden entzogen. Eine Vergleichung von Rente und Rein¬
ertrag ist unzulässig. Die Ansiedlerrente wird lediglich vom Grund und Boden
entrichtet. Rechnet man mit dem Verfasser (Seite 273) für die Gebäude einer
15 Hektar großen Stelle 9000 Mark, außerdem für Inventar und Betriebs¬
kapital 5000 Mark, so hat der Ansiedler außer der Staatsrente noch die gesetz¬
lichen Zinsen von 9000 5000 ----- 14 000 Mark, also 560 Mark aufzubringen;
die ihm obliegende Last beträgt also für den Hektar noch 37,33 Mark, zusammen
31,90 -I- 37.33 69,23 Mark. Das wäre weit mehr als das Doppelte der
jetzt zu zahlenden Rente, während Herr von Chlapowski ja äußersten Falles
schon mit dem Doppelten zufrieden ist. Ob der Ansiedler die Kosten für Ge¬
bäude und Inventar usw. voll bezahlt hat oder ob er sie noch verzinst, ist
natürlich gleichgültig. Oder verlangt der Herr Verfasser vielleicht, daß sich die
Ansiedler die Zinsen für Gebäude und Betriebskapital nicht anrechnen lassen
sollen? Das wäre neu! Wollte man den vom Verfasser angegebenen Höchst¬
satz, d. h. das Dreifache von 31.90 ----- 95.70 Mark als Rente festsetzen, so
würde man dem Ansiedler nicht nur jeden Reinertrag, sondern auch seinen
Arbeitsverdienst ganz oder zum größeren Teil entziehen. Dann würden sich
schwerlich noch Bewerber um Ansiedlungsstellen finden. Damit wäre den
Bestrebungen des Herrn von Chlapowski allerdings am erfolgreichsten gedient.
Nach alledem ist die eine der beiden gegenübergestellten Zahlen unrichtig,*)
und die andere, die Höhe der Reinertrage von vier Großbetrieben, kann schon
deshalb nicht verwertet werden, weil sich aus einer so kleinen Zahl von Be¬
trieben überhaupt keine Schlüsse ziehen lassen. Endlich weist auch eine nicht
geringe Zahl von Kleinbetrieben ebenso günstige Ergebnisse auf. Ebenso wie
die hohen Erträge von vier Großbetrieben nicht für die Überlegenheit der Gro߬
güter ins Feld geführt werden können, genau so wenig würde die Mitteilung von
ganz geringen Reinerträgen einiger anderen Güter für die Minderwertigkeit der
Großbetriebe von Bedeutung sein. Die Höhe des Reinertrags eines Landgutes
hängt so sehr von zufälligen Umständen und dem Grade der Tüchtig¬
keit des Betriebsleiters ab, daß mit einigen wenigen Betrieben ohne irgend
welche tatsächlichen Unterlagen und genauen Berechnungen kein Beweis erbracht
werden kann. Nur die sorgfältigsten, unter genauer Berücksichtigung der tat¬
sächlichen Verhältnisse aufgestellten Ermittlungen der wirklich erzielten Erträge
können die nötige Aufklärung schaffen. Die Frage, ob die Ansiedlerrenten mit
den Erträgen im richtigen Verhältnis stehen, berührt übrigens die volkswirt¬
schaftliche Nützlichkeit der Arbeiten der Ansiedlungskommission gar nicht. Das
ist eine reine privatwirtschaftliche Frage, die zwischen dem Fiskus und denAnstedlern
zum Austrag zu bringen ist. Daß, um das günstige Fortkommen der Ansiedler
sicher zu stellen, gewisse Abstriche von den Erstehungskosten gemacht werden,
ist durch die nationalen und sozialen Zwecke gerechtfertigt, die in den Ansied-
lungsprovinzen verfolgt werden.
Hiermit könnte ich meine Bedenken gegen die Ausführungen des Herrn
von Chlapowski schließen. Aber es soll doch näher darauf eingegangen werden,
allerdings von der auch vom Verfasser nachgegebenen Tatsache aus (Seite 300),
daß die Produktionszweige des Kleinbetriebs andere sind als die des Gro߬
betriebs. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes hat übrigens die Arbeit des
Herrn von Chlapowski bereits im Märzheft der Preußischen Jahrbücher
(Seite 535 ff.) eine kurze aber zutreffende sachliche Würdigung gefunden. Kritiker
ist Herr Schmidthals auf Groß-Tschunkawe. Herr Schmidthals ist landwirt¬
schaftlicher Sachverständiger. Herr von Chlapowski wird ihn wohl um so mehr
gelten lassen, als er selbst Seite 300 des Februarheftes in gesperrten Druck
behauptet, daß der Schwerpunkt der Frage, ob die Dismembration des Gro߬
grundbesitzes wirtschaftlich gerechtfertigt sei, auf agrikulturtechnischem Gebiete liege.
Meine Berechtigung, mich zur Sache zu äußern, folgere ich aus einer mehr
als 16 jährigen praktischen Beschäftigung mit der inneren Kolonisation. Also
selbst nicht Landwirt, lege ich weniger Wert auf die einzelnen, meist schon von
Herrn Schmidthals widerlegten Bedenken agrikulturtechnischer Art, als auf die
Methode des Herrn Verfassers, seine ganze Betrachtungsweise. Sie sind es
vornehmlich, die mir und jedem Praktiker, wie schon oben an einem Beispiel
gezeigt ist, nichts weniger als einwandsfrei zu sein scheinen.
Dazu bedürfen allerdings auch die technischen Darlegungen des Aufsatzes
einer kurzen Besprechung. Mit Recht stellt der Verfasser als die beiden ent-
scheidenden Punkte die Höhe der Produktionskosten und die Höhe des Rohertrags
hin. Zwei Momente, sagt er, würden zugunsten des Kleinbetriebes geltend
gemacht, erstens die bessere sorgfältigere Arbeitsleistung, zweitens die bessere
Pflege und die daraus sich ergebende geringere Abnutzung des lebenden und
toten Inventars. Die Gesamtkosten der menschlichen Arbeit betrügen für den
Morgen etwa 20 Mark, ein Drittel der sämtlichen Produktionskosten. Professor
Gering sage, „mit dem immensen Kapital, das die Ansiedler in ihren Armen
und Beinen haben, kann der Großgrundbesitzer nicht konkurrieren"; diese Äuße¬
rung enthalte viel wahres, könne aber doch zu Mißverständnissen führen. Denn
der Arbeitsbedarf in der Landwirtschaft sei nicht gleichmäßig, sondern je nach
der Jahreszeit recht schwankend. Es möge richtig sein, daß in bäuerlichen Wirt¬
schaften zeitweise bei allen dringenden Arbeiten mit größerer Intensität gearbeitet
werde, aber die Arbeitskraft werde den größeren Teil des Jahres, besonders
im Winter, nicht voll ausgenutzt; selbstverständlich seien dann Arbeitsleistung
und Arbeitsintensität entsprechend geringer. Das alles treffe beim klein- und
mittelbäuerlichen Besitzer zu, dagegen würden auf den Gütern nur soviel ständige
Arbeiter gehalten, als dem Minimum an Arbeitsbedarf entspreche. Auch würden
viele Arbeiten regelmäßig im Akkord verrichtet; dabei komme der Einwand, daß
der Arbeiter, weil für fremde Rechnung tätig, weniger leiste, nicht in Betracht.
Die Sorgfalt der Arbeit spiele natürlich auch eine Rolle. Deshalb sei es
gerechtfertigt, die Wirtschaftsunkosten bei dem Großbetrieb um etwa 25 Prozent
höher anzusetzen als bei dem Kleinbetrieb. Ebenso ist, wie zugestanden wird,
der Kleinbesitzer hinsichtlich der besseren Pflege des lebenden und toten In¬
ventars im Vorteil (Seite 304). Auch an allgemeinen Verwaltungskosten soll
der Kleinbesitzer sparen. Geringere Abnutzung der Zugtiere und stärkere Ge¬
spannhaltung sollen sich nach Ansicht des Verfassers ausgleichen. Den auf
8,25 Mark für den Morgen berechneten Vorteilen für den Kleinbetrieb:
ständen die Verzinsung des höheren Baukapitals, die Amortisation, die größeren
Reparaturkosten und der Versicherungsgelder mit 5 bis 6 Mark für den Morgen
als Mehrbelastung des Kleinbetriebes gegenüber. Diese 5 Mark von den
8.25 Mark Vorteil des Kleinbesitzes abgezogen, blieben also zu dessen Gunsten
3,25 Mark. Ein nennenswerter Vorsprung sei das nicht, und dieser werde
durch die erleichterte Anwendung der Maschinen im Großbetriebe reichlich auf¬
gewogen. Die Vervollkommnung des Maschinenwesens sei den großen Gütern
verhältnismäßig mehr zu statten gekommen als dem Kleinbesitz.
Darüber ließe sich vielleicht in der einen oder anderen Richtung streiten.
Aber wenn der Verfasser Seite 307 hervorhebt, der Vorteil der Maschinen-
benutzung bestehe darin, daß sie die der Landwirtschaft oft mangelnden mensch¬
lichen Arbeitskräfte ersetze, so ist darauf zu erwidern, daß der kleine Landwirt
lange nicht in dem Maße wie der große auf Maschinen angewiesen ist, da für
ihn die Arbeitskräfte fast stets vorhanden sind. Das verkennt auch der Herr
Verfasser nicht, schätzt aber diesen Unterschied nicht ausreichend ein. Ein
fernerer Vorteil der Maschinenbenutzung soll in der schnelleren und besseren
Arbeit, in der Garantie, rechtzeitig fertig zu werden, in der Möglichkeit,
mehrere Arbeiten zu gleicher Zeit in Angriff zu nehmen, bestehen! Alles dies
sind Behauptungen, die den Tatsachen ins Gesicht schlagen. Was insbesondere
die Garantie, rechtzeitig fertig zu werden, anlangt, so schützt alle Maschinen¬
benutzung erfahrungsmäßig den Großgrundbesitzer nicht vor dem Verluste ganzer
Ernten oder größerer Teile davon, durch die Ungunst der Witterung bei der
Ernte, frühzeitigen Eintritt von Frost u. tgi. Besonders im vorigen Jahre ist
dies reichlich genug vorgekommen.
Weiter ist nicht zu ersehen, weshalb die Maschinenbenutzung für den
Großgrundbesitzer leichter sein soll als für den Kleinbesitzer. Die genossenschaft¬
liche und mietweise Benutzung größerer Maschinen ist für den kleineren Besitzer
stets möglich und rentabel, da der Kapitalaufwand und das Risiko von ihm
nicht getragen zu werden brauchen. Die stets weiter fortschreitende Einrichtung
von Überlandzentralen gestattet dem kleinen Besitzer, nunmehr sich auch die
Kräfte der Elektrizität zunutze zu machen. Die Bedenken gegen die genossen¬
schaftliche Benutzung sind nicht für durchschlagend zu halten. Drill- und Mäh¬
maschinen kann sich auch der mittlere und kleinere Landwirt anschaffen und
benutzt sie tatsächlich. Kraftpflüge kommen für den kleineren Besitzer wenig in
Betracht, da der Rübenbau bei ihm keine große Rolle spielt.
Auch der Ausbildung des Verkehrswesens legt der Verfasser eine größere
Bedeutung bei als ihr zukommt. Von ihr haben tatsächlich die großen Güter
insofern mehr Vorteil gehabt, als der Kleinbetrieb, als die durch Anlage von
Kunststraßen und Eisenbahnen geschaffene allgemeine Verkehrslage in sehr vielen
Fällen die Besitzer großer und mittlerer Güter erst überhaupt in die Lage
gebracht hat, sich alle Vorteile zunutze zu machen, die eine intensive Boden¬
benutzung ermöglichen und erfordern. Ohne Chaussee und Eisenbahn ist der
Besitzer eines großen Gutes überhaupt nicht in der Lage, die für eine intensive
Bodenbenutzung erforderlichen Hilfsmittel heranzuschaffen, ebensowenig und viel¬
leicht noch weniger die Erzeugnisse des Bodens an den Markt zu bringen.
Damit ist aber keineswegs die Überlegenheit des Großbetriebes bewiesen. Man
kann vielmehr das Gegenteil daraus folgern. Der Kleinbetrieb ist längst nicht
in so hohem Maße wie der Großbetrieb von den Verkehrsverhältnissen abhängig,
da er in seiner allgemein anerkannten Überlegenheit auf dem Gebiete der Vieh¬
zucht in weit höherem Maße imstande ist, durch diese, wenn nötig ausschließlich,
die höchste Rente aus dem Grund und Boden herauszuwirtschaften. Der Bauer,
der 15 Kilometer von der Kreisstadt entfernt wohnt und dorthin Landwege
hat, kann ebensogut nötigenfalls seine Schweine und Fettkälber dorthin an den
Markt bringen, soweit sie nicht — was die Regel bildet —, vom Händler
oder Schlächter vom Hof abgeholt werden; und auf demselben Wege kann er
seine Bedarfsartikel, auch Kunstdünger, mit nach Hause nehmen. Für einen
Großbetrieb ist es aber fast ausgeschlossen, auf größere Entfernungen mit Ankauf
und Verkauf auf den Transport mit eigenen Gespannen angewiesen zu fein;
bei den heutigen Lohn- und Preisverhältnissen bleibt — wie man sagt — der
ganze Nutzen an den Rädern hängen. Man kann also sagen: ohne gute Ver¬
kehrsverhältnisse (Leitsatz Ur. 3) kann der Bauer noch eine, auch den heutigen
Grundstückspreisen entsprechende Rente aus dem Grund und Boden hervor¬
bringen, der Großbetrieb dagegen nicht.
Einen sehr großen Wert, anscheinend den größten, legt der Verfasser auf
deu Hackfruchtbau, den er als das „Vorrecht" (Seite 310) des Großgrund¬
besitzes bezeichnet. Augenscheinlich hat er dabei nur die Rübenzucht im Auge,
denn daß im Kartoffelbau der Bauer dem Rittergutsbesitzer nachstehe, hat er
nicht zu behaupten vermocht. Gegen die Zweckmäßigkeit des Rübenbaues über¬
haupt lassen sich manche Einwendungen erheben. Ein Hinweis auf die steigende
Konkurrenz des Auslandes, besonders Rußlands, darf hier nicht unterbleiben.
Daß der Rübenbau den Boden schließlich rübenmüde macht, mag auch nicht
unerwähnt bleiben. Vor allem aber fordert er zeitweise die allermeisten Arbeits¬
kräfte. Er vor allen steht und fällt mit dem Ausbleiben der fremdländischen
Wanderarbeiter. Seine weitere Ausdehnung ist deshalb jetzt und auf absehbare
Zeit ein zweifelhaftes Gut. Wenn die Bauern in vielen Landesteilen sich nur
in geringem Maße daran beteiligen, so ist das volkswirtschaftlich und privat¬
wirtschaftlich nur zu billigen. Sie sorgen viel besser für die Gesamtheit der
Volksgenossen, wenn sie statt der Rüben, Mais, Kartoffeln, Klee, Serradella,
Mengefutter usw. bauen, und diese Erzeugnisse zum Füttern des Jung- und
Schlachtviehes verwenden. Alle Erfahrungen zeigen aber, daß es eine bessere
Ausnutzung des Bodens als durch Umsatz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse
in Fleisch nicht gibt.
Die Aufgabe, Aufzucht zu schaffen und Fleisch, besonders Schweinefleisch
zu liefern*). Kälber und Federvieh zu züchten und zu mästen, fällt also dem
Kleinbesitzer zu. Gerade für diese Leistungen gehört eine Sorgfalt der Arbeit,
die der Großgrundbesitzer mit seinen fremden Arbeitern nun und nimmer leisten
kann. Der Verfasser erkennt an, daß bei den landwirtschaftlichen Arbeiten
(Seite 303) natürlich die Sorgfalt auch eine Rolle spiele; er erkennt auch an,
daß es Produktionszweige gäbe, deren Gedeihen hauptsächlich von der Menge
sorgfältig geleisteter aber gemeiner Arbeit abhängig sei, so z. B. Wein-, Tabak-,
Gemüsebau in der Nähe großer Städte. Diese Produktionszweige seien geradezu
ein Monopol des Kleinbetriebes. Für den Osten kämen sie so gut wie gar
nicht in Betracht. Gewiß, damit hat der Verfasser recht. Aber er macht sich
hier einer Unterlassung schuldig, die für seine Kampfmethode bezeichnend ist und
nicht ungerügt bleiben darf. Abgesehen davon, daß der Gemüsebau auch im
Osten sich zu entwickeln beginnt, und wenigstens in der Nähe der großen Städte
eine gute Einnahme für die kleinen Leute zu werden verspricht, sind es nicht
nur Wein und Tabak, die dem Kleinbesitzer zufallen, sondern es ist eben wie
bemerkt die gesamte Schweinezucht und Schweinemast, die Aufzucht des Jung¬
viehs, besonders die Kälbermast, die ebenso ein „Vorrecht" der Bauern bilden
wird, wie der vielversprechende Obstbau. Das sind die Säulen, auf die sich
der landwirtschaftliche Kleinbetrieb stützt. Diese Stützen werden ihm nach aller
menschlichen Berechnung auch für die Zukunft nicht nur bleiben, sondern sie
werden auch mit der wachsenden Bevölkerung und dem zunehmenden Fleischbedarf
stärker werden. Und sie sind es, die ihm das Übergewicht über den Großbetrieb
gewähren und nach aller Voraussicht privatwirtschaftlich und volkswirtschaftlich ge¬
währleisten werden. Der Kleingrundbesitzer, der sich auf seine und der Seinigen
Arbeitskräfte stützt, braucht die Schließung der Grenzen und das Ausbleiben der
fremden Arbeiter nicht zu fürchten, den Grundbesitzern bringt sie jahrelanges wirt¬
schaftliches Siechtum, vielen den Untergang. Die Erzeugung des notwendigen
Fleisches, an dem bekanntlich nur 5 Prozent fehlen, wird durch die Erhaltung,
Stärkung und Vermehrung des Kleinbesitzes sichergestellt. Die Gewinnung der
erforderlichen Brotfrucht, die Hauptaufgabe des Großgrundbesitzes, wird durch
das Nachlassen des Zustroms der fremden Arbeiter gefährdet.
An das von ihm wohl abgegebene, leider aber nicht weiter verfolgte An¬
erkenntnis, daß die Viehzucht den wichtigsten Erwerbszweig Keiner Wirtschaften
bilde (Seite 312, 313, 314), knüpft der Verfasser nun eine kurze Ausführung,
die für einen Teil des Ansiedlungsgebietes allerdings wohl eine Erschwerung
der Viehzucht bedeuten kann. Er führt aus (Seite 313), daß der größte Teil
von Posen, sowie der südöstliche Teil von Westpreußen das an Niederschlägen
ärmste Gebiet von ganz Deutschland bilde. Daß die Futterpflanzen, besonders
auch Klee auf feuchtem Boden besser gedeihen, ist zweifellos richtig, und insofern
muß man dem Verfasser zustimmen, daß die Viehzucht in diesen Landesteilen
wohl nicht so begünstigt ist als in anderen Gebieten. Aber es liegt hier
offenbar eine Überschätzung eines Umstandes vor, der durch den Anbau geeigneter,
auch auf trockeneren Böden gut fortkommender Futterkräuter, wie Kleegras¬
gemenge, Wundklee. Serradella u. a. behoben oder doch erheblich abgeschwächt
werden kann. Und die Erfahrung hat gezeigt, daß auch in diesen und ähnlichen
Landesteilen, wie z. B. in den östlichen Kreisen von Pommern, die Viehzucht
des kleinen Landwirth wohl gedeiht und der Getreideproduktion in privatwirt-
fchaftlicher und volkswirtschaftlicher Hinsicht überlegen ist. Auch hier hat der
Vieh stand, mit Ausnahme der Schafe, die fast ganz verschwunden sind, nach der
Besiedlung ganz erheblich zugenommen, Rindvieh auf das Zwei- und Dreifache,
Schweine auf das Fünf« und Mehrfache des früher auf den aufgeteilten Gütern
gehaltenen Viehstandes.
Meine Ausführungen fasse ich wie folgt zusammen:
Die Angriffe des Herrn von Chlapowski gegen die Tätigkeit der Anstedlungs-
kommisston sind zurückzuweisen. Schon seine Angriffsweise ist verfehlt. Die
Gegenüberstellung von Rente und Reinertrag zeigt, daß ihm das Feld, auf
dem sich seine Angriffe bewegen, durchaus fremd ist. Den Versuch, mit vier
nicht näher begründeten Beispielen die außerordentliche Höhe des Reinertrages
der Großgüter vor Augen zu stellen, mußte er von vornherein als aussichtslos
erkennen. Die allgemeine Begründung seiner Leitsätze ist sehr mangelhaft. Wo
er Zahlen anwendet, wie bei der Berechnung der Produktionskosten (Seite
301 ff.) und bei den Durchschnittserträgen des Rübenbaus (Seite 311 ff.), sind
sie für eine Nachprüfung kaum geeignet. Jeder landwirtschaftliche Sachver¬
ständige kann andere an ihre Stelle setzen und durch kleine Abänderungen völlig
abweichende Ergebnisse erzielen. Den großen Vorteil, der dem Kleinbesitz durch
die Verwertung der eigenen Arbeit des Besitzers und seiner Angehörigen zugute
kommt, unterschätzt er. Die Intensität und Sorgfalt der eigenen Arbeit werden
vergeblich bemängelt. Der Ausspruch des Professors Gering, „mit dem immensen
Kapital, das die Ansiedler in ihren Armen und Beinen haben, kann der Gro߬
grundbesitzer nicht konkurrieren", bleibt unerschüttert bestehen. Von „Mißver¬
ständnissen" kann keine Rede sein. Der Satz enthält nicht nur „viel Wahres",
wie der Verfasser selbst zugibt, sondern er enthält die volle, die ent¬
scheidende Wahrheit. Den Leitsatz Ur. 1, der sich dahin ausspricht,
daß sich in bezug auf die laufenden Produktionskosten möglicherweise ein
kleiner Vorteil zugunsten des Kleinbetriebs ergebe, wird den Tatsachen
nicht gerecht. Die Vervollkommnung des Maschinenwesens und die Ausbildung
des Verkehrswesens werden unrichtig beurteilt oder doch zu gunsten des Gro߬
betriebes maßlos überschätzt. Daß für den Großbetrieb „im allgemeinen ein höherer
Rohertrag anzunehmen" sei, ist auch in dieser vorsichtigen Fassung eine durch nichts
bewiesene Behauptung. Seine Einschätzung des Rübenbaues ist übertrieben und zu¬
gleich ist sie ein weiterer Beweis, wie parteiisch er Umstände, die vielleicht in einzelnen
Gebietsteilen zugunsten des Großbetriebs sprechen können, bewertet. Seite 300
sagt er ganz richtig, daß sich nicht alle Produktionszweige gleichmäßig sür den
Groß- und Kleinbetrieb eigneten; es gäbe solche, die im Großen und wieder
andere, die im Kleinen besser gedeihen. Er erkennt also unbedingt an, daß
der bäuerliche Betrieb für bestimmte Produktionszweige dem Großbetrieb über¬
legen, also volkswirtschaftlich notwendig ist. Wenn er im Widerspruch damit
Seite 312 ff. den Satz aufstellt, daß der Großbetrieb mit Hilfe des Hackfrucht¬
baues — offenbar ist nur oder doch vorzugsweise der Rübenbau gemeint —
dem Kleinbefitz überlegen sei, so hätte er folgerichtig auch in eine unparteiische
Würdigung der Zweige der landwirtschaftlichen Produktion eintreten müssen,
die wie allseitig anerkannt ist. besser von dem Kleinbetrieb gepflegt werden.
Das ist leider nicht geschehen. Die Bedeutung der Viehzucht, das „Vorrecht"
des Kleinbesitzes, um einen Ausdruck des Verfassers (vgl. Seite 310) zu ge¬
brauchen, der Geflügelzucht, des Obstbaues usw. wird durchaus nicht in das
gehörige Licht gestellt, wenn auch der Verfasser klug genug ist, sie nicht ganz
unerwähnt zu lassen. Daß er Wein-, Tabak- und Gemüsebau in der Nähe
der großen Städte, als Beispiele für die dem Kleinbesitz zukommenden
Produktionszweige anführt, entbehrt fast nicht eines ironischen Anklangst
Ich wiederhole: die ganze Methode, mit der der Herr Verfasser zu Werke geht,
ist verfehlt. Mit willkürlichen Annahmen und fragwürdigen theoretischen Berech¬
nungen läßt sich die Frage, ob der Großbetrieb oder der Kleinbetrieb volks¬
wirtschaftlich wichtiger sei, nicht beantworten. Die Antwort kann sich lediglich
auf die Erfahrung stützen. Nur genaue, tief in Einzelheiten hineingehende
Ermittlungen der Roherträge einer Anzahl von Gütern und der durch ihre
Aufteilung gebildeten Kolonien kann zu einem richtigen Ergebnis führen. Sehr
zweckmäßig ist es, nebenher auch noch benachbarte Betriebe, die ähnliche land¬
wirtschaftliche Verhältnisse aufweisen, zur Vergleichung heranzuziehen.
Dieser Aufgabe haben sich in der allerletzten Zeit die Herren Dr. Keup und Herr
Mührer in einer bei P. Parey, Berlin, erscheinenden Schrift unterzogen, die
den Titel führt „Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Groß- und Klein¬
betrieb in der Landwirtschaft" (eingeleitet von Prof. Dr. Auhagen in Berlin)
auf Grund von Erhebungen in Pommern und Brandenburg. Sie erfüllt die
zwei Hauptförderungen des Herrn von Chlapowski; denn sie ist von Landwirten
geschrieben, und sie behandelt die ganze Frage lediglich unter volkswirtschaftlichen
Gesichtspunkten (Seite 5). Sie stellt als Hauptfragen hin:
1. Welche Betriebsgröße ist in der Lage, unter sonst gleichen Bedingungen
dem Boden die höchsten Roherträge abzugewinnen, und
2. welche bringt die größte Menge von Produkten pro Flächeninhalt auf
den Markt und macht ihn dadurch unabhängiger vom Auslande?
Sie bespricht diese Fragen und andere damit in Verbindung stehenden
Dinge, wie Arbeitsverfassung, Bevölkerungsdichtigkeit usw. in sehr genauen und
die tatsächlichen Verhältnisse überall berücksichtigenden Ausführungen. Sie ver¬
gleicht insbesondere nicht nur das Rittergut vor seiner Aufteilung mit der
daraus gebildeten Kolonie, sondern zieht auch für jede Kolonie ein sogenanntes
Parallelgut aus der Umgegend zum Vergleich heran. Sie legt Wert auf das
Gesetz der großen Zahl und berücksichtigt hundertunddrei Kleinbetriebe (Seite 11)
und acht Großbetriebe. Sie benutzt für die Ergebnisse der früheren Güter eine
längere — im ungünstigsten Falle achtjährige — Buchführung. Sie sucht nicht
die schlechtesten der aufgeteilten Großbetriebe heraus (Seite 12), sie wählt aber,
wo der Weg der Methode zweifelhaft war (Seite 13) den dem Großbetriebe
günstigeren (vgl. S. 13, 23, 25. 61. 68, 70 u. n. in.). Sie läßt die Erträge
aus der Geflügelhaltung und dem Gartenbau, aus dem Obstbau und den nicht
feststellbaren Butterverkauf aus den Betrieben mit eigener Zentrifuge, außer
Betracht. Allem diesem steht nur die Nichtberücksichtigung der Jagd gegenüber,
deren Schätzung vielleicht zugunsten des Großbetriebes gelautet haben würde.
Auch bei den Darstellungen der einzelnen Kolonien kann man überall beobachten,
daß im Zweifel immer zugunsten des Großbetriebes gerechnet wird. Es ist
unmöglich, hier auch nur einen kurzen Auszug aus dem reichen Inhalt der
wertvollen Schrift zu bringen. Nur die Schlußfolgerung (Seite 150) möge hier
folgen: „Die Aufteilung von Großbetrieben, wie sie auf dem Wege der inneren
Kolonisation vorgenommen wird, bedeutet nicht allein national- und bevölkerungs¬
politisch, sondern auch unter dem Gesichtspunkte der Bodenprodüktivität und der
Versorgung des einheimischen Marktes mit Bodenerzeugnissen einen großen
Fortschritt."
Auf diese vorläufigen Mitteilungen muß ich mich beschränken, da mir erst
der erste Teil der Schrift zugänglich gewesen ist, und die genaue Durchsicht eine
längere Zeit in Anspruch nimmt. Es muß vorbehalten bleiben, sowohl das bereits
vorhandene als das in der obigen Schrift neu zutage tretende statistische Ma¬
terial demnächst zusammenzustellen. Vorerst kam es mir nur darauf an, auf
die durch diese Schrift andern vor Augen gestellte grundsätzliche Verschieben
der Chlapowskischen Ausführungen hinzuweisen.
Herr von Chlapowski hat durch seine auf den mangelhaftesten Grundlagen
beruhenden Jubelhymnen auf den Ertrag des Großgrundbesitzes allen der Land¬
wirtschaft feindlichen Mächten eine Waffe gegen die bestehende Zollpolitik in
die Hand gegeben. Trotz der Stumpfheit dieser Waffe werden jene Mächte
nicht verfehlen, reichlichen Gebrauch davon zu machen. Das wird der einzige
Erfolg sein, dessen sich der Verfasser wird rühmen können! In der Sache selbst
ist seine Arbeit für jeden Praktiker — wenn nicht ihrer Absicht, so doch ihrem
Erfolge nach — ein großer „Bluff". Man darf zuversichtlich hoffen, daß sich
der Preußische Landtag nicht verblüffen lassen wird.
es hatte den Pflanzer in Colombo kennen gelernt und war seiner
freundlichen Einladung auf seine Pflanzung — Estate, wie man
auf Ceylon sagt — gern gefolgt. Sein „Bangalo", ein weißes,
einstöckiges Haus mit weit vorspringendem Ziegeldach, erhob sich
reizend auf grünem Rasen, von Kokospalmen überschattet. Die
Landschaft umgab den anmutigen Platz wie ein großer Park, in dem Palmen
und indische Obstbäume die Baumgruppen darstellten, während als Rasenflächen
zwischen den Bergen lichtgrüne Reisfelderterrassen herabstiegen. Den Hinter¬
grund bildeten ringsum hohe Berge, deren sanftgewölbte Kuppen, von einzelnen
steileren Spitzen unterbrochen, duftig in den blauen Tropenhimmel hineinragten.
Der Pflanzer, ein schlanker Engländer von ritterlicher Art, hatte mich herzlich
empfangen, wir hatten beim gemütlichen Schein einer großen Hängelampe zu
Abend gegessen, und saßen nun auf den bequemen Stühlen der Veranda, Es
war unterdessen dunkel geworden, doch draußen auf den Rasenflächen flutete
Mondschein, in ihm erglitzerten die leise schwankenden Fiederkronen der Palmen,
und die Säulen der Veranda umzogen silberne Ränder, die sie plastisch hervor¬
treten ließen. Wir hatten uns in ein Gespräch über die Völker Ceylons vertieft,
die braunen, zartgebauten Singhalesen und die dunkelhäutigen, kräftigen Tannen,
welch letztere in Südindien zu Hause sind und in immer wachsender Zahl auf
die Insel kommen, wo sie als Pflanzungsarbeiter Verwendung finden. Ich
sagte meinem Gastfreund, daß mir beide Völker sehr gefielen, daß ich mich aber
zu den alteingesessenen Singhalesen mehr hingezogen fühlte. Die Erklärung
gäbe da wohl die alte Blutsverwandtschaft, die uns Europäer mit diesem arischen
Volke verbände, das ja auf Ceylon schon sogar prächtige Städte und Tempel
erbaut hätte, als unsere Vorfahren noch in Hütten wohnten. Den Pflanzer
schien meine Sympathie für die Singhalesen zu freuen, wir wurden wärmer,
kamen auf das Gebiet der großen Völkerfragen, sprachen von Rassenstolz und
Rassenvorurteil, und endlich sagte er mir, er hätte eine Geschichte auf dem
Herzen, die er erlebt hätte, und die er gerade mir gern erzählen würde, um
mein Urteil zu hören. Ich stimmte freudig zu, er lehnte sich in seinen Stuhl
zurück und, während draußen Grillen und Zitaten schrillten und die Stimmen
unzähliger Frösche wie kleine olecherne Schellen dazwischenklangen, begann er:
„Ich habe dieses Estate bald fünfzehn Jahre. Meine erste Pflanzung, die
ich als blutjunger Mensch erwarb, lag im Südwestteil von Ceylon, mehrere
Stunden Wagenfahrt von Galle landeinwärts. Sie war nicht groß und trug
ausschließlich Kokospalmen, etwa zwölfhundert an der Zahl. Da jede Palme,
wie Sie wohl wissen, einen Wert von etwa 140 Mark darstellt, hatte ich mein
Auskommen. Eher hätte ich eine andere Eigenschaft des Estates als Nachteil
empfinden können. Die Pflanzung lag sehr fern von der Kultur. An einer
Seite zog der breite Gintotafluß vorüber, an allen anderen war sie von
freiem Urwald umgeben. Aber als Naturfreund, der ich schon damals war,
tröstete ich mich. Ich ward nie müde, den munteren Sprüngen der Affen zu¬
zusehen, dem schnellen Flug der Papageien mit den Augen zu folgen und die
großen Raubvögel, die in der blauen Luft kreisten, zu bewundern. Auf dem
anderen Ufer des Flusses war Steppe, da standen stets Scharen von Silber¬
reihern und es sah aus, als ob die Gräser sich mit Lilien geschmückt hätten.
Von Raubtieren gab es außer Leoparden und Schakalen, die im Walde genug
Nahrung hatten und mich nie belästigten, Krokodile im Flusse. Ich habe
mehrere geschossen, zum Teil acht Meter lange Exemplare. Sie haben die
Häute in meinem Zimmer natürlich schon längst bemerkt und die Art bestimmt."
„Lrocoäilus porosus, das Leistenkrokodil," sagte ich.
„Hier nennt man es nur das Flußkrokodil zum Unterschiede vom kleineren,
harmlosen Teichkrokodil. Am Gintota habe ich nicht von vielen Unglücksfällen
gehört, immerhin aber doch von einigen, die mir bewiesen, daß das Flußkrokodil
nachts und bei günstiger Gelegenheit sich an einem Menschen wohl zu vergreifen
wagt. Ich sah nicht selten die mächtigen Tiere im Strom dahinziehen, wenn
ich auf dem Wege schritt, der die einzige Verbindung meines Estates mit an¬
deren Menschen bedeutete. Es war eine schöne Wanderung. Auf der einen
Seite der breite, ruhig fließende Strom, auf der anderen der Urwald mit
Gebüsch und Lianengewirre, an dem zahllose Schmetterlinge entlang flogen.
Der Weg bog nach etwa einer Stunde vom Flusse ab und mündete in
eine breite Straße, die nach Galle führte. Hier lag ein Dorf, das nur von
Singhalesen, und zwar sehr reinblütigen bewohnt war, wie es in der ganzen
Südwestecke von Ceylon der Fall ist. Malerisch breitete sich das Dorf unter
Kokospalmen. Mango- und Brotfruchtbäumen aus, durch deren Kronen das
Sonnenlicht auf die strohgedeckten Hütten fiel und auf den Boden der Straße,
der wie im ganzen Tiefland von Ceylon, in festlichem Rot prangte. Ich war
häufig im Dorfe, denn etwas Unterhaltung mußte ich in meiner Einsamkeit
haben und das Singhalesische sprach ich bald wie ein Eingeborener.
Unter den Leuten des Dorfes war ein junger Mann, mit dem ich am
liebsten verkehrte. Er gehörte der ersten Kaste an und trug mit Ansehen den
Krummkamm im Haar, das er hinten zu einem Knoten aufgebunden hatte.
Die weiße Jacke und das um die Hüften gelegte, gelbrote Rocktuch umkleideten
eine schöne Gestalt. Die unten hervorschauenden Füße waren wie die Hände
aristokratisch geformt. Edel war auch das Gesicht mit der leicht gebogenen
Nase und den dunklen Augen, und nach der Ansicht seiner Landsleute war
Widschaja auch dem Blute nach von vornehmer Herkunft. Er sollte von irgend¬
einer Seitenlinie des „Großen Geschlechtes" abstammen, dessen Hauptstamm
dreihundert Jahre nach Christus erlosch; dieser hatte acht Jahrhunderte Ceylon
Könige gegeben, deren Namen die Blütezeit des Singhalesenreiches bezeichnen.
Der stolze Vater — die Mutter starb bald nach der Geburt ihres einzigen
Kindes — hatte seinem Sohne den Namen des Begründers dieses Geschlechtes,
des Eroberers und ersten Königs der Insel gegeben.
Widschaja genoß im Dorf ungewöhnliches Ansehen. Er konnte alles von
den Leuten verlangen. Sie halfen ihm bei der Bestellung seiner Reisfelder, sie
kletterten für ihn auf die Kokospalmen, um die reifen Nüsse herunterzuholen. Das
Leben wurde ihm so sehr erleichtert, daß seine Charakterentwicklung darunter leiden
mußte. Widschaja gewöhnte sich daran, allen seinen Wünschen nachzugeben und,
wo es nur anging, andere für sich schaffen zu lassen. Aber sein Herz blieb gut,
und ein schöner Drang nach Höherbildung entwickelte sich in ihm immer mehr.
Darum schloß er sich an mich — wir waren beide fast gleichalterig — mit
wachsenderZuneigung an. Mir gegenüber war er nicht derKönigssproß, ichstand ihm
aber auch nicht höher, als er. sondern war für ihn einfach ein Wesen, das außerhalb
aller singhalesischen Kasten sich befand und daher ganz anders betrachtet werden
mußte. So denken übrigens alle gebildeten Singhalesen von den Europäern.
Widschaja besuchte mich oft. Er hatte englisch gelernt und las gern meine
Bücher. Wir unterhielten uns aber immer singhalesisch. Mancher würde sich
gewundert haben, wenn er uns gesehen hätte, wie wir am Flusse in lebhaftem
Gespräch entlang schritten, ich meine kurze Pfeife im Mund, er Betel kauend
und von Zeit zu Zeit den ziegelrot gefärbten Speichel auf den Boden spuckend.
Das Dorf an der Straße war aber nicht die einzige menschliche Ansiedelung
in meiner Nähe. Wenn ich vorhin sagte, daß meine Pflanzung nur urwüchsiger
Urwald umgab, so war das insofern nicht ganz richtig, als auch in diesem
Urwald eine Hütte stand. Gerade hinter meinen letzten Kokospalmen begann
ein schmaler Fußpfad, der in mannigfachen Windungen sich in den Wald hin-
einschlängelte. An seinen, Ende weidete sich eine Lichtung und hier wuchs eine
armselige Hütte aus dem Boden, umgeben von einigen Gemüsebeeten, Bananen
und Baummelonen. Das ganze machte einen weltverlorenen Eindruck, wie der
letzte Schlupfwinkel von Menschen, die sich vor den anderen fürchten und sie
um jeden Preis meiden müssen. Und es waren wirklich solche Unglückliche,
die hier wohnten. Eine Rodiafamilie hatte ihre Hütte an dieser weltfernen
Stelle errichtet. , / .
Sie werden bereits von den Rodias ^ gehört haben. Es ist die niederste
n»d von allen Singhalesen einmütig verachtete Kaste. Rodia heißt der Unreine
von Roda^ Schmutz. Vor der englischen Herrschaft hatten die Rodias ein
furchtbares Schicksal. Sie mußten abseits von der Straße wohnen, ihre Frauen
durften die Brust nicht verhüllen, ihre Gärten mußten verwildern, ihre Hütten
durften nur den einfachsten Bau zeigen, Hausgerät war ihnen verwehrt. Die
Rodias durften nur am äußersten Rande der Straße gehen und, nahte ein
anderer Singhalese, so hatten sie sofort vom Wege herunterzulaufen und sich
abseits auf den Boden zu werfen, war es auch mitten im sumpfigen Reisfeld
oder im stachelichten Busch. Als sich einmal in der Nähe von Kanoy die
Rodias stark vermehrt hatten, beklagten sich die umwohnenden Singhalesen über
den zu häufigen, lästigen Anblick; darauf ließ der König von Kandy einfach
einige abschießen. Vor dem englischen Gesetz gibt es nun zwar keine Kasten¬
unterschiede mehr, die Verachtung der Rodias aber ist geblieben, und besonders
in abgelegeneren Gegenden würde es noch heute kein Rodia wagen, auf der
Straße zu bleiben, wenn ein anderer Singhalese ihm begegnet.
Die Rodias wohnen in besonderen Dörfern zusammen. Ich habe nie er¬
fahren können, warum jene Familie ihren Heimatsort verlassen und noch tiefere
Einsamkeit aufgesucht hatte. Denn weiter abseits von den Menschen konnten
sie nicht leben. Man wußte zwar im Dorf von ihrer Anwesenheit, aber man
sah sie niemals. Nur ich erblickte hin und wieder in der Nacht, wenn ich das
Freie aufsuchte, um die nächtliche Tierwelt zu beobachten, eine dunkle Gestalt,
die an meiner Pflanzung vorbeischwebte und am Flußufer verschwand. Bald
hatte ich den Grund heraus. Die Einsamen hatten in ihrem Urwald kein
Wasser und mußten dieses vom Gintota holen. An meiner Pflanzung war das
Ufer steil und hoch, einige Schritte aber auf dem Wege zum Dorf gab es eine
Bachmündung, in der man bis an das Wasser herankonnte.
Sie werden sich denken können, daß die Neugier mich trieb, auch diese
Nachbarn kennen zu lernen. Aber die Rodias waren scheu, wie die Tiere des
Waldes. Sie verließen nur nachts ihren Schlupfwinkel. Versuchte ich dann,
einer der Gestalten nachzugehen, so war sie plötzlich verschwunden. Einigemal
auch gedachte ich. die Rodias in ihrer Behausung zu begrüßen. Aber sie mußten
mein Kommen immer gemerkt haben, denn trat ich auf die Lichtung, so war
kein Mensch zu sehen, vor den Eingang der Hütte waren Bretter gestellt, die
hierzulande die Türen vertreten, und, mochten die Armen nun in den Wald
geflohen sein oder in ihrer Hütte kauern, den Eintritt erzwingen wollte
ich nicht.
Allmählich gewöhnte ich mich an die geheimnisvollen Nachbarn und achtete
nicht mehr auf die nächtlichen Schatten, wenn ich sie vorbeihuschen sah. Sprach
ich einmal mit Widschaja von den Rodias, so brach er schnell ab. „Herr,"
sagte er dann — er behielt, wenn er mich anredete, das englische „Sir" im
singhalesischen bei — „nenne mir diesen Namen nicht. Für mein Volk sind die
Bewohner deines Waldes unrein und es ziemt sich nach unseren Sitten nicht,
auch nur in Gedanken mit ihnen in Berührung zu treten."
Einst an einem Abend saß ich in meinem Zimmer. Durch die überall
offenen Türen kam ein leichter Luftzug vom nahen Flusse herein. Die Lampe
beleuchtete den großen und doch gemütlichen Raum und das Buch, in dem ich
las. Es war mein Lieblingswerk, Dantes Divina Comedia. Wie immer,
wenn ich dieses Buch aufschlug, so trieb es mich auch jetzt zuerst zu jenen
wunderbaren Worten Francescas da Rimini:
Eine Bewegung ließ mich aufschauen. Mit den Gedanken noch bei Dante,
glaubte ich eine Erscheinung zu sehen. Der Türrahmen umschloß ein Bild von
wunderbarer Schönheit. Das Licht der Lampe goß seinen Schein auf einen
Mann, der seinen Blick gesenkt hatte auf eine Gestalt, die er in den Armen
hielt. Es war ein menschlicher Körper, frei von jeder Hülle, der wunderbar
geformte Leib eines jungen Weibes. Das glänzend schwarze Haar floß auf
den Boden, die langen Wimpern der geschlossenen Augen lagen wie ein duftiger
Schleier auf den Wangen. Der eine Arm war heruntergesunken, der andere
ruhte zur Seite der jugendlich schwellenden Brust und der schlanken Hüfte.
Jetzt erkannte ich meinen singhalesischen Freund.' „Widschaja", rief ich, und
langsam trat er vor, ohne den Blick von seiner süßen Last zu wenden. Dann
legte er den Körper auf das Sofa und, wie plötzlich erwachend, wandte er
sich zu mir.
, „Schnell, Herr, hilf, sie ist nicht tot, nur ohnmächtig." Ich stürzte in mein
Schlafzimmer, riß eine Flasche Kölnisch Wasser vom Brett und eilte zurück, um
am Sofa niederzuknien und dem Mädchen Stirn und Schläfen zu reiben.
Widschaja half. Und unterdessen erzählte er mir in fliegenden Worten sein
Erlebnis.
Er war vom Dorf aufgebrochen, um noch ein Stündchen mit mir zu ver¬
plaudern. „Als ich die Hälfte des Weges am Flusse hinter mir hatte, stand
plötzlich dicht vor mir eine Gestalt, ein junges Weib. Ein Schrei klang mir
entgegen, sie sprang zur Seite, verschwand hinter der Böschung. Ich stürzte
vor, sah sie im seichten Uferwasser kauern, die Arme gegen mich erhoben.
Plötzlich hinter ihr in der helleren, den Himmel widerspiegelnden Flut eine
glitzernde Furche. Sie kam schnell näher. Ein Krokodil! Ich sprang, rutschte,
hinunter, ergriff einen Arm, riß das Weib ans Land. Es war keinen Augen¬
blick zu früh, ein Klappen und Reißen hinten, das Krokodil hatte, nach der
Beute schnappend, das Gewand des Mädchens gefaßt, ihm vom Leibe gerissen.
Sie war ohnmächtig, lag am Boden. Ich nahm sie auf und brachte sie zu dir:"
Der sonst so ruhige Singhalese war in furchtbarer Aufregung. Ein schwerer
Kampf mußte in seinem Innern wüten. Er hätte in schnellem Triebe gehandelt,
fast ohne Bewußtsein. Nun sah er dunkle Folgen näher kommen. Aber er
konnte von dem schönen Anblick nicht los, unverwandt blickte er auf das junge
Weib, dessen braune Haut von dem neu pulsierenden Blut allmählich einen
lieblich rötlichen Schimmer erhielt. Jetzt eine Bewegung der Arme und die
Augen öffneten sich.
Zwei Sterne sahen uns entgegen, ließen den Blick im Zimmer wandern
und blieben endlich auf uns haften. Die Augen belebten, vergrößerten sich,
wurden wilder und wilder, Entsetzen sprühte aus ihnen. Plötzlich richtete sich
der Körper auf, die Hand streckte sich nach uns, die Brust wogte und dann ein
gellender Schrei von ihren Lippen: „Unrein!"
Widschaja fuhr zurück, in demselben Augenblick aber kniete er auch schon
ein ihrem Lager und sagte: „Ich aHute es, ich wußte es, ich lasse dich nicht!"
Und seine Arme schlang er um ihren Hals. Noch suchte sie gegen ihn zu ringen,
aber er umfaßte sie fester und fester, er flüsterte auf sie ein, sie schien sich zu
ergeben. Es wurde still am Lager, nur leise Worte klangen zu mir herüber.
Da wandte ich mich und ging aus dem Zimmer.
Eine halbe Stunde mochte ich auf und ab geschritten sein, da trat Widschaja
heraus. „Herr," sagte er, „sie ist eine Rodia, und ich bin unrein vor meinem
Volk. Ich war es schon, als ich am Flusse ihren Arm ergriff. Ich sah das
Krokodil und den nahen Tod und mußte retten. Das alles ging schneller als
meine Überlegung. Was nachher kam, hat die Dinge nicht verschärft. Ich
bitte dich nun, lasse mich mit ihr allein in deinem Garten. Suche du ruhig
dein Zimmer auf und sieh nicht nach uns. Und willst du, so geh morgen zu
meinem Volk und meinem Vater. Sprich mit ihnen, was dein Herz dir eingibt.
Ich kann nichts sagen. Es gibt hier kein Gut noch Böse. Das Schicksal war
es. Ich warte, wie es sich erfüllt." -
. Ich konnte nichts erwidern, drückte ihm die Hand und sah ihn sich zwischen
den Büschen entfernen. Dann ging ich in mein Zimmer. Aber der Schlaf floh
mein Auge.
Als am nächsten Morgen die ersten Strahlen der Sonne ins Zimmer fielen,
stand ich auf und machte mich bereit, den schweren Weg zu gehen. Langsam
schritt ich am Flusse entlang. An einer Stelle blieb ich stehen. Die Flu߬
böschung hatte einen Riß, das Erdreich war abgestürzt, frische Spuren zeigten
sich unten im Sande. Hier war es, wo die Rodia, treu dem harten Gesetz
ihres Stammes, vor dem Entgegenkommenden die Straße räumen wollte, hin¬
unterglitt und dem Krokodil aus dem Rachen gerissen wurde. Nach rechts
konnte sie nicht weichen, da stand mit Ast- und Lianengewirre, mit Ranken und
Dornen wie eine Mauer der Urwald. Sinnend schritt ich weiter, nur über--
legend, was ich für den Freund sagen konnte. Aber ich vermochte nichts zu
finden, was mir erfolgreich geschienen und das Herz erleichtert hätte. ,
' Der Weg weidete sich, die ersten Hütten tauchten zwischen den Bäumen auf.
Ich bog in die Hauptstraße ein, zu deren Seiten die Häuser sich erhoben, von
Palmen und Obstbäumen licht beschattet. Vor den Auslagen der Händler
standen die Leute, um ihre Einkäufe zu Machen, andere begegneten mir auf der
Straße und grüßten mich, die Hand an der Stirn.
Nun stand ich vor meinem Ziel, Widschajas Elternhaus. Schon von
weitem hatte ich den Vater meines singhalesischen Freundes erkannt. Er schien
nicht wohl zu sein, denn er lag auf seinem Mattengestell, das er sich unter das
vorspringende Dach hatte herauftragen lassen. Als er mich kommen sah. erhob
sich der Mann, eine hohe Gestalt mit schönem schwarzem Bart, der weit über
die bloße Brust herabwallte. Erstaunt blickte er mich an, den er ohne seinen
Sohn herantreten sah.
„Dein Sohn läßt dich grüßen," fing ich an, „er kann heute nicht zu dir
kommen. Ein Ereignis hat in sein Leben eingegriffen. Er will noch in der
Stille nachsinnen, ob er den Folgen begegnen oder sie auf sich nehmen soll.
Auch du sollst deine Ansicht sagen, darum bin ich gekommen."
Er wurde unruhig. „Was ist mit meinem Sohne, was konnte ihm zu¬
stoßen, er ist doch gesund?"
„Er ist gesund," antwortete ich. „aber nach euren Begriffen ist das, was
ihn getroffen hat. nicht weniger schlimm, als Krankheit."
Seine Augen weideten sich, doch ich sah, wie er seine Aufregung meisterte.
Ich begann zu erzählen. Wie ich aber an die Begegnung mit dem Mädchen
kam, an ihr Zurseiteweichen und ihre Rettung, stieg ihm das Blut zu Kopf.
Sein Gesicht wurde ganz dunkel, stiere Augen sahen mich an. Und als ich schloß:
„Aus gutem Herzen hat er einen Menschen gerettet, die Tat bleibt edel, trotz¬
dem es eine Rodia ist," da sprang er auf, ballte die Fäuste, schrie: „Unrein,
unrein, mein Sohn unrein," und sank zusammen, schluchzte und stöhnte.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach beruhigend auf ihn
ein, denn bereits begann sich Volk um uns zu sammeln. Er hörte lange nichts,
plötzlich aber blickte er auf, sah die Leute stehen, sprang wie ein Rasender in
die Höhe und schrie ihnen ins Gesicht: „Widschaja, euer Königssproß ist
Schmutz, verächtlicher als der Straßenkot. Ein Rodia ist er geworden."
Da wurde das Murmeln der Dorfbewohner zum Schreien, sie fochten mit
den Armen und drängten sich an den Alten. Immer mehr kamen herbei, die
Menge schob sich zwischen mich und ihn. Aus dem Getümmel heraus hörte
ich die vor wildem Schmerz fast unkenntliche Stimme des Alten.
Bald wußten sie alles, und Wut und Haß las ich auf den Gesichtern, die
jetzt in der Leidenschaft denen wilder Indianer glichen. Ich suchte zu dämmen,
zu retten, sie hörten nicht. Endlich brach meine Stimme durch: „Es war doch
gut, die fast Verlorene zu retten, habt ihr denn kein Herz?"
Heftiges Durcheinanderschreien tönte mir entgegen. „Unreines darf man
nicht berühren", „der Tod einer Rodia ist kein Unglück", „ist für sie selbst
Erlösung", „wenn sie in ihrem Leben ihre Seele geläutert hätte, wäre ihr nach
dem Tode Wiedergeburt in höherer Kaste zuteil geworden", „Widschaja hat sie
ins Elend zurückgestoßen durch seine Rettung."
„Aber er wußte doch nicht, daß sie eine Rodia war", hielt ich ihnen
entgegen.
„Er mußte es wissen", „niemand anders konnte ihm zu jener Stunde an
der Stelle begegnen", „schon an ihrem Ausweichen hätte er ihren Stand erkennen
müssen", „er folgte nur seinem Triebel"
Jetzt erhob sich der Alte wieder. Mit hohler Stimme sprach er: „Widschaja
ist ein Rodia. Ich habe keinen Sohn. Aber verflucht sie, die ihn verführt!
Verflucht, verflucht! Unglück soll sie haben und hervorrufen, wo ihr Fuß hin¬
tritt. Und verflucht seien ihre Kinder! Auch sie sollen nur verführen und
überall Unheil stiften. Flüche von Generationen sollen sich der Rodia und
ihren Sprossen an die Fersen heften!"
Da verlor ich die Geduld. Ich sprang vor, riß die vor mir Stehenden
auseinander, hielt ihm die Fäuste vor das Gesicht und schrie ihn an: „Wie
kannst du dein eigenes Blut verfluchen? Bist du denn ein Stein? Eure Kasten
sind doch nur Menschenwerk! Setze dich über sie hinweg, wenn es einen so
edlen Menschen gilt und noch dazu deinen Sohn!"
Er sah mich mit kalter Ruhe an, aber Haß spiegelte sich in seinem Blick.
„Die Kasten sind seit Jahrtausenden in unserem Volk. Woher sie kommen,
wissen wir nicht. Aber viele Millionen sind ihren Satzungen gefolgt, und ein
einzelner ist zu gering, umzustoßen, was große Völker seit Anfang für gut
gehalten haben. Und ihr Engländer, denkt ihr denn anders? Ich weiß sehr
wohl, daß jeder aus euerer Gesellschaft ausgestoßen wird, der eine von uns zu
eigen nimmt. Ihr habt recht. Wir wollen nichts anderes. Wer seinen Stamm
nicht achtet und rein hält, geht verloren."
Er wandte sich und ging in das Haus. Die anderen zerstreuten sich. Ich
stand allein auf der Straße.
Da ging ich in schweren Gedanken heim.
Am Flusse, bei den ersten Kokospalmen meiner Pflanzung, kamen mir
Widschaja und die Rodia entgegen. Das Herz wurde mir warm und ich vergaß
all das Traurige, als ich dieses herrliche Menschenpaar sah. Wie aus dem
Paradiese waren sie. Widschaja hatte sein Rocktuch dem Mädchen gegeben und
seine Jacke sich um die Hüften geschlungen. Sein edler Körper glich dem einer
Statue. Die Rodia hatte das Tuch um den Leib gelegt und dann über die
Schulter geworfen. Ihr Wuchs war wie der einer Göttin. Unter dem gescheitelten
Haar schaute das lieblichste Antlitz hervor, mit zwei Augen gleich tiefen Seen,
in die man kein Ende findet, hineinzublicken.
Widschaja trat auf mich zu. „Ich sehe in deinen Augen." sagte er, „die
Bestätigung dessen, was ich von Anfang an gewußt habe. Sie verstoßen mich,
ich bin der Sohn meines Vaters nicht weiter. Ein Verachteter mehr. Ich
will nicht wissen, was sie sagten. Ich lösche sie alle aus meinem Gedächtnis.
Fortan gibt es für mich nur ein Licht, das mein Leben erleuchtet, nur ein
Herz, dem meines entgegenschlägt. Du hast mir ja vom Magnet erzählt, der
Stahl und Eisen festhält, wenn es ihn nur berührt. So taten unsere Körper
und wollen nun nicht mehr voneinander lassen."
Er legte dem Mädchen die Hand auf den Scheitel und fuhr fort:
„Ich habe sie Kuweni genannt. Der Held, dessen Namen ich trage,
eroberte diese Insel mit Hilfe einer Zauberin, die den Namen führte. Jene
Königin entstammte den verachteten Eingeborenen der Insel, die von den
erobernden Kriegern meines Volkes unterworfen wurden. Wie das Schicksal
des ersten Widschaja eine Verachtete wurde, so ist es auch das meine. Und
ich murre nicht."
Mich ergriffen seine Worte, die er mit ernster Stimme sprach.
„Liebe, die alles andre macht vergessen,
Entflammte ihn, als er mich kaum geseh'n,
Die Schönheit siegte..
Die Worte Dantes, die ich an jenem Abend gelesen, waren wie die Über¬
schrift des Kommenden gewesen.
„Willst du nicht bei mir wohnen, Widschaja," fragte ich und ergriff seine
Hand. „In meiner Pflanzung findest du Platz und Arbeit genug. Und ich
werde mich freuen über dich und deine Kuweni."
Mit warmem Blick sah er mich an. „Es tut mir wohl, daß du mich
nicht ausgibst. Aber auch bei dir kann ich nicht wohnen. Du hast Diener
meines Volkes und brauchst sie. Sie würden nicht in meiner Nähe weilen
wollen, sie würden mich aus der Ferne beschimpfen und dann dich verlassen.
Verachtung ertrage ich nicht. Freiwillig will ich auf meinen Stand verzichten
und die Folgen auf mich nehmen."
Er zog sich den Kamm aus dem Haar, warf ihn auf den Boden und
zertrat ihn. Dann schlang er den Arm um das sich an ihn schmiegende Mädchen
und schritt mit ihm dem Urwald zu.
Widschaja ging zu den Rodias.
(Schluß folgt)
Randglossen zur Heeresvorlagc. „Die
anfänglich frohe Stimmung, die der Plan
der großen Wehrvorlage des Jubiläums¬
jahres erweckte, hat sich fast beängstigend
schnell vermindert . . ,", Die Kreuzzeitung,
die diese Worte in ihrer Nummer 189 vom
6. April schreibt, gibt damit zweifellos eine
zutreffende Beobachtung wieder. Sie will
die „Parteipolitischen Auseinandersetzungen
über die Deckungsfragen" für den Nieder¬
gang der Stimmung allein verantwortlich
machen. Sollte sie damit nicht eine bei den
Rechtsparteien herrschende Abneigung gegen
gewisse Deckungsvorlagen verallgemeinern?
ES scheint mir nicht zuzutreffen, wenn das
Blatt eine bedenkliche Stimmung lediglich
bei der „gesamten demokratischen und auch
schon einem Teil der liberalen Presse" fest¬
gestellt hat, uni dann verallgemeinernd fort¬
fahren zu können: „Es werden Zweifel laut,
ob denn die geforderte Verstärkung unserer
Wehrkraft tatsächlich nationale Notwendigkeit
ist. Die Erscheinungen der aktuellen aus¬
wärtigen Politik werden unter diesem Ge¬
sichtswinkel betrachtet, und die momentane
Erhellung des vor kurzem noch und vielleicht
bald wieder schwarzbevölkten politischen Him¬
mels nutzt man als Argument gegen die
Wehrvorlage. Noch vor wenigen Wochen
war man im ganzen nationalen Bürgertum
ernst durchdrungen von dem Bewußtsein, daß
unsere Wehrkraft baldigst auf das äußerste
Höchstmaß der Leistungsfähigkeit gebracht
werden müsse . . . Jetzt wird die gewiß
magere Begründung der Wehrvorlage durch
die Regierung auf ihre Zulänglichkeit unter¬
sucht und nicht recht für stichhaltig erachtet."
Die Kreuzzeitung verschweigt eins: die
völlige Kenntnis der Regierungsvorlage for¬
dert nicht nur die Kritik der Liberalen und
Demokraten heraus, sondern auch weit rechts
stehender Männer, die die Kreuzzeitung nicht
wagen würde mangelnden nationalen Ver¬
antwortungsgefühls zu zeihen.
So erscheint denn die Haltung des deutsch¬
konservativen Blattes auf den ersten Blick
als eigentümlich und man könnte auf mangel¬
hafte Information über die wahre Stim¬
mung schließen, wenn nicht die Deutsche
Tageszeitung zusammen mit der Kölnischen
Bolkszeitung den Kommentar zu den Aus¬
führungen der Kreuzzeitung geliefert hätten.
In der Deutschen Tageszeitung heißt es
nämlich am 6. April: „Einstweilen kann er
(der Beschluß einer Reichserbschafts- oder
Vermögenssteuer) ebensogut dahin aufgefaßt
werden, daß die Nationalliberalen der Re¬
gierung die Verantwortung für die Gestaltung
der Besitzsteuer überlassen wollen; wie auch
dahin, daß sie wirklich entschlossen seien, Arm
in Arm mit der Sozialdemokratie, die am
heutigen Sonntage in 61 Massenversammlungen
in Groß-Berlin gegen die Wehrhaftmachung
des Reiches protestiert, vor der Regierung
den Geßlerhut einer direkten Neichsbesitz-
steuer nach den Wünschen der Linken auf¬
zurichten. Die Nationalliberalen stehen jetzt
am Scheidewege; aber diesmal handelt es
sich nicht nur um Steuersragen an sich, son¬
dern darum, in einer kritischen Lage für die
Sicherheit des Reiches zu sorgen. Unter
diesen Umständen wird man doch kaum
glauben können, daß die nationalliberale
Partei eine Haltung einnehmen werde, die
nicht nur Beschaffung der nötigen Mittel für
die Wehrkraft des Reiches in bedenklicher
Weise verzögern, sondern ganz in Frage
stellen und die Nation inmitten einer un¬
sicheren europäischen Lage in neue innere
Wirren hineintreiben müßte."
Noch deutlicher tritt die gekennzeichnete
Tendenz im Leitartikel der Kölnischen Volks¬
zeitung Ur. 294: „Wie wird's werden?" zutage:
„Im Freisinn, heißt es da, spekuliert man
jetzt schon auf Parteischachergeschäfte auch bei
dieser Gelegenheit. Darum stichelt und bohrt
und treibt die freisinnige Presse bei den Na¬
tionalliberalen, daß sie den alten Zank¬
apfel der Erbschaftssteuer auch jetzt
wieder unter die Parteien werfen und lieber
das ganze Werk der Heeresvermehrung schei¬
tern lassen sollen, als daß sie auf diese Partei¬
forderung in: Interesse des Vaterlandes ver¬
zichten, welches die möglichst schnelle und
möglichst einige Verabschiedung der Vorlage
fordert..."
„Für den Augenblick wird die Frage:
.Wie wird's werden?' zunächst sich an die
Nationalliberalen wenden. Die National¬
liberalen können die Genugtuung empfinden,
daß bei diesem großen nationalen Werk alles
von ihnen abhängt. Bei dieser Genugtuung
liegt allerdings auch die riesengroße Ver¬
antwortung für die nationalliberale
Fraktion, daß eventuell das ganze
Werk scheitern und in einer inner¬
politischen Krise von unabsehbaren
Folgen untergehen kann, oder doch um
lange Monate verschleppt würde zum Schaden
für das Vaterland und das deutsche Ansehen.
Wenn den Parteipolitischen Forderungen im
Sinne des Freisinns gefolgt und die Erb-
chaftssteuer wieder als Zankapfel in die Be¬
ratungen hineingeworfen würde, dann trügen
vor allem die Nationalliberalen die Verant¬
wortung für alle Folgen in der inneren und
äußeren Politik."
Die Nativnalliberalen haben auf die
Drohungen der Rechten bereits durch den
Mut ihres Führers Wassermann geantwortet.
Der führte nämlich am Sonnabend in Han¬
nover aus, der Standpunkt der nationallibe¬
ralen Partei sei der, „daß sie die Ein¬
führung einer ungemeinen Besitz¬
steuer, einer Reichsvermögens- oder
Reichserbschaftssteuer nach wie vor
als eine Notwendigkeit betrachtet."
Wen wird nun die Schuld treffen, wenn
die Heeresvorlage wegen der bei der Deckungs¬
frage eintretenden Schwierigkeiten nicht zu¬
stande kommen sollte?
Ich kann nur nicht recht vorstellen, daß
die deutsch-konservative Partei lediglich aus
Scheu vor einer bestimmten Steuerart, so
sehr diese auch ihren Anschauungen zuwider
laufen mag, das Odium auf sich nehmen
wird, eine Heeresvorlage zu Fall zu bringen,
ja auch nur ihre Durchführung zu ver¬
schleppen, von der selbst das Berliner Tage¬
blatt sagt: „Kein Baterlandsfreund verlangt
eine glatte Ablehnung. Niemand ein für die
erhöhte Kriegsbereitschaft verstümmelndes
Streichen der Forderungen." Im übrigen
zeigt schon dieses Zitat, wie unberechtigt die
Verallgemeinerung der Kreuzzeitung bei An¬
gabe der Gründe für den Niedergang der
Stimmung ist.
Wenn die gehobene Stimmung bei Be¬
kanntwerden der Regierungspläne tatsächlich
einer ruhigeren, nachdenklicheren gewichen ist,
so sind daran die Parteistreitigkeiten nicht
Schuld, sondern Überlegungen sachlicher Natur.
Die Streichungsvorschläge des Herrn Major
Morals im Berliner Tageblatt kann ich natür¬
lich nicht unter die sachlichen Vorschläge rechnen.
Das find offensichtliche Konzessionen an die
demokratischen Tendenzen in der Redaktion
des Blattes, soweit es sich um die fort¬
dauernden Ausgaben 1—24 handelt, und
kaum ernst zu nehmende „Ersparnisvorschlnge"
bei den einmaligen Ausgaben. Herr Morals
will rund 75 Millionen Mark allein dadurch
sparen, daß er die Mannschaften und Pferde
statt in Kasernen in Wellblechbaracken be¬
ziehungsweise in Mietsräumen unterbringt.
Nun, wer einmal einige Wochen oder gar
Jahre in der von Herrn Morals empfohlenen
Weise untergebracht war, wird den Vorschlag
richtig einschätzen: der größte Teil der „Er¬
sparnis" ginge drauf durch erhöhten Verschleiß
an Mannschaften, Pferden und Material in¬
folge von Krankheiten und Verletzungen, —
von der Beeinträchtigung der Dienstfreudig¬
keit und des Dienstes und der Ausbildung
gar nicbt zu sprechen. Die anderen „Er¬
sparnisvorschläge" tragen so sehr den Stempel
kleinlicher Stichelei gegen die Monarchen,
daß man ihre Bedeutungslosigkeit kaum zu
widerlegen braucht. — Immerhin ist die
Veröffentlichung solcher „Ersparnisvorschläge"
besonders deshalb zu bedauern, weil sie von
einem preußischen Stabsoffizier a. D. aus¬
gehen und dadurch den Anschein erwecken, als
stellten sie lediglich die Wiedergabe von
Wünschen aus der Armee selbst dar und ver¬
dienten darum besonderer Beachtung. In
Wirklichkeit kann davon nicht die Rede sein
und das Publikum wird lediglich von den
Hauptpunkten abgelenkt, an denen die ernste
Kritik anzusetzen hätte.
Von den einunddreißigErsparnisvorschlägen
Moraths weisen nur drei, nämlich die Punkte
10, 14, 15 auf Wunde Stellen in unserer
Armee hin. Punkt 10 führt auf die soziale
Seite der Vermehrung der Offizierstellen um
4000 und auf die Frage des Unteroffizier-
ersatzes hin; Punkt 14 und 15 betreffen den
Luxus vielartiger Uniformen und deren Gar¬
nierung mit allen möglichen Abzeichen. Es
wäre sehr wünschenswert, wenn Sachkenner
diese Frage im Reichstage einer eingehenden
Prüfung unterziehen wollten und wenn ins¬
besondere die Frage des Offizier- und Unter¬
offizierersatzes, bei der Ausbildung und späteren
Versorgung genau untersucht würde. Mir
scheint es nunmehr an der Zeit, das; der
Reichstag vom Kriegsministerium eine Denk¬
schrift einforderte, die ein genaues Bild gäbe
von der sozialen und wirtschaftlichen Lage
der Offiziere und Unteroffiziere nebst Vor¬
schlägen darüber, welche Mittel zu ergreifen
wären, uni die vielen Tausende von Offizieren,
die vorzeitig ihre Militärlaufbahn beendigen
müssen, besser zu befähigen, im Kampfe ums
tägliche Brot auszuhalten, als wie es bisher
geschehen. Das, was jetzt als „Offiziers¬
versorgung" vom Kriegsministerium betrieben
wird, ist trotz bester Absichten unzureichend.
Den bedeutsamsten und ernstesten Ein¬
wand gegen die Wehrvorlage hat die Frank¬
furter Zeitung im Abendblatt ihrer Nummer
94 erhoben und damit ausgesprochen, was
bis tief in die Reihen der Konservativen
empfunden wird und am meisten geeignet ist,
die Freude an der Heeresverstärkung herab¬
zusetzen. Den Auffassungen des Frankfurter
Blattes über die Unfruchtbarkeit der HeereS-
aufwendungen für die deutsche Volkswirtschaft
vermag ich mich nicht anzuschließen. Der
volkswirtschaftliche Effekt erscheint mir ziemlich
gleichwertig für alle Arten des Verbrauchs;
es ist vom Standpunkt der Handelsbilanz
oder des Anlage suchenden Kapitals ziemlich
gleichgültig, was mit Aussicht auf schnellen
Verbrauch produziert wird: Spielsachen, Ka¬
nonen, Champagner oder äessous für die
Halbwelt. Jede Branche wirkt befruchtend
auf die Volkswirtschaft. Nur scheint mir, daß
es wonige Industrien gibt, die durch ihre
Eigenart sowohl, wie durch ihren Umfang
geeignet sind, so stimulierend auf alle Gebiete
der Technik, der Erfindungen und aller natur¬
wissenschaftlichen Forschung zu wirken, wie
gerade jene, die ausschließlich durch die
Heeres- und Flottenrüstungen bestehen. Welche
Kulturerrungenschaften müßten wir uns fort¬
denken, hätte es keine Kriege, keine Heere,
keine Waffenfabriken gegeben I Der Kampf
ist der Vater aller Dinge!
Aber in folgendem muß man der Frank¬
furter Zeitung zustimmen, wenn man lediglich
an Handelswerte denkt: „Die Rüstungen
schreibt sie, „entziehen die Menschen der
Werte schaffenden Arbeit, und vor allem:
ziemlich genau die gleiche Zahl von Menschen,
die wir jetzt für den Heeresdienst ausheben,
müssen wir Jahr für Jahr an ausländischen
Wanderarbeitern aus unseren östlichen Grenz¬
ländern herbeiziehen, um unsere Bergwerke
und vor allem unseren ostelbifchen, getreide¬
bauenden Großgrundbesitz nicht still zu
legen....." Die Leser der Grenzboten er¬
innern sich vielleicht, daß ich dieselben Be¬
denken im Herbst vorigen Jahres aussprach
(Heft 48), erinnern sich Wohl auch des glänzend
geschriebenen Aufsatzes aus der Feder des
Naumburger Arztes Schiele „Die Schicksal¬
stunde der deutschen Landwirtschaft" (Heft 22
von 1912). Die neue Heeresvorlage bedingt
eine Vermehrung der slawischen Arbeiter um
mindestens fünfzigtausend Kopf im ersten und
um hunderttausend Kopf in den weiteren
JahrenI Das ist nun ein Dilemma, dessent¬
wegen wir zwar die Heeresverstärkung nicht
vertagen dürfen, das uns aber doch zwingen
sollte, auf Mittel zu sinnen, die einen Aus-
gleich zwischen den nationalwirtschaftlichen
und nationalpolitischen Forderungen des
Augenblicks herbeiführen könnten. Vom
Kriegsministerium können wir in dieser Rich¬
tung eine Anregung kaum erwarten: Die
Heeresleitung fühlt sich, und zwar mit Recht,
zu sehr als rein technische Behörde, als daß sie
geneigt sein könnte, die angedeuteten
Verhältnisse zu studieren. Die Regierung
versucht durch innere Kolonisation — leider
unter ständigen Widerstande maßgebender
konservativer Kreise — das Loch in unserer
Bevölkerung zuzustopfen. Aber schnellerwir¬
kende Maßnahmen wird auch sie nicht bringen.
Da ist es eine schöne Aufgabe für die natio¬
nalen Parteien, im Reichstage einzuspringen
und die gangbaren Wege zu finden.
Philosophie und Einzelwissenschaften.
Das starke Anwachsen des philosophischen
Interesses in weitesten Kreisen der Gebildeten
ist eine der interessantesten und bedeutsamsten
Erscheinungen im Geistesleben der Gegenwart.
Für die wissenschaftliche Philosophie bedeutet
diese Tatsache zugleich einen großen Vorteil
und eine schwere Gefahr. Der Vorteil liegt
auf der Hand. Wo viele Geister sich lebhaft
regen, da ist unter sonst gleichen Umständen
die Wahrscheinlichkeit, daß die Wissenschaft
daraus Gewinn ziehe, größer, als da wo nur
wenige Kräfte am Werke sind. Die Gefahr
einer solchen geistigen Bewegung ist dagegen
nicht so leicht erkennbar. Sie liegt darin,
daß der Gewinn an Breite oft nur auf Kosten
eines Verlustes an Tiefe erzielt wird. Dies
ist die Gefahr, die jeder Art Philosophischer
„Aufklärungsbewegung" innewohnt. Unser
gegenwärtiges Zeitalter befindet sich nach der
Ansicht vieler kundiger Beurteiler in einer
philosophischen Aufklärungsbewegung. Zahl¬
reiche akademische und literarische Erfahrungen
bestätigen diese Ansicht. Wir haben daher die
Pflicht, uns auf die Gefahren zu besinnen,
die diese Bewegung auch heute wieder — wie
schon so oft in der Geschichte der Kulturent¬
wicklung — mit sich bringt. Gefährlich ist
das starke Anwachsen der Anzahl der Zuhörer
aller Alters- und Berufsklassen und beiderlei
Geschlechtes in den Vortragssälen, in denen
„Populär-Wissenschaftliche" Vorträge philo¬
sophischen Inhaltes gehalten werden.
Der Begriff: populär-wissenschaftlich ist
zwar an sich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es
ist theoretisch und auch Praktisch durchaus mög¬
lich, Forschungsverfahren und Forschungs¬
ergebnisse einer Wissenschaft auch Leuten ohne
besondere Vorkenntnisse innerhalb gewisser
Grenzen zugänglich zu machen. Aber die
Erfüllung dieser Aufgabe ist für den Lehren¬
den ganz außerordentlich schwer. Sie er¬
fordert ein Einfühlungsvermögen, das nicht
jeder Gelehrte besitzt. Ja, oft fehlt gerade
den scharfsinnigsten und erfolgreichsten For¬
schern jede Fähigkeit für eine auch dem Laien
verständliche Darstellungsweise ihrer For¬
schungsergebnisse. Auch auf feiten des Hörers
Populär-Wissenschaftlicher Vorträge müssen die
Umstände besonders günstig liegen, wenn das
Ergebnis ein erfreuliches sein soll. Halb¬
verstandenes und Falschverstandcnes ist schäd¬
licher als Garnichtverstandenes. Alles dies
trifft für die Philosophie in erhöhtem Maße zu!
Gefährlich ist ferner daS geradezu be¬
ängstigende Anwachsen der literarischen Pro¬
duktion auf Philosophischen Gebiete. Es
nehmen einen Raum von bedenklicher Breite
ein die Bücher, in denen „de omnibus rebus
et quibusllsm aliis" mit dem äußeren An¬
strich der Wissenschaftlichkeit in Wahrheit aber
mit größter Oberflächlichkeit gehandelt wird.
Solche Schriften, die von den Einzel¬
wissenschaften einmütig als dilettantische Orien¬
tierungsversuche int unbekannten Gelände ab¬
gelehnt werden, erscheinen dann mit der Eti¬
kette „Philosophie" versehen auf dem Markte
und finden oft bei einem breiten Publikum
Philosophischer Laien einen reißenden Absatz.
Die größte Gefahr dieser „AufklärungS-
bewegung" in der Philosophie der Gegenwart
ist, daß sie eine Entfremdung zwischen Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften herbeizuführen
droht. Eine völlige Trennung zwischen Phi¬
losophie und Einzelwissenschaften würde aber
einem Zusammenbruch der Philosophie gleich¬
kommen. Denn diese stellt den Versuch einer
wissenschaftlichen Gesamtauffassung deS Wirk¬
lichen dar. Sie wächst aus den Zusammen¬
hängen des wissenschaftlichen Denkens hervor,
macht dieselbe „Wirklichkeit" zum Gegenstand
ihrer Forschungen, die auch die Einzelwissen-
schaften zu ergründen suchen, und bedient sich
dabei grundsätzlich derselbe» Mittel. Vielfach
sieht man jedoch nicht auf diese wesentliche
Übereinstimmung zwischen Philosophie und
Einzelwissenschafte» in den Mitteln, sondern
rückt, unter einseitiger Betonung der Gleichheit
des Zieles, die Philosophie von den Einzel-
wissenschafle» ab und an Kunst und Religion
heran. In der Tat streben Philosophie, Re¬
ligion und Kunst alle drei nach dem gleichen
Ziele einer Gesamtauffassung des Wirklichen.
Aber während die Kunst dieses Ziel durch die
sinnliche Anschauung und Gestaltung, die Re¬
ligion auf der Grundlage des Gefühlserleb¬
nisses zu erreichen sucht, will die Philosophie er¬
kenne» und verstehen, um zuallgemeingültigen,
d. h, wissenschaftlichen Urteilen zu gelangen.
Die Vorurteile der Einzelwissenschaftcn
gegen die Philosophie werden am besten da¬
durch beseitigt, daß man das Verhältnis
zwischen beiden klar bestimmt. Ist die Philo¬
sophie Wissenschaft im gleichen Sinne wie die
Einzelwissenschaften? Was führt alle Einzel¬
wissenschafter mit Notwendigkeit zur Philo¬
sophie hin? Die erste Frage hat man zu
verneinen gesucht »ut dem Hinweis auf die
geschichtliche Tatsache, daß die heutigen Einzel¬
wissenschaften der Reihe nach aus der ur¬
sprünglichen Bormundschaft der philosophischen
Mutterwissenschaft ausgeschieden seien. Dieser
geschichtliche Vorgang soll ein Beweis sein
für die systematische Tatsache, daß für die
Philosophie nach endgültiger angemessener
Verteilung des gesamten wissenschaftlichen
Forschungsstoffes nichts »lehr übrig bleibe.
Der Philosoph soll gegenüber den Einzel¬
wissenschaftern zu kurz gekommen sein, wie
der Poet in Schillers „Teilung der Erde".
Aber jener Ausscheidungsprozeß, der sich im
Laufe der geschichtlichen Entwicklung vollzogen
hat, war niemals ein Auflösungsprozeß! Er
bewirkte vielmehr nur die Trennung Philo¬
sophischer und sonderwissenschnftlicher Probleme
und Problemlösungen auf immer zahlreicheren
und spezielleren Gebieten. Durch diesen natür¬
lichen Entwicklungsgang wird die Philosophie
nicht nur nicht vernichtet, sondern sie wächst
durch ihn an Fülle und Reichhaltigkeit ihrer
Wissensinhalte. Auch die in der Gegenwart
sich vollziehende Verselbständigung der Psycho¬
logie unter dem Einfluß der erperimentellen
Forschnngsmethode wird der Philosophie keine
Verarmung bringen. Denn die Trennung
in experimentelle und philosophische Psycho¬
logie bedeutet ebensowenig einen Zerfall wie
die Trennung der alten Physik in Natur¬
wissenschaft und Naturphilosophie.
Worin liegt — zweitens — die innere
Notwendigkeit, die alle Einzelwissenschafter
zur Philosophie hinführt, wenn sie ihre einzel¬
wissenschaftlichen Probleme folgerichtig bis zu
Ende durchdenken? Sie liegt darin, daß
alles einzelwissenschaftliche Denken gewissen
formalen Bedingungen seiner Gültigkeit
unterworfen ist und sachlich von gewissen
Boraussetzungen ausgeht. Jene Bedingungen
untersucht die Philosophische Disziplin der
Logik, diese Voraussetzungen die Erkenntnis¬
theorie. Die Logik fragt, welchen allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten denn die wirklichen Gegen¬
stände unterliegen, wenn ich einmal
von den besonderen Gesetzmäßigkeiten absehe,
denen sie als Naturgegenstände oder als
geistige Gegenstände unterworfen sind. Welches
sind die allgemeinen Gesetze, denen die wirk¬
lichen Dinge gehorchen, noch über die natur¬
wissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
Sondergesetze hinaus? So fragt die Logik.
Und auch die Erkenntnistheorie hat es mit
dem Wirklichen zu tun, sofern es ganz all¬
gemein vom wissenschaftlichen Denken zum
Gegenstand genommen wird. Alle Einzel-
Wissenschaften machen — gleichviel um welches
Forschungsgebiet es sich handelt — in ge¬
meinsamer Weise gewisse Voraussetzungen.
So setzten sie alle voraus, daß das Wirkliche
aus einem Inbegriff von Dingen in Raum
und Zeit bestehe, bei denen sich Borgänge
abspielen, die durch einen durchgreifenden
Kausalzusammenhang miteinander verknüpft
sind. Die Erkenntnistheorie prüft die Be¬
rechtigung aller dieser Voraussetzungen nach.
Logik und Erkenntnistheorie bilden somit die
beiden Hauptwege, die für alle Einzelwissen-
schaften in gemeinsamer Weise den Zugang
zur Philosophie vermitteln. Daneben gibt
es für jede besondere Einzelwissenschnft auch
noch besondere Wege, die den unermüdlichen
oinzelwissenschciftlichen Forscher in das Land
der Philosophie führen.
Die Philosophie darf kühnlich jedem Einzel¬
wissenschafter das Versprechen geben, daß sich
ihm Neues und Bedeutsames für den Zu¬
sammenhang seiner wissenschaftlichen Erkennt¬
nis eröffnen wird, wenn er die Mühe nicht
scheut, bis ins Innere des Philosophischen
Wissens vorzudringen.
Anmerkung der Schriftleitnng. Der Ver¬
fasser hat in einer kleinen Schrift, die „Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften" (Verlag von
A. Francke, Bern 1913. Preis 1 M.) betitelt
ist, den Gedanken, daß alle einzelwissenschaft¬
lichen Betrachtungen, wenn sie folgerichtig zu
Ende geführt werden, in die Philosophie
münden, weiter auseinandergesetzt und die
Sonderwege knapp skizziert. Wir möchten
nicht bersäumen, auf diese überaus klaren
Darlegungen empfehlend hinzuweisen, weil
sie sehr geeignet sind, die Stellung der
Philosophie in der Gesamtheit der Wissen¬
schaften und den llmfang ihrer Aufgaben zu
beleuchten.
In deur Streite, ob die Psychologie aus
dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung
von der Mutterwissenschaft der Philosophie
loszulösen und wie andere Wissensgebiete als
selbständige Einzelwissenschaft neben sie zu
stellen sei, hat der Altmeister Wilhelm Wundt
nunmehr das Wort ergriffen. Daß der Gegen¬
stand Beachtung verdient, geht aus dem Titel
hervor, den Wundt seiner kleinen Schrift auf
den Weg gegeben hat: „Die Psychologie im
Kampf ums Dasein" (Alfred Kröner Verlag
in Leipzig, 1913). Eine Friedensschrift nennt
er sie, weil sie auf die Schäden hinweist, die
beiden Teilen aus der Trennung erwachsen
würden und daher die Anträge auf Scheidung
verwirft.
Die Forderung einer Trennung ist sowohl
von „reinen Philosophen" als auch von Psy¬
chologen erhoben worden. Erstere haben in
einer Erklärung, die sie nicht nur an die
deutschen Regierungen zu versenden gedenken,
sondern auch dem großen Publikum durch die
Presse bekannt geben wollen, von einem Not¬
stand des Philosophischen Unterrichts und der
philosophischen Forschung gesprochen, der da¬
durch bedingt sei, daß unter Umständen Phi¬
losophische Lehrstühle durch Psychologen besetzt
werden. Das wachsende Interesse für Phi¬
losophische Fragen fordert aber im Gegenteil
eine Vermehrung der Philosophischen Pro¬
fessuren, namentlich auch rücksichtlich der ver¬
schiedenen Gebiete der Philosophie. Wenn
also die „reinen Philosophen" eine Trennung
der Philosophie von der Psychologie befür¬
worten, so geschieht es weniger aus Liebe zur
Psychologie als aus Sorge um die Philo¬
sophie. Beachtenswert ist, daß die Erklärung
ausschließlich die Beseitigung der experimen-
tellen Psychologie aus deve Philosophischen
Lehrplan fordert. ^ . , ,
Wenn nun ein Teil der experimentellen
Psychologen selbst die Abtrennung der Psy¬
chologie von der Philosophie wünschen, so
geschieht es natürlich aus wesentlich anderen
Gründen. Sie machen geltend, daß nach dem
gegenwärtigen Stand der Psychologie An¬
gehörige anderer Fakultöien, vor allen die
Mediziner, einer gründlichen Schulung in
dieser Wissenschaft bedürfen und fordern den
Nachweis einer eingehenden Beschäftigung mit
ihr in einem Examen, das natürlich unab¬
hängig von der Philosophie abzulegen wäre.
In erster Linie ist es aber die Werbürduug
der Dozenten, auf die hingewiesen wird! die
Psychologen seien den steigenden Ansprüchen,
die Forschung und Unterricht an sie stellen,
nicht mehr gewachsen, wenn sie gleichzeitig
die Philosophie vertreten sollen. Wundt hält
nun die Einführung eines Examens in der
Psychologie für Mediziner für ganz unzweck¬
mäßig, da eine Überlastung der Kandidaten
nur der Oberflächlichkeit Vorschub leisten
würde; wenn aber die Dozenten sich durch
die Philosophie überlastet fühlen und deshalb
auf Trennung dringen, so glaubt Wundt
darin eine Überschätzung der Bedeutung der
Philosophie für die Psychologie zu erkennen.'
Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Pro¬
blemen, die sowohl der Psychologie als der
Philosophie angehören und überall, wo sich
der Psychologe in die Probleme seiner Wissen¬
schaft vertiefen will» bedarf er der Mithilfe
Philosophischer Betrachtung, die er, Wenn sie
von Wert sein soll, aus eigener selbständiger
Arbeit gewinnen muß. Erkenntnistheoretische
und metaphysische Erwägungen sind nicht aus
der Psychologie zu bannen, deshalb gehört
sie zu den philosophischen Disziplinen. Wenn
aber die aus der Philosophie ausgeschiedenen
Vertreter der Psychologie nicht mehr über.
eine gründliche philosophische Bildung ver¬
fügen, liegt die Gefahr vor, daß die Psycho¬
logie auf unreifen metaphysischen Anschauungen
aufgebaut werden könnte. Auch wäre es
durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie zu einer
mehr technischen als wissenschaftlichen Disziplin
würde, die in immer weiter fortschreitender
Spezialisierung schließlich handwerksmäßig be¬
trieben werden könnte. Der ganze Charakter
der psychologischen Literatur der Gegenwart
widerlegt die Behauptung, daß die vollständige
Trennung der Psychologie von der Philosophie
in der Wissenschaft selbst bereits eingetreten
sei oder bald eintreten werde und demgemäß
auch äußerlich ihren Ausdruck finden müsse.
Zum Schluß wendet sich Wundt dagegen,
daß die gesamte Psychologie „experimentell"
genanntwerde,weil die PsychologischeForschung
durchaus nicht dort aufhört, wo die Anwend¬
barkeit experimenteller Methoden ihr Ende
erreicht. Die Erforschung der Kinder- und
Tierseele kann sich nur in beschränktem Maße
des Experimentes bedienen und die Probleme
des seelischen Gemeinschaftslebens sind ihm
garnicht zugänglich. Wer gerade diese Pro¬
bleme geben der Psychologie die Weite des
Horizontes und führen zu einem Kontakt mit
philosophischen Gebieten, etwa der Religions¬
philosophie, der Ethik usw. Und nur, wenn
die Psychologie in jene Zweiggebiete der
Philosophie mündet, kann sie, den Anspruch
erheben, eine Grundlage der Geisteswissen¬
schaften zu sein. Ihre vermittelnde Stellung
zwischen den empirischen Einzelwissenschaften
und der Philosophie vermag sie nur auszu¬
füllen, wenn sie empirische Geisteswissenschaft
und zugleich Teilwissenschaft der Philo¬
sophie ist.
Wenn Wundt aus den angeführten Gründen
eine Ausscheidung der Psychologie aus der
Philosophie durchaus nicht wünscht, so gibt er
doch zu, daß Mißstände bestehen, die behoben
werden müßten. Die Überbürdung der Do¬
zenten könnte entweder durch eine Vermehrung
der ordentlichen Professuren der Philosophie
oder durch Heranziehung von Extraordinarien
zu bestimmten Lehrfächern unter Teilnahme
an den Doktor- und Staatsprüfungen beseitigt
werde». Überdies wünscht Wundt, daß an
den einzelnen Universitäten durch eine ent¬
sprechende Ausgestaltung eine größere Viel¬
seitigkeit der „Richtungen" gepflegt werden
Hätte ich ein Gärtelein und ein Häuslein
sein, ich tat es Wohl unizäunen und baute an
vier Ecken je einen festen Pfosten, viereckig,
behaglich; nicht hoch, — so daß man sich be¬
quem drauf lehnen könne zu einem Schwätz
mit dem Nachbar, wenn er vorbeigeht. Selbst¬
redend: ich innen — er draußen. Es ist
immer heiter für den, der innen steht, daß
ein anderer außen ist, selbst wenn es nichts zu
bedeuten hat. Die Pfosten müßten aus hell¬
grünem Sandstein sein, und dann zog ich
von einem zum andern aus rotbraunen
Reisern einen Staudenhaag; wenn dann der
Föhn seinen feuchten Pinsel übers Land streicht,
dann schlagen die warmen roten Farbenwellen
an das kalte Grün. Ich dächte dann an rot¬
blauen Flieder, der in einem kaltgrünen Glase
stünde. Auch würde ich an dem Haag Schling¬
bohnen Pflanzen, nur ganz wenige, damit
sie ihre launenhaften Windungen deutlich und
ungehinderthinzeichnen: hellgrün aufbraunrot,
und zum Maien glühten drinn der Bohnen¬
blust abenteuerlich geschwungene rote Lippen.
Oder man könnte sonst trautsüße Wünsche
haben, Wünsche, deren Erfüllung nicht glück¬
lich, sondern ernst-heiter machen soll, oder
vergnügt. An einem Juniabend durch eine
süddeutsche kleine Stadt schlendern. Es muß
nicht unbedingt Pforzheim sein, — wo in
schlechtbeleuchteten Straßen hohe Giebel zu
den Sternen ragen. Bei alledem hat eigent¬
lich bloß Pforzheim mit dem lieben Buch
von Emil Strauß etwas zu schaffen. Aber
das Buch ist nun einmal ganz ungeeignet
für eine richtig gehende Besprechung. Ein
Künstler von geradezu unheimlicher Kenntnis
der eigenen Mittel und seiner Möglichkeiten
führt uns müde Menschen liebevoll an tausend
großen Erschütterungen — worauf Hinz und
Kunz seit jeher verfallen — vorbeiz aber alle
Saiten, die er unangeschlagen läßt, hören wir
stets leise anklingen. Ein reicher Verzichter,
biegt er stets vor der Katastrophe ab. Die
Tragik aller Dinge ruft er in uns wach, —
ohne sie in den Ereignissen zum Bruch zu
führen. Solchen Verzicht können sich nur die
Reichen leisten. Die gute Stadt Pforzheim
bekommt um 1600 Händel rin ihrem Fürsten,
dem Markgrafen Ernst Friedrich von Baden.
Der Fürst ist kalvinisch, die Pforzheimer
lutherisch: Bürgersinn und Herrscherwille, mit
allem was hüben und drüben klein und groß,
erhaben und lächerlich, dumm-klug und Ilug-
dumm der Zeiten lebendiges Kleid webt,
heitert und düstere unser Herz da durch¬
einander. Daß den Gardehauptmann Gößlin
— auch der Schneider kreise oder der Teufel
hole: so einen Kerl kriegt man nicht bald los,
selbst wenn man kein siebzehnjähriges „stiesel¬
braunes Maidelein" ist — wie Strauß es
liebt. Wie der in seinem lutherischen süd¬
deutschen Pforzheim seine und stammt und
wurzelt, das ahnen die Pforzheimer nicht,
die den Fürstenknochi in ihm schinden, und der
Fürst nicht, sein Jugendfreund. Ja was weiß
der Mensch, was er in einem Moment tun wird.
Er reitet ja mit dem Fürst gegen Pforzheim.
Und er, Gößlin, führtBrand, Tod, Vernichtung
an, gegen Pforzheim. Es ist Abend. Die
Lichter leuchten: „Markgraf, hier beginnt
Pforzheim" und der Säbel fliegt ihm aus
der Scheide: „Wehre dich." Aber den Mark¬
graf hat ein Schlagfluß erlöst — vor Kampf
und Schuld. Übrigens ist das gar nicht so
wichtig im Buch, wie sichs hier anhört, steht
auch bloß ganz zuletzt. Viel wichtiger ist,
wie der Apotheker seine junge Frau aus¬
schmollen läßt und das Brett drei Tage lang
im Bette stehen läßt, das sie nach der Hoch¬
zeit hineingestellt, und überhaupt ist es äußerst
wichtig, wie die zwei miteinander fertig
werden, oder auch wie der Herr Obcrvogt
aus seinem offenen Fenster hinaussingt: „Herr,
red du in unsere Seelen", und wie er schlie߬
lich zur Stadt hinauszieht. An solchen Werken
ist nichts weiter zu besprechen, sie sind, durch
sich, gut und schlecht, zwei- und tausendseitig
nach allen Richtungen, wie das Organische,
Die vondem wenige
Wochen vor dem Hebbel-Jubiläum dahin¬
geschiedenen hervorragenden Hebbelforscher in
B. Behrs Verlag, Berlin-Steglitz, heraus¬
gegebene Säkularausgabe von Fr. Hebbels
Werken ist bis zum 14. Band einschließlich
Von dem Verstorbenen vollständig druckfertig
hinterlassen worden. Die Besorgung des 15.
und 16. Bandes, der zum großen Teil im
Manuskript vorliegt, ist von Herrn Professor
Dr. Wähle vom Goethe-Schiller-Archiv zu
Weimar freundlichst übernommen worden. Es
ist damit?gewährleistet, daß die klassische Aus¬
gabe vollkommen im Sinne Werners zu Ende
geführt wird.
M^in
^Pädagogium
Wal'SN in IVIsoKIb
am iVIUl-it^öff.Z^vlsenvn Wssss,- u. ^/fiel Sussoi-se gssuncl gsIsAvn. —
<Zol»oitot NI>> »II« ScKuIIclasssn, res» ^injLn^igon»,
pnimanoi»-, ^bitunlsntsn - I-xamsn vo>». /^not Dsmsn»
Vonboi'oitunßi. — Klvino Klssson. tZ^llncilionoi», Imo'i-
vicluvllvi-, vlcloktisens»' Anthi^^laut. Ohl-uni »c-nnollos
Ul'i'oioKon cios 2iolss. — sei-su^s ^utsient. — Quto
Pension. — KSnpsnpllegs unter- ii^tliono«» l.oitunx.^<
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Wir bitten die Freunde der ::^
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das Abonnement zum II. Quartal 1913
erneuern zu wollen. — Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanstalt entgegen. Preis 6 M.Verlag der
<S?en2boten
G. in. b. S.
Berlin 3>V. u<
^/
in deutschen Reichshause hat es letzthin sogenannte große Tage
gegeben. Große Tage deshalb, weil von einer Armeevermehrung
die Rede war, bekanntlich eine Gelegenheit, bei der alle Gebiete
der Reichs-, Staats- und Volkspolitik berührt und aufgerührt
werden können, und wo das verantwortliche Haupt der Regierung
die parlamentarische Feuerprobe zu bestehen hat. . . Große Tage aber auch
deshalb, weil es bei den Verhandlungen um die Heeresvorlagen selten ohne solche
Sensationen abzugehen pflegt, die ein großstädtisches Premierenpublikum anziehen.
Seit Herr von Bethmann Reichskanzler ist, kommt indessen das Sensations-
bedürfnis nicht mehr recht auf seine Kosten oder muß sich mit einzelnen
Episoden begnügen, wie kürzlich mit dem Rededuell der'bayerischen Generale.
Herr von Bethmann Hollweg spricht ruhig, gemessen, klar. . . sachlich. . .
Zwischen Redner und Zuhörer spinnt sich aber kein Band. Ein Interesse an
der Form des Vortrags wird nicht lebendig. Es ist nichts Hinreißendes darin.
Die Stille im Hause während der Kanzlerrede herrscht eigentlich nur deshalb,
weil man es gewohnt ist zu schweigen, wenn ein Regierungsvertreter spricht.
Kein Angriff, kein Hieb, keine unsachliche Wendung I Keine Funken springen
herüber und hinüber. Ein schwerer Vortrag, mit der Kühle des Gelehrten
abgewickelt. Die ermüdeten Gehirne der Volksvertreter und Journalisten
werden nicht gereizt. Alle die blasierten, denkfaulen Köpfe der Sensations¬
hascher bleiben unberührt. Man muß denken, scharf denken. Keine Erholung,
kein Abschweifen! Der Kanzler sagt in einer Stunde das, wozu Fürst Bülow
oder Bismarck zwei gebraucht hätten, — zwei unterhaltsame Stunden mit viel
Beifall, Heiterkeit, Widerspruch usw. Man muß jedes Wort dieser gedrängten
Redeweise Bethmanns in sich aufgenommen haben, will man das Ganze ver¬
stehen. So kann bei den Zuschauern weder lauter Widerspruch entstehen, noch
auch stürmischer, spontan und mächtig hervorbrechender Beifall.
Und doch sollen die großen Tage im Reichshause Paraden sein, bei
deren Betrachtung der Zeitungsreporter entschädigt werden will für die vielen
hundert Stunden der oft genug bis zum Ekel gesteigerten Langenweile, die
ihm die Reichstagssitzungen das ganze Jahr hindurch bescheren, — eine
Parade, durch die das Ausland belehrt werden soll, welch ein gewaltiges
politisches Leben in deutschen Landen pulsiert, eine Parade, von der die
nationalen eine Hebung der nationalen Selbstachtung erhoffen, während den
Internationalen Gelegenheit wird, den Nachweis zu erbringen, welche große
Rolle sie im Parlament, im Volk spielen. Immer aber soll im Mittelpunkt
der Parade die Regierung oder ganz präzise ausgedrückt, der Reichskanzler stehen.
Die großen Tage und ihre sensationelle Ausbeutung haben somit eine
gewisse Berechtigung. Es fragt sich nur. an welcher Stelle die Berechtigung
des sensationellen aufhört, wo es zu einer politischen Gefahr wird.
An den großen Tagen bilden die Kanzlerreden die Pole, auf die sich alle
Aufmerksamkeit vereinigt und von denen aus die Kräfte und elektrischen Ströme
sich auf Parlament und Presse verbreiten, die das Ganze beleben und gewisser¬
maßen jeden einzelnen Parlamentarier zum Mitspiel zwingen, sei es mitreißend,
sei es zurückstoßend. Dergestalt erhält der Reichskanzler für solche großen Tage
von den Zuschauern eine doppelte Rolle zugewiesen: als Hauptakteur und
Regisseur, — und es hängt von seinen Anlagen und Fähigkeiten ab, ob er sich
über den Nahmen dieser Aufgabe hinaus als Regierer erweisen kann.
Sehen wir uns die bisherigen deutschen Reichskanzler daraufhin an, wie
sie dieser ihrer Aufgabe gerecht werden, so müssen Caprivi und Hohenlohe
von vornherein ausscheiden: sie konnten aus Mangel an Veranlagung für das
rein Theatralische weder Akteure noch Regisseure sein. Als Regierer aber
kamen sie überhaupt nicht in Frage. Caprivi war der gehorsame Soldat, der
lediglich die Befehle seines kaiserlichen Herrn dem Fahneneide gemäß aus¬
zuführen trachtete; Hohenlohe war väterlicher Freund und Berater. Die Regie
lag von 1892 bis 1900 entweder beim Kaiser selbst oder bei Personengruppen,
über die lediglich Vermutungen bestehen.
Bismarck und Bülow.
Bismarck stand bei allen politischen Fragen, die er öffentlich behandelte,
schon ohne weiteres im Mittelpunkt; sie waren mit ihm, er mit ihnen geworden;
sie waren für ihn nicht allein historische Tatsachen, die sich aus den Akten
ergaben, sondern auch ureigenste Erlebnisse. Seine Reden waren dement¬
sprechend sein ureigenstes geistiges Eigentum. Er konnte aus der Fülle seiner
Erinnerung schöpfen und schaffen. Akten und Statistik gaben ihm das Gerippe.
Bis zu welchem Grade Bismarck frei schöpfte, zeigt schon Tiedemanns Mit¬
teilung, daß der Kanzler ihm ohne Unterbrechung neun Stunden diktieren
konnte; daß er aber als Künstler schuf in schwerer innerer Arbeit, das zeigt
die Art des Entstehens der Reden. Die großen Reden waren nur selten im
Augenblick geboren, waren vielmehr Erzeugnisse wochen- ja monatelanger Denk¬
arbeit, und wir wissen heute, das; jenes „Wir Deutsche fürchten Gott...!"
keiner spontanen Eingebung seine Geburt verdankt, sondern langem Sinnen
auf den einsamen Spaziergängen durch den Sachsenwald, — wohl berechnet
für einen Zuhörerkreis, dessen Beifallstosen das Wort durch die ganze Welt
tragen würde. Aber der erste Kanzler ließ sich auch Worte zuwerfen und
prägte sie in die große Geste um, die ihm im Augenblick notwendig schien.
Eine solche Geste war das Wort: „Nach Canossa gehn wir nicht!" aus seiner
großen Kulturkampfrede am 14. Mai 1872. — Zwei Tage vor dieser Rede
war auf einer Abendgesellschaft beim Fürsten aus Anlaß des Erscheinens eines
neuen Werkes über die deutsche Geschichte auch von Heinrich dem Vierten die
Rede gewesen. Die ebenso geistvolle wie schöne Gattin des württembergischen
Bundesratsbevollmächtigten, Freifrau von Spitzenberg, die durch ihren Vater
Varnbühler zum engsten Kreise des Hauses Bismarck gehörte, warf in die
Unterhaltung: „Heinrich brauchte nicht nach Canossa zu gehen, hätte er damals
ein paar unserer Gardebataillone gehabt! Wir brauchen nicht mehr nach
Canossa zu wandern!" — Zwei Tage später fiel das gefährliche Wort im
preußischen Landtage, das soviel Hoffnungen weckte, aber auch Erbitterung
heraufbeschwor.--—
Bismarck griff in die Ereignisse ein, saß stets auf dem Sprunge, das zu tun,
was die Sache erheischte. Als sein geliebter Herr von ruchloser Hand ver¬
wundet wurde, war sein erster Gedanke: jetzt wird der Reichstag aufgelöst!
Er griff mit Titanenkraft zu, wenn die Notwendigkeit sich ergab, scheinbar
ohne Rücksicht zu kennen. Parlament und Parteien benutzte er rücksichtslos
für feine Zwecke, hat aber nie um eine gute Note von ihnen gebuhlt oder
darum auf dem Redepodium getanzt. Kam es erst zur Schlacht im Reichs¬
tage, so war die Entscheidung über ihren Ausgang längst getroffen. In sub¬
tilster Vorarbeit hatte eine geniale Regierungskunst mit eiserner Konsequenz alles
vorbereitet, und für den Regisseur, der scheinbar das Schlußbild im Reichstag zu
stellen hatte, blieb kaum etwas anderes zu tun übrig, als den Vorhang fortzuziehen.
Der Glanz, der von Bülows schimmernder Persönlichkeit ausging, ist es,
der heute noch Journalisten und Parlamentarier verleitet, Vergleiche heranzu¬
ziehen, wo diese nicht mehr am Platze sind. Zweifellos hatte Bernhard
von Bülow, der Diplomat, es schwerer, sich im Reichstage zur Geltung zu
bringen als Bismarck, der Reichsschmied. Ganz abgesehen von allen Schwierig¬
keiten an der allerhöchsten Stelle und trotz des großen Abstandes zwischen ihm
und seinem unmittelbaren Vorgänger. Aber Bülow war ein glänzender, an¬
ziehender Redner, die oratorische Technik sitzt ihm im Blute. Nach wenigen
Sätzen folgte man seinen Ausführungen willig mit dein gespanntesten Interesse,
ethisch und ästhetisch angeregt. Applaus und Widerspruch forderte er nach Gutdünken
heraus, wie und wo er sie brauchte, und so konnte er auf den Tribünen den Ein-
druck der Schlagfertigkeit erwecken, wo tatsächlich eine ausgezeichnete Regiekunst
100
Triumphe feierte. Bülows Auftreten im Reichstage war immer bis ins Kleinste vor¬
bereitet; jeder, auch der kleinste Mitspieler hatte seinen Platz und wenn Graf
Ballestrem oder Graf Stolberg dem fürstlichen Kanzler das Wort erteilte, stand
Bülows Persönlichkeit im Brennpunkt des Interesses, Übergossen von dem Licht¬
schimmer eines unsichtbaren Scheinwerfers, den er sich selbst gerichtet hatte.
Wenn behauptet wurde, Bülow habe das Drum und Dran in seinen
Reden aus Vüchmanns Zitatenschatz zusammengesucht, so darf man das nicht
wörtlich nehmen, denn er war ein viel belesener Mann und seine Arbeits¬
methode war überhaupt nur möglich bei einem hervorragend guten Gedächt¬
nis. Er gab nur wieder, was die Geister, mit denen er sein Leben lang in
engstem Gedankenaustausch gestanden hatte, ihm während der Überarbeitung
der von andern im Rohblock hergestellten Reden zuflüsterten. Des Mannes
Gedankenwelt, der mit Mommsen, Gregorovius, Malvida von Meusenbug,
mit Turgenieff und den beiden Charmes, mit de Cesare und Grigorowitsch
intimen Verkehr unterhielt, schafft sich andere Bilder als der eines Bismarck,
der selbst als Staatenbauer gewirkt hatte. Auch der Umstand, daß Bülow der
inneren Politik ziemlich fremd gegenüberstand, als er ihr Leiter wurde, konnte
nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung seiner Reden bleiben.
Schlaglichtartig beleuchtet wird die Arbeitsmethode Bülows, wenn wir
sehen, wie er sich beim Staatssekretär des Auswärtigen in Fragen der inneren
Politik Rats holt und ihn mit Ausarbeitungen für eine Rede beauftragt, wegen
ergänzenden Materials aber an den Chef der Presseabteilung Hamann verweist
und hinzufügt: „An Umfang nicht zu groß. Kurze Sätze. Das Drum und
Dran füge ich selbst hinzu."
Bülow lernte seine Rollen leicht und gut. Ein Freund langer Kon¬
ferenzen und tiefdringender Aussprachen war er nicht. Das überließ er Richt-
hofen, den er ebenso wie Loebell und Hamann durch fortlaufend hinter-
eincmderfolgende weiße Zettel oder wasserblaue Karten und Briefe, mit Blei¬
stift oder Tinte von Schäfers schneller Hand geschrieben, dirigierte. Manchmal
treffen an einem Tage ein Dutzend oder mehr solcher Schriftstücke bei den
einzelnen ein und man weiß nun, wozu die große Anzahl feingespitzter Blei¬
stifte und Stöße von Notizpapier und Umschlägen in verschiedener Größe in
seinem Zimmer aufgeschichtet waren, „während außerdem nicht ein Blatt oder
eine Spur von irgendwelchen Zeitungen, Manuskripten oder Briefen... zu
sehen war . . .," wie der Engländer Sidney Whitman berichtet („Deutsche
Erinnerungen". Stuttgart-Berlin, Deutsche ' Verlagsanstalt, 1913, S. 274).
Bismarcks Arbeitsmethode hatte zur Folge, daß er oft viele Tage für die
laufenden bureaukratischen Geschäfte nicht zu erreichen war, freilich ohne daß
die Politik darunter gelitten hätte. Bülow war in ständiger Verbindung mit
allen Einzelheiten, die ihm zugetragen wurden, mochte er in Norderney, Flott-
beck oder Berlin sein. Aber während unter Bismarck die Staatssekretäre und
Minister ständig über ihre Aufgaben der Öffentlichkeit gegenüber unterrichtet
waren, konnte es vorkommen, daß eine Unterbrechung der Verbindung
mit Bülow von nur zwei Tagen genügte, um den Vizepräsidenten des
Staatsministeriums außerstand zu setzen, richtig im Parlament zu operieren.
Bülow stand nicht in direktem Konnex mit Staatssekretären und Ministern,
sondern fast ausschließlich durch die Vermittlung seiner drei Getreuen.
Bülow fehlte die Hingabe an die Materie, die Bismarck besaß, viel¬
leicht ausschließlich aus dem so menschlichen Grunde, daß er aus dem
interessanten Gebiet ins Trockne, aus der auswärtigen Politik in die innere
kam. Aber die Tatsache bleibt: nachdem er nur widerstrebend Reichskanzler
geworden war, in seiner Aktionsfreiheit durch den Kaiser stark beschränkt, wurde
er geradezu in die Rolle des Regisseurs hineingedrängt, dessen wichtigste Auf¬
gabe darin bestand, zu bestehen schien, Parlament und Presse vorzutäuschen,
daß dieser Regisseur trotz der starken Persönlichkeit des Monarchen ein wirklicher
Regierer war. Bei dieser persönlichen Umrahmung seiner Stellung war das
System Bülow schwer gefährdet, sobald er einen von den drei Vertrauten ver¬
lor, die dreieinig die Funktionen des Reichskanzlers ausübten. Die Katastrophe
aber trat bald nach dem Tode des Freiherrn von Richthofen ein, nachdem
dessen zwei Nachfolger sowohl im speziellen wie im allgemeinen als Mitarbeiter
Bülows versagten und der büreaukratische Apparat, selbständigen Handelns ent¬
wöhnt, sich als unzureichend erwies. Die 1908er Novemberereignisse mit allen
ihren Folgeerscheinungen, vor allen Dingen mit der Preisgabe der Beamten
des Auswärtigen Amts, waren Ergebnisse einer Amtsführung, deren Haupt¬
augenmerk der Regiekunst galt.
Bülows Methoden sind nicht spurlos an uns vorüber gegangen, er hat
Schule gemacht. Die öffentliche Meinung hat er sich unterworfen, die Presse
hat er an seinen Karren gefesselt und in ihrem nationalen Teil vorübergehend
geradezu unfrei gemacht. Wenn mir russische Parlamentarier seinerzeit in Peters¬
burg sagten: „Sprechen Sie nicht von der deutschen Presse, — nächstens wird
der Vorwärts Bülow-offiziös", so lag darin ein Körnchen Wahrheit. Als
Parlamentsredner war Bülow vorbildlich. Erschien er im Reichstage, so ge¬
schah es als Prima Ballerina im Mittelpunkt eines sorgsam einstudierten Aus¬
stattungsstückes. Daranhatten sich Publikum und Presse in den zehn Jahren gewöhnt.
Trotz der schlechten Erfahrungen, die die Liberalen mit Bülows Regierungs¬
kunst gemacht haben, sind für viele von ihnen, wenn auch unbewußt, Regie und Re¬
gierung noch gleichwertige Begriffe. Potemkins Geist hat von unserem öffentlichen
Leben Besitz genommen, herrscht ebenso in den Volksversammlungen der Sozial¬
demokraten, wie bei sonstigen Schaustellungen, und Max Reinhardt ist so recht
eigentlich der führende Geist unserer Zeit! d.h. führend insofern, als er ein allgemein
anerkanntes Bedürfnis seiner Zeitgenossen genial zu erfassen und in Pseudowerte
umzuprägen vermochte. Wer diesem Bedürfnis unserer Zeit nicht auch als
Politiker gerecht zu werden vermag, wird kaum als ihr Führer gelten. Max
Reinhardt kann erfolgreich bleiben, weil er kein Politiker ist; jeder seiner
politischen Fachgenossen muß Schiffbruch leiden, weil die politischen Kämpfe
auf Realitäten beruhen und eben deshalb nicht ungestraft zu Schaustellungen
herabgewürdigt werden dürfen. Das Kulisseuwerk der politischen Schaustücke
kann als solches nur dann nachhaltig wirken und dauernd nützlich sein, wenn
es recht eigentlich kein Kulissenwerk mehr ist, sondern organischer Bestandteil der
politischen Materie, wenn es herausgewachsen ist aus den Fasern und Säften
der einzelnen schwebenden politischen Fragen; jenes andere Kulissenwerk, das
gleich den Requisiten des Schnürbodens nur leicht angeschraubt wird an die
Bretter der Bühne, wird zerflattern und zerfallen, sobald auch nur der dünnste
Sonnenstrahl Wahrheit darauf fällt.
Nach Bismarck und Büloiv betritt nun seit fast vier Jahren Herr von
Bethmann Hollweg die Parlamentstribüne als Reichskanzler. Es bedarf keiner
Erläuterung: als ein geschickter Regisseur erscheint dieser einfache Mann nicht.
Jedenfalls sind nirgends künstliche Kulissen zu erkennen. Öffentlichkeit und
Presse, soweit sie sich mit seiner Person beschäftigen, steht er innerlich ab¬
lehnend gegenüber: um beide höher einschätzen zu können, ist er zu sehr preußi¬
scher Beamter und auch wohl Philosoph. Ob er ein Regierer, der Regierer ist,
dessen wir bedürfen, läßt sich heut noch nicht entscheiden. Vor großen Konflikten
der inneren Politik hat er noch nicht gestanden: die elsässische Frage konnte er
durch weitgehende Nachgiebigkeit durchführen; von der preußischen Wahlrechts¬
frage durfte er im stillen Einverständnis mit den nationalen Parteien zurück¬
treten; in der Jesuitenfrage hat er scheinbar geschickt opperiert, doch ist sie ebenso¬
wenig erledigt, wie die Wahlrechtsangelegenheit. Bleibt uns der Weltfriede er¬
halten, dann wird Bethmanns Beurteilung davon abhängen, was er von den
Problemen der inneren Politik als seine wichtigste Aufgabe auffaßt. Verzichtet
er weiter auf äußeren Schein, so werden seine Parlamentsreden nach wie vor
lieber gelesen als gehört werden. Ich glaube aber, daß er damit im Inland und
Ausland mehr Vertrauen und Freundschaft erwirbt, als mit oratorischen Theater¬
effekten. Könnte die Schlichtheit und Straffheit seiner Reden, trotz aller Kühle
des Temperaments, das Wahrzeichen der deutschen Politik sein, so glaube ich,
dürften wir in ihm den Regierer begrüßen, den wir gerade gebrauchen und
leichten Herzens auf die großen Tage im Reichshause verzichten.
reunde machten Friedrich Hebbel an seinem letzten Geburtstage
el» Geschenk mit zwei Gemälden, die ihm die erhebendsten und
«M^v zugleich die trübsten Zeiten seiner Jugend vor Augen führten.
MM^M^Ä Es waren Bilder von der Wesselbmener Kirche und von der
Kirchspielvogtei. Ost hatte er die Stätte verflucht, an die er „die
sieben längsten Jahre seines Lebens, diejenigen, welche man gewöhnlich die
schöusten nennt, uuter höchst unerfreulichen Verhältnissen als Schreiber zu¬
brachte", wie er an die Großherzogin von Weimar schrieb (Briefe VII, 317).
Und mehr noch als den Ort seiner Qual haßte er den Mann, die Ursache
seiner Leiden. Glaubte er doch. Kirchspielvogt Mohr habe ihn trotz der Er¬
kenntnis seiner Begabung in niederer Dienerstelluug schmochteu lassen. Fast
alles, was wir über Mohr wissen, beruht auf Zeugnissen Hebbels. Die
Biographen haben sich in den wesentlichsten Punkten auf diese Zeugnisse gestützt
und nur gelegentlich durchblicken lassen, daß sie geneigt seien, die schweren An¬
klagen ein wenig zu mildern.
Am Hebbeltage des Jahres 1913 befederten viele deutsche Zeitungen ihren
Lesern einen Aufsatz „Hebbels Leben und Dichtung" von Herbert Eulenberg.
Euleubergs Name muß wohl stärker gewirkt haben als der Inhalt des
Feuilletons. Daß ein Ton in den Ausführungen angeschlagen wurde, der
glücklicherweise in Gedächtnisartikeln nicht üblich ist, kann den Schriftleitungen
angesehener Blätter nicht entgangen sein. Fern liegt es mir, eine Kritik an
dem kleinen „Kunstmerke" üben zu wollen, dessen bestehende äußere Vorzüge,
dessen großer Zug Beachtung verdienen mögen. An einem Abschnitte das aber
auch der Hebbclverehrer Anstoß nehmen, an den Bemerkungen, die dem Kirch-
spieluogt von Wesselburen gewidmet sind. Nur mit Widerstreben setze ich die
Stelle her:
„Der hochangesehene Kirchspielvogt von Wesselburen Mohr hieß die
Kanaille! — nahm den mit einer vortrefflichen Handschrift ausgestatteten Jungen
als Schreiber in seine Dienste und zog ihn zuerst in die papierne Well der
Bücher und Akten als in sein entsprechendes Element. Freilich blieb Hebbel
auch in dieser neuen Stellung so subaltern, wie ihn sein Brodherr nur halten
konnte. Lohn bekam er von dem sauberen Patron, der schwarz wie sein Name
war, kaum zu sehen, obschon Mohr selbst ein Jahresgehalt von 11000 Mark
seiner Gemeinde entzog. Dafür erhielt der unverkennbar talentierte „Junge",
wie Mohr selbst später zugeben mußte, wobei er noch die unerhörte gewissen¬
lose Frechheit hatte, hinzuzufügen: „Sein schönster Schmuck war in meinen
Augen seine Bescheidenheit", die Beköstigung am Gesindetisch. Des weiteren
bekam der junge Hebbel die abgelegten Kleider des Herrn Kirchspielvogts zum
Auftragen, in denen er sich sicherlich so unwohl gefühlt hat wie ein Löwe in
einer Sauhaut. Nachts über mußte der Schöpfer der Rhodope unter dem
Treppenabsatz in einem Verschlag und auf einer Bettstatt mit dem Kutscher des
Herrn Vogt, dem alten Christoph, schlafen, der vermutlich auch nicht wie
Arabien duftete, trotzdem er ein gutmütiger, ehrlicher Kerl war, dem Hebbel
noch in einer treuen Dienerftgur seines schönen, unbekannten Stückes „Julia"
ein Ehrensäulchen errichtet hat. Selbst als der arme Pferdebursche am Fleck¬
typhus daniederlag, einer äußerst ansteckenden, gefährlichen Krankheit, die in¬
folge von schlecht gelüfteten, überfüllten Wohngelegenheiten einzutreten pflegt,
mußte das arme Schreiberlein Hebbel, um Mohr eine kleine Ausgabe und
Unbequemlichkeit zu ersparen, die enge Lagerstätte mit dem Fieberkranken weiter¬
teilen. Ja, schließlich ging der ehrsame Kirchspielvogt Mohr, die Stütze der
Gesellschaft in Wesselburen, sogar so weit, von seinem Schreiber zu verlangen,
er möchte doch die Dienstmagd, die sich von ihm, Hochwohlgeboren Mohr, hatte
schwängern lassen, gegen eine kleine Ausstattung, die er als Abschlag stiften
wollte, zur Frau nehmen: ein brutaler Antrag, der sogar für den Bäcker¬
gesellen, der ihn nachher einging, entehrend war und ihm die Verachtung
seiner Genossen zuzog."
Das ist eine moralische Verurteilung, wie sie schimpflicher nicht sein kann.
Sie schließt mit den Worten:
„In dem Machtkreis eines solchen Lumpen, dessen einziges Verdienst um
seine Bildung nach Hebbels eigenen Worten darin bestand, daß er ihm die
paar Bücher, die der Knabe bei ihm vorfand, nicht geradezu aus der Hand
riß. hat der Dichter volle acht Jugendjahre als Schreibknecht verschmachten
müssen. Und das entsetzlichste Gefühl des Proletariers, von dem der, der im
untersten Stande geboren ist, sich gar keine Vorstellung machen kann, das Gefühl
der aschgrauen, trostlosen Hoffnungslosigkeit seiner Lage. Hebbel hat es in
Wesselburen bis zur letzten, bittersten Hefe ausgekostet. Er ist die Folgen
dieses fürchterlichsten Pariadaseins nie mehr, selbst nicht in seinen letzten glück¬
lichsten, sorgenfreiesten, unabhängigen Wiener Jahren ganz losgeworden."
So unbarmherzig wie Eulenberg hat meines Wissens noch niemand den
Ktrchspielvogt Mohr behandelt — selbst Hebbel nicht. Wo sind die Beweise
für diese niedenvuchtenden Behauptungen?
Eulenberg hält sich vor allem an einen Brief Hebbels vom 15. Juli 1L54.
Der ehemalige Prinzipal hat bis an sein Lebensende von dem Inhalt des
Schreibens leine Kenntnis gehabt, sich also auch nicht rechtfertigen können. Die
Sache lag folgendermaßen.
Hebbels Biograph Emil Kuh hatte sich hinter dem Rücken des Freundes
«n Mohr gewandt und ihn um Mitteilungen über des Dichters Wesselburener
Zeit gebeten. Der Kirchspielvogt hatte geantwortet und nicht eben mild über
Hebbel gesprochen. „Solange er in seiner Heimat lebte, war bei seinen un¬
verkennbaren Talenten in meinen Augen seine Bescheidenheit sein schönster
Schmuck; seit er im Auslande an die Stelle seiner früheren Anspruchslosigkeit
einen unbegrenzten Hochmut hat treten lassen, kann ich Hebbel zum Gegenstand
meiner Beschäftigung nicht machen." Kuh, der aus Grund vertrauten Umgangs
mit dem Dichter ein anderes Bild von ihm in der Seele trug, ließ Mohr
seinen Unmut entgelten und nannte ihn in der „Characteristik Friedrich Hebbels"
einen „Pedanten vom trivialsten Schlag" (Briefe V, 172 f.). Zur Rechtfertigung
übersandte er dem Dichter den mit dem Kirchspielvogt geführten Briefwechsel.
Und nun richtete der Gereizte an Mohr jenes Schreiben, das furchtbar mit dem
einstigen Vorgesetzten ins Gericht geht. Mohr, nichts gutes ahnend, verweigerte
die Annahme, und Hebbel brandmarkte seinen Feind für alle Zeiten, indem er
die Abschrift des Briefes seinem Tagebuch einverleibte. Kuh machte dann in
der Biographie von dem Briefe ausgiebig Gebrauch. Auch an die dort gegebene
Darstellung hat sich Eulenberg offenbar angeschlossen. Denn sie läßt manches
in noch bedenklicherem Lichte erscheinen als die vernichtende Anklageschrift.
Hebbel hatte Mohr am Schlüsse einen Gruß an den alten treuen Christoph
ausgetragen, „dessen Sie auf eine Art gedenken, als ob Sie glaubten, daß ich
mich seiner schäme." „Das ist durchaus nicht der Fall," hatte er hinzugefügt,
„wenn ich auch vor zwanzig Jahren seine Reconvaleszenz nach dem Fleckfieber
nicht auf Ihren Befehl mit ihm in Einem und demselben Bett durchmachen
wollte, um Ihnen mit Gefahr meines Lebens eine kleine Ausgabe zu ersparen."
Auch so ist die Anschuldigung schlimm genug, aber wenn Kuh (und nach ihm
Eulenberg) behauptet, während der Krankheit Christophs hätte Hebbel mit ihm
ein Lager teilen müssen, so muß doch entschieden betont werden: „Rekonvaleszenz"
und „Krankheit" decken sich nicht. Von leichtfertiger Verwendung eines Zeugnisses
sind Kuh und sein Nachfolger demnach nicht freizusprechen. Viel belastender ist
der andere ungeheure Vorwurf, den Eulenberg dem Kirchspielvogt macht, wiederum
auf Grund des besagten Briefes. Hebbel schreibt da: „Sie schwängerten Ihre
Dienstmagd und hatten bei der Gelegenheit den brutalen Muth, mir einen An¬
trag zu thun, der sogar für den Bäckergesellen, der ihn nachher einging, entehrend
war und ihm die Verachtung seiner Genossen zuzog." Man sieht auch hier,
wie der kühne Literaturkritiker sich einfach an Hebbels Brief hält. Die „kleine
Ausstattung" hat er sich wieder aus den Fingern gesogen, denn der „Antrag"
konnte sich immerhin auf anderes bezogen haben. Doch sei ihm das nicht
nachgetragen. Aber ist es erlaubt, Hebbels Schreiben als Sammlung von un¬
umstößlichen Tatsachen zu benutzen? Vorsicht scheint dringend geboten, einmal
in Anbetracht der Stimmung, aus der dieser Brief geschrieben ist, zum andern,
weil er ein paar nachweisbare Halbwahrheiten enthalt. Ganz entschieden strebt
Hebbel danach, den Anteil Mohrs an seiner Entwicklung soviel wie möglich
herabzusetzen. So wendet er sich mit Entrüstung gegen Mohrs Angabe, Hebbel
sei in hemmt Hause „aufgewachsen", und erklärt: „. . . ich kam in meinem
vierzehnten Jahr, mit vortrefflichen Schulkenntnissen ausgerüstet, zu Ihnen" ...
Wie anders hatte er noch als Untergebener des einflußreichen Mannes am
9. August 1832 an UHIand geschrieben: „. . . ich hatte nie Gelegenheit, eine
andere, als die hiesige Bürgerschule zu besuchen, worin über hundert Kinder,
die auf den verschiedenartigsten Stufen, des Alters sowohl als der Fähigkeiten,
stehen, in den Anfangsgründen der unentbehrlichsten Wissenschaften — im Lesen,
Rechnen und Schreiben — so wie in der Religion, Unterricht erhalten, und wo
ich mir um deswillen auch nur die allerdürftigften Kenntnisse erwerben konnte."
Wenn er weiter Mohr gegenüber rühmt, Frau Doktorin Amalie Schoppe sei
mit ihm recht zufrieden, d. h. von seiner dankbaren Gesinnung überzeugt, so
mag das für den Augenblick zutreffen, denn die schwergeprüfte, die nach Amerika
gegangen war, hatte in ihrem Leid allerdings Trost von ihm erfahren; aber
unmöglich kann er die entsetzlichen Zerwürfnisse mit ihr ganz vergessen haben.
Wer den Brief als den elementaren Ausbruch einer jahrzehntelang aufgestapelten
Wut erkennt, der wird sicher geneigt sein, nicht jedes Wort für bare Münze zu
nehmen. In dem durchaus richtigen Gefühl, daß Vorsicht am Platze sei, hat
denn auch Richard Maria Werner, dem niemand eine Voreingenommenheit im
ungünstigen Sinne zum Vorwurf machen dürfte, dem Abdruck in den Tagebüchern
eine Anmerkung beigefügt: „Das wichtige Dokument, eine harte Abrechnung
mit dem einstigen Vorgesetzten, durfte nicht fehlen, obwohl es verletzend genug
ist, aber Hebbel deutet darin an. daß er die Veröffentlichung wünschte. Der
Biograph würde manches milder darstellen, was Hebbel mit der Leidenschaft
des Betroffenen als verletzende Anklage aussprach, doch wäre das Weglassen
dieses Briefes an dieser Stelle ein Verstoß gegen die quellenmäßige Treue."
Der Bibliothek Mohrs dankt Hebbel zweifellos das beste der erstaunlichen
Allgenieinbildung, die er sich bei seinem Weggange nach Hamburg schon erworben
hatte. Kein ruhig Abwägender leugnet das; Eulenberg macht sich auch in
diesem Falle wieder die gehässige Form zu eigen, in die Hebbel am 15. Juli
1854 dieses halb unwillige Zugeständnis kleidet. Wunderlich' berührt es uns,
daß der Dichter zwanzig Jahre, nachdem er die engen Zustände der Heimat
verlassen hat, die historisch bedingte soziale Schichtung seiner Jugendzeit so
ganz außer acht läßt, daß er den: einstigen Prinzipal beinahe einen Vorwurf
macht, ihn zum Auftragen abgenutzter Kleider genötigt zu haben. Was sich
aber aus dem schwer gereizten Selbstgefühl des auf der Höhe des Lebens
stehenden Dichters leicht erklärt, das wirkt komisch in der Darstellung Euleubergs,
um so mehr, als die selbst von Mohr anerkannte Bescheidenheit des Schreibers
diesen, die Möglichkeit, seines Vorgesetzten Kleidung zu tragen, wohl als einen
Vorteil hat erscheinen lassen. Es fehlt Eulenberg in solchem Falle völlig an
geschichtlicher Perspektive. Die Beköstigung am Gesindetisch und das Zuzweit-
schlasen sind Anklagepunkte, die ernstlich nicht in Betracht gezogen werden dürfen.
Diese von Hebbel anfangs gewiß nicht als demütigend empfundene Behandlung
stimmt durchaus zum damals Üblichen. Ist es Mohr zu verargen, daß er
nicht schon ums Jahr 1834 in seinem Schreibgehilfen den künftigen „Schöpfer
der Rhodope" sah?
AIs Adolf Stern im Jahre 1877 Kuss Hebbelbiographie in der Augs¬
burger Allgemeinen Zeitung besprochen hatte, richtete Otto Mohr, der Sohn
des so hart Verdächtigten, damals Professor an der Technischen Hochschule zu
Dresden, in Sachen seines Vaters ein langes, vielfach Aufschlüsse bringendes
Schreiben an Stern und bat ihn, zu Ehren seines Vaters davon öffentlich
Gebrauch zu machen. Wie weit das geschehen ist, kann ich zurzeit nicht fest¬
stellen. Als Vermalter vou Sterns Uterarischem Nachlasse halte ich mich aber
für berechtigt, einige Mitteilungen des jüngeren Mohr, der jetzt als Geheimer
Rat im Ruhestande lebt, aus diesem Briefe zu verwenden. Unter anderen:
weist er darauf hin, daß die Bibliothek des Kirchspielvogts aus tausend bis
zwölfhundert Bänden bestand; „außer einer ziemlich reichhaltigen fachwissen¬
schaftlichen Blichersammlung und zahlreichen Werken allgemein bildenden Inhalts"
umfaßte sie „die sämtlichen deutschen Klassiker (Goethe seit dem Jahre 1834),
mehrere Übersetzungen von Werken aus der französischen und englischen Literatur
und fast alles, was über Geschichte und Landeskunde Schleswig-Holsteins er¬
schienen war". Das klingt doch anders «is „die paar Bücher", von denen
Hebbel spricht. Den Einfluß eines Konoersationslexikons in Mohrs Bücherei
(Briefe VII, 1ö«) wird man mit R. M. Werner besonders hoch anschlagen
müssen. Da um Geh. Rat Mohr versichert, die Schreibarbeiten hätten sich
von einem geschickten und fleißigen Menschen in durchschnittlich höchstens zwei
Stunden täglich erledigen lassen, so begreift man, wieviel Zeit dem wissens¬
durstigen Jüngling übrigblieb, um seine Kenntnisse zu erweitern und zu ver¬
tiefen. Der Sohn des Kirchspielvogts erwähnt ferner, daß er selbst noch als
erwachsener Hausgenosse mit einem seiner Brüder hat in gemeinsamem Bette
schlafen müssen, und daß er wie seine Brüder die abgelegten Kleider des Vaters
zu tragen hatte. Mit Recht fragt er: „Was den erwachsenen Söhnen zugeniutet
werden durfte, durfte doch wohl auch dem Schreiber zugemutet werden?" Von
der schwersten Anklage gegen die Ehre des Vogts hat der Sohn im Jahre
1877 noch keine Kenntnis gehabt, sie darum auch nicht behandelt. Den anderen
bitteren Vorwurf kann er nicht zurückweisen: er sagt aber richtig: . . . „es würde
alles darauf ankommen, wie weit in jenen, Zeitpunkte die Genesung des Kutschers
vorgeschritten war. Jedenfalls geht aus dem Briefe hervor, daß der Zumutung,
als Hebbel sich weigerte, keine Folge gegeben wurde." Und da behauptet
Eulenburg ähnlich wie Kuh: „Selbst als der arme Pferdebursche am Fleck¬
typhus daniederlag — mußte das arme Schreiberlein Hebbel — die enge Lager¬
stätte mit dem Fieberkranken weiterleiten"!
Es mag als „unnütz Arbeit" erscheinen, „den Mohren weiß waschen" zu
wollen, wie es in dem Priamel heißt. Aber gezeigt sollte werden, daß die
Erregung Hebbel in einigen Fällen zu übertreibender Ungerechtigkeiten geführt
hat. Auf die ungeheuerlichste Anschuldigung hat der Kirchspielvogt nicht ge¬
antwortet — wir wissen, weil er sie nicht kannte; nach dem Erörterten wird
sie in vollem Umfange kaum aufrecht zu erhalten sein. Man bedenke auch
folgendes. Wenn Mohr seinem ehemaligen Schreiber gegenüber sich dermaßen
bloßgestellt hätte, dann mußte er in seinen Auskünften an Emil Kuh jedes
Gefühl des Gekränktseins, jede scharfe Kritik von Hebbels Wesen ängstlich unter¬
drücken, wollte er die „Enthüllung" seiner Schande vermeiden, denn Rücksicht
durfte er von einem Manne wie Hebbel nicht erwarten, zumal er von dessen
„Undankbarkeit" längst überzeugt war. Den Löwen reizt man nicht ohne
Lebensgefahr. Übrigens ließe eine sozusagen feudale Auffassung von seiner
Würde bei dem damals noch jungen Kirchspielgewaltigen selbst für diese schwerste
Anklage mildernde Umstände zu. Nun hat sich aber der Sohn über die sitt¬
lichen Grundsätze seines Vaters in jenem Briefe an Stern eingehend geäußert.
Wenn auch zugegeben werden soll, daß das Zeugnis des Blutsverwandten keinen
juristischen Wert hat, so darf es doch vor dem Forum der Öffentlichkeit gehört
werden, zumal es das Zeugnis eines glaubwürdigen und, was hier noch wich¬
tiger ist, eines hochangesehenen Ehrenmannes ist. Den wahren Grund der
Unmöglichkeit innerer Übereinstimmung zwischen Mohr und seinem Schreiber
findet Geh. Rat Mohr in der peinlichen Angst des Kirchspielvogts vor irgend¬
welcher Berührung mit Unreinem und Unschicklichen. Für das kraftgenialische
Wesen des jungen Hebbel, das mit den landläufigen Moralbegriffen nicht zu
messen war, fehlte dem Bureaukraten alles Verständnis. Schwer ist zu glauben,
daß ein solcher „Federchensucher" sich an Hebbels Ehrgefühl in der erwähnten
Art vergangen haben kann. Wie viel Wahres an der Behauptung des Dichters
ist, wird sich nicht entscheiden lassen. Ernste Zweifel bleiben in jeden: Falle
bestehen, denn wer möchte einem Hebbel zutrauen, daß er, auch wenn seine Gereiztheit
bis auf den Siedepunkt gestiegen war, haltlose Verleumdungen erdichtet hat?
Hebbel ist immer der Überzeugung gewesen, daß Mohr sein Talent
erkannt und ihn trotzdem gesellschaftlich unterdrückt habe (Tagebuchaufzeichnung
Ur. 1385). Von dieser Überzeugung aus mußte er das Verhalten des Kirch¬
spielvogts unmenschlich finden (Tagebuchstelle Ur. 2442). Seine Unfreiheit im
Verkehr mit anderen, deren er sich lange bewußt blieb, führte er auf das
Wesselburener Pariadasein zurück. Eines aber bedachte er nicht, das volle
Gewicht seiner eigenen Worte: „Wie schwer fällt es den meisten, aus den
Windeln des Kindes nicht auf den Rock des Mannes zu schließen I" (Tagebuchstelle
Ur. 5274). Trotzdem wendet er sie auf Mohr selbst an in dem oft angezogenen
Briefe. Bei dem Falle Hebbel-Mohr waltet, wie er nicht erfaßte, offenbar jene
Tragik, die sich aus dem Zusammenprallen zweier Naturen entwickelt, von
denen die eine so gut wie die andere recht zu haben meint und jede ihren
Standpunkt bis zum äußersten vertritt. In einem von Hebbel nicht gewollten
Sinne läßt sich seine erschütternde Bemerkung deuten: „Es gibt Ungerechtig¬
keiten, die gerade nur dieser Mensch gegen jenen begehen und deren Größe
der Gekränkte nur dadurch zeigen kann, daß er ebensoviele gegen den anderen
begeht. In diesem Fall befinde ich mich zu dem Kirchspielvogt Mohr in Wessel-
buren." Welch klare Einsicht in seine eigene seelische Verfassung und welche
Blindheit in der Einschätzung Mohrs!
Wer oberflächlich, ohne den tragischen Konflikt zu ergründen, das Ver¬
hältnis des Dichters zu dem Bureaukraten mit engem Horizont nur unter
Hebbels Gesichtswinkel betrachtet, kann von Mohr als einem „Lumpen", als
einer „Kanaille" sprechen. Übrigens stellt sich bei dem Dichter Eulenberg die
Wortassoziation „Mohr" und „Kanaille" wohl nur deshalb ein, weil er seinen
„Fiesko" (I. 9) im Kopfe hat.
Es ist Pflicht der Gerechtigkeit, einmal hervorzuheben, daß Hebbel zu Zeiten,
und zwar zu ganz verschiedenen, seinen Brodherrn, der ihn, ob mit vollem
Bewußtsein, bleibe unerörtert, in die Welt der Geisteskultur eingeführt hat,
minder hart beurteilte. Im Jahre 1832 schrieb er an Uhland: „Gleich nach
den: Absterben meines Vaters wurde ich von dem hiesigen Herrn Kirchspielvogt
Mohr, einem so menschenfreundlichen, als gebildeten Manne, in's Haus genommen,
um ihm als Schreiber in seinen zahlreichen Geschäften beizustehen: mein Herr
behandelt mich so gut, wie ich nur immer wünschen kann: ich könnte daher
wohl mit meiner Lage zufrieden seyn; allein, es fehlt mir hier fast an jeder
Gelegenheit, mir einige Bildung zu erwerben, welche ich mir doch so außer¬
ordentlich gern erwerben mögte. Mein Herr steht dieses selbst ein, und hat
schon wiederholentlich gegen mich geäußert, daß ich nicht am rechten Platze stehe:
er aber wußte so wenig einen Ausweg, als ich selbst." Vielleicht schätzt man
diese Darlegung nicht hoch ein, indem man sich in die damalige unfreie Lage
Hebbels versetzt. Gewiß mußte der junge Mann Vorsicht brauchen in seinem
Urteil über den Prinzipal, Uhland konnte doch Erkundigungen einziehen; aber
notwendig war ein so unzweideutiges Lob des Vorgesetzten in diesem Briefe
nicht. Noch zwanzig Jahre später erwähnt Hebbel in einem Lebensabriß, den
er Arnold Rüge zuschickt (Briefe V, 40 f.): „Ich konnte mich erst in meinem
zweiundzwanzigsten Jahre den Studieen widmen, befand mich im Uebrigen aber
in ganz erträglichen Verhältnissen." Hier erkennt er sogar den Gewinn des
Einblickes „in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Thuns und Treibens" an.
1833 war der Kutscher Christoph am Fleckfieber erkrankt gewesen, und im Jahre
darauf dichtete Hebbel für den Fackelzug anläßlich von Mohrs Vermählung
Verse, die überströmen von Dankbarkeit (Sämtliche Werke. Historisch - kritische
Ausgabe, VII. Band, S. 117). Da heißt es u. a.:
Für Mohr spricht endlich das Zeugnis, das er seinem Schreibgehilfeu am
13. Oktober 1834 ausstellte (abgedruckt im Hebbel-Kalender für 1905, S. 136
bis 138) und auf das sich als auf die Urkunde eines „gewissenhaften Mannes"
Hebbel in seiner Abrechnung mit Amalie Schoppe (II, 42) ausdrücklich beruft,
um die Gönnerin ins Unrecht zu setzen. Nach den anerkennenden Worten Mohrs
begreift man freilich nicht, daß er die Aufforderung von Hamburg aus, sich an
den Sammlungen für Hebbel zu beteiligen, wie Bartels („Christian Friedrich
Hebbel" sReclams Universalbibliothel^ S. 26) hervorhebt, abgelehnt hat. Zwischen
dem 13. Oktober 1834 und dem 14, Februar 1835, dem Tage der „Hedschra",
müssen Ereignisse liegen, die das Verhältnis zwischen Herrn und Diener un¬
günstiger beeinflußt haben. Wir kennen sie nicht, werden sie vielleicht nie¬
mals erfahren. Von Wohlwollen und einer wenigstens nicht ganz falschen
Beurteilung von Hebbels Fähigkeiten kündet dieses Schriftstück unzweifelhaft.
Und dürfen wir es dem in der Welt der Akten lebenden Juristen menschlich
so schwer verargen, daß er die staunenswerte Entwicklung seines Untergebenen
auf poetischem Gebiete nicht voll ermessen konnte? Bedauern mögen wir ihn
und den Titanen, der unter Kleinlichkeit zu leiden hatte; verdammen können
wir den in Vorurteilen Befangenen aber nicht.
Nur um zu zeigen, daß bei Hebbel sich in seinen Angaben Wahrheit und
Dichtung zuweilen vermengen, nicht um anzuklagen, lenke ich die Aufmerksamkeit
meiner Leser auf einen Fall, der mit Mohr nichts zu tun hat und doch geeignet
erscheint, auf den Mohrs Ehre so empfindlich treffenden Brief ein Licht zu
werfen. Es ist die Angelegenheit von Hebbels Doktorpromotion. Die Würde
eines Doktors der Philosophie hätte der Dichter gern, um seinen Münchner
Studienjahren einen äußeren Abschluß zu geben, gegen das Jahr 1839 er¬
worben. Sein Wissen wäre mehr als ausreichend gewesen, aber die Mittel
fehlten ihm. Erst in der Pariser Zeit sandte er der Erlanger Fakultät eine
Arbeit ein; Regierungsrat Rousseau in Ansbach, der Vater eines früh ver¬
storbenen Jugendfreundes, gab ihm verlangte Auskünfte (Brief an diesen vom
1. April 1844 M, 64 f.^j und weiter Erwähnung der Angelegenheit im Schreiben
an Elise Lenstng vom 3. Mai ^III, 85^ und in einem Briefe an Charlotte
Rousseau vom 17. August des gleichen Jahres ^III. 15M Hebbel war offenbar
der Meinung, er dürfe den Titel führen, sobald die Doktorschrift angenommen
worden war, und selbst in einer Gingabe an den König von Dänemark, Rom,
20. Dezember 1844, unterzeichnete er sich als „Friedrich Hebbel. Dr. pkil,".
Das Diplom konnte erst viel später, kurz vor seiner Verheiratung, eingelöst
werden, denn am 6. Juni 1846 (III, 326) bedankt er sich bei Rousseau für die
Gefälligkeit. Mit der Zahlung der Kosten und mit dem Diplom hatte er endlich
das Recht erlangt, sich Doktor zu nennen.
Um diese Formalitäten hat sich der ehemalige Student der Rechte freilich
nicht gekümmert. Merkwürdig erscheint es allerdings, daß er. noch ehe die
Arbeit abgesandt war, seine Briefe an Elise Lensing mit der Aufschrift „Madame,
Madame Dr. Hebbel" versieht, noch sonderbarer, daß er Samt Rene? Taillcm-
dier im Jahre 1852 berichtet, er habe bereits in München den Doktorgrad
erworben (VIII, 34), und geradezu unbegreiflich ist die Flunkerei gegenüber
dem Wesselburener Kirchspielschreiber Voß (am 25. Juli 18391): „Hievon
(nämlich von Honoraren) habe ich mir gleich 11 sLouisd'ore^ auszahlen lassen,
welche nöthig waren, um mein Diplom als vvctor plril: einzulösen, das ich zu
meinem größten Verdruß, obgleich ich mein Philosoph. Examen gemacht und
meine Dissertation eingeliefert hatte, wegen Geldmangels nicht mitbringen konnte.
Jetzt ist es Gott lob schon seit drei Tagen in meinen Händen, und ich bin nun
anch an Rang und Stand jedem Narren gleich, der mich ehemals über die
Achseln ansah." Die Anmerkung Werners zu dieser Stelle (II, 5), Hebbel
scheine nicht streng den Tatsachen gefolgt zu sein, klingt viel zu harmlos. Es
läßt sich allenfalls begreifen, warum hier die Unwahrheit gesagt wurde; der
Brief sollte gewiß seinem Inhalt nach mit an Mohr gerichtet sein. Eine be¬
absichtigte Täuschung steht aber fest; man beachte auch, wie in dem nämlichen
Schreiben ein Brief Tiecks sehr geschickt „umredigiert" wird.
Hebbel im Falle Mohr jedes Wort zu glauben, ist deshalb sehr bedenklich.
Wie der Sohn über den Vater, so dachte übrigens der Wesselburener Pastor
über den einflußreichen Mann. Wenn Karl Zeiß in der biographischen Ein¬
leitung zu seiner Hebbelcmsgo.be über Mohr sänftlicher urteilt, so kommt das
daher, daß er sich nach eignem Geständnis durch die Angaben des Pastors
Sierk in Dresden, „der lange Zeit Geistlicher in Wesselburen war und Mohr
genau gekannt hat" (ebenda S. 19). hat mitbestimmen lassen.
Die Mahnung „Hab' Achtung vor dem Menschenbild!" mag der Kirchspiel¬
vogt, zum Teil aus Unverständnis, gegenüber seinem genialen Schreiber öfters
außer acht gelassen haben, doch geht man schwerlich zu weit, wenn man beim
Streite Hebbel-Mohr den Dichter selbst, dem sich fast alles Mißgeschick seiner
trüben Jugendzeit an den Namen Mohr knüpfte, — mit Bedauern sei es
gesagt — der Nichtbeachtung dieses herrlichen Wortes beschuldigt.
item in unserer kriegsschwangeren Zeit, wo die Großmächte Europas
mit umgelegten Sicherungsflügel in schwer prüfender Beobachtung
dein heiligen Kampfe um Sein oder Nichtsein auf dem Balkan
zuschauen, wird ein Buch auf den Ladentisch gestellt mit dem Titel:
„Vom Kriege" von: General von Clausewitz. Was soll das be¬
deuten? Soll es warnen, soll es reizen? — Nein, doch nicht; denn es handelt
sich lediglich um die siebente Auflage des vor hundert Jahren geschriebenen
Werkes (Dümmlers Verlag, Berlin). Aber etwas Merkwürdiges ist doch an der
Sache. Auf schwarzem Einband, der Farbe des Todes, strahlt grelleuchtend
und blutigrot ein Flammeugebild uns entgegen, auf dem die düster-drohenden
Worte stehen „Vom Kriege". Wer dies sieht und nie etwas Bestimmtes vom
General von Clausewitz gehört hat — und merkwürdigerweise gibt es viele
solcher Leute —, der muß vom Titelblatte schließend glauben, daß in dem
Buche die fürchterlichsten Dinge in nervenreizender Forni zusammengetragen
wären. Wie das Plakat eines Kinos mutet es an. Und wirft man nur einen
flüchtigen Blick in das Buch, sieht man nichts von Blut und Tod, nichts, was
die Sensationslust befriedigen könnte. Ruhige, sachliche Gedanken eines Philo¬
sophen empfangen den Leser. Warum nun wohl diese Form des Einbandes,
die an das Getöse des Jahrmarktes erinnert? Wem würde es einfallen, Kants
Kritik der reinen Vernunft mit einem Bilde der Großhirnrinde anzupreisen
oder Schopenhauers „die Welt als Wille und Vorstellung" mit einem Sternen¬
himmel, in dem der ringgeschmückte Saturn sich von der Sonne beleuchten
läßt? Ist Clausewitz denn ein geringerer als diese beiden allbekannten Geistes¬
helden? Ja, daran liegt es: er ist zu unbekannt im deutschen Vaterlande.
Diese Tatsache bedauernd, und in dem Wunsche, ihr abzuhelfen, mag die Wahl
dieses Umschlages erfolgt sein — um, der Idee willen; die Kauflust anzuregen
und zu verdienen war der andere Grund — in der Wirklichkeit. So unter¬
stützt die Idee die Wirklichkeit und die Wirklichkeit die Idee; beide stehen in
„Wechselwirkung" zueinander. Und mit diesem Gedanken haben wir festen
Fuß gefaßt in der Clausewitzschen Theorie vom Kriege.
Wir wollen den Umschlag also entschuldigen, weil er uns so schnell und
sicher in die Ideenwelt des großen Soldatenphilosophen einführt.
„Das erste Geschäft einer jeden Theorie ist das Aufräumen der durch¬
einandergeworfenen und, man kaun wohl sagen, sehr ineinander verworrenen
Begriffe und Vorstellungen." Dieser Satz durchzieht wie ein Leitmotiv das
ganze Werk, den er mit der zähen Konsequenz eines großen Geistes verfolgt,
ohne ihm jemals untreu zu werden.
In weiser Beschränkung verliert er sich nie in einem Gedanken bis zu
dessen Unendlichkeit, wie es so gern Halbphilosophen tun, die dann den Boden
unter den Füßen verlieren, sondern immer wieder vergleicht er ihn mit der
Wirklichkeit und stutzt ihm die Flügel, damit er menschlich brauchbar werde.
Wie der Physiker oder Phnsiologe betrachtet er sinnend die Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen, um ihre Ursachen und Wirkungen zu enträtseln und ihre
Zusammenhänge festzustellen, bis er das ihnen gemeinsame Grundgesetz gefunden.
Clausewitz verwahrt sich ganz ausdrücklich dagegen, daß er eine Lehre vom
Kriege habe schreiben wollen, aus der man sich etwa mathematisch sein Handeln
errechnen könne. Es ist somit kein Buch, das lediglich den Soldaten interessieren
könne, sondern aus seinem Inhalt kann die ganze Menschheit lernen. Jeder
wird vielerlei Brauchbares für sich darin finden.
Dem Begriff nach „ist der Krieg ein Akt der Gewalt, um den Gegner
zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. Soll dieser Zweck in seinem
ganzen Umfange erreicht werden, muß der Gegner wehrlos, d. h. vernichtet
werden. So kann es in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen geben;
theoretisch muß also der Krieg zum Äußersten führen. Dies ist nun aber in
Wirklichkeit niemals der Fall; der Krieg bleibt in seinem Zweck immer hinter
dem Absoluten zurück"; er trägt in sich selbst seine eigenen Vernichtungskeime,
deren hauptsächlichster der ist, daß der Krieg eben kein Ding an sich ist, „kein
isolierter Akt", sondern in Wirklichkeit „eine bloße Fortsetzung der Politik mit
anderen Mitteln; er ist ein politisches Instrument". Soll dieses aber wiederum
zweckerfüllend gebraucht werden, muß der Krieg „unter seinem Begriff wie unter
einem höchsten Gesetz stehen"; d.h. der Krieg muß in der Idee den Gegner ab¬
solut vernichten wollen, obgleich er dies niemals aus sich heraus erreichen wird.
Dieser Gedanke wird in dem ersten Buch, das über „die Natur des
Krieges" handelt, in streng logischer Tiefe und überzeugend allgemeinverständ¬
licher Darstellungsweise von allen Seiten beleuchtet, entwickelt und als End¬
ergebnis unwiderleglich hingestellt.
Wenn man nun meint, daß dieses Gesetz und dessen Begründung nur
sür den Soldaten Wichtigkeit habe, so betrachtet man mit dieser Meinung
lediglich die eine Seite des Gedankens. Genauer besehen, ist er von ganz
allgemeiner und tief in alle Lebensverhältnisse eingreifender Bedeutung. Schon
derjenige, der die kriegerischen Verwicklungen und Abwicklungen der neuesten
Zeit mit Aufmerksamkeit verfolgt, wird ihn mit Vorteil gebrauchen können,
will er Übersicht und Klarheit gewinnen über diese wichtigste der menschlichen Hand¬
lungen. Der russisch-japanische Krieg und der jetzige Balkankrieg wird ihm in seinem
Endresultat verständlich erscheinen. Denn keins der beteiligten Völker ist vernichtet
worden und wird vernichtet werden, obwohl die Tendenz dazu unstreitig vorlag.
In dieser Beobachtung wurzelt wohl auch die große Frage, die seit Christi
Geburt immer wieder auftaucht und ihrer Lösung harrt: warum denn über¬
haupt ein Krieg? Der ewige Friede ist das Menschheitsideal! In obigem
Satz hätten wir doch die Erklärung dafür, wie denn eigentlich der Gedanke des
Weltfriedens in die Menschheit hineinkommen konnte. Denn wo der Krieg sich
selbst verzehrt, muß er ein krankhaftes Gebilde sein. Begrifflich wird sich wenig
gegen diese Schlußfolgerung einwenden lassen. Aber der Krieg ist eben kein
Ding an sich, sondern wie Clausewitz auseinandersetzt, „gehört der Krieg nicht
in das Gebiet der Kunst- und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des gesell¬
schaftlichen Lebens. Er ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst
und nur darin ist er von den anderen verschieden." Schaffe die Interessen
aus der Welt und der Krieg als Element ist tot. Ebenso tot ist dann aber
auch der Friede. Denn der Friede ist ebensowenig ein Ding an sich wie der
Krieg; auch der Friede ist ein Akt des gesellschaftlichen Verkehrs; auch er trägt
seine eigenen Vernichtungskeime mit sich und in sich herum. Wie es im Kriege
einen Stillstand geben nutz, obwohl ein solcher theoretisch widersinnig sein
müßte, — Clausewitz weist die Notwendigkeit wundervoll nach — so ist der
Friede der Stillstand im kriegerischen Akt des Weltverkehrs. Das Urelement
des Lebens ist der Kampf, die Tendenz der gegenseitigen Vernichtung; die
Liebe ist das „ermäßigende Prinzip", das den Kampf hindert, sich dem
„Äußersten, dem Absoluten" zu nähern. Kampf und Liebe stehen in „Wechsel¬
wirkung" zueinander. „Denn so bald du dies nicht hast, dieses Stirb und
Werde," singt Goethe und vertritt damit sinngemäß den Clausewitzschen Ver¬
nichtungsgedanken im Kriege.
Und obwohl der Krieg stets hinter seinem absoluten Zweck zurückbleibt, so
muß doch der Wille zur Vernichtung vorherrschen, soll derKricg nur annähernd seinen
Zweck erreichen. Es ist also der Wille die Triebkraft, „um den Gegner zur
Erfüllung unseres Willens zu zwingen." So bestätigt Clausewitz die Wundtsche
Psychologie, die behauptet, daß der Wille die zentrale Funktion des Seelen¬
lebens sei, und er bestätigt den metaphysischen Voluntarismus eines Schopen¬
hauer und E. v. Hartmann, wonach das äußere Sein und Geschehen als
objektivierte Erscheinung einer einheitlichen Willenstätigkeit zu betrachten sei.
Clausewitz selbst freilich zieht diese Schlußfolgerungen in dieser Allgemeinheit
nicht, sondern nur insoweit, als sie sich auf den Krieg beziehen. Sie werden
in diesem Aufsatz aber erwähnt und erweitert, um auf die Tiefe der Gedanken
und auf die schier endlose Verwendbarkeit des Materials hinzuweisen, das in
der „Theorie vom Kriege" steckt. Eigentlich wäre doch diese vervielfältigte An¬
wendung das Natürlichste, das man sich denken kann. Denn will man über¬
haupt aus der Welt der Erscheinungen und Erfahrungen ihr Wesen, ihren Gott
erkennen, so muß sich doch das Geheimnis dort am deutlichsten offenbaren, wo
Mensch oder Volk oder Rasse um Tod und Leben kämpft, wo Vernunft und
Empfindung, wo Geist und Materie in ihrer Urkraft in die Erscheinung treten
muß. Es müssen dort dieselben Elemente wirken der Seele und des Körpers,
der Innen- und der Außenwelt wie im Einzelleben, nur stärker, wuchtiger und
deshalb deutlicher erkennbar. Aber trotzdem geht selten, man darf wohl sagen nie¬
mals, eine Philosophie vom Kriege aus. Denn den Krieg mit seinen Gesetzen hält man
für eine militärische Angelegenheit, wo er doch so menschlich, ja allzu menschlich ist.
Wer der Welt eine neue Wahrheit zu verkünden glaubt, die glücklich
machen und befreien soll, muß mit der ganzen Macht seiner Persön¬
lichkeit seiner Idee Eingang verschaffen. Er wird daran gehindert von denen,
die die neue Wahrheit nicht anerkennen. Zwischen beiden entsteht der Krieg.
Welche Elemente in demselben spielen, welche Kräfte auf dessen Verlauf ein¬
wirken, welche Mittel zum Sieg oder zur Niederlage oder gar zum Stillstand
führen, das finden die Kämpfenden in dem ersten und zweiten Buch, wo „die
Natur und die Theorie des Krieges" entwickelt und begründet wird. — Wenn
der Zeitungsredakteur seine Glossen schreibt zum Balkankriege, so wird ihm das
fünfte Kapitel des zweiten Buches, wo über das Wesen der Kritik gesprochen
wird, unschätzbare Dienste leisten. „Die kritische Betrachtung, nämlich die
Prüfung der Mittel, führt zu der Frage, welches die eigentümlichen Wirkungen
der angewendeten Mittel sind, und ob diese Wirkungen in der Absicht der
Handelnden lagen." Würde sich der Berichterstatter mehr mit den Gedanken
der Kriegführung beschäftigen, wie sie Clausewitz uns lehrt, dann würden die
Betrachtungen nicht, wie so häufig, einem kurzfristigen, plötzlich aufsteigenden
Gefühl entspringen und einem Blitze gleichen, der zwar aufleuchtet aber nicht
zündet, sondern eine ruhige Betrachtung des Ursprungs und des Zusammenhangs
würde vielleicht finden, daß manche aufgedeckten Fehler der Natur des Krieges,
aber nicht stets dem Feldherrn zur Last fallen. —
„Besser als mit irgendeiner Kunst ließe sich der Krieg mit dem Handel
vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten ist."
Welcher erfolgreiche Kaufmann handelt nicht nach den „Hauptgrundsätzen für
den Kriegsplan", die kurz zusammengefaßt lauten: Alle Kraft gegen den
Schwerpunkt der feindlichen Macht richten und so konzentriert und schnell als
möglich handeln. „Der Krieg ist ein Stoß entgegengesetzter Kräfte aufeinander,
woraus von selbst folgt, daß die stärkere die andere nicht bloß vernichtet, sondern
in ihre Bewegung mit fortreißt." Dies sind allbekannte Erfahrungssätze im Handel
und Verkehr. Und wo Unternehmungen fehlschlagen, liegt es daran, daß die strate¬
gischen und taktischen Gesetze nicht erkannt, nicht befolgt wurden. Die Erscheinungen
des Krieges geben ein allumfassendes, klares Bild, aus dessen Betrachtung man
ungeheuer lernen kann, wenn man nur die korrespondierenden Worte von Feind
und Gelände, Streitkraft und Reserve usw. in die jedesmaligen Fachausdrttcke um¬
wandelt. Denn Wesen und Begriff dieser Worte bleiben in allen Formen sich gleich.
„Der Krieg ist ein politisches Instrument", ja „die Kriegskunst wird auf
ihrem höchsten Standpunkt zur Politik". Wenn sich demnach Staatsmann und
Feldherr in einer Person verbinden, so haben wir von dieser die höchsten Leistungen
*
zu erwarten. Ein Friedrich der Große und Napoleon bestätigen die Schlu߬
folgerung. Diese findet ihre natürliche Begründung darin, daß Künstler
und Pnstrument wesensgleich sind. Denn Politik und Kriegskunst haben
im Verstand oder Willen den treibenden, in: Gemüt oder Seele den hemmen¬
den, in der Umwelt den ausgleichenden Faktor, der die Harmonie oder das
Gleichgewicht wieder herstellt. Und wenn Politik und Krieg wesensgleich sind,
so gelten die Gesetze des einen auch für den andern Teil. Wer sich demnach
mit Politik beschäftigt, wird in den Gesetzen der Kriegskunst wesentliche Hilfs¬
mittel für Entschluß und Handeln finden. Die Parlamentarier kennen diesen
innerlichen Zusammenhang, denn sonst wäre das Wort Parteitaktik nicht geprägt
worden. Aber Taktik ist nach Clausewitz nur die Lehre vom Gebrauch der
Streitkräfte im Gefecht, die Strategie aber die Lehre vom Gebrauch der Gefechte
zum Zweck des Krieges. Politik indes ist ein Krieg zum Wohle des Volkes.
So wird Clausewitz zum Führer und Berater in nationaler Strategie.
Die hier entwickelten Gedanken sind nicht neu und beanspruchen es auch
nicht. Es kam nur darauf an, unter dem Dröhnen der Kanonen Südosteuropas
und unter dem Getöse der Auffrischungen zu eng und klein gewordener Rüstungen
Ganz-Europas still und anspruchslos einmal darauf hinzuweisen, daß der Krieg
zu den menschlichsten Handlungen gehört und daß ein Werk, das seine Elemente
zu finden und klarzulegen sucht, nicht allein ein Buch ist für den Soldaten,
sondern für die Menschheit. Daß indes ein Mann, dessen ganze Zeit von einem
nicht militärischen Beruf ausgefüllt wird, ein solches durchstudieren soll, ist
schwerlich zu verlangen. Aber das Buch gehört in die Volksbibliotheken und in die
Gymnasien, dorthin, wo sich der Geist sehnt nach Hilfe und Klarheit in dem betörenden
Wirrwarr der Innen- und Umwelt. Denn in prächtiger, fugenloser Gedanken¬
folge und einfacher, aber doch nicht schmuckloser Sprache führt uns Clausewitz
in jene wunderliche Welt, wo leicht beieinander wohnen die Gedanken und
hart im Raume sich die Sachen stoßen, wo Idee und Wirklichkeit sich anziehen
und abstoßen wie die Elektrone im Universum. Stellen wir den deutschen
Jüngling einmal vor die Frage, wohin sein Herz ihn mehr zieht, ob zu Lessings
Kunstabhandlung: „Wie die Alten den Tod gebildet" oder zu Clausewitzens
erstem Kapitel: „Was ist der Krieg?" vorausgesetzt, der Jüngling kenne beides
nicht, — er nennt das Letztere! Und der Lehrer darf mit der Wahl zufrieden sein.
Logik und deutsche Sprache kann man auch bei einem General erlernen. Und
liest man gar gemeinsam die Kapitel vom „kriegerischen Genius" und „Von
der Gefahr im Kriege", dann wird der junge Mann das, was er bisher nur ver¬
schwommen gefühlt, bewußt erkennen, nämlich was es heißt, ein Feldherr zu sein, und
die Begeisterung für die Helden von 13 und 70 vertieft sich in sinnende Ver¬
ehrung. Er wird im kriegerischen Genius dann den Mann erkennen, der nicht
nur Schlachten schlägt und Kriege plant, sondern der durch das Leben führt.
Denn Clausewitz schrieb letzten Endes nicht das Buch „vom .Kriege", sondern
Der Pflanzer wurde unterbrochen. Eine launische Frau erschien und
richtete ihm in ihrer Sprache etwas aus. Während sie nur unverständliche,
aber wohllautende Worte sprach, bewunderte ich ihre Tracht. Es war dieselbe,
die der Pflanzer soeben an der Rodia geschildert hätte. Das gelbrote Gewand
umschlang leicht den Unterkörper, das Ende war dann togaähnlich über die
eine Schulter gezogen und hinten wieder an der Hüfte festgesteckt. Der Körper
trat plastisch unter den malerischen Falten hervor, die schlanken Füße waren
fast bis zu den Knien frei. Im Nasenflügel steckte kokett ein goldenes Rosettchen,
ein Schmuck, den an dieser Stelle nur Tamitinnen, nie Sir gh alesinnen tragen.
Die Auskunft der Frau schien für den Pflanzer erfreulich zu sein, heiter
gab er Antwort und tat seine Fragen, und noch spielte ihm ein Lächeln um
die Lippen, als sie gegangen war, er sich wieder zu mir wandte und in seiner
Erzählung fortfuhr: ^
Ich sah von Widschaja in den nächsten Wochen nichts. Schmerzlich ver¬
mißte ich die einzige Unterhaltung, die sich mir in meinem Weltabgeschlossenen
Winkel geboten hatte. Auch im Dorf hielt man sich von mir zurück. Man
grüßte mich zwar mit derselben Höflichkeit wie vorher, aber es fehlte das freund¬
liche Lächeln in den Gesichtern, mit dem groß und klein mich sonst bewill¬
kommnet hatte. Widschajas Vater sah ich nicht; er zog sich offenbar jedesmal
in sein Haus zurück, wenn ich durch das Dorf giM Die Leute hielten mich
wohl nicht für irgendwie beteiligt an der Tat ihres Königssprossen, aber mein
Anblick rief ihnen das traurige Ereignis immer wieder wach, auch wußten sie,
daß ich ihre Handlungsweise nicht billigte.
Endlich, als noch einige weitere Wochen vergangen waren und Widschaja
immer noch nicht kam, beschloß ich, ihn aufzusuchen. An einem frühen Morgen
betrat ich den schmalen Urwaldpfad. Kerzengerade ragten zu beiden Seiten die
hohen Stämme empor; wie grüne Federpelze umgaben sie von allen Seiten die
schmalen Blätter der Schlingpflanzen, während hier und da hoch oben von einem
Ast ein langer Farnbüschel herunternickte. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen
verliehen dem freundlichen Waldbilde lichtvolle Klarheit und zarten Duft.
Große schwarzblaue Schmetterlinge flogen über den Pfad, eine Affenherde schwang
sich an den Lianen vorüber, ihr dumpfes „hun hun" verklang in der Ferne.
Von allen Seiten tönte durch die sonnige Einsamkeit der trommelnde Gesang
des grünen Vogels, den die Singhalesen Kotoruwa nennen, das Gurren der
Waldtauben und das kecke Krähen des Dschcmgelhahnes. In der Bewunderung
des reichen, immer wieder von neuem interessanten Tierlebens hatte ich den
Zweck meines Ganges fast vergessen, als plötzlich, es konnte nur noch wenige
Schritte von der Lichtung sein, Widschaja mir entgegentrat.
„Geh nicht weiter, Herr," sagte er, mir die Hand reichend, „die Leute in
der Hütte sind scheu wie die Tiere des Waldes. Ein Fremder erschreckt sie,
denn sie sind es gewohnt, in jedem einen Feind und Verfolger zu sehen. Kehre
wieder um, ich werde dich begleiten."
Ich wandte mich und ging voran, Widschaja folgte, denn ein Nebeneinander
erlaubte die Enge des Weges nicht, auf dem man sich überdies vor den her¬
überhängenden stacheltragenden Blattgeißeln der Rotanglianen zu hüten hatte.
Nur kurze Fragen und Antworten konnten daher zwischen uns fallen. Aus
ihnen erfuhr ich, daß in der Urwaldhütte außer Widschaja und Kuweni nur
noch deren Eltern wohnten. Zu essen bot der kleinen Familie das Gärtchen
auf der Lichtung und der Wald. Dazu verstand Kuwenis Mutter Körbe zu
flechten, während der Vater aus Eben- und Eisenholz, das im Walde wuchs,
kleine Elefanten und andere Schnitzereien fertigte. War von beiden eine gewisse
Anzahl beisammen, so brach er nach Mitternacht auf, durchschritt das Dorf,
während alles schlief, und wanderte weiter bis Galle, wo er an indoarabische
Händler seine Sachen verkaufte, um dann das wenige, was der kleinen Familie
noch fehlte, sich zu besorgen. Viel war es ja nicht, was die bedürfnislosen
Leute brauchten, vor allem Reis, dazu als Würze kleine gesalzene Fischchen,
dann Töpfe und von Zeit zu Zeit ein neues Rocktuch.
Unterdessen waren wir aus dem Walde herausgekommen. Ich trat Widschaja
an die Seite und wir schritten zusammen bis zu einer Bank, die am Beginn
meiner Pflanzung stand; auf diese setzten wir uns. Jetzt, wo ich meinen
singhalesischen Freund voll anschauen konnte, fiel mir auf, daß er sich verändert
hatte. Zwar trug er wieder das Rocktuch und die weiße Jacke, aber das Haar
war nicht mehr so peinlich geordnet wie früher und vor allem war der Blick
unstät geworden. Widschaja vermied es, mich anzusehen.
Zuerst war er wortkarg und gab nur kurze Antworten. Das Zusammen¬
sein mit mir, mit dem er früher als geachteter Singhalese hoher Kaste verkehrt
hatte, war ihm offenbar in seiner jetzigen Lage peinlich. Aber allmählich
wurde er wärmer. Er spürte, daß ich ihm noch gerade so freundlich gesinnt
war wie früher. Und als ich, um ihn heiterer zu stimmen, frei heraussagte,
er sei durch eine edle Tat zu den Nodias gekommen, und für mich stünde er
dadurch sogar noch höher als vorher, sah er mich wieder voll an und
erwiderte:
„Nein, Herr, ich bin gesunken. Ob mit, ob ohne Schuld, ich stehe tiefer
als vorher. Ich bin wie der Fisch des großen Stromes, der in einen engen
Teich geworfen ist. Er fühlt sich nicht mehr frei, er kann sich nicht recht regen,
ist nicht in seinem Element. So ist auch mir, als ob ich nicht mehr atmen könnte."
„Aber deine Kuweni?"
„Ich tat nicht recht, als ich ihr diesen Namen gab. Es war ein schlimmes
Vorzeichen. Jene erste Kuweni machte ihren Gatten zwar nicht zum Verachteten,
sondern sie wurde emporgehoben, wurde Herrscherin. Aber König Widschaja
konnte sich doch nicht an der Seite einer Frau wohl fühlen, die zu einem tief
unter dem seinen stehenden Volke gehörte. Er verstieß seine Gattin und freite
eine andere von gleichem Rang und Blut. Und Kuweni nahm Wohnung auf
einem hohen Berg bei Kurunegalla und flehte Tag und Nacht die Rache ihrer
Götter auf den Ungetreuen herab."
„Aber du wirst doch deine Kuweni nicht verstoßen?"
„Nein," sagte er fest, „das werde ich nicht. Zuerst schlug mich ihr Körper
in Fesseln, nun fühle ich mich auch zu ihrer Seele hingezogen. Ein reineres,
unberührteres Mädchengemüt kann es nicht geben. Kein Wort des Zornes geht
je von ihren Lippen. Sie verehrt mich wie einen Gott. Jedes freundliche
Wort, das ich ihr sage, jede Liebkosung nimmt sie wie ein Geschenk entgegen,
und ihre großen Augen verklären sich dann in strahlendem Dank. Vom ersten
Sonnenstrahl bis zum letzten arbeitet, denkt sie für mich. Es müßte wunderbar
sein, diese Knospe zu pflegen, bis sie zur Blüte wird und Frucht bringt. Aber
ich bin nicht der Gärtner dafür."
„Und warum nicht, Widschaja," fragte ich.
„Ich habe versucht, sie zu lehren." erwiderte er, „aber nur kurze Zeit ging
es, dann versagte mir die Kraft. Wenn Lehre Frucht bringen soll, muß zuerst
der Lehrer seinen Geist frei entfalten können, aber auf meine Seele drückt die
Rodiaumgebung. Ich liebe Kuweni wirklich, aber manchmal stößt es mich selbst
von ihr mitten in einer Liebkosung zurück. In mir fließt eben das Blut der
höchsten Kaste, und diesem muß die Abneigung gegen Rodiablut eingeboren sein.
Ich habe mir Mühe gegeben, es zu überwinden, aber ich kann nicht, ich
kann nicht!"
Seine Stimme verschleierte sich, er wandte sich ab. Plötzlich sprang er auf.
„Und die Eltern, die vermag ich nicht zu sehenI Ja, auch sie verehren
mich, tun was ich will ehe ich es noch gesagt habe, aber ihnen gegenüber, wo
die Liebe fehlt, ist mein Rodiaekel unbezähmbar. Wenn ich sie nur von fern
erblicke, zieht Abneigung in mir ein, und sind sie gar nahe, so ist mir die
Kehle wie zugeschnürt. Ich kann dann nicht arbeiten, nicht essen, alles drängt
in mir, sie fortzustoßen, weg. aus meinen Augen! Manches heftige, ungerechte
Wort habe ich ihnen schon zugeschleudert, sie sind dann still gegangen, und ich
sah im Auge meiner Kmveni eine Träne. Das ist das schlimmste an meinem
Schicksal: ich werde schlecht!"
Ich wollte antworten, trösten, aber er unterbrach mich. „Was du auch
sagen willst, es ist alles umsonst. Mein Schicksal muß ich tragen, und zwar
allein. Darum bitte ich dich, suche mich nicht mehr auf. Ich würde weglaufen.
Soweit bin ich schon Rodia geworden, daß auch ich jetzt Scheu und Scham
vor anderen Menschen habe. Doch verspreche ich dir, ich will, so schwer es
mir auch werden mag, von Zeit zu Zeit zu dir kommen. Und nun lebe wohl."
Und ehe ich noch etwas sagen konnte, war er raschen Schrittes zwischen
den Bäumen verschwunden.
Widschaja hielt Wort. Aber nur sehr selten kam er zu mir, und wenn
er mich aufsuchte und wenige Worte mit mir sprach, stimmte es mich traurig.
Teun jedesmal spürte auch ich es mehr, daß mein singhalesischer Freund
herunterkam. Die mit Verachtung gesättigte Rodialuft brachte auch ihn all¬
mählich zur Selbstverachtung, und der Ekel, den er vor seiner Umgebung
empfand, zerstörte das Gleichgewicht seiner Seele. Seine frühere schöne Ruhe,
getragen durch das Selbstbewußtsein edlen Blutes, sein wirklich vornehmes
Wesen, das er sich und seiner Abstammung schuldig zu sein glaubte, alles war
dahin. Er war zerfahren und voll Unruhe geworden. Wenn er von seinem
Elend erzählte, konnte er heftig werden, und seine Stimme wurde gellend. So
vermochte zwischen uns die frühere Harmonie nicht mehr auszukommen. Und
sein Stolz, der immer wieder stoßweise und oft fast unheimlich aus der Selbst-
verachtung aufflammte, sagte ihm, daß seine Gegenwart auch für mich nieder¬
drückend war, denn nach einiger Zeit blieb er ganz fort. Zweimal versuchte
ich trotz seiner Ablehnung ihn in seiner Hütte aufzusuchen, aber er schämte sich
offenbar, mich in sein Elend blicken zu lassen, und versteckte sich wie die anderen.
Ich zog unverrichteter Sache ab und fand mich endlich darein, Widschaja seinem
traurigen Schicksal überlassen zu müssen.
Es war ungefähr ein Jahr seit jener verhängnisvollen Nacht vergangen,
als ich an einen: Nachmittage wieder einmal zur Flinte griff, um ein Krokodil
zu schießen. Sie werden es als Zoologe wissen, daß diese trägen Bestien,
denen es auch hier so nahe am Äquator noch nicht heiß genug zu sein scheint,
erst wenn die Sonne am stärksten brennt, das Wasser verlassend Sie legen sich
dann am Ufer nieder, um sich die prallen Strahlen auf den geschuppten Rücken
brennen zu lassen.
Ich trat nahe meiner Pflanzung vom Wege herunter. Hier dehnte sich
noch eine schmale Wiese bis zum Flusse aus, um im weiteren Verlaufe des
Weges spitz zu enden. Ich schritt durch das hohe Gras und setzte mich am
Wasser auf einen großen von Schilf umgebenen Stein. Denn im Grase konnte
ich mich nicht verstecken, weil dort sofort von allen Seiten die Landblutegel
herbeigckrochen wären. Sie kennen ja diese Plage Ceylons; die spanuer-
raupenähnlichen Tierchen klettern unter die Wäsche und beißen, ohne daß man
es spürt, bis das strömende Blut einen auf die Verwundung aufmerksam
macht.
Eine Zeitlang hatte ich von meinem Stein durch das Schilf gespäht, da
bemerkte ich im Flusse eine Bewegung und sah zwei dunkle Erhebungen lang¬
sam näher ziehen. Ich erkannte ein großes Krokodil. Näher und näher kam
das Tier, schon wollte ich die Flinte in die Höhe nehmen, da plötzlich erhob
es sich im gewaltigen Hechtsprung, ein geschuppter Rücken und ein gezähnter
Schwanz wurden sichtbar, und klatschend verschwand das Reptil im hochauf¬
rauschenden Wasser. Ich sah mich ärgerlich um und gewahrte die Ursache der
Störung. Ein Mann kam auf der Straße daher, fein Nahen hatte das Tier
verscheucht.
Es war Widschaja. Aber er ging nicht mit seinem gewöhnlichen elastischen
Schritt, sondern langsam, müde, fast wankend. Es mußte ihm etwas zu¬
gestoßen sein. Schnell sprang ich auf, eilte über die Wiese, trat ihm entgegen
und erschrack. Seine Jacke war zerrissen und schmutzig, sein Haar hing wirr
herunter, seine Hände waren voll Erde, und über dem Auge auf der Stirn
dunkelte eine blutrünstige Beule. Wild sah er mich ein. „Laß mich, laß mich,"
schrie er mir gellend zu. Ich faßte seine Hand, er wollte mich zurückstoßen,
aber plötzlich brach er in strömende Tränen aus, und warf sich auf den Boden.
Endlich faßte er sich, und ich erfuhr, was sich zugetragen. Widschaja war
lange Wochen krank gewesen. Zur Untätigkeit verdammt, auf der Matte in
der elenden Hütte Tag und Nacht liegend, ohne Zerstreuung, ohne neue Ein¬
drücke war der ganze Jammer seines verlorenen Lebens mit voller Wucht
auf ihn eingedrungen. In den letzten Tagen war es mit ihm zwar
besser geworden, aber der seelische Druck hatte nicht weichen wollen. Spät
war er in der vergangenen Nacht eingeschlafen. Ein leichter Traum war
über ihn gekommen, hatte ihn in die schöne Zeit versetzt, da er noch im
Dorf der Königssproß gewesen war. Da hatte ihn etwas aus dem Schlaf
geschreckt, er war aufgefahren und hatte Kuweni und die Rodias im Halb-
dunkel der Hütte erblickt mit mitleidig auf ihn gerichteten Augen. Der schroffe
Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit war zu groß gewesen. Widschaja,
seiner nicht mehr mächtig, hatte Kuweni so heftig von sich gestoßen, daß sie
aufstöhnend an der Wand niedergestürzt war. Da war ihr Vater an den
Liegenden herangetreten. Zum erstenmal hatte der alte Mann seine bescheidene
Zurückhaltung aufgegeben und Widschaja sein heftiges, ungerechtes Handeln
vorgehalten. Das aber hatte der Selbstbeherrschung des Singhalesen den Rest
gegeben. „So, du fühlst dich nun mir gleich," hatte er gerufen, „du willst
mein Vater sein, der mich tadelt, der Herr dieser Hütte, dem die anderen zu
gehorchen haben? Ich will dir zeigen, daß ich doch noch nicht so sehr Rodia
bin, wie ihrl" Damit war er hinausgestürzt.
In der stillen Hoffnung, daß der Traum ein gutes Zeichen bedeute, war
Widschaja dann ohne Halt zu machen zum Dorfe geeilt.
„Meinen Vater wollte ich sehen," erzählte er schluchzend, „ich hätte ja
nicht verlangt, man solle mich wieder aufnehmen, nur sprechen, aus der Ferne
reden wollte ich mit ihm und meinesgleichen, wollte hören, daß er mich noch
liebt, daß man im Dorf um mich trauert. Nach Trost schrie mein Herz.
Aber ich war noch nicht weit im Dorf, da erkannten mich einzelne, und Rufe
tönten mir entgegen: „Zurück, Rodia, beschmutze unser Dorf nicht, geh zu
deinesgleichen, fort!" Immer drohender wurden die Mienen, immer lauter
schrien sie, da rief ich ihnen entgegen: „Nur meinen Vater will ich sehen!"
„Du hast keinen Vater mehr," gellte es mir entgegen, „bei den Rodias ist
deine Sippe, der früher dein Vater war, verabscheut dich." Ich aber konnte
mich nicht halten, ich stürzte weiter. Vor Abscheu kreischend, flohen sie auseinander,
da sie eine Berührung mit mir fürchteten. Aber ich hatte das Haus meiner Kind¬
heit erreicht, und schon kam mir mein Vater entgegen. Ich wollte zu ihm,
doch er wich zurück, streckte die Hand aus und sein Gesicht wurde dunkel vor
Wut. „Du willst mein Haus beschmutzen," schrie er, „du verunreinigst das
Dorf? Ich will dir zeigen, wie man sich vor Rodias schützt." Und er hob
einen Stein auf und warf ihn nach mir. Hier traf er mich, über dem Auge.
Von meinem Vater!"
Widschaja barg sein Gesicht in den Händen.
„Ich brach zusammen," fuhr er dann fort. „Doch da flogen noch mehr
Steine, laut schreiend kamen von allen Seiten Leute herbei. Ich mußte fort.
Und ich lief aus meinem Dorf, wo ich einst geherrscht hatte. Ich wurde ver¬
jagt, wie ein Hund!"
Wie ein Hund. In mir stieg der Zorn auf. „Ich gehe zu ihnen," sagte
ich. Doch Widschaja hörte nicht mehr, er hatte sich aufgerafft und rannte
wie in einem plötzlichen Wahnsinnsanfall fort. Ich sah dem Verzweifelten voll
Mitleid nach. Dann setzte ich mich auf einen niedergebrochenen Baumstamm
und überdachte, was zu tun war. Endlich war mein Entschluß gefaßt, ich
erhob mich und ging dem Dorfe zu.
Schon gleich, als ich mich den ersten Hütten näherte, merkte ich, das etwas
vorgefallen war, was das ganze Dorf in Aufregung versetzt hatte. Überall
standen Gruppen von erregt sprechenden Männern und Frauen zusammen. Als
sie mich sahen, verstummten sie. Ich kümmerte mich nicht um die Leute,
sondern ging geradenwegs zu Widschajas Vater. Vor dem Hause war niemand,
als ich aber durch die Tür trat, sah ich den Alten sitzen, die Arme auf die
Knie gestützt, das Gesicht auf die Hände gelegt. Er starrte vor sich hin. Ich
lehnte mein Gewehr an die Wand und trat zu ihm.
In scharfen Worten wollte ich ihm seine Härte vorhalten, aber er war
wie betäubt und ganz gebrochen. Die unselige Tat, zu der sein Jähzorn ihn
getrieben, schien schwer auf seinem Herzen zu lasten. „Der Stein aus meiner
Hand hat meinen Sohn getroffen," seufzte er, „und er hat mich angesehen!
Nicht auf dem Totenlager werde ich diesen Blick vergessen." Ich sah jetzt,
daß der Alte seinen Sohn noch immer heiß liebte. Ja, es war offenbar
gerade das Bewußtsein, sein Kind nun nicht mehr achten zu dürfen, was die
leidenschaftliche Verzweiflung des Vaters und damit jenen Steinwurf hervor¬
gerufen hatte. Das milderte meine Vorwürfe.
Ich redete ihm zu, er möge doch wenigstens und dem Sohn aus der Ent¬
fernung sprechen. Lange wollte er nichts davon wissen, als ich aber immer
dringender wurde, sagte er endlich: „Ja, wenn er sich von dem schmutzigen
Pack trennt, mit dem er zusammenlebtI" Und die Erinnerung an die Rodias
ließ auf einmal wieder seine ganze Leidenschaft aufflammen. Seine Wut schien
umgeschlagen. In wilden Schimpfworten tobte er gegen die, welche ihm den
Sohn genommen hatten.
Plötzlich wurde er unterbrochen. Geschrei und Lärm drang von der
Straße herein. Ich vernahm zornige Rufe: „Die Rodias, jetzt will uns die
ganze Bande beschmutzen, uns selbst zu Rodias machen! Weg mit ihnen!
Hinaus, hinaus!" Die Augen von Widschajas Vater rollten, blieben an
meiner Flinte haften und ehe ich dazu springen konnte, hatte er das Gewehr
ergriffen und war zur Tür hinausgestürzt. Ich rannte ihm voller Entsetzen
nach, aber er war schneller, und auf der Straße konnte ich nicht vorwärts,
denn wildes Getümmel kam mir entgegen. Endlich schlug ich mich durch,
da. . . ein Schuß! . . . Mir stand das Herz still. Alles stob zur Seite und
ich sah vor mir ein erschütterndes Bild.
Mitten auf der Straße saß Widschaja, das Antlitz niedergebeugt. Er hielt
eine hingestreckte Gestalt, deren langes Haar zur Erde floß, in den Armen.
Ich erkannte Kuweni. Unter der linken Brust rieselte das rote Blut hervor
und bildete eine Lache am Boden. Zu ihren Füßen kauerten zwei Menschen,
ein Mann und ein Weib.
Ich kniete an der Rodia nieder. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie
tot war, von der Kugel ins Herz getroffen. AIs ich mich erhob, blickte
Widschaja auf, aber seine Gedanken blieben bei der Toten, er sah mich nicht.
Es war still auf dem Platze, das ganze Dorf wie ausgestorben. Nur
die Gipfel der Kokospalmen raschelten im Winde, und die durch die Blätter
fallenden Sonnenstrahlen wanderten hin und her und erweckten auf dem stillen
Antlitz den Schein von Leben. Lange verharrten wir schweigend. Dann
erhoben sich die beiden Rodias. Widschaja fuhr wie träumend mit der Hand
über die Stirn. Wir faßten die Tote, hoben sie und trugen sie aus dem
Dorfe.
Den ganzen Weg sprach niemand ein Wort. Langsam schritten wir am
Flusse entlang und dann durch den Urwald, bis sich die Lichtung öffnete.
Hier gruben wir ein Grab. Blumen legten wir aus den Grund, grüne und
bunte Blätter, was wir fanden. Darauf betteten wir die Tote. Als sie auf
dem duftigen Lager ruhte — wie ein Vogel lag sie da, den der Falk ge¬
schlagen — löste sich die Erstarrung von unseren Herzen. Widschaja verbarg
sein Haupt, nnr flössen die Tränen über die Wangen und laut schluchzend
brachen die Eltern am Fußende des Grabes zusammen.
Da erhob sich Widschaja, schritt zu den Weinenden und führte sie liebe¬
voll in die Hütte. Langsam kehrte er zurück. Er weinte nicht mehr, und
tiefer Ernst verschönte seine Züge. Dann setzte er sich, den Blick auf die Tote
gerichtet. Und nun erfuhr ich den traurigen Hergang.
„Ich war," so erzählte Widschaja, „in Verzweiflung nach Hause gerannt.
Hier traf ich nur die beiden Rodias. Bei ihrem Anblick geriet ich in Wut.
„Ihr seid schuld, daß ich von meinem Vater verstoßen bitt," schrie ich ihnen
zu, „von euch muß ich los, fort, ich kann euch nicht mehr sehen!" Sie baten
jammernd, doch nicht am hellen Tage ins Freie und durch das Dorf zu müssen,
aber ich hörte nicht und schrie nur „fort, fort!" Da sagten sie, sie wollten
alles leiden, wenn nur Kuweni wieder ein freundlicheres Leben bekäme. „Geht
fort," rief ich darauf, „und ich werde Kuweni lieb haben." Und sie gingen.
Aber sie waren noch nicht' lange fort, da kam Kuweni, fragte, wo die
Eltern seien und hörte, was vorgefallen. Ihr Antlitz wurdö starr. „Sie werden
getötet werden, wenn sie durch das Dorf müssen," rief sie und eilte über die
Lichtung. Ich stürzte ihr nach, denn bei ihrem Jammer wär mir nun das
Böse meiner Tat zum Bewußtsein gekommen. Auf dem ganzen Wege aber
fanden wir die Eltern nicht. Da kamen wir ins Dorf, hörten den Lärm,
sahen die Beiden von der wütenden Menge umringt. Wie ein Hirsch lief
Kuweni vor, die Eltern zu decken, den Leuten entgegen, die sich schreiend,
heulend zurückzogen. In diesem Augenblick sah ich meinen Vater, wie er mit einer
Flinte die Menge durchteilte. Kuweni stürzte ihm mit einem Angstschrei entgegen,
griff nach dem Gewehr, der Schuß ging los . . ." Widschajas Stimme brach.
„Ich bin der Schuldige," fuhr er nach einiger Zeit gefaßter fort, „ich stieß
ihre schuldlosen Eltern ins Verderben, sür die sie sich opferte. Sie warf mir
meine böse Tat nicht vor, sie wollte sie nur gut machen. Ihre Seele war schön
wie ihr Körper. Jetzt, wo die Sonne untergegangen, sehe ich, daß es eine
Sonne war." ^
Er hielt inne und sah auf das Antlitz der Toten, das die letzten Strahlen
des scheidenden Tagesgestirns beleuchteten. Immer längere Schatten fielen
über die Lichtung und hüllten allmählich das Grab in Dunkel. Widschaja blickte
uns und sagte:
„Rodias haben mich gelehrt, wie Eltern und Kinder zueinander sein sollen.
Ich aber will versuchen, gut zu machen, was ich gesündigt. Durch das Land
werde ich wandern, und wo ich Ansiedelungen der Rodias finde, werde ich ver¬
weilen. Lehren will ich die Unglücklichen und ihnen helfen, ihr hartes Los
zu tragen."
Er trat auf mich zu, und seine Stimme wurde weich, als er fortfuhr:
„Nur eines bindet mich an diesen Ort. Ein Wesen muß ich hier lassen
und ich weiß, daß es einem traurigen Leben entgegenwächst."
„Du hast ein Kind, Widschaja?" fragte ich erschüttert.
„Dort in der Hütte schläft mein und Kuwenis Kind," erwiderte er leise.
„Die Eltern werden es versorgen, aber sie sind früh gealtert und werden die
Kraft zum Heranziehen eines frischen Menschenlebens nicht mehr haben. Dazu
drückt der Gedanke auf meine Seele, daß das kleine Wesen glücklos in ein
jammervolles Dasein tritt."
Ich war tief bewegt. Einen Blick noch warf ich auf die tote Mutter unter
den Blumen, dann sagte ich zu Widschaja: „Ich will für das Kind sorgen, es
soll kein Rodia werden."
„Ich danke dir," klang es mir aus übervollen Herzen entgegen. Über
den: Grabe reichten wir uns die Hände. Die Tote sah es nicht, konnte uns
den Muttersegen nicht geben. Es war dunkel geworden. Nur im Weste»
flammte der Himmel in strahlendem Rot und über uns zogen lichte Wolken,
von goldenen Rändern umsäumt, über die klare Bläue.. In Widschajas Augen
aber leuchtete der Glanz des Himmels wieder.
Der Pflanzer hatte geendet. Eine Weile hörte man nur das Schrillen
der Insekten in der tropischen Nacht da draußen. Dann fragte ich: „Und was
ist aus dem Kinde geworden?"
„Kommen Sie," sagte er statt aller Antwort. Wir schritten die Stufen
der Veranda hinab. Der Mond hatte sich hinter den Bäumen verborgen, aber
die Sterne funkelten vom Himmel und überall zwischen den Bäumen flogen die
Leuchtkäfer, indem sie ihr grünes Väterlichen in kurzen Rhythmen aufleuchten und
verlöschen ließen. Wir kamen an eine Wiese, über der Millionen grüner Lichter
glitzerten, ein lautloses, verwirrendes Funkenstieben. Ein kleines Häuschen lag
da. von zwei hohen Palmen überragt. Wir gingen näher heran. Von einer
weißen Treppe erhob sich eine Gestalt, ich erkannte die launische Frau. Sie
trat nach einigen geflüsterten Worten zur Seite. Der Pflanzer wandte sich zu
mir, legte den Finger auf die Lippen und schritt hinein. Ich folgte.
Ein Märchen tat sich vor meinen Augen aus! In traulichem Raume
schwebte eine rote Ampel und goß mildes Licht auf ein Mädchen, das auf einem
Lager ruhte. Die Züge waren von wunderbarer Schönheit, schwarzes, glän¬
zendes Haar umfloß die reizende Gestalt. Alte indische Sagen erwachten.
„Draupadi", klang es in mir, „Sakuntala". Ruhig schlief das Mädchen, sanfte
Atemzüge hoben und senkten die liebliche Brust.
Wir gingen hinaus. „Das ist Widschajas und Kuwenis Kind," sagte der
Pflanzer, „ich pflege diese Blume. Ihretwegen vor allem habe ich meine erste
Pflanzung aufgegeben. Niemand weiß hier von ihrer Herkunft, aber ich lasse
sie doch nur wenig mit meinen Dienstboten in Berührung kommen, wenn ich
auch zu diesen jetzt vorsorglich nur Tannen nehme. Eine treue Dienerin habe
ich ihr gegeben, erzogen aber habe ich sie selbst; ich habe sie alles gelehrt, was
ich weiß und beglückenden Lohn geerntet."
Ein freudiges Lächeln verschönte seine Züge. „Der Fluch von Widschajas
Vater hat sich erfüllt," fuhr er fort, „auch das Kind der Rodia hat einen
Mann aus anderem Stande, ja aus anderem Volke bezaubert. Aber ich fühle
den Fluch als Segen. Durch die Gespräche mit Ihnen sind meine letzten
Zweifel gewichen. Noch verehrt sie mich nur als Vater, nun aber will ich um
ihre Liebe werben. Hier könnte ich freilich nicht bleiben, denn die Engländer
würden sie als Singhalesin verachten und ihr eigenes Volk könnte ihr Rodia-
blut wittern. Fern über dem Meere sehe ich uns das Glück erblühen. Über
Menschensatzungen schaue ich hinweg. Nach oben richtet sich mein Blick, und
ich hoffe, daß der Segen Eines über mir ist, für den die Menschen gleich find
und der sich für alle, ohne Unterschied von Farbe und Stand, geopfert hat/'
Er wies auf den südlichen Himmel. Dort über den schwarzen Kronen
der Palmen blinkten vier Sterne in mildem Glänze. Es war das Sternbild
des Kreuzes.
is das reizende Wunder der bewegten Photographie aufkam und
Gelegenheit, mit ihr auf eine höchst billige Weise Theater
W^jU°^gM machen, überall ergriffen wurde, da haben wir gegenüber
jenen Leuten, welchen das Neue und Ungewohnte ein für alle mal
HF.« ^ unsympathisch ist, gern die Lobredner des Kinos gespielt und
unsere Hoffnung auf diese neue Kunstmöglichkeit den Bedenklichen zum Trotz
laut bekannt. Mochte das bisher Gebotene auch auf niedriger Stufe stehen,
das läge, behaupteten wir, nicht im Wesen des Lichtbildtheaters; es werde sich
vielmehr entwickeln, seinen eigenen Stil finden und sich zu echter Kunst empor¬
arbeiten. Allein bisher hat sich unsere Hoffnung nicht erfüllen wollen, und
obgleich Berufsschauspieler und Berufsdichter sich von der neuen Muse willig
locken lassen, sind doch die Leistungen nicht besser, sondern eher schlechter ge¬
worden. Während uns von allen Seiten versichert wird, eine neue Kunst
komme soeben zur Welt, oder auch, die alte Kunst der Pantomime werde wieder¬
geboren, ergießt sich und dem rapide sich mehrenden Schausteller eine dicke Flut
von Banalität über das Land, wohl gar über die Erde. Die Erfahrung
widerspricht kraß den Hoffnungen und Verheißungen — und nur der Zulauf
und der materielle Erfolg übertrifft alle Erwartungen, was man ebensogut zu¬
gunsten wie zum Schaden der Kinodramatik auslegen mag.
Unter solchen Umständen lohnt es sich, die künstlerischen Möglichkeiten des
Films einmal rein theoretisch abzuwägen. Denn wenn auch die Veredelung
dieser Dramatik von allen Seiten gefordert wird, so hat doch wohl bisher
niemand eine Ahnung, auf welche Weise Aufstieg und Läuterung eigentlich vor
sich gehen sollen. Versuchen wir also, noch vor dem klassischen Kinodrama, eine
Kinodramaturgie.
Zufällig las ich jüngst ein primitives Wortdrama aus dem Anfang des
siebzehnten Jahrhunderts, das bekannte Endinger Judenspiel. Da werden, ohne
jeden Versuch einer Komposition, die Szenen einfach aneinander gereiht: wie
die Juden das Verbrechen beschließen, wie sie es ausführen, wie man Verdacht
schöpft, wie man verhört, entdeckt, und wie die Übeltäter bestraft werden. Der
ganze. Vorgang in allen Einzelheiten wird einfach gezeigt, und das Interesse
des Zuschauers ist nur darauf gerichtet zu sehen; vor ihren Augen soll sich
alles abspielen, und der Phantasie soll nichts zu ergänzen übrig bleiben. AIs
ich dieses alte Spiel las, fiel mir auf: das ist genau die Technik und genau
das Niveau des Kinostückes von heute. Und in der Tat wird nicht nur das
Kino durch jene primitive Dramatik erläutert, sondern wir können umgekehrt
aus den Filmstücken auf den Ursprung des Theaters schließen. Das Drama
ist offenbar entstanden aus der Lust des naiven Menschen zu schauen; es ist
dasselbe Vergnügen, das sich die Leute bereiten, wenn sie aus dem Fenster
gucken oder wenn sie behaglich bei einem Straßenauflauf stehen bleiben. Es
soll etwas vorgehen, und zwar mit allen Einzelheiten; das Volk ist wie die
Kinder, die auch nicht gestatten, daß irgend etwas ihrer Phantasie über¬
lassen wird.
Wie ist nun aus jener primitiven Technik des Theaters Kunst geworden?
Das ist freilich eine schwierige Doktorfrage, über die man Bände schreiben
könnte. Wir wollen das hier nicht tun, sondern uns mit der einfachen Fest¬
stellung begnügen: durch Stilisierung, d. h. dadurch, daß man die Ausdrucks¬
möglichkeiten der Bühne, entsprechend der technischen Eigenart dieses Instrumentes
entwickelte und verfeinerte und sich dadurch von der bloßen Wiedergabe eines
Vorganges mehr und mehr entfernte. Dies ist, wie bekannt, in allen Künsten
der Weg zur 'Kunst. Beim Theater bedeutet es aber folgendes: sein
Hauptinstrument ist der Mensch selber, der handelnde, insbesondere der redende
Mensch. Das Menschliche am Menschen aber ist uns nicht seine Körperlichkeit,
sondern sein seelisches. Also ging die Entwicklung der dramatischen Kunst
dahin, daß die äußeren Geschehnisse unwichtig wurden und nur als Mittel
dienten, um seelische Erlebnisse, und diese wieder, um Charaktere darzustellen.
Die Ereignisse wurden nicht mehr lückenlos gegeben, wie sie in Wirklichkeit
vorkommen, sondern es wurde eine ganz unrealistische Auswahl getroffen, so zwar,
daß nur solche Vorgänge sich vor unseren Augen abspielen, die für die Dar¬
stellung des inneren Erlebnisses und des Charakters notwendig sind, diese dafür
aber auch vollständig.
Das technische Kunststück des Dramatikers, die Arbeit, die auf die Kon¬
zeption der Fabel und der Menschen folgt, besteht also in der Hauptsache darin,
es so einzurichten, daß er uns alles vorführen kann, was sich auf jenes Wesent¬
liche bezieht und uns nichts außerdem vorzuführen braucht, ohne daß das Ver¬
ständnis der Handlung darunter leidet. So entsteht Einheit, Architektonik,
Straffheit und was sonst zum Stil des Dramas gehört.
Soll das Filmdrama, das noch auf der Stufe erster Naivität verweilt,
sich zur Höhe eines Kunstwerkes entwickeln, so wird es auf dieselbe Weise ge¬
schehen müssen wie beim Wortdrama: durch Stilisierung, d. h. es muß von
der bloßen photographischen Wiedergabe der Wirklichkeit entfernt werden, indem
man die Ausdrucksmöglichkeiten steigert, die dem Filu, seiner technischen Eigen¬
art entsprechend, im Unterschiede von der Bühne angehören. Oder vielmehr:
wenn man wissen will, ob das Kino kunstfähig ist, so muß man sich fragen,
ob und bis zu welchem Grade es stilisiert werden kann.
Die technische Eigenart des Kinos ist bewegte Photographie. Also zunächst
doch Photographie: ein Mittel zur Wiedergabe der interessanten Wirklichkeit,
mit der besonderen, zauberhaften Fähigkeit, ganze Vorgänge festzuhalten. Das
Kino hat also vor allem die Aufgabe, Ereignisse, an denen nur eine beschränkte
Zahl Menschen teilnehmen konnte, einer beliebigen Menge vorzuführen; Natur¬
schönheiten, Städtebilder, Volksbräuche von irgendeinem Punkte der Erde überall
zu zeigen. Diese Dinge bereiten, bei geschickter Wahl der Objekte, ohne Zweifel
großen Genuß, sie können sogar ästhetisch reizvoll wirken; aber es ist der Reiz,
den die Wirklichkeit selbst ausüben würde: die Schönheit eines galoppierenden
Pferdes, des bewegten Meeres, wobei man für das Fehlen des natürlichen
Geräusches einigermaßen entschädigt wird durch das technische Wunder, einen
Vorgang zu erleben, der längst vergangen ist oder der sich weit entfernt abspielt.
Von einer Kunst des Films aber kann man hierbei nicht sprechen oder nur in
demselben Sinne, wie man von künstlerischer Photographie spricht.
Nun beruht ja aber das Kinoschauspiel garnicht auf dieser Wiedergabe
der Wirklichkeit, sondern darauf, daß ein Vorgang für die Aufnahme erfunden
und zurechtgemacht wird. Hier ist nun der charakteristische Unterschied gegen¬
über der Bühne das Fehlen des Wortes, und damit scheint das Filmdrama
ein Wiederaufleben der Pantomime zu bedeuten, wie es ja auch überall be¬
hauptet wird. Daraus folgen nun schon ein paar praktische Regeln für Kino-
regisseure.
Die Pantomime verlangt, daß der Vorgang das Auge, auf das allein
er wirken kann, auch durchaus befriedige. Es genügt also nicht, daß z. B.
tre Liebhaberin, wie beim Wortdrama, „schön" bedeute, sie muß wirklich schön
sein; denn nur an ihrer körperlichen Erscheinung hängt der Sinn des Vor-
gauges. Und so muß im ganzen und einzelnen die Leinwand eine beständige
Augenweide darbieten. Aber damit noch nicht genug. Das Fehlen des Wortes
und die Beschränkung auf die Geste hebt den Vorgang über die Realität hinaus
und bewirkt, oder vielmehr verlangt eine gewisse Stilisierung. Es verhält sich
genau so wie mit der Oper. Wenn die Leute singen statt zu sprechen, so
dürfen sie sich auch im übrigen nicht realistisch benehmen, sondern es muß alles,
von der Szenerie bis zu den Bewegungen stilisiert sein; sonst entsteht eine höchst
widrige Stilmischung. So erfordert auch das Pantomimische des Kinodramas
eine Vereinfachung, eine Typisierung der Dekoration sowohl wie der Geste wie
auch des Kostüms, und die bis jetzt üblichen kraß realistischen Stücke, die von
modernen Menschen in modernen Räumen gespielt werden, sind so unkünstlerisch
wie möglich.
Wenn man nun aber hofft, durch Annäherung an den Stil der echten
Pantomime diese Kunstgattung zu erneuern, so ist doch auch das leider ein
Irrtum. Die Pantomime ist mit dem Tanz verwandt und verlangt zu ihrer
Unterstützung die Musik. Nun läßt sich freilich auch zum Filmdrama Musik
machen. Aber zum Wesen des Tanzes und der Pantomime gehört doch, daß
sich der Vorgang nach der Musik richte: ihr wechselnder lebendiger Rhythmus
muß sich fortwährend in den Tanzenden oder Spielenden ausdrücken; daß sie
der Musik folgen, darin besteht für den Zuschauer und Zuhörer der eigentliche
Kunstgenuß. Beini Kino aber steht der Rhythmus ja fest, und der Herr Kapell¬
meister hat seine ganze Sorge darauf zu richten, diesem photographierten Takt
gehörig zu folgen. Statt daß der Reiz erhöht wird durch die Feinfühligkeit,
mit dem die Spieler dem Orchester sich anpassen, sähe man hier höchst störender
Weise seine ängstliche Aufmerksamkeit darauf hingezerrt, ob die Musik auch zur
rechten Zeit einsetze und aufhöre, langsamer und schneller werde, und empfände
die zahllosen kleinen Ungenauigkeiten wie unreine Töne.
Genug, die Filmpantomime ist von Anfang an tot, eben Photographie.
Das Kinoschauspiel mag in der angedeuteten Richtung über den jetzigen
Zustand hinaus verbessert werden; ein Kunstwerk kann auf diesen, Wege nicht
entstehen.
Wenn aber nicht die Pantomime, so läßt sich etwas ähnliches durch den
Filu wirksamer als auf der Bühne darstellen, nämlich das Mimodrama, und
zwar einfach deswegen, weil durch die Vergrößerung der Projektion die Mimik
auf der Leinwand mit unerhörter Deutlichkeit sichtbar wird. Es besteht also
kein Zweifel, daß ein begabter Schauspieler in einem geschmackvollen Sketch hier
etwas ganz besonderes leisten kann. Nur von einem Kunstwerk wird niemand
reden wollen; es handelt sich um Virtuosenstücke.
Mit alledem ist aber noch nicht von jener technischen Eigenschaft gesprochen,
die das Instrument des Kinos vor der Wortbühne immer voraus hat.
Dies ist die völlige Überwindung der räumlichen Schranken, die Fähigkeit, nicht
nur die Szene beliebig oft und beliebig schnell zu wechseln, sondern auf einen
geschlossenen Rahmen überhaupt zu verzichten und den fahrenden Zug. das
rasende Auto selbst zur Szene zu machen. Das ist etwas, das es bisher noch
nicht gab, und in der Ausnutzung eben dieser Eigenschaft liegt die Entwicklungs¬
möglichkeit zu eigenem Stil. Das Kino ist das Theater der Geschwindigkeit,
derjenigen Lebensform, die für uns ja mehr und mehr aus einer Ausnahme
zur Regel wird. Hier hat es auch seine Berechtigung, Vorgänge für den Filu
zu erfinden und einzurichten, während die bloße kinematographierte Bühnen¬
szene auch ini besten Falle Surrogat bleibt. Die allerfrühesten Filmstücke, deren
Inhalt war, daß unter einem Vorwand eine wilde Jagd hinter irgendjemandem
her veranstaltet wurde, haben also das Wesen des neuen Schaumittels ganz
richtig erfaßt. Das Schlimme ist nur, daß man über dieses einfache Schema
eines echten Filmstückes kaum hinausgelangen kann. Denn die Variations¬
möglichkeiten sind gering, und eine Vertiefung ins Seelische oder sonstwie Pro¬
blematische ist wohl kaum möglich.
Die besten Wirkungen der kinematographierten Geschwindigkeit liegen auf
dein Gebiet des Komischen. Und in der Tat scheint mir das eigentliche Feld
des Kinos, soweit es nicht die Wirklichkeit abbildet, also des richtigen Film¬
theaters, das Grotesk-Komische zu sein. Das bedeutete an sich schon eine Er-
höhung des Niveaus; denn im Grotesken selbst liegt ein Herausheben aus der
bloßen Realität, eine gewisse Stilisierung, die bei gut erfundenen sujets ein
reines Vergnügen gewähren kann. Eine Vertiefung oder Erhöhung zu Humor
und Satire ist ja wohl auch kaum möglich; aber hier scheint eine Entwicklung
noch am ehesten denkbar. Die Wirkungen, die ausgeübt werden können, sind
in der Tat außerordentlich. Mir ist folgende Groteske in Erinnerung: im Hof
eines Miethauses spielen Bettelmusikanten einen langsamen Walzer, was zur
Folge hat. daß in sämtlichen Etagen nach dem Takt langsam gearbeitet wird:
ein Herr läuft wütend hinunter und läßt Galopp spielen, worauf die Arbeitenden
sich dem neuen Takt anpassen. Die folgenden Vorgänge waren nun offenbar
langsam aufgenommen worden und wurden jetzt schnell abgekurbelt. Da sah
man in einer Etage in wenigen Sekunden ein Zimmer tapezieren, in der
nächsten eine Wohnung einräumen, Leute liefen im Bruchteil einer Sekunde die
Treppe hinauf und hinunter und dergleichen mehr. Die Wirkung dieses harm¬
losen Unsinns war so unglaublich komisch, daß der Saal vor Lachen dröhnte.
Kunst? — Man höre endlich auf, uns einzureden, daß wir im Kino ein
neues Kunstmittel besitzen, das nur der Veredelung harre I Mag sich immerhin
das Filmdrama über das heutige beschämende Niveau geschmackloser Senti¬
mentalität und brutaler Sensation hinaussehen lassen, es wird nie etwas
anderes sein können als ein schlechtes Surrogat des Theaters, bestimmt für
Leute, denen das Wortdrama aus Mangel an Geld oder Zeit oder aus geistiger
Trägheit unzugänglich ist; sein bester Ruhm wird immer sein, daß es nicht
schadet; und selbst wenn es hier und da nützt, wird es sich zum Theater immer
verhalten wie das Grammophon zum Konzert.
Für geschmackvollere Menschen darf ein Kinoprogramm etwa so aussehen:
im wesentlichen Bilder aus der Wirklichkeit, Jagden, Wettrennen, manövrierende
Soldaten, exotische Straßenbilder, Volksbräuche usw. Daneben Naturwissen¬
schaftliches (Kinematographie des Mikroskops) und Technisches. Naturschönheiten
bieten immer einen reinen Genuß. Dazwischen, als eigentliches „Theater",
ein packender Stehns, von ersten Mimikern virtuos gespielt, sowie endlich eine
Groteske, auf den oben besprochenen Möglichkeiten beruhend. Das gibt eine
Unterhaltung für eine knappe Stunde, besser als das frühere VarietS. und
meinetwegen unter Umständen einem langweiligen Theaterabend vorzuziehen.
Schauspieler jedoch, die von der Bühne zum Kino übergehen, hören damit
auf, der Kunst zu dienen und werden Virtuosen der äußerlichsten Art. Und
ein Dramatiker gar, der sein Wortdrama zum Filmstück umschneidert, beweist
nur. daß er auch vom Wesen des Wortdramas keine Ahnung hat.
Über Wesen und Wert der Filmkunst aber wollen wir uns fortan keinen
blauen Dunst mehr vormachen lassen.
meer den Wehrsteuervorlagen ist die beabsichtigte Erhöhung des
Reichskriegsschatzes im Vergleich zu ihrer finanzpolitischen Be¬
deutung allzusehr in den Hintergrund getreten. Die amtliche
Begründung findet sich ziemlich kurz mit diesen für unsere Währung
und Bankverfassung ungemein wichtigen Vorschlägen ab. In der
Diskussion spielen sie vollends eine sekundäre Rolle, was nicht wundernehmen
kann, wenn man einerseits die Schwierigkeit der währungspolitischen Frage in
Betracht zieht und anderseits das überwuchernde politische Interesse an den
übrigen gewichtigen Aufgaben der Wehrvorlage in Rechnung stellt. Von diesem
Gesichtspunkte aus kann man bedauern, daß wegen des inneren Zusammen¬
hanges man es für nötig befunden hat, diese währungs- und münzpolitische
Maßregel zugleich mit der Heeres- und den Deckungsoorlagen zur Erörterung
und zur Beschlußfassung zu stellen. Es kann gar nicht ausbleiben, daß gegen¬
über der Leidenschaftlichkeit, und welcher die Deckungsfragen erörtert werden,
sich auch fernerhin nur ein beschränktes Interesse für Gesichtspunkte finanz¬
politischer Natur wird aufbringen lassen. Eine solche Eile wäre nicht nötig
gewesen, da die vorgeschlagenen Änderungen erst in einer Reihe von Jahren
zur Durchführung gelangen sollen, mithin für eine schleunige Beschlußfassung
gar kein Grund vorlag. Es wäre weitaus vorzuziehen gewesen, wenn man
diese Vermehrung des Reichskriegsschatzes, die mit der Heeresverstärkung nur
äußerlich zusammenhängt und eine ganz anders geartete Frage, nämlich die der
finanziellen Kriegsbereitschaft betrifft, von der großen Heeresvorlage getrennt
und ihre Beratung ruhigeren Zeiten vorbehalten hätte.
Die finanzielle Rüstung Deutschlands soll dadurch eine namhafte Stärkung
erfahren, daß der Reichskriegsschatz des Spandauer Juliusturms auf das drei¬
fache erhöht wird. Das ist ein Ziel, das ganz unabhängig von der gegen¬
wärtigen Heeresvorlage und deren Ursachen als äußerst wünschenswert und
dringlich bezeichnet werden muß. Denn die 120 Millionen, welche man seiner
zeit aus der französischen Kriegsentschädigung für die Zwecke eines künstigen
Kriegsschatzes ausgesondert hat und in baarem Geld in Spandau verwahrt.
reichen im Ernstfall nicht im entferntesten ans, die ersten Kosten der Mobil¬
machung zu bestreikn. Es besteht darüber allseitiges Einverständnis, Auch
haben uns die Erfahrungen des vergangenen halben Jahres zur Genüge er¬
kennen lassen, daß unsere finanzielle Rüstung auch nach anderer Richtung einer
Stärkung bedarf. Die bedrohlichen Erscheinungen auf dem Geldmarkt, die Über¬
anspannung der Reichsbank, die völlige Versagung des Anleihemarktes in Zeiten,
die zwar politisch beunruhigend waren, aber nicht mit den? Ausbruch eines
Krieges in Parallele gesetzt werden können, zeigen deutlich, welche Gefahren
uns drohen, wenn es eines Tages wirklich ernst werden sollte. Die Neichsbank,
die in den vergangenen schweren Monaten fast am Ende ihrer Leistungsfähigkeit
zu sein schien, muß für den Fall eines Kriegsausbruches einen derartigen Rück¬
halt haben, daß sie den ungeheuren Anforderungen nach Zahlungsmitteln, die
dann auf sie einstürmen, gewappnet gegenüber steht. Soweit die Bedürfnisse
des Staates infolge der Mobilmachung dabei in Frage kommen, ist der in baar
vorhandene Reichskriegsschatz eine treffliche Sicherung für die Bank, wenn er
eine ausreichende Höhe besitzt. Denn seine Bestände, in die Tresors der Bank
überführt, befähigen diese, dem Verkehr dafür die dreifachen Beträge in Noten
zur Verfügung zu stellen. Wird also der Kriegsschatz von 120 auf 360 Millionen
erhöht, so bedeutet das die Möglichkeit einer um eine reichliche Milliarde stärkeren
Notenausgabe. Damit könnte auch für recht beträchtliche Mehrbedürfnisse des
Augenblicks vorgesorgt werden. Erscheint somit das Ziel klar und einfach, so
ist doch der Weg, auf dem es zu erreichen ist, recht schwierig. Denn woher
das erforderliche Geld zur Stärkung des Reichskriegsschatzes nehmen, wo doch
schon die Reichsbank einen zähen Kampf zu führen hat. um ihre Bestände im
Einklang mit den normalen Anforderungen des Zahlungsverkehrs zu halten?
Eine direkte oder indirekte Schwächung der Bank muß vermieden werden; daher
ist auch die sofortige Aufbringung der erforderlichen Summe durch eine innere
Anleihe ausgeschlossen, da diese am Ende nur dazu führen könnte, das erforder¬
liche Gold den Beständen der Bank zu entnehmen. Der an sich gegebene Weg
der Aufnahme einer Anleihe im Ausland verbietet sich durch die Lage des inter¬
nationalen Geldmarktes wie durch politische Erwägungen.
Es bleibt also nur übrig, auf die inneren Goldreserven des Verkehrs zurück¬
zugreifen. Die Vorlage tut dies in einer eigentümlichen und neuartigen Weise.
Die Verstärkung des Kriegsschatzes soll dadurch erfolgen, daß zwei Reserven
geschaffen werden, eine Silber- und eine Goldreserve von je 120 Mill. Mark. Die
Silberreserve wird durch Ausprägung von Scheidemünzen über das bisher gesetzlich
festgelegte Maß hinaus hergestellt. Die notwendigen Kosten (etwa 54 Mill.
Mark) werden aus den Münzgewinnen der laufenden Silberprägungen bestritten.
Die Goldreserve dagegen will man durch Neuausgabe von 120 Millionen
Reichskassenscheinen beschaffen und zwar derart, daß eine Reihe von Jahren hin¬
durch von den Neuausprägungen an Goldmünzen bestimmte Summen, die bisher
in den inneren Verkehr übergingen, einbehalten und durch Kassenscheine ersetzt
werden. Es werden also, nicht auf einmal, sondern allmählich im Lauf mehrerer
Jahre 120 Millionen Kassenscheine dem Verkehr zugeführt. Die Verwendung
der beiden Reserven ist derart gedacht, daß zunächst beide als ein unangreifbares
Depot des Reichs bei der Bank lagern; daß die Goldreserve dann im Kriegsfall
genau wie der bisherige Kriegsschatz unter den gleichen Voraussetzungen in die
Bestände der Bank überführt wird, während der Silberbestand auch schon in
anderen Fällen bei außerordentlichem Bedarf der Bank zur Verfügung gestellt
werden kann.
Diese Vorschläge bilden somit in ihrer Gesamtheit eine ziemlich komplizierte
währungspolitische Maßnahme. Sie verlangen eine Prüfung nach drei Rich¬
tungen: Ist die starke Vermehrung unfundierten Staatspapiergeldes rätlich?
Stehen der vermehrten Silberprägung Bedenken entgegen? Und welche Wir¬
kungen werden voraussichtlich beide Maßnahmen auf die Notendeckung der
Reichsbank haben?
Die Vermehrung der Reichskassenscheine ist nun zunächst unzweifelhaft eine
Maßregel, die man nicht auf die leichte Achsel nehmen sollte. Schon der Betrag
der jetzt umlaufenden 120 Millionen ist ein arger Schönheitsfehler unserer
Währung, der nur dadurch' erträglich erscheint, daß die Summe eine beschränkte
ist und der Umlauf in normalen Zeiten durch die Bestände des Reichs¬
kriegsschatzes — nicht rechtlich, aber faktisch — gedeckt erscheint. Anders,
wenn jetzt diese Summe verdoppelt werden soll. Dann stellen die 240
Millionen Mark schon einen beachtenswerten Faktor im Geldumlaufe Deutsch¬
lands dar und man wird sich dann mit dem Hinweis auf die
Goldbestände der Kriegsreserven nicht begnügen dürfen, weil diese ja im Ernst¬
falle nicht zur Einlösung der Kassenscheine, sondern zur Schaffung neuer
Zahlungsmittel bestimmt sind. Die Kreierung von Staatspapiergeld in so nam¬
haften Beträgen kann man nicht nur als einen Schönheitsfehler in der Währung
bezeichnen — sie stellt einen wahren Fremdkörper dar, dessen Vorhandensein
die bedenklichsten Störungen hervorrufen kann und vielleicht hervorrufen muß.
Man darf nämlich diese 240 Millionen Staatspapiergeld nicht als eine isolierte
Maßregel betrachten.
Sie wäre auch als solche schon bedenklich genug; nun aber kommt hinzu, daß
wir durch die starke Vermehrung der Silberprägungen (20 Mark auf den Kopf
der Bevölkerung), die zudem nach dem vorliegenden Plan noch eine weitere
Erhöhung erfahren sollen, und durch die forzierte Ausgabe kleiner Noten den
Verkehr mit unterwertigen Zahlungsmitteln zu übersättigen im Begriff sind.
Das Silbergeld ist bekanntlich, da es stark unterwertig ist, insoweit ein un¬
fundiertes Kreditgeld. Es besteht daher die dringende Gefahr, daß dieser starke
Umlauf an unterwertigem Geld nach einem bekannten wirtschaftlichen Gesetz das
vollwertige Gold über die Grenzen wandern läßt. Diese Gefahr wird verstärkt
durch die Ausgaben der kleinen Noten, die sich die Reichsbank so angelegen
sein läßt und mit der sie — fast unbegreiflicherweise — fast nirgends auf
einen ernstlichen Widerspruch gestoßen ist. Mit den kleinen Noten verfolgt die
Reichsbank das Ziel, das im freien Verkehr im Übermaß zirkulierende Gold in
ihre Kassen zu leiten. Kleine Noten bleiben nämlich wie Papiergeld im Verkehr
und finden, einmal in denselben eingedrungen, nur in beschränktem Maße den
Rückweg zur Bank behufs Einlösung. Aus diesem Grunde wirken auch die
kleinen Noten, wenn massenhaft in Umlauf, ähnlich wie das Papiergeld. Die
Bank erhöht zwar anfänglich ihre Goldbestände, aber die Überfüllung des
Verkehrs mit diesen Noten muß eine Abdrängung des zirkulierenden Goldgeldes
nach dem Auslande zur Folge haben. Wir schlagen daher einen abschüssigen
Weg ein, wenn wir mit allen Kräften unterwertige Zahlungsmittel in den
Verkehr pressen. Die Reichsbank hat schon gegen Ende des vorigen Jahres
nicht weniger als 350 Millionen kleiner Noten dem Verkehr aufoktroyiert,
obwohl ihr dazu eine ausdrückliche Befugnis nicht zustand. Sie hat sich förmlich
daran gewöhnt, in diesen kleinen Noten ein Allheilmittel gegen den Goldabflutz
zu erblicken. Eine gefährliche Anschauungsweisel Man darf diese Bedenken
nicht damit beschwichtigen wollen, daß, augenblicklich von einer inflationistischen
Wirkung zu sprechen, eine Übertreibung sein würde. Naturgemäß zeigen sich
die Wirkungen einer Geldverschlechterung erst allmählich und später, um dann
in kritischen Momenten sich besonders verderblich fühlbar zu machen. Mit
aller Entschiedenheit muß man darauf hinweisen, daß Papiergeld, übermäßiger
Umlauf an Scheidemünzen und kleinen Noten tatsächlich eine Verschlechterung
der Währung darstellen. Die Folgen können unmöglich ausbleiben, denn wirt¬
schaftliche Gesetze vollziehen sich mit unerbittlicher Notwendigkeit.
Zu diesen Bedenken gesellt sich nun noch das weitere, daß infolge der
Vermehrung des Silbergeldes und der Ausgabe von Kassenscheinen auch die
Notendeckung der Reichsbank verschlechtert werden muß. Denn die Drittel¬
deckung der Noten wird faktisch aufgehoben, wenn in diese unterwertiges Silber
oder Papiergeld in erheblichen Summen als voll eingerechnet wird. Die
Notendeckung in bar hat nur dann einen Sinn, wenn sie in Währungsmetall
vorhanden ist. Schon jetzt ist daher die zugelassene Einrechnung von Scheide¬
münzen und Kassenscheinen eine Durchbrechung des Prinzips. Diese Durch¬
brechung würde aber einer völligen Aufhebung gleichkommen, wenn zur Krisen¬
zeit die Silberreserve schlechtweg als Notendeckung verwandt wird.
Man kann also die Borschläge der Reichsregierung hinsichtlich der Ver¬
mehrung des Neichskriegsschatzes nur mit geteilten Gefühlen betrachten. Die
Frage, ob sich denn etwas Besseres an deren Stelle setzen läßt, ist natürlich
nicht leicht zu beantworten. Wenn aber doch schon die Klinke der Gesetz¬
gebung in die Hand genommen werden muß, so ist es vielleicht besser, dies
mit dem nötigen Vorbedacht und an der richtigen Stelle zu tun. Der Schwer¬
punkt der Maßregel liegt, wie gezeigt, auf dem Gebiete der Währungs- und
Bankpolitik. Am Bankgesetz wäre daher wohl am richtigsten der Hebel anzu¬
setzen. Man könnte vielleicht daran denken, durch eine Änderung des Bank¬
gesetzes den zur Auffüllung des Kriegsschatzes erforderlichen Goldvorrat den
Beständen der Bank zu entnehmen, indem diese zu einem Darlehn an das
Reich verpflichtet wird. Die Ansammlung des Fonds könnte, um die Bank
nicht zu schwächen, genau so allmählich erfolgen, wie dies jetzt vorgesehen ist.
Die theoretische Furcht vor einer Verquickung von Bank und Staatsfinanzen
dürfte hierbei kaum einen Gegengrund abgeben. Es wäre wohl auch möglich,
eine Abtragung der Reichsschuld durch Aufrechnung der Gewinnanteile
des Reichs in Aussicht zu nehmen und man könnte sogar in Erwägung ziehen,
diese Forderung an den Staat ganz oder teilweise in die Notendeckung einzu¬
rechnen. Jedenfalls bietet sich hier ein Weg, das erwünschte Ziel zu erreichen,
ohne unsere Währung anzutasten. Die Schwierigkeit der Fragen erheischt
aber eine gründliche und bedachtsame Prüfung. Diese kann nur gewährleistet
werden, wenn dieser Teil der Regierungsvorschläge nicht im Bausch und Bogen
mit den übrigen Vorlagen erledigt wird, sondern einer späteren Beratung vor¬
behalten bleibt. Ein solcher Aufschub ist unbeschadet der Wichtigkeit und
Das Erbrecht des Reiches. Der Baye¬
rische Kurier spricht sich gegen den Regierungs¬
entwurf über das Erbrecht des Staates aus.
Er verweist auf ein Beispiel, das er selbst
als etwas undelikat bezeichnet. Das Ver¬
mögen des kranken Königs Otto von Bayern
fiele bei seinem Ableben in Gemäßheit der
Vorlage an das Deutsche Reich und das
Königreich Bayern, weil seine nächsten Ver¬
wandten im Verhältnis von Geschwisterkindern
zu ihm stünden; das wäre aber eine himmel¬
schreiende Ungerechtigkeit. Der Ansicht kann
man schwerlich beistimmen. ES ist doch min¬
destens fraglich, ob es nicht ebensosehr fürst¬
licher Gesinnung entspräche, wie den Reichs¬
und Staatsinteressen, wenn das Vermögen
eines Landesherrn, der ohne nahe Angehörige
mit dem Tode abgeht, seinem Lande und dem
Reiche anheimfiele. Übrigens ist das Beispiel
auch vom Rechtsstandpunkt unglücklich ge¬
wählt. Denn nach Art. 57 des Einführungs¬
gesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch finden
die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs
auf die landesherrlichen Familien überhaupt
nur Antuendung, soweit nicht Vorschriften der
Hansverfassungen abweichende Bestimmungen
enthalten. Damit ist der Eintritt des Falles
ausgeschlossen, dem der Bayerische Kurier
glaubt vorbeugen zu müssen.
Ganz anders hat sich das führende Organ
der Zentrumspartei zu der Frage des Reichs¬
erbrechts ausgesprochen. Die Kölnische Volks-
zeiinng behandelt den Gegenstand unter dem
10. Februar 1908 ebenso eingehend wie sach¬
lich und kommt in gründlicher Untersuchung
zu dem Ergebnis, daß in dem ethischen Be¬
wußtsein der heutigen Generation das Erb¬
recht der entfernteren Seitenverwandten keine
ausreichende Stütze mehr findet. Das Volk
habe kein Verständnis dafür, wie ein Erbe,
der beim Tode seiner Verwandten lacht, mit
dessen Nachlaß beschenkt werden soll. „Der
Gedanke: mein Erbe ist das Vaterland, mag
unter den heutigen Verhältnissen vielfach
etwas Erhebenderes haben, als der Gedanke:
mein Erbe wird ein entfernter Verwandter
sein, den ich gar nicht kenne, der mir ganz
gleichgültig ist, der sich nie um mich ge¬
kümmerthat, oder von dem ich vielleicht sogar
schlecht behandelt worden bin."
So äußert sich ein hervorragendes Mit¬
Zur Bercchtigungsfrnge. Das ist Wohl
sicher, nirgends ist das Berechtigungswesen —
manche sprechen sogar von Berechtigungs¬
unwesen — soweit ausgebildet, wie bei uns.
Macht sich ja sogar im Privatleben sein Ein¬
fluß geltend. Da gibt es Stammtische und
Vergnügungsvereine, in denen nur Akademiker
als Mitglieder aufgenommen werden. Im
studentischen Korporationswesen spielt das
Maturitätsprinzip eine große Rolle. Ob in
gewissen Kreisen das „Einjährigenprinzip"
dieselbe Bedeutung hat, ist nur nicht bekannt.
Verwundern würde es mich nicht. Derartige
Erscheinungen rechtfertigt man ja für ge¬
wöhnlich damit, daß das durch die gleich¬
artige Erziehung bedingte gleichartige Bil¬
dungsniveau von vornherein eine größere
Harmonie der betreffenden Gruppe wahr¬
scheinlich mache. Dies mag richtig sein bei
jungen, in der Entwicklung begriffenen In¬
dividuen, bei erwachsenen Personen, die
den führenden Gesellschaftsschichten angehören
wollen, haben derartige Prinzipe stets den
etwas fatalen Beigeschmack der Kleinlichkeit,
des Fehlens größerer leitender Gesichtspunkte.
Im Grunde genommen liegt aber die letzte
Ursache derartiger Erscheinungen in einer un¬
gesunden Überschätzung des Berechtigungs¬
wesens, die jede», der nicht irgendwie be¬
hördlich abgestempelt ist, mag er auch sonst
noch so Tüchtiges leisten und einen noch so
hohen allgemeinen Bildungsgrad erreicht
haben, mit einem gewissen Mißtrauen be¬
trachtet. Sicherlich kann der Staat zur Er¬
zielung eines tüchtigen Bcamtemnateriäls des
Berechtigungswesens nickt entbehren, und auch
alle außerstantlichen Berufsgenossenschaften tun
gut, wenn sie Wert auf eine gute Schulbildung
ihrer Anwärter legen, die ja bei der
nunmehr gegebenen Entwicklung unseres
höheren Schulwesens in irgendeinem Be¬
rechtigungsscheine zum Ausdruck kommt. Un¬
gesund aber ist eine jede Überspannung des
Berechtigungswesens, wie sie sich leider in
staatlichen, wie in freien Berufskrcisen immer
mehr breit macht und schwere soziale Schäden
nach sich zieht. Während man vor einem
halben Jahrhundert noch mit einer gewissen
Hochachtung von einem jungen Manne sagte:
„Er hat's Einjährige", so sagt man heute
in denselben Kreisen mit fast derselben Nicht¬
achtung: „Er hat hat ja nur das Einjährige."
Eine historische Übersicht der Anforderungen,
die bei Aufnahme eines Anwärters an dessen
Borbildung gestellt werden, zeigt allerdings
eine stetige, in einzelnen Berufen beängstigende
Zunahme nach oben, ja es gibt Berufe, für
die vor einigen Jahrzehnten noch die Vor¬
bildung einer guten Volksschule genügte, die
heute aber Primareife bzw. Abiturienten-
elMicn verlangen. Ob die immerhin zu¬
gegebenen höheren Anforderungen, die die
Neuzeit an diese Berufe stellt, ein derartig
rapides Steigen der den Anwärtern zu
stellenden Ausnahmebedingungen immer recht¬
fertigen? Ob hierbei nicht vielleicht eine
allzu große Überschätzung der eigenen Ar¬
beit und Leistungsfähigkeit und die damit
zusammenhängende Unterschätzung der Arbeits¬
kraft der heranwachsenden Generation die
innere Triebfeder sind? Wie oft mag auch
nur das rein äußerliche Motiv „den Stand
zu heben" daran schuld seinl Sicherlich
kann mancher Posten, der früher und even¬
tuell heute noch voll und ganz von einem
Manne mit guter Volksschulbildung ausgefüllt
wird, dessen Neubesetzung aber heute einen
Anwärter mit mindestens Einjährigenzeugnis
verlangt, auch jetzt noch von einem tüchtigen
Manne ohne den „Berechtigungsschein" aus¬
gefüllt werden, und die Arbeit mancher Be¬
amtenklasse, die heute Primareife bzw. Abi-
lurium von ihren Anwärtern verlangt, würde
sicherlich ebensogut von tüchtigen Realschul¬
abiturienten geleistet werden können, ja viel¬
leicht manchmal sogar besser, da jeder Kenner
der Verhältnisse weiß, das; die sogenannte
Primareife oft weniger Wert hat, als die
gute Absolvierung einer Realschule.
Dasselbe Bild, wie beim Staate, zeigt
sich auch in den freien Berufskreisen. Denn
diese nehmen sich oft das Vorgehen des Staates
mehr, als man denkt, zum Vorbild. Eine
kleine, wahre Geschichte beleuchtet das. >
Es war noch zur Zeit, als bei uns,in
Sachsen Realgynmasinlabiturienten nur dann
Jura studieren konnten, wenn die Abgangs¬
zensur in Latein gut (mindestens 2 b) war;
da kommt einer meiner Realschulabiturienten
zu mir mit der Bitte, ihn doch vor der Prü¬
fung noch einmal in Physik dran zu nehmen.
Auf meine erstaunte Frage hin erklärt er
mir, er wolle Drogist werden und der in
Aussicht genommene Lehrherr habe die Be¬
dingung gestellt, in Physik und Chemie müsse
das Abgangszeugnis mindestens die Zensur 2 b
aufweisen. Man sieht, wie leicht das Beispiel
des Staates Schule macht!
Darum kann eine Besserung in dieser un¬
gesunden Überspannung der Anwärteranfor¬
derungen nur vom Staate ausgehen, Kom¬
munen und Private werden sicher bald dein
gegebenen Beispiel folgen. Denn es liegt im
ureigensten Interesse der Allgemeinheit, daß
dort, wo dieses Vorwärtstreiben nicht in einer
durch die Entwicklung bedingten Steigerung
der zu stellenden Anforderungen begründet ist,
sondern in StandeSinieressen und ähnlichen
für die Allgemeinheit unwesentlichen Motiven
seine Wurzel hat, vom Staate ein Riegel
vorgeschoben wird. Die Lasten, die die
Volksschule von Jahr zu Jahr in steigen¬
dem Maße der Allgemeinheit auferlegt, wollen
nicht recht mit einer solchen systematischen
Entwertung der Volksschule harmonieren.
Die Bolksschullehrer selbst müßten energisch
gegen eine solche Mindereinschätzung ihrer
Arbeit Front machen. Man mache nur einmal
den Versuch, die mittleren Beamtenstellen
auch für tüchtige Volksschüler zu öffnen, ich
glaube schlechte Erfahrungen wird man kaum
machen,") Man kann ja die definitive Ein¬
stellung von einer Prüfung abhängig machen,
die etwa kurz vor Eintritt ins Militär an¬
zusetzen wäre. Vielleicht hält man mir ent¬
gegen, daß manche mittlere Beamtenkarrieren,
Wie z. B. bei der Post, im Kommunaldienst
usw. Anwärtern mit Volksschulvorbildung
offen stünden. Allerdings, solange aber
Anwärter mit Einjährigenzeugnis, mag dieses
auch auf noch so schwachen Füßen stehen,
unbedingt vor denen mit gutem Volksschul¬
zeugnis den Vorrang haben, ist eine solche
Öffnung der mittleren Beamtenkarriere für
die Volksschule illusorisch. In gleicher Weise
sollte bei möglichst allen Bemntcnkarricren,
die heute Primareife oder Abitur verlangen,
ein gutes Einjährigenzeugnis genügen, u/z. das
Zeugnis einer Realschule, die ihren Abiturienten
eine abgeschlossene, auf das Praktische Leben
zugeschnittene Allgemeinbildung zu geben ver¬
sucht, während das Gymnasium bei seinen
ganz anderen BildungSzielen den abgehenden
Untersekundanern eine vollständig unabge¬
schlossene Bildung übermittelt, die man fast
als wertlos bezeichnen möchte, da ja die
für das Gymnasium so überaus bedeutungs¬
vollen Overklassen fehlen. Für alle Beamten¬
kategorien schließlich, die unbedingt an einer
Vorbildung ihrer Anwärter auf einer neun-
klassigen höheren Schule festhalten zu müssen
glauben, ohne für ihre weitere Ausbildung
ein akademisches Studium zu verlangen,
scheint mir die Oberrealschule die am besten
geeignete Anstalt zu sein. Die Gymnasial¬
vorbildung bleibt nach meiner Ansicht immer
bis zum gewissen Grade unabgeschlossen,
wenn sie nicht durch ein akademisches Studium
ihre Krönung findet.
Vom zweiten Napoleon. Läßt man die
Tatsachen allein zum Wort, so sieht es einen:
unziemlichen Scherz der Weltgeschichte gleich,
daß sie den vom Koi <Ze Kome zum Prinzen
von Parma und endlich zum Herzog von
Reichstadt umdekretierten Astycmar. seines
Hauses, der schon im Se. Lebensjahre hin¬
schied, als „Napoleon den Zweiten" führt. Steht
„der Sohn des Mannes" doch nicht einmal
mit seinem tragischen Schicksal isoliert da.
Als 1322 der Sohn Walter Scotts Berlin
besuchte, schrieb Heinrich Heine: „Dieser junge
Mensch, ein englischer Husarenoffizier, wird
sehr gefeiert und genießt hier den Ruhm
seines Vaters. Wo sind die Söhne Schillers?"
Ganz recht; aber ohne jene Notiz wäre in
Deutschland auch das Dasein von Sprossen
Sir Walter Scotts längst wieder unbekannt.
Napoleons einziges Kind wuchs kränkelnd
und gedrückt in einer vornehmen Haft auf,
von Furcht und Scham seiner Hüter mehr
als gut bewacht, draußen aber von den Partei¬
gängern des Vaters mit dessen Ruhm be¬
schwert, verehrt und begehrt. Weil die Person
des Jünglings ein Symbol ausmachte, schlössen
Freund und Feind mit höchst menschlicher Un¬
klarheit auf dieses armen Prinzen individuelle
Bedeutung. Wie das soeben in zweiter Auf¬
lage erschienene Lebensbild „Der Herzog von
Reichstadt" von Eduard von Wertheimer (Stutt¬
gart, Cotta; Preis br. S M.) zu erwägen
gibt, würde Napoleon der Erste wahrscheinlich
selber in mehrfacher Hinsicht ein Fiasko kaiser¬
licher Erzieherkunst herbeigeführt haben. Dem
Eroberer ging nichts schnell genug. Als im
Spätsommer 1816 der erbeutete Erbe seiner
Ansprüche zu Wien österreichischen Mentoren
unterstellt wurde, zeigte sich, daß man dem
viereinhalvjährigen Knaben nicht nur dreizehn
Lafontainesche Fabeln und mehrere Reden aus
Racine, sondern sogar grammatische Regeln
und Elemcntarsätze der Geographie sowie aus
der Geschichte eingetrichtert hatte. „Dieses
naturwidrige Vorgehen hatte die böse Folge,
daß der Prinz einen Ekel vor allem Lernen
bekam und es nun sehr schwer ward, ihn
dauernd für irgend einen Gegenstand zu
interessieren." Also zog man Arzte und
Pädagogen heran, um das von Vater und
Mutter so früh getrennte Kind erst zu kräftigen
und dann für die großelterliche Familie zu
erwärmen? Professor von Wertheimer erzählt
uns sehr ausführlich und begründungsreich,
Was wirklich geschah, nämlich eine der kleinen
Schlauheiten des auch hierbei maßgebenden
Fürsten Metternich, Der Prinz empfing ohne
weiteres eine übergoldete Militärwaisen-
erziehung, von deren innerlicher Unüberlegt¬
heit wir einen Begriff erhalten, wenn im
Jahre 1818 der diensttuende Präzeptor mit
Hauptmannsrang noch nicht auf die Frage
des Zöglings eingerichtet ist, wo sein Vater
jetzt weile. An dieser Stelle äußert sich der
Autor scheinbar freimütig über die groben
Mängel des Systems; er tut das auch sonst,
wo es nicht anders geht und nicht allzuviel
ausmacht. Aber das Buch kann trotz solcher
VorbeugungSmittel die Eigenschaft einer be¬
hutsam angelegten Schutzschrift nicht verhehlen.
In diesem Falle handelte es sich einfach genug
turnen, eine Kindesseele zu gewinnen und
dann einen Charakter zu formen. Statt
dessen zwang man den Knaben zu einer weit¬
gehenden Heuchelei und verbitterte ihn, der
gewiß ohnehin störrisch veranlagt war, so
heftig, daß er manchmal in völlige Obstruktion
verfiel. Der ganze Erfolg dieser bis ins
20. Jahr des Prinzen andauernden „Erziehung"
bestand in der formalen Verdeutschung seines
Sprachdenkens. Und zum Schluß strafte sich
das Kollegium selber Lügen, indem eS, natür¬
lich auf Veranlassung des Kaisers Franz, den
Marschall Marmont vorübergehend aufnehmen
mußte, damit dieser alte Waffengefährte Na¬
poleons dem Sohn von des Vaters Leben
und Taten berichte. Auch das ist, obwohl
ein Dementi des bisherigen Totschweigens,
nur eine Komödie gewesen; hätte Moreau
noch gelebt, würde man ihn statt des ab-
trünnigenMnrmont berufen haben.Wertheimers
Buch, hier schon einsilbig, behandelt dann die
letzten Lebensjahre des Herzogs von Reich¬
stadt in unbefriedigender Kürze. Wie bekannt,
ist dem Wiener Hofe vorgeworfen worden, er
habe den frühen Tod seines Politischen Pfand¬
objekts (am 22. Juli 1832) verschuldet, sei
es durch Gift oder durch Verstrickung in Aus¬
schweifungen. Der fleißige Archivforscher wehrt
beide Lesarten ab i die Giftlegende mit Glück,
die andere mit Kopfschütteln. Der Prinz sei
eher den Anstrengungen des Dienstes und
zuletzt einer irrigen Diagnose erlegen, aber:
„es ist interessant, daß man in Wien eigent¬
lich erst nach dem Tode des Herzogs zum
Bewußtsein von dessen Bedeutung gelangte."
— Ein Schlußkapitel, „Charakteristik" über¬
schrieben, nimmt dann Wider berechtigtes Er¬
warten eine von der bis dahin durchgeführten
Stellungnahme stark abweichende Haltung an.
Es ist eine Art gemäßigter Apotheose, dabei
aber nur eine Konzession an die „Aiglon"-
Mythe. Der verkümmerte zweite Napoleon
wuchs versorgt auf, und daran allein müssen
überflüssige Parallelen scheitern. Sodann be¬
achtet die -Forschung noch immer nicht den
Umstand, daß in der Familie Bonaparte viel¬
mehr die sozusagen behagliche Strömung, vom
Vater Carlo ausgehend, obherrscht. Der
Kaiser war schon bei Lebzeiten oft genug ent¬
täuscht, daß seine Brüder von ganz anderem
Dichtungen und Dichter. Essays und
Studien von Otto Pniower. 1912. S.Fischer,
Verlag, Berlin. ?73 S. 8°. Geheftet M. 6.-,
gebunden M. 6.—.
Der als feinsinniger Interpret und gründ¬
licher Forscher rühmlichst bekannte Direktor
des Märkischen Museums zu Berlin bietet
seine verstreuten Aufsätze gesammelt dem
interessierten Leserkreise dar. Ich habe be¬
reits früher einmal hier auf den Wert solcher
Sammlungen hingewiesen, und durch Pniowers
Gabe finde ich meineWorte von neuem bestätigt.
Besonders seine wertvollen Beiträge zur Kleist-
Forschung, über die Quellen in „Michael Kohl-
haus" und zum „Prinzen von Homburg" und
deren Verarbeitung durch die Phantasie des
Dichters, waren bisher nur dein zünftigen
Gelehrtenkreise bekannt, verdienen es aber,
um ihrer vorbildlichen Methode willen auch
weiteren.Kreisen zugänglich zu werden und da¬
durch die viel verbreitete Ansicht von der trockenen
und nutzlosen Philologie zu widerlegen. Die
ersten Studien befassen sich mit Goethe und
sind zum Teil als Einleitungen zu den ver¬
schiedenen Bänden der bekannten Pcincheon-
Ausgaben bereits gedruckt worden; doch hat
sie der Verfasser mit Rücksicht auf die neue
Literatur von neuem durchgesehen und manche
Verbesserungen angebracht; rühmend hervor¬
heben möchte ich die Einführung in den
„Tasso" und den gedankenvollen Essay über
Goethes Religion, der in Heft 26 und 27 des
Jahrgangs 1911 der Grenzboten erschienen
ist. Der kürzlich in der Neuen Rundschau
veröffentlichte Artikel über „Wilhelm Meisters
theatralische Sendung", der seine wissenschaft¬
liche Fundiermig für einen Teil jetzt im
„Euphorion", Band 19, Seite 124 bis 135
erfahren hat, gibt eine schöne Einführung
in die Probleme, die durch die glückliche Auf¬
findung des lange verloren geglaubten
Manuskriptes für die Wissenschaft entstanden
sind, und bietet eine fruchtbare Idee in der
Formulierung der Frage, wie Wohl die
„Theatralische Sendung" von Goethe fort¬
gesetzt werden sollte, im starken Gegensatz zu
Eugen Wolffs abstrusen Gedanken in dieser
Hypothese. E, Th. A. Hoffmanns Berlinische
Erzählungen werden zusammengestellt und
kundig besprochen, Gottfried Kellers Aufent¬
halt in der Reichshauptstadt wird auf seine
Wirkung für des Dichters Entwicklung ge¬
prüft. Mit Theodor Fontane beschäftigen
sich vier Aufsätze, und hier war Pniower der
gegebene Mann, aus der reichsten Kenntnis
dieses seltenen Menschen heraus ein liebevolles
Charakterbild zu entwerfen. Das zum Teil
autobiographische Gedicht „Fritz Katzfuß" wird
auf seine Quelle, eine Novelle der Helene
Bostan, hin untersucht, und hierbei gelangt
der Verfasser zu feinsinnigen Ergebnissen für
die Entstehung und Verarbeitung eines Motivs
in der dichterischen Phantasie. Die Schlu߬
essays sind Besprechungen Hauptmannscher
Dramen, aus denen ich die über den „Roten
Hahn" hervorheben möchte, das als „mär¬
kisches" Drama voll gewürdigt wird.
Schundfilm und Filmzcnsur. Das gerade
vor zwei Jahren geprägte Wort „Schund¬
film" hat sich inzwischen die Welt erobert,
soweit die deutsche Zunge klingt: es begegnet
uns überall, wo man in deutschen Landen
die schweren Schäden beleuchtet, welche die
heute üblichen kinematographischen Vorfüh¬
rungen für Jung und Alt in gesundheitlicher
und moralischer Beziehung mit sich bringen,
in Pädagogischen Zeitschriften, in der Tages¬
presse, in den kinematographischen Fachzeit¬
schriften, ja selbst in den Ministerialverord-
uungcn und den Begründungen der Gesetz¬
entwürfe, auch in Osterreich und in der Schweiz
hat man sich allgemein gewöhnt, als Merk¬
wort für die schlimmsten Schäden, welche die
Auswüchse der Kinematographie mit sich
bringen, das Wort „Schundfilm" zu ge¬
brauchen: der beste Beweis dafür, daß das
Wort einen überall vorhandenen Übelstand
treffend kennzeichnet. Und in der Tat wüßten
wir nicht, durch welches Wort es besser zum
Ausdruck kommen könnte, daß die Schund-
filmS ein genaues Seitenstück zu der Schund¬
literatur darstellen.
Wie freilich der Begriff der Schundliteratur
ein fließender ist, welcher der Erfassung durch
feste Merkmale ein für allemal zu spotten
scheint, so ist es auch außerordentlich schwer,
wenn nicht geradezu unmöglich, eine allseitig
befriedigende Begriffsbestimmung des Schund-
silms zu geben.
Von großer Bedeutung ist schon die Frage,
ob man bei der Beurteilung, ob eine be¬
stimmte Kategorie von Films als Schund¬
films bezeichnet werden müssen, nur den
ethischen Maßstab für anwendbar hält oder
ob man auch ästhetische Gesichtspunkte glaubt
heranziehen zu dürfen. Darüber freilich sind
wir alle einig, daß es außerordentlich wün¬
schenswert wäre, wenn die lediglich ästhe¬
tischen Schnndfilms auch verschwinden wür¬
den, da sie allen Bestrebungen, die Kunst
unter das Volk zu tragen, Hohn sprechen.
Zweifelhaft ist nur, ob man den Kampf gegen
die ästhetischen Schundfilms der Aufklärung
durch Schule, Elternhaus, Presse, Volks¬
bildungsvereine usw. überlassen soll oder ob
es angebracht ist, auch zur Bekämpfung der
ästhetischen Schundfilms sich der staatlichen
Machtmittel zu bedienen. Daß nach gelten¬
dem Recht die Polizei im allgemeinen nicht
die Aufgabe hat, ästhetische Interessen zu be¬
rücksichtigen, unterliegt nicht dem geringsten
Zweifel. Es erscheint aber nicht einmal
wünschenswert, durch eine Gesetzesänderung
der Polizei gegenüber den Schundfilms eine
derartig erweiterte Machtbefugnis zu geben,
da die Gefahren, die von den ästhetischen
Schundfilms drohen, immerhin nicht derartig
sind, daß sie eine solche ausnahmsweise Macht¬
befugnis rechtfertigen, ja ti? Polizeibehörden
wünschen sogar selbst nicht, daß ihnen eine
solche Aufgabe anvertraut wird.
Aber auch vom ethischen Standpunkte
aus ist die Entscheidung, ob ein bestimmter
Filu zur Kategorie der Schundfilms zu
rechnen ist, keineswegs immer einfach.
Wie verschiedene Urteile der Berwaltungs-
gerichte in Preußen, Sachsen und Baden ge¬
zeigt haben, kann man über ein und den¬
selben Filu sehr Wohl verschiedener Meinung
sein.
Gewiß wird man bei der Beurteilung,
ob ein Filu als Schundfilm zu bezeichnen
ist, in erster Linie auf das Publikum Rück¬
sicht nehmen müssen, welchem er vorgeführt
werden soll. Da nun die Kinotheater er¬
fahrungsgemäß von den unteren Volks¬
schichten besucht zu werden Pflegen, welche im
allgemeinen Suggestionen leichter zugänglich
sind, ist es selbstverständlich, daß beider
Filmzensur ein strengerer Maßstab anzulegen
ist als bei der Theaterzensur. Dies muß
auch deswegen geschehen, weil das oft aus¬
gleichende Wort bei dem „Kinodramn" fehlt
und die Suggestion der die Wirklichkeit
täuschend nachahmenden, Handlung auf
Handlung häufenden „dramatischen" Szenen
des Kinos weit stärker wirken muß, als die
von Theaterstücken möglicherweise ausgehenden
suggestiven Anreize. . ,,
Ebenso selbstverständlich aber sollte sein,
daß ein Unterschied gemacht werden müßte
zwischen Films, welche auch vor Kindern vor¬
geführt werden sollen und solchen, welche nur
Erwachsenen gezeigt werden sollen. In
Preußen, Schweden, Osterreich und, soweit
wir sehen, auch sonst überall, hat man diesen
handgreiflichen Unterschied auch berücksichtigt;
nur, Bayern stellt an die Zensur für Er¬
wachsene die gleichen Anforderungen wie um
die Kinderzensur. , ,
Überraschend mag es manchem auf den
ersten Blick erscheinen, daß unter Umständen
selbst zweifellos belehrende Films zu Ver¬
boten für Jugendliche oder gar für Er¬
wachsene Anlaß geben können. Und doch folgt
dies aus der Relativität des Begriffes
„Schundfilm", die wir soeben auseinander¬
gesetzt haben. Wir denken da z. B. an einen
Filu, welcher einen Kampf zwischen der Larve
eines Wasserkäfers und einer Kaulquappe
zeigte, der nicht nur auf Kinder, sondern
auch sogar auf Frauen abstoßend wirkte und
der unseres Erachtens durchaus mit Recht
von dem Berliner Polizeipräsidium zur Vor¬
führung vor Kindern nicht freigegeben worden
ist. Ein anderes Beispiel bietet ein Filu,
der verschiedene an und für sich vielleicht
höchst lehrreiche Operationen des Pariser
Chirurgen Dr. Doyen zeigte. Vor einem
Forum von Ärzten mag der Filu zu Bean¬
standungen nicht den geringsten Anlaß
geben; wenn er aber, wie dies tatsächlich
vorgekommen ist, auf Jahrmärkten vorgeführt
wird, so muß er abstoßend, gesundheitsschäd¬
lich und verrohend wirken.
Hiermit hängt es auch zusammen, daß ein
Filu an einem bestimmten Ort oder zu dieser
bestimmten Zeit als ein Schundfilm bezeichnet
werden muß, zu anderer Zeit oder an anderem
Orte völlig harmlos sein kann. So, ist die
politische Empfindlichkeit beispielsweise in den
Polnischen Gebieten des Ostens, den dänischen
des Nordens und im Westen von Elsaß-
Lothringen natürlich stärker entwickelt als im
Herzen Deutschlands; religiös anstößig sein
wird ein Filu sicherlich weit eher in streng¬
gläubigen Gebieten auf dem Lande als in
den Großstädten. Und ein Filu, der beispiels¬
weise ein harmloses Motiv aus einem Streik
zum Gegenstand hat, vermag die öffentliche
Sicherheit, Ruhe und Ordnung außerordentlich
zu stören, wenn er in einer Stadt vorgeführt
wird, in welcher gerade ein Streik die Ge¬
müter hüben und drüben heftig erregt.
, Aus dieser Relativität des Begriffes
Schundfilm einerseits, aus der großenSuggestiv-
kraft der Schundsilms anderseits ergeben sich
von selbst die Forderungen, welche man an
eine zweckmäßig funktionierende Filmzensur
zu stellen hat. > ^
Ästhetische Interessen hat der Zensor nicht
zu berücksichtigen, die moralischen und gesund¬
heitlichen Gefahren der Schundfilms hat er
aber mit aller Energie, wenn auch tunlichst
unter Schonung der Interessen der Gewerbe¬
treibenden zu bekämpfen. Da die Relativität
der Schundfilms einen weiten Blick erforder¬
lich macht, um sich in einem gegebenen Fall
darüber schlüssig zu werden, ob ein bestimmter
Filu zu verbieten ist oder nicht, darf die
Zensur nur von gebildeten höheren Polizei¬
beamten ausgeübt werden, wie dies in Berlin
geschieht, nicht dagegen, wie es in Sachsen
beispielsweise vielfach üblich ist, durch Polizeiser¬
geanten. Nur dann aber kann die Ausübung der
Zensur durch derartige geeignete Persönlichkeiten
— möglichst unter Hinzuziehung von Sachver¬
ständigen mit beratender Stimme — ermög¬
licht werden, wenn die Zensur zentralisiert
wird, wenigstens für jeden Vundesstaat, am
besten aber für das Reich. Da der Schund¬
film kein ein für allemal feststehender Begriff
ist und beispielsweise ein und dasselbe Ver¬
brechen je nach der Art der Inszenierung
und der Einflechtung in die Handlung zu
einem Verbot des Films Anlaß geben oder
zu Beanstandungen nicht führen kann, wird
man dem Zensor nicht zu enge Schranke»
setzen, sondern seinem freien Ermessen einen
gewissen Spielraum gewähren müssen. Alle
örtlichen Besonderheiten wird der Zensor nicht
berücksichtigen können und auch nicht berück¬
sichtigen dürfen; als Gegengewicht dagegen
wird man aber den Orispolizeibehörden die
Befugnis vorbehalten müssen, einen Filu,
welcher von der Zensurzentrale genehmigt
worden ist, nachträglich zu verbieten, wenn
gewisse örtliche Besonderheiten dies rechtfertigen.
Daß an die Kinderzensur höhere Anforde¬
rungen zu stellen sind als an die Zensur der
nur zur Vorführung vor Erwachsenen be¬
stimmten Films, haben wir schon oben erwähnt.
Bezüglich der für Erwachsene bestimmten
Films wird man die Anforderungen nicht
gar zu sehr erhöhen dürfen, wenn man nicht
SPlitterrichIerei treiben will, welche dem An¬
sehen der Zensurbehörde nur schaden und
leicht zu einer weit über das Ziel hinaus¬
schießenden Reaktion Anlaß geben würde.
Zum Schluß sei eS uns gestattet, mit
wenigen Worten noch darauf einzugehen, wie
sich der kürzlich veröffentlichte sehr interessante
württembergische Entwurf eines Gesetzes be¬
treffend öffentliche Lichtspielvorstellungcn zu
diesen Anforderungen verhält.
Der Entwurf will die Zensur in Stuttgart
zentralisieren und sie höheren Polizeibenmten
unter Beratung von Sachverständigen aus
den Kreisen der Lehrer, Arzte, Redakteure usw.
anvertrauen. Zwischen allgemein und nur
für Erwachsene genehmigten Films soll unter¬
schieden und den Orispolizeibehörden die Be¬
fugnis zur Nachzensur beim Vorliegen besou-
derer örtlicher Verhältnisse eingeräumt werden.
Soweit wird man den Entwurf als geradezu
musterhafte Lösung der Filmzensurfrage be¬
zeichnen können. Es ist auch durchaus zu
billigen, daß er dem Zensor einen gewissen
Spielraum für sein Ermessen gibt; es heißt
aber doch zu strenge Anforderungen an die
Zensur für Erwachsene stellen, wenn er
bestimmt, daß ein Filu zu verbieten ist,
„wenn seine öffentliche Vorführung vermöge
der dargestellten Vorgänge oder der Art, wie
sie dargestellt werden, geeignet wäre, die
Gesundheit oder Sittlichkeit der Zuschauer zu
gefährden oder eine verrohende oder die
Phantasie verderbende oder überreizende oder
den Sinn für Recht und öffentliche Ordnung
verwirrende oder abstumpfende Einwirkung
auf sie auszuüben." Wie uns aus eigener
Anschauung bekannt ist, vermag der schwedische
Zensor in Stockholm, der seit anderthalb
Jahren alle Films prüft, die irgendwo in
Schweden vorgeführt werden sollen, alle wirk¬
lichen Schundfilms fernzuhalten, trotzdem ihm
das schwedische Gesetz eine so allumfassende
Machtbefugnis nicht verleiht, wie sie der
württembergische Entwurf vorsieht. Der
Entwurf scheint uns daher in bester Meinung
über dos Ziel hinauszuschießen. Wird
hier, wie zu erwarten ist, die erforder¬
liche Einschränkung vorgenommen, so wollen
wir uns dieses im ganzen vortrefflichen Kino¬
gesetzes freuen und es zum Muster für das
hoffentlich nicht mehr lange ausbleibende
Preußische und das über kurz oder lang auch
folgende deutsche Kinogesetz nehmen!
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V/Val'en in IVWeKIb.
am lVlllk'it^sse.
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as politische Leben als Ausschnitt menschlicher Lebensbetätigungen
überhaupt pflegt sich im allgemeinen in starken Gegensätzen zu
bewegen, und dieses anthropologisch-geschichtliche Gesetz ist auch
in den neuesten Epochen seit Errichtung des Norddeutschen Bundes
bei uns wahrzunehmen und zu beobachten. Einst war der
Unitarismus, der Einheitsstaat, das Banner und das Feldgeschrei, um welches
sich unter Führung zielklarer und willensstarker Männer und Patrioten Deutsch¬
lands öffentliche Meinung sammelte; immer neue Aufgaben gedachte man der
Reichsgewalt zur gesetzgeberischen Lösung zuzuweisen, ihre verfassungsmäßige
Zuständigkeit zu erweitern und zu vervollkommnen. Heute dagegen hütet man
mit dem resignierten Zuge des Skeptikers den alten reichsrechtlichen Besitz,
hütet die Rechte der Einzelstaaten gegen die demokratische Flut und zieht das
Haltesignal des Föderalismus an der Eisenbahnstrecke des Reiches auf, um den
in voller Fahrt dahinsausenden Zug des Radikalismus zum Halten zu bringen.
U..^ von diesem Anschauungskreise aus vermeidet der Reichskanzler es peinlichst,
sich als Chef der einzelstaatlichen Minister zu betrachten, soweit dje Auslegung
der Reichsgesetze in Betracht kommen. Und wenn im Reichstage über die
Handhabung der Bestimmungen des Neichsvereinsgesetzes, der Gewerbeordnung
von feiten der Linken Klagelieder ertönen. — stets sind die Bundesratsbevoll¬
mächtigten mit der prozeßhindernden Einrede der mangelnden Zuständigkeit des
bundesrätlichen Gerichtshofes in dem vorliegenden Streitfalle zur Hand. Einige
zornige Äußerungen, Verwahrungen im Reichstage, Preßpolemiken, mitunter
auch. Protestresolutionen von Versammlungen/ und schließlich: es bleibt alles
beim alten. So ist der gegenwärtige Stand der Dinge.
^ , Kann nun ein ehrlicher, vernunftbegabter und nicht nur agitatorisch
wkkender Politiker derzeit im Ernst glauben, daß der Bundesrat in die mecklen¬
burgischen Verfassungsstreitigkeiten eingreifen werde? Dem steht, abgesehen von
dem Vorgesagten, die bestimmte Erklärung des Staatssekretärs Delbrück ent¬
gegen, die dieser im Januar 1910 abgegeben-und^ erst kürzlich auf eine kleine
Anfrage erneuert hüt, und dem widerstreitet vor' allem die preußische Wahl¬
rechtsfrage. Denn je stürmischer und leidenschaftlicher die vereinte Demokratie
die Grundmauern des preußischen Königtums, des führenden Bundesstaates.
zu unterminieren beabsichtigt mit dem Endergebnis, daß an Stelle staatlicher
Straffheit, männlicher Entschiedenheit eine Politik des Opportunismus Platz greift
— umsomehr erwächst allen nicht auf radikale Parteibefehle einexerzierten
Politikern die Pflicht, die in Rede stehenden Bestimmungen der preußischen
Verfassungsurkunde als einen nicht angreifbaren Reservefonds völkischen Ver¬
mögens zu betrachten. Wenn dem aber so ist, dann bleibt zu prüfen, ob die
Verfassungsnöte Mecklenburgs nicht mit anderen Methoden geheilt werden können.
Dies ist keine Unehrlichkeit, denn auch in der Diplomatie pflegt man. wenn
man nicht direkt zwischen den streitenden Parteien unterhandeln kann, auf Um¬
wegen eine Kompromißformel zu finden, auf deren Boden sich die Kontrahenten
schließlich wieder freundschaftlich die Hand reichen können. Aufgabe nachstehender
Betrachtung Muß es also sein, einmal die ständische mecklenburgische Verfassung,
auf' ihre Entwicklungsbedürftigkeit und -fähigkeit zu prüfen, anderseits zu zeigen,
daß auch in Mecklenburg, ohne daß es reichsrechtlicher radikaler Geburtshelfer
bedarf, durchaus die Möglichkeit gegeben ist, zu einer Lösung der Verfassung
auf konstitutioneller Grundlage zu gelangen.
Worin besteht zunächst die Reformbedürftigkeit der mecklenburgischen Ver¬
fassung? Will-man den gegenwärtigen öffentlichen Rechtszustand bei uns auf
eine erschöpfende Formel bringen, so kann man etwa sagen: der Landtag dieses
Landes ist in der Hauptsache eine Zusammenkunft von Trägern privelegierter
Adolsfamilien, flankiert von einigen bürgerlichen Gutsbesitzern und verschiedenen
städtischen Bürgermeistern, denen gegenüber die überwiegende Mehrheit des
mecklenburgischen Volkes in völliger Rechtlosigkeit verharrte, die mecklenburgischen
Regierungen sich bislang vielfach in völliger Hilflosigkeit befanden. Diese
Tatsache schließt selbstverständlich nicht aus, daß auch der mecklenburgische
Landtag vielfach bedeutsames geleistet hat; nur sind viele Interessen des Landes
dort völlig unvertreten. Darunter leiden die Schulverhältnisse, die Verkehrs¬
verhältnisse. Die schlechte Lage vieler mecklenburgischer ritterschaftlicher Lehrer
zum Beispiel ist aus den Tageszeitungen nur zu bekannt, als daß sie an dieser
Stelle besprochen zu werden braucht. Man sollte es aber kaum für möglich
halten, daß wichtige Gebiete Mecklenburgs, namentlich in der unmittelbaren
Nähe der Seestadt Rostock, heute noch nicht dem Eisenbahnverkehr erschlossen
sind. Und warum? Weil einige Bürgermeister von Landstädten das Recht
der illo in parts8 haben, ,d. h. durch Standesbeschluß in der Lage sind,
jede Verkehrsvorlage, die tatsächlich oder vermeintlich ihrer Stadt oder anderen
Städten Schaden bringen kann, zu Fall zu bringen. Denn nach ständischen
Staatsrecht kommt nur ein Beschluß zustande, sofern eine Übereinstimmung der
Mehrheit der Mitglieder Leider Stände vorhanden ist. Und da der Landtag
weiter keine Feststellung der Beschlußfähigkeit seiner Mitglieder, keine Rede- und
Tagesordnung, kennt, so ist die Möglichkeit gegeben daß durch Zufallsmehrtzeiten
Entscheidungen herbeigeführt werden, die dem Wohl des Landes vielfach alles
andere als' zuträglich sind. Während, manche Stadt z. B. vergebens sich be¬
müht, durch Förderung des Ausbaues des Eisenbahnnetzes Handel und Wandel
zu heben, ihre Steuerkraft zu erhöhen, — sind anderseits vom Landtage Bahnen
bewilligt worden, deren' Unrentabilität von vornherein auf der Hand lag, die
nur wenigen Interessenten zu gute kamen. Und es würden, dem ganzen Bilde
wesentliche Farben fehlen, wenn nicht' noch das Michtvorhandensein- eines
Kleinbahnnetzes hier hervorgehoben und unterstrichen würde.
„ Neben diesen skizzierten Mängeln, die sich auf. das Verkehrs- und Schul¬
wesen beziehen, sind noch zu erwähnen das Fehlen einer Staatseinheit in be¬
grifflicher HWcht. Denn das Land zerfällt in Ritterschaft, deren-Träger
selbst^ Polizeigewalt ausüben, landesherrliches Domanium,. das überhaupt keine
Vertretung im Landtage, besitzt, und Städte, deren Selbstverwaltung
meist sehr eingeengt ist.. Und wie es in der allgemeinen LandeIverwaltung
an . dem Voraussetzungen des modernen Staates, fehlt, der Begriff. des Staats¬
bürgerrechts unbekannt ist, so auch im Finanzwesen.. Drei Kassen sind hier
vorhanden: der Landkasten (für Rechnung der Stände), , die Steuerkasse (unter
gemeinsamer, Verwaltung des Landesherr» und der Stände) und die Renterei
(die die Einnahmen und Ausgaben des Großherzogs verwaltet^ der nach
ständischen Prinzip persönlich und ausschließlich die Kosten des Landesregiments
zu tragen! hat). Diese Verfassung stützt sich auf „die Mumie" des i landes-
grundgesetzlichen Erbvergleiches vom Jahre 1755, der das Ergebnis langer
Kämpfe zwischen Ständen und landesherrlicher Gewalt gewesen ist. Hatten
schon früh die Stände von Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz sich
in der Union vom Jahre 1523 zusammengeschlossen, sich durch außerordentliche
Zuwendungen an die Landesherren politische Privilegien vertragsmäßiger Natur
zugesichert, waren ^ ob des Inhalts der Verträge langwierige Streitigkeiten
entstanden, war das Land von blutigen Fehden heimgesucht worden, — so be¬
deutete dieser landesgrundgesetzliche Erbvergleich einen-Abschluß der Kämpfe,
ein Verzicht des Landsherrn auf absolutes Regiment zugunsten der Mitwirkung
der- Stände. Diese sicherten sich noch im Jahre 1817> als bereits im Süden
Deutschlands konstitutionelle Verfassungen entstanden, durch Schaffung der
Kompromißinstanz eine Vermehrung ihrer politischen Gerechtsame, und daraus
war es . auch zurückzuführen, daß auf Grund dieser Verordnung das Freien-
»
walter Schiedsgericht im Jahre 1850 ins Leben trat, das die konstitutionelle
Verfassung, die im Jahre 1849 in Schwerin erlassen war, für ungültig
erklärte.
Zahllos sind die Reformversuche gewesen, die seitdem unternommen worden
sind, um die Zivilrechtstheorie des Ständestaats in ein System konstitutioneller
Begriffe überzuführen. Aber immer war es die Ritterschaft, die wiederholt
mit zäher Leidenschaft und Scheingründen ihre Ablehnung gegen allgemeine
Wahlen der Bevölkerung bekundete. Wir sagten vorhin schon, daß der Beschluß
eines Standes genügt, um jedes Gesetz zu vereiteln, und es ist hiernach klar,
daß die Ritterschaft von diesem Rechte der nie» in partss bei den Verfafsungs-
debatten umfassend Gebrauch gemacht hat. Sie konnte auch tatsächlich auf gewisse
Erfolge zurückblicken, denn seit dem Tode des Großherzogs Friedrich Franz des
Zweiten im Jahre1883 bis zum Jahre 1907 unterblieb jeder Reformnersuch. Und
es wäre vielleicht auch heute noch nicht die Verfassungsreform erneut in Fluß
gekommen, wenn nicht die Kassen der Renterei eine bedenkliche Leere zeigten,
wenn nicht dadurch wichtige Landesinteressen benachteiligt würden, da die Land¬
schaft (d. h. die Büchermeister) es ablehnten, der Renterei einen Zuschuß aus
der Landessteuerkasse zu bewilligen. Diese Ablehnung geschah, nachdem die
Regierung in Schwerin zwar viele energische Worte fand, die Verfassungsreform
zu fordern, den Worten aber die Taten nicht entsprachen. Heute war sie sü
allgemeine Wahlen der Bevölkerung, entgegen den Anschauungen der Ritter¬
schaft, morgen legte sie einen Entwurf vor, der auf rein ständischer Basis auf¬
gebaut war, der den Wünschen der Ritterschaft entsprach. An sich kann man
gegen berufsständische Wahlen Bedenken unbedingt nicht hegen, denn sie er¬
möglichen es, alle Kräfte der Bevölkerung zur Teilnahme an den Staats¬
geschäften heranzuziehen, ohne die Brutalisierung seelisch differenzierterer Naturen
und Personenkreise durch ungebildete Wählermassen zu bewirken. Bedenkt
man aber, daß die Landschaft sich auf allgemeine Wahlen festgelegt hat, daß
ohne die Mitwirkung der Landschaft ein positives Ergebnis der Beratungen
derzeit nicht zu erzielen ist, so muß im vorliegenden Falle von der Verfolgung
des Planes abgesehen werden, so sehr man sich vielleicht theoretisch mit berufs¬
ständischen Wahlen grundsätzlich einverstanden erklären kann.
Auch auf dem letzten Landtage, der am 12. November v. I. in Malchin
zusammentrat und am 20. Dezember geschlossen wurde, scheiterte zweimal die
Regierungsvorlage wegen Verfassungsänderung, wie anderseits die Landschaft
den Rentereizuschuß erneut ablehnte. Und diese letzte Tatsache scheint der Re¬
gierung in Schwerin nicht gerade genehm gewesen zu sein, denn die Landschaft
wurde von ihr in ziemlich unsanften Tönen getadelt; abgesehen von der zweifel¬
haften Berechtigung der Regierung zu dieser Zensur, hätte sie es doch mit Freuden
begrüßen müssen, daß die Landschaft ihr die Position stärkte. Aber von der
Regierung in Schwerin, die in einer Zitadelle zu leben scheint, von der sie
sorglos auf das Leben und Treiben des Volkes hinabschaut, vernimmt man
auch jetzt keinen Laut, ja es ist mir sogar, als ich kürzlich im „Tag" der Re¬
gierung derzeit eine Entschlossenheit in der Durchführung der Verfassungsreform
vindizierte, vom Landrat von Arenstorff in Form stilistisch-juristischer Aphorismen
entgegnet worden, daß meine Annahme im Wortlaut des Landtagsabschieds
keine sichere Stütze findet. Ich hätte geglaubt, daß die Schweriner Regierung
sich gegen diese Unterstellung energisch gewandt hätte. Allein nichts dergleichen
geschah. Und auffallend ist folgendes: während beim Schluß des letzten Land¬
tags mit Bestimmtheit verlautete, daß Anfang dieses Jahres ein Nachlandtag
stattfinden werde, auf dem die Verfassungsreform „endlich" verabschiedet werden
würde, hat man bislang, wie gesagt, nichts über die Ansichten und Absichten der
Schweriner Regierungskreise vernommen. In der Tat: in jedem anderen Lande
wäre eine Regierung, die fortgesetzt solche Niederlagen erleidet, politisch unmöglich.
Und es muß tatsächlich die Frage aufgeworfen werden, ob man wirklich glaubt,
heute, wo auch in Mecklenburg die Sozialdemokratie einen bedrohlichen Umfang
angenommen hat, nach Rezepten regieren zu können, die vielleicht früher ratsam
waren, heute aber nur Wasser auf die Mühlen des Radikalismus bei den
Reichstagswahlen zuführen?
Mecklenburg ist ein Agrarland durch und durch. Und es sollte bei der
Stellung der liberalen Partei zur Landwirtschaft, bei der gehässigen Form, mit
der gerade diese Presse die Landwirtschaft vielfach bekämpft, als ausgeschlossen
angesehen werden, daß Mecklenburg derzeit durch einen Sozialdemokraten, vier
Liberale und nur durch einen Konservativen im Reichstage vertreten ist. Und
dieser Konservative verdankt seine Wahl nur dem Umstände, daß er energisch —
trotz der Opposition der Ritterschaft — in der Verfassungsfrage Farbe bekannt
hat. Die Erbitterung der Bevölkerung über die seit dem Jahre 1907 sich hin¬
schleppenden Verfassungsverhandlungen ist zwar zu verstehen; politisch klug ist
sie aber nicht. Denn indem der Wagen der Verfassungsfrage von radikalen
Agitatoren immer auf den Sackweg der Reichsinterventton geschleppt wird,
wird nur die Stellung der Ritterschaft gestärkt. Diese kennt doch die eingangs
geschilderten Stimmungen und Strömungen in der Berliner Wilhelmstraße zu
genau, um nicht zu wissen, daß ihr von dort keine Gefahren drohen können.
Eine Möglichkeit ist aber vorhanden, den Widerstand der Ritterschaft zu brechen,
und diese Möglichkeit ist gegeben, indem der Großherzog von dem ihm im landes-
grundgesetzlichen Erbvergleich gewährten Manutenenzrecht Gebrauch macht und
eine Verfassung auf konstitutioneller Grundlage oktroyiert, sofern seitens der
Ritterschaft auf dem Nachlandtage Zugeständnisse im Sinne allgemeiner Wahlen
der Bevölkerung nicht gemacht werden sollten. Die Erkenntnis von der Not-
wendigkeit und ZweckmäßiMt einer solchen Maßnahme ist bis in die kon¬
servativen Reihen, bis in die Reihen des Bundes der Landwirte stark verbreitet.
Denn, wer je in der Wahlagitation zugunsten der rechtsstehenden Parteien
tätig gewesen ist (wie Schreiber dieser ZeiKn), weiß, daß die leidige Frage
„endlich" zuni Abschluß gelangen muß.
Ist also im äußersten Notfalle nur im Wege der Oktroyiemng einer Ver-
fassung durch die Großherzoge die Möglichkeit einer organischen Verfassung^
reform lösbar Und denkbar, — so können etwaige Einwände dagegen nicht als
durchschlagend gelten. Die Meinung vieler Staatsrechtlehrer geht auch rechtlich
dahin, daß ihre etwaige Rechtskraft unangetastet ist im Hinblick auf das Ver¬
halten der Ritterschaft, im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse des Landes,
im Hinblick auf die Unmöglichkeit, zivilrechtliche Theorien öffentlich-rechtlichen
Verhältnissen des modernen Staates zugrunde zu legen. Ein Eingreifen des
Reiches zugunsten der Ritterschaft wäre nicht zu befürchten; der Artikel 76 der
Reichsverfassung, der Verfassungsstreitigkeiten zum Gegenstande hat, kann nicht
zur Anwendung gelangen. Denn Mecklenburg besitzt in der Kompromißinstanz
eine Behörde zur Schlichtung solcher Streitigkeiten. Daß aber die Behörde
derzeit schwerlich geneigt sein würde, gegebenenfalls zuungunsten der Großherzoge
zu erkennen, kann als ziemlich wahrscheinlich gelten. Im übrigen käme noch in
Betracht, daß die Gerichte in Mecklenburg nicht befugt sind, Gesetze und Ver¬
ordnungen auf ihre Rechtmä'ßtgkeit in verfassungsrechtlich-formeller Hinsicht
zu prüfen. Die Chancen für die mecklenburgische Verfassungsreform sind also
im Lande ganz gute; es bedarf hierzu nur zielbewußter Energiel Diese hat
aber bislang gefehlt, und zwar nach der Meinung selbst konservativ gerichteter
Kreisel ' ...... -l, , - ' ' ' - . '
M
«icht weil die unter diesem Titel erschienenen Ausführungen des
Polnischen Rittergutsbesitzers von CHKlpowski im Februarheft der
Preußischen Jahrbücher an sich bedeutsam genug wären, daß sie über¬
haupt eine eingehende Widerlegung verdienten, sondern lediglich weil
sie in hohemMaße geeignet sind eine unberechtigteVerwirrungbei allen
Sachunkundigen anzurichten, soll ihnen hier nochmals entgegengetreten werden/)
Chlapowski sucht den Beweis zu erbringen, daß die in Posen-Westpreutzen
voni Staate unter großen Geldopfern geschaffenen Nentengüter in ihrer Produkti¬
vität und ihrer Bedeutung für den inländischen Markt weit hinter dem Durch¬
schnitt der dortigen Großbetriebe zurückständen. Seine Absicht ist durchsichtig:
denn wäre diese seine Behauptung richtig, so müßte eine starke innere Kolo¬
nisation jedem Nationalpolitiker große Bedenken erregen, da das durch alle
agrarpolitischen Maßnahmen letzten Endes angestrebte Ziel, das deutsche Volk
in seiner Ernährung vom Auslande unabhängig zu machen^ dadurch in steigendem
Maße gefährdet würde. Um dieser Konsequenzen willen ist es angebracht, nach¬
zuprüfen, wieweit in der Beweisführung CHIapowskis wirkliche Tatsachen sprechen
und wieweit lediglich der Wunsch des polnischen Großgrundbesitzers die Feder
geführt hat. '"
Tatsächliches Material liegt mit Ausnahme von Reinertragsfeststellungen
für vier Großbetriebe, die aber bei der Maßgebenden Berechnung nicht ver¬
wandt worden sind, überhaupt nicht vor. Wahrscheinlich hat der Verfasser
doch nicht gewagt, selbst eineni Luienpublikum die Resultate dieser vier Güter
als durchschnittliche darzubieten. Er läßt sie über auf den Leser wirken, Um
eine günstige Folie für die etwas niedriger gegriffene Berechnung des durch¬
schnittlichen Reinertrages der Großgüter Posens zu gewinne». Daß es sich
bei jenen vier um ausnahmsweise intensive und vor allem um Güter äußerst
günstiger wirtschaftlicher Lage handelt, geht schon aus den wenigen Worten klar
hervor, die von CHIapowski zu ihrer Charakteristik beifügt, eins hat Bahnstation un¬
mittelbar am Gutshöfe, zwei liegen 2,5 und 3 Ku vom Bahnhofe entfernt und das
vierte hat Feldbahnverbindung zur nächsten Eisenbahnstation. Um die Bedeutung
dieser günstigen Lage für die Möglichkeit intensivster Wirtschaft und damit höchster
Reinertrage zu erläutern, genügt es, einige an einer anderen Stelle gemachte
Ausführungen Chlapowskis zu zitieren. Er sagt Seite 309: „Am eklatantesten
kommt der Vorteil günstiger, durch ein dichtes Eisenbahnnetz geschaffener Absatz¬
verhältnisse dadurch zur Geltung, daß sie einen intensiven Hackfruchtbau er¬
möglichen. Bei diesem ist bekanntlich das Volumen des Produktes im Verhältnis
zur Flächeneinheit bei weitem größer als bei Getreide." Chlapowsti berechnet
allein die Fuhrkosten zur Bahn für Kartoffeln auf das Zehneinhalbfache, für
Zuckerrüben sogar auf das Siebenundzwanzigfache gegenüber Getreide. „Aus
diesen Vergleichszahlen (S. 310) geht deutlich hervor, daß der Transport von
Kartoffeln und Rüben auf weite Entfernungen den Landmann unverhältnis¬
mäßig belastet und daß die Rentabilität ihres Anbaues mit günstigen Lieferungs¬
verhältnissen steht und fällt. Der Hackfruchtbau ist derjenige Produktionszweig,
bei welchem ohne Zweifel die höchste Rente zu erzielen ist. Er übertrifft so¬
wohl den Getreide- wie den Futterbau." Kein Mensch wird aber glauben,
daß Verkehrsverhältnisse wie die jener vier Güter für die posenschen Gro߬
betriebe die Norm sind.
Doch wie stellt nun CHIapowski den durchschnittlichen Reinertrag des
posenschen Großgrundbesitzes fest. Er geht aus von der Fiktion eines 1000
Morgen Acker bewirtschaftenden Gutes und läßt dieses 650 Morgen mit Getreide,
250 Morgen mit Hackfrüchten und 100 Morgen mit Klee bestellen. Er be¬
rechnet dann die Gesamtmenge der Ernte indem er Durchschnittserträge pro
Morgen annimmt, die nach seiner Meinung für den dortigen Großbetrieb
„mäßige Mittel- und Durchschnittsernten" darstellen. Die daraus berechenbaren
Gesamternten bewertet er dann mit angenommenen Durchschnittspreisen. Wohl¬
gemerkt also, Basis und Ausgangspunkt seiner Berechnungen sind rein will¬
kürliche Annahmen, die irgend ein anderer Landwirt sicher anders
gewählt haben würde. Wie es um diese Annahmen steht, mögen einige Nach¬
prüfungen zeigen. So nimmt er als jährlichen Durchschnittsertrag für Zucker¬
rüben 160 Zentner an. Wie die Preußische Statistik*) zeigt, ist diese Ernte
im Jahre 1910 allerdings sogar um 9 Zentner überschritten worden. Das
Jahr 1910 bedeutete aber für Posen eine Rekordernte in Zuckerrüben, die
durch das folgende Jahr mehr als wett gemacht worden ist, da hier die Durch-
schniltserträge für den Regierungsbezirk Posen nur 92, für Bromberg sogar
nur 74 Zentner erreicht haben. Aber selbst unter Ausscheidung des abnorm
ungünstigen Dürrejahres 1911 erreicht laut Statistik der Durchschnittsertrag
der vier Jahre 1907 bis 1910 nur die Höhe von 152 Zentner in Posen und
145 Zentner in Bromberg, im Durchschnitt der ganzen Provinz also kaum 149
(ohne das günstige Jahr 1910 nur 140) Zentner oder 11 Zentner (bzw.
20 Zentner) weniger als Chlapowski annimmt. Ähnlich so ist es mit den
Kartoffeln (Statistik*) 70 Zentner. Chlapowski 90 Zentner) und vor allem
mit den am meisten zu Buche schlagenden Getreideernten. Chlapowski hält
einen Ertrag von 10 Zentner pro Morgen für mittelmäßig, die Statistik weist
für das Jahrzehnt 1900/1909*) im Durchschnitt der Provinz für Roggen
7^2 Zentner, Weizen 9^, Gerste 9 und Hafer 8^ Zentner nach. Selbst in
dem günstigen Erntejahre 1910 berechnet sich nach der Statistik für alles Ge¬
treide zusammen nur ein Durchschnittsertrag von 8,8 Zentner. Sollte mithin
Chlapowskis Annahme richtig sein, so könnte der bäuerliche Betrieb selbst in
diesem über dem Durchschnitt stehenden Jahre nur wenig mehr als 7 Zentner
pro Morgen geerntet haben, um gegenüber der größeren Erntefläche der Gro߬
betriebe den provinziellen Ertragsdurchschnitt auf 8,8 Zentner herabzudrücken.
Die ganze Rechnung läuft also letzten Endes darauf hinaus, daß der Verfasser
von vornherein einen höheren Ertrag für die Großbetriebe annimmt, um —
ihre höhere Ertragsfähigkeit zu beweisen, ein wahrlich leicht plausibles Kunststück.
Auf diese Weise rechnet er dann beim Großgrundbesitz einen Gesamtertrag im Werte
von 89,50 Mark pro Morgen Acker heraus. Hiervon zieht er die Unkosten,
zu denen er das Arbeitsentgelt des Besitzers abnormerweise nicht hinzuzu¬
rechnen scheint, im angenommenen Betrage von 60,50 Mark ab und erhält dieser
Weise einen Reinertrag von 29 Mark pro Morgen Acker.
Er gibt nun weiter selbst zu, daß selbstverständlich von den anderen
Flächen eines Gutes, „erstklassige Wiesen vielleicht ausgenommen, ein ebenso
hoher Reinertrag wie vom Acker nicht zu erzielen ist". Pro Morgen der
landwirtschaftlichen Nutzfläche folgt daraus, daß nach seiner eigenen Meinung
ein durchschnittlicher Reinertrag von 29 Mark bereits zu hoch gerechnet ist. Da
aber die von ihm angenommenen Erträge des Ackers sich, wie oben gezeigt,
als erheblich zu hoch gegriffen erweisen, ist dieses erst recht der Fall.
Durch eine geschickte Aneinanderreihung seiner Ausführungen weiß
Chlapowski jedoch seine Leser von solchen Überlegungen abzuhalten und durch
die darauffolgenden Beispiele jener oben charakterisierten vier Güter in ihnen
den Glauben zu erwecken, daß er tatsächlich recht habe, wenn er behauptet,
daß „selbst Reinertrage von 40 Mark pro Morgen und darüber im Durchschnitt
der ganzen landwirtschaftlich genutzten Fläche nicht etwa vereinzelt dastehen".
"
„Unter besonders günstigen Bedingungen sagt er. „wird (nämlich) der
Hackfruchtbau häufig noch mehr ausgedehnt". Besonders den Zucketrüben
schreibt er und zwar mit Recht eine in hohem Grade günstige Beeinflussung
des Reinertrages zu. Es ist deshalb von Interesse zu beachten, welche Fläche
N dieser Frucht in seinem Normalbetriebe einräumt. Die Aufstellung zeigt,
daß er 8 Prozent der Ackerfläche für den landläufigen Durchschnitt ansieht.
Er berechnet von diesen 80 Morgen Zuckerrüben einen Ertrag im Werte von
13624 Mark. Welche Bedeutung diese Zahl hat, ersieht man, wenn man
damit den Ertrag der über achtmal größeren Getreidefläche vergleicht, der mit
48750 Mark nur etwas mehr als das Dreieinhalbfache dieser Summe erreicht.
Kommt nun aber in Posen einem Durchschnittsgroßbetriebe eine so ausgedehnte
Zuckerrübenfläche zu? Die Betriebsstatistik von 1907 weist für den Großgrund¬
besitz Posens eine Gesamtackerfläche von 786302 Hektar nach. Die mit Zucker¬
rüben bestellte Fläche betrug in jenem Jahre zusammen 53392 Hektar. Nähme
man nun an, daß nicht ein einziger Morgen in bäuerlichen Wirtschaften damit
bestellt würde, so entfielen auf den einzelnen Großbetrieb knapp 6,8 Prozent
der Ackerfläche auf Zuckerrüben. Da aber in Posen rund 19 Prozent") der
Zuckerrübenfläche auf den bäuerlichen Betrieb kommen, so reduziert sich dieser Anteil
noch weiter auf nur 5,5 Prozent des Ackerlandes. Was aber diese willkürliche
Erhöhung der Zuckerrübenfläche um ein Drittel für den durchschnittlichen Rein¬
ertrag pro Morgen in Chlapowskis Berechnung zu bedeuten hat, geht aus dem
obigen Vergleich der Erträge von Rüben- und Getreideland ohne weiteres hervor
Man sieht, in welchem erheblichen Maße der vom Verfasser berechnete
Reinertrag pro Morgen bei näherem Zusehen zusammenschrumpft. Hinzu
kommt noch, daß, wie der Versasser selbst zugibt, der Kleinbetrieb unter Be¬
rücksichtigung aller Momente etwas geringere Produktionskosten in Abzug zu
bringen braucht und dadurch den Vergleich mit dein Großbetriebe zu seinen
Gunsten beeinflußt. Diese Einsicht ist immerhin, wertvoll aus dem Munde
eines Gegners der Kolonisation, liegt doch in ihr die Anerkennung des aus¬
schlaggebenden Wertes der fanMenhaften Arbeitsverfassung enthalten, die An¬
erkennung der Tatsache, daß die Ergiebigkeit der Arbeit in hohem Grade ab¬
hängig! ist von dem Interesse des Arbeitsleistenden. Chlapowskl sagt wörtlich:
„Hingegen bildet das, persönliche Interesse an der Arbeit ein Moment, das
wohl stets mehr .oder weniger zur Geltung kommt. Es ist daher gerechtfertigt
bei einem Vergleich zwischen den Wirtschaftsunkosten im Groß- und Kleinbetriebe
anzunehmen, daß ersterer für dieselbe Menge geleisteter Arbeit im allgemeinen
mehr Arbeitskräfte braucht. Dieser Unterschied darf dem Gesagten entsprechend
uW e^ewa übertrieben werden; über eine Differenz von 25 Prozent hinaus¬
zugehen^ wäre jedenfalls ungerechtfertigt." ,
^Mmgegenüber macht er allerdings auch Momente geltend, die zuungunsten
des Kleinbetriebes hei der Kostenrechnung mitsprechen. So die angeblich geringere
Anwendbarkeit .und Ausnutzung von Maschinen. Ich verweise hier aus ,die
Untersuchungen und Darlegungen eines der berufensten Wissenschaftler auf diesem
Gebiete, des langjährigen Sachverständigen der Geräteabteilung derDeutschen Land¬
wirtschaftsgesellschaft, Prof. Dr. Fischer, zurzeit Rektor der landwirtschaftlichen
Hochschule zu Berlin*). Er stellt in seinen Arbeiten fest, daß der ökonomische Vorteil
des Großbetriebes in der Maschinennutzung nur ein recht unbedeutender ist und
durch andere Momente, wie Sorgfalt, Rechtzeitigkeit usw. vom Kleinbetriebe
mehr als ausgeglichen wird. Mit Recht hebt er hervor, daß die Hauptbedeutung
der meisten landwirtschaftlichen Maschinen nicht in der Ersparnis von Arbeits¬
kosten beruht, sondern vor allem in der Ersparnis von Arbeitskräften und
besonders von menschlichen, deren Beschaffung den landwirtschaftlichen Betrieben
von Jahr zu Jahr mehr erschwert ist. Er weist darauf hin, daß gerade das
Moment des Arbeitermangels die wesentlichste Erklärung dafür abgibt, daß der
Großbetrieb eher und in größerem Maße zur Maschine seine Zuflucht nehmen
mußte, selbst da, wo sie nachweisbar teurer arbeitete als menschliche Arbeits¬
kraft. Viel später erst machte sich auch in den bäuerlichen Wirtschaften, wenig¬
stens den größeren, ein Mangel an Arbeitskräften geltend. Seitdem hat dann
der erfolgreiche Wettbewerb der Fabriken eingesetzt, der noch heute weitergeführt
wird und der zeigt, daß alle Maschinen, sofern sie wirtschaftlich überhaupt wertvoll
sind, einer nahezu unbeschränkten Anpassung an die Betriebsgröße entweder durch
Konstruktion oder durch genossenschaftliche Nutzung fähig sind. Diejenigen aber,
die am meisten als ein mit einem Reinertrags ausfall verbundener Notbehelf für
fehlende menschliche Arbeitskraft betrachtet werden müssen' können naturgemäß
noch heute am ehesten von den mit relativ viel menschlichen Arbeitskräften ver¬
sehenen bäuerlichen Betrieben entbehrt werden. , ,
Nur gegenüber einer Maschine, dem Dampfpflug, möchte ich vorläufig die
Schweranwendbarkeit im Kleinbetriebe gelten lassen. Aber erstens ist sein öko¬
nomischer Vorteil bei den bisherigen Dämpfpflugsystemen noch kein bedeutender,
ja seine Wirkung für viele . Früchte und besonders das . Getreide ein gänzlich
bestrittener**). Auch sind schädigende Einflüsse auf die Bodenbeschaffenheit eine
nicht gar seltene, die Rente drückende Begleiterscheinung (Schädigung des
Wasserhaushaltes der Ackerkrume**"). In schwierigeren Gelände aber ist seine
Anwendbarkeit eine noch ganz unzureichende, wie überhaupt die Arbeit der
Pflüge noch allgemein erheblich zu wünschen übrig läßt*). Zweitens aber macht
der Bauer den Mangel der geringeren Furchentiefe in der Wirkung bei weitem wett
durch die Anwendung viel größerer Stalldunggaben, die bekanntlich gerade von
den Hackfrüchten, den eigentlichen Tiefkulturpflanzen, am meisten ausgenutzt und
durch hohe Erträge gelohnt werden. R. Mührer**) hat für das Jahr 1910
eine Umfrage an sämtliche Zuckerfabriken Deutschlands gerichtet, um festzustellen,
sich wie hoch die Zuckerrübenerträge pro Morgen in den liefernden Wirtschaften
unter und über 100 Hektar Wirtschaftsfläche belaufen. Das Ergebnis der Um¬
frage, die von hundertzweiundzwanzig Fabriken beantwortet wurde, zeigt, daß
nicht die großen, sondern die bäuerlichen Betriebe im Durchschnitt die höheren
Erträge aufzuweisen haben. Für das östlich der Elbe gelegene Deutschland
allein stehen die letzteren durchschnittlich uni 5 Zentner pro Morgen höher als
jene. Für die Provinz Posen allerdings ist das Verhältnis in jenem Jahre
umgekehrt, die Großbetriebe haben hier 4 Zentner pro Morgen mehr geerntet
als die bäuerlichen, wie überhaupt örtliche Schwankungen natürlich sind. Es
bildet dies aber, wie ersichtlich, nicht die Norm, sondern die Ausnahme, und
zwar eine solche, die in ihrer Unbedeutenden kaum in Betracht kommt. Vermag
aber der Dampfpflug, den übrigens auch die Großgüter fast nur mit Hilfe
eines Unternehmers, also auf dem Wege der Miete zur Anwendung bringen,
bei der Nübenkultur keinen Vorsprung des Großbetriebes zu begründen, so
vermag es keine andere Maschine; denn nach der Betriebsstatistik von 1907
wurden bei weitem die meisten Dampf- wie sonstigen Dreschmaschinen, Säe-
und Mähmaschinen, Milchzentrifugen und Schrotmühlen bei den Bauern
zwischen 3 und 20 Hektar gezählt. Hackmaschinen verwandten noch mehr
die Betriebe zwischen 20 und 100 Hektar, nur eben die Dampfpflüge
waren noch zum weitaus größten Teile in solchen über 100 Hektar in Verwen¬
dung. Die Übertragbarkeit fast aller Maschinen ist auch durch diese Ergebnisse
der Statistik erwiesen. Ihre Ausnutzung ist dann, was die größeren gemein¬
schaftlich genutzten betrifft, lediglich Sache der genossenschaftlichen Erziehung.
Es zeugt von keiner großen Schärfe des Denkens noch der Vorstellungs¬
gabe, wenn man, wie Chlapowski, zu dem Satze kommt: „Bestellung, Saat.
Ernte werden in ein und derselben Gegend zu gleicher Zeit ungefähr vorgenommen.
Darum kann man sich kaum vorstellen, daß z. B. eine Mähmaschine mehrere
Landwirte zu bedienen bestimmt wäre, denn mit dem Mähen kann eben, wenn
das Getreide schnittreif ist. nicht gewartet werden. Ähnliches gilt auch für die
Drillmaschine." Die rentable Ausnutzung einer Maschine richtet sich nicht danach,
wem und wieviele« sie in einer Erntezeit dienstbar ist, sondern danach, welche
Fläche und mit welchem Aufwand von sonstiger Arbeitskraft sie diese Fläche in
der gegebenen Zeit bearbeitet. Auch der Großgrundbesitzer kann eine Maschine,
wie Chlapowski glauben zu machen scheint, nicht auf mehreren Feldern gleich¬
zeitig verwenden. Daß aber die Eile der Arbeit, die Ausnutzung jeder verfüg¬
baren Viertelstunde die Anspannung aller Kräfte im Kleinbetriebe eine bei weitem
größere ist, gibt er selbst zu. Falls also eine genossenschaftlich genutzte Maschine
nicht zeitweise ganz stille steht — und es müßte eine klägliche Genossenschaft
sein, wo dies trotz Vorteils der Maschinenarbeit der Fall ist — wird die
Maschine hier zu mindestens ebenso großer Ausnutzung gelangen müssen wie im
Großbetriebe. Tritt aber bei der einen oder anderen Maschine wirklich eine
Minderleistung ein, so spielt sie gegenüber der von Chlapowski selbst auf 25
Prozent geschätzten größeren Leistung der durch das eigene Interesse getriebenen
menschlichen Arbeitskräfte bei der schließlichen Summierung der Arbeitsleistungen
keine Rolle mehr.
Doch nun zu dem Vergleiche selbst. Er setzt dem Wirrwarr von durch-
einandergewürfelten privat- und volkswirtschaftlichen Auseinandersetzungen, von
Annahmen, Behauptungen und ungerechtfertigten Schlüssen, die hier unmöglich
alle zurechtgerückt werden können, die Krone auf. Chlapowski stellt fest, daß
von feiten der Ansiedler, die bis 1910 angesetzt worden sind, an Renten und
Pachter pro Jahr 6,36 Mark an den Staat gezahlt wurden. . Unter Berück¬
sichtigung nur derer, die in den letzten Jahren und zwar seit 1904 lüll. ihre
Stelle bezogen haben, erhöht sich diese Zahl auf 7,97 Mark. Dieses Renten-
aufkommen, in dem die Pachter eine untergeordnete Rolle spielen, setzt er in
Vergleich mit dem Reinertrage der Großbetriebe. Er sagt: „Wie nimmt sich
der berechnete Rentenfuß den Zahlen gegenüber aus. die wir im zweiten Ab¬
schnitt dieser Arbeit kennen gelernt haben? Im Großbetriebe werden, sobald die
Vorbedingungen für einen intensiven Betrieb gegeben sind und bei befriedigen¬
den Kulturzustande Reinertrage erzielt, die die üblichen Ansiedlerrenten um das
Vierfache, ja noch mehr übertreffen. Ist es unter solchen Umständen nicht
gerechtfertigt, die Ansiedler als Staatspensionäre auf Kosten der Allgemeinheit
zu bezeichnen?"
Es liegt in diesen Sätzen nach zweifacher Richtung hin eine Täuschung
des Sachunkundigen Lesers vor. Erstens vergleicht Chlapowski Reinertrag und
Rente, zwei schlechterdings nicht vergleichbare Dinge. Das eine, die Rente, ist
der Zins für eine Schuld, die in den allermeisten Fällen nicht einmal den Welt
des nackten Grund und Bodens erreicht, je nachdem, wieviel der Ansiedler dem
Staate bei. Überlassung des Grundstückes sofort in bar hat anzahlen können.
Sie ist durchaus vergleichbar dem Zins für eine gewöhnliche dreieinhalbprozeNtige
Hypothek; sie wäre also lediglich dem Hyvothekettzins der Großgüter gegenüber¬
zustellen.") Der Reinertrag aber umfaßt außer der Verzinsung des Grund und
Bodens die des gesamten übrigen Kapitals, als da sind: Gebäude, Maschinen,
Geräte, Vieh, Meliorationen usw., und außerdem den Lohn der für die regel¬
rechte Aufrechterhaltung des Betriebes erforderlichen Arbeit, ganz abgesehen von
dem UnternehmergewittN, der Prämie für das Risiko, das besonders der An¬
siedler bei der Verpflanzung in ganz neue Verhältnisse für seine ZükUNft eingeht.
. Es ist alles andere nur nicht verwunderlich» wenn dieser Reinertrag weit
höher ausfällt als jene Rente, und mit keiner Logik der Welt-folgt aus CHIa-
powstis Feststellung, daß der Reinertrag der Rentengüter nicht auch das drei-
bis vierfache ihrer Rente erreicht. Es ist unmöglich, einem Landwirt der Pro¬
vinz Posen zuzutrauen, daß er diesen Unterschied und seine Konsequenzen nicht
kenne. Daß er trotzdem den Vergleich ohne Kommentar anstellt und dabei
operiert, als hätte er mit ohne weiteres vergleichbaren Dingen zu tun, macht
es schwer, ihm den Vorwurf der bewußten Irreführung zu ersparen. !
Es kommt aber noch ein zweites Moment hinzu. Chläpowski hat in
Kapitel II seines Aufsatzes den Reinertrag eines Durchschnittsgutes in der Weise
berechnet, daß er auf einer Ackerfläche von 1000 Morgen die Erträge' und Un¬
kosten feststellt und so ^ wie wir gesehen haben, viel zu hoch — einen Rein¬
ertrag pro Morgen von durchschnittlich 29 Mark> also etwa dem vierfachen der
Ansiedlerrente, errechnet. Diesen Reinertrag, gewonnen allein auf dem intensivst
ausnutzbaren Teile des Gutsareals, unbelastet durch irgendwelche weniger pro¬
duktiven Flächen, vergleicht er nun mit einer Zahl, die er selbst vorher durch
Division des Gesamtrentenzinses durch das Gesamtareal der Rentengüter berechnet
hat. Bewußt also verwendet er hier den größtmöglichen Divisor, in dem alle,
auch die völlig unproduktiven Ödlandflächen, mitenthalten sind, und sie jenem
Ackerreinertrage gegenüberzustellen. Das Unzulässige dieser Vergleichungsart
.dürfte jedem, auch dem landwirtschaftlichen Laien, ohne Kommentar klar sein
und bedarf wohl hier nur des Hinweises.
Aber abgesehen von diesen irreführender Vergleichen ist die ganze Methode,
die Ehlapowski zur Anwendung bringt, falsch. Theoretische Überlegungen und
Annahmen sind bei dem verwickelten organischen Charakter des landwirtschaft¬
lichen Betriebes stets unzulänglich und ungeeignet, den der Wirklichkeit ent¬
sprechenden Wert zweier Betriebsgrößen abzumessen. Sie sind auch zu sehr dem
subjektiven Ermessen des Beurteilenden anheimgegeben, als daß sie von anderen
Ah allgemein bindend anerkannt werden müßten. Hier können nur fest auf
Tatsachenmaterial begründete Zahlen eine unbestreitbare Antwort geben, Und
auch nur dann, weder sie unter Beobachtung ganz bestimmter unerläßlicher Be¬
dingungen gewonnen sind. Alle Verhältnisse mit Ausnahme des Umfanges der
Wirtschaftsfläche und ihrer notwendigen Konsequenzen müssen bei den verglichenen
Objekten annähernd gleich sein. Gerade die innere Kolonisation schafft die Be¬
dingungen, die wie keine anderen zur Verwirklichung dieser Forderung geeignet
sind. Dadurch nämlich; daß auf demselben Grund und Boden, unter denselben
klimatischen und Verkehrsverhältnissen zehn Jahre später fünfzig und mehr bäuer¬
liche Wirtschaften tätig sind, wo vor dieser Zeit ein einziger Großbetrieb arbeitete,
ist in allen Punkten zwischen diesem und jenen die Vergleichbarkeit gewahrt mit
Ausnahme eines, der Zeit. Dabei ist selbstverständliche Bedingung, daß'nach
der Aufteilung nicht umfangreiche Meliorationen den Wert des Bodens oder
Verkehrsverbesserung den Wert der wirtschaftlichen Lage verändert haben. Ge¬
lingt es unter diesen Kautelen/ den Faktor Zeit in seiner Wirksamkeit zu be-
stimmen, so läßt sich ein bindender Vergleich zwischen diesem Großbetrieb und
der Summe der bäuerlichen Betriebe bis ins einzelne zahlenmäßig durchführen.
Handelte es sich dann bei dem aufgeteilten Gut um ein für die Verhältnisse
der ganzen Gegend normales, so wird damit der Vergleich zu einem für diese
Gegend allgemeingültigen erhoben. Um diese beiden Zwecke zu erreichen, d. h'.
einmal die Feststellung des Fortschritts zu ermöglichen, die im Rahmen der
allgemeinen landwirtschaftlichen Entwicklung der betreffenden Gegend auch der
Unaufgeteilte Großbetrieb im Laufe von zehn Jahren gemacht hätte, und zweitens
den Maßstab zu finden, an dem die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse geprüft
werden kann; ist es nötig, einen unter möglichst denselben äußeren Wirtschafts-
faktoren arbeitenden Großbetrieb der Nachbarschaft (Parallelgut) zum Vergleich
mit heranzuziehen. Dessen Wirtschaftsresultate heute und vor zehn Jahren geben
dann einen Maßstab ab für das frühere Gut sowohl wie für die heutige Kolonie,
wie auch endlich für die Steigerung, die ein normaler Großbetrieb in der Zeit
seit Aufteilung jenes Gutes erzielen konnte. All diesen Forderungen werden
n'un die Untersuchungen gerecht, die ich auf Veranlassung der Landwirtschaftlichen
Hochschule zu Berlin in Pommern und der Neumark angestellt habe und die
jetzt zusammen mit den gleichzeitig von R. Mührer in Posen-Westpreußen zu
demselben Zwecke gemachten Untersuchungen bei Paul Parey in Berlin erschienen
sind"). Dabei habe ich mich nicht gescheut, da wo der Weg der Vergleichs-
Methode strittig war, den dem bäuerlichen Betrieb ungünstigeren zu gehen, um
desto sicherer vor einer Bevorzugung der Rentengüter bewahrt zu bleiben. Auch
sind meistens als Parallelgüter solche gewählt worden, die in den Boden- und
Lageverhältnissen usw. eher etwas besser gestellt sind als die Kolonien, in der
Wirtschaftsführung sich aber des besten Rufes erfreuen. Hält dann trotzdem die
Kolonie den Vergleich mit ihnen aus, so werden die Ergebnisse um so größere
Überzeugungskraft haben.
Überdies sind nicht etwa nur einzelne Jahre, sondern, um Zufälligkeiten
auszuschließen, für alle Vergleichsobjekte stets mindestens dreijährige Beobachtungs¬
perioden in ihren Resultaten verglichen worden. Dabei ist der Umfang der
Untersuchung ein weit über frühere ähnlichen Zweckes hinausgehender. Im
ganzen beträgt die von ihr berücksichtigte landwirtschaftlich genutzte Fläche
7816 Hektar. Davon entfallen rund 2900 Hektar auf vier Rentengutskolonien,
deren Land mit dem von vier „früheren Gütern" identisch ist, aus denen sie
durch die Austeilung und Besiedlung hervorgegangen find, und rund 3600 Hektar
auf vier „Parallelgüter"*). Der Grundsteuerreinertrag beträgt für die Kolonien
und früheren Güter zusammen durchschnittlich 14,22 Mark, für die Parallelgüter
16,91 Mark pro Hektar.
Das Ergebnis des Vergleichs schließt mit einer unbestreitbaren Überlegen¬
heit der bäuerlichen Wirtschaften ab. Nur in den Hauptpunkten kann es hier
mitgeteilt werden.
Was zunächst die Roherträge anlangt, so standen diese ganz entsprechend
den etwas schlechteren Bodenklassen bei den früheren Gütern durchgehends niedriger
als bei den Parallelgütern (in deren erster Beobachtungsperiode). Heute da¬
gegen haben die Kolonien trotz der Störungen im Wirtschaftssystem, die durch
die Besiedlung nun einmal unumgänglich sind, und trotz der immerhin relativ
kurzen Zeit seit der Aufteilung die Parallelgüter sämtlich bis auf eine Ausnahme
in ihren Hektarerträgen überflügelt. Der durchschnittliche Geldwert der Ernte
in Getreide, Kartoffeln und Zuckerrüben berechnet auf 1 Hektar der landwirt¬
schaftlichen Nutzfläche und unter Zugrundelegung der gleichen Einheitspreise, die
den Durchschnitt der in den Gutsbuchführungen gezählten Preise darstellen, be¬
trug bei den vier früheren Gütern zusammen rund 133 Mark, bei den heutigen
Kolonien aber 194 Mark. Bei den Parallelgütern dagegen hat sich dieser Wert
in gleicher Zeit nur von 158 Mark auf 191 Mark gehoben.
Die Erklärung für diese Leistung der Kolonisten liegt neben anderen Mo¬
menten vor allem in zweien: 1. in der Sorgsamkeit und Rechtzeitigkeit von
Bestellung und Ernte und 2. in der viel stärkeren Stallmistdüngung. Den
ersten Punkt hat auch Chlapowski wenigstens insofern angeführt, als er die
Befruchtung der Arbeit durch das eigene Interesse anerkennt. Darüber hinaus
aber befähigt den bäuerlichen Betrieb eine pro Hektar nicht bloß qualitativ,
sondern auch quantitativ weit höhere Summe menschlicher Arbeitskraft zu größerer
Leistung in gleicher Zeit und auf gleicher Fläche. Trotz Mitberücksichtigung
der Saisonarbeiter stieg die Zahl der überhaupt verfügbaren Arbeitskräfte in
den Kolonien regelmäßig auf das eineinhalb- bis zweifache der früheren Zahl,
während umgekehrt dieZahl der uninteressierten fremden Arbeiter um ungefähr eben¬
soviel sank. Dabei zeichnet den Arbeitsapparat des bäuerlichen Betriebes eine viel
größere Elastizität vor dem des Großbetriebes aus. In den Zeiten höchsten
Arbeitsbedarfs nämlich, besonders zur Zeit der Ernte, treten die Kinder der
Bauern und die Altsitzer, soweit dies irgend möglich, unterstützend hinzu, nicht
zwar so, daß sie an der Erntearbeit selbst teilnehmen, wohl aber so, daß sie in
Haus und Hof die weniger dringlichen Arbeiten wahrnehmen und dadurch sämt¬
liche vollwertigen Kräfte für das Hauptarbeitsbedürfnis freimachen. Auf diese
Weise vermag der Arbeitsapparat des bäuerlichen Betriebes den hohen Anforde¬
rungen der Ernte usw. viel schneller gerecht zu werden als selbst der durch
Saisonarbeiter verstärkte des Großbetriebes. Von welch hoher Bedeutung aber
die Rechtzeitigkeit der Erledigung landwirtschaftlicher Arbeiten ist, weiß jeder
praktische Landwirt, bedeutet doch eine nicht rechtzeitig fertig gewordene Be¬
stellung nur allzuoft einen Ausfall von 1 Doppelzentner Ernte und mehr pro
Hektar. Und nicht anders steht es mit den Strenkornverlusten und verregnetem
Getreide bei der Ernte, die regelmäßig und ganz überwiegend den Großgrund¬
besitz treffen. Selbst bei gleicher Ernte auf dem Felde kommt bei dem bäuer¬
lichen Wirt mehr in die Scheuern und in die Säcke und damit auch mehr in
die Wirtschaftskasse.
Doch läßt sich mit all diesen Momenten, da ihre Bedeutung im großen
und ganzen für alle Jahre die gleiche ist, nicht die rapide Steigerung von Jahr
zu Jahr erklären. Hier tritt das zweite oben angeführte Moment in sein
Recht. Parallel mit dem Viehstand wächst die Menge verfügbaren Stallmistes
und parallel mit ihr auf dem Felde der Ertrag, der seinerseits wieder auf die
Vermehrung von Viehstand und Stalldung zurückwirkt. Erst nach ungefähr
sechs Jahren hat in den Siedlungen die Viehzahl eine ungefähr gleichbleibende
Höhe erreicht, eine Höhe, an die der Gutsbetrieb nicht entfernt heranreicht. In
den vier Kolonien kamen pro 10 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche 7.3 bis
W.l Stück Großvieh, während bei Gütern und Parallelgütern nur 3.3 brs 4.5
darauf entfielen. Die verfügbare Menge von Stalldung berechnet sich daher
unter Zugrundelegung der Wolff-Lehmannschen Tabellen») zusammen in den mer
Kolonien auf rund 190 000 Doppelzentner gegenüber rund 87 000 Doppelzentner
auf den früheren Gütern. Welche Bedeutung diese Massen für den physikalischen
Zustand des Bodens, für die Bodengare und Fruchtbarkeit haben, braucht einem
Landwirt nicht auseinandergesetzt werden. Diejenigen, die dafür em naher-
Lehendes Interesse haben, verweise ich auf K. von Rümkers „Tagesfragen", Heft III
und die Versuche in Lauchstädt und Pentkowo*), wo zahlenmäßige Werte dafür
ersichtlich sind. Hinzufügen will ich nur noch, daß die Kolonien auch in der
Anwendung künstlicher Düngemittel trotz dieser überragenden Stalldunggaben
nicht erheblich hinter den Parallelgütern zurückstanden.
Innerhalb der Viehbestände sind es gerade die produktivsten Tiergattungen,
deren Zahl sich am meisten vermehrt. So stieg die Anzahl der Schweine,
trotzdem bei den Gütern die Bestände in den Leutewirtschaften mit berücksichtigt
sind, regelmäßig auf das Drei- bis Vierfache. Im gleichen Maße vermehrten
sich die Milchkühe und in noch erheblich höherem die Zuchtsauen. Es kann
daher nicht wundernehmen, wenn auch der Absatz tierischer Produkte eine ent¬
sprechende, ganz außerordentliche Förderung durch die Anstedlung erfährt, eine
Tatsache, die Chlapowski, trotzdem sie wegen der andauernden Fleischnotkrisen
ganz besonders wichtig ist, sonderbarerweise mit keinem Worte berührt. Es
betrug wiederum unter Zugrundelegung gleicher Preissätze der jährliche Wert
des tierischen Absatzes für die vier früheren Güter zusammen rund 110000 Mark,
für die vier heutigen Kolonien rund 385000 Mark. Die vier Parallelgüter
dagegen steigerten die entsprechenden Summen nur von rund 121000 auf
143000 Mark.
Gewiß wird der Gegner einwenden, daß nach herrschender Ansicht der
Großgrundbesitz in der Regel mehr Brodgetreide zu liefern vermag als die
Bauern. Aber erstens ist die Beschaffung von Fleisch durch die heimische Land¬
wirtschaft die bei weitem wichtigere Aufgabe. Denn seine Einführung in Gestalt
lebenden Viehes würde einen großen Teil unseres Nationalvermögens mit mehr
oder weniger großer Vernichtung durch Seuchen bedrohen, in Gestalt von
Gefrierfleisch usw. aber die Qualität ganz erheblich leiden lassen und unter
Umständen sogar hygienischen Bedenken für die Konsumenten begegnen müssen.
Außerdem aber stellt es ein hochwertigeres, schwerer transportables Gut dar,
das mit viel fremder Arbeit belastet ist. All diese Bedenken treffen beim Ge¬
treide viel weniger oder gar nicht zu. Es ist einer der vornehmsten volks¬
wirtschaftlichen Grundsätze, das im Inland e Arbeit und Erwerb schaffende ver¬
edelte Produkt dem Rohprodukt an Wichtigkeit voranzustellen und in erster
Linie zu schützen und zu fördern. Zweitens aber ist jene Regel von der Über¬
legenheit des Großbetriebes in der Brotgetreidelieferung mindestens nicht fest¬
stehend. Die beiden neumärkischen Kolonien, die über viel weizenfähigen Boden
verfügen, zeigen, daß unter gegebenen Verhältnissen auch in dieser Frage der
bäuerliche Betrieb mit dem Großbetriebe konkurrieren kann. Der Weizen und
teilweise auch die Gerste geben als ausgesprochene Marktfrüchte auch dem
Bauernbetriebe die Tendenz zur Getreidewirtschaft. Während deshalb die neu¬
märkischen Kolonien in der Viehhaltung und im tierischen Absatz bei weitem
nicht mit den pommerschen Kolonien wetteifern können, zeigen sie ihre Stärke
im Absatz von Brodgetreide in dem Maße, daß sie darin sowohl die früheren
Güter als auch die Parallelgüter übertreffen.
Diese Beispiele beweisen auch die große Anpassungsfähigkeit der bäuer¬
lichen Wirtschaft an gegebene Wirtschaftsbedingungen, Marttverhältnisse usw.,
in der sie dem Großbetriebe sicher überlegen ist, wie ihre bedeutend größere
Krisenfestigkeit gleichfalls oft genug gezeigt hat. Es heißt die Dinge geradezu
auf den Kopf stellen, wenn Chlapowski behauptet, daß der Großbetrieb besser in der
Lage ist, diejenige Produktion zu forcieren, die die höhere Rente abwirft. Der
Bauer ist bei gleichen Verkehrsverhältnissen sehr gut befähigt, ebensoviel
Hackftuchtbcm zu treiben wie der Großgrundbesitz. Arbeitskräfte und Stalldung,
Zwei Haupterfordernisse, stehen ihm mehr zur Verfügung als jenem und die
Tiefe seiner Pflugfurche wird, wie die Ernten im Kleinbetriebe beweisen, voll¬
kommen den Anforderungen dieser Früchte gerecht. Auch ist zu bedenken, daß
immerhin schon heute fast die Hälfte aller Zuckerrüben in bäuerlichen Wirtschaften
gewonnen werden*). Daß der Bauer noch nicht mehr zum Zuckerrübenbau
übergegangen ist, liegt in der Unsicherheit, die dem Absatz des Zuckers nun
einmal eignet und die jedem ohne Kommentar durch die bloße Nennung der
Brüsseler Zuckerkonvention klar sein dürfte. Die Fläche der übrigen Hackfrüchte
aber steht trotz des Brennereibetriebes der großen Güter beim Bauern nur
wenig hinter der der Großbetriebe zurück. Die verfügbaren Erntemengen an
Kartoffeln waren in den vier Kolonien infolge der höheren Stalldunggaben
und dadurch bedingten höheren Hektarerträge usw. durchgehends größer als bei
den früheren Gütern. Während sie aber bei jenen fabrikmäßig verwertet
wurden, fanden sie hier durch Verfütterung zur Herstellung animalischer Werte
ihre Verwendung. Welcher Verwertung volkswirtschaftlich die höhere Bedeutung
zukommt, braucht wohl nicht erläutert zu werden.
Chlapowskis These von der überlegenen Anpassungsfähigkeit des Gro߬
betriebes an die rentabelste Wirtschaftsform ist falsch. Der Kleinbetrieb ver¬
möchte sehr wohl den Zuckerrübenbau zu forcieren, wenn er bestimmt hoffen
dürfte, daß er dabei einer gesicherten Zukunft entgegenginge. So aber zieht
er es in den meisten Gegenden mit Recht vor, in erster Linie tierische Pro¬
dukte zu erzielen, weil bei deren Preis und steigendem Bedarf die Rechnung
nicht schlechter und der Absatz ein gesicherter ist. Das Umgekehrte H rMlg.
der Großbetrieb vermag dem bäuerlichen auf diesem letzteren, sichere und höchste
Reinertrage abwerfenden Wege nicht zu folgen.
Es bleibt nun noch ein kurzer Blick auf die Werte insgesamt zu werfen,
die Groß- und Kleinbetrieb in den untersuchten vier Vergleichsreihen dem in-
ländischen Markte zur Verfügung stellten. Genau wie bei den Erträgen standen
die früheren Güter zunächst hinter den etwas begünstigten Parallelgutern zurück.
Heute aber haben die Kolonien diese letzteren weit überflügelt. Es entfiel:in
"
Durchschnitt auf 1 Hektar der landwirtschaftlichen Nutzfläche bei den vier früheren
Gütern ein Gesamtabsatzwert von 102 Mark, bei den Kolonien ein solcher von
177 Mark. Die Parallelgüter vermochten dagegen diesen Wert nur von 115
auf 150 Mark zu steigern.
Dabei ist aber zu bedenken, daß die Zahl der auf derselben Fläche lebenden
Menschen sich fast verdoppelt hat. Es folgt also daraus, daß die innere
Kolonisation ihre bevölkerungspolitische Aufgabe voll erfüllt, ohne daß der
Absatz an die konsumierende Bevölkerung der Städte darunter leidet. Im
Gegenteil, er wächst um erhebliche Summen und wächst gerade in den Pro¬
dukten, die am wichtigsten für die Ernährung des Volkes sind und deren mehr
oder weniger fühlbarer Mangel immer wieder zu politischer Beunruhigung und
Fleischnothetzen führt.
Gleichzeitig legt aber die Innere Kolonisation die Axt an eine andere
Gefahr, die gerade in diesen politisch unsicheren Tagen niemand verkennen wird,
die ausländische Arbeiterfrage. Über dreihundertstebenundneunzigtausend Russen
und Galizier haben im Jahre 1911/12*) unsere heimischen Felder aufgesucht,
um die Ernten bergen zu helfen. Ganz abgesehen davon, daß diese Massen
nach Wohltmann etwa 150 Millionen Mark über die Grenze sühren und damit
ihre eigene Volkswirtschaft befruchten und uns gegenüber konkurrenzfähig machen
helfen — viel schlimmer ist, daß wir in Zeiten politischer Krisen oder gar des-
Krieges unsere Frucht auf dem Felde jammervoll verkommen lassen müssen und
dadurch an nationaler Stoßkraft einbüßen.
In den Nentengutskolonien aber sind Ausländer so gut wie überflüssig.
Was an fremden Arbeitskräften gezählt wurde, bestand fast ausnahmslos aus
Gesinde und einheimischen Tagelöhnern.
Auch diese Frage hat Chlapowski peinlichst vermieden und selbst in seinem
sonst berechtigten Lobliede auf die Zuckerrübe als ihre volkswirtschaftlich sehr
bedeutsame Schattenseite vergessen. Und doch gibt er vor, die Dinge nicht vom
privatwirtschaftlichen Gesichtspunkte zu betrachten. Gerade der Saisonbetrieb
aber gründet seine große Rentabilität auf dem rein prwatwirtschaftlichen
Kalkül der Ersparung von Arbeitern in der arbeitsschwachen Winterperiode.
Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte verlangen Stetigkeit im Arbeitsbedarf, denn
ihr Ziel ist Schaffung und Erhaltung dauernder Erwerbsmöglichkeit für jeden
Schaffenden und nicht zum mindesten für den Arbeiter. Eine zuzeiten geringere
Intensität des bäuerlichen Betriebes gegenüber dem Saisonbetriebe wäre deshalb
volkswirtschaftlich noch kein Vorwurf. Seine weit größere Gleichmäßigkeit im
Aroeitsbeoarf, die besonders durch die für Sorgsamkeit und individuellste
Behandlung allezeit dankbare Viehhaltung neben Flachsbau u. a. möglich ist, sichert
ihm in der Arbeitsverfassung auf alle Fälle den Vorrang. Daß aber auch die
Ausnutzung der einzelnen Arbeitskraft nicht hinter der eines normalen Groß-
betriebes zurücksteht, beweist die Tatsache, daß in den drei hierauf untersuchten
Kolonien der Wert des Absatzes pro Arbeitskraft rund 739 Mark betrug,
während er bei den früheren Gütern nur 698 Mark erreichte.
Alles in allem ergeben mithin die Untersuchungen eine glänzende Recht¬
fertigung der Inneren Kolonisation. So sehen die Dinge, die CHIapowski
theoretisch nach seiner vorgefaßten Meinung zu konstruieren versucht, in Wirk¬
lichkeit aus. Daß aber diese für Pommern und Brandenburg von mir nach¬
gewiesenen Verhältnisse durchaus keine besonderen sind, sondern für Posen-
Westpreußen in ganz gleicher Weise zutreffen, das beweist die Übereinstimmung der
Ergebnisse R. Mührers mit den meinen. Mührer hat elf Kolonien der Kreise
Zum. Gnesen und Wongrowitz mit elf benachbarten Großbetrieben, die wirt¬
schaftlich im besten Rufe stehen und zwar ebenfalls auf Grund sorgfältiger
Buchführung oder Aufzeichnungen miteinander verglichen, und kommt in allen
Hauptpunkten zu genau den gleichen Resultaten. Dabei sind die beiden Unter¬
suchungen gänzlich unbeeinflußt voneinander angestellt worden, da die beiden
Verfasser sich erst nach Abschluß ihrer Arbeiten kennen lernten.
Wie Herr von Chlapowski zugeben wird, gehören jene Kreise gerade zu
den klimatisch ungünstigsten Gebieten der Provinz Posen, zu den: Gebiete, für
das er um seiner Trockenperioden willen den viehzüchtenden Kleinbetrieb für
ungeeignet hält und dem getreidebauenden Großgrundbesitz von vornherein eine
Überlegenheit zuspreche» möchte. Er hat jedoch die Rechnung ohne den Bauern und
sein Vieh gemacht. Wie Mührer. ganz in Übereinstimmung mit mir, betont,
ist der Stalldung das Agens, das den Boden wasserhaltender und damit gerade
auch in trockenen Gegenden fruchtbarer macht. Während die Güter Mühe
haben, den Klee hoch zu bringen, gelingt es den Bauern relativ leicht und so
augenfällig, daß auch der Großgrundbesitz diese Überlegenheit in jenen Bezirken
allgemein anerkennt.
Daß der bäuerliche Betrieb trotz theoretischer Einwendungen eines polnischen
Gutsbesitzers dort zweifellos sein Gedeihen findet, das beweisen die von Mührer
auf Grund umfangreichsten Materials gewonnenen Zahlen ohne Kommentar.
Es stellte sich im Durchschnitt der Geldwert der marktfähigen Ackererzeugmsse
pro Hektar der landwirtschaftlichen Nutzfläche bei den Ansiedlern auf rund
269 Mark, in den Gutsbetrieben dagegen nur auf 235 Mark, oder pro Mark
des Grundsteuerreinertrages aus 24.4 und 23.9 Mark. Wie bei den pom-
merschen Kolonien wird auch hier der Hauptteil der Ernte veredelt zu wrrschen
Produkten dem Markte zugeführt. Der Wert dieser betrug bei den Ansiedlern
pro Hektar rund 174 Mark, dagegen bei den Gütern nur 56.5 Mark (bezogen
auf 1 Mark Grundsteuerreinertrag 16.4 und 5.7 Mark). Trotzdem ist auch hier
der Absatz von unveredelten Ackerprodukten, besonders Getreide, acht gering.
Er beträgt bei den Ansiedlern 92.3 Mark, denen allerdings bei den Guts¬
betrieben 157 Mark gegenüberstehen. Dabei sind aber wie in den neu-
wärkischen Kolonien auch hier die Bauernwirtschaften, was besonders hervor-
gehoben werden muß, in der Lieferung von Brodgetreide den Gütern über¬
legen; unterlegen dagegen nur im Absatz von Futtergetreide und Hackfrüchten.
Die gesamte Marktleistung stellte sich mithin bei den Ansiedlern auf rund 266,
bei den Gütern aber nur auf rund 214 Mark pro Hektar oder bezogen auf 1 Mark
Grundsteuerreinertrag bei jenen auf 25,1, bei diesen nur auf 21,7 Mark.
Für alle sonstigen Punkte muß auf die bei Parm erschienenen Unter¬
suchungen, die mit einem Vorwort von Prof. Dr. Auhagen versehen sind,
verwiesen werden. Sie dürften geeignet sein, jedem ernstlich Prüfenden die
Augen über die Chlapowskischen Auslassungen noch mehr zu öffnen als es
dieser zusammengedrängte Aufsatz im besten Falle erreichen konnte.
Ihr Studülm wird dann anderseits aber auch vor dem falschen Schlüsse
bewahren, zu dem der Leser der vorliegenden Zeilen leicht kommen könnte, als
ob die beiden Verfasser auf Grund ihrer Untersuchungsergebnisse zu der
Folgerung kämen, daß nun die radikale Aufteilung sämtlichen Großgrundbesitzes
die erste politische Forderung sein müsse. Im Gegenteil ist den Verfassern die
hohe Bedeutung des Großbetriebes gerade für die deutsche Landwirtschaft
durchaus bewußt. Es kommen ihm schwer wägbare, aber außerordentlich be¬
fruchtende Funktionen in Staat und Volkswirtschaft zu, die kein Verständiger
wird missen wollen. Wie der deutsche Großgrundbesitz auf neuen landwirt¬
schaftlich-technischen Gebieten bisher — ich erinnere hier nur an die Zuckerrüben-
kultur — die Führerrolle gespielt hat, so soll er sie auch in Zukunft als seine
Pflicht und Ehre betrachten. Das kann aber nicht abhalten, da wo der Gro߬
grundbesitz im Übermaße vorhanden ist, wo fast die Hälfte alles nutzbaren
Landes oder noch mehr in seinen Händen liegt und seine schädigenden Wir¬
kungen deshalb die nützlichen überwuchern müssen, seine Aufteilung bis zu
einem gewissen Umfange zu verlangen. Nicht restlos, wie das manche liberale
Politiker gerne sähen, denn alle Gleichmacherei ist schädlich und eine Ver-
kennung der organischen, in mannigfaltigen Formen zur Betätigung strebenden
Natur der Volkswirtschaft. Keineswegs ist der Wert eines höheren, durch
Wohlstand, Bildung, freie Initiative und feste Traditionen sich über die Masse er¬
hebenden Standes auf dem platten Lande zu unterschätzet:. Wer aber den
Wunsch und Willen hat, daß deutsches Land auch weiterhin dem deutschen Volke
erhalten bleiben soll, wer den Strom der unzufrieden der heimischen Scholle
den Rücken Kehrenden dämmen will, der muß die Scholle zum Eigentum geben
denen, die sie erstreben, die sie nicht zum Spekulationsobjekt machen, sondern
sich nicht scheuen, sie mit ihrem Schweiße zu düngen. Deutsche Dörfer und
Landstädte, die Quellen des deutschen Volkstums müssen blühen, wo weite
Flächen heute dünnbevölkert und wirtschaftlich unzureichend genutzt daliegen.
„Allem Leben allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk voraus¬
gehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird. Eines recht
wissen und ausüben gibt höhere Bildung, als Halbheit im Hundert¬
fältigen/' — „Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk,
für den besseren eine Kunst, und der beste, wenn er Eins tut, tut er
alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem Einen, was er recht
tut, sieht er das Gleichnis bon allem, was recht getan wird."
Goethe, Wanderjahre
Doll behüte mich vor meinen Freunden; mit meinen Feinden will
ich schon fertig werden!" Das mag Kerschensteiner oft genug
empfinden bei den Vergröberungen, die seine bewußten und un¬
bewußten Anhänger und Nachtreter mit dem Arbeitsschulbegriff
vorgenommen haben. Es ist hier nicht die Rede von denen, die
bei dem Worte „Arbeitsschule" an Hobel und Säge, Hammer und Amboß,
Werkstätte und Bluse denken, sondern von den Volksschullehrern, die Kerschen-
steiners Anregungen zwar mit staunenswertem Fleiß und vorbildlichem Idealismus
aufgenommen haben, die bereits in die Schulen praktisch einführen, was sie für
„arbeitsschulischen Betrieb" halten, denen aber der Sinn für die geistigen Werte
der Arbeitsschule abgeht. Sie haben in ihrer rein äußerlichen Betonung der
Handarbeit, der Verbindung manueller Tätigkeit mit jedem herkömmlichen
Unterrichtsgebiet der Schule das Schlagwort „Arbeitsschule" in üblen Ruf
gebracht. Namentlich bei den meisten Vertretern der höheren Schulen. Die
Anhänger der Schulreform allerdings haben längst eingesehen, was Kerschen¬
steiner auch für uns bedeutet, aber das sind wenige, und nur zu oft begegnet
man noch dem Vorurteil, daß Arbeitsschule gleichbedeutend sei mit Modellier¬
bogen, Laubsägearbeit, Plastilin usw. Demgegenüber sagt Kerschensteiner selbst
scharf aber richtig: wer glaube, dem Geschichtsunterricht in den oberen Klassen
der Volksschulen durch die erwähnten manuellen Tätigkeiten den Charakter von
Arbeitsunterricht gegeben zu haben, handele genau so wie einer der „sich den
Begriff des kategorischen Imperativs zu erarbeiten glaubt, wenn er — einen
Holzschnitt von Kant nachzeichnet".
Wir müssen uns gewöhnen, von all diesen Äußerlichkeiten abzusehen, wenn
wir dem Geist der Arbeitsschule nahekommen wollen. Man verkennt Kerfchen-
Steiner ganz und gar, wenn man ihn beständig mit dem Handwerksunterricht
in Zusammenhang bringt, als wäre das sein Steckenpferd und seine Bedeutung.
Dem Basteln, Stäbchenlegen, Eierzeichnen usw. steht er sogar sehr mißtrauisch
gegenüber. In richtiger Würdigung der verschiedenen Begabungen, der ver¬
schiedenen Schulen und der verschiedenen Altersstufen verlangt er Handfertigkeits¬
unterricht nur für die Schulen, die auf geistige und manuelle Berufe vor¬
zubereiten haben, also die Volks- uno Fortbildungsschulen; für Schulen, die
„nur für rein geistige Berufe vorbereiten sollen, für Menschen, deren Instinkte
ur rein manuelle Tätigkeit erloschen sind, die fast ausschließlich unter der
Macht der intellektuellen Triebe stehen, für solche erachte ich Erziehungs¬
einrichtungen zur manuellen Betätigung in keiner Weise notwendig. Da es
Menschen dieser Art gibt und auch Berufe, denen sie sich von selbst zubewegen,
so kann ich mir daher auch wohlorganisierte Arbeitsschulen denken, die keinerlei
manuelle Betätigung in irgendwelchen besonderen Werkstätten mit irgendwelchem
Unterrichtsbetrieb verbunden kennen".
Es ist also klar, daß Arbeitsschule und Handwcrksunterricht für Kerschen-
steiner nicht zusammenfallen. Gleichwohl ist die schaffende Tätigkeit des Schülers
von dem allergrößten Wert für die Erziehung, und da die Knaben bis zum
vierzehnten Lebensjahre jeder manuellen Betätigung den Vorzug vor rein
geistiger Beschäftigung geben, soll man diesen Schaffenstrieb ja benutzen, soll
ihnen gern gestatten, Modelle von allen Realien, die im deutschen und ini
Geschichtsunterricht vorkommen, anzufertigen, nur darf man sich nicht einbilden,
damit dem Begriff der Arbeitsschule genügt zu haben. Und, wenn man in
allen Unterrichtsfächern auf die Herstellung von Anschauungsgegenständen durch
die Schüler selbst Wert legt, so muß ein sachlicher Handwerksunterricht ein¬
geführt werden, der die nötige technische Ausbildung bringt.
Das ist Kerschensteiners klare, aber viel befehdete Stellung zum Handwerks-
unterricht.
Die deutschen Lehrer haben auf ihren Tagungen schon wiederholt und
noch zuletzt im vorigen Jahre den Haudwerksunterricht als Fach abgelehnt,
sind aber immer mehr für den Arbeitsunterricht als Prinzip gewonnen worden.
Sie wollen also — das bedeutet das Schlagwort „Arbeitsunterricht als Prinzip"
— die manuellen Beschäftigungen als „Methoden der Veranschaulichung, als
Mittel der Sinnesbildung, als Befriedigung des so lebhaften Tätigkeitstriebes
der Kinder, als Belebungsmittel des gesamten Unterrichts" benutzen, wünschen
aber keinen Fachunterricht in Holz» und Eisenarbeit, keine Schultischlerei und
Schulschlosserei und -Schmiede. Dabei verkennen sie den charakterbildenden
Wert der manuellen Tätigkeit, der der Willensbildung und Urteilsschärfung
dienen soll. Aber noch mehr! Die aufs Geratewohl geübte Handarbeit der
Knaben im Modellieren, Tischlern und Laubsägen artet nur zu leicht in
dilettantische Basteleien aus; deswegen ist die sachgemäße Ausbildung im Arbeits¬
unterricht unentbehrlich. „Es ist von allerschlimmsten Einfluß auf die Willens-
erziehnng, wenn die Kinder einer Schule 7 bis 8 Jahre hindurch auch nur
in einem, geschweige in mehr oder gar allen Unterrichtsgebieten sich angewöhnen,
eine Sache „so annähernd" oder „beinahe" recht zu machen und nichts ver¬
leitet mehr dazu — ohne daß dies absolut notwendig wäre — als der soge¬
nannte Arbeitsunterrlcht als Prinzip."
Also entweder: Arbeitsunterricht als Prinzip und als Fach — oder: fort
mit den Knützeleien aus der Schule!
Diese Auffassung entspricht dem Goethewort, das unserem Aufsatz voran¬
gestellt ist: „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung, als Halbheit
im Hundertfältigen." Und kennzeichnend für Kerschensteiners inneren Zusammen¬
hang mit goethischen Erziehungsgrundsätzen ist es, daß Goethe dieses goldene
Wort in Anknüpfung an das Lob des Handwerks gesprochen hat; denn, wenn
auch nochmals betont werden muß, daß Arbeitsunterricht nicht das Kennzeichen
der Arbeitsschule in Kerschensteiners Sinne ist, so spielt doch die Schätzung der
manuellen Tätigkeit eine große Rolle in Kerschensteiners Lehrplänen. Arbeits¬
schule ist der umfassendere Begriff. Wir müssen etwas weiter ausholen, um
den Zusammenhang klarzulegen.
Was Kerschensteiner mit der Arbeitsschule beabsichtigt, bezeichnet er selbst
als die Erfüllung „uralter pädagogischer Forderungen ... wir streben, in unseren
öffentlichen Volksschulen auch auf jene ungeheueren Massen Einfluß zu gewinnen,
für welche die ausschließlich geistige Arbeit kein Bildungsmittel sein kann. Vor
allem habe ich das Gefühl, daß wir in unseren Bestrebungen ganz im Geiste
dessen handeln, der so viel gepriesen und so wenig verstanden wird, der uns
in Lienhard und Gertrud, in den Briefen an Heinrich Geßner und besonders
im Schwanengesang so oft gelehrt hat, daß nur „die Arbeit in der das Kind
unigebenden Welt" der elementaren Volksschule ihre Bildungskraft gibt . . .
Der Flugsand der Gedankenlosigkeit hat Berge über Wahrheiten geschüttet, die
einst das Herz des unermüdlichen Forschers nach Menschenbildung erfüllten.
Aber wirkliche Wahrheiten steigen immer wieder wie Geister aus ihren Grüften
auf und wandern umher und beunruhigen die Herzen der Menschen, bis sie
endlich Erlösung und Ruhe finden in der Verwirklichung des realen Lebens.
Wir alle, die wir mit wissenschaftlichem Ernst und hingebender Energie jener
Schulorganisation die Wege bahnen, die dem Vater der Volksschule vor Augen
schwebte, bringen diesen Geistern die ersehnte Erlösung."
Wir haben in den letzten Jahren so viele unüberlegte Neuerer anhören
müssen, daß es not tut, Kerschensteiner ausdrücklich aus dieser Gesellschaft heraus¬
zuheben. Seine Vorschläge entspringen der Erfahrung, der gründlichen Kenntnis
der Erziehungsgeschichte und exakten Untersuchungen über die Begabung und
den Charakter der KinderWir befinden uns überall auf sicherem Boden;
und wenn Kerschensteiner bewußt an Pestalozzi anknüpft, so ist er doch kein
vermittelnder Pädagoge, der jede Behauptung mit „aber", „indes" und
„anderseits" einzuschränken hat; der höhere Gedanke gibt ihm die Kraft, das
gute Alte in die neue Form hineinzuzwingen.
Der höchste Zweck aller Erziehung ist Charakterbildung! — Alle Schul¬
systeme und Schulgattungen werden sich zu diesem Satze bekennen. Aber, da
über das Wesen und die Beeinflussungsmöglichkeit des Charakters nur nebel¬
hafte Vorstellungen vorhanden sind, hat Kerschensteiner im Anschluß an John
Deweys .Moral principIsZ in eclucation" den Charakterbegriff näher unter¬
sucht, um kennen zu lernen, „an welche Seelenkräfte wir uns wenden müssen,
damit der Zögling einen wertvollen Charakter erhalte" (Charakterbegriff und
Charaktererziehung). Zunächst unterscheidet er zwischen „biologischen" und
„intellegiblen" Charakter. Unter dem ersteren versteht er „die Eigentümlich¬
keiten des Empfindens und Handelns, die ihren Ursprung in jenen Trieben
und Anlagen haben, die auch das Tier besitzt, die also ohne Einfluß der höheren
geistigen Funktionen sich äußern". Der biologische Charakter ist also etwa das,
was man landläufig „Temperament" nennt. Er ist im wesentlichen angeboren
und nur durch physische Entwicklung veränderlich. Der Erzieher hat ihn zu
studieren; auf ihn zu wirken, ist im allgemeinen unmöglich. Die Tätigkeit des
Erziehers richtet sich auf die über dem biologischen Charakter liegende Schicht
von Kräftegruppen, die Kerschensteiner „intellegiblen" Charakter nennt; denn
neben dem Temperament, also „der bloßen Beschaffenheit unseres Nervensystems
oder unserer sonstigen physischen Konstitution" ist unser Handeln von den
Kräften abhängig, die Kerschensteiner als Wurzeln des intellegiblen Charakters
erscheinen: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit oder Empfänglichkeit im
engeren Sinne und Aufwühlbarkeit des Gemütsgrundes.
Mit diesen Seelenkräften hat der Erzieher zu rechnen. Hat er so die
Elemente der Seele des Kindes näher und klarer bestimmt, als das bisher
geschehen war, so handelt es sich nun darum, für welchen Zweck diese Kräfte
ausgenutzt werden sollen. Und das ist nach Kerschensteiner der Staat. Auf
der Dresdener Tagung des Bundes für Schulreform (6. bis 8. Oktober 1911)
zeigte sich zwischen Gaudig und Kerschensteiner eine Meinungsverschiedenheit
über das höchste Erziehungsziel; während Gaudig das Ziel aller Erziehung in
der Persönlichkeitsbildung, in der Bestimmung zur „Idealität des eigenen Ichs"
sieht, betont Kerschensteiner, daß sich der Persönlichkeitswert erst aus der Wirkung
der Persönlichkeit auf sich selbst und auf die Gesamtheit ergibt. Und wenn
Kerschensteiner vorgeworfen wird, daß er mit seiner Erziehung für den Staat
keine Persönlichkeiten, sondern Maschinen zum blinden Dienst des gegebenen
Staatsorganismus bilde, so ist das ein Mißverständnis, an dessen bona 5las8
man kaum glauben kann. Denn dem freisinnigen Münchener liegt wohl nichts
ferner, als blinden Gehorsam zu predigen. Nur, wenn der Staat den Be¬
dingungen genügt, den man an ihn als oberstes sittliches Gemeinwesen stellen
muß, wenn er den gesellschaftlichen Zustand darstellt, in dem die Zwecke des
einzelnen im Gesamtzweck aufgenommen find, ist er Idealstaat. Der Dienst im
und am Staate ist nun nicht blinder Gehorsam einem gegebenen Staate gegen¬
über, sondern die Arbeit zur Herbeiführung des Staatsideales, die staats¬
bürgerliche Erziehung ist „die Erziehung zur Verwirklichung der ethischen Idee
des höchsten äußeren Gutes (des Staates) im wohlverstandenen Dienste des
gegebenen Staates". Es kommt uns hier nicht darauf an, diese Erklärung zu
beurteilen, sondern sie als Grundlage von Kerschensteiners Begriff der staats¬
bürgerlichen Erziehung einfach zu berichten. Denn aus ihr folgt die Organisation
der Schule, die Kerschensteiner Arbeitsschule nennt.
Jeder gute Staatsbürger hat irgendeine Arbeit zu leisten, die mittelbar
oder unmittelbar den Zwecken des Staatsverbandes zugute kommt; die Schule
muß also als ihre erste Aufgabe betrachten, die Schüler so zu erziehen, daß sie
befähigt und gewillt sind, in irgendeinem Berufe tätig zu sein und so den
Staatszweck zu fördern. Die zweite Aufgabe wird sein, bei dem Schüler das
Bewußtsein zu entwickeln, „daß jede Berufsarbeit vom Ausübenden als im
Dienste der Gesamtheit notwendig aufgefaßt werden kann und daß die Über-
nahme jeder entlohnten Arbeit, wie einförmig und bescheiden sie auch sein mag,
eine Verpflichtung zur besten Leistung nach sich zieht." Die dritte und höchste
Erziehungsaufgabe ist. „im Zögling Neigung und Kraft zu entwickeln, neben
und durch die Berufsarbeit seinen Teil beizutragen, daß die Entwicklung des
gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sitt¬
lichen Gemeinwesens vor sich geht." Denn, den Kultur- und Rechtsstaat als
sittliches Gemeinwesen zu verwirklichen, ist höchster Zweck und höchster Sinn
der menschlichen Tätigkeit.
Wie kann der Erzieher diese drei Aufgaben erreichen? Der Weg, auf dem
wir zu diesem Ziele kommen können, das ist die Arbeitsschule. Der Ausdruck
ist nicht glücklich gewählt, das sieht man schon an den vielen Mißverständnissen,
denen er ausgesetzt gewesen ist. Er ist viel zu eng gefaßt; man durfte Aus¬
drücke wie „Lebensschule" und „Gewöhnungsschule" erwarten, aber das erste
Wort ist zu allgemein, das zweite zu ungewöhnlich und geschmacklos, als daß
man es Kerschensteiner zum Ersatz für „Arbeitsschule" vorschlagen möchte. Und
so muß es schon bei dem schlechten Wort für die gute Sache bleiben. Am
besten wird man sich den Wortsinn klar machen, wenn man die von den An¬
hängern der Arbeitsschule geprägten Wörter für den Gegensatz der Arbeitsschule
hört: der heutige Schulbetrieb wird von ihnen „Lern-" oder „Buchschule"
genannt. Im Arbeitsschulbetrieb soll es nicht auf das durch Lernen eroberte
Buchwissen ankommen, sondern auf die Fähigkeit zu arbeiten, selbständig zu
„erarbeiten", was Beruf und Leben fordern. Also ein Schritt und zwar ein
bedeutender weiter auf dem Wege, den Pestalozzi ging, wenn er die lebendige
Anschauung betonte. Am besten läßt sich das durch ein Beispiel aus dem
naturwissenschaftlichen Unterricht klar machen, wo Unterricht im Sinne der Arbeits¬
schule am leichtesten durchzuführen ist. Den alten nur theoretischen physikalischen
Unterricht ohne Experimente gibt es heute wohl nirgends mehr. Aber auch
der heutige Betrieb, bei dem der Lehrer die Experimente vormacht und daraus
die Gesetze entwickeln und finden läßt, genügt dem Begriff der Arbeitsschule
nicht. Der Schüler hat die Experimente zu machen, in Schülerlaboratorien soll
unter Anleitung des Lehrers selbständig gearbeitet werden. Mit diesem Betriebe
werden die meisten Anhänger der Arbeitsschule zufrieden sein. Was hat er
mit Kerschensteiners staatsbürgerlicher Erziehung zu tun? Sicher noch nichts!
Für Kerschensteiner muß als notwendiges und hauptsächliches Kennzeichen die
Arbeitsgemeinschaft hinzukommen. „Alle Schulen müssen Arbeitsgemeinschaften
im kleinen sein." Auch das ist eine alte Forderung, aber niemals richtig
durchgeführt! In unseren Schulen herrschen wir Lehrer als absolute Monarchen;
es gilt nach Kerschensteiner, den Schulstaat zu modernisieren. Die Anfänge mit
Schülerselbstverwaltung, die auf manchen Schulen gemacht worden sind, zeigen
deutlich, wie stark das Bedürfnis der Verselbständigung der Zöglinge empfunden
wird; sie genügen aber nicht, um die Selbstverwaltung, das Verantwortlichkeits¬
gefühl und die „Hingabesittlichkeit" zur festen Gewohnheit zu machen. Dazu
bedarf es der Arbeitsgemeinschaft im ganzen Schulbetrieb. Kerschensteiner gibt
wieder ein Beispiel aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht: das spezifische
Gewicht des Bleis soll bestimmt werden. Alte Methode: der Lehrer nimmt
die Untersuchung selbst vor, die Schüler sehen zu und lernen daraus. Arbeits¬
schulmethode: einzelne Schüler werden aufgerufen und nehmen nacheinander die
Untersuchung vor. Methode der Arbeitsgemeinschaft, also Arbeitsschulbetrieb in
Kerschensteiners Sinne: „Gegeben sei eine Klasse von achtundvierzig Schülern.
Wir teilen sie in acht Gruppen zu sechs oder besser in zwölf Gruppen zu je
vier Schülern. Einer solchen Gruppe ist gemeinschaftlich die Untersuchung zuzu¬
weisen. Der eine der vier Schüler bedient die Gewichtsschale der physikalischen
Wage, der andere die sorgfältige Arretierung und Ablesung, der dritte kon¬
trolliert und unterstützt den ersten, der vierte den zweiten, sowohl in der
Beobachtung als auch in der Berechnung. Ist ein Wert der Konstanten er¬
mittelt, so wechseln die vier Knaben ihre Rollen und berechnen einen zweiten;
unter Umständen, je nach Zeit und Geschicklichkeit, auch einen dritten und vierten
Wert. Das arithmetische Mittel gibt den Endwert. Es liegt auf der Hand,
daß schon innerhalb der Gruppen die Arbeitsgemeinschaft ihre erziehliche Kraft
entfalten , kann. Der Fähigere wird dem weniger Begabten hilfsbereit zur Seite
sein, der persönliche Ehrgeiz des einzelnen muß sich unterordnen in den Gruppen¬
ehrgeiz, die rechte Konstante zu ermitteln, das Verantwortlichkeitsgefühl für die
eigene Tätigkeit in Rücksicht auf den Erfolg der gemeinsamen Arbeit erwacht,
die Befriedigung über den Erfolg, die Enttäuschung über den Mißerfolg hört
auf, eine rein persönliche zu sein, und der Stolz läuft damit weniger Gefahr,
in Eitelkeit, die Enttäuschung in Entmutigung auszuarten. Dem Lehrer, der
diese Art des Betriebes in der rechten Weise sittlich auszunutzen versteht, wird
es nicht schwer fallen, diese Wirkung zu verstärken, indem er die Untersuchungen
aller zwölf Schülergruppen in der rechten Weise zur Ermittlung des eigent¬
lichen Wertes der Konstanten verbindet. Der Klassengeist für die gemeinsame
Erreichung eines ernsten Zieles erwacht, und das ist ein wertvoller Anfang
zur Erziehung zur Hingabesittlichkeit." (Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung
S. 54 bis 56.)
Die Arbeitsgemeinschaft als sittliches Prinzip ist für Kerschensteiner also
das wesentliche Kennzeichen der Zukunstsschule im Geiste Pestalozzis, die er
„Arbeitsschule" genannt hat. Damit hat er allerdings etwas für die heutige
Schule ganz Neues gefordert, etwas viel Wertvolleres, als die Betätigung der
manuellen Schaffenslust, die man ja leider als den Begriff der Arbeitsschule
aufzufassen pflegt. Aus dieser Auffassung erklärt sich Kerschensteiners Stellung
zum Arbeitsunterricht. In den Schulen, bei deren Zöglingen nach dem Maß
ihrer Geisteskräfte eine Arbeitsgemeinschaft auf geistigem Gebiete nicht zu er¬
warten ist, also in den unteren Klassen der Volksschulen und aus anderen
Gründen in den Fortbildungsschulen, muß der gemeinsame Werkunterricht die
Grundlage der staatsbürgerlichen Erziehung bilden. Das hat Kerschensteiner
seit einer Reihe von Jahren als Leiter des Münchener Schulwesens an Schul¬
knaben, Schulgärten, Werkstätten für Knaben und Mädchen erprobt.
Die staatsbürgerliche Belehrung, die neutrale politische Schulung, also der
jetzt so heiß geforderte Unterricht in der Bürgerkunde, wird auch in den höheren
Schulen, meint Kerschensteiner, nicht zum guten Staatsbürger erziehen. Be¬
sonders aber für die Massen, deren Intelligenz nicht weit genug reicht, um
theoretische Belehrung zu assimilieren, ist die frühzeitige Gewöhnung an staats¬
bürgerliche Tugenden von weit größerer Bedeutung als bürgerkundlicher Unter¬
richt. Der Irrtum all unserer Schulorganisationen besteht in der Erwartung,
„daß der Mensch durch Kenntnisse allein zum rechten Handeln geführt werden
kann". Unser rechtes Denken wird sich nur dann in rechtes Handeln umsetzen,
wenn wir von Jugend auf angeleitet werden, das Pflichtgefühl in Handlungen
zu entladen. Deswegen ist in den Volksschulen, wo die geistige Reife fehlt,
die Gewöhnung zu gemeinschaftlicher Arbeit das einzige Mittel der staatsbürger¬
lichen Erziehung. In den städtischen Fortbildungsschulen ist die staatsbürger¬
liche Belehrung nicht zu umgehen, sie soll sich aber im Geschichtsunterricht an
die historische Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse jener
Berufe gruppieren, welchen die Schüler angehören. „In ländlichen Fortbildungs¬
schulen wird eine Geschichte des Bauernstandes, in kaufmännischen die Geschichte
von Handel und Verkehr eine Grundlage geben, die alle Schüler fesselt und
sittlich anregt und den intelligenten Teil der Jugend in das Verständnis des
modernen Staatslebens und seiner Verhältnisse einführt."
Das alles scheint mir zugleich praktisch und ideal gedacht; nur damit kann
ich nicht übereinstimmen, daß Kerschensteiner einen besonderen staatsbürgerlichen
Unterricht in den höheren Schulen für entbehrlich hält: „Wenn der Geschichts¬
unterricht aufhört, ein Frage- und Antwortspiel über den Inhalt der amtlich
vorgeschriebenen Leitfäden zu sein, wenn er unseren reiferen Primanern das
Recht und die Möglichkeit gibt, an Hand der besten Quellen und Geschichtswerke
der Schülerbibliotheken über die Erscheinungen einer reichbewegter Zeit selbst¬
ständig nachzudenken . . . dann können wir beruhigt den speziellen staatsbürger¬
lichen Unterricht zu den Akten legen."
Geschichtsunterricht und deutscher Unterricht werden sich am schwersten im
Sinne der Arbeitsschule gestalten lassen, eher noch der Religionsunterricht, für
den schon Pestalozzi*) das rechte Beispiel gegeben hat. Kerschensteiner hat in
den oben angeführten Sätzen entschieden den besten, fast allgemein anerkannten
Weg gewiesen, den Weg zur Vertiefung und Erarbeitung innerlich erschauten
historischen Wissens; der soll zur Begeisterung führen, und die Begeisterung soll
in Taten umgesetzt werden, wie ja auch Bismarck bescheiden nach der Gründung
des Reiches zu seinem alten Lehrer sagte: „Nun, ich habe so etwas an Ihren
Fäden weiter gesponnen." Trotzdem geht es im modernen Parteileben, in der
Suche nach Anschluß an eine Partei nicht ohne spezielle Kenntnisse des politischen
und sozialen Lebens ab. Die Grundlage der politischen Schulung muß schon
in den Schülerjahren gegeben werden. Ob das nun nach besonderen Lehrbüchern
geschieht oder ob das Notwendige in das Lehrbuch der Geschichte aufgenommen
wird, ist gleichgültig. Ich möchte Herrn Kerschensteiner mit seinen eigenen
Waffen schlagen: ebenso wie er Arbeitsunterricht als Prinzip und als Fach
fordert, müssen wir auch staatsbürgerlichen Unterricht als Prinzip und als Fach
bekommen.
Im übrigen kann ich mich auch mit dem vollständig vereinen, was Kerschen¬
steiner über die Organisation der höheren Schulen im Sinne des Arbeitsschul¬
prinzips in seinem Aufsatz „Die fünf Fundamentalsätze sür die Organisation
höherer Schulen" fordert. Um so mehr, als ich auf eignen Wegen zu denselben
Zielen gekommen bin. Leider kannte ich bei Abfassung meiner einschlägigen
Aufsätze in Ur. 20. 1912 der Grenzboten und Ur. 9. 1912 des Säemanns
Kerschensteiners Schriften noch nicht, sonst hätte ich es mir nicht versagt, auf
diesen gewaltigen Kronzeugen für die Vereinheitlichung des Schulstils hinzuweisen.
Auch für Kerscheusteiner ist „die Einheit des Bildungsstoffes die erste
Grundforderung für die Ausgestaltung der höheren neunklassigen Schulen", auch
er betont, daß „alle Erziehung mit den natürlichen Interessen des Zöglings
anheben muß", daß das Dogma von der allseitigen Bildung an allem Elend
schuld ist und daß es Unsinn ist, die klassische Bildung oder die naturwissen¬
schaftliche oder die technische oder die neusprachliche für minderwertig zu erklären.
Minderwertig wird eine Schulart nicht durch den Stoff, sondern durch die Me¬
thode. „Ich kann mir," sagt er, „sehr wohl neben demi alten humanistischen
Gymnasium ein naturwissenschaftliches, ein neusprachliches, ein technisches Gym¬
nasium als völlig gleichwertige Bildungsanstalt denken, aber nicht ein huma-
nistisch-neusprachlich-naturwissenschaftlich-mathematisches Gymnasium, diesen Mops-
Pudel-Dachs-Pinscher gewisser Organisationsdilettanten." Deshalb muß die
Schule so organisiert sein — ich habe das „bewegliche Schule" genannt —
daß sie allen besonderen Begabungen ihrer Zöglinge gerecht werden kann. Aber
das macht sie noch nicht zur Arbeitsschule in jenem höheren Kerschensteinerschen
Sinne. Zur Arbeitsschule wird sie erst, wenn sie „der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung nicht bloß mit dem Worte, sondern auch in der Tat dient."
Das kann zum Teil in derselben Weise geschehen, wie es von Kerschen-
steiner schon praktisch in München an den Volksschulen ausgeführt worden ist;
aber noch mehr durch freiere Schuldisziplin, bei der die Schüler selbst eine weit
größere Rolle spielen würden, als das auch nach den bisherigen Versuchen mit
Schülerselbstverwaltung der Fall ist. Einsichtige Jnternatsleiter haben uns hier
schon den Weg gewiesen. Am meisten durch Förderung der Wärter- und
Sportvereine. Ganz besonders bietet sich in den Wandervereinen die anmutigste
und freieste Gelegenheit für die Erziehung zur Hingabesittlichkeit.
Wir werden noch einige Mühe haben, den Unterricht didaktisch nach dem
Grundsatz der Arbeitsschule einzurichten. Wir alle müssen ganz gewaltig um¬
lernen, wenn wir uns gewöhnen sollen, daß wir ja mehr und mehr bei der
Erziehung überflüssig werden, und doch ist die beste Erziehung die, bei der der
Erzieher fortfällt. Was wir aber zum Segen unseres Nachwuchses sofort in
die Tat unisetzen können, ist die Verselbständigung der Schüler im Unterricht
durch Freiheit in den häuslichen Arbeiten und die praktische staatsbürgerliche Er¬
ziehung in Wärter-, Sport-, Musik- und literarischen Vereinen, d. h. Arbeits¬
gemeinschaften, die das Hauptkennzeichen von Kerschensteiners Begriff der Arbeits¬
schule bilden. Die Arbeitsschule in diesem Sinne ist kein System, nach dem
man Lehrpläne ausschneidet, kein Schnittmuster für neue Modeschulen, sondern
ein Ideal für alle Schulen, ein Wertmesser für den Grad der Versittlichung der
Schülerarbeit: „In dem Einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von
allem, was recht getan wird."
Wir verließen den Freiherrn am 25. Januar 18S7 in Konstantinopel
(vgl. Heft 3 der Grenzboten d, I,), Heute sind wir ihm nach Jassy
gefolgt, woher er am 4. Mai 1867 den langen unten wiedergegebenen
Bericht sendet. In der Zwischenzeit hat sich Richthofen in Wien und in
der Walachei aufgehalten und dem Könige am 21. März und 7. April
berichtet. Der Brief vom 7. April fehlt uns; wir wissen aber, das; der Ge¬
sandte darin meldet, wie auch in der Walachei die allgemeine Stimmung
günstig für eine Union unter der Herrschaft eines fremden erblichen Fürsten
ist. Der Brief vom März, meldet den Versuch des englischen Vertreters,
das preußisch - französische Einvernehmen zu „neutralisieren" und die For¬
derung Rußlands an die Pforte, sie solle den Rest ihrer Truppen aus
den Fürstentümern herausziehen. — Der heute veröffentlichte Bericht ist
von hohem Interesse, weil er Schwierigkeiten beleuchtet, die gegenwärtig
noch nicht überwunden sind und die daher die rumänische Politik im
G. Cl. innern und äußern stark beeinflussen.
Jassy, den 4. Mai 1857
uf meiner Reise von Bukarest nach Jassy habe ich überall die
unzweideutigsten Beweise des Wunsches einer Union unter einem
fremden erblichen Fürsten aus allen Ständen erhalten. Die Be¬
völkerung, der Klerus und die Bojaren an der Spitze, drängten
sich überall in den Orten, die ich passierte, zum feierlichen Empfange
zusammen uuter dem Rufe: „Es lebe der König von Preußen, von dem wir
die Union und den fremden Fürsten erwarten I" . . .
Bei meiner Ankunft in Jassy erwartete mich die Bevölkerung in dichten
Massen, sowie eine große Anzahl von Equipagen, in denen sich die Damen und
Herren aus den höchsten Ständen befanden, an der Barriere, und überschütteten
meinen Wagen mit einem Blumenregen, indem man überall den vorgedachten
Ruf erschallen ließ. Alles drängte sich an mich heran, mir die Hand zu schütteln,
und ich hatte Mühe, mich durchzudrängen nach dem Staatswagen, in den man
mich Platz zu nehmen, genötigt hatte.
Eine ganz ähnliche, warme Aufnahme war den Kommissären der Türkei,
Frankreichs und Sardiniens zuteil geworden. Nur beim Eintritt des öster¬
reichischen Kommissars war, wie ich nachmals hörte, der offizielle Empfang nnr
durch die Demonstrationen der österreichischen Schutzgenossen und einiger Neu¬
gieriger unterstützt worden.
Der russische und englische Kommissär sind in Bukarest zurückgeblieben.
Seit meiner Ankunft habe ich nunmehr die Besuche des Kaimakam, seiner
Minister, des höchsten Klerus, der Bojaren und verschiedene zahlreiche Depu¬
tationen erhalten und diese Besuche erwidert.
Hierbei hat sich überall der grellste Gegensatz zwischen der Regierung des
Landes und der Bevölkerung in allen Ständen herausgestellt. . .
Der Kaimakam Vogorides ist, wie Euerer Königlichen Majestät bekannt,
durch seine Stellung zu seiner Familie in Konstantinopel, namentlich zu seinem
Vater, dem alten Intriganten bei der Pforte, Vogorides, früher Fürst (Gou¬
verneur) von Samos, durchaus von der Pforte anhängig. Als ich vor zehn
Jahren hier war, war er ein ganz unbedeutender Mensch eben eingewandert.
Seine Schwester, die Frau des damaligen Gospodars Fürsten Sturdza, hatte
ihn hierher kommen lassen, um ihn mit einer reichen Bojarentochter zu ver¬
heiraten, und durch diese Heirat und die erwähnte Verbindung erhielt er, unter
Absehung von den gesetzlichen Erfordernissen, das Jndigenat. Dessenungeachtet
hat er sich stets den Traditionen seiner Familie gemäß, auch in äußerlich auf¬
fallender Weise, und mit Ostentation z. B. durch Tragung des Fez, als einen
unmittelbaren Untertanen der Pforte geriert, und diese Umstände sind es, die
die Wahl der Pforte zum Kaimakam auf diesen Mann, auf dessen ganze Ge¬
fügigkeit sie rechnen konnte, haben fallen lassen. Ich bedauere, diesem. . .
Berichte keine Photographie des Vogorides beifügen zu können, durch welche
diese auffallende Persönlichkeit mit ihrem zottigen Haupthaar, in ungewohnter
Militärtracht mit seidenen Schuhen und Sporen daran, am besten illustriert
werden würde.
Der Kaimakam nun, nahm in der Unterhaltung mit mir sofort darauf Bezug,
daß zwischen den verschiedenen Mächten, und folglich auch zwischen den Kom¬
missären eine vollkommene Verschiedenheit der Ansichten bestehe, daß diese
notorische Verschiedenheit die lokale Regierung, was man auch sonst dagegen
theoretisch sagen könne, in eine schwierige Lage setze, daß die Wünsche der
Bevölkerung mit den Pflichten gegen die Pforte nicht in völligem Einklang
stehen, daß dadurch die Aktion der Regierung bedingt werde, und daß die An¬
wesenheit der Kommissäre diesen Zwiespalt nunmehr völlig zutage gelegt und
eine Agitation der Gemüter erzeugt hätte, die selbst die öffentliche Ordnung
und Ruhe bedrohen könne.
Auf meine Frage, worauf sich seine Meinung von der Verschiedenheit der
Ansichten der Regierungen und ihrer Kommissäre gründen, von der mir nichts
bekannt sei, da vielmehr sämtliche Regierungen und folglich auch ihre Kom¬
missäre zu einer vollkommenen Unparteilichkeit verpflichtet seien und es jetzt
nur darauf ankomme, die Wünsche der Bevölkerung in bezug auf die künftige
Organisation in der dafür vorgeschriebenen legalen Weise zum unzweideutigen
Ausdrucke kommen zu lassen, blieb er.mir die Antwort schuldig.
In späteren Unterhaltungen äußerte er ganz unverhohlen, daß die Pforte
ihm mitgeteilt habe, daß sie in der Union, und noch mehr in der Frage des
fremden Erbfürsten eine Verletzung ihrer Suzeränitätsrechte finde, daß die Pforte
dies auch in einem neuen Zirkular an die Mächte ausgesprochen habe, und
daß er daher um so mehr gegen diese beiden Punkte wirken werde, als man
anderseits — er deutete auf Frankreich und die Wirksamkeit des französischen
Konsuls Hierselbst — die Parteilosigkeit in bezug auf die erste Frage ganz bei¬
seite gesetzt habe. Gegen die Wirksamkeit im unionistischen Sinne lasse sich
nur durch eine Wirksamkeit im antiunionistischen Sinne mit Erfolg auftreten,
und dadurch das Gleichgewicht wiederherstellen.
Der Kaimakam ging sogar so weit, durchblicken zu lassen, daß, wenn diese
Wirksamkeit nicht zu seinem Ziele führe, und wenn der Diwan in der Moldau
oder die vorhergehenden Wahlversammlungen sich mit der Frage der Union
und des fremden Erbfürsten beschäftigen wollten, er zur Auflösung desselben,
nötigenfalls mit Gewalt, schreiten würde.
Der Kaimakam glaubt hierzu um so mehr verpflichtet zu sein, als, wie er
sagt, die Kombination der Union unter einem fremden Erbfürsten — und nur
unter dieser Bedingung wolle man hier die Union — nach demjenigen, was
die Großmächte oder wenigstens der überwiegende und vorzüglich maßgebende
Teil derselben bereits unter sich vereinbart haben, schon von vornherein von
den Betrachtungen ausgeschlossen sei, und somit nicht die allermindeste Aussicht
auf Erfolg gewähre, ein Einschreiten gegen eine ganz erfolglose Aufregung
daher um so mehr Pflicht der Regierung sei, denn die Aufregung bleibe im
Lande, wenn nicht erfüllbare Wünsche nicht von vornherein unterdrückt würden.
Kurz zusammengefaßt ist der Standpunkt des Kaimakams folgender: unver¬
hohlene Parteinahme gegen die Union mit allen Mitteln der Regierungsgewalt,
ganz im Sinne der Pforte, Englands und Österreichs, deren Kommissionen
den Kaimakam unstreitig von der Konzession unterrichtet haben, die Frankreich
in bezug auf die Frage des fremden Erbfürsten gemacht haben soll, und auf
welche ich späterhin in diesem Berichte noch ehrfurchtsvoll kommen werde.
Weit weiter in seinen Äußerungen ging der Präsident des Ministeriums,
Minister des Innern Kostaki Catardgi. welcher mir geradezu sagte, daß die
Anwesenheit der Kommissäre in der Moldau eine Störung der öffentlichen
Ordnung und Ruhe im Lande bereits zur Folge gehabt habe, daß das Land
dadurch revolutionär geworden sei und dieser Richtung durch die Kommissäre
Vorschub geleistet würde, indem diese den Ausdruck der Wünsche der Bevölke¬
rung nicht abwehrten. Hierbei fiel ihm jedoch ein bei diesem Besuche zufällig
anwesender anderer Beamter, der Chef des Unterrichtswesens mit der Be¬
merkung ins Wort, daß der Minister die Tatsachen völlig entstelle, daß nicht
die mindeste Unordnung vorgefallen sei, daß, wenn dies je der Fall gewesen
wäre, sie durch den Minister selbst veranlaßt worden sei usw., und die beiden
Beamten kamen so sehr aneinander, daß ich der Szene nur dadurch ein Ende
machen konnte, daß ich sie beide mit der Bemerkung verabschiedete, daß ich der¬
gleichen in meiner Gegenwart höchst unangenehm fände, und übrigens auch
die Insinuationen des Ministers, welche die Kommissäre, meine Kollegen,
indirekt der Aufregung des Volkes beschuldigten, gar nicht anhören wolle
und dürfe.
Dieser Minister ist, wahrscheinlich wegen seiner Unbesonnenheit, und weil
er auf eine plumpe Weise das System des Kaimakams exekutierte, eben abgesetzt
und durch einen wegen seines unmoralischen Wandels berüchtigten, aber klügeren
Bojaren, Basil Ghyka ersetzt worden.
Der Postelnik (Minister der auswärtigen Angelegenheiten) Paul Balsche,
den ich aus meiner früheren Wirksamkeit Hierselbst kenne, stellte die Bitte an
mich, ihm zu sagen, ob ich glaubte, daß die Union unter einem fremden erb¬
lichen Fürsten eine Möglichkeit sei? Ich konnte hierauf nur erwidern, daß in
dieser Hinsicht alles auf die Diwans ankommen werde, vor deren Zusammen¬
tritt sich hierüber nichts sagen ließe. Aber wenn die Diwans sich dafür aus¬
sprechen, was glauben Sie denn? fragte er weiter. Ich konnte ihm nur eine
evasive Antwort geben, und er erwiderte darauf, daß ihm einige Kommissäre
ganz bestimmt gesagt haben, die Union mit einem fremden Fürsten sei eine
Chimäre, und es werde daraus nichts, und da die anderen ihm nur eoasiv
antworten, so halte er dafür, daß die Sache keine Chancen habe, und da dies
der Fall sei, so halte er die Haltung der Regierung dem erfolglosen Bestreben
der Union gegenüber nicht nur gerechtfertigt, sondern selbst geboten.
Die übrigen Minister des Kaimakams nahmen im allgemeinen eine schüchterne,
und in keiner Weise prononcierte Haltung ein, und vermieden es sichtlich, auf
die politische Frage näher einzugehen.
Wie es übrigens mit dem moralischen Werte des Ministeriums des Kaimakams
steht, dafür brauche ich nur ein kleines Beispiel anzuführen. Als ich bei Madame
Balsche, der Gattin des gedachten Postelniks, ebenfalls einer alten Bekanntschaft
von früher, meinen Besuch machte, kam sie mir mit den Worten entgegen: „Ich
bin wahrlich beschämt, Sie hier, als die Frau eines Ministers begrüßen zu
müssen, unter einer Regierung, die aus Räubern, Dieben, Fälschern und noto¬
rischen Vaterlandsverrätern besteht, und von denen sich mein Mann schon längst
losgesagt hätte, wenn er nicht glaubte, durch sein Verbleiben dem Treiben
dieser Leute wenigstens einigen Damm entgegensetzen zu können." Als ich hierzu
ungläubig lächelte, und ihre Äußerung für einen Scherz erklärte, ging sie auf
eine Begründung ihrer Behauptung ein und führte genau an, wo dieser oder
jener Minister geraubt, geplündert und gestohlen habe und einige moldauische
Stabsoffiziere in Uniform, darunter Adjutanten des Fürsten selbst bestätigten
und vermehrten die ckronique scanäalsuZö, die diese Dame von den Kollegen
ihres Mannes gab____
Aus der soeben alleruntertänigst dargestellten Haltung der Regierung geht
schon hervor, daß dieselbe getrachtet hat, eine Partei im Lande zu bilden, welche
das Verbleiben desselben in den bisherigen mangelhaften Zuständen versieht.
Zu dem Behufe, obwohl der Kaimakam reglementsmäßig nicht dazu berechtigt
ist, sind alle Beamte gewechselt, die nicht unbedingt die Garantie einer Wirk¬
samkeit gegen die Union und ihre Konsequenzen darbieten. Da sich dazu nur
die allerunwürdigsten Subjekte gefunden haben, so besteht die Regierung des
Kaimakams in allen Abstufungen der Hierarchie nur aus dem Schmutze der
hiesigen korrumpierten Gesellschaft, und dieser Schmutz bildet sonach auch den
wesentlichen Bestandteil der antiunionistischen Partei. Eine antiunionistische
Partei besteht sonach und sie ist gleichbedeutend mit Regierungspartei.
Von zwei Seiten her wird diese antiunionistische oder Regierungspartei
teils direkt, teils indirekt unterstützt.
Direkt durch die offene Parteinahme der österreichischen Negierung und
ihrer Organe für dieselbe, namentlich des hiesigen Konsuls Göbel, welcher den
antiunionistischen Beamten österreichische und türkische Dankbarkeit aller Art in
Aussicht stellt und den Einfluß, den ihm die zahlreiche und reiche österreichische
Bevölkerung im Lande in die Hand gibt, anwendet, um durch dieselbe ebenfalls
in diesem Sinne wirken zu lassen, sowie durch den Rückhalt, den die Beamten
schließlich auch in Konstantinopel zu finden wissen.
Indirekt durch eine kleine Zahl von Bojaren, aber aus den angesehensten
Persönlichkeiten, welche zwar aus ihrer Ansicht von der Notwendigkeit der Union
unter einem fremden Erbfürsten in vertraulichen Gesprächen nicht den mindesten
Hehl machen, damit aber nicht öffentlich vortreten, weil sie glauben, daß alle
Wirksamkeit in diesem Sinne doch keinen Erfolg haben wird, weil sie annehmen,
daß die Mächte doch schon einig seien, es zu nichts kommen zu lassen, mit
einem Worte, weil es ihnen an Vertrauen zu dem festen Willen der Mächte
fehlt, etwas Ernstliches für die Verbesserung ihrer Lage zu tun. Sie glauben
nur an eine eitle Replatrage, an eine unwürdige Komödie.
Die herabgedrückte Meinung dieser Leute, die sich für am besten unterrichtet
halten, und es vielleicht auch sind, wird nun durch die Regierung sowohl, als
durch die österreichischen Organe dahin ausgebeutet und noch mehr herabgedrückt,
daß beide die Nachricht verbreiten, daß Frankreich und England darüber schon
einig seien, die Frage des fremden Fürsten auch nicht einmal debattieren zu
lassen, und von der Union ohne den fremden Fürsten will hier niemand
etwas wissen. Man hält sie, und mit Recht, für eine Vergrößerung eines
bestehenden Übels.
Alles was nicht in diese Kategorie der Regierungsbeamten und Vertrauens¬
losen fällt, mithin die große Mehrheit der Nation, die bei weitem überwiegende
Anzahl der Bojaren, der gesamte hohe und niedere Klerus, alle mittleren
Stände, selbst die Bauern, soweit sie, was jedoch nur in seltenen Ausnahmen
der Fall ist, irgendwelche politische Ansicht haben, sind unbedingt für die
Union unter einem fremden erblichen Fürsten, und sprechen ihr Verlangen danach
offen aus.
Zu den Ständen, welche ihr Vertrauen in die redlichen Absichten der
Mächte noch am wenigsten aufgegeben haben, und, indem sie an dem guten
Willen derselben festhalten, um so indignierter sind über das Verhalten der
hiesigen Regierung, gehört der Klerus mit dem Metropoliten und den Bischöfen
an der Spitze. In den mehrstündigen vertraulichen Unterhaltungen, welche
ich zu verschiedenen Malen mit diesen Würdenträgern der Kirche gehabt habe,
brachen dieselben in laute und schmerzliche Klagen darüber aus, daß die
Regierung, wie sie sagten — und ich bediene mich hierbei ihrer eigenen
Worte —, es sich zur Aufgabe gemacht habe, die edlen Intentionen der
Großmächte durch eine dem Sinne und dem Geiste des Berufungsfirmans
widerstrebende Auslegung zu vereiteln. Der Kaimakam habe ihnen die
bestimmte Weisung erteilt, ihrerseits dem Klerus eine völlige Teilnahms-
losigkeit mit Rücksicht auf die Wahlen einzuschärfen. Was das Verhalten
der Negierung dem Volke gegenüber beträfe, so wende dieselbe alle Mittel an,
Unruhen hervorzurufen. Sie trachte danach, die Gemüter zu erbittern und ein
Überschreiten der Grenze der Mäßigung herbeizuführen, innerhalb welcher man
sich bisher ununterbrochen gehalten habe. Hierbei gehe die Regierung von der
Ansicht aus, daß, wenn nur diese Grenzen einmal überschritten worden seien,
ihr dann ein hinlänglicher Grund zu Seite stehen würde, das Land von neuem
durch fremde Truppen besetzen zu lassen. Eine erneute frenide Okkupation, dies
sei das Ziel, welches die Regierung mit allen Kräften erstrebe; denn sie glaube,
daß sie durch jene den freien Ausdruck der Volkswünsche niederhalten und er¬
sticken könne. Sie (Metropolit und Bischöfe) hegten die zuversichtliche Hoffnung,
daß die Kommissäre dem eben geschilderten Zustande ein Ende machen würden,
einem Zustande, welchen sie nur eine Schlinge nennen könnten, in welche sie
die Negierung mit aller Macht hineinzuziehen suche. Um die Gemüter zu ent¬
fremden, entblöde sich die Regierung nicht, dieselben dem Volke verdächtig zu
machen, indem sie offen verkünde, daß jene in das Land kämen, lediglich um
die Revolution in dasselbe hineinzutragen. Auch darüber sprachen sie sich später
gegen mich aus, daß ihnen der türkische Kommissär Sarfet Effendi ohne allen
Umschweif erklärt habe, daß wenn der Klerus fortfahre, für die Union gestimmt
zu sein, und somit Aufregung ins Land brächte, eine türkische oder österreichische
Okkupation den Klerus und das Land zur Vernunft bringen werde. Sie schlössen
damit, daß, wenn es sich um die Alternative handelte) Union der Fürstentümer
ohne erblichen fremden Fürsten oder fortgesetzte Trennung derselben unter zwei
solchen erblichen Fürsten, sie ohne Bedenken der letzteren Alternative den Vorzug
geben würden.
Was die sonstigen Bestandteile der nationalen Unionspartei betrifft, die
sich in bestimmte organisierte Vereinigungen zum Zwecke der Durchsetzung ihrer
politischen Tendenzen bei den bevorstehenden Wahlen gegliedert hat, so stimmt
dieselbe im allgemeinen vollkommen mit den vom Klerus geäußerten Ansichten
überein. Die Bildung der Unionspartei in den Fürstentümern, die bekanntlich
von der Moldau ausging, ist — und darüber waltet nicht der mindeste Zweifel
ob — ursprünglich von der französischen Regierung durch ihre hiesigen Organe
angeregt worden. Nur mit Rücksicht darauf, daß eine so bedeutende Großmacht
wie Frankreich die Idee der Vereinigung unter ihren Schutz genommen, hat
man an die Möglichkeit ihrer Ausführung geglaubt, und von diesem Zeitpunkte
an datieren sich die Bestrebungen für dieselben. Die Organe der kaiserlichen
Regierung Hierselbst haben daher sowohl auf die Bildung dieser Vereinigungen
als auf ihre Wirksamkeit einen unmittelbaren und wesentlichen Einfluß ausgeübt.
Als die Idee des fremden Erbfürsten, unter welcher das Unionsprojekt
überhaupt nur Eingang und Bedeutung gewann, in unvermeidlichen Vordergrund
trat, haben die französisch-konfularischen Organe die Möglichkeit der Union anch
nach dieser Richtung hin immer noch festgehalten. Sie haben natürlich keine Zu-
sicherungen über den fremden Erbfürsten gegeben, aber niemand hat zweifelhaft
sein können, daß der fremde Erbfürst der französischen Regierung annehmbar
erschien und daß sie geneigt sein würde, derselben ihre Unterstützung zu leihen.
In diesem Sinne hat man auch die Äußerungen des Baron Talleyrand auf¬
gefaßt, als dieser im Juli vorigen Jahres auf seiner Reise nach Konstantinopel
die Fürstentümer berührte und dadurch der Unionsidee neue Nahrung gab.
Wenn nun in der neuesten Zeit dieselben Organe ihre Sprache dahin näher
formuliert haben, daß man zwar an dem fremden Erbfürsten insofern festhalte,
als dieser das notwendige Resultat der Union sein müsse, oder mit anderen
Worten, daß man durch die Union zum fremden Erbfürsten zu gelangen habe,
und sie demgemäß empfohlen haben, die Frage des fremden Erbfürsten als un¬
zeitig und die eigentliche Absicht zu offen darlegend einstweilen beiseite zu lassen,
so hat diese näher formulierte Anschauung keinen Eingang bei der »monistischen
Partei gefunden, die sonach, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, welche
sich dem mot ä'oräre der französischen Regierung unbedingt gefügt haben, in
ihrer entschiedensten Allgemeinheit den fremden Erbfürsten fortlaufend an die
Spitze ihres Programms stellt. Ohnehin hätte es auch dem blindesten Auge
klar sein müssen, wohin die Union führe, und daß die Tendenz zum fremden
Erbfürsten auf diese Weise doch nicht zu verbergen gewesen wäre. Diese Partei
stimmt daher, wie sich von selbst versteht, in das Klagelied des Klerus über
die Regierung mit vollen Tönen ein. (Schluß dieses Berichtes folgt)
is im Herbst 1911 zum ersten Mal der Plan, mich an einem
Ritt durch Asien zu beteiligen, an mich herantrat, da schien mir
der Gedanke doch zu sernliegend und ich sagte zunächst ab.
Trotzdem aber begann ich, mich mit diesem Gedanken und der
einschlägigen Literatur zu beschäftigen. Diese Lektüre ergab eine
Fülle von Anregungen, und je mehr ich mir die Geschichte jenes Landes, das
heute noch mehr als damals Interesse für das moderne Europa gewonnen hat,
je mehr ich mir die Bilder des alten Kaiserreiches Trapezunt, den Zug der
Zehntausend, die gewaltigen Kriege Alexanders des Großen, die dort ihren
Anfang nahmen, die Regentschaften des reichen Krösus und der von der Sage
umwobenden Königin Semiramis bis hinein in die Neuzeit, wo Russen und
Türken miteinander kämpften, vor Augen führte, je mehr wuchs das Interesse
und mit ihm das Verlangen, jene Länder zu sehen. Dieses Verlangen war
um so größer, als es mich schon längst reizte, ein Land zu bereisen, das in
seiner kulturellen Entwicklung 2000 Jahre stehen geblieben zu sein scheint, und
keine modernen Verkehrs- und Reiseerleichterungen besitzt, so angenehm diese
in der Praxis auch sind. So kam es, daß ich Anfang Januar vorigen Jahres
mich mit meinem Freunde fest verabredete, im Sommer einen größeren Ritt
durch jenes Land zu machen, sofern es die politischen Verhältnisse gestatteten.
Hatte so unser Plan im Prinzip Gestalt gewonnen, so trat sofort die
große Frage „wie" in den Vordergrund. Die Verhältnisse lagen hier doch so
durchaus anders, daß man nur wenig von seinen in kultivierten Ländern er¬
worbenen Reiseerfahrungen verwerten konnte. Was war an Vorbereitungen
zu treffen, welcher Weg versprach den meisten Erfolg, was existierte an Karten,
nach denen man sich zurechtfinden konnte, welche Sprachen mußte man be¬
herrschen, wieviel Kilometer konnte man täglich und wieviel in längerer Zeit
hintereinander zurücklegen, denn daß man den Maßstab deutscher Fernritte hier
nicht anlegen durfte, wurde mir sehr bald klar.
Ganz besonders mußte die politische Lage in Rechnung gestellt werden,
auch bedürfte es genauer Überlegung, wieweit man die amtlichen Behörden in
Anspruch nehmen wollte.
Leider war es um gerade die politische Lage, die unsere Reise¬
vorbereitungen sehr hemmte. Noch immer lag die Türkei mit Italien im
Kampfe, Gerüchte von italienischen Landungsplänen in Kleinasien standen fast
täglich in den Zeitungen, auch von Differenzen mit Nußland, die ein Bereisen
der russisch-türkischen Grenzgebiete natürlich von vornherein ausgeschlossen hätten,
durchschwirrten die Luft, und schließlich war gerade im vorigen Jahre die Lage
im Innern besonders gefährlich, da den Kurden ziemlich freie Hand gelassen
wurde und sie nun nach Kräften raubten, plünderten und Karawanen über¬
fielen. Noch kurz vor der Abreise wurde ich von einem hiesigen Gelehrten
dringend gewarnt, in jene Gegenden zu gehen, zwei wissenschaftliche Expeditionen
wären aufgegeben worden, weil die Gegend jetzt zu gefährlich sei. Ich ließ
mich aber dadurch nicht abschrecken, wenngleich die Warnung Berechtigung
hatte, denn die Lage in Ostanatolien im vergangenen Jahre war äußerst un¬
sicher, und seit Jahren dort lebende Eingeborene wie Europäer sagten mir, es
sei seit langem nicht so schlimm gewesen.
Natürlich wirkten alle diese Gerüchte dahin zusammen, daß mau die Vor¬
bereitungen doch nicht so intensiv betrieb, als wenn man von Anfang an die
völlige Gewißheit gehabt hätte, daß der Ritt auch zustande kommen werde.
Zunächst handelte es sich darum, die Reiseroute festzulegen. Wenngleich
die meiste Zeit dem östlichen Teil der asiatischen Türkei gewidmet werden sollte,
so lockte es doch sehr, auch noch andere Gegenden zu durchreiten. Der Gedanke
bis ins heilige Land vorzudringen, mußte leider aufgegeben werden, denn dazu
hätte die Zeit kaum gereicht, und so lag es nahe, daß wir auch das nicht zum
wenigsten durch seine Poesie und Sage bekannte Land der Märchen aus
Tausend und einer Nacht mit in unsere Reisepläne aufnahmen.
Viele Griinde ließen es ratsam erscheinen, den Ritt in Täbris zu be¬
ginnen, besonders weil man mit der Eisenbahn und deshalb ohne Gefahr eines
größeren Zeitverlustes dorthin gelangen konnte, und die Pferde in jenem Lande
sehr billig und gut sind. Indessen stellten sich einer Reise durch Rußland wegen
des Verbots der Waffeneinfuhr doch erhebliche Schwierigkeiten entgegen, und
so entschlossen wir uns endgültig, den Ritt in Trapezunt zu beginnen und
alsdann über Ersindjan und Erserum, zwei großen Jnlandsgarnisonen, südlich
am Wansee vorbei, über Wan ins Urmiagebiet und dann auf Täbris unseren
Weg zu nehmen.
Die wissenschaftlichen Vorbereitungen erstreckten sich zunächst auf die Lektüre
von Reisewerken, welche jene Gegend behandeln. Aus ihnen entnahm man
zunächst rein theoretisch, welche Vorbereitungen des weiteren zu treffen und
welche Gegenstände mitzuführen waren. Allerdings war dies wie gesagt, ein
rein theoretisches Studium, und wenn ich heute meine Aufzeichnungen, die ich
mir damals machte, durchblättere, so kaun ich mich des öfteren eines gewissen
Lächelns nicht erwehren, wenn ich lese, welche oft ganz unpraktischen und un¬
nötigen Dinge ich mir zur Mitnahme aufgeschrieben hatte.
Unsere Expedition sollte ja keine rein wissenschaftliche sein, es kam nicht
darauf an, irgend eine bestimmte Frage zu ergründen, Sammlungen anzulegen
oder dergleichen, ja es war nicht einmal ein spezieller militärischer Zweck damit
verbunden, wenngleich man als Offizier für die militärischen Verhältnisse ein
besonderes offenes Auge hatte. Uns lockte das Abenteuerliche, das sportliche
eines solchen Unternehmens, und soweit der Wissenschaft hierbei Dienste geleistet
werden konnten, taten wir dies natürlich aufrichtig gern.
Anfänglich bewegten sich die Vorbereitungen also oftmals in falscher
Richtung. Dies Buch empfahl diese Maßnahme, jenes hielt etwas anderes
für ratsamer, eine Klärung trat erst ein, als man persönliche Rücksprache mit
den Leitern ähnlicher Expeditionen genommen hatte, die uns in liebenswürdigster
Weise ihren Rat und ihre Erfahrungen zur Verfügung stellten.
Zunächst entstand die Frage, mit welcher Sprache man durchzukommen
hoffte. Bei den Gebildeten konnte man ja auf die Kenntnis der deutschen
und französischen, häufig auch auf die der englischen Sprache rechnen, und ich
bin auch fast immer, mit einer dieser drei Sprachen zum Ziele gekommen.
Anders war es mit den Eingeborenen, bei denen man nur auf Türkisch rechnen
durfte, das sich in Persien übrigens wesentlich von dem in der Türkei ge¬
sprochenen unterscheidet, man spricht dort den nach der Provinz Aderbeidschan
genannten Dialekt. Nebenbei war unbedingt die Kenntnis von etwas Russisch
nötig, da Nordpersien, das wir bereisen wollten, ja stark von Russen besetzt
ist, unter deren Schutz wir uns zu stellen beabsichtigten. So war voraus¬
zusehen, daß wir in Persien von russischen Kosaken eskortiert werden würden.
Mein Begleiter sprach so viel Türkisch, daß er sich verständigen konnte, und so
mußte ich mir noch einige russische Brocken aneignen, die es möglich machten,
die einfachsten Gedanken auszudrücken. Im übrigen verließen wir uns auf
unseren Diener, den wir in Konstantinopel mieten wollten, und der gleichzeitig
Dolmetscher spielen mußte.
Die von den Hotels empfohlenen Diener und Dolmetscher sind sehr mit
Vorsicht aufzunehmen. Uns wurden mehrere Leute vorgeführt, aber zu keinem
hatten wir ein rechtes Vertrauen. Interessant war es mir, daß ich später in
Armenien von einem Diener in Konstantinopel hörte, der ein ganz bekannter
Gauner sei, und mit dem schon mehrere Reisenden ihre schlimmsten Erfahrungen
gemacht hallen. Ich war glücklich, nicht auf ihn hereingefallen zu sein, denn
auch mir war er angeboten worden und hatte auf den ersten Blick nicht einmal
einen ungünstigen Eindruck gemacht.
Der letzte Tag vor der Abreise aus Konstantinopel war gekommen und
noch immer war die Dienerfrage nicht gelöst. Da lernten wir in letzter Stunde
einen deutschen Offizier kennen, der uns gütigerweise seinen Diener, den er sehr
empfahl, überließ. Der Mann sprach etwas französisch, wenigstens soviel, daß
man sich mit ihm verständigen konnte, wenngleich er manchmal erschütternde
Sprachblüten zutage förderte, war treu, ehrlich und sauber. Wir fragten ihn,
als wir gegen Abend nach Hause kamen, ob er die Reise mitmachen wollte,
und da er zusagte, bestellten wir ihn sür den nächsten Vormittag, denn gegen
Mittag schon ging das Schiff ab.
Er besaß nun tatsächlich alle geschilderten Vorzüge, nur hatte er seit Jahren
nicht mehr geritten und versagte daher, als die Anstrengungen groß wurden,
so daß wir ihn in Erserum entlassen und einen anderen Pferdepfleger mieten
mußten, der nur türkisch sprach. Somit war der Gedanke eines uns immer
begleitenden Dragomans zunichte geworden. Es empfiehlt sich bei solchen Reisen,
sich nur auf sich selbst, nicht auf andere oder glückliche Umstände zu verlassen,
denn das Schicksal bestraft fast immer solche Bequemlichkeiten. Man lernt
auf diese Weise und mit Hilfe eines Taschenlexikons schnell die nötigsten
Ausdrücke, so daß selbst ich mich nach einiger Zeit ganz gut mit unserem Diener
verständigen konnte.
Fast noch zeitraubender war das Aneignen der nötigen praktischen Kennt¬
nisse. Obgleich ich schon seit Jahren photographische Aufnahmen machte, erschien
es mir doch zweckdienlich, noch einen Kursus durchzumachen, da ich auch zum
erstenmal Aufnahmen mit einem Teleobjektiv machen wollte. Ferner hatte ich
die Absicht, möglichst während des ganzen Rittes Routenaufnahmen zu machen,
was auch eine vorhergehende Unterweisung nötig machte. Ein Kursus im Prä¬
parieren von Tierfellen war mir als Jäger von besonderer Bedeutung, und
schließlich mußte man doch auch medizinisch soweit gebildet sein, daß man mit
seinen Medikamenten, die die Reiseapotheke enthielt, umzugehen und schließlich
auch äußere Verletzungen selbst schwererer Art zu behandeln verstand. Denn
man mußte sich immer wieder klarmachen, daß man vielleicht wochenlang,
jedenfalls tagelang, von jeder Hilfe durch Personen von Beruf abgeschnitten
und gänzlich auf sich selbst angewiesen sein würde, ein Zustand, der einem zu
Hause, ja selbst auf Reisen gewöhnlicher Art ganz unbekannt ist. Für den
Reisenden gilt hier:
„Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allem."
Das aber war gerade das Reizvolle, das war es, was einem Befriedigung
gab: der Kampf mit den Schwierigkeiten und der glückliche Sieg.
Inwieweit waren nun die offiziellen Behörden bei unserem Vorhaben in
Anspruch zu nehmen, ja selbst nur zu benachrichtigen? Einerseits würden uns
offizielle Empfehlungen entschieden von großem Vorteil gewesen sein, ander¬
seits lief man aber Gefahr, daß gerade, weil die politischen Verhältnisse nicht
die besten waren, von amtlicher Seite Einwendungen gegen die Reise erhoben
werden konnten. Reiske man auf eigene Gefahr, so hatte niemand eine Ver¬
antwortung für uns. Wir hielten es daher für das Ratsamste, möglichst in¬
offiziell zu reisen, uns aber private Empfehlungen an Zivil- und Militärbehörden
geben zu lassen und darauf bedacht zu sein, daß die Kette der Empfehlungen
nicht abriß. Die Türken sowohl wie die Russen sind ja gegen Fremde von
äußerster Liebenswürdigkeit und großem Zuvorkommen, und so durfte man
darauf rechnen, auf diese Weise viel schneller und sicherer zum Ziel zu kommen,
als wenn man auf offiziellem Wege um amtliche Unterstützung bat. Jede
nichtamtliche Unterstützung wird von allen Behörden, besonders dort an Ort
und Stelle gerne gewährt, denn sie verpflichtet zu nichts, hat aber für den
Reisenden dieselbe Wirkung. Wir haben mit diesem Prinzip die besten Er¬
fahrungen gemacht und selbst dort, wo unsere Hoffnungen sich nicht zu erfüllen
schienen, ließ sich an Ort und Stelle durch persönliche Fürsprache mehr erreichen,
als wenn man große Eingaben gemacht und Anträge gestellt hätte.
Einen derartigen Fall möchte ich hier erwähnen. Wir hatten unsere
Waffen nach Trapezunt vorausgeschickt, erfuhren aber in Konstantinopel von
amtlicher Stelle, daß auf eine Einfuhr ohne besonderen Waffenschein gar nicht
zu rechnen sei. Die Erlangung dieses Waffenscheines würde wenigstens zwei
Wochen in Anspruch nehmen, und ob die Genehmigung erteilt werden würde,
sei sehr fraglich. Also lautete die offizielle amtliche Auskunft. Wir
telegraphierten nach Trapezunt, auch von dort erhielten wir den Bescheid, daß
die Gewehre ohne Waffenschein nicht herausgegeben werden dürften. Durch die
liebenswürdige Fürsprache eines Deutschen in Konstantinopel gelang es nun,
in den drei Tagen, die noch zur Verfügung standen, die Erlaubnis zur Ein¬
fuhr und zum Tragen der Waffen, zu der nicht weniger als drei Ministerien
und die Kaiserlich-Ottomanische Zollbehörde ihre Einwilligung geben mußten, zu
erwirken. Und nicht nur dies, der Erlaubnis waren Briefe an die Valis
(Oberpräsidenten) der von uns zu bereisenden Provinzen beigegeben, in welchen
diese Herren aufgefordert wurden, uns nach Kräften zu unterstützen und unsere
Reise zu fördern, Diese Briefe waren uns später von unendlichem Nutzen.
Ich will nicht sagen, daß dasselbe nicht auch auf amtlichen Wege und
vielleicht sicherer zu erreichen gewesen wäre, und ob ich mich bei einer zweiten
derartigen Reise wieder auf das Glück verlassen würde, erscheint mir fraglich,
jedenfalls war dieses Prinzip von Erfolg begleitet.
Und nun zur Ausrüstung. Was war an Gegenständen, die speziell sür,
eine solche Reise vonnöten waren, mitzunehmen? Was war an Waffen,
Pferdeausrüstung, Apparaten, Instrumenten mitzuführen, wie sollte die Ver¬
pflegung geregelt werden? Hier war zunächst die allgemeine Frage zu beant¬
worten: sollte man mit oder ohne besonderes Gepäck reisen, d. h. sollte
man die nötigen Gebrauchsgegenstände auf feinem eigenen und vielleicht noch
auf dem Pferde des Dieners mitführen, oder sollte man außer den Reit¬
pferden noch Bagagepferde kaufen bzw. mieten, welche von einem besonderen
Treiber geleitet werden, mit anderen Worten, sollte man sich noch von einer
kleinen Karawane begleiten lassen? Die Vor- und Nachteile liegen auf
der Hand. neigte ich auch zunächst dem ersteren Prinzip zu, zu dem
mir auch geraten wurde, so sah ich doch bald die Unausführbarkeit dieses
Gedankens ein. Man kann wohl einige Tage, ja vielleicht sogar ein oder zwei
Wochen in dieser Weise reisen, einen längeren Ritt ohne eine besondere Gepäck¬
karawane halte ich aber fast für undurchführbar, besonders wenn man Wert
darauf legt, in den größeren Städten auch einen Einblick in die Geselligkeit zu
gewinnen. Außerdem widersteht man den Anstrengungen und Entbehrungen in
den ersten Tagen, ja selbst Wochen ohne Schwierigkeit, dann aber beginnt der
Körper doch widerstandsunfähiger zu werden und bedarf möglichster Schonung.
Dazu kommt noch, daß ein derartiger Ritt auch sür die eigenen Pferde eine unver¬
hältnismäßig große Anstrengung ist, haben wir doch manchmal bis zu 100 Kilo¬
meter und darüber an einem Tage gemacht. Wenn auch eine solche Ent¬
fernung hier in Deutschland nichts Ungewöhnliches ist, so bedeutet sie dort doch
eine ganz enorme Anstrengung der Pferde, besonders wenn der Weg teilweise
durchs Gebirge führt, der Ritt schon mehrere Tagender Wochen gedauert hat
und morgen wieder fortgesetzt werden soll. Hieraus ergibt sich, daß man bestrebt
sein muß, die eigenen Pferde so viel als irgend möglich zu entlasten. Die
Gepäckkarawane ist also ein zwar großes, aber unvermeidliches Übel.
Hatte man sich nun zur Mitnahme einer Karawane entschlossen, so war
ich dennoch eifrigst bemüht, das Gepäck möglichst einzuschränken. Trotzdem aber
füllten diese „notwendigsten" Gegenstände doch noch mehrere Koffer und Säcke,
die auf gemieteten Packpferden verladen wurden.
Es bleibt eine offene Frage, ob es ratsamer ist, Packpferde zu mieten oder
zu kaufen. Die Kosten werden in beiden Fällen ziemlich dieselben sein, denn
man muß immer auf einen erheblichen Verlust beim nachmaligen Verkauf der
Pferde rechnen. Das Mieter der Pferde hat den Vorteil, daß stets ein des
Weges kundiger Karawanentreiber mitgeht, der auch als Führer dienen kann,
auch ist man der Sorge für Verpflegung. Unterbringung und Gesundheit dieser Pferde
enthoben, muß sich aber allerdings, besonders wenn man bestrebt ist, schnell vor¬
wärts zu kommen, bei jeder Station auf einen mehr oder weniger großen Krach
und auf so manchen Bagschisch gefaßt machen. Denn es liegt im Interesse der
Pferde, die täglichen Etappen möglichst klein zu bemessen, und die Besitzer ver¬
suchen stets, noch einen Tag mehr herauszuschlagen, denn Zeit spielt im Orient
keine Rolle, wohl aber Kräfte und die angeborene Faulheit. Würde ich einen
derartigen Ritt noch einmal machen, so würde ich mehrere Packtiere mitführen,
diese nur gering belasten und die Treiber ebenfalls beritten machen. Dadurch
wäre ein schnelleres Marschtempo möglich, die Ermüdung der Treiber geringer
und deren Laune daher eine bessere.
War man nun einerseits bestrebt, das Gepäck nach Möglichkeit einzuschränken,
so durfte doch nichts fehlen: von der Reservebirne für die elektrische Taschen¬
lampe bis zur zusammenklappbarer Taschensäge, vom Entwicklungsapparat für
photographische Platten bis zum Reserveschnürsenkel mußte alles vorhanden sein.
Näher auf die Gegenstände im einzelnen einzugehen, verbietet der Raum,
ich möchte hier nur erwähnen, wie wir gekleidet waren, und was wir auf dem
Pferde mit uns führten.
Gegen die große, aber trockene Hitze bei Tage sowie gegen die Kälte des
Nachts schützt man sich am besten durch dicke, warme Sachen, so widersinnig
dies auch bezüglich der Tageshitze klingen mag. Viel mehr als die Hitze — wir
hatten manchmal über 60° L. — empfindet man die stechenden Sonnenstrahlen,
gegen die nur dicke Kleidungsstücke schützen. Wenngleich der von uns gewählte
Kordstoff sehr haltbar und in? Tragen angenehm ist, so ist doch reine Wolle
mehr zu empfehlen, da sie mehr vor Erkältungen schützt. Auf dem Kopfe
trugen wir einen Tropenhelm mit festem Nackenschutz gegen Sonnenstrahlen.
Eine wichtige Frage war die Ausrüstung der Pferde. Auf den großen
Strecken mußte man alles Nötige bei sich sichren, denn es war darauf zu
rechnen, daß die Bagage manchmal nicht mitkommen würde. Zwischen
dem Wunsche, möglichst viel bei sich zu haben und der Forderung, die Be¬
lastung der Pferde so gering als möglich zu machen, war es schwer, die richtige
goldene Mitte zu finden. Als Sattel wählten wir den sogenannten englischen
Sattel, in der Art, wie er bisher in unserer Armee als Öffiziersattel bekannt
war. Allerdings ließ ich mir noch einige Ösen und ein festes Hinterzwiesel
zum Aufschnallen des Mantels einnieten, in der richtigen Erkenntnis, daß alles,
was nicht niet- und nagelfest ist, mit der Zeit abreißt. Man glaubt ja gar
nicht, wie sehr die Sachen bei einem solchen Ritt leiden, und es empfiehlt sich,
nur neue Kleidungs- und Ausrüstungsstücke vom besten Material mitzunehmen.
Sparsamkeit ist hier gänzlich am'falschen Platze und rächt sich später bitter.
Als Sattelunterlage diente ein großer Woylach, der ja zwar verhältnis¬
mäßig schwer ist, man hatte aber auf diese Weise stets eine geeignete Decke,
die Pferde in den kalten Nächten einzudecken und vor Erkältungen zu schützen.
Die Pferde waren mit unserem Militärzaumzeug, aber ohne Kandare gezäumt,
trugen also nur eine Halfter mit Riemen und eingeknebelter kleiner Trense,
so daß man sie stets, ohne das Zaumzeug abzunehmen, anbinden konnte.
Letztere reicht vollkommen aus. Zwei große Packtaschen, des leichteren Gewichts
wegen aus Segeltuch, hingen vorn an beiden Seiten des Sattels und bargen
die nötigsten Apparate: Zielfernrohr für die Büchse, Teletubus mit Ansatz für
den photographischen Apparat, der in einer Ledertasche auf der rechten Seite
des Sattels hing, so daß man ihn stets leicht zur Hand hatte, Minimal- und
Maximalthermometer, elektrische Taschenlampe, Reservemunition für Büchse,
Gewehr und Pistole und einige andere Kleinigkeiten. Die andere Packtasche
enthielt eine eiserne Portion, bestehend aus Erbskonserven mit Fleisch, etwas
Schokolade, eine Thermosflasche mit heißem Tee, etwas wollene Wäsche, Notiz-
und Reisehandbuch. Routenkompaß, Höhenbarometer und Taschenwörterbuch
führte ich in den verschiedenen, sehr reichlich angebrachten Taschen meines Rockes mit.
Wenngleich das Mitführen der Parabellumpistole, die natürlich immer
geladen war, keine Schwierigkeiten machte, so war die Frage, wie man die
Gewehre am besten transportieren konnte, ebenso schwer zu lösen, wie bei den
Kavallerien aller Armeen. Denn eine wirklich praktische Tragevorrichtung ohne
größere Nachteile ist bis jetzt noch nicht erfunden worden. Die beste von allen
ist meiner Ansicht nach diejenige, zu der wir uns schließlich entschlossen. Sie
besteht aus einem Kolbenschuh, der auf der linken Seite des Sattels hinter dem
Oberschenkel angeschnallt wird, in ihm steht das Gewehr senkrecht, mit der
Mündung nach oben in die Höhe und wird oben an eine Schlaufe angeschnallt,
die der Reiter an einem Gurt um die Hüfte trägt. Diese Tragevorrichtung ist
leicht, verhindert Beschädigungen des Gewehres durch Anstoßen an Gelände¬
unebenheiten und gestattet stets den sofortigen Gebrauch der Waffe. Das Gewehr
liegt vollkommen fest und hindert den Reiter in keiner Weise. Daß auch sie
ihre Nachteile hat, darf natürlich keinen Augenblick bestritten werden.
Etwas reichhaltig mußte die Reiseapotheke ausgestattet sein, denn einerseits
war kaum darauf zu rechnen, daß man sie während des Rittes selbst in größeren
Städten würde ergänzen können, anderseits aber kommt der Europäer in dortiger
Gegend so oft in die Lage, helfend die Not des Landes zu lindern und wird
auch häufig von den Eingeborenen darum gebeten. Wird er doch stets als Arzt
angesehen oder doch zum wenigsten als ein Mensch, der aus gesunden, glück¬
lichen Landen kommt, und der hier helfen kann, wo Fieber, Epilepsie, Augenleiden
und viele furchtbarere Krankheiten Tod und Unglück von Haus zu Haus tragen.
Wer wollte da nicht alles tun, was in seiner Macht steht, um zu helfen, selbst
wenn die Hilfe auch nur wie ein Tropfen im Weltenmeere ist.
Die Medikamente waren in geschickter Weise von der Apotheke zum König
Salomo, Berlin, zusammengestellt und enthielten alles Notwendige in aus¬
reichendem Maße. Besonders mitzuführen sind Magenmittel, denn gerade nnter
Magen- und Darmkrankheiten hat man viel zu leiden. Chinin führten wir in
größeren Mengen mit, denn auch den Eingeborenen kann man hiermit viele
gute Dienste leisten. Wir selbst nahmen jeden vierten Tag ein Gramm, so daß
wir ziemlich ohne Fieber, selbst durch die gefährlichen Gegenden an den Ufern
des Wan- und Urmiasees durchkamen. Jnsektenpulver ist unentbehrlich, denn
man braucht es fast täglich, selbst wenn man mit der Zeit noch so sehr gegen
Mitbewohner abgestumpft wird.
Und nun einige Worte über den Alkohol. Viele Reisende, z. B. Sven
Hedin, dessen weitgehende Erfahrung mit meiner geringen natürlich nicht zu
vergleichen ist, verwerfen jeden Alkohol grundsätzlich. Wenngleich ich auch nicht
sein Freund bin, so führte ich doch ein wenig Kognak und Punschextrakt mit,
und während letzterer an kalten Abenden wohl so manche Erkältung ferngehalten
hat, oder nach einem Bade im kalten Gebirgswasser den Körper wieder erwärmte,
so war der Kognak, mit heißem Tee genossen, die beste und wirksamste Medizin bei
Magenerkrankungen. Leider hatte ich viel zu wenig mitgenommen, so daß er
nur sehr sparsam genossen werden konnte. Ich würde bei einer nochmaligen ähn¬
lichen Reise mehrere Flaschen guten Kognak mitnehmen, aber jeder folge hier seinen
eigensten Wünschen. In dasselbe Kapitel dürste auch die Tabakfrage schlagen. Auch
hier gehe ich mit meiner Ansicht auf mittlerer Linie. Ohne ein starker Raucher
zu sein, halte ich es für ratsam, bei derartigen Reisen einige Zigaretten mit¬
zuführen. Das Rauchen erfrischt, regt den Körper an, löscht den Durst, stillt
den Hunger, ohne eine schädliche Nachwirkung zu hinterlassen, wenn es nicht
übertrieben wird.
Dringend anzuraten ist aber, sich impfen zu lassen, bevor man in jenen
Hütten und auf Decken nächtigt, denen selbst der Laie ansieht, daß sie Träger
aller möglichen Krankheitserreger sind.
Und nun zur photographischen Ausrüstung. Hier gilt es mehr als von
den anderen Ausrüstungsgegenständen, daß nur das Beste Erfolg verspricht.
Da die Ansichten darüber, was hier das Zweckdienlichste ist, wohl sehr ver¬
schieden sein werden, so beschränkte ich mich darauf, zu erwähnen, wie ich aus¬
gestattet war, mit der Bemerkung, daß ich mit der Ausrüstung durchaus zufrieden
war. Ich hatte einen 9 : 12 Schlitzverschlußapparat „Argo" von der Firma
C. P, Goerz. Zu ihm gehörte ein Teletubus mit Verlängerungsstück für Fern¬
aufnahmen, der sich hervorragend bewährt und mir gute Dienste geleistet hat.
Trotz der kompliziert scheinenden Konstruktion des Verschlusses hat dieser doch
keinen Augenblick ausgesetzt, obgleich ich den Apparat, wie erwähnt, während
des ganzen Rittes am Sattel getragen habe, wo Verstaubungen und Ver¬
schmutzungen, ja selbst Stöße und kleine Verletzungen ganz unvermeidlich waren.
Die übrigen Bedarfsartikel stammten von der Aktiengesellschaft für Anilinfabri¬
kation und bestanden aus einer größeren Anzahl Chromo-Jsolarplatten, die mit
Tropenemülsion versehen und in Blechschachteln eingelötet waren. Beides ist
dringend nötig. Die Platten erhielten dadurch eine große Widerstandsfähigkeit
gegen Feuchtigkeit und Hitze, so daß durch diese beiden großen Feinde photo¬
graphischer Aufnahmen auch nicht eine Platte verdorben wurde. Wohl aber
litten die Films, soweit sie Verwendung fanden, fast sämtlich unter der Hitze.
Ferner empfiehlt es sich, einige Entwickler- und Fixierpatronen, von der „Agfa"
in Glas verpackt und für den Gebrauch äußerst härtlich zurechtgemacht, mitzu¬
führen, denn man muß zu Anfang und später wenigstens von Zeit zu Zeit
einige Bilder sofort entwickeln, zu Anfang, um die richtige Belichtungszeit zu
finden, denn bei der grellen Sonne sind die Lichtverhältnisse natürlich ganz
andere als hier in Europa, späterhin, um auf Fehler, die der Apparat während
der Reise erlitten haben kann, aufmerksam gemacht zu werden. Sonst kann es
sich ereignen, daß alle Bilder eines kleinen, leicht zu beseitigenden Fehlers wegen
verderben. Die Mitnahme einiger „Agfakapselblitze" für Blitzlichtaufnahmen
hat sich sehr gelohnt. Auch Platten für farbige Aufnahmen fanden Verwendung.
Durch sie konnten wir so manche schöne Beleuchtungseffekte, an denen jenes Land
ja so reich ist, als Erinnerung für spätere Zeiten festhalten.
An Verpflegung konnten wir natürlich nur einige Konserven mitführen, die
den eisernen Bestand bildeten, ein Teil wurde, wie erwähnt, in der Packtasche,
der Nest als Bagage befördert. Im übrigen lebte man von dem, was das Land
bot. In den großen Städten konnte man etwas Fleisch und Brot kaufen,
UM sich für ein und zwei Tage mit frischem Proviant zu versehen, sonst aßen
wir, was die Eingeborenen uns vorsetzten. Freilich war dies nicht immer sehr
appetitanregend, und so griff man so manches Mal auf seine Konserven zurück.
Sie wurden aber als kostbares Gut behütet und für die äußerste Not auf¬
gespart. Zum Schlüsse sei noch erwähnt, daß man mit einigen bunten Bildern,
Feuerzeugen und billigen Uhren den Eingeborenen große Freude und sich selbst
äußerst beliebt machen kann.
Viel Mühe, viele Wege und viel Denken erfordert es, bis endlich die
großen Kisten mit allen Habseligkeiten im Eisenbahnwagen stehen und man sich
selbst in den Orientexpreß setzt, um dem Lande seiner Träume entgegenzueilen.
Groß ist aber die Freude, wenn nachher das, was am Schreibtisch durchdacht
und bearbeitet wurde, draußen wirklich zum Erfolge führt.
Doch fast hätte ich noch eins, das Allernotwendigste für den Orient ver¬
gessen: gute Laune, Ruhe und Energie. Ohne sie dürfte man nicht weit
kommen, selbst wenn die Koffer der Karawane alles enthielten, was man sich
nur denken und im Notfalle gebrauchen kann. Diese drei bilden den persön¬
lichen eisernen Bestand, aus dem immer wieder geschöpft werden muß, wenn
sich Schwierigkeiten einstellen, wenn die Karawanentreiber dem Reisenden ihr
„Unmöglich", mit dem sie so schnell bei der Hand sind, zurufen, wenn die
Indolenz der Eingeborenen ihn fast zur Verzweiflung treibt. Besitzt man aber
diese Eigenschaften, so ist man den Eingeborenen weit überlegen; zu ihnen muß
sich dann noch eine gewisse fatalistische Gleichgültigkeit gegen Zwischenfälle, an
denen nichts zu ändern ist, hinzugesellen. Dann ist man gut ausgerüstet und
kann getrost in dem Gefühl der eigenen Überlegenheit die Reise antreten.
Das Ervrecht des Reiches. Im Vongen
Heft (vom 16. April 1913) ist dargelegt,
welches Verständnis und Wohlwollen die
Kölnische Volkszeitung dem Gedanken der
Erbrechtsreform entgegengebracht hat. Auch
die führenden Blätter der konservativen Partei
standen auf demselben Standpunkt, wie immer
wieder anerkannt werden muß. Sie haben
dem Plane der Reform die Wege geebnet,
als zuerst der preußische Finanzminister Frei¬
herr von Rheinbaben in der ihm eigenen
nachdrücklichen Weise dafür eintrat. Die
Kreuzzeitung sprach sich schon in ihrer Wochen¬
übersicht vom 26. Januar 1903 dahin aus:
„In den meisten Familien besteht zwischen
entfernten Blutsverwandten keine persönliche
Beziehung mehr. Solche .lachenden Erben'
auszuschalten, verstößt nicht gegen die Rechts¬
auffassung des Volkes. Ist mit der Bluts¬
verwandtschaft noch ein freundschaftliches Ver¬
hältnis verbunden oder ist der Familienver¬
band irgendwie aufrecht erhalten worden, so
Wird die Errichtung eines Testaments jede
unliebsame Wirkung der vorgeschlagenen Erb¬
rechtsbeschränkung abwenden." Wenn das
Erbrecht der Geschwisterkinder noch erhalten
bliebe — das ist nach der Regierungsvorlage
der Fall —, so würden bei den konservativen
Abgeordneten keine grundsätzlichen Bedenken
gegen eine gewisse Beschränkung des Ver¬
wandtenerbrechts zugunsten des Reiches ob¬
walten. Ani 21. Februar 1903 folgte in derselben
Zeitung eine eingehende, aus sachkundiger Feder
stammende Besprechung der Frage, in der es
heißt: „Der letzte Grund des gesetzlichen Erb¬
rechts der Verwandten liegt nicht in der Bluts¬
verwandtschaft allein, sondern in der durch diese
bedingten näheren Familienzusammengehörig¬
keit, und wo diese im allgemeinen nicht mehr
lebendig ist, stehen Wohl auch vom konserva¬
tiven Standpunkt aus genügende prinzipielle
Gründe einer Neuregelung nicht entgegen,
die den Verwandten ein Erbrecht nur dann
noch zugesteht, wenn der Erblasser dies in
letztwilliger Verfügung ausdrücklich angeordnet
hat." Die Deutsche Tageszeitung schreibt am
14, September 1903: „In dem neuesten Heft
der Neuen Revue beschäftigt sich Justizrat
Bamberger wieder mit seinem Gedanken, das
Reich bei Jntestaterbschaften, die an entferntere
Verwandte fallen würden, als Erben einzu¬
setzen. Er sagt, man Plane, die Erbrechts¬
grenze hinter den Geschwistern zu errichten
und die entfernteren Seitenverwandten durch
die Reichskasse zu ersetzen. Wir halten diese
Abgrenzung unsererseits für vernünftig und
geboten."
Der Reichsbote erörtert den Plan in der
Nummer vom 12. Februar 1908 und kommt
zu dem Ergebnis, daß man dringend wünschen
müsse, ihn sobald als möglich in die Tat um¬
gesetzt zu sehen. Der Reichsbote ist dieser
Ansicht bis heute treu geblieben. Er läßt
keine Gelegenheit vorübergehen, für seine
Überzeugung einzutreten und hat sie ins¬
besondere noch vor wenigen Tagen bei Ge¬
legenheit der Verhandlungen des Reichstages
neuem in entschiedener Weise zum Aus¬
druck gebracht.von
Es scheint also, als ob der Gedanke des
ReichSerbrechts sich sehr Wohl mit konservativen
Anschauungen verträgt.
Sprache und Schrift. Ein rascher Blick
auf die Bücher, mit denen wir heute die
Leser bekannt machen wollen, läßt einen be¬
deutsamen Zug erkennen, der ihre kleine und
bunte Reihe zusammenhält. Für diese An¬
sicht ist der gemeinsame Gegenstand: Sprache
und Schrift, der sie äußerlich aneinander¬
gereiht hat, nur ein Symbol für die gemein¬
same Aufgabe, der sie ihrer inneren Absicht
nach dienen. Weniger der Inhalt eint sie,
von dem sie ausgehen, als das Publikum,
an das sie sich wenden. Daß sie überhaupt
ein Publikum haben, ist das Bedeutsame.
Sie sind getragen von einer ganz bestimmten
Bewegung unserer Zeit, die wir von den
verschiedensten Seiten her einem Ziele zu¬
streben sehen. An dieser Bewegung ist die
Reife des Könnens gleich erfreulich wie die
Einmütigkeit des Willens.
Ausdruckskultur nennt sie der Kunstwnrt,
wir möchten umfassender von einer Kultur
der Form sprechen. Man beginnt alles das,
Woran eine einseitige Entwicklung nur den
Inhalt hervorgehoben hatte, unter den Ge¬
sichtspunkt der Form zu stellen, um damit
zu einer neuen und vertieften Auffassung zu
gelangen. So erscheinen Sprache und Schrift,
die unscheinbaren und selbstverständlichen Werk¬
zeuge, auf einmal in den Gesichtskreis der
öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Es liegt
etwas Philosophisches in dieser Nachdenklich¬
keit vor dem Alltäglichen. Der ungeahnte
Aufstieg der Sprachwissenschaft im letzten
Jahrhundert verbündet sich hier mit einer
ausgesprochen ästhetischen Richtung des mo¬
dernen Geistes, um ein literarisches Problem
zum Bewußtsein zu bringen, dessen wissen¬
schaftlicher wie künstlerischer Stachel vorher
nur von vereinzelten Köpfen empfunden wurde.
Wenn es diese Breitentendenz der neuen
Sprachbewegung auch mit sich brachte, daß ihre
großen Ideen nicht immer vor Verflachung
bewahrt blieben, gebührt ihr doch der Ruhm,
in unermüdlicher Aufklärungsarbeit allent¬
halben daS sprachliche Gewissen geschärft, den
Sinn für Form und Stil gehoben zu haben.
In Presse und Literatur, in Schule und Haus
werden feine und fast kostbare Gedanken ge¬
tragen, die heute jeder verstehen kann und
die jeden etwas angehen, der seine Zeit er¬
leben will.
Wenn vollends Namen wie Prof. Fricdr.
Kluge sich in den Dienst der Sache stellen,
wird man für sie auch wissenschaftlich gutsagen
können. Den spröden Stoff seiner Wissen¬
schaft der Allgemeinheit zugänglich zu machen,
hat Kluge einen eigenen und sehr einladenden
Weg in mecliss res ausgebildet, den er in
seiner jüngsten Veröffentlichung: „Wort¬
forschung und Wortgeschichte" (Quelle und
Meyer, Leipzig, 3,60 M.) weiter verfolgt.
In einer Reihe von Aufsätzen, die bisher in
Fachzeitschriften verstreut waren, geht er hier
dein Werden und Wandern von Worten oder
Wortgruppen an der Hand einer reichen
Sammlung von Belegstellen nach, die zu den
Angaben der Wörterbücher von Grimm,
Hildebrandt u. a. neues und wertvolles Ma¬
terial fördern. Wenn der berühmte, man
darf Wohl sagen: führende Germanist damit
von vornherein der genauesten Beachtung der
Fachkreise sicher ist, so liefert sein Buch an¬
derseits ein beredtes Zeugnis dafür, daß solche
Studien über philologisches Interesse hinaus
anregend und reizvoll sein können. Wie
Romanfiguren stellt er uns seine Worte hin,
plastisch gesehen in ihrer festen Einordnung
auf eine farbige Umwelt, und ihre Erlebnisse
spielen sich ab mit der ganzen Spannung
menschlicher Schicksale. Es ist ein verdienst¬
volles Unternehmen, auf diese Weise Ver¬
ständnis für Aufgabe und Wesen der Wort¬
forschung zu verbreiten, die, wie keine andere
Disziplin, auf möglichst ausgedehnte Mithilfe
eines literarischen Publikums angewiesen ist.
Um einzusehen, wie verständlich und letzthin
zufällig brauchbare Stellen zu finden sind,
brauchen wir bloß zu bedenken, daß die
untersuchten Worte auf keinen bestimmten
Literaturkreis beschränkt sind und die Zeit
ihrer Geltung erst zu ermitteln war. So
finden wir in buntem Wechsel entlegene
Kulturromane, Reiseschilderungen, Briefe,
Stammbuchblätter usw. angezogen, auch ein
Artikel dieser Zeitschrift von 1861 wird er¬
wähnt. Mit besonderer Liebe hat sich Kluge
der Aufhellung studentischer und seemännischer
Ausdrücke angenommen, die ein dankbares
Feld für sprachliche Streifzüge abgeben. Die
gründliche Kenntnis des einzelnen, wie sie
den: Verfasser des bekannten „Etymologischen
Wörterbuchs" natürlich zur Verfügung steht,
verbindet sich aber mit einem umfassenden
Blick für große Zusammenhänge. Dabei
kommt ihm seine abgerundete Darstellung zu
statten, die in sinnvolle Gruppen von „Wort¬
sippen" zusammengefaßt, was in lexigrnphi-
schcr Anordnung alphabetisch getrennt er-
scheinen muß. Wie vielseitig und eindringlich
so die kulturhistorische Bedeutung der zuge¬
hörigen Begriffe beleuchtet wird, geht be¬
sonders aus dem letzten Aufsatz: „Unser
ältestes Christentum" hervor. In Weiter¬
bildung der Rudolf von Rcmmerschen For¬
schungen weist Kluge hier eine ganze und
grundlegende Wortschicht christlichen Inhalts
nach, die vor der lateinischen Missionierung
über die Goten vom Griechischen her auf uns
gekommen ist. Wenn er aber an die Zeitfrage
ihres Eindringens anschließend eine Chrono¬
logie der zweiten Lautverschiebung versucht,
und zwar abweichend von der herrschenden
Auffassung, so verliert sich hier seine Darstel¬
lung für ein Laienpublikum in allzu subtile
und in ihrer gedrängten Form nicht immer
klare Beweisführungen.
Daß die Sprachwissenschaft allmählich auch
ihre gebührende Stellung in der Schule er¬
hält, dafür haben wir einen erfreulichen Be¬
weis in Prof K. Bergmanns Buch: „Der
deutsche Wortschatz" (Alfred Töpelmann
Gießen 1912, brosch. 2,76 M., geb. 3,20 M>.
Hier liegt in der Idee des Buches sein Haupt¬
wert. Die große Darwinsche Zauberformel:
Entwicklung hält endlich ihren Einzug auch
in unsere Sprachstunde», und erfüllt die bisher
geübte unfruchtbare Analhse mit Sinn und
Leben.
Wie sich die organischen Beziehungen un¬
serer Sprache von Zeit zu Zeit und von Volk
zu Volk verwoben, das gibt unserer Jugend
ein Pädagogisch unschätzbares Bild ihres
Wesens. Dagegen tritt die eigene Arbeit des
Verfassers zurück. Sie ist und will nicht
mehr sein als ein systematischer Auszug aus
dem rühmlich bekannten „Deutschen Wörter¬
buch" von Weigand. Um seine Schätze für
die Schule zu heben, legt Bergmann in den
Stoff, der dort äußerlich in alphabetische
Längsschnitte gespalten ist, Querschnitte nach
inneren sachlichen Gründen. Diese sichere
Grundlage verbürgt uns einen gewissenhaft
überarbeiteten Stoff, der nach drei Haupt¬
abschnitten gesichtet wird: die'Bedeutung der
einzelnen Wörter und Wendungen, die Zu¬
sammensetzung des gesamten Wortschatzes und
dann seine Verwandtschaften. Mit Recht
sieht dabei der Verfasser keine Bedenken, auch
vorläufige Hypothesen dieser jungen und
schwierigen Wissenschaft zu verwenden, die zur
Ordnung unentbehrlich sind, ebenso wie er
auch im einzelnen anfechtbare Daten vor¬
bringen muß, um durch möglichst vielseitige
Anknüpfung seinen Gegenstand voll und rund
zu machen. Darauf kommt es an. Das
Problem in seiner ganzen Schärfe und Aus¬
dehnung überschauen, ist wichtiger, als einige
„gesicherte Resultate" nach Hause zu tragen.
Je bereitwilliger wir anerkennen, daß
auch der Verfasser dieses Hauptziel verfolgt,
um so mehr bedauern wir, daß er seine tüch¬
tige Idee mit schulinännischer Gründlichkeit zu
Tode hetzt. Wenn er in die Einleitung die
Darlegung seiner systematischen Einteilung in
aller Kürze bereits hineinpfropft, um im
Text nur noch „Verzeichnisse" der Beispiele
zu geben, so macht das schon ein beständiges
Hin- und Herblättern nötig. Noch mehr
leidet die Übersichtlichkeit, wenn er in seine
umsichtig gegliederten, sprachtheoretischen Ab¬
teilungen wieder nach Bedarf ein System von
Praktischen Gruppen der behandelten Worte
einschachtelt, um dieses teilweise noch einmal
und noch einmal zu spalten. "So steht S. 111
eine Abteilung, die folgende Nummer hat:
^, II, 24, ^V, I, 7. Bergmann hat schon
einen viel einfacheren Weg gefunden, den er
nur überall hätte einzuschlagen brauchen.
Unter ^, I, 1 bis 8 (S. 25 bis 64) bringt
er das Wortmaterial jeweils alphabetisch in
acht Klassen nach dem theoretischen Gesichts¬
punkt, welche Hilfsmittel zur Erschließung der
Bedeutung vorhanden sind, und läßt dem
eine Ordnung desselben Materials nach prak¬
tischen Gruppen vorausgehen, wo bei jedem
einzelnen, hier leicht auffindbaren Wort auf
den späteren Gesichtspunkt seiner etymolo¬
gischen Erklärung verwiesen wird. Innerhalb
dieser vorausgehenden Inhaltsangaben konnte
da zur besseren Orientierung nach Herzens¬
lust spezialisiert werden, ohne den einheitlichen
Charakter der sprachtheoretischen Klassen aus-
einanderzureißen. Diese verschiedenen Prak¬
tischen Stoffgruppierungen brauchte dann nur
ein Wortregister am Ende des Buches, die
sprachtheoretischen Abschnitte (die Hauptsache),
eine klare Disposition zu Anfang zusammen¬
zufassen statt des heillosen Wirrwarrs von
einem „Sachverzeichnis", wie es jetzt ange¬
hängt ist. Dem entspricht die Fassung der
"
Überschriften: statt ^ die Lehre von der Be¬
deutung
lesen wir: ^ Die Bedeutung unserer Wörter
und Wendungen
Alles das berührt aber nur Fvrmwünsche
für eine spätere Auflage, die wir dem Buche
nach seinen inhaltlichen Vorzügen aufrichtig
wünschen.
Ebenfalls der Schulpraxis will Dr. Otto
Srtels: „Deutscher Stil" (B. G. Teuvner,
Leipzig-Berlin, tard. 1,80 M.) dienen. Wenn
er dem reichbestellten Felde der Aussatzreform
noch ein neues Hälmchen abgewinnt, so ver¬
dankt er dies seiner entschiedenen Hinwendung
zum konkreten Vorschlag. Mehr als die
Hälfte des Buches nehmen fertig ausgeführte
Aufsätze ein, in denen er auf seine Stilforde¬
rungen die praktische Probe macht. Besonders
lehrreich ist die Abwandlung eines Stoffes
nach sechs verschiedenen Gesichtspunkten der
Themenstellung. Etwas Preziös gibt darum
Orte! seiner Arbeit den Untertitel: „eine
Handreichung". Es spricht für sein Pädago¬
gisches Empfinden, daß er von dieser Neigung
seines eigenen Stils zum Bewuszt-Literarischen
die Aufsatzproben fast durchgängig freigehalten
hat. (Zur Ausnahme rechne ich: „Mittags¬
zauber" S. 46 bis 48.) Oft ist das Kinder-
tümliche mit glücklichen Humor gepaart.
Freilich entspringt auch er zuweilen einer
reiferen Lebenserfahrung, als das Niveau der
Aufsätze voraussetzt („Ein Picknick" S. 42 bis
46). Auch der Wert seiner einleitenden Ab¬
handlung liegt mehr darin, daß er immer
aus dem Programm in die Anwendung strebt.
Denn wenn er die Arbeit eines Aufsatzes in
zehn verschiedene Tätigkeiten zergliedert, so
scheint uns daS ebenso ein übertriebener
Schematismus wie die Regelmäßigkeit, mit
der er am Ende eines jeden einzelnen einen
pädagogischen Mehrgewinn herausschlägt. Es
ist aber erfrischend, wie er überall die „Jagd
nach Tatsachen" betont und vor den: un¬
fruchtbaren Zerpflücken klassischer Schriftsteller
warnt. In der Hand eines verständnisvollen
Lehrers wird dus anspruchslose Buch manches
Gute stiften.
Sprache ist Form des Denkens, Form der
Sprache wieder ist d!e Schrift. Kein Wunder,
daß der neue Wille zur Form sich auch dieses
Feldes bemächtigt hat, das nur allzulange
einer gedankenlosen Wirtschaft überlassen war.
Hoffnungsvoll durchwühlt den trägen Acker
eine tiefspältige Kontroverse, die auch die Auf¬
merksamkeit des Fernstehenden herausgefordert
hat. Bis in den Reichstag hallte unlängst
das Kriegsgeschrei: „Antiqua oder Fraktur?"
Unter diesem Titel veröffentlicht nun Prof.
A. Kirschimmn (als 1. Band der „Mono¬
graphien des Buchgewerbes", Verlag des Deut¬
schen Buchgewerbevereins, Leipzig, broschiert
1,S0 Mark) eine kleine, aber gewichtige Schrift,
an der keiner in Zukunft wird vorübergehen
dürfen, der zu der strittigen Frage Stellung
nehmen will. Die besonnene Distanz des
Philosophen gibt dem Verfasser einen Stand-
Punkt, der sich über das Tagesgeschrei kurz¬
beiniger Phrasenbeweise erhebt. Wer Mer¬
zeugen kann, braucht nicht zu überreden. In
konsequenter Anwendung einer kritisch-optischen
Methode untersucht Kirschmann experimentell
die Lesbarkeit der beiden gebräuchlichen Druck¬
schriften. Bemerkenswert ist die schärfere Ein¬
stellung der Experimente auf den sachlichen
Hergang. Einmal wird im Gegensatz zum
Buchstabieren für das Lesen die Bedeutung
des indirekten Sehens hervorgehoben. Indem
nun durch eine Komplizicrung des Schrift¬
bildes die Vorauserkennung der dem Fixier¬
punkt stetig genäherten Buchstaben erleichtert
erscheint, ist die Überlegenheit der Fraktur
im Prinzip gefunden. Zweitens dehnt Kirsch¬
mann seine Untersuchungen auf ganze Wörter
aus. Wenn einzelne Frakturmajuskeln, die
einander zu ähnlich sind, isoliert im Nachteil
waren, so werden hier diese Ausnahmen be¬
richtigt. Zudem macht Kirschmann auf die
Verbesserungen der neuen Typen (Schwabacher,
Koch usw.) aufmerksam. Die Nachweisung
größerer Flüchtigkeit der spitzwinkligen deutschen
Schreibschrift bildet zum Schluß noch eine
wertvolle Ergänzung. Ebenso wie Kirschmann
in der Methode rein sachlichen Gesetzen folgt,
verschmäht er es, seine guten Ergebnisse agi-
tatorisch auszumünzen. Seine Schrift ist ein
Muster der wissenschaftlich würdigen Behand¬
lung einer Frage, die „von der Parteien
Gunst und Haß verwirrt" war.
Es ist nicht überflüssig, wenn zu dem¬
selben Thema in demselben Sinne auch
G. Ruprecht das Wort ergreift in seiner
Broschüre „Das Kleid der deutschen Sprache"
(6. Aufl., Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht,
1912, 1 Mary. Ruprecht ist Verleger. Da¬
mit fügt er zu den theoretischen Erörterungen
KirschmannS, auf den er sich ausdrücklich be¬
zieht, das Gewicht einer sehr materiellen Be¬
gründung. Nachdem er die Anpassung der
Fraktur an die allgemeinen optischen Forde¬
rungen sowohl wie die besonderenBedingungen
der deutschen Wortbildung in Kürze rekapitu¬
liert hat, wendet er sich zu seinem eigensten
Gebiete: der buchhändlerischen Praxis. Mit
umsichtiger Gewandtheit, wie sie die sichere
Sachkenntnis verleiht, und gestützt auf eigenes
Studium in? Ausland, zerstört er hier vor
allem die alte Fabel, die eine Hemmung
unserer kulturellen und damit wirtschaftlichen
Ausbreitung durch unsere Sonderschrift be¬
hauptet hatte. Schließlich werden an der
Hand von Druckproben, die wir bei Kirsch¬
mann vermißten, die „Bastard"- und die
deutschen Reuschriften auf ihr Verhältnis zu
den gewonnenen Ergebnissen geprüft. Wenn
Ruprecht aber dabei zu einer Ablehnung so
ziemlich sämtlicher Renschriften kommt, so ist
das ein Beweis, daß „die brutale Leserlich¬
keit", wie sie R. von Larisch bezeichnet, noch
keine letzte Instanz bedeutet. Ich kann darum
auch Ruprecht nicht folgen, wenn er, im
Gegensatz zu Kirschmann, bei einer Verteidi¬
gung der Fraktur nicht stehen bleibt, sondern
zum Angriff auf die Antiqua übergeht, die
er nur noch für „kleine Drucksachen" (S. 67)
gelten läßt. Wie die neue Frakturbewegung
den Populären Trugschluß aufgedeckt hat, daß
einfache Schrift auch einfaches Lesen verbürge,
ebenso halte ich in dem Satz Ruprechts (S. 60),
daß „die Lateinschrift . . . mehr Rervenkraft
und Aufmerksamkeit . . . verbraucht, also die
geistige Aufnahme des Gelesenen nicht in
gleichem Maße fördern kann", das „also" so
lange für eine erschlichene Selbstverständlich¬
keit, als darüber nicht experimentelle Nach¬
weise vorliegen. Psychologisch erfahren nur
starke Eindrücke eine „geistige Aufnahme",
d. h. eine Aufnahme in den Vorrat repro¬
duzierbarer Vorstellungen. ES ist klar, daß
Eindrücke an Stärke verlieren, wenn sie ein¬
ander zu rasch folgen, wie es bei einer
flüchtigen Lektüre der Fall ist. Ich Halle es
darum nicht für Zufall, daß sich der Brauch
gebildet hat, Bücher, die wir lesen, um sie
zu behalten, wie die wissenschaftliche Literatur,
in Antigua zu drucken. Es ist bezeichnend
für den demokratisch-Puritanischen Geist unserer
Zeit, daß sie zuerst mit der willkürlichen Alter¬
native „Antiqua oder Fraktur" an unserer
Doppelschriftigkeit „reformiert", der ich nicht
anstehe, Umfang, Tiefe und Beweglichkeit der
deutschen literarischen Kultur zu einem guten
Teile zuzuschreiben. Wenn schon eine „Be¬
lastung durch zweierlei Erinnerungsbilder für
jedes Wort" (S. 35) vorliegt, so bringt das
nicht nur den Pädagogischen Gewinn, den
auch Ruprecht in einer Äußerung Prof. Fiakers
(S. W) wiedergibt, sondern auch eine allge¬
meine geistige Befreiung, eine Elastizität der
Apperzeption, die das Verhältnis von Wort
und Sinn in dauerndem Fluß erhält.
or. C. G. Benedict: Richard Wa„mers
Parsifal in seiner menschlich-ethischen Be¬
deutung. Lissa i.P., Verlag von Oskar Eullitz,
1913. R. Wagners Parsifal steht gerade in
dieseni Jahre im Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses, so daß die vorliegende kleine Schrift
Wohl ihren Leserkreis finden dürfte. Sie
würde es auch verdienen. ES ist dem Ver¬
fasser der Nachweis durchaus gelungen, daß
ein allgemeines menschlich-ethisches Problem
die Grundlage der dramatischen Handlung des
Parsifal bildet, richtig hat er auch im Mitleid
die Grundlage dieser Ethik erfaßt. Er hat
dann wenigstens den Versuch gemacht, den
Kuß der Kundry in der Bedeutung, die ihm
der Dichter und der Musiker ganz augen¬
scheinlich geben wollten, zu würdigen. Auch
die symbolische Bedeutung des Amfvrtas ist
nach einer Seite hin ganz richtig hervor¬
gehoben. Doch legt der Verfasser auf das
allgemein Menschliche zu viel Wert; dadurch
verschließt er sich dem vollen Verständnis des
Dramas. So kommt er dazu, die Begriffe
Mitleid und Liebe geradezu für identisch zu
erklären, so behauptet er, daß das Mitleid
die Grundlage aller Kulturentwicklung sei,
daß die Erlösung durch Parsifal dadurch
möglich werde, daß er die Bahn der sittlichen
Pflicht beschreite, das tue, „was das ethische
Gewissen von jedem Menschen fordert." Und
doch ist die Bedeutung des Willens und seiner
Umkehr nur auf metaphysischer Grundlage zu
verstehen. Wagner selbst weist ja in den
Schriften seiner letzten Periode, namentlich
in „Kunst und Religion" stets aus die Meta¬
physik hin. Erst auf solchem Wege wird
dann auch der eigentliche Gegensatz der Welten,
wird Kundry klar, diese eigenartige Doppel-
gestalt, die in zwei Welten scheinbar ganz
verschiedene Wesen verkörpert; erst aus der
Einsicht in Schopenhauers System erwächst
das Verständnis dafür, wie man „durch Mit¬
leid wissend" wird, also auch wie der Kuß
der Kundry in Parsifals Seele Mitleid und
Wissen gleichzeitig wecken kann. Auch der
Wert des christlichen Symbols ist nicht zu
voller Klarheit gebracht. Der Heiland ist
hier der christliche Erlöser, dessen Werk Par¬
sifal vollenden, zur Anerkennung bringen soll.
Diese christlichen Elemente hängen aufs in¬
nigste mit der Schopenhauerschen Mitleids¬
moral zusammen und erst die Erkenntnis
oder die Schöpfung dieser Einheit ist Wagners
ureigenstes Werk. Das zeigt sich auch darin,
daß gerade die Karfreitagszauberstimmung
der Ausgangspunkt für die dichterische In¬
tuition gewesen ist. Auch ist es nach meiner
Ansicht nicht richtig, die Wagnersche Loheu-
gringestalt zur Ausdeutung der Parsifalfigur
heranzuziehen und anzunehmen, daß Parsifal
als Gralskönig doch dem Weibe gehuldigt
habe, das er in Kundry von sich gewiesen
hatte. Parsifal ist das (Schopenhauersche)
Genie, das infolge seiner Mitleidsfähig¬
keit in fremden? Leid sein eigenes Wesen,
das Wesen der Welt und das Mittel zur
Erlösung, die Umkehr des Willens, er¬
kennt. Er erkennt auch, daß die Heilstat
Jesu den Sinn hatte, der Menschheit die
Möglichkeit dieser wunderbaren Umkehr des
Willens vor Augen zu führen. So stellt er
diese Heilstat in wirksamer Weise wieder her,
bringt Erlösung dem Erlöser. So ist der
Parsifal allerdings ein Weltanschauungsdrama
nur — in noch tieferem, bestimmterem Sinne,
als Verfasser zu glauben scheint. Trotz dieser
Ausstellungen ist aber das Schriftchen eine
recht verständliche, sehr viel Richtiges im ein¬
zelnen bietende Einführung in das Parstfal-
Problem, und besonders solchen Lesern zu emp¬
fehlen, denen eine Einarbeitung in die meta¬
physischen Fragen, die Wagner in seiner
letzten Lebensperiode beschäftigten nicht
Anmerkung derSchriftleitung. Wir bringen
demnächst aus der Feder l)r. Haucks einen
eingehenden Aufsatz, in dein unter den in
vorstehender Kritik geltend gemachten Gesichts¬
punkten eine Deutung des Parsifalproblems
gegeben wird.
Deutscher Gcschichtslalender. Sachlich
geordnete Zusammenstellung der wichtigsten
Vorgänge im In- und Auslande. Begründet
von Karl Wippermann. Jahrgang 1912,
I. und II. Band (Januar bis Juni, Juli bis
Dezember). Leipzig, Felix. Meiner.
Jeder Politiker, jeder Journalist, über¬
haupt jeder Gebildete, der den Ereignissen
seiner Tage mit Verständnis folgen will, weiß,
wie schwer es ist, sie im Gedächtnis festzu¬
halten, wenn es sich nicht um ganz besonders
eindrucksvolle Dinge handelt. Es bedarf
deshalb eines sicheren Wegweisers, der ihm
die bunte verwirrende Fülle der Geschehnisse
zuverlässig, übersichtlich, genau und rasch
übermittelt. Ein solcher Wegweiser ist seit
188S Wippermanns Deutscher Geschichts¬
kalender, im Verlage von Fr. W. Grunow,
gewesen. Nach dem Tode dieses Bearbeiters
ist er 1911 aus diesem Verlage an Felix
Meiner übergegangen. Wie bisher erscheint er
in zwei halbjährlichen Bänden. Eine zweck¬
mäßige Neuerung ist es dabei, daß er zu¬
nächst in Monatsheften ausgegeben wird, die
möglichst bald nach dem Schlüsse jedes
Monats erscheinen, jedes mit einen: Personal-
und Sachregister neben dem Inhaltsverzeichnis.
Um die Übersicht zu erleichtern, ist dann auch
jedem der beiden Jahresbände außer dem
Inhaltsverzeichnis ein solches zusammen¬
fassendes Register beigegeben, so daß die Über¬
sicht gewahrt bleibt. Die Anordnung ist die¬
selbe wie bisher. Voran gehen der kaiserliche
Hof und der Bundesrat, das Deutsche Reich
und Preußen mit Einschluß des Reichstages
und des Landtags. Dann folgen die übrigen
deutschen Bundesstaaten, Parteibewegung und
Arbeiterbewegung. Dem schließen sich zunächst
die auswärtigen Staaten Europas, voran
die Großmächte, an; den Schluß bilden Per¬
sien, China und Japan, die Staaten Nord-
uud Südamerikas, Australien und Afrika.
Besonders dankenswerte Zugaben sind anch
die Abschnitte über Handel und Verkehr,
Verschiedenes und die Totenliste. Mit gleicher
Sorgfalt werden innere wie äußere Ereignisse
verfolgt und dabei wichtige Aktenstücke regel¬
mäßig, z. B. die Etats der Großmächte,
Gesetze, Zeitungsartikel wörtlich mitgeteilt,
so daß z. B. der Kampf um das Jesuiten¬
gesetz, der Fall Traub, Gesetze wie die Reichs-
oersicherungsordnung, die Verhandlungen
über das Reichspetroleummonopol und das
Reichstheatergesetz zur Geltung kommen,
Lebensmittelteuerung und Fleischnot sich
ebenso verfolgen lassen wie die Erneuerung
des Dreibundes oder die Ereignisse auf dein
Balkan. Alles in allem kann also das alte
Unternehmen in seiner erneuerten Gestalt allen
Interessenten warm empfohlen werden.
Wenn das deutsche Volk sich zu dem Opfer,
das ihm mit der Wehrsteuer zugemutet wird,
trotz deren Höhe mit einem anerkennenswerten
Verständnis bereit gefunden hat, so mag da¬
bei nicht zuletzt der Hinweis auf die Opfer¬
willigkeit der Generation von 1813, deren
große Tage wir jetzt rückerinnernd feiern, bei¬
getragen haben. Man hat Wohl in weiten
Kreisen die Empfindung, wir wollen hinter
diesen Ahnen, die doch so arm, so ausge¬
plündert und zertreten waren, bei unserer
heutigen Wohlhabenheit nicht zurückstehen.
Dann ist es aber auch begreiflich, daß von
verschiedenen Seiten die Frage aufgeworfen
worden ist, warum die Kirchen aller Kon¬
fessionen bei dieser Steuer des ganzen Volkes,
an welcher sich sogar die nicht steuerpflichtigen
Fürsten beteiligen, zögernd beiseite stehen.
Ich vermag nicht zu beurteilen, wie viele der
deutschen Kirchengemeinden wohlhabend genug
sind, um eine solche Steuer zu trage», ich
will auch die Frage nicht lösen, ob hier besser
eine gesetzlich erzwingbare Leistung oder el»e
freiwillige Gilde, wie die von den Fürsten zu
erwartende, am Platze wäre, ich will nur die
historische Erinnerung auffrischen, daß die
erste Patriotische Gabe, über welche Heult in
den Zeitungen 1813 öffentlich quittierte, von
der katholischen Kirchengemeinde zu Marien¬
burg in Westpreußen ausging. Schon kurz
nach Neujahr 1813 und lange bevor die frei¬
willigen Jäger ausgerüstet wurden, stellte
diese Gemeinde alles entbehrliche Silberzeug
ihrer Kirche, etwa 100 Kölnische Mark, dem
Staate zur Verfügung. Ihr Beispiel fand
bei anderen Kirchengemeinden Preußens eifrige
Nachahmung.
Wo ist heute die evangelische oder katho¬
lische Kirchen- oder die Synngogengemeinde,
welche sich den Ruhm der Marienburger ka¬
tholischen Kirchengemeinde erwirbt, als Erste
beigesteuert und damit für die Verwalter des
Gutes der „Toten Hand" vorbildlich gewirkt
zu haben?
Der vermeint¬
liche Mord ein den: Obersekundnner in
Charlottenburg hat dem Publikum — solange
es an die Entdeckung eines Mordes glauben
durfte — Veranlassung gegeben, Vergleiche
zwischen den Ermittlungen der Staatsbehörden
und des Detektivs anzustellen, die natürlich
zugunsten der Findigkeit des letztere» aus¬
fielen. Dabei übersah das Publikum nur
eins, daß der Detektiv mit Mitteln ge¬
arbeitet hat, welche einem die Entscheidung
schwer machten, ob man mehr Befriedigung
über die vermeintliche Entdeckung des Mordes
oder mehr Mißbehagen über den Weg, der
zu dieser „Entdeckung" geführt hat, empfinden
sollte.
Gewiß, ein Detektiv wird häufig darauf
angewiesen sein, sich in daS Vertrauen des
zu entlarvenden Verbrechers einzuschleichen,
aber die Vorstellung, daß er, um daS Ver¬
trauen eines jungen Mädchens zu gewinnen,
nicht nur Liebe heuchelt, sondern sich auch
offiziell mit ihr verlobt und dadurch neben
dem vielleicht wenig schonenswcrten Mäd¬
chen, zugleich auch deren gesamte völlig
unschuldige Familie täuscht, daß er in einem
Hause von alten Eltern mit offene» Arme»
als Schwiegersoh» empfangen wird, während
er im Hintergründe bloß die Absicht hegt,
die Tochter dieser Eller» z» eiiilarve» u»d
damit Schande, »icht mir über daS Mädchen,
sondern auch über die ganze Familie zu brin¬
gen, ist so außerordentlich unsympathisch, daß es
ohne weiteres einleuchtet, Vertreter der Staats¬
gewalt können mit solchen Mitteln nicht arbeiten.
Der moderne Staat ist glücklicherweise
kultiviert genug, daß er nicht sagt: das Ver¬
brechen muß um jeden Preis entdeckt werden
— denn sonst hätten wir ja die Folter nicht
abzuschaffen brauchen — sondern daß er
immer nur Mittel anwendet, welche sich mit
der allgemeinen Achtung und dein Ansehen,
das eine Staatsbehörde genießen muß, ver¬
tragen. Bei dieser Sachlage ist uns natürlich
der Detektiv überlegen, welcher durch solche
Hemmungen nicht beengt wird. So erklärt
es sich, daß die Strafverfolgungsbehörden
die Untersuchung gegen das Dienstmädchen
und ihrem unbekannten Komplizen aufgaben,
während die Detektivs an dem Erfolge ihrer
Ermittlungen noch nicht zu verzagen brauchten.
Glaubt der Detektiv eine Tat entdeckt zu
haben so ist die Strafjustiz verpflichtet, —
auch daraus hat man ihr nachträglich törichter¬
weise in der Presse einen Vorwurf gemacht —
den von ihm gewiesenen Spuren nach¬
zugehen. Genau so wie im Kriege der
Feldherr die Angabe von Spionen (ohne daß
ich mit diesem hinkenden Vergleiche dem
durchaus achtbaren Stande der Detektivs zu
nahetreten will) benutzt, ohne deshalb selbst
spionieren zu können. Nur müßte das Publikum
über alle diese Unterschiede hinreichend auf¬
geklärt werden, und damit komme ich wieder auf
eine meiner LieblingSideen, daß die Justiz,
im Gegensatz zu anderen Behörden, das ein¬
flußreichste Instrument der Presse sich noch
nicht genügend dienstbar zu machen versteht.
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Lcliinnv, Ltrau^leckern, (Zeiciienli-üataloxXawlox
p"?«»°^l.7«»:I7«s:
PKow-s""^
le orientalische Frage ist von jeher von den Diplomaten gefürchtet
worden, nicht so sehr wegen der eigentümlichen Schwierigkeiten,
die sie in sich barg, als wegen der stets erneuten Erfahrung,
daß auf diesem Gebiet meist gerade das Unwahrscheinliche Er¬
eignis wird. Gerade als sich der Glaube zu befestigen anfing,
daß man nun endlich in den für den Friedensschluß unternommenen Arbeiten
über den toten Punkt hinwegkommen werde, hat das kleine „widerspenstige"
Montenegro — wie es Staatssekretär von Jagow neulich nannte — die Welt
um eine Erfahrung bereichert, die vielleicht sogar den alten Ben Allda, wenn
er es hätte erleben können, einen Augenblick in seiner bewährten Weisheit
stutzig gemacht hätte. Die Tagespresse hätte nicht das fein müssen, was sie
doch sein soll — der Spiegel der öffentlichen Meinung —, wenn sie nicht bei der
Nachricht von der Kapitulation von Skutari eine starke Aufregung bekundet hätte.
Ein unbefangener Zeitungsleser wird vielleicht in den Stimmen, die un¬
mittelbar nach dem Fall von Skutari laut wurden, vorwiegend den Ausdruck
der Überraschung erkannt haben. War es in der Tat eine Überraschung? In
gewissem Sinne allerdings! In der Diplomatie überwog vor dem Ereignis
anscheinend der Eindruck, daß die Hartnäckigkeit des Königs nitida — abgesehen
davon, daß sie wohl auch als Bluff wirken sollte — ihren Hauptgrund in der
Hoffnung auf die Nachgiebigkeit der russischen Politik hatte. Die Diplomatie
glaubte, daß ein ernstes Wort Rußlands seine Wirkung nicht verfehlen und
den König nitida veranlassen werde, Skutari, auch wenn er es genommen haben
sollte, zu räumen. Diese Erwartung ist freilich getäuscht worden, gründlicher —
auch das muß gesagt werden —, als es selbst die stärksten Skeptiker voraus¬
gesehen hatten. Montenegro ist Rußland mit derselben Respektlosigkeit gegen¬
übergetreten, wie den übrigen Großmächten, ja es hat, wenn man das historische
Verhältnis des kleinsten Slawenstaates zum größten in Betracht zieht, darin
sogar noch ein übriges getan, — etwa wie der unartige Junge, der von
Fremden über den Zaun hinüber zur Ordnung gerufen wird, sich gar nicht
darum kümmert, jedoch dem Herrn Lehrer gegenüber, der ihn beim Ohr kriegt,
noch mit dem Fuße aufstampft. In der Antwort, die Montenegro auf die
unerwartet scharfe Note Rußlands gab, lag eine Stimmung, die für ein ge¬
schärftes Ohr einen bedenklichen Anklang verriet an eine bekannte Szene aus
Götz von Berlichingen. Vor Jhro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer,
schuldigen Respekt, aber — —
Das hatte man in den Kreisen der europäischen Diplomatie doch nicht
ganz erwartet, und in sofern kann man wohl, wie gesagt, von Überraschung
sprechen. Wenn man aber darunter verstehen will, daß diese Möglichkeit bei
den gemeinsamen Verhandlungen der Großmächte nicht in Betracht gezogen
wurde, so ist das durchaus irrig. Die Großmächte haben, ehe die Blockade
gegen Montenegro beschlossen wurde, auch den Fall erörtert, daß das kleine
Königreich es bis zum äußersten kommen lassen und Skutari, nachdem es die
Festung allen Vorstellungen zum Trotz in seinen Besitz gebracht habe, nicht
wieder räumen wolle. Auch für diesen Fall hat Rußland sein Zusammenwirken
und den Großmächten ausdrücklich zugesagt.
Mißtrauische Leute — und ein solches Mißtrauen ist ja in derartigen
Fragen sehr gerechtfertigt — werden sich trotzdem nicht ohne weiteres über¬
zeugen lassen, daß darin ein beruhigendes Moment liegt. In der hohen
Politik heißt es sehr oft — mit einer etwas anderen Nutzanwendung, als dem
ursprünglichen Sinn des bekannten Schillerworts entspricht —:
Ein andres Antlitz, eh' sie geschehn,
Ein andres zeigt die vollbrachte Tat.
Was als Möglichkeit die Einigkeit nicht zu stören brauchte, kann sie als
Tatsache sprengen. In dem vorliegenden Falle könnte als Begründung des
Mißtrauens die Vermutung angeführt werden, daß Montenegro doch wohl über¬
zeugt sein müsse, Rußland werde es am letzten Ende doch nicht ganz im Stich
lassen, weil die starke panslawistische Strömung in Rußland sich stärker erweisen
werde als die jetzige Regierung des Zaren. Und man sieht sich in dieser Vermutung
bestärkt, weil man sich das Verhalten Montenegros sonst nicht recht erklären kann.
In Wahrheit liegt eine solche Erklärung näher, als den meisten Be¬
urteilen: in den Sinn zu kommen scheint, — vielleicht weil die meisten Menschen
sich angewöhnt haben, in politischen Dingen mehr das Komplizierte zu suchen
als das Einfache, und auch weil dabei gewisse schematische Vorstellungen mit¬
wirken. Es ist natürlich richtig, daß völkerrechtliche Rücksichten es notwendig
machen, Montenegro als europäischen Staat nicht anders zu behandeln wie
andere Länder, die völkerrechtlich in derselben Reihe stehen. Und da Monte¬
negro die Formen eines modernen Staates hat, mit den Spitzen seiner Ge¬
sellschaft in unsere Zivilisation hineinragt und durch Glauben und Sitten seiner
Bevölkerung jedenfalls der Barbarei entwachsen ist, so eilt die Vorstellung des
Mitteleuropäers leicht über die Kluft hinweg, die zwischen der Kultur dieses
Volkes und der unseligen gleichwohl noch immer besteht. Man vergißt über
dem Bilde eines Staates mit Königtum, Parlament und Ministerium leicht die
Wirklichkeit der sehr primitiven Zustände, die sich unter dem modernen Firnis
verbergen. Dieses Volk hat in seiner rauhen, kargen, von größerem Verkehr
fast abgeschlossenen Heimat Jahrhunderte hindurch seine Freiheit gegen eine
glaubensfremde Übermacht verteidigen müssen; ist es zu verwundern, daß es
ihm vollständig unverständlich bleibt, wie eine Anzahl von fremden Mächten
ihm verbieten wollen, etwas zu nehmen, worauf es nach vielen Opfern an Gut
und Blut ein Recht zu haben glaubt? Dieses ganze Getriebe diplomatischer
Rücksichten und Abmachungen liegt doch selbstverständlich ganz fernab von dem,
was den Gedankenkreis des montenegrinischen Bauern erfüllt. Das Wirtschafts¬
leben entfaltet sich erst ganz allmählich zu größerer Vielseitigkeit; noch sind die
Zustände nicht überwunden, in denen sich der Bauer weniger als Landwirt
wie als Held und Krieger fühlte, der die eigentliche Arbeit den Frauen über¬
läßt. Je geringer aber die Arbeitsamkeit war und je weniger sie der wirt¬
schaftlichen Entwicklung des Landes diente, desto mehr gedieh der selbstbewußte
Kriegerstolz, der auch der Fürstenwürde nur eine bedingte und persönliche
Autorität zuwies. Der König ist daher mehr als anderswo an die Rücksichten
gebunden, die ihm weniger durch die fortgeschrittenen Kreise seines Volkes als
durch die volkstümlichen Anschauungen sehr ursprünglicher Art auferlegt werden.
Er weiß, daß seine Stellung nur soweit gesichert und anerkannt ist, als er
diese besondere nationale Denkweise respektiert, die von alledem, was die Ge¬
wöhnung an entwickeltere internationale Beziehungen den anderen europäischen
Völkern geläufig macht, nichts weiß und nichts wissen will.
So steht also der Herr der Schwarzen Berge zwischen zwei Feuern, und
wenn er sich am Ende seiner Erwägungen entschlossen hat, lieber den Zorn von
ganz Europa als den seines Volkes auf sich zu nehmen, so muß man weiter
daran denken, daß auch der anscheinende Heroismus, der in dieser Entscheidung
liegt, bei näherer Betrachtung sich in ein verhältnismäßig nüchternes Rechen¬
exempel auflöst. Nicht im Sinne einer Parallele oder eines wirklichen Ver¬
gleiches — denn das würde eine schiefe Beurteilung und Übertreibung sein —,
wohl aber, um die allgemeine Auffassung der Lage in die richtige Bahn zu
lenken, mag daran erinnert sein, daß der Entschluß, sich pfänden zu lassen, für
den sehr erleichtert wird, der in der Lage ist. den Offenbarungseid zu leisten.
Es liegt eine bemerkenswerte Stärke darin, daß man nicht allzuviel zu ver¬
lieren hat. Kein anderer europäischer Staat könnte sich das leisten, was
Montenegro allenfalls wagen kann. Das Volk denkt noch kraftvoll und ur¬
sprünglich genug, um das, was die verzärtelten Kinder höherer Zivilisations¬
stufen am schwersten empfinden würden, nämlich die Blutopfer im engeren
Sinne, verhältnismäßig leicht und freudig zu tragen. Im übrigen aber weiß
der König, daß man seinem Lande nicht allzuviel Schaden antun kann und
wird. Es liegt im eigenen Interesse der Nachbarn Montenegros, daß man
dieseni zum größten Teil armen und rauhen Lande nicht zu viel zumutet, es
*
nicht der Hilfsquellen beraubt, deren Entwicklung allein es zu einem erträg¬
lichen Nachbarn machen kann. Also auch eine Exekution von Europa, die dem
trotzköpfigen Kleinstaat Skutari rin Gewalt entwindet, wird immer mit mög¬
lichster Glimpflichkeit verfahren müssen. Es ist nicht zu leugnen, daß man
einem in der Kultur weiter fortgeschrittenen Staat ob solcher Anschauungen
wohl mit vollem Recht den Vorwurf einer gehörigen Frivolität machen würde.
Aber der Psychologe wird zugeben, daß Gedankengänge, die im Nahmen eines
komplizierten Systems von Begriffen wohl frivol erscheinen können, bei einer
im ganzen urwüchsigeren und einfacheren Denkweise einen ganz anderen Cha¬
rakter annehmen, weil sie dieser Entwicklungsstufe natürlich sind. Es geht hier
ähnlich wie mit der natürlichen Derbheit des einfachen Menschen, die in gleicher
Gestalt bei einem verfeinerten Kulturmenschen Unsittlichkeit bedeuten würde.
Die Haltung Montenegros erklärt sich also zur Genüge aus sich selbst,
ohne daß man nötig hat, an geheime panslawistische Rückenstärkung zu glauben,
die vielleicht nicht ausgeschlossen ist, aber praktisch nicht so sehr ins Gewicht
fällt, wie das gemeinhin geglaubt wird. Nußland hat sich offiziell so sehr fest¬
gelegt, daß es auch inoffiziellen Gegenströmungen vorläufig die Hände gebunden
hat. Diese Bindung ist so stark, daß Kenner der russischen Politik, die sehr
wenig zu sanguinischen Urteilen geneigt sind und den Fanatismus und die
Unermüdlichkeit der panslawistischen Wühlarbeit keineswegs unterschätzen, doch
der Ansicht sind, auch ein etwaiger Sturz Ssasonows könne augenblicklich nur
die Bedeutung einer an ihm persönlich wegen seiner Politik geübten Rache
haben; denn auch ein panslawistischer Nachfolger Ssasonows werde den Seinen
erklären müssen, daß Nußland ohne schwere Einbuße an seinem Prestige und
seinen Interessen aus der eingeschlagenen Bahn des Zusammengehens mit den
Großmächten vorläufig nicht hinauskomme.
Der öffentlichen Begründung, die Ssasonow am 10. April in seinem
bekannten Exposö der russischen Balkanpolitik gegeben hat, kann die Anerkennung
nicht vorenthalten werden, daß sie in besonders geschickter und überzeugender
Weise den Anschluß Rußlands an den Standpunkt der Großmächte nicht aus
allgemeinen Erwägungen über die europäische Politik, über Krieg und Frieden
und ähnliches begründet, sondern aus dem wohlverstandenen russischen Interesse
selbst. Dieser Nachweis, so wie er tatsächlich geführt wird, gibt dem russischen
Staatsmann die sichere Stellung, von der aus der überraschend scharfe Tadel
des montenegrinischen Verhaltens überhaupt erst möglich wird, weiter aber auch
die Berechtigung, für seine Politik ein Vertrauen von den anderen Großmächten
zu fordern, wie er es sonst bei den obwaltenden Schwierigkeiten der Lage wohl
nicht in dem Maße erlangt hätte. Die Täuschung dieses Vertrauens würde
Rußland — von allem Gefühlsmäßigen und Moralischen selbstverständlich ab¬
gesehen! — den Vorwurf einer ganz zweckwidrigen, seinen eigenen Interessen
abträglichen Politik eintragen. Niemand — auch nicht die Verbündeten Ru߬
lands — würde verstehen, warum die russische Regierung die Notwendigkeit,
gerade im russischen Interesse unter Umständen auch den glaubens- und stamm¬
verwandten Balkanstaaten entgegenzutreten, mit so großer Geschicklichkeit und
Entschiedenheit nachgewiesen hat, wenn sie bei der ersten offenen Unbotmäßigkeit
eines solchen Staats sogleich wieder aus der Rolle fallen wollte. Der Grund
könnte doch nur sein, daß sie nachträglich doch noch den gefurchtsten Weltbrand
entzünden wollte. Dann würde sie aber erst recht den berechtigten Vorwurf
nicht nur der Panslawisten, sondern aller russischen Patrioten verdienen, daß sie
günstigere Augenblicke als den jetzigen habe vorübergehen lassen.
Auch noch anderes spricht gegen die Wahrscheinlichkeit, daß der montene¬
grinische Trotz allein die Vereinigung der Großmächte sprengen könnte. Da
müßte noch mancherlei dazwischen kommen, was sich jeder Berechnung und Vor¬
aussicht entzieht. Eine starke Garantie liegt in der Haltung Englands. Wenn
Sir Edward Gren während der ganzen Balkankrisis eine Politik verfolgt hat,
die — man soll sich nur nicht darüber täuschen — keineswegs von der ungeteilten
Zustimmung der Faktoren, mit denen er rechnen muß, getragen wird, so muß
er seine besonderen Gründe dafür haben. Engere Beziehungen zu Rußland und
Frankreich sind für die englische Weltpolitik sehr bequem. Die Triple-Entente
konnte aber lange Jahre nur als Gegengewicht oder — wenn man will —
Gegensatz gegen den Dreibund gehalten werden. Dieses Schema der europäischen
Gruppierung bewährte sich, solange die einzige Frage nicht in den Vordergrund
trat, bei der der natürliche Verlauf der Dinge immer dahin führen muß, daß
die Interessen Englands und Rußlands kollidieren, wenn nicht rechtzeitig für
eine künstliche Hemmung und Ableitung gesorgt wird. Diese Frage ist die
Balkanfrage. Der englischen Diplomatie ist es nicht gelungen, die Balkankrisis
zu verhüten. Es blieben ihr nur zwei Wege, um das Interesse Englands
dabei zu wahren. Der eine Weg war eine Politik, die in ihrem Verlauf
die Triple - Entente sprengen mußte. Der andere Weg bestand darin,
daß England in dieser Situation den bis dahin festgehaltenen Gegen¬
satz zwischen Triple - Entente und Dreibund entschlossen fallen ließ und
versuchte, die beiden Gruppen zu einer Einheit aä non zusammenzubringen.
Daß England diesen zweiten Weg vorziehen mußte, liegt auf d.r Hand. Aber
es liegt auch weiter in der Natur der Sache, daß es auf diesem Wege solange
bleiben muß, bis für die Zustände auf der Balkanhalbinsel eine einigermaßen
befriedigende Form gefunden worden ist. Sir Edward Grey hat sehr fest und
sehr schnell die Konsequenzen aus diesen Erwägungen gezogen und dem be¬
freundeten Frankreich mit sanfter Bestimmtheit die Zügel aus der Hand ge¬
nommen, als dieses sich anschickte, eine Orientpolitik der Triple-Entente contra
Dreibund unter freundlicher Mitwirkung der panslawistischen Presse Rußlands
in die Wege zu leiten. Dem geeigneten Vermittler in der Person des Herrn
Jswolski hatte man ja in Paris zur Hand.
Die weitere Entwicklung ist bekannt. Deutschland griff die Aktion Greys
in richtiger Erkenntnis der weiteren günstigen Folgen verständnisvoll auf; es
war noch die letzte Tat Kiderlens. Das sich nun anbahnende, vertrauensvollere
Verhältnis zwischen Deutschland und England diente nun auch der Politik
Ssasonows zur Stütze, und auch Frankreich hat sich dieser Politik anbequemt.
Ebenso bedeutet aber diese ganze Konstellation in Verbindung mit der bundes¬
treuen Haltung Deutschlands eine starke Rückendeckung für Österreich-Ungarn,
das auf diese Weise in den Stand gesetzt wird, seine Interessen auf friedlichem
Wege zu wahren. Und endlich hat auch die Haltung Italiens, das ja natürlich
das allergeringste Interesse daran hatte, die Einigkeit der Großmächte irgendwie
zu stören, sehr wesentlich dazu beigetragen, die österreichische Politik von dem
Odium zu entlasten, als ob sie den legitimen Interessen der Balkanstaaten allein
feindselig gegenüberstehe.
Wenn man von Frankreich absieht, das es wohl lieber gesehen hätte, wenn
es den Balkanstaaten stärkere Sympathiebeweise mit entsprechender Spitze gegen
Österreich und noch besser gegen Deutschland hätte geben können, so wird man
sagen müssen, daß alle Großmächte aus der Politik des Zusammenhaltens so
viele Vorteile gezogen haben, daß ein leichtfertiges Aufgeben dieses Nutzens nicht
wahrscheinlich ist. England hat die Gründe seines Festhaltens an dieser Politik
noch insofern unterstrichen, als es auf den Zusammenhang hingewiesen hat, der
zwischen der Festsetzung der Nordgrenze von Albanien — also auch der Ent¬
scheidung über Skutari — und der von den andern Balkanstaaten angenommenen
Vermittlung der Großmächte besteht. Damit wird sehr entschieden ausgesprochen,
daß es auch im Interesse der andern Valkanstaaten liegt, wenn Montenegro
zur Respektierung des Willens der Großmächte gezwungen wird. Frankreich ist
jetzt so sehr der Gefolgsmann Rußlands, daß eine Störung der Mächtepolitik
von ihm allein nicht zu befürchten ist. Der Dreibund hat also eine günstige
Stellung. Aus unserem günstigen Verhältnis zu England, das sich hoffentlich
auch ferner freundlich gestaltet, darf man freilich nicht zu weitgehende Folgerungen
ziehen. Sir Edward Grey wird in mancher Beziehung noch einen schweren
Stand haben, und es würde ihm seine jetzige Politik noch mehr erschwert werden,
wenn sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland ungünstig ge¬
stalten sollten. Das moderne England ist sehr empfindlich gegen jeden, auch
nur leise geargwöhnten Versuch, es Frankreich gegenüber in Verlegenheit zu
bringen. Die deutsche Politik hat aber Frankreich gegenüber eine so ruhige
und besonnene Haltung beobachtet, daß von hier aus eine Störung wohl nicht
zu befürchten ist. So kennzeichnet sich die Lage zwar als eine solche, die noch
immer von Spannungen erfüllt ist, die aber die Hoffnung, ohne schwere Er¬
schütterungen doch noch zu einer Entspannung von einiger Dauer zu gelangen,
nicht verringert hat.
s ist erstaunlich, wie gering bisher, trotz des gewaltigen Umfangs
der Wagnerliteratur, die rein wissenschaftliche Arbeit geblieben ist,
welche fern dem Zank der Parteien, fern auch von Lob und Tadel,
dem tieferen Studium der einzelnen Schöpfungen dieses einzigartigen
Genius gewidmet worden ist. Dieser Mangel ist auch schuld
daran, daß über den Sinn und die Absicht der einzelnen Werke, über den
inneren Aufbau des Geistes, über seine Abhängigkeit und seine originale
Schöpferkraft, überhaupt über die wirkliche Stellung Wagners in der Kultur¬
entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts noch keine Klarheit herrscht. Die
einen fassen ihn auf als den letzten Vertreter einer, wie sie meinen, ihrem
Wesen nach unproduktiven Romantik, andere als einen getreuen Schüler erst
Feuerbachs, dann Schopenhauers, der nur auf des Meisters Worte schwört,
wieder andere als einen isolierten, über alle Einflüsse erhabenen Propheten,
der nicht Lehrer gehabt hat, nicht Schüler, nur Verehrer haben kann. Es ist
wirklich an der Zeit, auch Wagners Werken eine geschichtliche und analysierende
Betrachtung angedeihen zu lassen, und den Versuch zu wagen, ihn einzureihen
mit seinem Werden und Wesen, mit seinen Zielen und Taten in den großen
Zusammenhang des modernen deutschen Geisteslebens. Er sollte nicht zurück¬
stehen hinter seinem Antipoden Hebbel, für dessen Verständnis gerade in den
letzten Jahren der Grund gelegt worden ist.
Wenn ich mit dem Parsifal beginne, so liegt das daran, daß mir gerade
dieses Drama am wenigsten verstanden zu sein scheint, obwohl der bedeutungs¬
volle Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche, der jedem bekannt ist, gerade
von der Deutung dieses Dramas seinen Ausgang nahm, und obwohl
gerade hier die Probleme ganz klar zutage liegen. Jedem Leser des Parsifal
drängen sich ganz von selbst zwei Fragen mit aller Macht auf. Die erste
betrifft das Wesen der Parstfalgestalt selbst, das durch die Worte: „Durch
Mitleid wissend, der reine Tor" scharf gezeichnet wird. Wie kann man „durch
Mitleid" „wissend" werden? — Das ist hier das handgreifliche Problem, das
ohne jede mystische Umschreibung rein begrifflich gelöst werden muß, denn die
Ausdrücke sind eben offenbar auch begrifflich bestimmt mit völlig bewußter
Absicht gewählt. Die zweite Frage betrifft das Wesen Kundrns. Dies sonder¬
bare Weib, das in zwei getrennten Welten ein wunderbar erscheinendes Doppel¬
leben führt, dessen Aufgaben geradezu widerspruchsvoll anmuten, fordert laut
eine Erklärung, die uns die künstlerische Einheit dieser Gestalt verstehen lehrt,
die so sicher und kühn gezeichnet ist, die als eine wirklich organisch-einheitliche
Schöpfung, als ein Individuum aus einem Gusse, vor uns steht. Diese Er¬
klärung ist auch deswegen so wichtig, weil es von selbst einleuchtet, daß nur
durch das wirkliche Verständnis dieses weiblichen — Mephistopheles, das Wesen
des Dramas erschlossen werden kann, dessen Wendepunkt der Kuß der Kundry
bedeutet. Erst durch die Beantwortung dieser beiden zunüchstliegenden Fragen
dürfte der Weg gehauen werden zur Gralsburg, zu Klingsors Zauberschloß
und zur Eroberung des Grals, ich meine, seiner geistigen Erschließung. Doch
wird sich die Behandlung all dieser Probleme so ineinanderschlingen, daß ein
volles Verständnis auch der zuerst behandelten Einzelheiten erst zum Schlüsse
erreicht sein wird.
Ein Wissen durch Mitleid lehrt Schopenhauer, und so wird uns ganz von
selbst der Weg gewiesen, der uns zum Verständnis führen soll. Die allgemeinen
Gedanken der Lehre Schopenhauers muß ich der Kürze halber als bekannt
voraussetzen. Die Welt, welche uns äußerlich umgibt, ist nur eine Scheinwelt,
zu deren wahrem Wesen durch Raum, Zeit und Kausalität der Einblick ver¬
schlossen ist. Hinter diesem „Schleier der Maja" verbirgt sich die „eine" wirk¬
liche Welt, das Ding an sich, das Schopenhauer als „Wille" erkennt. Dieser
Wille „erscheint" unserem Intellekt, in Raum und Zeit „objektiviert" in ver¬
schiedenen Stufen, als feste Natur, Pflanzenwelt. Tierwelt, Mensch. — Die
höchste Objektivationsstufe ist das Selbstbewußtsein im Menschen. Diese Er¬
kenntnis der Welt wird nun in ab8traeto gewonnen durch die Kantische Philo¬
sophie, deren richtige Deutung Schopenhauer vermittelt haben will. Der Wille
als Einheit der verschiedenen Objektivationsstufen ist „die Idee". Ideen er¬
kennen heißt also, die Einheit der Welt erfassen als Wille, also auch die
Identität des eigenen Wesens mit dem der Welt. Wer die Idee erkennt, dem
erscheinen alle Begebenheiten in Natur- und Menschenwelt als Ausdruck, als
Leben und Weben der „einen" Idee, des „einen" Urweltwillens. „In den
mannigfaltigen Gestalten des Menschenlebens und dem unaufhörlichen Wechsel
der Begebenheiten wird er als der Bleibende und Wesentliche nur die Idee
betrachten, in welcher der Wille zum Leben seine vollkommenste Objektivität hat,
und welche ihre verschiedenen Seiten zeigt in den Eigenschaften. Leidenschaften,
Irrtümern und Vorzügen des Menschengeschlechts —, welche alle zu tausend¬
fältigen Gestalten (Individuen) zusammenlaufend und gewinnend, fortwährend
die große und die kleine Weltgeschichte aufführen, wobei es an sich gleichviel
ist, ob was sie in Bewegung setzt. Nüsse oder Kronen sind". (Welt als W.
u. V. III Z 35). Diese Erkenntnis, die „nur das Wesentliche, die Idee" zu
ihrem Objekte hat, ist „die Betrachtungsart der Dinge unabhängig vom Satze
des Grundes, im Gegensatz der gerade diesem nachgehenden Betrachtung, welche
der Weg der Erfahrung und der Wissenschaft ist". Der Satz vom Grunde,
das ist der Schleier, den die echte Erkenntnis durchdringen muß. Die Wissen¬
schaften arbeiten innerhalb dieses Schleiers, sie kommen nur bis zu den Re¬
lationen der Dinge zueinander, ihr letztes Ziel ist „das Wo, das Wann, das
Warum und das Wozu an den Dingen". Die echte Erkenntnis sucht allein
das Was; sie erkennt also auch nicht mehr „einzelne" Dinge, sondern „die
ewige Form, die unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe". So
ist auch der Erkennende nicht mehr einzelnes Individuum; „denn das Indi¬
viduum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist reines,
willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis." Die Erkenntnisart,
die dies vollbringt, „ist die Kunst, das Werk des Genius". „Sie wiederholt
die — ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der
Welt, und je nachdem der Stoff ist, in welchem sie wiederholt, ist sie bildende
Kunst, Poesie oder Musik. Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntnis der Ideen;
ihr einziges Ziel Mitteilung dieser Erkenntnis." Der, dem diese Erkenntnis
gelingt, ist „der Genius, der seine ganze Individualität zu vergessen vermag,
d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen,
sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein
erkennendes Subjekt, klares Weltauge (welthellsichtig!) übrig zu bleiben."
Die Frage ist nun: Wie gelangt das Genie zu dieser Erkenntnis. Natürlich
nur durch Intuition. Doch wie kommt es zu dieser Intuition?
Der Wille als Ding an sich ist stets begleitet, oder besser bekleidet, von
der Welt, durch die hindurch er „erscheint". Der Gegenstand des Willens ist diese
Welt; und sein Wesen ist, daß er diese Welt will. Sonach ist „Wille" identisch
mit „Willen zu dieser Welt, wie sie ist" also mit Willen zum Leben. Der
Wille bejaht sich selbst. Solange aber der Wille diese Welt des Scheins, das
Leben, will, nimmt er es, wie es ist; er hat keinerlei Veranlassung, nach etwas
anderem hinter der Erscheinung zu suchen. Die Erkenntnis der Idee ist ihm
verschlossen. Da auch begriffliches Denken nicht zum Ziele führt, so kann es
nur geschehen durch „Kontemplation", durch Versenken in das Wesen der Welt.
Was aber wird durch dies Versenken erfaßt? Da das Wesen der Welt ein
Wollen, also ein Streben ist, so weckt es auch im Menschen, ist im Menschen
dies Streben, ein Gefühl der Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen. Das
Menschenleben ist nichts als abwechselndes Sehnen und Erreichen, Übersättigt¬
sein und neues Sehnen. Glück ist nur augenblickliche Befriedigung eines Sehnens,
aus der nur größeres Sehnen erwächst. Das hat Schopenhauer in den grellsten
Farben immer wieder gemalt. Sehnen und Nieerreichen — Sehnsuchtsschmerz,
Leid ist des Menschen, ist der ganzen Welt Los. Das ergibt sich aus dem
Wesen des Willens. Der Mensch kann diese Erkenntnis natürlich nur aus sich
selbst haben. Geht ihm auf. daß sein eigenes Wesen Leid ist, bitteres, unstill¬
bares Leid, so wird er, da er dann als Genie, in seinem Wesen das Wesen
der Welt erkennt, das Ziel des Erkennens erreicht haben, da „alles objektive
Dasein nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt". Nur im
eigenen Erlebnis kann also das Genie das Wesen der Welt erfassen. Aus
tiefem Erlebnis heraus muß ihm als höchste Intuition, das Wissen, ent¬
springen. Dieses Erlebnis ist kein Gedanke, sondern nur ein Gefühl, also das
Gefühl sür das Leid der Welt. Solches Gefühl für das Leid der Welt ist
aber nur das Mitleid. Klar entwickelt auch Schopenhauer diesen Gedanken in
F 67 der W. a, W. u. V.; deshalb glaube ich die wichtige Stelle ganz an¬
führen zu müssen: „Nunmehr aber habe ich, in Hinsicht auf das oben aus¬
gesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im
ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und
daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, einem Mangel,
einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweg-
genommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar
dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur
negativer Natur sind und nur das Ende eines Übels. Was daher auch Güte,
Liebe, Edelmut für andere tun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und
folglich ist, was sie bewegen kann zu guten Taten und Werken der Liebe,
immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen un¬
mittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergibt sich, daß
die reine Liebe («7°-^ Larita8) ihrer Natur nach Mitleid ist."
Geht also in einem Menschen das Mitleid auf, so erfaßt er dadurch sein
eigenes und der Welt wahrstes Wesen. Wie kann aber das Mitleid geweckt
werden, das tiefe, geniale, welthellstchtig machende Mitleid? — Der Wille
zum Leben tritt am stärksten in die Erscheinung, wenn er neues Leben schaffen
will, also im Zeugungstrieb. Wer in den Bann des Weibes fällt, bejaht mit
aller Kraft das Leben und entfernt sich dadurch auf das weiteste von der Er¬
kenntnis der Welt. Wer dagegen den Lockungen des stärksten Lebenstriebes
widersteht, dem Weibe trotzt, der verneint den Willen zum Leben auf das
deutlichste. Wird also das ahnungslose Genie durch das Weib angelockt, so
wird dadurch sein eigenstes Wesen auf die größte Probe gestellt. Versagt es in
diesem Augenblicke, so ist es ein gewöhnlicher Mensch, „ein Mensch wie alle",
ein Sünder wie alle. Im Moment dieser Versuchung entscheidet es sich, ob
es dem Wahn verfallen oder der höchsten Erkenntnis teilhaftig werden soll.
Im Kuß der Liebe muß die Intuition verborgen liegen. Früher sah der
Genius, einem Kinde gleich, stumpfen Auges in die Welt, sah das Leid und
verstand es nicht. Jetzt erkennt er das Leid der andern, dann sein eigenes
Leid und weiß, daß dieses Leid das Wesen der Welt ist, des Willens, den er
gerade verneint hat. Diese Erkenntnis ist rein d. h. „willenlos, schmerzlos,
zeitlos" wie das Subjekt der Erkenntnis. Er ist „durch Mitleid wissend der
reine Tor". Der Tor ist der Wille, also auch der Mensch als Wille, der
rein wird als reines Subjekt intuitiver Erkenntnis, „der Wille ist objektiv
betrachtet ein Tor".
Nachdem wir so ein klares Begriffssystem gewonnen haben, können wir
versuchen, es auf Wagners Werk selbst im einzelnen anzuwenden, wenn sich
auch das Vorhergehende ganz von selbst schon als eine Erklärung des Kern¬
punktes der Parsifalnatur dargestellt haben wird. So können wir hier zunächst
von der Gestalt der Kundry ausgehen. Das Auffallendste an ihrem Wesen
ist ihr Leben und Wirken in zwei getrennten Welten, bei Klingsor und bei
den Gralsrittern. In des bösen Zauberers Reich ist sie die „Urteufelin", also
die Ursache alles Bösen, aller Sünde; ihr Verhängnis, ihr „Fluch" ist das
„Sehnen", das Sehnen, „das nur durch Ungestilltsein erlischt" (Parstfalskizze
von 1865, Volksausgabe, L. XI. S. 409). Die Erfüllung vermehrt nur den
Sehnsuchtsschmerz — „daß der Trank nur deinen Durst vermehrt" (a. a. O.
S. 409). Wonach sich Kundry sehnt ist zunächst der Quell der Sehnsucht selbst,
ist schließlich die sinnliche Liebe Parsifals (K X. 361):
Hai Wahnsinn I
Mitleid I Mitleid mit mirl
Nur eine Stunde mein —
nur eine Stunde dein!
Das ist Kundrys Antwort auf Parsifals Worte:
O, Elend I Aller Rettung Fluch!
O. Weltenwahns Umnachten!
In höchsten Heiles heißer Sucht
nach der Verdammnis Quell zu schmachten.
Das Mitleid, das sie fordert, ist nicht das moralische, befreiende, welt¬
hellsichtig machende Mitleid, sondern das persönliche Bedauern mit dem Leiden¬
den, das dem Schmerz nur für den Augenblick Linderung zu verschaffen ver¬
mag. Aus dieser Linderung kann nur neuer Schmerz, neues Sehnen, entspringen.
Sonst sehnte sich Kundry nach
„Schlaf — Schlaf — tiefer Schlaf! — Tod!"
Dieser Schlaf und Tod wäre ihre Erlösung:
O, ewiger Schlaf
einziges Heil,
wie — wie dich gewinnen?
Daß Kundry Erlösung finden kann, sagt ihr schon Klingsor (eb. S. 348):
Ha! Wer dir trotzte, löste dich frei.
Und Parsifal (361) verheißt ihr:
Auch dir bin ich zum Heil gesandt,
bleibst du dem Sehnen abgewandt;
die Labung, die dein Leiden endet,
beut auch der Quell, aus dem eS fließt.
Ihre Erlösung ist sonach „Auflösung, gänzliches Erlöschen" (Skizze XI,
S. 404). Ist das alles nicht eine genaue Charakteristik des „Willens", von
dem wir oben gesprochen haben? des Willens, dessen Wesen ungestilltes Sehnen
ist, das Erfüllung nicht befriedigt, sondern mehrt, aus dem, als dem Urquell,
nichts anderes als Wollen, Sehnen, fließen kann. Wohl ersehnt der Wille
seinen Schlaf und Tod, seine Auflösung, sein gänzliches Erlöschen, er kann sich
aber nicht selbst erlösen, er muß einen Besieger finden, nur wer ihm trotzt, ihn
verneint, der hebt ihn auf. Er ist blind, dieser Wille, erkennt sein eigenes
Wesen nicht, liegt in „Weltenwahns Unmachten". Erst auf der vollen Höhe
des menschlichen Selbstbewußtseins, im Genie, kann er sein Wesen er¬
kennen, kann der erlösende Genius ihm erstehn, der ihm trotzt, indem er ihn
erkennt. Vorher sucht der dumme Wille Erlösung, indem er sein Wollen be¬
friedigt, nach Befriedigung und damit nach neuem Wollen „nach der Ver¬
dammnis Quelle" schmachtet. Hiermit stimmt offenbar auch der eine Teil der
Aufgabe Kundrys bei den Gralsrittern überein. „Sie hat nur den hastigen
Eifer, sofort auszuführen, was gewünscht oder befohlen wird. Sie wird deshalb
für stumpfsinnig, vernunftlos. wie tierisch, gehalten" (Parsifalskizze). Sie ist
Botin des individuellen Wollens, ohne Selbstbewußtsein, ist blindes, vernunft¬
loses Wollen, das töricht klagt und sich stets selbst bejaht, weil es das Wesen
seines Elends nicht erkennt. Auch das Wirken Kundrus im Dienste Klingsors
wird hierdurch völlig erklärt. Sie ist das Werkzeug zur Verführerin der Grals¬
ritter, die Lockung zur stärksten Lebensbejahung, zur Zeugung neuen Lebens.
Wer ihr verfällt, verfällt auch ihrem Fluch, dem endlosen Leid der ewigen
Sehnsucht, dem schmerzvollen Willen zum Leben. Bisher hat keiner ihr getrotzt,
keiner durch die Versuchung das Mitleid gelernt, keiner die Lockung zur Lebens¬
bejahung zurückgewiesen.
Meinen Fluch mit mir
Alle verfallen I (X, S. 343),
Selbst Amfortas war schwach.
Es ist klar, daß sie diese Verführung nicht gerne übt.
O Wedel Wedel
Erwacht ich darum?
Muß ich? — Muß?
Sie muß wirklich! denn:
Hai — Er ist schön, der Knabe I
Und als Parsifal sie zurückweist, da lodert die sinnliche Liebe, die höchste Lebens¬
bejahung, zunächst gewaltig in ihr auf. So wird das Wesen der Kundrv offenbar.
Sie ist der Wille selbst, der Wille zum Leben, der Wille als Lebenstrieb, der
Wille, der sich dem Leben zu seinem eigenen Fluch und Elend zugewendet hat
— Urteufelin.
Hiermit ist auch erschlossen, was im zweiten Akt zwischen Kundry und
Parsifal vor sich geht.
Parsifal, das Kind, lebte still und friedsam bei der Mutter. Im Kinde
schläft gewissermaßen noch das Wollen, der Intellekt herrscht vor. (W. als W.
u. Vorst., Bd. II Buch III Kap. 31 Schluß.) So ist dem Kinde mit dem Wollen
auch das Leid fern; es hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Genie. „Wirklich
ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein
Kind." Was das Genie durch das Mitleid lernt, hat das Kind auch — Freiheit
von den Sehnsuchtsqualen des Willens. Mit dem Eintritt in das Mannesalter
erwacht mit der Pubertät auch „die heftigste aller Begierden". Das „Genital¬
system" nennt Schopenhauer „den Brennpunkt des Willens". So tritt denn auch
Parsifal bald nach seinem Eintritt in die „Welt" das Weib als Lockung, Kundry,
entgegen; es lockt ihn in seiner stärksten Form der Wille zum Leben. Der
Liebe — erster Kuß soll den Knaben zum „Manne" machen, soll die willenlose,
glückliche Zeit enden. Doch Parsifal bleibt ein Kind, nicht physisch, denn er
sühlt der Liebe, der Sehnsucht Qual, aber geistig; er bleibt „keusch"
ganz anders als Amfortas. Er ist das oben geschilderte Genie, dem aus der
Lockung zur Lebensbejahung, aus dem Erwachen des Willens
Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir faßt und zwingt I —
die Erkenntnis aufgeht durch das Mitleid. Er ist nicht ein Mensch wie alle.
Mit rascher, klarer Intuition erfaßt er als Genie, daß die Qualen der Sehnsucht,
die ihm der erwachte Wille bereitet, dieselben Qualen sind, die er ohne sie zu
verstehen bei Amfortas sah. Er weiß jetzt, indem er sein eigenes Leiden dem
fremden „gleichsetzt", daß sein Leid nur Mit—leiden ist:
Die Wunde sah ich bluten,
nun blutet sie mir selbst.
Noch mehr: Das Wesen der ganzen Welt erkennt er in seinem Leide wieder.
Kundrys Kuß hat ihn „welthellsichtig" gemacht.
In dieser Erkenntnis liegt für Parsifal sofort die Aufgabe, der Welt ein
Erlöser zu werden. Da er nämlich nicht mehr als Individuum — es „hat sich
in solche Anschauung verloren" —, sondern als reines Subjekt dasteht, so ist das
Wesen der Welt, mit dem er sein eigenes Wesen als identisch erkannt hat, eben
auch von seinem eigensten Verhalten abhängig. Verneint er den Willen zur
Welt, so verneint er den Willen überhaupt, also besonders auch den
in Kundry verkörperten, den in Klingsors ganzem Zauberschloß geformten
Willen. Das geht klar aus Schopenhauer Z 34 W. als W. u. V.
(Schluß) hervor: „Wer nun besagtermaßen sich in die Anschauung der Natur
so weit vertieft und verloren hat, daß er nur noch als rein erkennendes
Subjekt da ist. wird aber dadurch unmittelbar inne, daß er als solches die
Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da
dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt! „deae omne8
ereaturae in totum eZo 8um, se praetsr ins aliuä eus non est." So
fühlt sich ganz naturgemäß Parsifal aller Welt zum Heil gesandt. „Erlösung,
Frevlerin, biet ich auch dir." Zu Amfortas bricht er unverzüglich auf. Und
die Welt des Scheins sinkt in Trümmer, der Schleier der Maja zerreißt; der
Wille zum Leben war ihr Wesen, das ist aufgehoben — und sie alle zerfallen,
zerstieben, Klingsor, die Blumenmädchen, das Zauberschloß, sie sind nicht mehr.
Nur Kundry lebt noch. Aus starrem Schlaf weckt sie Gurnemanz bei den
Gralsrittern wieder auf. Ihnen müssen wir uns also zur weiteren Aufklärung
zuwenden.
Der Erbe des Gralkönigtums ist Amfortas. Seinem Vater Titurel „neigten
sich in heilig ernster Nacht dereinst des Heilands sel'ge Boten" und brachten
ihm den Gral. „In hohen Alters Mühen" überließ er dem Sohne die Herr¬
schaft. Die Gralsritter sind die Brüder, die Reinen,
„die zu höchsten Wunderwerken,
des Grates heil'ge Wunderkräfte stärken."
Sie sind frei von Sünden. Amfortas klagt:
WehvolleS Erbe, dem ich verfallen,
ich, einziger Sünder unter allen!
Diese Sünde des Amfortas bestand darin, daß er der Kundry besiegt in die
Arme gesunken ist, daß auch er, auf den sie so sehr gehofft hatte, ihr nicht
trotzte.
Gefiel er dir Wohl, Amfortas, der Held,
den ich dir zur Wonne gesellt?
OI Jammer! Jammer!
Schwach auch Er!
So hat auch er in Weibes Armen den Willen zum Leben bejaht und
leidet nun an dieser Wunde alle Qualen des nie gestillten Sehnens, leidet allen
Schmerz der Welt, ohne jedoch mehr dabei zu empfinden als eben das Leid und
den Schmerz seiner Wunde. Dies Leid hat ihm nicht die Augen geöffnet, er erkennt
sein Leid nicht wie Parsifal als Mit—leiden. Deshalb sucht er es zu heilen mit
kleinen Mittelchen, sucht die äußeren Erscheinungen der Krankheit zu beseitigen,
ohne ihr Wesen erkannt zu haben, verlangt, genau wie Kundry, nach dem
physischen Tode, nach der Aufhebung des Individuums — und doch ist dies
das beste Zeichen für seine Mit—leidlosigkeit. Nicht dem Wesen, dem Willen
als solchem, kann es helfen, wenn ein Einzelner verschwindet. Der Tod ist keine
Erlösung, ist nur Verwandlung des Willens in andere Gestalt. Deshalb gibt
es nur kurze Linderung im Bade, keine Erlösung, deren Sinn er nicht versteht,
als sie ihm verkündet wird. Die Worte der Verheißung:
„Durch Mitleid wissend,
der reine Tor,
harre sein',
den ich erkor."
sind ihm leere Begriffe, Rätselworte, deren Deutung ihm fehlt. Auch Gurnemanz
und die Gralsritter sind nicht wissend. Auch ihnen fehlt das Mitleid, denn
sonst wären sie wissend. Sie sind zwar rein, aber doch nur deshalb, weil sie
bisher nicht in Klingsors und Kundrys Bereich gerieten. Sie haben Kundry
nicht getrotzt und würden ihr wohl auch nicht trotzen. Selbst Gurnemanz ist dieses
Weibes Wesen unbekannt, von Klingsor weiß er nur dunkle Kunde, auch er glaubt
an die Heilkraft der Palliativmittel; daß auch Kundry nach Erlösung schmachtet,
daß, wer Amfortas befreien will, erst auch dem Zauberweib das Heil gebracht
haben muß — das alles ahnt er nicht. So schlummert denn auch in den Grals¬
rittern, ähnlich wie es oben vom Kinde ausgeführt wurde, der Wille zum Leben; nur
in Amfortas wühlt er als zehrende Wunde. Auch in diesen: Reiche also ist Kundry
heimisch, wenn auch versteckt, als noch unbewußter, nicht recht erwachter Wille.
Sie „büßt" hier, sie „dient", sie lockt nicht und herrscht nicht. Hier lodert der
Wille zum Leben nicht hell auf — doch erloschen, erlöst ist er nicht. Da der
Wille so schwach, ist auch der Schmerz der Sehnsucht gering, die Gralsritter —
nicht Amfortas — sind verhältnismäßig ruhig, glücklich, wie die Kinder; und
es ist klar, daß Kundry sich nach diesem Reiche sehnt, weil sie hier schlafen kann,
weil das Sehnen hier nur still und ruhig brennt, nicht rasend sengt.
Wie anders ist es bei Klingsor. Er „zwingt" Kundry. Ihn beseelte die heftigste
Leidenschaft, der gierigste Lebenstrieb. In wildem Schmerz hat er nach Rettung
gesucht, nach Reinheit sich gesehnt. Den äußeren Anlaß seines Schmerzes hat
er zu heilen gesucht, der Wille blieb nur um so mächtiger zurück. Er ist das
lebendigste Leben selbst, er zaubert den lockenden Schein hervor, der die Mensch¬
heit umfängt, dem die Menschen verfallen; im tiefsten Grunde des Scheins lebt
und webt als das Wesen der Wille, lebt Kundry, die also dem Zauberer, der den
Schleier der Maja webt, folgen muß; denn in dem Scheine erscheint ja sie selbst, sie
ist sein Wesen, der Wille zum Leben ist das Wesen der Sinnenwelt; dieses Wesens
bedient sich der Schein, um alle Kreatur zu seiner Anerkennung zu verlocken.
So entspringt auch Klingsor aus dem Wesen des Willens, er steht dem Leben
um eine Stufe näher als Kundry. Er verschwindet mit seinem Schein, während
seine Sklavin noch am Leben bleibt. Damit ist denn auch Kundry frei, nun
„muß" sie nicht mehr, sie kann sich zurückziehen, als das pulsierende, verführende
Leben versunken ist in ihren zweiten Stand teilweiser Ruhe, halber Erlösung.
Fortan vegetiert sie nur mehr bei den Gralsrittern. Der Glanz der Scheinwelt
ist verglommen, als welthellsichtig Parsifal ihr Wesen durchschaute. Mit Klingsor
ist also ein Teil auch von Kundrys Gesamtwesen erloschen, doch nur der
äußere Teil.
Wie weit wir nun auch in dem Verständnis der Welt des Parsifal vor¬
gedrungen sind, wie restlos sich auch bisher die Probleme aufzulösen schienen,
wir sind noch nicht zu Ende. Noch haben wir nicht vom Gral gesprochen,
noch haben wir alle Stellen des Dramas, die auf den „Heiland" und sein
Leiden Bezug nehmen, beiseite gestellt, und doch ist ihre Bedeutung für das
Verständnis der Absichten Wagners nicht zu verkennen. Der Gral und der
Karfreitagszauber sind nicht minder als der Kuß der Kundry ein Herzstück des
Parsifal. Mit dieser Frage berühren wir auch Wagners Stellung zum Christen¬
tum, über die so viel geschrieben wurde, in ihrem tiefsten Kerne. Der Gral
und das Gralskönigtum, Kundry und Parsifal sind in enge Verbindung gebracht
mit dem leidenden Heiland. So erklingt im Vorspiel die Heilandsklage, der
Schmerz des göttlichen Erlösers der Menschheit, der sein Leid umsonst gelitten
hat, da der Mensch sein Beispiel nicht verstand. Hier ist Musik im Sinne
Wagners wirklich tönender Weltenwille! Kundry, der Menschen Wille, lachte
seiner, als sie ihm auf seinem Schmerzenswege begegnete, und Parsifal sagt nach
dem Kuß der Kundry:
Des Heilands Klage da vernahm ich,
die Klage, ach! die Klage
um das verratene Heiligtum! —
„erlöse, rette mich
aus schuldbefleckten Händen I"
Früher hatte er diese Klage nicht verstanden. Auch für des Heilands
Leiden hat ihm der Kuß das Herz erschlossen. Den Gral soll er aus schuld¬
befleckten Händen erlösen. Natürlich aus den Händen des Amfortas, des ganzen
bisherigen Gralskönigtums. Hier müssen wir bei Wagner selbst Aufklärung
suchen. Schon 1848 in den Nibelungen erscheint „der heilige Gral", gepflegt
im fernsten Indien „von einem urgöttlichen Priesterkönige" als Gegensatz zu
einer falschen Deutung einer verlorenen Gottesschau durch „die herrschsüchtigen
Priester" (K II S. 150). In Religion und Kunst legt dann Wagner dem
Leiden Jesu eine ganz auffallende Bedeutung unter. Er führt aus (S. 215):
Das Göttliche sei den Griechen, dem hellenischen Geist, ein spekulativer Begriff
geblieben — „bis von wunderbar begeisterten armen Leuten die unglaubliche
Kunde ausging, der „Sohn Gottes" habe, für die Erlösung der Welt aus
ihren Banden des Truges und der Sünde, sich am Kreuze geopfert. War das
größte Wunder der infolge jener Erscheinung eingetretenen Umkehr des Willens
zum Leben, welche alle Gläubigen an sich erfahren hatten, offenbar geworden,
so war das andere Wunder der Göttlichkeit des Heilsoerkünders in jenem bereits
mit inbegriffen. Hiermit war dann auch die Gestalt des Göttlichen in anthro-
vomorphistischer Weise von selbst gegeben: es war der zu qualvollen Leiden am
Kreuze ausgespannte Leib des höchsten Inbegriffs aller mitleidvollen Liebe selbst. Ein
unwiderstehlich zu wiederum höchsten? Mitleiden, zur Anbetung des Leidens
und zur Nachahmung durch Brechung alles selbstsüchtigen Willens hinreißendes
— Symbol? — nein: Bild, wirkliches Abbild." (Wahrtraumdeuterei!) . . .
„Jener Gott (der zornige und strafende) wurde durch die Kunst gerichtet: der
Jehova im feurigen Busche, selbst auch der weißbärtige, ehrwürdige Greis,
welcher etwa als Vater segnend auf seinen Sohn aus den Wolken Herabblicks,
wollte, auch von der meisterhaftesten Künstlerhand dargestellt, der gläubigen Seele
nicht viel sagen, während der leidende Gott am Kreuze, das .Haupt voll Blut und
Wunden', selbst in der rohesten künstlerischen Wiedergebung, noch jederzeit uns mit
schwärmerischer Regung erfüllt." Daß es Gott ist, der leidet, ist für Wagner
das kleinere Wunder, wenn das größere, die Verneinung des Willens, als
Tatsache besteht (S. 214 a. a. O.). „Das größte Wunder ist für den natür¬
lichen Menschen jedenfalls diese Umkehr des Willens." „Das, was diese Um¬
kehr bewirkt hat, muß notwendig weit über die Natur erhaben und von über¬
menschlicher Gewalt sein, da die Vereinigung mit ihm als das einzig Ersehnte
und zu Erstrebende gilt. Dieses andere nannte Jesus seinen Armen das
„Reich Gottes", im Gegensatze zu „dem Reiche der Welt". Also ist auch „das
Reich Gottes" das „einzig zu Erstrebende", der Zustand des aufgehobenen, um¬
gekehrten Willens. In Jesus „offenbart" sich die Verneinung der Welt als
ein um der Erlösung willen vorbildlich geopfertes Leben. Der Heiland erlöst
die Welt durch „Mit—leiden" (eb. S. 216), er hat den Willen „schon vor
seiner Geburt vollständig gebrochen," so daß nicht der Wille zum Leben, wie
oben geschildert, ihn gezeugt haben kann, sondern er unbefleckt empfangen sein
muß. Der Wille zum Leben hat gar keinen Teil an ihm (S. 216/217). So
erlöst Jesus die Welt vom Willen, erlöst den Willen selbst — wir stehen wieder
auf bekanntem Boden. — Doch die Erlösung hat der Menschheit nicht viel
geholfen. Jesu „Offenbarung" ist nicht rein geblieben. Es würde zu weit
führen, wollte ich auf die Gründe eingehen, die Wagner hierfür angibt. Nur
die allgemeine Tatsache möge er selbst ausführen (eb. S. 230): „Unter den
Ärmsten und von der Welt Abgelegensten erschien der Heiland, den Weg der
Erlösung nicht mehr durch Lehren, sondern durch das Beispiel zu weisen: sein
eigenes Blut und Fleisch gab er als letztes höchstes Sühneopfer für alles sünd¬
haft vergossene Blut und geschlachtete Fleisch dahin, und reichte dafür seinen
Jüngern Wein und Brot zum täglichen Mahle — .solches allein genießet zu
meinem Andenken/" Dieses das einzige Heiland des christlichen Glaubens: mit
seiner Pflege ist alle Lehre des Erlösers ausgeübt. Wie mit angstvoller Ge¬
wissensqual (Amfortas!) verfolgt diese Lehre die christliche Kirche (Gegensatz: das
Heidenland Klinqsors!), ohne daß diese sie je in ihrer Reinheit zur Befolgung
bringen könnte, trotzdem sie, sehr ernstlich erwogen, den allgemein faßlichen
Kern des Christentums bilden sollte. Sie wurde zu einer symbolischen Aktion,
von Priestern ausgeübt, umgewandelt, während ihr eigentlicher Sinn sich nur
in den zeitweilig verordneten Fasten ausspricht ..." So hat denn nach Wagners
Auffassung (auf seinen Vegetarianismus einzugehn, ist hier kein Raum) die Mensch¬
heit, die Kirche, den Sinn der Heilstat Jesu nicht verstanden. Jesu Leiden und
Blut ist da. Das von ihm eingesetzte Mahl — Wein und Brot — wird genossen,
doch wird die Absicht der Einsetzung nicht verstanden — Erlösung bringt es nicht.
Wohl spendet der Gral Wein und Brot, wohl erglüht in ihm des Heilands
Blut, doch stumpf stehen davor Amsortas und seine Ritter. Amfortas ist sogar
sündhaft, er hat das Leben bejaht, die von Jesu bewirkte „Umkehr des
Willens" zuschanden gemacht. Ihm ist sonach des Heilands Blut nur eine
Mahnung, nur Gewissens qual, er möchte das Amt, das er übernommen, nicht
erfüllen, da sein Herz ja dem Geiste dieses Amtes so fern als möglich ist, so¬
lange nicht des Sehnens Quelle gestillt, solange der Wille durch Umkehr, durch
Verneinung nicht erloschen ist. Doch kann er das Amt nicht abgeben, bis der
erscheint, der des Heilands Tat verstanden hat, der, wie der Heiland am Kreuze
lehrt, das Wesen der Welt als Leid, die ungeheure Tragik dieses Weltendaseins,
und „den Blick auf den Erlöser am Kreuze als letzte erhabene Zuflucht" (S. 247)
erfaßt, den Willen zum Leben, wie Jesus vor der Geburt, im Leben verneint
hat. Dieser wird dann den wahren Sinn des Grates, des Blutes und der
Speisung erkennen, und die Feier begehen im rechten Sinne, den Gral behüten
als Gefäß echter Erlösung. Bis heute klagt der wirkliche göttliche Erlöser, daß
sein Werk in „sündigen Händen" entweiht wird. Kundry hat ihn verlacht bei
seinem Todesgange. Der Wille der Menschheit hat ihn nicht verstanden, er
war des Mitleids noch nicht fähig. So muß dem göttlichen Erlöser selbst ein
Erlöser erstehen, der das göttliche Leiden mit—leidet, der in sich, und damit über¬
haupt im Menschen, den Willen zur Umkehr bringt, der Kundry das Weinen
lehrt; denn „das Weinen ist (demnach) Mitleid mit sich selbst oder das auf
seinen Ausgangspunkt zurückgeworfene Mitleid. Es ist daher durch Fähigkeit
zur Liebe und zum Mitleid — bedingt" (W. a. W. u. V. Z 67). Dieser
Mensch, der die Menschheit zum Verständnis und zum Genuß der göttlichen
Erlösertat hinaufführt, ist aber Parsifal. Er erkennt ja, wie oben gezeigt,
neben dem Wesen der Welt, auch die Klage des Heilands, auch den wahren
Sinn „des Heilsgefäßes". Er erlöst Kundry, der Menschheit Lebenswillen,
sie weint, sie wird also selbst des Mitleids fähig und dadurch aufgelöst. Sie
salbt ihrem Retter die Füße und trocknet sie mit ihren Haaren ab; so ist sie wahre
Dienerin geworden, und der Wille, der wirklich dient, hat auf eigenes Wollen ver¬
zichtet. Auch aus der Gralsritter Reich ist nun mit ihr der letzte Rest des Willens zum
Leben verschwunden, die „Regeneration" ist vollständig, die Erlösung durch den
Heiland ist nun erst wirklich vollbracht. Der Mensch, der der Erlösung teilhaftig
geworden ist, der das Trugwesen der Welt des Willens erkannt hat, dessen „rast¬
loser Wille sich von selbst befreit" fühlt, den beängstigt nichts mehr. „Rein
und ftiedensehnsüchtig ertönt uns dann nur die Klage der Natur, furchtlos,
hoffnungsvoll, allbeschwichtigend, welterlösend." Der Mensch erlöst auch die
Natur mit. Mit der erlösten Menschheit fühlt „alle Kreatur" die Wirkung
von „Gottes Liebesopfer". Sie ist ja eins mit dem Wesen des Menschen.
Das erfaßt nun nach dem Erscheinen Parsifals auch Gurnemanz, er versteht nun
selbst den holden Karfreitagszauber. Der Gralsritter ganzes Reich versinkt in seliges
Anschauen des Grals, dessen Wesen nun allen offenbar ist. Das Reich Gottes
auf Erden erstrahlt in ruhigem Glänze und alle singen, erlöst und wissend:
Höchsten Heiles Wunder
Erlösung dem Erlöser.
So wuchs uns denn das Ganze zu einer großen Einheit zusammen. Das
Christliche, der Heiland, das Gedächtnismahl, der Gral erwiesen sich als
„Symbole — nein Bilder — wirkliche Abbilder" der großen und tiefen Ge¬
danken, die dem Genius auf dem Boden der Schopenhauerschen Philosophie
erwachsen waren. Es zeigte sich keine Lücke, kein Zwiespalt, nicht im Parstfal,
nicht zwischen Parstfal und dem früheren Schaffen und Denken Wagners, wohl
eine Entwicklung, eine selbständige Weiterbildung. Das Christliche entspringt nicht
einer Bekehrung, einem Abfall von Schopenhauer, sondern einer ganz originellen,
genialen Vertiefung derLehre des Meisters, einer überraschendenDeutung desLeidens
des Heilands, die ihm den Pessimismus Schopenhauers in neuem Lichte zeigte.
Wagner ist sich wohl bewußt, daß seine „Regenerationslehre", sein sogenannter
Optimismus, durchaus Schopenhauer entspricht (S. 257). „Diese Wege (der Um¬
kehr des mißleiteten Willens), welche sehr wohl zu einer Hoffnung führen können,
sind aber von unseren Philosophen in einem mit den erhabensten Religionen
übereinstimmenden Sinne klar und bestimmt gewiesen worden, und es ist nicht
seine Schuld, wenn ihn die richtige Darstellung der Welt, wie sie ihm einzig
vorlag, so ausschließlich beschäftigen mußte, daß er jene Wege wirklich aufzu¬
finden und zu betreten uns selbst zu überlassen genötigt war; denn sie lassen
sich nicht wandeln als auf eigenen Füßen." Hier gibt Wagner seine Stellung
zu Schopenhauer so klar und deutlich selbst an, daß wir kein Wort hinzuzufügen
brauchen. Inwieweit er „auf eigenen Füßen steht" und inwieweit er abhängig
ist, das zeigt ja auch schon der letzte Teil unserer Darstellung. Ich sehe wirklich
nicht, weshalb man dies Verhältnis nicht mit dem Einfluß Kants aus Schiller
in Parallele setzen sollte; es müßte denn sein, daß man die Bedeutung der Kantischen
Philosophie sür Schillers Dichtung, den vielfach unbewußten Einfluß, weit unter¬
schätzt, wie das ja bisher wohl meist geschieht. Man glaubt recht törichterweise
damit der Genialität der Dichter Abbruch zu tun. Wie wenig muß man da
doch das Wesen künstlerischen Schaffens verstanden haben! Es ist nun einmal
deutscher Dichter und Künstler Art, daß ihre Werke aus dem tiefsten Schachte,
aus den verborgenen Tiefen ihrer Persönlichkeit hervorbrechen. So ist bei allen
Großen des deutschen Geistes Fühlen, Denken und Dichten eine letzte, sast
geheimnisvolle Einheit. In wundervoller Wechselwirkung entspringt ihnen aus
ihrem Schaffen die Einsicht in ihr Wesen und aus diesem Wesen das Wirken.
So entdeckte Schiller durch das Studium Kants die wesentlichen Pflichten seines
Dichterberufes und so wuchs auch seine Kunst zu stolzer Höhe empor, und als
er mit Kantischen Begriffen Goethe über sein innerstes Wesen aufgeklärt hatte,
da erblühte aufs herrlichste dessen Schöpferkraft. In diesem Sinne ist auch
Wagner, gleich Hebbel, ein echter deutscher Meister, eine große deutsche Persönlich¬
keit. Deutsches Denken ist auch bei ihm die Wurzel des Schaffens.
Auch über die Verwendung gerade der „christlichen" Symbole hat sich
Wagner völlig Rechenschaft gegeben. „Nun verlangt aber das Volk nach einer
sinnlichen realen Vorstellung der göttlichen Ewigkeit im affirmativen Sinne".
(X. 261.) Die Erfüllung dieses Verlangens kann — schon nach Schopenhauer —
nur die Kunst geben. „Das vollendete Gleichnis des edelsten Kunstwerkes dürfte
durch seine erdrückende Wirkung auf das Gemüt sehr deutlich uns das Urbild
(des vollkommenen Genügens, des wahren wünschenswerten Zustandes, also der
Erlösung) auffinden lassen, dessen .Irgendwo' notwendig nur in unserem —
Innern sich offenbaren müßte." Doch muß dazu der Kunst „die vollkommenste
sittliche Weltordnung" zugrunde liegen; „das Gleichnis des Göttlichen" aber
muß sie „der Lebensübung" selbst entnehmen, um „wahrhaft verständlich" und
damit wahrhaft wirksam zu werden. So besteht auch in betreff der christlichen
„Symbole" keinerlei Unklarheit, keinerlei Unebenheit bei Wagner. Als höchstes
Endziel schließlich aller echten Philosophie betrachtet er (eb. 260) „die Anerkennung
einer moralischen Bedeutung der Welt". Mit dieser klaren Formulierung wächst
Wagner hinaus über den banalen Gegensatz von Optimismus und Pessimismus,
eigentlich auch über die allgemeine Stimmung der Lehre Schopenhauers. Er
wird positiv aufbauend, menschheitfördernd im Sinne Hegels und Hebbels, im
Sinne I. G. Fichtes, wie er überhaupt der Lehre des deutschen Idealismus
ganz direkt viel mehr verdankt, als bisher auch nur geahnt wird. Sind diese
Einflüsse erst klar gelegt, so wird die Zeit vorüber sein, wo man Wagner als
unselbständigen Denker wird abtun können. Man wird ihn einreihen unter die
großen deutschen Geister auch unserer intellektuellen Kultur ebenso wie Schiller.
Dazu eine bescheidene Vorarbeit zu liefern, das war meine Absicht.
Zur Einführung in das Verständnis des Parsifal ist zunächst notwendig ein
genaues Studium der betreffenden Schriften R. Wagners selbst, insbesondere:
Daß dann eine genauere Kenntnis der Philosophie Schopenhauers uner¬
läßlich ist, lehrt mein Aufsatz wohl recht deutlich. Besonders wichtig ist:
Zu Schopenhauer wäre zu empfehlen:
Von Gesamtwerten über Wagner, die speziell auch Parsifal behandeln, sind
besonders zu erwähnen:
Speziell vom Parsifal aus gehen:
Mit Parsifal allein beschäftigen sich eine Reihe von Artikeln in den aller-
neuesten Heften der Preußischen Jahrbücher, die einen Überblick geben über den
bisherigen Stand des Problems.
Eigentlich unabhängig von dieser Kontroverse ist:
Die menschlich-ethische Gestalt des Parsifal ohne Einbeziehung der Meta¬
physik behandelte neuerdings:
Diese Verhältnisse, wie ich die Ehre gehabt dieselben soeben in tiefster
Ehrfurcht vorzutragen, sind natürlich der Aufmerksamkeit meiner Kollegen in
der Kommission nicht entgangen und nach den verschiedenen Interessen, welche
sie vertreten, auch näher ausgebeutet worden.
Was zunächst den türkischen Kommissär betrifft, so hat derselbe den
Charakter einer gewissen Unparteilichkeit, die er in der Wallachei wenigstens
nach außen hin zu zeigen gesucht hat, hier nicht festgehalten. Die Verhältnisse
sind, wenn man sich auf seinen Standpunkt versetzt, für ihn hier auch weit
schwieriger als in der Wallachei. Es ist jedenfalls hier, und nicht in der
Wallachei, wo man nach einem von der Pforte unstreitig mit Österreich und
Lord Stratford, ich will nicht sagen mit England, konzertiertem Plane, die
Intentionen für die Union mit dem fremden Fürsten zuschanden machen will.
Dazu hatte man den Vogorides ausersehen, der ein willenloses Instrument in
der Hand der Pforte ist. Safret Effendi konnte in der Wallachei sehr wohl
den Unparteiischen spielen, um desto parteiischer hier aufzutreten. Die plumpe
Weise, in der Vogorides seine Rolle hier gespielt, hat indes Safret Effendi in
die unangenehme Alternative gebracht, entweder jenen zu desavouieren oder,
indem er ihn soutenierte. in denselben Fehler zu fallen. Er hat die letztere
Alternative gewählt. Als ich ihm merken ließ, daß ich wüßte, wie er hier
überall gedroht, die Erklärung für die Union mit ihren Konsequenzen werde
eine fremde Okkupation herbeiführen, da sie die Suzeränitätsrechte der Pforte
verletze, von welcher sie demnächst als Kolonie angesehen werden könnte, ent¬
schuldigte er sich in sehr naiver Weise damit, daß er sich nur gegen den Klerus,
insonderheit die Bischöfe, so ausgesprochen habe; diesen gegenüber aber könne
die von ihni bemerkte Eventualität nicht als eine Drohung ausgelegt werden,
da der Klerus, möge eine Okkupation stattfinden oder nicht, seine Einkünfte
doch ungeschmälert fortbeziehen würde. Eine Drohung wäre es aber nur ge¬
wesen, wenn er sich in ähnlicher Weise gegen die Grundbesitzer geäußert hätte.
Meinen Versuch, ihn auf die christliche Beurteilung der Sache hinzulenken,
wonach den Führer der Herde jedes Unglück der Herde antrifft, und es mit¬
empfindet, beantwortete er mit den Worten: mon euer coIIöMe, vous ne
L<znnais8e? pas le clerZe ^rec. — Ich führe dies Gespräch nur allerunter-
tänigst an, weil es zugleich die mala 5las8 des türkischen Kommissars ins
Licht stellt.
Anlangend demnächst den österreichischen Kommissär, so habe ich zunächst
bemerkt, daß derselbe seit Erstattung meines letzten alleruntertänigsten Berichts
sich bemüht hat, aus der Reserve herauszutreten, die er bis dahin gegen mich
beobachtet hat, und die er meinem französischen, russischen und sardinischen
Kollegen gegenüber noch jetzt festhält. Herr von Liebmann hat mir sehr viel
von seiner Privatansicht gesprochen; er hat mir gesagt, daß, wenn man ledig¬
lich vom Gesichtspunkte der Prosperität der Fürstentümer ausgehe, keine Frage
darüber sein könne, daß die Union unter einem fremden Erbfürsten die einzige
angemessene Lösung sei. Allein so liege die Sache leider nicht; es seien andere
Interessen im Spiel, Interessen der Pforte, Interessen Österreichs, vielleicht auch
Interessen anderer Staaten, denen zufolge jene Rücksicht für die Prosperität
der Fürstentümer nicht allein maßgebend sei, und somit in den Hintergrund
träte. Ist es edel und gewissenhaft — hat er mich gefragt — diese einmal
obwaltenden Verhältnisse, die ihr Gewicht bei jedem Schritte geltend machen,
zu verkennen und den Fürstentümern mit Eventualitäten zu schmeicheln, die
außerhalb des Bereiches der politischen Möglichkeit liegen, oder ist es nicht viel¬
mehr redlicher und gewissenhafter, Hoffnungen zu unterdrücken und zu ersticken,
die doch nicht erfüllt werden können, und über deren Nichterfüllung alle Welt
einig ist? In dieser letzteren Beziehung habe ich ihn gefragt, wie er zu dieser
Voraussetzung komme, und er hat mir darauf erwidert, daß ich so gut wie er
wohl wissen würde, daß Frankreich den fremden Erbfürsten England zum Opfer
gebracht habe, wobei er sich auf die wiederholten Äußerungen des Mr. Thouvenel
in Konstantinopel und auf vertrauliche Andeutungen bezog, die ihm sein Hof
auf Grund von Nachrichten aus Paris gemacht habe. Sein Kaiser, so fügte
er hinzu, habe ihm bei der Abschiedsaudienz gesagt: „Gehen Sie mit Gerad¬
heit und Offenheit zu Werke und schmeicheln Sie nicht durch Intrigen der
Leidenschaften." Ich führe dies nur alleruntertänigst an, nicht weil ich die
Überzeugung hätte, daß eine solche Politik seitens der österreichischen Agenten
wirklich befolgt würde, sondern um die Sprache anzudeuten, mit der sie sich
gleichsam auf das moralische Pferd setzen. Ich habe vielmehr eine ganz ent¬
gegengesetzte Ansicht von der Sache und weiß aus direkten Mitteilungen des
hiesigen Polizeichefs, der mir aus meiner früheren Wirksamkeit bekannt ist, daß
ihn der österreichische Generalkonsul Göbel hat bewegen wollen, die hiesigen
Verhältnisse als so aufgeregte darzustellen, daß zur Erhaltung der Ruhe eine
fremde Okkupation, d. h. die Wiederkehr der österreichischen Truppen, dringend
erforderlich sei. Ich könnte noch andere Spezialien in diesem Sinne beibringen;
das Erwähnte dürfte indes vollkommen genügen, um darzutun, daß das Ver¬
fahren des Kaimakam und die jetzt minderzurückhaltenden Äußerungen Safret
Effendis in Herrn von Lietzmann einen wesentlichen Anhalt finden.
Was den französischen Kommissär anbetrifft, so ist seine Lage den soeben
alleruntertänigsten dargestellten Verhältnissen gegenüber eine äußerst schwierige.
Seine Regierung hat unstreitig die Union, und zwar die Union mit dem Hinter¬
gedanken mi den fremden Erbfürsten begünstigt. Sie hat, was man auch immer
sagen mag, diese Idee zuerst provoziert, und scheint sie jetzt im Stiche zu lassen
und England geopfert zu haben. Es ist nach meiner Meinung ganz unmög¬
lich, daß die französische Negierung sich darüber getäuscht haben sollte, daß die
Union unter einem einheimischen Fürsten möglich sei und gewünscht werden
kann, so gut wie ich, so gut wie Euer Königliche Majestät Gesandter und
Allerhöchstdero Konsulen in den Fürstentümern, ebensogut muß Baron Talley-
rand, der französische Ambassadeur in Konstantinopel Mr. Thouvenel, und
müssen die französischen Konsulen in den Fürstentümern gewußt haben, welches
hierüber die Ansichten der Moldauwallachen sind. Ihnen wie uns, und überhaupt
allen denen, die es haben hören wollen, ist tausendmal gesagt worden, daß die
Union mit einem einheimischen Fürsten nur die Fortsetzung im größeren Ma߬
stabe von allen den Übeln sein würde, die heute auf jedem der beiden Länder
einzeln genommen lasten. Es wäre diese Kombination die Intrige in Perma¬
nenz, und die Verewigung jenes Kampfes der Aspiranten zum Thron, der bis
jetzt jede Stabilität unmöglich gemacht hat. Ohne von der Vergangenheit der
Prätendenten, und dein persönlichen Werte derselben sprechen zu wollen, weiß
doch jedermann, der die Zustände in den Fürstentümern nur einigermaßen
kennt, daß es keine einzige Familie in den beiden Ländern gibt, welche
zum Thron gelangen könnte, ohne zugleich den Haß und Neid von
mindestens zehn anderen, gleich mächtigen, oder vielmehr mächtigeren zu wecken,
denn in dem Augenblick, wo der Begünstigte zur Regierung gelangt, ist er
schon in seinem Vermögen durch die Bestechung und die ungeheueren Ausgaben
geschwächt, die er in Konstantinopel hat aufwenden müssen, um über seine
Konkurrenten zu siegen; er muß seine Macht mißbrauchen, um sich Geld zu
schaffen und damit seine Gegner in Schach halten zu können, aber indem er
dieses tut, verliert er den moralischen Kredit, und so schwebt ein solcher Fürst
immer in der Alternative entweder dem Mangel, oder seinen eigenen Mi߬
bräuchen zum Opfer zu fallen. Es ist in der Türkei in neuerer Zeit in dieser
Hinsicht nicht anders geworden als früher. Im Nachlasse des verstorbenen
Kaimakams Batsch haben sich die Papiere über die ungeheueren Summen
gefunden, die er im vorigen Jahre für die Erlangung der Kaimakamie in Kon¬
stantinopel hat verausgaben müssen. Dank dieser Instabilität haben in weniger
als zwanzig Jahren in beiden Fürstentümern schon mehr als fünf verschiedene
Familien geherrscht. Eine solche Veränderlichkeit in der Macht hat die Ambition
und die Zahl der Prätendenten vermehrt und ihre Hoffnungen gesteigert.
Schon jetzt, wo die Hoffnungen auf den fremden Fürsten, bei der Wendung,
die in Frankreich eingetreten ist, im Abnehmen sind, strömen die Konkurrenten
zu diesen Stellen, die Bibesko, Sturdza usw. — Euer Königliche
Majestät verzeihen mir allergnädigst den Ausdruck — wie die Raben, welche
den verwesenden Körper wittern, von allen Seiten herbei, und wer etwas
von dem inneren Treiben derselben weiß, der weiß auch, daß der Krieg
um den in Aussicht stehenden Preis mit allen Mitteln, welche die Korruption
an die Hand gibt, bereits begonnen und schon Millionen in Bewegung gesetzt hat.
Welcher irgend vernünftige Mensch von einiger Billigkeit kann von den
Moldauwallachen erwarten, daß sie in einem solchen Zustand der Korruption
und der sozialen Auflösung, wenn sie ihn sanktioniert aus den Händen der
Mächte erhalten, irgendeine Befriedigung und eine Gewährung der Ansprüche
finden werden, mit denen man ihnen geschmeichelt hat, indem man sie berief,
ihre Wünsche auszusprechen, die bereits abgeurteilt sind, ehe man sie noch gehört hat.
Hier in den Fürstentümern ist jedermann — und selbst die Prätendenten
sind es — von der Überzeugung durchdrungen, daß, wenn die Frage des
freniden Fürsten fällt, alles fällt, und alle Organisation damit ihren Halt und
ihre Stütze verliert, und lediglich auf dem Papiere verbleibt; jedermann ist
überzeugt, daß ein Reglement auf dieser Basis in seinen Konsequenzen der
fremden Okkupation, welche daraus notwendig resultieren muß, ganz gleich¬
kommt, und das alles so bleibt, wie bisher.
Der moralische Kredit der Kommission, welche die Großmächte hierher
gesendet haben, hat damit ein Ende, und der moralische Kredit Frankreichs
ganz besonders, welches die Union gepredigt hat und sie jetzt im Stiche läßt.
Unter dem Gewicht dieser Betrachtung mag sich Baron Talleurand gefunden
haben, als er, um mich der eigenen Worte der an ihn gelangten und von ihm
mir gezeigten Depesche des Grafen Walewski zu bedienen, kürzlich die Order erhielt:
Os 8'abstenii- ä'enLouraMr Je8 laves 5avorable8 an ?nuce ötranxer, und ich
glaube gut unterrichtet zu sein, wenn ich alleruntertänigst bemerke, daß er diesen
Eindruck seiner Regierung nicht verhehlt, und die Konsequenzen dieser Wendung
ebenso wie ich dargestellt haben wird. Baron Talleyrand wird unter anderem
zugefügt haben, daß die gesamte nationale Partei in den Fürstentümern, der
mächtige Klerus an der Spitze, schon jetzt ihre Augen nach Rußland gewandt
hat, und in Sack und Asche trauernd, über die zeitweise Untreue gegen den
mächtigen rechtgläubigen Beschützer, ihren einzigen wahren Protektor, nur noch
von ihm allein Schutz und Beistand erwartet. Das Protektorat Rußlands wird
dadurch faktisch retabliert. Dieses Protektorat wird Rußlands Einfluß und Macht
in diesen Ländern und durch dieselben im Orient größer machen, als sie es je
waren, und die Türkei wird die Folgen davon zuerst fühlen.
Gewiß ist es von feiten des englischen Kommissars berechnet gewesen, daß
er in Bukarest verbleiben, und nicht hierher gekommen ist.
Er würde — schon sein ganzer Charakter als Gentleman, als welchen er
sich während des ganzen Verlaufes unserer Beziehungen gezeigt hat, hätte ihn
dazu gezwungen — sich mit der Wirtschaft, wie sie die Pforte hier unter Vogo-
rides ins Werk gesetzt hat, nicht haben einverstanden erklären können; auf der
anderen Seite will die, wie mir scheint, ganz das eigene Interesse verdienende
Politik Lord Palmerstons die Unterdrückung der Unionfrage um jeden Preis,
und da jene Wirtschaft dazu dient, so mag Sir Henry Bulwer vorgezogen haben,
lieber gar keine Notiz von ihr zu nehmen.
Der russische Kommissär Mr. Basily ist vielleicht auch aus Absicht in
Bukarest zurückgeblieben, um die Kommissäre vorläufig den trotz des orientalischen
Kriegs noch immer überwiegenden Einfluß Rußlands, und daß alle Blicke des
hiesigen Landes doch nach Se. Petersburg gerichtet sind, empfinden zu lassen.
Und in der Tat haben wir diesen Einfluß empfunden, denn an vielen Orten
haben uns die Bojaren gesagt: wie dankbar würden wir der Kommission sein,
wenn sie uns auch nur den vierten Teil der Wohltaten in Wirklichkeit zuwenden
könnte, die wir Nußland verdanken, denn was wir Gutes besitzen, besitzen wir
lediglich durch seinen Kaiser. Er wird uns, wenn es andere nicht können, auch
von der Paschawirtschaft befreien, die gegenwärtig, und nach dem Frieden von
Paris, weit schwerer auf uns lastet, als je zuvor.
Was kann nun diesen Verhältnissen gegenüber die Aufgabe Preußens sein?
Es dürfte, wenn es nur erlaubt ist, meine Ansicht hierüber ehrfurchtsvoll
auszusprechen, zunächst darauf ankommen, sich zu vergewissern: ob Frankreich
in der Tat sich in Beziehung auf die Frage des fremden Fürsten England
gegenüber schon definitiv gebunden hat.
Baron Tallenrand wiederholt mir stets, daß er hierüber keine irgend posi¬
tive Äußerung besitze; die vorgedachten Instruktionen desselben lassen doch auf
irgendwelche mehr oder minder bindende Erklärung schließen. Wäre noch die
Möglichkeit vorhanden, Frankreich zu einer Wendung zu bestimmen, welche die
Frage des fremden Fürsten offen ließe, so scheint mir, daß unsererseits hierin
keine Zeit verloren werden dürfte, und daß dabei von allen den Gründen Ge¬
brauch gemacht werden könnte, die ich soeben alleruntertänigst angeführt habe.
Sind aber einmal bindende Erklärungen von Frankreich in dieser Richtung
erfolgt, so ist auch von den Arbeiten der Kommission irgendein ersprießliches
Resultat nicht mehr zu erwarten. Es dürfte dann nur darauf ankommen, das
Teilnahmerecht Preußens als Großmacht an den Verhandlungen selbst zu wahren,
im übrigen aber durch ein passives und zuwartendes Verhalten des Kommissars
ohne alle Aktion zu erkennen zu geben, und fühlen zu lassen, daß in den Augen
Ew. Königlichen Majestät die Angelegenheit ihre Wichtigkeit verloren und der
künftigen Organisation bereits im voraus ihre Spitze abgebrochen ist.
Der Königlich sardinische Kommissär teilt vollkommen meine Ansicht über
diesen Punkt; er wie ich glauben, daß uns durch die eingetretene Wendung und
den Befund der hiesigen Zustände, an denen sich die ganze Lage der Sache abspiegelt,
eine nur noch größere Reserve aufgelegt worden ist. Ew. Königlichen Majestät
wage ich es hiernach um Allerhöchstdero Verhaltungsbefehl hierüber allerunter¬
tänigst zu bitten.
Wis Giulio Avinelli den Zug der Flamländer und seiner Lands¬
leute an der Cleveschen Grenze verlassen hatte, ritt er trotz
mancher Warnung allem weiter. Nicht daß er so furchtlos ge¬
wesen wäre: der Vorsatz war zu mächtig in ihm und die Gründe
zu triftig; sein Diener aber war in Arnheim krank zurückgeblieben
und im Zuge war kein Mann entbehrlich. Während er in dem einsamen Tal
dem Flusse folgte, dachte er der Worte seines Vaters, preßte wohl die Hand
auf den Leib, wo er im Futter seines grauen rotgeschlitzten Reisewamses aus
geringem Tuch und Leder den Schuldschein verborgen hatte, oder seine Gedanken
flogen voraus und stellten sich den Empfang bei dem alten Murlacher vor:
das Töchterchen mußte wohl schon groß und mannbar sein.
Er war etwa zwei Stunden geritten und hatte kein Haus und keinen
Menschen gesehen, immer nur das Grün des Bodens und der Bäume, als ihn,
da er gerade durch eine Senkung kam, eine leichte Unruhe seines Pferdes sich
umzublicken bewog. Zu seiner Linken saß halb im Busch ein Mann in schlechter
Kleidung auf der Erde, der Brot schnitt. Das Gesicht, um das ein rauher
schwarzer Bart stand, sah nicht ohne Besorgnis nach dem Reiter, der die Hand
aus eine der großen Pistolen in der Satteltasche gelegt, herankam und dessen
Worte er nicht verstand. Aber er hatte wohl nicht viel zu verlieren und begriff
auch, daß er nur um den Weg gefragt wurde; und wie schlecht Avinelli den
Namen des schweizerischen Obersten aussprach, der Mann wies deutlich nach
Osten; doch schüttelte er den Kopf dazu und machte sonderbar heftige Geberden,
die der Italiener so wenig wie einer des andern Worte verstand.
Die Sonne begann sich zu neigen, als Avinelli in der Ferne Gebäude zu
sehen glaubte; er trieb sein Pferd zu rascherem Trabe an und hielt es plötzlich
zurück: er sah leere Fensterhöhlen, rauchgeschwärzte Mauern. Das Pferd
schnoberte den Brandgeruch und drängte fort; jenseits eines kleinen gelben Hügels,
der scharf an die Straße trat, die eine Biegung um ihn machte, war ein Schloß
gewesen: ein torloser Hof öffnete sich; halbe Mauern standen, aus geöffneten
ausgebrannten Zimmern mit geschwärzten Kalkwänden stieg der Rauch noch empor.
Ein Mensch war nirgends zu sehen, nicht einmal ein verlaufener Hund bellte.
Beklommen hielt er sein Pferd an und sah nach der Sonne: den ganzen
Weg zurück und den anderen nachjagen schien das klügste. Aber die Bewohner
konnten geflohen sein. Mit neugierigem Grauen zog er das Pferd in den leeren
Hof; es sträubte sich und trat rückwärts: da sah er im Schutt zu seinen Füßen
einen Toten liegen und drüben, jenseits des Mauerrestes, noch einen, und sein
Entsetzen wuchs und das des Tieres mit.
Er wollte rufen, ob noch irgend jemand da sei, und wagte die Stimme
nicht zu erheben. Es war ihm. als hätte er ein Geräusch gehört. Er riß
eine der Pistolen aus der Satteltasche und rief laut in seiner wohlklingenden
Sprache und Stimme. Eine leise Stimme über ihm rief etwas zurück; ein
ganz junges weißgekleidetes Mädchen mit offenem blonden Haar, das Gesicht
fast so weiß wie ihr Kleid, stand an dem Mauerabgrund. Da zog er den
Hut bis zur Erde und rief empor und sie antwortete, aber sie verstanden ein¬
ander nicht; sie kam herab und winkte und wies ihm durch halbzerstörte Gänge
und über eine Treppe den Weg zu einem fast leeren Zimmer, in dem ein alter
weißhaariger und weißbärtiger Mann schlecht genug auf die Erde gebettet dalag;
sein Wams war geöffnet, nasse blutige Tücher deckten die Brust bis zum Kinn.
An den Anstrengungen und Zeichen, die der Verwundete machte, erkannte er,
daß der Mann durch den Hals geschossen war und nicht sprechen konnte. Avi-
nelli erriet, wen er vor sich hatte. Bei seinem Namen schien der Sterbende
ein Wunder zu erleben: aus seinen Augen glühte eine schmerzvolle Freude;
gierig ließ er sich erzählen, aber die Ermattung kam schnell. Das blasse Kind,
das vor ihm kniete, legte zitternd frische Tücher auf seine furchtbare Wunde.
Giulio ging Wasser holen und brachte Brot und Wein aus seiner Manteltasche.
Das Pferd, das er angebunden hatte, führte er zum Brunnentrog und fand
auch einen Grasfleck, wo es weiden konnte.
Es war Nacht geworden, aber das Mondlicht sah durch die zerrissenen
Mauern; stumm kauerte das Mädchen auf der Erde, bis der Vater unruhig
ward; seine Augen suchten Avinelli und die zitternden Finger griffen nach seiner
Hand und waren nicht zufrieden, bis das Kind ihn verstand und er beider
Hände in der seinen hielt; beschwörend gingen die Blicke von ihr zu ihm.
Dann kam ein schweres Röcheln aus seiner Brust und ein Blutstrom brach aus
seinem Munde. Augen und Gesicht veränderten sich furchtbar, und als sie sich
endlich bebend entschlossen, ihn aufzuheben, sank er zurück und sie sahen, daß
es mit ihm zu Ende war.
Avinelli kniete nieder und betete; nach einer Weile nahm er die Weinende
bei der Hand, zog sie sanft von dem Toten fort und deckte sie, die in ihrem
dünnen Kleide auch vor Kälte zitterte, mit seinem Mantel zu. Dann ging er
hinab, zog das Pferd in eines der Gewölbe und setzte sich neben dem Tier aus
die Erde. Er war eingeschlummert, als er mit Verwunderung und nicht ohne
Schrecken seinen eigenen Namen rufen hörte; aber es war nur das Kind, dem
bange geworden war und das den Gefährten suchte. Er bettete sie neben sich
in dem Gewölbe und sie schliefen geschwisterlich bis zum Morgen nebeneinander.
Am andern Tage begruben sie den Toten, so gut sie konnten, und sagten
einander rin Zeichen, daß sie einmal wiederkehren und sein Grab bessern wollten.
Dann hob er die Leichte auf sein Pferd und führte es am Zügel, nährend sie
ihm die Richtung wies. In dem Wald, durch den sie kamen, sangen alle Vögel;
über das Gesicht des Mädchens liefen bald die Tränen und bald sah sie forschend
nach ihrem Begleiter. Eine gute Zeit schritt er schweigend neben ihr her, dann,
um sie auf tröftlichere Gedanken zu bringen, begann er ihr Worte seiner Sprache
vorzusagen, wies auf das Roß und nannte es „cavallo", nannte den Bach und
den Himmel, und zuletzt wies er auf sich und sagte „Giulio", und sie wieder¬
holte die weichen Laute; zur Antwort deutete sie mit dem Finger auf ihre Brust
und sagte „Florence"; und staunend bedeutete er ihr mit raschen Worten, daß
sie den Namen seiner Vaterstadt trüge; sie schien es zu wissen, denn sie nickte
ernst. Im Geplauder achteten sie zu wenig des Wegs, bis sie merkten, daß sie
ihn verloren hatten. Die Sonne brannte, als sie vor den Mauern eines Pfarr¬
gartens ankamen; große Hunde bellten, das Tor war fest verschlossen: sie fanden
nicht leicht Einlaß; dann aber, da er fand, daß sie Flüchtige und katholischen
Glaubens waren, nahm der Pfarrherr sie um so freundlicher auf.
Das müde Kind erquickte sich an einem reichen Tisch und gleich nach dem
Essen entschlief es. Indessen verständigte sich der Pfarrherr in lateinischer
Sprache mit seinem Gast, und als er genug erfahren, blickte er nicht ohne Be¬
sorgnis. Für den Toten versprach er eine Messe zu lesen, dann aber warnte
er den jungen Mann: die Versuchung der Jugend sei groß; das Mägdlein so
mit sich durch die Welt zu führen, brächte beiden Gefahr und in jedem Fall
Schaden für ihren Ruf; dagegen gäbe es noch manches unberührte Frauenstift
selbst in dieser bösesten aller Zeiten in der Nähe. Es wäre denn, daß er das
Vertrauen des Toten anders auffassen wollte: dann wäre die Gelegenheit zur
Hand. Avinelli versank in Schweigen; das alles hatte auch er bereits erwogen;
aber ein blutarmes Mädchen ohne Mitgift so unbedacht zum Weibe zu nehmen,
das lag dem Nachfahren alter Handelsgeschlechter fern; der Schein in seinem
Wams über die zwanzigtausend Pfund Silbers, die der Oberst seinem Vater
geschuldet hatte, war Verlust genug; und doch: sich von dem zarten femgliedrigen
Kinde zu trennen, das ihm mit solchem Vertrauen folgte, fiel ihm schwer; sie
legte die kleinen Finger so sicher in seine Hand; zweimal schon hatte er sie im
Arm gehalten, wenn er sie vom Pferde gehoben, und das feine Stimmlein,
mit dem sie „Giulio" zu sagen versuchte, klang ihm noch im Ohr — er hörte
es eben wieder, da sie schon mit etwas röteren Wangen auf der Gartenbank
im sommerlichen Schatten der Obstbäume erwachte. Er meinte immer noch Zeit
zu haben, ehe er sich entschloß.
Sie verbrachten die Nacht im Pfarrhof und zogen am anderen Morgen
weiter, nicht ohne daß er dem besorgten alten Geistlichen manches versprochen
hätte. Wieder saß Florence auf dem Rücken des grauen Rosses; Schweden
und Kaiserliche hatten längst alle Reit- und Tragtiere der Gegend requiriert:
ein zweites Tier hatte der Pfarrer nicht, aber Wegzehrung genug; und zwei
stämmige Knechte gaben ihnen bis zur Grenze das Geleit.
Sie waren wieder allein und schon lange auf holländischem Boden, auf
den er um ihrer beider Sicherheit willen zurückgekehrt war, als sie von Ferne
eine große Menschenmenge in der Ebene sahen. Neugierig kamen sie näher:
da sahen sie Reihen von Karossen und Gepäckwagen, mit vier und sechs Pferden
bespannt am Gehölze stehen, ebenso, von Knechten gehalten, ledige gesattelte
Rosse ohne Zahl; mitten im Felde aber standen gedrängt viele Menschen in
lautloser Stille, während eine ferne Stimme verhallend, unverständlich aus
ihrer Mitte tönte. Herren und Frauen waren köstlich gekleidet; Männer in
Waffen standen mit entblößten Häuptern, die Federhute in Händen; Fahnen
ragten, Schweizer mit bärtigen Gesichtern hielten mit der Hellebarde das
Sammetbarett in der Faust; jetzt scholl ein Glöckchen, alle auf der weiten
Wiese knieten nieder, und nun sahen sie auf einem Altar Kerzen brennen in
freier Luft, und den Priester in weißem goldgestickten Meßgewand, das Barett
auf dem Haupt, von den Offizianten rechts und links gestützt, die Monstranz
erheben; und die kleine Florence glitt vom Pferde und neben ihr kniete
Avinelli hin und sie bekreuzten sich schnell, und ihre Stimmen fielen in den Gesang
ein, der jetzt vom Walde her klang.
Aber ihr Gaul, allein gelassen, der sonst so geduldig stand, streckte sich
wiehernd und galoppierte quer über die weite Wiese auf die vielen anderen Pferde
zu. Dadurch entstand eine leichte Unruhe, und viele Köpfe wendeten sich herüber.
Die Messe war zu Ende, Giulio wollte nach dem Rosse sehen, aber
Florence kniete noch immer auf dem Boden, während inbrünstige Thränen über
ihre Wangen liefen. Und schon waren sie von vielen Fragenden umgeben,
Männern und Frauen, die französisch auf sie einsprachen. Zu Giulios Ver¬
wunderung stand Florence ihnen freudig Rede, als ein prächtig gekleideter
Knabe sich geschäftig durchdrängte, mit gezierten und anmaßenden Bewegungen
die Umstehenden zur Seite schob und den zwei jungen Pilgern ihm zu folgen
winkte. Alles drängte ihnen nach. Ein Gewirr von farbigen Seiden und
Mänteln, kühnen, lachenden, finsteren Gesichtern mit Kinn- und Schnurrbärten
unter Federhüten, langen Degen in bunten Bandolieren, Kanonenstiefeln mit
riesigen Sporen, war um sie, während drüben Trompeten bliesen, Stampfen der
Pferde, Schreien der Kutscher erscholl, da die Wagen am Gehölz sich wieder
in Bewegung setzten. Florence aber sah nur das zarte Gesicht der schönen
Frau mit den blonden Locken, die rechts und links unter dem breiten Hut
herabfielen, die tiefblauen spöttischen Augen, die sogleich ernst geworden waren,
da das Mädchen vor ihr stand. Auch Avinelli sah ihr Gesicht, als er sich aus
seiner tiefen Verbeugung aufrichtete, und ward betroffen. Er verstand kein
Wort, wenn er gleich ahnte, was Florence so unerschrocken erzählte. Er sah
die Dame sich zu ihren Begleitern wenden und etwas sagen, sah sie Florence
die Hand zum Kusse reichen und da ihr vergoldeter Wagen eben vorfuhr, mit
drei Damen und zwei Herren, die ihr beflissen halfen, auf den geräumigen
Seidenkissen Platz nehmen, Florence als siebente hineinwinken und davonfahren.
Jemand führte ihm sein Pferd zu; Leute fanden sich zu ihm, die ihn ver¬
standen, darunter ein Landsmann; er saß auf und schloß sich ihnen an; und
er erfuhr, daß eine Prinzessin des Hauses Frankreich sich zu ihrem Gatten nach
Münster begab, der dort die französische Krone bei den Friedensverhandlungen
vertrat. In Bredevoort, das hinter ihnen lag, hatten Magistrat und Bürger¬
schaft nicht zugeben wollen, daß sie in ihrem Hause die Messe lesen lasse: da
habe die Fürstin den Ketzern zum Trotz auf freiem Felde vor ihrer Stadt
einen Altar ausstellen und, wie er gesehen, unterm Himmel den wahren Gottes¬
dienst feiern lassen. Damit zog, der gesprochen hatte, seinen Degen und brachte
ein Hoch auf Anne von Bourbon aus; alle die Herren schlugen die Degen
aneinander und der Ruf brauste bis an die Spitze des Zuges und wieder zurück.
Avinelli redete wenig aber er dachte viel. In Stadtlahn, wo sie
nächtigten, hielten die Schweizer vor dem Hause der Herzogin ihn zurück; doch
ließ sie ihn am anderen Tage in Koesfeld, wo Mittagrast gehalten wurde,
selbst rufen und sprach gnädig mit ihm. Einen „Lavalier errantö" nannte
sie ihn, nicht Astolf habe schöneres erlebt, und sie freue sich, daß sie solch einem
Abenteuer statt in den Romanen in Wirklichkeit begegnet sei. Für das Mädchen,
dessen Vater einst unter ihrem Oheim gedient, werde sie sorgen. Florence, die
schwarz gekleidet, das Haar zu Locken gedreht und mit seidenen Schleifen ge¬
bunden, ganz verändert in ihrer Nähe stand, trat hervor und reichte ihm mit
scheuer Freude die Hand. „Du kannst ihn besser grüßen, mein Kind," sagte
die Herzogin, und noch viel scheuer bot sie ihm den Mund, den er küßte.
Dann trat sie blutrot zurück, und da alles lächelte, brachen Tränen aus ihren
Augen. Die Herzogin befragte Avinelli indessen, über seine eigene Person; ein
Herr, der ein himmelblaues Ordensband und einen weißen Stern mit einer
silbernen Taube auf der Brust trug, wollte wissen, wieso er gerade in jenem
guten Augenblicke eingetroffen sei? Avinelli dachte an den Schuldschein in
seinem Wams und antwortete nicht gleich. „Durch Gottes gnädige Fügung,
Monsieur," sagte die Herzogin für ihn. Da sie erfuhr, daß er von Beruf
Baumeister und ein Schüler des Cavaliere Bernini in Rom gewesen sei, sagte
sie ihm Arbeit und Empfehlungen in Paris zu, wenn er jetzt oder später mit
ihr dahingehen wollte; vorläufig könnte er sich als zu ihrem Hause gehörig
ansehen. Er dankte für ihre Güte und küßte den Saum ihres Kleides, aber
er sah nur ihre Schönheit und den Liebreiz, die ihn betäubten.
Von allen Seiten beglückwünscht und begönnert kam er wieder auf die
Straße hinaus. Allmählich ward sein Kopf kühl, aber die große Freude wich
uicht aus seiner Seele.
Am Tage darauf, vier Stunden nach Mittag näherten sie sich der Stadt
Münster. Die Kanonen donnerten von den Wällen; eine Schar kaiserlicher
Kürassiere mit klingendem Spiel und viel andere Musik kam ihnen entgegen;
ihre eigenen Trompeten schmetterten; ein langer Zug schwarzgelber Musketiere
rückte unter Trommelwirbel aus; der Bürgermeister mit einer Abordnung des
Rats, der Bischof mit vielen Herren des Kapitels, mehrere der Gesandten mit
großem Gefolge, vor allem die Frankreichs, kamen in Karossen, zu Fuß oder
beritten aus der Stadt. Die Verwirrung ward groß, und gerade dadurch kam
Avinelli dicht daneben zu stehen, als der Gemahl der Herzogin, ein steifer Herr
in schwarzem, mit blauer Seide geschlitzten Sammetkleide und breitem alt¬
modischem Spitzenkragen, aus seiner Karosse stieg und seine Frau begrüßte.
Er hatte große Tränensäcke unter den Augen, einen grauen Kinn- und Schnurr¬
bart und eine blonde Perücke. Über die alten Plätze und Giebelhäuser senkte
sich die Nacht, ehe der ganze Zug eingerückt und untergebracht war.
Als Avinelli am nächsten Morgen ans Fenster der Wirtsstube trat, in der
er mit vier anderen schlief, sah er unten in der Straße eine Schar von
Lakaien und Bewaffneten, die er an der Tracht sogleich als Landsleute erkannte.
In ihrer Mitte saß in reichgeschmückter Sänfte, deren Stäbe auf den Schultern
von vier in gelbe Seide gekleideten Trägern ruhten, ein Kardinal. Von oben
sah Avinelli das Purpurkleid und den breiten roten Hut mit den seidenen
Schnüren. Als er hinabeilte, war der Zug schon verschwunden, nur die
Schellen an den roten Netzen der Maultiere, auf denen Geistliche saßen, —
unbekannter Tiere, die von den Bürgersleuten angestaunt wurden, — klingelten
noch um die Ecke.
Noch am selben Tage beschaffte er auch für sich eine vornehmere Tracht.
Sie schneidern zu lassen, war nicht Zeit, aber er hatte in Münster bald einen
Laden gefunden, in dein mehr und niinder kostbare Beutestücke wiederverkauft
wurden, und kam ein anderer Mann in den Gasthof zurück, als der er aus¬
gegangen war: in seinem gestickten Wams, weiten Hosen mit seidenem Besatz,
mächtigen Becherstiefeln aus weichen: Leder mit roten Absätzen, einen Federhut
auf dem Kopf und einen langen französischen Stoßdegen an der Seite. Vor
ihm, damit er ihn in dem Getümmel auf den Straßen nicht aus den Augen
verliere, ging ein Bursche aus dem Laden, der ein Bündel mit seinen alten
Kleidern trug; und zu Hanse schnitt er, als niemand in der Stube war, den
Schein des alten Murlacher aus dem Futter und barg ihn in einem ledernen Beutel,
den er zu diesem Zweck erstanden hatte und unter den? Hemde trug.
So ausstaffiert stellte ihn der Abbate Pericliti vom Gefolge der Herzogin,
ein sehr entschiedener Mann mit mächtigem Leibe, der mehr wie ein Krieger als
wie ein Geistlicher aussah, demselben Kardinal, den er vorübertragen sehen und
der der päpstliche Nuntius war, vor. Auch dieser hatte zwei Worte und ein
Lächeln für ihn und als er wieder gehen wollte, hielt ihn ein geistlicher Sekretär
fest und notierte seinen Namen: der Herr Kardinal habe dem Kurfürsten zu
Köln am Rhein einen italienischen Baumeister zu schicken versprochen; gleichzeitig
sagte er ihm, daß er an der offenen Mittagstafel, die Se. Eminenz für alle
Landsleute in Münster hielt, stets geladen sei. (Schluß folgt)
or etwa zehn Jahren konnte man fast jede Woche in irgendeiner
Zeitschrift einen Aufsatz über Gobineau finden. Diese Arbeiten,
zumeist auf einen Ton hoher Bewunderung gestimmt, beschäftigten
sich hauptsächlich mit Gobineaus wissenschaftlichem (wenn auch
nicht am wissenschaftlichsten gearbeiteten) Hauptwerk, dem „Ver¬
such über die Ungleichheit der Menschenrassen", dessen Verdeutschung durch
Ludwig Schemann eben damals (1901) vollendet war*). Manche mag auch die
Lektüre von Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" zuerst
auf Gobineau aufmerksam gemacht haben, trotz der pietätlosen Art, in der
sich Chamberlain über seinen Vorgänger äußert. Damals erschien auch die erste,
höheren Ansprüchen freilich wenig genügende Biographie Gobineaus**) und bald
nachher die tiefdringende, geistreiche, zwischen Bewunderung und Abneigung
seltsam schwankende Studie des Franzosen Seilliere***), eines der ersten An¬
zeichen dafür, daß auch sein Heimatland dem Denker und Dichter, den es
lange völlig vergessen zu haben schien, wieder Beachtung zu schenken begann.
Was Naturen, die gern ihre eignen Wege gehen, zu Gobineau zog, war seine
heroisch-pessimistische Lebensauffassung. Die Gläubigen des neuen Evange¬
liums von der Arierherrlichkeit fanden in ihm ihren feurigsten Propheten; die
Verehrer Nietzsches, mit dem er sonst kaum etwas gemein hat, wurden von den
ausgeprägt aristokratischen Anschauungen des aller Gleichmacherei abgeneigten
Mannes angezogen. Jedoch neben dieser anscheinend beständig wachsenden Schar
von begeisterten Anhängern des Geschichtsphilosophen und Denkers gab es noch
eine zweite, vielleicht noch zahlreichere, doch weniger betriebsame Gemeinde,
der Gobineaus Name teuer war. Ihre Huldigung galt dem Dichter, und sie
Scharte sich um das Banner seiner „Renaissance". Dieses Werk, 1877 er-
schienen und von der Akademie mit dem Bordin-Preis ausgezeichnet, aber in
seiner Heimat so wenig gewürdigt, daß die erste Auflage erst nach 25 Jahren
vergriffen war, hat Ludwig Schemann durch seine Verdeutschung der Welt¬
literatur zurückgegeben; ohne ihn wäre es wahrscheinlich noch heute verschollen
und vergessen. Erst durch ihn sind die Landsleute des Dichters wieder auf
das Werk aufmerksam geworden, und während einige französische Kritiker sich
hartnäckig ablehnend verhielten, fanden andere vom ersten Range, wie der
Historiker Charles Sorel und der ausgezeichnete Literarhistoriker Edouard Schurö")
Worte der höchsten Anerkennung dafür, so daß eine zweite Auflage des Originals
erscheinen konnte. Erst als die „Renaissance" in Deutschland Tausende ent¬
zückt hatte, wurden auch andere Völker des Schatzes gewahr, und es erschien
eine magyarische Übersetzung von Professor Stephan Szökely und eine italienische
von G. Vannicola^). Zu den angelsächsischen Völkern scheint Gobineau noch
nicht gedrungen zu sein.
„Die Renaissance" ist bekanntlich weder ein Drama noch eine Serie von
Dramen, sondern eine Reihe „historischer Szenen", die, in fünf Abteilungen
gegliedert"^), aber sonst lose, ja willkürlich aneinander gereiht, von ihrem
Urheber selbst mit einem Freskogemälde verglichen worden sind. Sie sind zwar
nicht in allen Kleinigkeiten und Einzelheiten, um so mehr aber in allen wesent¬
lichen Zügen historisch getreuf); sie beleuchten sowohl die Haupt- und Staats¬
aktionen der Politik wie die geistigen Strömungen und das Volksleben und ver¬
wirklichen so die Absicht des Verfassers, la, mooHe als I'Ki8toire, das Mark
der Geschichte zu geben. Der gesamte Lebensgehalt der Hochrenaissance wird
in den großen Gegensatz von Politik und Kunst oder, anders gefaßt, von
Geistesfülle und Gemütsleere eingespannt, nicht ohne eine leise Verengung der
wirklichen Lebensfülle jener überschwenglich reichen Zeit, aber mit um so ein¬
dringlicherer Wucht. Im Innersten erschüttert, steht der Dichter vor der Größe
dieser wunderbaren und grauenvollen Welt, die er verurteilt, obschon er sie
bewundert — und wir teilen sein Gefühl.
Eine Reihe glänzend charakterisierter Persönlichkeiten prägen sich tief in
unsere Seele; keine tiefer als Michelangelo, der Einsame, der Heros des
Ganzen, der in gigantischer Größe, allein mit Machiavell, durch alle fünf Teile
hindurchschreitet.
Es gibt kein Geschichtswerk und keine Dichtung, die so ins innerste Leben
der italienischen Renaissance einführte, wie diese oft formlos gescholtenen sihlo-
rischen Szenen. Ihre Wirkung ist auch auf der Bühne erprobt worden. Der
bedeutende Wiener Schauspieler Ferdinand Gregor: hat neun Szenen als Fest-
spiel für eine vereinfachte Bühne eingerichtet*) und in Wien mit großem Er¬
folg spielen lassen; in Leipzig, Halle und Stuttgart ist der Versuch in Form
von Festaufführungen wiederholt worden.
Die deutsche Form der „Renaissance" hat schon eine lange Geschichte, der
soeben einige neue Kapitel zugefügt worden sind, und dies ist der ursprüngliche
Anlaß dieser Darlegungen. Schemann legte seine Übertragung zuerst (1892)
nur „dem kleinen intimen Leserkreis", der „Bayreuther Blätter", vor, „dem
immer das Verdienst bleiben wird, daß er zuerst Gobineau ein volles und
großes Verständnis entgegengebracht hat"; 1896 aber gab er sie der breitesten
Öffentlichkeit, indem er sie in Reclams Universalbibliothek**) neu erscheinen
ließ. Diese wohlfeile Ausgabe hat das Werk in Deutschland volkstümlich ge¬
macht, denn sie wurde bald in Tausenden von Exemplaren verbreitet. In vor¬
nehmeren! Gewände und auch textlich verbessert — doch sind die Berichti¬
gungen später alle auch in die Reclamsche Ausgabe übergegangen — erschien
es zuerst 1903 bei Karl I. Trübner in Straßburg, mit einer sehr feinsinnigen
Einleitung des Übersetzers (die mancher in der gleich zu nennenden Ausgabe
letzter Hand mit Bedauern vermissen wird). In dieser Form ist die „Renaissance"
als Geschenk der seit 1894 bestehenden Gobineau-Vereinigung, deren Gründer
und Leiter Ludwig Schemann ist, den Büchereien von Hunderten höherer
Schulen Deutschlands einverleibt worden. Das fünfte bis siebente Tausend davon
wurde 1908 gedruckt. Die letzte Gestalt des Schemannschen Textes liegt
nunmehr vor in der „Ausgabe letzter Hand""**); sie enthält die aus der Hand¬
schrift erstmalig übertragenen Originaleinleitungen Gobineaus, für die der
Trübnersche Verlag das alleinige Veröffentlichungsrecht besitzt. Daß diese Ein¬
leitungen den Wert des Ganzen wesentlich erhöhten, kann ich im Gegensatz zu
dem Übersetzer nicht finden, vielleicht, weil ich für dieses eigentümliche Gemisch
von Dithyrambus und Historie, feinster Einsichten und wunderlichster Irrtümer
keinen Sinn habe.
Seit kurzem ist das Übersetzungsrecht der „Renaissance" frei geworden,
und sogleich sind drei neue Übertragungen erschienen, eine von Ludwig Zollesf),
und eine von Adalbert Luntowskiff), die dritte von Hanns Floerke^ff). Alle drei
Ausgaben zeichnen sich vorteilhaft durch großen, klaren Druck (Antiqua) aus, un¬
vorteilhaft dagegen durch das Fehlen von Seitenüberschriften; infolgedessen findet
man sich in ihnen nicht zurecht. Sonst sind sie ganz verschieden. Die kostspielige Aus¬
gabe des Insel-Verlags erhält ihren eigentümlichen Wert durch den prachtvollen
Bilderschmuck. Nach zeitgenössischen Gemälden, Stichen und Zeichnungen, die zum
Teil nicht zu den bekanntesten gehören, sind die Hauptpersonen der „Renaissance" in
dreiundzwanzig ganzseitigen Porträts von vorzüglicher Ausführung dargestellt. Eine
kurze, aber recht wertvolle Ikonographie von Emil Schaeffer ist beigefügt. Keine
andere Ausgabe des Gobineauschen Werkes kann sich einer solchen Ausstattung
rühmen. Sie sei daher allen denen empfohlen, denen es auf den Bildnis¬
schmuck vor allem ankommt.
Den meisten wird aber der Text die Hauptsache sein. Bedurfte dieser einer
neuen Verdeutschung? Und sind die neuen Arbeiten gegenüber der alten wesent¬
liche Fortschritte? Um es gleich von vornherein zu sagen: ich muß beide
Fragen, wenn auch nicht ohne gewisse Einschränkungen, verneinen. Gewiß
war und ist Schemanns Übersetzung verbesserungsfähig. Aber wenn einer kein
genialer Übersetzer sein kann, in dem der Geist der Sprache selbst zum Ausdruck
kommt, so soll er vor allem ein gewissenhafter sein; und dessen kann sich Sche-
mann rühmen. Er hat immer und immer wieder mit dem Wortlaut gerungen
und hat überall einen lesbaren, häufig einen schönen deutschen Text geschaffen, der
dem Original so treulich folgt, wie es eine Übersetzung nur vermag. Daß er
dieses nicht verstanden habe, gehört zu den größten Seltenheiten Niemals läßt er
etwas aus. nie gestattet er Mes einen eigenmächtigen Zusatz. Greift er fehl, so
geschieht es durch zu enge Anlehnung an den Urtext. Im „Savonarola" ist dies
häufiger der Fall als später. „Blutdürstig" (ZanZuinairos) können Notwendig¬
keiten im Deutschen wohl nicht sein, „mörderische" (Luntowski und Floerke) scheint
mir besser und ebenso getreu. „I^a rouZeur an front" heißt „Die Röte auf
der Stirn" (sah.), gewiß; aber im Deutschen klingt das zu matt: wir verlangen,
je nach dem Zusammenhang, Röte der Scham (so Zolles), oder Röte des Zorns,
wofür Luntowski wenig geschmackvoll „den roten Zorn" sagt. Infolge dieser zu
großen Treue finden sich bei Schemann zuweilen undeutsche Konstruktionen; er
wagt nicht, die Sätze zu zerschneiden, obschon doch schon Gobineaus französischer
Satzbau bisweilen recht umständlich ist, und wagt nicht, den Ausdruck so frei
zu gestalten, daß ein ganz reines Deutsch herauskommt"). Aber diese verunglückten
Stellen sind wenig zahlreich und werden reichlich aufgewogen durch die vertrauens¬
würdige Echtheit der übrigen Textgestaltung. Zolles hat bisweilen recht glückliche
Fassungen. Eine Sprachwidrigkeit wird ihm nicht leicht unterlaufen. Aber er
geht mit dem Wortlaut allzu frei um. Vielleicht schwebte ihm der kühne Plan
einer Nachdichtung vor, den Schemann für sich bescheiden ablehnt; aber dafür
hätte er sich viel liebevoller in seinen Dichter versenken müssen. Seine Neigung
zu hohlem Pathos, zu rhetorischen Schwung gibt Gobinecms Worten oft eine
ganz fremde, unechte Färbung; öfter finden sich geradezu freie Rhythmen, keines¬
wegs zum Vorteil des Ganzen. Auch vor gelegentlichen Weglassungen und Zusätzen,
für die keinerlei Grund vorlag, schreckt er nicht zurück. So ist seine Arbeit
originell auf Kosten der Treue.
Das ist diejenige Luntowskis nicht. Sie schließt sich sehr eng an die
Schemanns an; das Sonett vom Monte Pincio entnimmt sie ihr sogar, natürlich
mit Angabe des Übersetzers, wörtlich. Wo sie abweicht, geschieht es selten mit
Glück, bisweilen wird die Übertragung durch die Abweichung geradezu fehlerhaft*').
Textschwierigkeiten umgeht Luntowski durch sehr starke Vereinfachung, im
schlimmsten Fall, wie das oben angeführte Beispiel zeigt, sogar durch Weg¬
lassung der bösen Stelle, während er anderswo ohne Not eigenes Gut zufügt,
z. B. „Beim dritten Male hat mir eine unverschämte Bedientenseele in unver¬
schämtem Tone gesagt", während bei Gobineau einfach steht: Un valet in'a
an insolemment; oder das ganz überflüssige „Ihr habt mich nicht empfangen"
in derselben Szene. Mißverständnisse des Textes kommen hinzu. Wenn Julius
der Zweite in Bologna zu Michelangelo sagt: . . . „je voulaiZ t'^ voir
re8ter" so heißt das nicht „mein Wille war, dich hier zu sehen", sondern „ich
wollte, daß du in Rom bliebst"; ^ bezieht sich auf das unmittelbar vorher
genannte Kome, Da der Papst ihn nicht empfangen hat, konnte der Künstler
nicht sagen: „Ich bin gekommen und habe Ew. Heiligkeit um das nötige Geld
gebeten", sondern nur: um das nötige Geld zu erbitten. Für „Votre Lan-
dsee äaiAnera prenäre pitie ac ce pauvre Komme" ist „Ew. Heiligkeit
werde geruhen" usw. keine sinngemäße Übertragung; es muß heißen „wird"
oder „möge geruhen". Überhaupt fehlt es Luntowski für einen Berufsschrift¬
steller recht an Sprachgefühl. Er bevorzugt, auch in wenn-Sätzen, die unschöne
Umschreibung des Konjunktivs mit „würde". Er braucht das ganz undeutsche
Futurum statt des Präsens in „Wenn der Papst mich nötig haben wird". Er
wiederholt rasch hintereinander in störender Weise dasselbe Wort, selbst wenn
der Urtext das gar nicht nahe legt"). Kurz: wenn dies ein erster Wurf ohne
Vorbild wäre, so würde man kein Wort darüber verlieren; aber dem Anspruch,
daß diese Übersetzung diejenige Schemanns irgendwie überholte, muß mit aller
Entschiedenheit widersprochen werden, wenngleich sie natürlich auch ihre gelungenen
Stellen hat, zumal da sie ja eben auf sehr weiten Textstrecken in der Hauptsache
Schemann folgt. Aber wer eine wohlfeilere Renaissanceausgabe in gefälligerem
Gewände, wohlfeiler sogar als es die Reclamsche ist, zu besitzen wünscht, dem kann
nur zu der von Hanns Floerke geraten werden. Der Herausgeber, ein Münchener
Kunsthistoriker, hat vorher zahlreiche Werke der italienischen Renaissancezeit ver¬
deutscht. Seine Übertragung ist so treu wie möglich und so frei wie nötig;
eine Umdichtung zu schaffen hat auch er ausdrücklich abgelehnt. Seine Ab¬
weichungen von Schemann sind meist, wenn auch nicht immer glücklich. Daß
sie durchgreifend genug seien, um eine Neuübersetzung des ganzen Werkes zu
rechtfertigen, kann man bezweifeln, wird aber nicht umhin können, zuzugeben,
daß von den verschiedenen deutschen Textgestaltungen der „Renaissance" neben
der Schemanns bis jetzt die Floerkes die beste ist.
eit Hans Busz, der münstersche Universitätslehrer, in diesen Heften
(Grenzboten 1912 Ur. 28) die Grundlagen für ein deutsches
Rheinmündungsprojekt erörterte, ist in Berlin und Koblenz ein
besonderer Verein, der sich die Schaffung einer deutschen Rhein¬
mündung zur einzigen Lebensaufgabe gemacht hat, entstanden und
eine Literatur, die kaum noch zu übersehen ist. So erfreulich die Tatsachen an sich
sind, da sie von dem großen Interesse zeugen, dem die Rheinmündungsfrage
in der deutschen Nation begegnet, muß doch festgestellt werden, daß ein großer
Teil der Literatur der Abwehr des Gedankens dient und daß sich unter dem
Mantel der Sachlichkeit oft genug der Pferdefuß kleinlicher Sonderinteressen
zeigt. Den Pferdefuß erkenne ich auch hinter dem Satz, den ich kürzlich in
einem rheinischen Blatte fand: „So dankenswert die wirtschaftspolitischen Aus¬
führungen des Herrn Dr. Busz . . . sind, so sehr ist es zu bedauern, daß er
auch auf das Gebiet des Projekteschmiedens geraten und dabei zu ganz falschen
Schlüssen gekommen ist."
Dieser Satz soll eine Schrift des Herrn Busz abtun, die, bei Franz Coppen-
rath in Münster (1913) erschienen, „die Möglichkeiten der Lösung" der deutschen
Nheinmündungsfrage untersucht. Es handelt sich um eine siebzig große Seiten
umfassende Arbeit auf absolut wissenschaftlicher Grundlage. Selbst wenn die
Vorschläge von Busz sich im einzelnen nicht realisieren lassen sollten, worüber
die technischen Sachverständigen entscheiden mögen, bleibt an ihnen soviel Be¬
achtenswertes, daß sie nicht mit zwei Worten abzutun sind. Dazu ist doch die
ganze Rheinmündungsfrage ein viel zu ernstes, das deutsche Wirtschaftsleben
tief berührendes Problem.
Im Vordergrunde stehen zwei Aufgaben, die nach fachmännischem Urteil
durch den Entwurf von Busz gelöst werden: 1. Ersparnis von vielen Millionen,
die die deutsche Volkswirtschaft gegenwärtig an Holland zahlen muß und
2. Entwirrung des Verkehrsknäuels im rheinisch-westfälischen Jndustriebezirk
mit seinem unglücklich gelegenen Zentrum Duisburg.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Vorschläge von Busz im einzelnen
zu prüfen; dazu sind meinerseits Sachverständige aufgefordert. Wohl aber
halte ich mich für berechtigt, den Lesern der Grenzboten dasjenige Material
zugänglich zu machen, das geeignet ist, Klarheit über die Frage zu verbreiten.
Es handelt sich hier um Dinge, die nicht nur unsere Abhängigkeit von Holland
beseitigen sollen, sondern auch um die Organisation unserer wichtigsten Export-
industrien und somit um deren Leistungsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Die
Konkurrenzfähigkeit wird aber beeinträchtigt, wenn die Mittel des Binnenverkehrs
versagen, wie solches jahraus jahrein gerade in Westdeutschland geschieht.
Mit der Vergrößerung des Wagenparks der Eisenbahn ist es nicht geschehen;
die Wagen müssen auch rollen können und jeder Wagen mehr bedeutet bei den
heutigen Verhältnissen eine Verringerung der Beweglichkeit. Nachdem das Gebiet
zwischen Niederrhein, Ruhr, Lippe in einen einzigen Güterbahnhof verwandelt
erscheint, ist die Grenze der Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen überschritten. Mit
Recht schreibt Busz S. 59: „Die Frage, ob es nicht zweckmäßig ist, anstatt das Land
in immer wachsendem Umfange mit einem immer engeren und schwereren eisernen
Netz zu überspinnen, das zu einem Hauptteil nur bestimmt ist, den Verkehr
dieser Lande mit dem Weltmeer zu vermitteln, das Weltmeer selbst, die goldene
Straße des Welthandels, in das Herz des Landes zu führen, diese Frage spielt
neben jener eingangs erörterten nationalwirtschaftlichen Überlegung einer Be¬
freiung von der Abhängigkeit vom Auslande eine gewichtige, wenn nicht ent¬
scheidende Rolle."
Der Hauptpunkt wird aber immer die Vorfrage bleiben: wie ist die Ren¬
tabilität sichergestellt? Welche Systeme sind anzuwenden, um die Rentabilität
zu gewährleisten.
Man hat versucht Busz einen Strick daraus zu drehen, daß er das Heil
lediglich in der Anlage eines Seekanals sieht, der rund 970 Millionen Mark
kosten würde. Daran anknüpfend ist gesagt worden, die großen Schiffsgefäße seien
unrentabel für den Kanalweg, der langsam befahren werden müsse. Ich meine,
die rentabelsten Schiffsgrößen und infolgedessen auch das rentabelste Kanalprofil
zu finden, müßte eine verhältnismäßig leicht durchführbare Aufgabe sein. Hören
wir, was ein Gewährsmann der Kölnischen Zeitung in deren Nummer 433 vom
16. April d. I. dazu zu sagen hat. Er schreibt:
„Der Transport ans dem Kanal (Rhein-Nordsee) in einem Seeschiff von
6000 Tonnen ist unzweifelhaft billiger als der Transport in mehreren kleinen
Flußschiffen, wenngleich es danach oben hin auch eine Grenze gibt. 10000Tonnen-
Dampfer, die vielleicht auch noch für den Passagierdienst eingerichtet sind,
werden zu teuer, wie in der Kölnischen Zeitung am 28. März richtig aus¬
geführt ist.
Ein 6000 Tonnen-Dampfer kostet als Frachtdampfer etwa 800000 Mark.
Drei Flußschiffe, je 2000 Tonnen, kosten aber zusammen nur 400000 Mark.
3,5 Tage dauert nun die Kanalreise Duisburg-Emden und zurück, so daß
bei 12 Prozent für Amortisation und Verzinsung für den Secdampfer zu
6000 Tonnen 900 Mark, für die drei Flußschiffe Ä 2000 Tonnen aber nur
450 Mark umgesetzt zu werden braucht, d. h. der Seedampfer kostet 450 Mark
mehr. Hinzu kommen die Ausgaben für die zahlreichere Bemannung des
Seedampfers, die gegenüber den drei Flußschiffen mit 200 Mark höher an¬
gesetzt werden sollen, so daß sich die Unkosten für den 6000 Tonnen-Seedampfer
um 650 Mark höher stellen. Aber die drei Flußschiffe bedingen einen Güter¬
umschlag in Rotterdam. Einschließlich Hafengebühr und sonstige Abgaben müssen
0,40 Mark die Tonne hierfür gerechnet werden. Die Dauer der Umladung
von 6000 Tonnen einschließlich Anlegen und Aussegeln kann zu zwei Tagen
gerechnet werden. Dann ergeben sich folgende Kosten:
Wenn die Dampfer vom Norden kommen oder gehen, ergibt sich eine
weitere Ersparnis durch die Wegabkürzung Rotterdam-Borkum-Feuerschiff zu
etwa zwei Tagen, die sich wie folgt berechnen läßt:
Danach ergibt sich eine Gesamtersparnis bei Verwendung von 6000 Tonnen-
Dampfern und Benutzung des Rhein-Seekanals von 0,75 Mark die Tonne.
Diese Ersparnisse werden noch größer, wenn der Gewinnzuschlag hinzu¬
kommt, den der Reeber für seine Leistungen berechnen muß, so daß die Kanal¬
abgaben mit 22 Pfennigen die Tonne ganz gut getragen werden könnten, und
doch der deutschen Kohle Gelegenheit gegeben würde, die rund 10 Millionen
Tonnen Kohlen, welche heute von England nach den nordischen Häfen gehen,
zu verdrängen. Auch die viel geringeren Zugkräfte in dem leichter fließenden
Kanal sind nicht berechnet. Ganz besonders ist zu bedenken, daß Rotterdam
ein ernster Rivale der Hansahäfen ist, und daß wir nur zu berechtigt sind,
unseren eigenen Verkehr nach einem deutschen Hafen hinzuleiten, zumal wir damit
die deutschen Hansahäfen nicht schädigen. Jetzt verdient der außerdeutsche Hafen
viel Geld durch unseren Verkehr, und dafür werden wir noch schlecht behandelt,
wie sogar die Rhein- und Ruhrzeitung schreiben mußte."
Ist aber festgestellt, daß die Organisation unserer Industrie eine deutsche
Rheinmündung notwendig macht, daß die finanziellen Aufwendungen sich bezahlt
machen, ja sogar einen geringen Vorteil gegenüber den bestehenden Zuständen
in sichere Aussicht stellen, dann dürfen wir auch die sozialpolitischen Seiten der
Frage ins Auge fassen. Da aber ergeben sich ganz außerordentliche Möglich-
leiten durch die im Gefolge jedes großen Verkehrsmittels eintretende Dezentra¬
lisation der industriellen Anlagen. Man stelle sich vor, wie viele Industrien sich
an dem Kanal ansiedeln könnten, für die gegenwärtig die Frage, ob sie besser
näher zu den Fundstätten des Eisens oder zu denen der Kohlen ziehen, geradezu
eine Lebensfrage ist, und dann weiter: wieviel Hunderttausenden von Arbeitern
auf dem neu erschlossenen Gebiete die Möglichkeit gegeben werden könnte, sich
so anzusiedeln, wie es die Erfahrungen der Wohnungspolitik für notwendig
erwiesen haben.
Der Kanalbau kann nur von Staats wegen erfolgen, wenn auch die finan¬
ziellen Mittel unter Hinzuziehung der privaten und kommunalen Interessenten
beschafft werden sollten. Darum sollte die preußische Bureaukratie nicht zögern
und mit eingehender Prüfung der Frage beginnen. Sie könnte sich ein Ruhmes¬
blatt in der neudeutschen Wirtschaftsgeschichte schreiben, wie es keine Bureaukratie
daß er vom ersten bis zum letzten Tage ein
Charakter, ein aufrechter und zäher Kerl ge¬
wesen ist. Er trägt die Ideale seiner auf¬
rührerischen Jugend noch heute unverkümmert
mit sich herum. Er ist der einzige seines
Geschlechts, der nicht klein beigegeben hat;
der einzige, der noch fest auf dem Boden des
ästhetischen Glaubensbekenntnisses von Anno
1890 steht. Aber Charakter und ethischer
Wille sind ja in den Augen einer von Wechslern
und Fälschern beherrschten Kunstwelt nun ein¬
mal durchaus anrüchige Dinge. Und da Arno
Holz in dem einen springenden Punkte ganz
und gar nicht mit sich reden läßt, kann es
keinen Einsichtigen wundernehmen, daß er
für die betriebsamen Makler unseres Kunst¬
marktes seit Jahr und Tag ein erledigter
und toter Mann ist.
Uns bleibt hier die Frage zu beantworten,
ob der „konsequente Naturalist" Arno Holz,
dem vor fünfundzwanzig Jahren Gerhart
Hauptmann sein Sonnenaufgangs - Drama
widmete, über seine historische Bedeutung
hinaus noch lebendige Werte repräsentiert.
Zweifellos hat das ganze Werk dieses Mannes
unter dem mit fast Pedantischem Fanatismus
festgehaltenen Naturalistendogma leiden müssen.
Das ist die Quelle seiner Tragik, und das
ist der Grund, wenn Arno Holz dem Geschlecht
von heutzutage nicht immer leicht zugänglich
erscheinen will. Wir jüngeren Menschen, die
wir die literarischen Sturm- und Drangjahre
des vorigen Jahrhunderts nicht leibhaftig
miterlebt haben, sind von der gewiß gro߬
artigen Intoleranz und Einseitigkeit jener
Epoche durch Meilen getrennt. Für uns ist
das starre Naturalistendogma nun einmal
nicht mehr die allein seligmachende Botschaft.
Wir sind eben alle Sklaven der Entwicklung
Arno Holz. Der „Vater des deutschen
Naturalismus" ist in diesen Tagen — am
26. April — fünfzig Jahre alt geworden.
Unsere festesfrohe Zeit, die doch sonst jedem
Jubilar soviel Kränze um den Hals schlingt,
daß er fast daran ersticken muß, ist in diesem
Falle merkwürdig passiv geblieben. Ein Paar
unverbindliche Artikelchen, die hier und da
aufflatterten; ein flüchtiges, aus Mitleid und
Überlegenheit gemischtes Sich-Erinnern; und
schließlich eine Geldsammlung, die Ferdinand
Avenarius im „Kunstwart" zugunsten des
schwerbedrängten Dichters eingeleitet hat —
das ist so ziemlich alles geblieben. Unsere
großstädtischen Theater, die eigentlich die
„regsten dortau" gewesen wären, haben sich,
bis auf ganz wenige Ausnahmen, hartnäckig
ausgeschwiegen. Der Dichter der „Sozial¬
aristokraten", des „Traumulus", der „Sonnen¬
finsternis" und des „Jgnorabimus" ist halt
nicht mehr Mode. Sein Marktwert ist längst
auf ein Minimum gesunken. Er gehört —
das ist sein Unglück — zu den Starrköpfen
und eigensinnigen Fanatikern, die sich einer
banalen und gedankenlosen Umwelt nicht ein¬
zufügen gelernt haben. Und die Umwelt rächt
sich nun an ihm in ihrer altbewährten noblen
Manier: sie schweigt ihn tot, sie sieht über
ihn hinweg, und sie läßt ihn, ohne mit der
Wimper zu zucken, in irgendeiner dunklen Ecke
verhungern.
Man braucht die Werte des Arno Holz-
heher Kunstwerks nicht zu überschätzen, aber
man wird feststellen müssen, daß die hartnäckige
Totschweige-Politikder Mitwelt in diesem Falle
einer schuldhaften Unterlassung gleichkommt.
Arno Holzens ganzes Verbrechen liegt darin,
und können uns, wenn wir heute nüchtern
und ruhig rückwärtsschauen, nicht verhehlen,
daß das flatternde Nevolutionsbanner jener
Kampfjahre neben allem Verheißungsbollen
auch viel Pedanterie, viel Kurzsichtigkeit und
viel gespreizte Ohnmacht hat decken müssen.
Ein Fanatiker der Theorie, wie es Arno Holz
Zeit seines Lebens gewesen, bekommt von
diesem Gesichtspunkte aus leicht einen fatalen
Donquichote-Beigeschmack. Wir können nicht
mehr recht mit, wenn er sich jahraus, jahrein,
im Wort wie in der Tat, hartnäckig und Pe¬
dantisch in die eine zentrale Idee seines künst¬
lerischen Daseins verbohrt. Es will uns dann
scheinen, daß hier ein maßloses Überschätzen, ein
unverhältnismäßiges Wichtignehmen blasser
Theorien vorliegt; eine überlaute Propa¬
ganda für Dinge, die für uns selbstverständ¬
lich oder in ihren letzten Konsequenzen abzu¬
lehnen sind; ja im letzten Grunde ein Kampf
gegen Windmühlen, der zwecklos und tragi¬
komisch zugleich ist. Arno Holzens Haltung
in diesem Prinzipienkampfe mag so nobel und
bewunderungswürdig sein, wie sie will. Der
Kampf selber vermag unsere Temperamente
nicht mehr zu wecken und schließt jedes hitzige
Dafür oder Dawider von vornherein aus.
Der Theoretiker Holz also bleibt uns
innerlich fremd. Um so stärker aber greift
der Praktiker, der Dichter Holz in unser zeit¬
genössisches Dasein. Das ist das Entscheidende.
Alles niedrige Partei- und Prinzipiengezänk
muß verstummen, wenn von den Poetischen
Kräften dieses Mannes die Rede ist. Seine
dramatischen Arbeiten haben wir flüchtig er¬
wähnt. Auch sie werden durchweg von einem
starken künstlerischen Willen getragen. Auch
in ihnen findet sich eine Genialität der Kon¬
zeption, die bedeutsam und verblüffend ist,
ein Aufflackern großer Motive, wie es die
Dutzendware unserer Theater nirgends bietet,
eine Virtuosität im rein Handwerklichen, die
keinen Konkurrenten zu scheuen braucht. Aber
das Wesentliche, das wirklich Bleibende, das
Holz zu geben vermochte, hat er in seiner Lyrik
niedergelegt. Im „Buch der Zeit" und im
„Phantasus" blüht die deutsche Sprache zu
einer seit Heine nicht geahnten lyrischen Kraft
und Schönheit auf. Da gewinnen die sim¬
pelsten Dinge, die Primitivsten Wortfolgen
ganz von selbst einen neuen Klang, einen
neuen Rhythmus, ein neues Gesicht. Da ist
eine als „unpoetisch" verschriene Gegenwart
mit allen ihren Erscheinungsformen in die
zartesten lyrischen Farben getaucht. Da reicht
sich über alle fadenscheinigen Theorien hinweg
alte und neue Kunstanschauung entschlossen
die Hand zum Frieden. Das deutsche Lied
ist wieder lebendig. Das Lied einer neuen,
ernsthafterer Zeit freilich. Aber gesungen
von einem, der eS nicht nötig hat, sich mit
Prinzipien und Dogmen und ästhetischemKrims-
krams herumzuschlagen; von einem, der aus¬
erwählt wurde unter Tausenden und ein
Dichter war von Mutterleibe an.
So sieht der wirkliche Arno Holz aus,
wenn man ihn vom Parteihader löst! So
der Mann, der heute an den Türen des
deutschen Hauses um Almosen betteln muß!
Just in diesen Frühlingstagen, wo der
rauhe Wind des Nordens die Gedanken oft
sehnsüchtig südwärts treibt zu den besonnten
Küsten mit dem strahlenderen Blütenschmuck,
fliegen zwei Werke auf den Büchertisch, die,
der Begeisterung des schönheitgesättigten An-
schauens voll, von jener farbenfrohen Welt
von Licht und Glut und Lebensfreude — von
Italien erzählen. Das eine kommt als ein
alter Bekannter, den man gern wieder begrüßt.
Der Brockhaussche Verlag hat Gregoroviuö'
„Wanderjahre in Italien" in zwei zier¬
lichen Auswahlbänden herausgegeben, hand¬
liche Bücher auf leichtem Papier, die ge¬
bunden 8 Mark kosten. Die Anordnung der
Auswahl ist zweckentsprechend insofern, als
mit Ausnahme des einleitenden Aufsatzes
„Ravenna" die Schilderungen aus Mittel¬
italien zusammengestellt sind, so daß der Rom
und Neapel und ihre Unigegend Bereisende
alles Wünschenswerte hier borfindet. Ein wenig
später als dies Werk erschienen bei der Deutschen
Verlagsanstalt, Stuttgart, „Römische Briefe"
aus den Jahren 1864 bis 1869, die Kurt von
Schlözer, damals Legationsrat der preußischen
Botschaft am Päpstlichen Hofe an seine Mutter
und seinen Bruder' schrieb. Für den talent¬
vollen jungen Diplomaten war es eine hoch¬
interessante Zeit: eine Periode des Zuschauens
und Lernens, die er doch dank einer glück-
lichen Fügung während längerer Abwesenheit
des Gesandten durch glänzende Proben der
Umsicht und Tüchtigkeit abschließen durfte.
Es waren jene Jahre, in denen sich die
nationale Einigung Italiens und das Ende
der weltlichen Herrschaft des Papstes vor¬
bereitete. Interessante Streiflichter fallen auf
die hinterhältige Politik Louis Napoleons, und
der eiserne Kanzler, damals noch nicht nach
der vollen Bedeutung seiner genialen Per¬
sönlichkeit gewürdigt, erscheint in einer leise
humoristischen Beleuchtung, in der doch der
Unterton des instinktiven Respekts nicht fehlt.
Bor diesem geschichtlichen Hintergrund bewegt
sich der Neigen der führenden Geister in Rom,
mit denen allen Schlözers liebenswürdige
Persönlichkeit Fühlung gewann — manche
von jenen, wie Fanny Lewald, die Baronin
Stieglitz, schon hinabgetaucht in Vergessenheit,
andere, wie die imponierende Gestalt Franz
Liszts, hinüberragend in unsere Tage. Die
Würdenträger des Vatikans wie das diplo¬
matische Korps spiegeln ihre Persönlichkeit ebenso
in zopfigen Etikettefragen wie in vertraulichen
Gesprächen. Und inmitten erscheint wiederum der
schlichte Autor der „Wanderjahre", die damals
schon zum Teil hinter ihm lagen, Gregoro-
viuS, als Führer und Gefährte ans welt¬
geschichtlichen Pfaden, der in Persönlicher
Zwiesprache Schlözer das nämliche spenden
mochte, das der Jtalienfahrer noch heut aus
seinen Werken empfängt. GregoroviuS' Be¬
deutung ruhte damals wie jetzt in jener aus
feinfühligen Beobachten des Nahen und
weitblickendem Erkennen des Fernen zu¬
sammengesetzten Fähigkeit, in den Forma¬
tionen der Landschaft wie der Architektur, in
Sprache und Sitte und rassiger Gestalt der
Bevölkerung die mächtigen Rhythmen zu er¬
kennen, aus denen sich von der Schwelle des
Altertums her das Lied der Menschheit fügt.
Er sieht — und sucht sogleich zu ergründen,
wie das ward. Sein wissenschaftlicher Fleiß
reicht ihm oft den Schlüssel. Den hat er
dann so manchesmal weitergegeben an den
weltfreudigen, tatkräftigen Schlözer, der bei
seinen Streifereien durch Roms Ruinen so
gern die Gesellschaft des Älteren suchte.
In den Erinnerungs- und Begrüßungswor¬
ten für Carl Jcntsch in Ur. 6 d. Jhg. der Grenz¬
boten findet sich der Satz: „daß Schulknaben
sich wegen Strafen oder wegen Sitzenbleibens
erhängen könnten, wäre der damaligen Ge¬
neration einfach fabelhaft vorgekommen," der
in Anlehnung um Angaben von Carl Jentsch'
Memoiren niedergeschrieben war. Hierzu
erhalten wir folgende Zuschrift:
„So gerne wir auch zu der älteren Ge¬
neration näheren oder ferneren Abstandes in
Ehrfurcht und Dankbarkeit aufblicken, so
wenig erlaubt es die Gerechtigkeit unserer
Zeit — sei sie auch eine Zeit der Zielarmut
und Jnnenleerheit — mehr aufzubürden, als
historisch berechtigt ist. Darum sei hier kurz
festgestellt, daß bereits in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts der Selbstmord
Jugendlicher und speziell der Schülerselbst¬
mord statistisch verfolgt wurde (Montaigne),
in Preußen seit 1749; in derselben Zeit ist
der Selbstmord Jugendlicher auch schon
Gegenstand lebhafter allgemeiner Erörterungen
gewesen.
Daß in unseren Tagen derartige Fälle
weiteren Kreisen öfter bekannt werden, ist
sicher nur zum Teil der Ausdruck zunehmender
Häufigkeit; in demselben Maße sind rein
äußerliche Momente anderer Art wirksam.
Sie zu analysieren ist hier nicht der Ort;
es soll nur davor gewarnt werden, das Leben
von heute und die Jugend von heute in
einem allzuungünstigen Vergleich mit denen
zu setzen, denen sie alles verdankt, den Ver¬
tretern der vorigen Generation und ihrer
Die Emanzipation der Juden in Preußen
unter besonderer Berücksichtigung des Ge¬
setzes vom II. März 1812. Ein Beitrag
zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen
von Dr. Jsmar Freund. 1. Band: Dar¬
stellung (geb. S,60 M); 2. Band: Urkunden
(geb. 14 M.). Berlin 1912, bei M. Pop-
Pelauer.
Die Zeit der Gedenkfeiern an die große
Zeit vor hundert Jahren hat eine Flut von
Jubiläumswerken hervorgerufen, die zum Teil
reine Gelegenheitsschriften sind und keinerlei
wissenschaftlichen Wert besitzen. Zu diesen
Büchern dürfen wir das vorliegende nicht
rechnen; es ist vielmehr eine streng kritische
Untersuchung, die, ohne irgendeine Tendenz
zu betonen, nur auf den urkundlichen Quellen
beruht und einen Beitrag zur Rechtsgeschichte
der preußischen Juden geben, nicht aber die
politischen, kulturellen, religiösen oder wirt¬
schaftlichen Grundlagen der Emanzipation er¬
forschen will.
Aber auch in dieser Beschränkung trägt
das Buch wesentlich zur Kenntnis der Preu¬
ßischen Reform bei, indem es z. B. auch den
starken französischen Einfluß auf die Haltung
der Negierung aufdeckt. Von den beiden
Bänden wendet sich der Darstellungsband an
einen weiteren Leserkreis, während die im
zweiten Band zum erstenmal gedruckten Ur¬
kunden mehr für den Forscher bestimmt, zum
bequemeren Vergleichen aber nach den Ka¬
piteln des Darstellungsbandes geordnet sind.
— Das Edikt vom 11. März 1312 schließt
eine Kette von Emanzipationsversuchen ab,
die nach dem Tode Friedrich des Großen ein¬
setzten. — Die Juden waren nach ihrer Ver¬
treibung im Jahre 1S73 durch den Großen
Kurfürsten 1671 wieder aufgenommen worden,
um Handel und Verkehr in seinen Staaten
zu heben.
Seine den Juden freundliche Wirtschafts¬
politik wurde von seinen Nachfolgern aber
verlassen; sie hielten den Einfluß der Juden
auf das Wirtschaftsleben für schädlich und
suchten darum die Grenzen ihrer Erwerbs¬
tätigkeit möglichst zu verengen, die Vermeh¬
rung der einmal Aufgenommenen und Zuzug
von außen zu hindern, daneben aber ihre
Steuerkraft aufs höchste anzuspannen. Fried¬
rich Wilhelm der Erste und Friedrich der
Zweite hielten es beide für ihre Pflicht, die
Vermehrung der Juden zu verhindern, ihre
Schädlichkeit für den Staat durch Lasten zu
paralysieren; in diesem Geist wurden die
Judengesetze bis zum Tode Friedrich des
Großen erlassen und ausgeführt. Die poli¬
tische und rechtliche Stellung hatte sich also
bedeutend verschlechtert, während sich die
preußischen Juden kulturell und gesellschaft¬
lich ebenso bedeutend gehoben hatten; in
dieseni Kontrast und in dem Vorbild der
milderen Gesetze Österreichs und Frankreichs
lagen die Keime der Reformbewegung, die
unmittelbar nach dem Regierungsantritt
Friedrich Wilhelm des Zweiten begann, aber
trotz der wohlwollenden Stellung des Königs
und den lebhaften Bemühungen der Juden,
vor allem David Friedländers, im Sande
verlief, — ebenso wie der zweite und dritte
Reformversuch unter seinem Nachfolger. Es
mußten stärkere Erschütterungen kommen, um
den einmal angeregten Emanzipationsideen
gegen die entgegenstehenden, konservativen
Prinzipien zum Siege zu verhelfen.
Zunächst wirkte das Beispiel der fran¬
zösischen Revolution, die schon 1791 die völlige
Gleichstellung der Juden proklamiert hatte,
hindernd auf die schwache preußische Eman¬
zipationstendenz, denn wie auf allen anderen
Gebieten, wollte das legitimistische Preußen
auch in diesen: seine entschiedene Stellung
gegen die Gedanken der Revolution betonen.
Durch eine 1803 erschienene Schrift: „of
civitste ^ucZaeorum" wurde eine heftige
publizistische Polemik über die Judenfrage
hervorgerufen, die erst durch das Ein¬
schreiten der Regierung, die den Druck von
Schriften Wider und für die Juden unter¬
sagte, aufhörte und bei prinzipiellen Ent¬
scheidungen die Behörden im judenfeindlichen
Sinne beinflußte.
Wie für den ganzen preußischen Staat,
so bedeutete auch für seine Judenpolitik die
Katastrophe von 1800/07 einen Wendepunkt.
Der Staat Friedrich des Großen hatte die
Belastungsprobe nicht mehr bestanden, und es
mußten ganz andere Grundlagen geschaffen
worden, um auf ihnen einen modernen Staat
aufzubauen. Indem die Neuschöpfer Preußens
die strenge soziale Schichtung des alten
Staates aufhoben, mußten sie sich notwendig
auch mit dem Judenproblem befassen, zu dem
man eine ganz andere Stellung einnahm als
vor 1806. Stein hat dieses Reformwerk in
der kurzen ihm gegönnten Zeitspanne nicht
mehr beginnen können, sondern sein Mit¬
arbeiter Freiherr von Schroetter, der von
einem schroffen Judenfeind durch den Ein¬
fluß Steins, mit dessen Ideen sich die bis¬
herige Judenpolitik nicht vertrug, und durch
Persönliche Erfahrung sich so wandelte, daß
er in seinem Gesetzentwurf für die völlige
Gleichstellung der Juden eintrat.
Schroetter hat dann nichts weiter für seinen
Borschlag tun können, da er nach der Neu-
organisation der Verwaltung aus seinem Amte
schied. Von all den Staatsmännern, die ihr
Votum zu dem EntWurfe abgegeben haben,
hat Wilhelm von Humboldt das Problem am
tiefsten gefaßt: er ist für die völlige und so¬
fortige Gleichstellung; der Staat habe nicht
die Aufgabe, die Bürger zu erziehen, sondern
ihnen nur die Möglichkeit der Selbsterziehung
zu geben; völlige Gleichstellung auch in bezug
auf die Pflichten sei das einzige Mittel,
um aus den Juden nützliche Glieder des
Staatsganzen zu schaffen.
Als Hardenberg im Sommer 1810 an
die Spitze der preußischen Regierung gestellt
wurde, fand er das begonnene Werk schon
vor, das dann unter seinem Persönlichsten An¬
teil vollendet wurde, als ein wesentlicher Teil
seines großen Reformwerks.
Seiner liberalen Staatsauffassung war die
Gleichheit aller vor dem Gesetz eine selbst¬
verständliche Forderung, außerdem hatte er
neben persönlichen günstigen Erfahrungen auch
noch in der Reorganisation der Finanzen
einen Grund, die Emanzipation zu beschleu¬
nigen. Die verschiedenen, dringlichen Bitten
der preußischen Juden, deren Lage in den
letzten Jahren vor dem Erscheinen des Ediktes
bei der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage
kaum noch erträglich war, haben dann dazu
beigetragen, daß Hardenbergs Interesse nicht
erlahmte; er Persönlich hat noch am Tage der
Vollziehung den Gemeinden in Berlin, Breslau
und Königsberg die so sehnlich erwartete Be¬
freiung mitgeteilt; doch hat er nicht vermocht,
die den Juden feindlichen Ansichten seiner
Mitarbeiter zu ändern und den völligen Um¬
schwung, der schon 1815 begann, aufzu¬
halten. Mitte der zwanziger Jahre galt das
Gesetz schon bei Regierung- und Provinzial-
ständon für eine Übereilung; es wäre vielleicht
aufgehoben oder doch wesentlich abgeändert
worden, wenn nicht die von Hardenberg selbst
beantragte Garantie in den Bundesakten be¬
standen hätte. So zögerte man bis 1847mit dem
Erlaß eines Judengesetzes auch für die neuen
Provinzen, und das in bezug auf Staatsan¬
stellungen und Lehrtätigkeit der Juden wesent¬
lich verschärfte Gesetz für die Gesmntmonarchie
wurde sehr bald durch die Verfassungsurkunde
vom 5. Dezember 1848 (§8 4 und 12 der
revidierten Verfassung vom 31. Januar 1850)
aufgehoben. Durch das Bundesgesetz vom
3. Juli 1869 wurde die bedingungslose Gleich¬
stellung der Juden in bürgerlicher und staats¬
bürgerlicher Hinsicht vom Reich garantiert
und so die Emanzipationsbewegung abge¬
schlossen.
Der Verfasser hat diese Entwicklung in
ihren wechselnden Phasen klar dargestellt und
ihren tieferen Zusammenhang mit den Zeit¬
strömungen deutlich gezeigt. Es liegt in der
Art seiner stets auf die urkundlichen Quellen
zurückgehenden Arbeitsweise und in seiner
Problemstellung, daß die persönlichen, kultu¬
rellen und wirtschaftlichen Verhältnisse nur
gestreift werden. Auf der gesicherten Grund¬
lage der vorliegenden Bände wäre eine weitere
Untersuchung der Emanzipation wünschenswert.
Frankreich und der Krieg. Seit Agadir
regt es sich in Frankreich. Seit langen Jahren
war man dem Kriege nicht so nahe wie 1911.
Die Marokkokrise hat ungemein fruchtbar zu¬
nächst auf die militärische Literatur der Fran¬
zosen gewirkt, einem ganzen Heer von ernst¬
haften und phantastischen Schriften das Leben
gegeben und das Publikum zu kriegerischer
Lektüre aufnahmefähig gemacht. Auch im
Jahre 1912 hält die Wirkung noch an, und
Bücher wie das von Hauptmann Boucher
„l>a ?rsnco victorieuso 6»us la Luerre 6o
äomain" erreichen innerhalb vierzehn Tagen
eine Auflageziffer von 10 000 Exemplaren.
Einige Verfasser bemühen sich, vorläufig
nur hinter die deutschen Pläne zu kommen,
und durchforschen zu diesem Zweck die deutsche
Militärliteratur. Diese Aufgabe hat sich ein
Anonymus in einer dreiteiliger Broschüre ge¬
stellt: „opinions sllomanäos sur la lluorro
inoäerne" (Berger-Levrault, Paris-Nancy
1912). Ohne irgendeinen Vergleich zwischen
deutscher und französischer Anschauung zu
ziehen, versucht er eine Synthese der deutschen
Ansichten. Er behält die fremden Gedanken¬
gänge bei, fürchtet allerdings, daß der Arbeit
dadurch ein „etwas pedantisch-philosophischer
Geruch anhaften wird". Sein Material bilden
die Schriften von: von Bernhardt, von der
Goltz, von Schliessen, von Bakel sowie Fach¬
blätter. Das erste Heft bildet die Grund-
lagen der modernen Kriegsführung, Aus¬
rüstung und Technik; das zweite Kommando-
und Marschtechnik, Offensive und Defensive;
das dritte Strategik und Taktik zu Land und
zur See. Er bemerkt nebenbei, daß in der
Taktik die Ansichten der beiden Armeeleitungen
am wenigsten auseinandergingen, nur sei das
deutsche Heer mehr vom Geist der Offensive
beherrscht.
Wie Frankreich sich gegenüber dieser Offen¬
sive zu verhalten habe, wollte ein kürzlich
verstorbener militärischer Schriftsteller seinen
Landsleuten klarmachen: Lliarlss Alat», der
die Formel Prägte, Frankreich müsse die
fehlende Quantität durch die Qualität seiner
Soldaten ersetzen. Seine während des Früh¬
jahrs 1911 im Journal des Döbats er¬
schienenen Aufsätze hat Henri Welschinger zu
einem Buch vereinigt und mit einer Vorrede
versehen: „I^a proclame liuerre" (ebendort
1912). Aus dein Studium des Krieges 1870/71
hat er die Überzeugung gewonnen, daß da¬
mals der Zufall die Vorsehung der Deutschen
war, und das hat ihm neue Hoffnung für
die Zukunft gegeben. Auf Grund mehrerer
Hypothesen (Italien wird dein Dreibund un¬
treu und greift Osterreich an, oder Italien
zögert und Osterreich wird von Rußland fest¬
gehalten; England und Rußland beenden ihre
Mobilisätion erst drei Wochen nach der Kriegs¬
erklärung) löst er Deutschland und Frankreich
aus dem Bündnisverhältnis und stellt sie
allein einander gegenüber. Schickt Frankreich
alle seine verfügbaren Armeekorps an die
Grenze, so wären nach Berechnungen des Ver¬
fassers, der die Festungstruppen von Epinal,
Toul und Verdun mit einbezieht, die Kräfte
auf beiden Seiten gleich. Malo geht dann
ausführlich auf die Möglichkeiten der Defen¬
sive ein, die nach einigen zwanzig Tagen beim
thatkräftigen Eingreifen Rußlands und Eng¬
lands durch die Offensive abgelöst werden kann.
Auch über die militärischen Kreise hinaus
hat der „coup ä'^Zactir" eine nachhaltende
Wirkung, einen nervösen Patriotismus in ganz
Frankreich erzeugt. Etienne Rey nennt diese
Stimmung in einer kürzlich erschienenen Bro¬
schüre „Ils Kensigsanco «Zo I'orxueil iran-
s»is" (Paris, Bernard Grasset, 1913). Er
will damit zum Ausdruck bringen, daß das
Plötzliche „Erwachen des französischen Stolzes"
und das Vertrauen auf eine günstige kriege¬
rische Aktion das natürliche Ergebnis des
langsamen Erstarkens nach dem letzten Kriege
sind. Was er als stolzfördernde Friedens¬
arbeit anführt, ist nicht alles gerechtfertigt;
jedenfalls wird man ihm zugestehen, daß die
kolonialen Eroberungen, das Bündnis mit
Rußland, die sportliche Erziehung der Jugend,
die Erfolge in der Aviatik und die energische
Propaganda der Action Francnise zur Kriegs¬
begeisterung mit beigetragen haben, die En¬
tente cordiale hat der Verfasser Wohl absicht¬
lich unerwähnt gelassen. Aber wo er auf das
Wesen der Begeisterung eingeht, scheint er mir
zweierlei zu verwechseln: den nervösen Pa¬
triotismus, hervorgerufen durch den coup
et'^Zsclir und verstärkt durch die letzte Volks¬
zählung, und eine allgemeine geistige Vor¬
wärtsbewegung, die auf eine Umwandlung
der Anschauungen hindrängt. Der Verfasser
leitet uns durch seine zahlreichen Widersprüche
selbst auf den richtigen Weg; er behauptet,
„das Nationalbewußtsein sei erstarkt mit dem
wachsenden Vertrauen zur republikanischen
Regierung" und dann muß er von der Ju¬
gend bekennen, daß „die demokratische Idee
sie nicht entflamme noch sie beeinflusse". „Nie¬
mals," sagt er auch um einer anderen Stelle,
„ist die Literatur so wenig national gewesen."
Die geistigen Führer des heutigen Frankreich
haben ein Ziel, das weit innerlicher ist als
lärmender Chauvinismus: sie »vollen das Land
von der demokratischen Fessel, dem Majoritäts¬
fanatismus und der leeren Formel befreien.
Das ist ein mutiger Schritt aufwärts, eine
Art Renaissance, in der Frankreich verlorene
Lebenskräfte wiedererwerben kann. Aber
zwischen dieser Renaissance und dein Zapfen¬
streich und Panacherummel bildet nur die
Gleichzeitigkeit eine äußerliche Verbindung.
Nachdruck sämtlicher Anfsiihc nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
Her-uttworllich: der Herausgeber George Cleinow in Berlin-Schöneberg. — Manuslriptsendnngen und Buche
werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzliotcn in Berlin - Frieden«», Hcdlvigstr.
F-rusprech-r der Schristlciwng: Amt Uhland 86M, des Verlags: Amt Liiyow S510.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Truck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin SW. II. D-ssaner Strafe »K/37.
n Zeiten politischer Gärung und des Kampfes politischer
Systeme um die Macht wird man sich nicht wundern, wenn
in den Parlamenten keine Neigung zum Durchbruch kommt,
für den monarchischen, über den Parteien stehenden Staat
und seine Bureaukratie einzutreten, es sei denn, daß für die
einzelne politische Gruppe dabei ein Vorteil herauskäme. Die radikalen Gruppen
lassen kein Mittel unversucht, den Staatsorganismus zu schädigen; das bedarf
keines weiteren Beweises. Die Mittelparteien kommen vor lauter Kompromissen
mit der Wählerschaft draußen im Lande und mit der Regierung gar nicht
dazu, sich um die tieferen Sorgen der Staatsorgane zu kümmern, ja, sie finden
sogar oft genug ihren eigenen Nutzen darin, jene, die nun ohne weiteres mit
dem Begriff Bureaukratie im abträglichen Sinne identifiziert werden, gleichfalls
bei der Bevölkerung zu diskreditieren. Die sogenannten Rechtsparteien müssen
gleichfalls darauf bedacht sein, die materiellen Interessen ihrer Wählerschaft
sicherzustellen, und dann setzen sie sich durch parlamentarische Erledigung von
politischen Fragen, die vielleicht auch auf anderen Wegen überwunden werden
können, nicht gern den: Verdacht aus, zur Stärkung des Parlamentarismus
beizutragen, was, wenigstens in Preußen-Deutschland die Regierung wieder
mit ihnen aussöhnt und beide zusammenstehen läßt, wo die Staatsorgane und
damit die Monarchie tatsächlich von ihnen nichts haben. So haben die staats¬
erhaltenden Parteien es bei uns ziemlich leicht und können sich in kritischen
Momenten mit einigen billigen Phrasen von Kaiser und Reich und Umsturz¬
gefahr aus jeder Affäre ziehen, die ihnen nicht behagt.
Gerade kürzlich haben wir einen im obigen Sinne typischen Fall erlebt.
Seit Monaten wurde in den politischen Salons geraunt, im Kriegs¬
ministerium seien Bestechungen vorgekommen. Im Januar dieses Jahres
verdichteten sich die Gerüchte dahin, mehrere Direktoren der Firma Krupp
stünden unter Anklage wegen Landesverrat, seien sogar verhaftet worden.
Obwohl die Angelegenheit viele Monate anhängig gemacht war, erfuhr die
breite Öffentlichkeit erst von ihr, als der sozialdemokratische Abgeordnete
Dr. Liebknecht ein ihm zugegangenes Material, das die Firma Krupp schwer
belastet, vortrug. Während der darauffolgenden Aussprache erfuhr man dann
aus dem Munde des Herrn Kriegsministers, daß tatsächlich „der untere
Beamte der Firma Krupp an der Geschäftsstelle ... in Berlin
verschiedene Feldwebel und andere verleitet hat, ihm die Mit¬
teilung zu machen, die gegen die Dienstpflicht war; auch Militär¬
beamte waren dabei beteiligt . . ." Aber man erfuhr auch, daß Herr
Dr. Liebknecht sich dem Herrn Kriegsminister gegenüber gebunden habe, die
Angelegenheit im Parlament nicht vor Abschluß der gerichtlichen Untersuchung
erörtern zu wollen. Ähnliche Abmachungen scheinen auch mit den Vertretern der
bürgerlichen Parteien getroffen worden zu sein, die natürlich daran festhielten und
sich als völlig unvorbereitet erwiesen, als der Sozialdemokrat den preußischen
Kriegsminister überrumpelte. Daß es so und nicht anders kommen würde,
war vorauszusehen: eine bessere Gelegenheit gegen- die den Sozialdemokraten
verhaßte Firma Krupp zu Felde zu ziehen und zugleich die Armee zu dis¬
kreditieren, kehrte nicht sobald wieder!
Der Herr Kriegsminister zeigte sich so überrascht von dem Überfall
Liebknechts, daß er, der Chef einer schwer beleidigten preußischen Behörde,
sich begnügte, denjenigen zurückzuweisen, der die stattgehabte Beleidigung der
Öffentlichkeit mitteilte. Für die Firma Krupp selbst hatte er lediglich Worte
des Dankes und des Lobes.
Die staatserhaltenden Parteien haben dem Kriegsminister sekundiert, da
es eine „prächtige Gelegenheit" war, die „Perfidie" der sozialdemokratischen
Taktik und die „Gewissenlosigkeit" ihrer Abgeordneten zu brandmarken. Ich
weiß nicht, ob diese Taktik sehr staatserhaltend gewirkt hat: in den gebildeten
Kreisen des Landes hat sie manches Schütteln des Kopfes ausgelöst. In der
Tat: man macht keinen Feind unschädlich, indem man ihn, nachdem sein Hieb
gesessen, der Unmoral bezichtigt, sondern indem man selbst rechtzeitig den Hieb
führt. Im vorliegenden Falle war das einmal angerichtete Unheil nicht mehr
ungeschehen zu machen, sondern lediglich in seinen politischen Wirkungen zu
verringern durch vertrauensvollste Anlehnung der Regierung an die Reichstags-
sraktionen der bürgerlichen Parteien, nicht durch den Versuch, die ganze
Angelegenheit als sozialdemokratische Hetze oder als ein Konkurrenzmanöver
einer vom Zentrum begünstigten Firma hinzustellen.
Bei einer Stellungnahme wie sie für Regierung und bürgerliche Parteien
gekennzeichnet wurde, kann es kaum wundernehmen, wenn der verantwortliche
Direktor der Aktiengesellschaft Friedrich Krupp jede Verantwortung für die
Tätigkeit des Beamten seiner Firma ablehnt und sich auf den Standpunkt stellt,
daß das Direktorium davon überhaupt nichts zu wissen brauche» wenn weiter
derselbe Direktor von Ehrgeiz an untergeordneten Stellen, Bedeutungslosigkeiten
und ähnlichem spricht. Wenn es sich bei der Angelegenheit um eine Firma
der Alteisenbranche handelte, die mit einem Heer von selbständigen, lediglich
auf Provisionen angewiesenen Agenten, Zwischenhändlern und Sammlern zu
arbeiten gezwungen ist, würden wir über die Angelegenheit kein Wort verlieren,
würden wir uns stillschweigend der Ansicht Hugenbergs anschließen. Räudige
Schafe gibt es überall und wenn staatliche Lagerbeamte gelegentlich nicht ge¬
nügend Charakterstärke erwiesen haben, so trifft dafür die betreffende Behörde,
die bei der Auswahl der Beamten nicht sorgfältig genug vorgegangen ist, zu¬
meist der größte Teil der Schuld. Die Werft- und Eisenbahnmaterialprozesse
haben keinen verständigen Menschen aufgeregt, so bedauerlich sie an sich waren;
sie deckten lokale Mißstände auf, die sich von Zeit zu Zeit wiederholen werden,
solange wir Menschen bleiben.
Die Tätigkeit des „unteren" Privatbeamten Brand fällt unter ganz andere
Gesichtspunkte. Herrn Hugenbergs Anschauung widerspricht nicht nur dem
Generalregulativ, sie widerspricht auch der gesamten historischen Entwicklung der
Firma, über die das von ihr selbst herausgegebene, bei Gustav Fischer in Jena
erschienene Jubiläumswerk „Krupp 1812—1912" in glänzender Form
unterrichtet.
Wer es nicht mit eigenen Augen beobachtet hat, dem wird es beim Studium
des genannten Werkes recht klar, daß alle Angehörigen der Firma Krupp zu¬
sammengehalten werden durch ein besonders starkes Band; dem kommt es auch
klar zum Bewußtsein, warum trotz schärfsten gegenseitigen Wettbewerbes zwischen
ihnen eine äußerst weitgehende Solidarität besteht, eine Solidarität, wie sie sonst
eigentlich nur in gut geleiteten Staatsbehörden zu finden ist, und daß schließlich
eine sehr fein ausgebildete Zentralinstanz die Tätigkeit jedes einzelnen Beamten
bis ins kleinste regelt und überwacht, ihm freilich genügend großen Spielraum
lassend, seine Fähigkeiten, Kenntnisse und Beziehungen vollständig im Dienst
der Firma zu verbrauchen. Nicht umsonst fühlen sich die Beamten der Firma
als eine Elite unter den Jndustriebeamten, nicht umsonst und auch nicht un¬
berechtigt wurde der Begriff eines Staates Krupp geprägt, eines Staates mit
fest gesteckten Zielen, dessen Verfassung auf Krupps Generalregulativ von 1872
beruht.
Aber nicht nur die frühere Entwicklung der Firma berechtigt von einer
Verantwortlichkeit der Direktion für das geschäftliche Treiben ihrer Beamten zu
sprechen. Auch die Maßnahmen und organisatorischen Änderungen der jüngsten
Zeit, die Besetzung der einzelnen Posten, alles weist direkt darauf hin, daß die
Direktion planmäßig einen Teil der inneren Organisation der Firma aus¬
gebaut hat.'
Die Berliner Vertretung für Kriegsmaterial ist erst in den letzten zehn
oder zwölf Jahren eingerichtet worden. Früher genügte ein Ingenieur, der
die Abnehmer von Friedensmaterial besuchte und ihnen schnell gewünschte Aus¬
kunft gab. Die Beziehungen zu den Staatsbehörden wurden von der Essener
Zentrale direkt gepflegt. Den Verkehr mit dem Kriegsministerium und dem
Auswärtigen Amt besorgte der inzwischen verstorbene Direktor Menshausen ent¬
weder persönlich oder durch Vermittlung eines seiner Assistenten, die sowohl als
frühere Staatsbeamte, wie auch durch persönliche und verwandtschaftliche Be¬
ziehungen ohne weiteres direkten Zutritt zu den höchsten Regierungsstellen hatten.
Im vornehmen geselligen Verkehr wurden die geschäftlichen Beziehungen taktvoll
gepflegt und ausgebaut, lernten die Vertreter der Firma die Ansprüche des
Staates kennen. Es war eine fein-durchgeistigte Atmosphäre, die den Kreis
um Krupp umschloß, — das Geschäft hatte ein aristokratisches und ungemein
anziehendes Gepräge. Allen Feinden des Großkapitals konnte gerade die
vornehme, kultivierte Form des Geschäftsbetriebes bei Krupp als eine höchst
erfreuliche Erscheinung entgegengehalten werden.
Natürlich war eine solche Geschäftsführung schwierig. Sie erforderte aus¬
gezeichnete Leiter, Männer von größter persönlicher Erfahrung, die, selbst auf
dem höchsten Kultur- und Bildungsniveau stehend, stark genug waren, sich mit
starken Persönlichkeiten umgeben zu können und mit ihnen zusammen zu arbeiten,
die es infolgedessen auch verschmähen durften, für besondere Zwecke Kreaturen
zu gebrauchen, die vielleicht einmal den Namen der Firma gefährden konnten.
Nach Menshausens Fortfall hat man versucht, die hervorragende Persönlichkeit
durch eine zweckmäßigere Organisation zu ersetzen. Jetzt gibt es in Berlin ein
großes Bureau, über dem ein Direktor schwebt, dem mehrere Artillerieoffiziere,
Kaufleute, Agenten usw. angehören, mit einem Wort, ein ganzer Stab von
Beamten; schließlich ist auch noch eine besondere Filiale des Pressebureaus zum
Verkehr mit der Berliner Journalistik eingerichtet.
Unter diesen Voraussetzungen kann die Firma die Verantwortung für die
Tätigkeit Brands nicht ablehnen, selbst dann, wenn das Gesamtdirektorium
überhaupt keine Kenntnis von ihr erhalten hat, weil es sich um einen Posten
handelte, für den die Anstellungsbedingungen sehr wohl nur dem Ressortdirektor
bekannt gegeben zu werden brauchten. Aber selbst in diesem Falle bleibt die
Verantwortung bei der Firma bestehen, denn sie hat die Berliner Organisation
genehmigt. An dieser Verantwortlichkeit könnte auch dann nicht gerüttelt
werden, wenn es wahr sein sollte, daß die Organisation auf die Anregung
eines früheren Kriegsministers hin geschaffen wurde.
Nun wird der Leser fragen: wozu das alles? Die Firma Krupp trägt
eben modernen Anforderungen Rechnung; die alten Methoden reichen nicht mehr
aus; das Geschäft ist breiter geworden, die Konkurrenz schärfer; was für Stahl-
febern, Briefpapier und Konfektion recht, ist für Kanonen und Kriegsfahrzeuge
billig; wer für den Markt produziert, muß den Markt mit allen seinen Eigen¬
arten, Ansprüchen und auch seine, denselben Markt aufsuchende Konkurrenz
kennen; somit handelte Krupp als Waffenproduzent und Waffenhändler nicht
weniger ehrenhaft und korrekt, wie als Verkäufer von Friedensmaterial, wenn
er seine Berliner Vertretung modern aufbaute; um gerecht zu sein, muß man
sich nur vergegenwärtigen, wie schwer es ist, Kanonen auch an den preußischen
Staat zu verkaufen: vom ersten Versuch mit Kruppschem Kanonenstahl bis zur
Bestellung von dreihundert Rohrblöcken durch die preußische Armeeverwaltung
find rund fünfzehn Jahre (1844 bis 1859) ins Land gegangen; inzwischen ist
das Geschäft aber unendlich komplizierter geworden: nicht nur die Konkurrenz
macht es heißer, auch die Zahl der mit den Kanonen eng zusammenhängenden
Artikel, der Munition, optischen Hilfsmittel, Ausrüstungsgegenstände, ist auf
viele Tausende gestiegen und damit ist auch die Vielgestaltigkeit der Abnahme¬
organisationen gewachsen.
Dennoch! Jede Branche hat ihre Sitten und Gebräuche: Usancen, ihren
ungeschriebenen Ehrenkodex, den niemand ungestraft verletzen darf. Der Ver¬
käufer technischer Öle ist gezwungen, die Maschinenmeister für seine spezielle
Schmierölsorte freundlich zu stimmen, weil es hundert gleichwertige Sorten gibt
und kein Fabrikdirektor es wagen dürfte, Öl einzukaufen gegen ernste Bedenken
des oder der Meister, denen die Beaufsichtigung der Maschinen obliegt. — Der
Kanonenreisende, der fast ausschließlich mit staatlichen Behörden zu tun hat,
ist, wenigstens im deutschen Inlande, ausschließlich an Qualität und Preis
gebunden, er ist bei einer intakten Heeresverwaltung nicht abhängig vom guten
Willen Nachgeordneter oder gar Subalterner Stellen, wenn diese auch gelegentliche
Schwierigkeiten bereiten können. Ich meine: die Firma Krupp hat die durch
ihre Branche gezogenen Grenzen nicht respektiert, wenn sie das, sagen wir ruhig,
aristokratische Geschäft in die Hände von Subalternen legte und wenn sie
der Auskundschaftung des deutschen inneren Marktes eine auf Nachgeordnete
Stellen des Kriegsministeriums eingerichtete Organisation gab. Brand, ein
früherer Unteroffizier, erhielt ein Gehalt von siebentausend Mark und außerdem
noch fünftausend Mark Repräsentationsgelder! Wohl gemerkt: ein Unteroffizier,
der weder ein Erfindergenie noch ein großzügiger Verkäufer ist.
Die gegenwärtige Organisation des Kruppschen Nachrichtendienstes beruht
auf falschen Grundsätzen. Sie entbehrt der Ethik, an die die Firma Krupp
nun einmal gebunden ist: der Chef einer Privatfirma, der der Ehre teilhaftig
wird, das Reichsoberhaupt freundschaftlich in seinem Hause zu bewirten, darf
durch seine verantwortlichen Direktoren nicht in die Lage gebracht werden, Be¬
amte besolden zu müssen, die Staatsdiener zum Bruch des Treueides gegen den
Monarchen verleiten.
Was hätte dem Herrn Kriegsminister unter den obigen Verhältnissen, wenn
er schon auf die Mitwirkung der bürgerlichen Parlamentsfraktionen verzichten
wollte, besser angestanden: die Verteidigung der Firma Krupp oder die Ver¬
teidigung der Armee? Der Herr Kriegsminister sprach von Feldwebeln und
unteren Beamtin, die mit Brand in Verbindung getreten waren, so kühl, daß
man zu dem Glauben kommen könnte, es handle sich hier um ganz alltägliche
Vorgänge, die auch im Kriegsministerium seitens der Vorgesetzten als unab¬
änderliche Schickung hingenommen werden. Ich meine, der Herr Kriegsminister
hätte seine persönliche Stellung und was wichtiger ist, das Ansehen des Kriegs¬
ministeriums und damit der Armee — und zu deren Anwalt ist er doch bestellt
— besser gewahrt, wenn er ein Wort der Anerkennung für Krupp in diesem
Augenblick vermieden und statt dessen mit unnachstchtlicher Verfolgung derjenigen
gedroht hätte, die es schon gewagt oder jemals wagen würden, Ehre und
Disziplin der Armee anzutasten. Wollte der Herr Kriegsminister den persönlichen
Freund des Kaisers schonen? Galt es allgemeinstaatliche Interessen zu schützen?
Diskutabel wäre das Bestreben, den durch die Angelegenheit gefährdeten Ruf einer
Weltfirma nicht unter gar zu grelle Beleuchtung zu bringen, um das Vertrauen
im Auslande nicht ins Wanken zu bringen. Krupp ist einer unserer bedeutendsten
Exporteure; das Wohl und Wehe von mehr als zweihunderttausend Menschen
ist heute mit der Firma verbunden. Gilt aber auch nicht hier der Spruch:
Hilf dir selbst so hilft dir Gott!? Gibt es für den Staatsmann, für den
preußischen Kriegsminister nicht doch etwas höheres, als den Export und den
Ruf einer einzelnen Privatfirma? Der Herr Kriegsminister hat schließlich an
die Dankbarkeit der Nation appelliert, die sie der Firma Krupp schulde. In
der schon zitierten Rede heißt es: „Die Firma Krupp hat ein Jahr¬
hundert lang dem Heer treu zur Seite gestanden und zu den Er¬
folgen des deutschen Heeres beigetragen. Die deutsche Artillerie
verdankt der Firma Krupp wesentliche Verbesserungen. Das muß
dankbar anerkannt werden. . . ."
Ganz abgesehen von allem anderen halten diese Angaben des Herrn Kriegs¬
ministers vor einer ernsten Kritik nicht stand. Die Firma Krupp hat nicht
„hundert Jahre dem Heere treu zur Seite gestanden", sondern kaum sechzig,
nämlich seit 1855, wovon man sich in der „Jahrhundertschrift der preußischen
Artillerie-Prüfungskommission" von 1909 überzeugen kann. Dort ist auch der
Wirkungskreis der Firma als „einer treuen Mitarbeiterin" ziemlich genau um¬
schrieben. Es heißt, die Verdienste anderer Industrien, die ihren Anteil an der
Entwicklung der deutschen Artillerie haben, z. B. der chemischen, optischen, elek¬
trischen usw. und vor allen Dingen die Verdienste der Artillerie selbst verdunkeln,
wenn bei einem Anlaß, wie dem letzten, von besonderen Verdiensten einer ein¬
zelnen Firma gesprochen wird. Krupp hat die Kanonenfabrikation anfänglich
lediglich als Reklame für seinen Gußstahl betrieben. Wenn er sie nach 1855
beibehalten hat und somit die Firma das werden konnte, was sie heute ist, braucht
niemand in Deutschland dem damaligen Chef der Firma dankbar dafür zu sein.
Dem weitblickenden und kühnen Entschluß des Prinzregenten von Preußen, der
die Bestellung von dreihundert Rohrblöcken bei Krupp anordnete, obwohl nur
zweiundsiebzig bewilligt worden waren, danken wir die Erhaltung der privaten
Kanonenindustrie! Alfred Krupp, der in aller seiner Größe persönlich ein
bescheidener Mann geblieben ist, teilt gelegentlich selbst mit, daß er damals,
nachdem das Gußstahl sich die Welt erobert hatte, drauf und dran war, die
Kanonenfabrikation als unrentabel aufzugeben. Als die Essener Firma 1874
während der großen allgemeinen Krise an: Rande des finanziellen Zusammen¬
bruchs stand, war es wieder ein Organ des Staates, die Königlich Preußische
Seehandlung, die es übernahm, ein Bankkonsortium zusammenzubringen, um
ihr die notwendigen 30 Millionen Mark zu beschaffen» ohne die sie damals nicht
mehr existenzfähig war. — Natürlich nicht umsonst!
Auch die Verdienste der Firma Krupp — unser freudiger Stolz an ihren
großen Leistungen wird darum nicht geringer — werden durch entsprechende
Leistungen von Staat und Steuerzahler aufgewogen, sie hat keine besonderen
Verdienste, die es rechtfertigten, daß der Herr Kriegsminister und die
staaterhaltenden Parteien über ihnen vergessen durften, das Kriegsministerium
gegen beleidigende und zersetzende Eingriffe in Schutz zu nehmen und der
Regierung den Rücken gegen den „Imperialismus" des Großkapitals zu stärken.
Die Firma Krupp hat ihre Pflicht getan, wie tausend andere Firmen, und
ihre Pflichterfüllung zusammen mit den glücklichen Verhältnissen, die der Reichs¬
gründung folgten, trägt ihren Inhabern eine gute Rente in Gold und Ansehen.
Diese Feststellung durch den Herrn Kriegsminister wäre für die Ausbreitung
staatserhaltender Gesinnung, staatsbürgerlicher Erziehung sicher wertvoller ge¬
wesen als manches dicke Buch, das darüber geschrieben wurde.
Es wird mir entgegengehalten werden können, Alfred Krupp habe seiner¬
zeit darauf verzichtet in Frankreich eine Geschützgießerei einzurichten, mit der
ausdrücklichen Begründung, daß sich Frankreichs Kanonen einmal aus Preußen
richten könnten. Das war vor 1860. Seitdem haben sich die Zeiten ganz
erheblich geändert und Kruppsche Ingenieure haben sowohl in Rußland wie in
Frankreich das Härteverfahren für Panzerplatten und Granaten sowie die
dazugehörigen Anlagen eingeführt und eingerichtet. Auch die Firma Krupp
wird gegenwärtig von rein kapitalistischen Gesichtspunkten geleitet. Und es ist
lediglich das wohlverstandene Interesse beider, des Staats sowohl wie der
Privatfirma, das ein „treues" Zusammenwirken bedingt. Darum scheint es
mir nicht nur unangebracht, sondern auch im höchsten Maße gefährlich, in die
geschäftlichen Beziehungen zweier Faktoren romantische Begriffe hineintragen zu
wollen, die mit dem Geschäft selbst nichts zu tun haben.
Wir leben in Zeiten politischer Gärung, das ist in Zeiten politischer
Machtkämpfe. Der Kampf geht um die Macht in, Staat, — Objekt des
Kampfes ist bewußt und unbewußt der Staatsorganismus, die Bureaukratie.
Die aber gegenwärtig um sie kämpfen sind nicht Aristokratie und Demokratie,
wie uns von Parteigängern und Gelehrten gesagt wird, sondern Großkapital,
Nation und — Monarchie. Aristokratie und Demokratie sind Schlagworte
geworden, jenes zur Befriedigung eines mehr persönlichen ästhetischen Bedürfnisses,
dieses um die Massen zu gewinnen oder um ängstliche Gemüter zu schrecken.
Vielleicht, daß beide auch politisch wieder einmal zu Ehren kommen; einstweilen
steht die Verteilung der materiellen Güter noch so im Vordergrunde des Inter¬
esses, daß es nicht ästhetische, sondern rein materielle Gesichtspunkte sein müssen,
nach denen die Kämpfe um die Macht ausgefochten werden.
Betrachten wir den Fall Krupp von dieser Seite, so werden wir das
Geschäftsgebaren der Kanonenfirma mit der allgemeinen Entwicklungstendenz
im Einklang finden. Für sie ist die Welt in erster Linie Markt und seit sie
in aller Welt Konkurrenz gefunden, auch die moderne Arena, auf der
sich alle Kräfte, körperliche, geistige und moralische, frei tummeln können.
Die Tendenz führt über die staatlichen und nationalen Grenzen hinaus; ihr
einziger sichtbarer Maßstab ist ein internationaler Wert: das Gold. Die Menge
des im Kampfe gewonnenen Goldes aber ist auch der einzige Wertmesser für
den Grad der Leistungsfähigkeit und es will mir, rein vom Standpunkt der
kapitalistischen Entwicklung aufgefaßt, nichts natürlicher scheinen, als wenn in
dem allgemeinen Wettstreit eine so gewaltige Organisation wie die von Krupp
nun auch danach trachtet, sich den Staat, in dessen Schutz sie erstarkt ist,
vollständig unterzuordnen: bewußt durch Einflußnahme auf die Politik des
Staates, unbewußt durch Zersetzung der staatlichen Organe beim Kampf um
den inneren Markt. Man fühlt sich stärker und damit berechtigter als der
Staat und überschätzt die eigene Bedeutung für die Nation, die folgerichtig in
erster Linie auch als Markt (Konsument) gewertet wird. Man geht aber in
solcher Überhebung um so weiter, je mehr man die Abhängigkeit der Staaten
vom Gelde kennt und je mehr man gewahr wird, welche Anstrengungen von
seiten aller Staaten gemacht werden, um das Privatkapital an sich zu ziehen
aß der Imperialismus unter den politischen Fragen der Gegen¬
wart den wichtigsten Platz einnimmt, darüber besteht heute kaun:
noch ein Zweifel; aber warum er diese Rolle spielt — warum
er sie spielen muß. ob er sie spielen muß —, mit dieser Frage
hat man sich, in Deutschland wenigstens, nicht viel beschäftigt.
Mit andern Worten: die Praxis des Imperialismus ist jedem geläufig; auch
der „man in tre 8dreht" wird um eine Antwort auf die Frage nie verlegen
sein, wie sich der Imperialismus äußert und was für Folgen er hat. Aber
mit der Theorie des Imperialismus haben sich nur wenige abgegeben, und
kaum jemand könnte eine Antwort geben, wenn man ihn fragte: welchen Kräften
und Vorbedingungen verdankt der Imperialismus seine Entstehung? Warum
ist sein Dasein eine innere Notwendigkeit? Und doch wäre es von so außer¬
ordentlicher Bedeutung, die Wurzeln des Imperialismus bloßzulegen. Denn
eine Darlegung seiner geschichtlichen und wirtschaftlichen Entstehungsursachen
müßte zugleich Klarheit darüber verschaffen, ob er nur eine Einzelerscheinung ist,
die für ein bestimmtes Volk unter bestimmten Voraussetzungen Berechtigung hat,
oder ob er eine innere Notwendigkeit, ein Zwang ist — herausgeboren aus der
unabänderlichen Entwicklung der Menschheit — dem kein Volk sich entziehen kann,
das seinen Platz behaupten will.
Eine solche Untersuchung über die Grundlagen des Imperialismus hätte
allerdings zur Voraussetzung, daß man ihn, ebenso wie alle geschichtliche Ent¬
wicklung, nicht für das zufällige Ergebnis äußerer Umstände, etwa des Ehrgeizes
von einzelnen politischen Führern hält, sondern daß man ihn als die naturnot-
wendige und im Zusammenhang mit der Vergangenheit zu erklärende Willens¬
äußerung im Leben des Volkes oder der Völker betrachtet. Aber es dürfte heute
wohl kaum noch jemand geben, der so leichtfertig über eine so allgemeine Er¬
scheinung von eindrucksvoller Sinnfälligkeit urteilte, daß er den Imperialismus für
eine vorübergehende Erscheinung hielte, die dem ungemessenen Ehrgeiz der Führer
eines Volkes oder der Habsucht seiner Kapitalisten ihre Entstehung verdankt. Wenn
man die Frage nach den Grundlagen des Imperialismus so stellt, eindringender
u»d umfassender, so ergiebt sich zugleich, daß man sie nur aus einer völligen
Kenntnis der allgemein menschlichen, der geschichtlichen und wirtschaftlichen Zu¬
sammenhänge heraus ganz beantworten könnte. So ergeben sich dem, der sich an
dieses Thema wagt, die Beschränkungen von selbst. Und wenn in diesem Auf¬
satze den Entstehungsgründen des Imperialismus nachgegangen werden soll, so
geschieht es mehr, um diese Fragen aufzuwerfen und auf die Möglichkeiten ihrer
Lösung hinzudeuten, als um sie zu lösen.
Über den Begriff „Imperialismus" selbst Klarheit zu schaffen, ist nicht
schwer. Denn der moderne Imperialismus ist ein ziemlich fest abgegrenzter
Begriff. Er unterscheidet sich scharf von dem Imperialismus im Sinne des
älteren Staatsrechts, das ihn — wie es Friedrich Julius Stahl in seiner „Staats¬
lehre" tut — von dem Begriff der absoluten Monarchie ableitet, deren zwei
Unterarten die absolute Monarchie auf Grund der Legitimität — die eigentliche
absolute Monarchie — und die absolute Monarchie auf Grund der Revolution
— der Imperialismus — sind. Ebensowenig deckt sich der Begriff Imperialis¬
mus mit dein staatlichen, auf die Errichtung eines Weltreichs gerichteten Streben
zur Zeit des römischen Kaiserreichs, obgleich die Ähnlichkeit groß ist und der
Name dein römischen Imperium seinen Ursprung verdankt. Aber die Verschieden¬
heit der Auffassung vom Wesen des Staates, das Ideal der römischen, aus der
Volksmonarchie abgeleiteten Universalmonarchie mit seiner religiösen Beimischung
bedingt wesentliche Unterschiede von dem heutigen imperialistischen Ideal mit
seinen nationalen und wirtschaftlichen Bestandteilen. So wird man im Sinne
des modernen Sprachgebrauchs den Imperialismus bezeichnen können — wenn
man die Definition auf die Kürze eines Schlagwortes zurückführen will — als
das Streben nach Weltherrschaft; oder eingehender und zutreffender definiert:
als das Streben eines Volkes nach möglichst großer Ausdehnung in politischer
oder doch wirtschaftlicher Beziehung, ohne Rücksicht auf die Bedingungen des
eigenen Landes.
Ein überreiches Material bietet sich dem, der aus der praktischen Betätigung
des Imperialismus heraus die Grundzüge seines Wesens und die Vorbedingungen
seines Vorhandenseins ableiten will. Denn fast alle modernen Großstaaten sind
bemüht, ihr politisches und wirtschaftliches Machtgebiet über die Grenzen des
eigenen Staates hinaus möglichst weit und möglichst stark auszudehnen: Eng¬
land, Frankreich, Italien, Rußland, die Vereinigten Staaten, Japan; sogar in
Österreich wird man jetzt von einer imperialistischen Politik sprechen können.
Deutschland ist die einzige Großmacht, deren Politik nicht nach imperialistischen
Gesichtspunkten geleitet wird. Denn die einzelnen Maßnahmen, die man aus
diesem Gesichtspunkt heraus betrachten könnte, die Besetzung Tsingtaus, die
Schaffung einer Flotte, die Fühlungnahme mit der mohammedanischen Welt,
sind zu vereinzelt und von zu ausgesprochenen D6sint6ressementserklärungen
begleitet gewesen, als daß man von einer einheitlichen imperialistischen Politik
Deutschlands sprechen könnte. Auch der Erwerb von Kolonien, die ja in ihrem
wertvolleren Teil noch von Bismarck in einer vorimperialistischen Zeit dem Reich
gewonnen wurden, hatte mehr allgemein volkswirtschaftlichen Charakter. Die
Tatsache, daß Deutschland sich nicht an der imperialistischen Politik aller
anderen Großmächte beteiligt, ist um so überraschender, als es — außer Eng¬
land — das einzige Land ist, das die inneren Vorbedingungen für eine Ex¬
pansionspolitik hat (drohende Übervölkerung, starke, ausfuhrbedürfttge Industrie,
große, anlagesuchende Kapitalien).
Am deutlichsten ausgeprägt sind die imperialistischen Züge in dem Mutter¬
land des modernen Imperialismus, in England, und es ist daher auch nicht er¬
staunlich, daß dem Studium sowohl der praktischen als auch der theoretischen
Seite des englischen Imperialismus, die eingehendste Beachtung gewidmet
worden ist. So gibt es denn eine kaum übersehbare Reihe von Schriften,
die sich mit der Geschichte, dem Bau, der Ausgestaltung und der inneren
Festigung des englischen Weltreiches beschäftigen, und fast jede Nummer
der politischen englischen Reviews bringt weitere wertvolle Beiträge. Aber auch
der theoretische Teil der Frage ist nicht unbeachtet geblieben; von verschiedenen
Seiten ist mit Erfolg versucht worden, die Wurzeln des englischen Imperia¬
lismus bloßzulegen. Unter den Schriften über dieses Thema hat das Buch des
Professors von Schulze-Gaevernitz: „Britischer Imperialismus und englischer
Freihandel" mit Recht die größte Beachtung gefunden. Schulze - Gaevernitz
definiert in diesem Buche das Ideal des britischen Imperialisten, und er zeigt
wie es kam, daß dieses Ideal Gemeingut des englischen Volkes wurde und
werden mußte. Das Endziel des britischen Imperialisten ist nach seinen Aus¬
führungen in erster Linie nicht die Verwirklichung eines volkswirtschaftlichen
Programms — also gewissermaßen ein materialistisches Ideal —, sondern als
höchstes Ziel steht dem britischen Imperialisten vor Augen die Schaffung einer,
nationalen, britischen Organisation, die die britischen Kulturideale als die
höchsten, die es überhaupt gibt, zu verwirklichen imstande sei. Daneben seien
es auch Erwägungen wirtschaftlicher Natur, die einen engen Zusammenschluß
der britisch besiedelten Gebiete als geboten erscheinen lassen. Während sich so
das imperialistische Streben der Engländer vor allem den großen, mit Eng¬
ländern besiedelten Gebieten — Kanada, Australien, Südafrika — zuwende,
habe diese aktive Politik als solche zusammen mit dem auf Sicherung der alten
Tropenkolonien gerichteten Bestreben auch die Erwerbung einer Reihe von
neuen tropischen Gebieten zur Folge gehabt; so sei — teils widerwillig, teils
mit voller Absicht — z. B. Biram, Ägypten, der Sudan, Uganda erobert
worden. — Der Erhaltung dieses Ideals — politischer und auch wirtschaftlicher
Zusammenschluß eines englisch redenden Reiches unter dem Anschluß der Pflanzungs¬
kolonien — seien die anderen imperialistischen Bestrebungen, Stärkung der Wehr¬
kraft, Handels- und Finanzpolitik gewidmet.
Wie sich dieses Ideal geformt hat, wie es Gemeingut eines Volkes wurde,
das leitet Schulze-Gaevernitz aus der Geschichte Englands ab, und zwar aus
dem Verlauf der politischen Geschichte, wie aus dem der Entwicklungsgeschichte
seiner Bewohner. „England siegte über seine Mitbewerber, nicht nur weil es
den stärkeren Staat, sondern auch weil es den stärkeren Einzelmenschen besaß"
(S. 7). Die natürlichen Vorbedingungen für die Hervorbringung eines besonders
hochstehenden Typus von Menschen waren in England schon gegeben durch seine
natürliche Lage als nordische Insel, die ihre Bewohner durch ständige Berührung
mit dem Meer abhärtet, stählt, selbständig und weitblickend macht. Auf
diesen Menschenschlag wirkten die Umwälzungen besonders stark, welche die
Kirchenreformation England brachte; diese äußerte sich, wie Schulze-Gaevernitz
im Anschluß an Carlvle ausführt, in einer positiven und einer negativen
Richtung. negativ, indem sie den mittelalterlichen Menschen von feiner reli¬
giösen und gesellschaftlichen Gebundenheit befreite und so eine geistige und
staatliche Befreiung des Individuums brachte; positiv, indem sie einen neuen
Menschen schuf, der auf Grund seiner religiösen Selbstbestimmung und Ver¬
antwortung auch für die wirtschaftliche Selbstbestimmung reif gemacht wurde.
Durch eine eingehende Charakteristik dieses religiös neugebildeten Menschen, des
Puritaners, weist Schulze-Gaevernitz, unter Bezugnahme auf die Forschungen
Max Webers, auf die engen Zusammenhänge und die gegenseitige Bedingtheit
des puritanischen und des kapitalistischen Geistes hin — ein Zusammenhang,
der übrigens auch dichterisch von Johannes V, Imsen in seinem Roman „Das
Rad" (S. 125) erfaßt worden ist. So entstand der kapitalistische Geist der
Neuzeit, dessen religiöses Empfinden sich zunächst auf die Erreichung diesseitiger
und jenseitiger Ziele gleichmäßig verteilte, bis dann allmählich die jenseitigen
verblaßten und die diesseitigen sich beherrschend in den Vordergrund drängten.
Diesem Menschenschlag, der durch jahrhundertelange puritanische Erziehung
Selbstzucht geübt hatte, geistig von der Vollkommenheit seiner Anschauungen,
von der Allgemeingültigkeit seines Ideals überzeugt und wirtschaftlich von
vorwärtsdrängenden kapitalistischen Geist erfüllt war, wurden neue geistige
Ideale aufgepfropft von den Vertretern einer Richtung, die in bewußtem
Gegensatz stand zu der allgemeinen Nützlichkeitslehre der herrschenden Manchester¬
schule. Es war Carlyle, der die Persönlichkeit, den „Helden" und damit auch
den „politischen und geistesgeschichtlichen Faktor in den Vordergrund auch der
Volkswirtschaft" stellte, der durch die Betonung des Wertes der Nation gegen¬
über Rentabilitätsberechnungen, der Pflicht des starken Staates zu kolo¬
nisieren und zu kultuvieren, die Keime zu einer imperialistischen Entwicklung
legte. Diese Gedanken wurden von den Universitäten aufgenommen, in die weiteren
Kreise der Gebildeten übertragen; bis sich in Beaconsfield der Mann fand,
der diese Gedanken in die Tat umzusetzen verstand. So bildete sich das
moderne Geschlecht britischer Imperialisten heraus, das sein Vaterland nicht
mehr allein in dem Vereinigten Königreiche sieht, sondern in einem britischen
Weltreich, das „an die Kulturmission seiner Herrschaft glaubt" und dadurch
seinen wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen eine so ungeheuere Stoßkraft
verleiht.
Neben dieser inneren Entwicklung ging die äußere Geschichte, beide ein¬
ander gegenseitig bedingend. Cromwell schuf, von der religiösen Überzeugung
durchdrungen, daß seine puritanisch-englischen Ideale Menschheitsideale seien,
denen er auch durch Kampf zum Sieg verhelfen müsse, ein wehrhaftes eng¬
lisches Volk; er errichtete ein starkes Volksheer und eine Flotte, die die Ober¬
hand über Spanien, über die Niederlande gewann. Durch eine Reihe von
außerordentlich wirksamen Maßregeln, von denen die Navigationsakte die
wichtigste war, stärkte er die Volkswirtschaft seines Landes. So erstarkte Eng¬
land und vermochte in jahrhundertelangem Kampfe den Sieg über Frankreich
zu erringen und in den Besitz eines ungeheueren Kolonialreiches zu gelangen.
Mit dem Verblassen des puritanischen Ideals und dem Aufsteigen einer neuen
kapitalistischen Weltanschauung, trat eine Unterbrechung dieses gewaltigen Um¬
sichgreifens ein. Die herrschende Manchesterschule, an ihrer Spitze Cobden,
verwarf die Eingriffe des Staates auch im internationalen Güterverkehre,
bekämpfte eine kostspielige kriegerische Machtpolitik und verlangte die Ab¬
stoßung der Kolonien, die nicht rentierten. Diese Lehren führten zu der Ein¬
führung des Freihandels, zu der Enthaltung von bewaffneten Eingriffen und
Erwerbes neuer unrentabler Kolonien. Als mit dem Aufsteigen anderer
Völker diese Anschauungen sich überlebt hatten, gewann der Geist starker mili¬
tärisch-politischer Betätigung wieder die Oberhand, in wirtschaftlicher Beziehung
gestärkt und gestützt durch den modernen Kapitalismus, in geistiger Beziehung
begründet durch die Lehren der modernen englischen Schule Seeleys und Carlyles.
Es wuchs das Geschlecht heran, dessen Verkörperung Cecil Rhodes geworden
ist: erfüllt von dem Ideal eines groß-englischen Reiches, wirtschaftlich teil¬
nehmend an seinen Unternehmungen durch die Pfundaktie — die Trägerin des
neubritischen Imperialismus, wie Georg von Siemers sie genannt hat (Schulze-
Gaevernitz S. 132) —, neue Länder an sich reißend und alte sich wieder neu
verbindend. So ging England wieder dazu über, seine alten Kolonien
neu zu festigen und zu sichern, Afghanistan, Beludschistan und womöglich Persien
als „Glacis" des neuen Kaiserreiches Indien zu erwerben und den Weg dorthin
zu einem unangreifbaren zu machen; 4754000 englische Ouadratmeilen mit
88 Millionen Menschen wurden von 1870 bis 1901 den alten englischen
Kolonien angegliedert (Hobson, Jmperialism, London 1905). So brachte es
seine alten Kolonien wieder in geistige, politische, wirtschaftliche Verbindung mit
dem Mutterland. Und es entstand das England unserer Tage.
Es ist notwendig gewesen, das Ideal des englischen Imperialisten, seine
innere und äußere Entwicklung in kurzen Zügen anzudeuten, wie es hier im
Anschluß an die Ausführungen von Schulze-Gaevernitz versucht worden ist,
obwohl es sich in diesem Aufsatz nicht um den englischen Imperialismus, sondern
um die Erscheinung im allgemeinen handelt. Aber da der Imperialismus
seine früheste und stärkste Verkörperung in England gefunden hat, so ist die
Annahme berechtigt, daß man aus feiner Betrachtung wichtige allgemeine
Schlüsse wird ziehen können. Aber man wird trotzdem nicht vorsichtig genug
sein können mit der Anwendung der aus der englischen Entwicklung abgeleiteten
Sätze auf den Imperialismus im allgemeinen; und es würde zu völlig falschen
Schlüssen führen, wenn man, wie es meistens geschieht, den Imperialismus
anderer Völker am englischen messen und danach beurteilen wollte. Dazu ist
der englische Imperialismus zu sehr durchsetzt von nationalen Zügen; er ist
nicht rein genug. Er kommt schon deswegen für die Ableitung theoretischer
Leitsätze über den Imperialismus nicht in vollem Umfang in Betracht, weil er
vorwiegend national-kulturell ist. Zwar zeigt die englische Politik auch insofern
rein imperialistische Züge, als sie im letzten Menschenalter keine Gelegenheit
versäumt hat, fremde Länder auch dann sich einzuverleiben, wenn eine Not¬
wendigkeit (Schutz oder Abrundung alter Kolonien) nicht vorlag; z. B. Uganda,
Rhodesien, Sudan, Birma. Aber anderseits wird England durch wirtschaftliche
und natürliche Verhältnisse — außerordentliche industrielle Erzeugung, anlage¬
suchende Kapitalsansammlung — zur Ausdehnung förmlich genötigt; und vor
allem ist seine imperialistische Politik auf das Bestreben zurückzuführen, seine
englisch besiedelten Kolonialgebiete zu einem einheitlichen Reich zusammen¬
zuschweißen, und seinen schon vor Jahrhunderten erworbenen Kolonialbesitz zu
sichern. So nahm der neubritische Imperialismus, nachdem die Hemmungen
der manchesterlichen Lehre beseitigt waren und die Stimmung des ganzen Volkes
Lord Beaconsfield an die Spitze gebracht hatte, gewissermaßen nur wieder eine
Politik auf, die schon durch Cromwell und die Kriege mit den Franzosen in die
Wege geleitet war. Wenn daher auch der britische Imperialismus dem nur ein¬
mal verwirklichten Ideal der Errichtung eines Imperiums, eines Weltreichs,
wie es die Römer geschmiedet hatten, am nächsten kommt, so ist er für die
Betrachtung des modernen Imperialismus in: allgemeinen nur in beschränkten:
Maße verwendbar.
Denn er erklärt nicht die eigentümliche Erscheinung, die wir an andern
Imperialismus treibenden Völkern betrachten: warum sie sich anscheinend ohne
innere Notwendigkeit so stark auszudehnen trachten? Ein kurzer Überblick über
die einzelnen, imperialistischen Länder ergibt die Gemeinsamkeit dieses Charakter¬
zuges. So ist Frankreich ein dicht besiedeltes Land von ungeheurem Kapital¬
reichtum, aber seine Bevölkerungsziffer vergrößert sich nicht, und es würde
keiner Siedlungskolonien bedürfen, trotzdem ist sein Streben auf die Errichtung
eines großen, nordafrikanischen Kolonialreichs gerichtet, trotzdem hat es Tonkin,
Madagaskar erobert. Auch Italien hätte, an sich betrachtet, keinen Grund zu
einer so starken Ausdehnungspolitik. Denn es ist kein vollentwickeltes Land,
das trotz intensivster Ausnützung seiner heimischen Möglichkeiten seinem Bevölke¬
rungszuwachs keine Nahrung mehr zu bieten vermöchte. Im Gegenteil: es be-
dürste jahrzehntelanger Arbeit, um allein den landwirtschaftlichen Kulturzustand
zu erreichen, den es zur Zeit der Blüte des alten Roms hatte. Aber trotzdem
drängt es nach außen und statt die Erträge des Landes für Meliorationen im
eigenen Lande zu verwenden, verausgabt es sie in kostspieligen Kolonialkriegen.
Sowohl bei Frankreich wie bei Italien mag halb unbewußt der alte
Wunsch der Mittelmeerstaaten nach dem Besitz der gegenüberliegenden Küste
mitsprechen — wie Friedrich Naumann kürzlich in einem Vortrag ausführte —
auch kann das Vorgehen Italiens und Frankreichs als ein Gegenstoß gegen
das Vordringen der mohammedanischen Welt im Mittelalter aufgefaßt werden.
Aber all das wäre nur dann eine völlige Erklärung für das Vorwärtsdrängen
Italiens und Frankreichs gewesen, wenn diese beiden Länder sich auf das
Mittelmeerbecken beschränkt hätten. Statt dessen hat Frankreich auch sonst
zugegriffen: in Kamerun, in Madagaskar, in Jndochina; Italien hat sein Heil
in Abessinien versucht und ist noch heute glücklicher Besitzer der wilden Somali¬
küste und von Erythräa. All diese Neuerwerbungen stehen weder mit Italien
noch mit Frankreich in irgend welchem Zusammenhang. All diese Gebiete sind
ganz oder zum großen Teil nur aus dem imperialistischen Geist heraus erworben,
ohne innere Notwendigkeit.
Dasselbe anscheinend unbegründete Vorwärtsdrängen, das sich aus dem
englischen Imperialismus nicht erklären läßt, ist in beinahe noch höherem Maße
bei den andern imperialistischen Nationen zu beobachten: bei den Vereinigten .
Staaten, bei Rußland, bei Japan. Die Vereinigten Staaten, trotzdem sie die
doppelte Menge ihrer jetzigen Bewohner im eigenen Lande zu ernähren ver¬
möchten, treiben vielleicht die schärfste Ausdehttungspolitik: Kuba. Hawaii,
Philippinen, Mittelamerikanische Staaten, Primat in Südamerika — alles in
einem Jahrzehnt. Dieser Imperialismus läßt sich nicht allein aus einer über¬
hitzten kapitalistischen Entwicklung heraus erklären. Zwar bedarf die amerika-
nische Industrie fremder Märkte, aber die eroberten Länder sind zum Teil
keine geeigneten Absatzgebiete; dann sind die Vereinigten Staaten auch noch nicht
zum anlagesuchenden Gläubigerstaat geworden, sondern bedürfen im Gegenteil
fremden Geldes in hohem Maße. Und schließlich kann Kapitalismus allein,
also rein wirtschaftliche Beweggründe, als treibende Kraft nicht in Frage kommen
bei einer Nation, deren politisches Denken und Fühlen in so hohem Maße von
einer bewußt zur Waffe des Imperialismus geschmiedeten Lehre — wie der
Monroedoktrin — beeinflußt wird.")
Dasselbe gilt für Rußland. Auch hier ungeheure weite Strecken un-
besiedelten Landes, deren intensive Bebauung wohl noch viele Jahrzehnte stiller
Arbeit erfordern würde, und doch ein unersättlicher Landhunger, Versuche, die
Mandschurei, Mongolei, Persten zu erwerben; überall eine scharf expansive.
nationalistische Politik. Es ist eine bei Rußland um so merkwürdigere Er¬
scheinung, als hier in diesem unentwickelten Lande, das sich eben erst aus der
Agrarverfassung des Mittelalters herauszuschälen beginnt, die nach außen treibende
Kraft des entwickelten Kapitalismus fehlt. — Ebensowenig vermag man Japan
die innere Notwendigkeit für eine imperialistische Zukunft zuzusprechen — schwach
entwickelter Kapitalismus, große Landreseroen, denn kaum 40 Prozent des Bodens
sind in landwirtschaftlicher Kultur —, wenn auch hier der Wunsch, es auch in
dieser Beziehung den europäischen Großmächten gleichzutun und der Gedanke
an spätere Zukunft als innere Gründe für die Ausdehnung in der Mandschurei,
in Korea und China geltend gemacht werden mögen.
So ergibt sich aus diesem kurzen Überblick über die imperialistische Ent¬
wicklung in den einzelnen Ländern der Unterschied von dem englischen Imperia¬
lismus, oder wenigstens die Abweichungen: in England Imperialismus zur
Erreichung eines kulturellen Zieles, der Schaffung einer großen britischen Kultur¬
gemeinschaft, verbunden mit rein imperialistischen, kolonialen Neuerwerbungen;
in den anderen Ländern Ausdehnung um der Ausdehnung willen, ohne kulturelle
Absichten, allein zum Zweck des Machtzuwachses.
Gemeinsam aber ist England und den anderen Ländern — ausgenommen
vielleicht Rußland — der wichtigste äußere Antrieb zur imperialistischen Politik:
der Kapitalismus. Wie dieser kapitalistische Geist sich in England bildete und
welche Wirkungen er auf die äußere Politik hatte, ist im Anschluß an Schulze-
Gaevernitz ausgeführt worden. Mag nun auch diese kapitalistische Bewegung
in anderen Ländern — entsprechend den verschiedenen Vorbedingungen — sich
verschieden entwickelt haben, so wird nicht daran gezweifelt werden können, daß
der Kapitalismus in den imperialistischen Ländern die Grundlage der wirtschaft¬
lichen Anschauungen bildet und daß der Imperialismus sich in dem Maße stärker
und aktiver äußert, in dem der Kapitalismus ausgebildet ist; vor allem also
in den Vereinigten Staaten und England.
Wenn daher der Beweis für das Einanderbedingen von Kapitalismus
und Imperialismus auch nicht für alle Länder in so zwingender Weise geführt
werden kann wie für England, wo die Expansion der Industrialisierung und
Kapitalansammlung auf dem Fuße folgte, und wo ein so glänzender lebender
Beweis für ihre Verschmelzung erwuchs, wie Cecil Rhodes es war, so läßt er
sich immerhin aus der Betrachtung des Wirtschaftslebens der einzelnen Länder
in analoger Weise führen. Überall wird man den Gang der äußeren Ent¬
wicklung in großen Zügen so verlaufen sehen: Einführung von Schutzzöllen,
Entstehung einer starken Industrie, Hebung des allgemeinen Wohlstandes, wirt¬
schaftliche Erschließung fremder Länder, gefolgt von — oder verbunden mit —'
politischer Beeinflussung. So besteht denn auch heute kaum noch ein Zweifel
über diesen Zusammenhang. Auch die Sozialdemokraten haben ihn mit der
feinen Witterung, die sie für ihnen abträgliche Bewegungen haben, erkannt.
Und sowohl die orthodoxe, wie die revisionistische Richtung macht sich die Er-
terrenis, daß der Kapitalismus eine der treibenden Kräfte des Imperialismus
ist — jede auf ihre Weise — zu Nutz. Wenn daher auch Rosa Luxemburg
in ihrem neuen umfangreichen Buch*) mit marxistisch belasteten Verstand noch
glaubt, die Fülle der Erscheinungen unseres wirtschaftlichen Lebens in einige
Formeln bannen zu können**), so ist sie doch zu einer annähernd richtigen Er¬
kenntnis der ökonomischen Zwecke des Kapitalismus (S. 419) und der Art der
imperialistisch-kapitalistischen Ausdehnungspolitik gelangt. Daß sie diese Erkenntnis
dazu verwendet, alle die verschiedensten Probleme auf den einen Nenner „Kapital¬
akkumulation und Mehrwert" zu bringen, ist hier nicht von Belang. Wichtig
ist nur, daß auch sie und die marxistische Schule***), die den Imperialismus
als einen „Rückfall auf historisch überlebte Entwicklungsstufen der kapitalistischen
Produktionsweise" auffassen, sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß
„der Imperialismus eine innere Notwendigkeit und keine zufällige Tatsache"
ist und daß „es heute keine geschichtliche Wahl mehr gibt, als Imperialismus
oder Sozialismusf)".
Eine weniger akademisch-sozialistische Erklärung der imperialistischen Be¬
wegung, als die Zurückführung auf Mehrwert und Kapitalakkumulation hat die
revisionistische Richtung gefunden, wenn auch sie ganz im Materialismus stecken
bleibt. Schippelff) erkennt den Imperialismus wenigstens als eine Weiter¬
entwicklung, nicht als einen Rückschritt an, indem er ihn geradezu definiert als
„die Wiederabkehr der bürgerlichen Weltpolitik vom Mancheftertum, als das
Wiederauftauchen der einst verdrängten Staatsmacht auf dem internationalen
Wirtschaftskampffeld". Er geht sogar so weit, daß er dem Imperialismus die
innere Notwendigkeit und Berechtigung nicht abspricht. Schippel, als Vertreter
"*) S. 14: „Die allgemeine Formel der erweiterten Reproduktion unter der Herrschaft
des Kapitals stellt sich also folgendermaßen dar:
wobei ^ den kapitalisierten Teil des in der früheren Produktionsperiode angeeigneten Mehr¬
werth darstellt, in' den neuen, aus dem gewachsenen Kapital erzeugten Mehrwert."
S. 18. „Die nächste Produktionsperiode würde dann in der Formel zum Ausdruck
kommen:"
der ökonomisch-historischen Richtung, führt ihn darauf zurück, daß er der — not¬
wendigen — Güterbeschaffung aus ausländischen Gegenden diene, die von irgend
einem Volk besorgt werden müsse. Solange keine internationale Güterverteilungs-
stelle bestünde, geschehe dieser Gütererwerb eben unter Kämpfen. Noch wichtiger
ist, daß Schippel diese Notwendigkeit der auswärtigen Güterbeschaffung und
Unterdrückung fremder Völker als eine auch im zukünftigen Arbeitereuropa nötige
Handlung hinstellt. Er bejaht also den Imperialismus — von der wirtschaft¬
lichen Seite aus.
So besteht also heute wohl kaum noch ein Zweifel über die Richtigkeit
der Behauptung, daß der kapitalistische Geist der äußere Antrieb des imperia¬
listischen ist, wenn auch ein jeder, je nach seinen politischen oder wirtschaftlichen
Anschauungen, auf verschiedenem Wege zu dieser Erkenntnis gelangt ist und
verschiedene Folgerungen aus ihr zieht. Das Merkwürdige ist nur, daß eben
Vertreter aller Parteien sich mit dieser Erklärung begnügen, obwohl sie
eine rein materialistisch-ökonomische ist. Verständlich ist es bei den Vertretern
der sozialistischen Richtung, denen der Materialismus die Grundlage ihres
Denkens ist. Daß aber der, dem die Geschichte nicht lediglich das Ergebnis
wirtschaftlicher Beweggründe ist, eine so gewaltige tiefgreifende Bewegung, wie
den Imperialismus, nur auf kaptalistische Beweggründe zurückführt, ist erstaun¬
lich. Und doch erblickt selbst ein Werk, wie das des Engländers Hobson, das
sich mit der Theorie des Imperialismus befaßt"), in der imperialistischen Be¬
wegung nichts anderes als eine solche, die von einem Kreise von ideell oder
materiell Interessierten zu ihrem Vorteil ins Leben gerufen ist: ehrgeizige Poli¬
tiker oder Soldaten, übereifrige Missionare, vor allem aber Großkapitalisten, Gro߬
industrielle, Großrheder, die Presse, die die öffentliche Meinung zu ihren Privat¬
zwecken mißbrauchen; oder um ein geschmackvolles, in der liberal-sozialistischen
Presse beliebtes Schlagwort zu gebrauchen: Panzerplattenpatriotismus sei der
Erreger des Imperialismus. Der Grundirrtum dieser Auffassung besteht darin,
den Imperialismus als eine Mache zu betrachten, als eine oberflächliche Wallung.
Dieser Irrtum ist um so unbegreiflicher, als schon die Beobachtung der Tages¬
ereignisse lehrt, daß der Imperialismus alle Kreise der betreffenden Völker er¬
griffen hat. Das tripolitanische Unternehmen Italiens, das dem Außenstehenden
zuerst als Prestige- und Kapitalistenpolitik erscheinen mochte, entsprang dem ein¬
mütiger Willen des ganzen Volkes, und ist unter nie erlahmender Begeisterung,
der sich selbst die sozialistischen Abgeordneten anschließen mußten, zu Ende geführt
worden. Die Vereinigten Staaten — eine Republik! — hätten nie eine äußere
Politik treiben dürfen, wie sie sie in den letzten fünfzehn Jahren getrieben haben,
wenn sie nicht von der .einmütiger Billigung des ganzen Volkes getragen
worden wäre. Nie hätte das liberale englische Kabinett die imperialistische
Politik des konservativen fortsetzen dürfen, wenn nicht der Imperialismus dem
einfachen Mann als eine selbstverständliche Forderung im Herzen gesessen
hätte.
Wenn es daher wahr ist, daß der heutige Imperialismus die ganzen Völker
ergreift — und das ist wahr —, so ist mit dieser Tatsache der Beweis schon
geführt, daß er innere im Herzen des Volkes lebende Gründe haben muß. Er
kann sich nicht allein durch materielle Gründe erklären lassen, kann keine „Messer¬
und Gabelfrage" sein, wie die englischen Imperialisten betonen. Niemals in
der Geschichte hat sich eine Allgemeinheit, ein Volk, auf die Dauer von materiellen
Zielen allein leiten lassen; oft genug waren sie der Antrieb zum Handeln, nie der
alleinige Beweggrund. Wer sich daher mit der materiellen Erklärung des Im¬
perialismus, daß er auf dem Kapitalismus beruht, begnügt, der wird immer
nur eine Seite der Frage erfassen und wird nicht aus den inneren Zusammen¬
hängen heraus die Frage beantworten können: daß er und inwiefern er eine
Notwendigkeit ist.
Insofern werden Nachforschungen nach dieser Richtung hin weniger erfolg¬
reich sein, als diese inneren Zusammenhänge sich nie so rechnerisch klar werden
nachweisen lassen, wie die wirtschaftlich-kapitalistischen. Eine exakte Antwort auf
die Frage: welches sind die inneren Grundlagen für den Imperialismus? wird
sich daher nicht exakt durch Aufzählung von drei bis vier Punkten geben lassen.
Denn es kommt für die Ableitung theoretischer Grundsätze aus dem Volks¬
charakter erschwerend hinzu, daß der Imperialismus zwar eine allgemein inter¬
nationale Erscheinung ist, daß er aber in gewisser Weise immer bedingt sein
muß durch die geschichtlichen und natürlichen Vorbedingungen und Charakterzüge
eines jeden einzelnen Volkes.
Die Gründe, welche die breiten Massen der verschiedenen Völker zur Be¬
folgung einer imperialistischen Politik treiben, müssen einfacher Natur sein,
müssen aus allgemein-menschlichen, unkomplizierten Beweggründen hervorgehen.
Denn das Volk als solches wird nie den umständlichen Folgerungen einer
rechnenden Vernunft folgen, sondern es läßt sich von einfachen, allgemeinver¬
ständlichen Motiven, fast nur Instinkten treiben.
So sind alle großen Bewegungen in der Geschichte: die Völkerwanderung,
die Kreuzzüge, die Reformation, die Entdeckungen und Kolonisterungen im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert, der nationale Zusammenschluß im neun¬
zehnten Jahrhundert, zurückzuführen auf die einfachsten Regungen der mensch¬
lichen Seele: Selbsterhaltungstrieb, Gegenwirkung auf Bedrückung irgendwelcher
Art, Trieb nach größerer Freiheit in politischer, religiöser, wirtschaftlicher
Beziehung, oder Kampf als solcher. (Diese halb unbewußten Regungen wurden
dann in die Tat umgesetzt durch einzelne Menschen, die gewissermaßen heraus¬
destilliert waren aus diesen Massenregungen — durch das Genie.) Als eine
solche allgemein menschliche Triebkraft wird man auch die imperialistische
Bewegung unserer Tage ansehen müssen. Es ist der in der Gegenwart die
Massen bewegende Trieb.
Die Erkenntnis dieser Tatsache ist das Wesentliche. Von untergeordneter,
sekundärer Bedeutung ist, in welchen Tatsachen- oder Empfindungsreihen diese
Bewegung ihre Ursache hat, wie sie und warum sie in die Entwicklung unserer
Tage hineinpaßt und hineingehört, wie sie aus jener als logische Folge sich
ergibt. Am einleuchtendsten scheint mir die Erklärung zu sein, daß der Im¬
perialismus die moderne Erscheinungsform für den ewig alten Kampf der ein¬
zelnen Gruppen untereinander ist. Der Kampf als der Vater aller Dinge, als
die Vorbedingung aller Verschmelzung, Vereinigung und auch Höherentwicklung,
als der Ausdruck zum Willen einer solchen Weiterentwicklung — das wären
die Voraussetzungen für eine solche Anschauung. Ob man als Ursache dieses
Kampfes das ursprüngliche Vorhandensein verschiedener Gruppen, die einander
befehden, annimmt, oder an die Abstammung von einer Gruppe, die später in
mehrere Stämme zerfiel, glaubt —, ob man also dem Polygenismus huldigt
oder dem Monogenismus, welch letzterer durch Gumplowicz in seinem hervor¬
ragenden Buch „Der Rassenkampf" widerlegt zu sein scheint —, all das kommt
erst in zweiter Linie in Betracht.
Diese Theorie von dem Kampf als treibender Kraft wird zwar stets auf
den verzweifelten Widerstand aller Friedensfreunde stoßen, als deren typischer
Vertreter der oben zitierte Engländer Hobson sich mit dem Imperialismus aus¬
einander setzt. Seine Auseinandersetzung mit den inneren Ursachen des Impe¬
rialismus führt zu dem Ergebnis, daß der Imperialismus nicht als eine innere
Notwendigkeit, sondern als etwas wohl noch Abzuänderndes anzusehen ist, daß seine
Anhänger zwar nicht Heuchler, aber Opfer unverstandener Ideen und psychisch
leicht belastet find. Die Theorie von dem biologischen Gesetz des ewigen Kampfes
ist Hobson eine mittelalterliche Art der Auseinandersetzung, die durch friedlichen
Wettbewerb der Nationen und eine allmählich sich anbahnende, friedliche Ver¬
schmelzung abgelöst werden würde. — Mit diesen Auffassungen sich auseinander¬
zusetzen, erübrigt sich. Hier steht Ansicht gegen Ansicht. Das einzige Argument,
das gegen die Ansicht der Friedensfreunde angeführt werden kann, ist, daß die
Tatsachen ihnen bisher nicht Recht gegeben haben. Und es sieht nicht so aus,
als ob ihnen die nächste Zukunft Recht geben wird.
Es bliebe eine weitere wichtige Frage zu erörtern: warum der Imperialismus,
wenn er wirklich gewissermaßen ein Naturgesetz ist, nicht schon viel früher sich
geltend gemacht hat? Auch dies ist eine Frage — wie alle, die den Imperialismus
betreffen — deren völlige Beantwortung die Würdigung der ganzen Weltgeschichte
erfordern würde. Aber vielleicht dürfte die Antwort auf diese Frage in folgender
Richtung zu suchen sein: um dem imperialistischen Gedanken Verwirklichung zu
verschaffen, bedürfte es einer inneren, politischen Einigung und Verschmelzung
der für den Imperialismus berufenen, also der kräftigsten Nationen. Die
Beseitigung innerer Wirren und die innere Befestigung waren erst im neun¬
zehnten Jahrhundert vollzogen worden. In diesem Jahrhundert wurden auch
erst Technik und Weltverkehr so weit entwickelt, daß — bei gleichzeitiger Be¬
völkerungszunahme, die den Blick der Staatsmänner wieder nach außen richtete,—
die bisher unberührt gebliebenen Teile der Erde erreichbar gemacht und
erschlossen werden konnten. So konnte erst in diesem Jahrhundert der Wett¬
bewerb um die Erlangung möglichst weiter Gebiete, die keiner zivilisierten Macht
unterstanden, entstehen; denn erst jetzt wurde der Zeitpunkt der völligen Aufteilung
freier Länder in menschliche Berechnung gerückt. Hierzu kam, gebieterisch Aus¬
dehnung fordernd, die außerordentliche kapitalistische und industrielle Entwicklung
— die Weltwirtschaft — des neunzehnten Jahrhunderts, die neuer Absatzgebiete
bedürfte, die neue Rohstoffe aus fernen, aber in ihrer Entwicklung gesicherten
Ländern in immer steigendem Maße heranziehen mußte. Und schließlich drängten
die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr hervortretenden Rassen-
gegensütze die einzelnen Völker ihre Machtgebiete möglichst stark und umfang¬
reich zu sichern, bevor sie durch den Zugriff von Nebenbuhlern daran gehindert
wurden. — Das Zusammentreffen dieser verschiedenen Erscheinungen im neun¬
zehnten Jahrhundert muß der Anlaß für die Entstehung der imperialistischen
Bewegung gewesen sein, die zunächst dort am frühesten einsetzte, wo sie die
günstigsten Vorbedingungen fand — in England — und dann weiter auf die
andern großen Nationen übergriff.
' Aber das sind — wenn auch wichtige — Einzelheiten, über die Meinungs¬
verschiedenheiten wohl möglich sind. Von überragender Bedeutung jedoch ist die
Erkenntnis, die aus der Betrachtung der Grundlagen des Imperialismus ge¬
wonnen werden soll: daß der Imperialismus eine innere Notwendigkeit, das
Zeichen unserer Zeit ist und sie beherrscht, ebenso wie der dynastische Gedanke
das achtzehnte und auch schon das siebzehnte, und der nationale Gedanke
das neunzehnte Jahrhundert beherrschten. Und ebenso wie die Völker aus
der Reihe der Großmächte ausgeschieden worden sind, die sich in jenen Zeiten
nicht mit ganzer, voller Kraft dynastischen und nationalen Zielen Hingaben, so
werden heutigen Tages die Nationen erdrosselt und erdrückt werden, die nicht ihr
Alles daran setzen, ihren Machtbereich soweit zu vergrößern, wie es nur möglich ist.
^^^^ach Philosophen, Theologen, Ästhetikern möchte auch der deutsche
Philolog seinen Teil dazu beitragen, daß Nietzsche als „deutsches
Ereignis" angesehen und gewürdigt werde. So rechtfertigt, ja
entschuldigt Richard M. Meyer im Vorwort seines jüngsten
Werkes das Unternehmen einer Nietzsche-Biographie*). Und
ganz gewiß hat die „deutsche Philologie als die Wissenschaft vom deutschen
Geiste" das Recht, sogar die Pflicht, sich mit Friedrich Nietzsche auseinander¬
zusetzen. So empfangen wir denn gern einen fast siebenhundert Seilen
starken Band, in dem nun zum ersten Male die Lebensarbeit Nietzsches mit
dem Werkzeug des geschulten Literarhistorikers untersucht und in einer Weise,
die zwischen Wissenschaftlichkeit und Popularität die rechte Mitte hält, dar¬
gestellt wird.
Die eigentlich philologischen Aufgaben der Entstehungsgeschichte und
Quellennachweise waren in diesem Falle nicht besonders schwierig, da in der
großen Nietzsche-Ausgabe und in den Briefpublikationen das Material reichlich
dargeboten worden ist. Doch gibt R. M. Meyer nicht wenige selbständige
Forschungsergebnisse, namentlich zur Entstehung des „Zarathustra" und zur
Geschichte des Begriffes und Wortes „Übermensch". Neue Wege zu gehen
versucht er vor allem mit der weitausholenden Grundlegung seines Werkes, in
der die Erscheinung Nietzsches aus der Zeitlage und ihren Geistesströmungen
hergeleitet werden soll. Diese auf ungeheuerer Belesenheit gegründeten Unter¬
suchungen bieten gewiß im einzelnen viel Interessantes; im ganzen scheinen sie
mir die große Mühe nicht zu lohnen, und ihr Ergebnis ist doch nur das schon
bekannte, daß der Gedanke einer Höherzüchtung der Menschheit vor und neben
Nietzsche auch von anderen nicht selten gefaßt worden ist. Übrigens sollte doch
unter den Vorläufern Darwin oder mindestens der Darwinismus nicht fehlen,
ohne den Nietzsches Spekulationen über Züchtung und Höherentwicklung gar-
nicht denkbar sind (wie Meyer selbst in anderem Zusammenhange andeutet).
Und wenn man schon soweit zurückgeht, wie es hier geschieht, so sollte auch
der Name I. I. Rousseaus genannt werden, der — bei aller sachlichen Ver¬
schiedenheit — schon einmal und mit ungeheuerer Energie, vielleicht auch mit
ähnlichem Erfolg und Mißerfolg den Versuch einer Umwertung und einer Neu¬
gründung der europäischen Kultur unternommen hat.
Ich sehe das Hauptverdienst von Meyers Buch in der literarischen Analyse
der einzelnen Werke, in dem Nachweis ihrer innerlichen Einheitlichkeit bei apho¬
ristischer Form, sowie in der selbständigen kritischen Würdigung. Man wird
im ganzen dem Urteil zustimmen müssen, daß der eigentliche Aufstieg mit dem
„Zarathrusta", ja im Grunde schon mit der „Fröhlichen Wissenschaft" ab¬
geschlossen ist — wenngleich mir der „Wille zur Macht" unterschätzt scheint.
Ob man mit Meyer im „Zarathustra" ein Epos sehen will, das moderne
Epos, mag jeder mit sich abmachen; die eigentlich epischen Elemente sind doch
wohl das schwächste daran, und wie man dieses inkommensurable Werk ein¬
ordnet, ist ziemlich belanglos. Über seine ungeheuere Bedeutung besteht ja
kein Zweifel.
Mit alledem ist die Aufgabe eines Buches über Nietzsche, auch eines philo¬
logischen, gerade eines philologischen, noch nicht erfüllt. Das Wichtigste bleibt
die Darstellung der Persönlichkeit und die Auseinandersetzung mit seiner „Philo¬
sophie", wie wir vorläufig sagen wollen. Daß Nietzsche nicht nur Bücher
schrieb, daß diese Bücher vielmehr einen sachlichen Inhalt haben, der wahr
oder falsch ist, den man annehmen oder bekämpfen muß, das hebt den Nietzsche-
Biographen über den Literarhistoriker weit hinaus. Und daß Nietzsches Lehre
in ganz enger und nicht immer harmonischer Beziehung zu seinem Leben steht,
das macht diese Aufgabe so schwierig und so reizvoll wie kaum eine andere.
Meyer weiß das so gut wie wir, und er steckt sich das Ziel weit genug;
aber es muß leider gesagt werden: dieser höheren Aufgabe wird weder seine
Darstellungsgabe noch sein philosophischer Scharfsinn gerecht.
Für Meyers Arbeitsweise ist die Einteilung seines Buches bezeichnend.
„Die Persönlichkeit" will er darstellen und er gibt „das Leben" besonders, „das
Studium" besonders (im wesentlichen nur eine Übersicht über Nietzsches Lektüre),
„die Persönlichkeit" besonders, „die Briefe" besonders (dies Kapitel, eins der
besten überhaupt, gibt — bezeichnend genug — die lebendigste Darstellung des
Menschen Nietzsche); es wird nicht nur jedes Werk für sich abgehandelt (was
notwendig ist), sondern bei jedem Werk auch die Paralipomena für sich (die
vielmehr für die Betrachtung des Buches selbst benutzt werden müßten).
Vielleicht hält der Verfasser dies Verfahren für analytisch. Das ist es
nicht, sondern es heißt den Organismus zerhacken und die toten Teile neben-
einander legen. Das Resultat ist denn auch, daß weder von der Persönlichkeit
noch von ihrem Wollen und Wirken ein deutliches Bild entsteht. Aus den
eingehenden, mit warmer Anteilnahme geschriebenen Untersuchungen der einzelnen
Bücher, ja aus dem ganzen umfangreichen Werk habe ich zwar vielerlei Einzel¬
belehrung im Tatsächlichen, aber nicht eine Erkenntnis gewonnen, die mich
weiter oder tiefer geführt hätte als die einfache Lektüre Nietzsches. Ja, Meyers
sachliche Analyse bleibt eigentlich überall dicht unter der Oberfläche stecken.
Die Sache ist mit einem Worte die: trotz immer neuer Formulierung
hat der Biograph den Kern dieser Persönlichkeit nicht aufgedeckt. Dieser ist
weder bezeichnet, wenn (S. 181) Nietzsches Forschungsprobleme unter die Formel
gebracht werden: was lehrt die Geschichte der menschlichen Kultur über die
Möglichkeiten einer höchsten Kultur? — noch gar, wenn (S. 676 ff ) seine Per¬
sönlichkeit zusammengesetzt wird aus Ernst, Vornehmheit und Schaffenslust!
Der seelische Urgrund, aus dem ganz allein Nietzsches Leben und Schaffen be¬
griffen werden kann und muß, ist vielmehr die Tatsache, daß er ein ausschlie߬
lich ethisch orientierter Mensch ist, in demselben Sinne wie z. B. Christus. Das
einzige ethische Problem aber, um das sich bewußt oder unbewußt sein Denken
und Wollen dreht, ist das Problem aller ethischen Persönlichkeiten: die Frage
nach dem Sinn, d. h. nach dem Wert von Welt und Leben. Von hier aus
allein muß begriffen werden, was ihn im Grunde zum Philosophieren treibt,
warum er aus dem Philosophen einen Psychologen macht, warum er die her¬
gebrachte europäische Moral kritisiert und umzustürzen droht; warum er endlich
auf den fanatischen Einfall kommt, dieser sinnlos gewordenen Welt einen neuen
Sinn zu geben, d. h. aufzuzwingen; und warum und mit welchem Recht dieser
neue Sinn gerade der Übermensch sein muß.
Diesen Zusammenhang und diese Wurzel zeigt Meyers Buch nicht auf. Er
sieht in Nietzsche vor allem einen theoretischen Philosophen. Daß dieser Philo¬
soph praktisch sein will, wird zwar immer wieder betont, aber nirgends begreif¬
lich gemacht, und Nietzsches Anspruch, ein Religionsstifter zu sein, wirkt hier
als reiner Größenwahn. Aus diesem Grundfehler folgt zunächst eine falsche
Einschätzung der Theorie vom Willen zur Macht. Diese Formel hat für Nietzsche
ganz und gar nicht die Bedeutung wie für Schopenhauer der „Wille", wenn
Nietzsche selbst dies auch glauben mochte. Schopenhauers „Wille" ist wirklich
ein metaphysisches Prinzip, er bezeichnet das Absolute, das Ding an sich; er
ist ^- für Schopenhauer — eine philosophische Erkenntnis. Nietzsches „Wille
zur Macht" ist lediglich ein ethisches Regulativ, ein Moralprinzip und ist meta¬
physisch sehr leicht zu widerlegen. Meyer überschätzt also den Philosophen in
Nietzsche, er unterschätzt ihn aber wieder, wenn er die Lehre von der ewigen
Wiederkunft darauf zurückführt, daß Nietzsche für seine Religion ein mystisches
Element brauchte! (S. 381 ff.) Der Trugschluß der Wiederkunft des Gleichen
ergibt sich leicht von selbst für jeden, dem die Welt sinnlos und — im natur¬
wissenschaftlichen Sinne ziellos geworden ist, sobald er in diesem Chaos
festen Fuß zu fassen sucht. Übrigens weckt es doch wohl gegen Nietzsche, den
Denker, Verdacht, daß er den von Simmel schlagend geführten mathematischen
Gegenbeweis (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche S. 250 ff.) nicht
selbst gefunden hat.
Nietzsches Selbstschätzung wandelt sich und steigt ja ununterbrochen; Meyer
folgt ihm zu gläubig. Nach dem Biographen ist Nietzsche nicht nur ein großer
Philosoph, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch noch und vor allem ein
Religionsstifter, der sich nicht mit totem Material begnügt wie der Künstler,
sondern am Menschen und an der Menschheit bildet und formt. Wäre Nietzsche
das alles, so hätten wir da ein noch nie erlebtes Phänomen menschlicher Viel¬
seitigkeit und Größe. Weder Vielseitigkeit noch Größe streiten wir ihm ab —
aber ein Philosoph nach Art der Spinoza, Leibniz, Kant war er nicht, ein
Dichter in dem Sinne wie viele große und kleine Poeten auch nicht, und er
verschmähte das tote Material nicht nur aus Größe des Wollens, sondern auch
weil er eine Erzählung, eine Ballade, eine Szene nicht zustande gebracht hätte.
Und was den Religionsstifter betrifft, so macht er zwar den Anspruch, es zu
sein; aber hier muß man nun doch fragen, warum er dieser neue Messias, der
er sein wollte, der nach seiner eigenen Lehre an dieser Stelle durchaus gefordert
wurde, und der er nach Anlage, Streben und Ernst auch sein könnte — warum
er der am Ende doch nicht gewesen ist? Warum er einsam lebte, statt Jünger
zu sammeln? Lag es an der Zeit? War sie zu gebildet zur Jüngerschaft?
War er selbst vielleicht zu gebildet zum Propheten? Zu viel Bewußtsein, zu
wenig Natur? Hier, scheint mir, liegt das eigentliche Nietzsche-Problem, das
noch niemand in die Hand genommen hat. Und vorläufig verhält es sich doch
wohl so: Nietzsche hat die Rolle des Religionsstifters konzipiert und seine Vision
in geistreichen und großartigen Büchern mit unerhörter Sprachgewalt niedergelegt.
Aber gelebt hat er diese Rolle nicht. —
Eine Nietzsche-Biographie, die uns in die Tiefen dieser Probleme führt,
erwarten wir also noch.
er die letzten Jahrgänge der kriminalistischen Zeitschriften durch¬
blättert, der wird eine Fülle von Notizen und nicht wenige Ab¬
handlungen finden, welche sich mit der außerordentlich wichtigen
Frage befassen, auf welche Weise man den Strafrechtspraktiker
am besten mit den zahlreichen Hilfswissenschaften vertraut machen
könnte, die zur zielbewußter und zweckmäßigen Ausübung seines Berufes ihm
mindestens ebenso nötig sind, wie die genaue Kenntnis aller Labyrinthe des
materiellen und formellen Strafrechts. Immer allgemeiner wird die Erkenntnis,
daß es so nicht weitergehen könne, daß endlich etwas getan werden müsse, um
das theoretisch schon längst als notwendig Anerkannte nun auch energisch in
die Praxis umzusetzen.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß heutzutage bei uns und in den
meisten Kulturländern dem angehenden Strafrichter oder Staatsanwalt nicht
genügend Hilfsmittel zu Gebote stehen, um sich in den strafrechtlichen Hilfs¬
wissenschaften so zu vervollkommnen, wie es das Interesse der Allgemeinheit
an der Überführung und gerechten Bestrafung der Missetäter ebensowohl als
an der Entlastung der zu Unrecht Verdächtigten erheischt.
Wer die Vorlesungsverzeichnisse der juristischen Fakultäten durchgeht, wird
nur gar selten auf die Ankündigung einer Vorlesung beispielsweise über foren¬
sische Psychologie oder über Kriminalätiologie, Gefängniskunde usw. treffen.
Wie er gar Fußspuren, Fingerspuren oder andere Spuren sachgemäß verwerten
kann, wie er vorgehen muß, um nicht wichtige Spuren zu verwischen oder gar
zu fälschen, wann er etwa einen Meteorologen, einen Mikroskopiker. einen
Folkloristen mit Nutzen heranziehen kann, was er von Gaunerzinken zu halten,
wie er Geheimschriften beim Verkehr der Gefangenen mit der Außenwelt aus¬
findig machen kann, und noch vielerlei anderes, dessen Kenntnis dem Straf¬
rechtspraktiker so nötig ist wie das liebe Brot, dessen Nichtwissen schon in mehr
als einem wichtigen Falle alle Anstrengungen der Justiz zuschanden gemacht
hat, alles dies kann der Rechtsbeflissene auf der Universität überhaupt nicht
lernen, wenigstens bei uns nicht.
Im Ausland finden sich allerdings hier und da kriminalistische Institute,
die unter verschiedenen Namen und unter verschiedener Begrenzung ihres
Wirkungskreises es gerade bezwecken, einen Sammelpunkt für diese kriminalistischen
Hilfswissenschaften zu bilden, die in dem alten Schema der juristischen Fakul¬
täten eine Stätte nicht gefunden haben. So haben die Professoren Dr. Reiß
in Lausanne, I)r. Ottolenghi in Rom und Dr. Jngegnieros in Buenos-Aires
derartige kriminalistische Institute eingerichtet, die sich ausgezeichnet bewährt
haben, sowohl als Bildungsstätten sür die künftigen Strafrechtspraktiker als auch
als sozusagen sachverständiges Auskunftsbureau für alle kriminalistischen Fragen,
welche in der Praxis auftauchen, und endlich auch als Ausgangspunkt wissen-
schaftlicher kriminalistischer Untersuchungen.
Kürzlich ist es auch in Österreich gelungen, das erste kriminalistische Institut
in diesem Sinne zu begründen. Der Leiter dieses Instituts ist der bekannte
Verfasser der „Kriminalpsychologie" und des „Handbuches für Untersuchungs¬
richter", Hans Groß, Lehrer des Strafrechts an der Universität zu Graz.
Seinen rastlosen Bemühungen ist es jetzt endlich gelungen, seine Lebensarbeit
dadurch zu krönen, daß er die Eröffnung des kriminalistischen Instituts durch¬
gesetzt hat. Möge es ihm vergönnt sein, noch recht zahlreiche Generationen
lernbeflissener junger Kollegen zu Strafrechtspraktikern zu erziehen, denen ihr
Beruf Erkleckliches mehr ist als „ein Jonglieren mit Paragraphen"?
Als Zweck des kriminalistischen Instituts bezeichnet Hans Groß in seinem
orientierender Überblick, „den Unterricht im Strafrecht durch Pflege der straf¬
rechtlichen Hilfswissenschaften und ihrer Realien auf breite, dem Leben ent¬
nommene Grundlage zu stellen, ihn der Wirklichkeit näher zu bringen und so
Interesse und Verständnis für das Strafrecht zu steigern."
Professor Groß liest in je einem Semester über Kriminalpsychologie,
Kriminalanthropologie, Kriminalistik und Kriminalstatistik. In einem Labora¬
torium werden mit den Studenten praktische Übungen vorgenommen, so z. B.
über Untersuchungen von Fälschungen, Konservierung von verkohltem Papier,
daktyloskopische Übungen usw. Das Laboratorium soll ferner für Untersuchungen
dienen, die auf Ersuchen von Gericht oder Staatsanwaltschaft in anhängigen
Strafprozessen angestellt werden, endlich auch zur Erzeugung und Beschaffung
von Gegenständen für das Kriminalmaseum.
In dem Kriminalmuseum befinden sich außerdem noch Gegenstände aus
erledigten Strafprozessen, die nach dieser oder jener Richtung hin lehrreich sind,
beispielsweise verletzte Knochen, Falsifikate aller Art, Brandlegungsapparate usw.
Daneben finden sich auch noch Muster von Anklagen, von Urkunden, von Augen¬
scheinsnahmen usw.
Eine umfangreiche Handbibliothek vervollständigt das kriminalistische Institut,
als dessen wissenschaftliches Organ das von Hans Groß begründete „Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik", dessen funfzigster Band im kommenden
Semester erscheinen wird, fungiert.
Wohl mancher wünschte mit mir, er wäre um ein Jahrzehnt oder mehr
jünger, um nach Graz zu pilgern und aus des Meisters Munde und aus seinem
Beispiel sich die rechte Schulung für seinen Beruf erwerben zu können! Denn
alle Anleitung durch Bücher, wenn sie auch noch so vorzüglich sind, ist doch
immerhin nur ein schwacher Ersatz für das, was lebendige Unterweisung zu
bieten vermag, gerade bei der Kriminalistik.
Unser Justizminister, der schon so oft gezeigt hat, daß er die Anforderungen
der Zeit an unseren Richterstand verständnisvoll zu erfüllen versteht, mag auch
uns recht bald das geben, was uns not tut: ein kriminalistisches Institut im
Sinne von Hans Groß. Das von Geheimrat von Liszt geleitete, in seiner Art
hervorragende kriminalistische Seminar ist der Hauptsache nach für dogmatische
Untersuchungen und Übungen bestimmt; eine weitere Ausbildungsmöglichkeit in
den strafrechtlichen Hilfswissenschaften, insbesondere in der Kriminalistik, fehlt
dem angehenden Richter und Staatsanwalt aber vollkommen. Nicht nur die
Kriminalpolizei, für welche alljährlich vorzügliche, wenn auch zur Beherrschung
des Stoffes nicht ausreichende Fortbildungskurse veranstaltet werden, ist hierin
dem Richter und dem Staatsanwalt überlegen, sondern vor allem auch der
moderne Gauner, welcher mit allen Errungenschaften der Wissenschaft, soweit
sie ihm für seine Zwecke dienlich sein können, gar gut vertraut ist. Das ist
ein Zustand, dem abzuhelfen ein dringendes Interesse der Allgemeinheit ist.
An den Kosten wird die Volksvertretung ein so wichtiges Unternehmen nicht
scheitern lassen.
Von da folgte er dem Abbate, der von einer französischen Dame zum
Speisen erwartet wurde; alle kannten sein Abenteuer und viele Augen lächelten
ihm zu. Als nach der Mahlzeit an kleinen Tischen weißer und roter Hypocras
in die Gläser gefüllt wurde, gestand er sich, daß die schwarzlockige Frau ihm
gegenüber vielleicht doch die schönste war, die er in diesen Tagen gesehen. So
wie die Herzogin sprach auch sie italienisch mit ihm; kühn sagte er ihr. was in
seinen Gedanken war und er fühlte, wie auf den: seidenen Fnßkissen unter der
schweren Tischdecke sich ein Fuß auf den feinen schob. Er sah ihr in die seltsam
aufleuchtenden Augen; der Ambra-' und Weinduft des Getränks drang ihm
heuchelnd an die Stirn, die er gerne kühl behalten hätte — er wendete das
Gesicht ab und sah sich selbst und ihr Profil im Spiegel; nun fand er ihr Näschen
über dem lächelnden Mund keck und besonders entzückend; verwundert über sein
Wegsehen folgten ihre Blicke den seinen und beide sagten sich drüben das gleiche
wie vorher hier. Hinter sich sah er den großen von schwarzen Haaren um¬
wallten Kopf des Abbate, der aufrecht stand, sein Lorgnon vor die Augen hielt
und billigend herübersah; neben ihm stand ein goldgrün gekleideter Kavalier in
gelben Lederstulpen vor einer Dame in erdbeerrotem Seidenkleid. Dann fielen
Avinellis wandernde Blicke auf ein kostbar gebundenes Buch mit einem ver¬
goldeten Wappen, das neben der Dame auf der Ruhebank lag; ein Eichhörnchen
sprang in dem Wappen auf und darunter stand: ,.()no non Agcenäam?" Er
wies mit dem Finger darauf und sagte übermütig, das wäre eine Devise, die
er auch nehmen wollte, und die Schöne nickte und lobte ihn lächelnd.
In den dämmernden Straßen liefen bereits die Fackelträger vor den
Wagen und den vornehmen Fußgängern her. Fern im Westen war am
Himmel noch ein grünsilberner wolkenzerrissener Streif und vor ihm stieg
schwarz und riesenhaft der Nathausgiebel auf. Und wie er ging und die
kühle Sommerluft um seine Schläfen fühlte, gaukelten die drei Frauenbilder
vor ihm, und er mußte an den Prinzen Paris denken, der auf all den
Bildern die schwere Wahl hatte. Noch nie war ihm so selig zumute ge¬
wesen, und da er sich bisher dabei wohl befunden hatte, seinem geistlichen
Führer zu folgen, so folgte er ihm auch jetzt, auf der dem Rathaus gegenüber-
liegenden Seite des Platzes, fünf oder sechs Stufen von der Straße abwärts in
ein Gewölbe, an dessen schweren Tischen schon einige lärmende Trinker saßen.
Der Abbate ließ sich einen Krug mit Aßmannshäuser bringen und spottete
Giulios als eines säugenden Knäbleins, da dieser in kleinen Schlückchen trank,
um nüchtern zu bleiben. Dann zog er sein Lorgnon hervor und sah sich nicht
ohne Vorsicht um. „Ja," sagte er mit seiner breiten Männerstimme, „Ihr seid
jetzt auf gutem Wege; ich liebe Menschen, die Glück haben. Geht nach Frank¬
reich: das ist das gute Land für uns Italiener" und er nannte ihm die Minister,
die Generale und andere, alles Italiener am französischen Hofe.
„Er habe sich das auch schon vorgenommen," sagte Giulio.
Die Tür ging auf, ein paar Reiter kamen lachend und rufend die Treppe
hinab: sie hatten Frauenzimmer mit, und eine Schar Spielleute folgte ihnen.
Der Lärm und Qualm ward groß.
Der Abbate setzte seine Winke fort und der junge Florentiner lauschte seiner
Weisheit. Um ihn in die höfischen Wege einzuweihen, nannte ihm jener mit
Behagen die Liebhaber und Freundinnen der bekanntesten Leute in der
Stadt. Gespannt wartete Avinelli von der Herzogin und von der Dame von
Cresnel zu hören — der Fran. die ihm mittags am Tischchen und im Spiegel
so gut gefallen hatte; der Abbate nannte die beiden nicht, und er hütete sich
zu fragen.
„Denn das müßt Ihr wissen, daß, wenn Ihr bei einem Manne etwas
erreichen wollt, Ihr es durch ein Weib machen müßt und umgekehrt! Daß ein
Mann die Weiber nützen muß, nicht sich ihnen hingeben!"
Dabei sah er ihn prüfend an, lobte seine Haartracht und empfahl ihm
andere Manschetten; dann fragte er ihn geradezu, ob er wirklich das magere
kleine Persönchen heiraten wolle, die er ans seinem Gaul mitgebracht hatte?
Avinelli führte das Glas an den Mund und trank langsam, um sich seine
Antwort überlegen zu können.
„Wer sagt denn das?" fragte er.
Am Tisch der Neuangekommenen Gäste wurde eine Gesundheit ausgebracht mit
so ohrenbetäubendem Geschrei, zu dem auch die Musik einfiel, so daß Giulio die Ant¬
wort des anderen zunächst nicht verstehen konnte. „Dann kommen die Kinder," hörte
er ihn endlich sagen, und „ob er den Traktat von den .fünfzehn Freuden der Ehe'
nicht kenne, den der Herr von La Sale verfaßt? Nur eine Freude sei wirklich,
eine reiche Mitgift, und anderes begehre kein Vernünftiger von der Ehe. . . ."
Da war seine Sorge berührt: offen erzählte er, wie es stand.
„Von verwüsteten Boden," sagte der Abbate, „ist der Morgen im Reich jetzt für
ein paar Groschen zu haben; und wenn Ihr meint, daß Ihre Königliche Hoheit
sie ausstatten wird, so irrt Ihr sehr. Alle Weiber, auch vom höchsten Stande,
stiften gern Ehen; und die Frau Herzogin ist ein Wunder an Schönheit und
Geist, aber Geld gibt in dieser Linie keiner her, das liegt ihnen von ihrem
Vater, dem alten Herrn Prinzen, im Blut; sie zahlen selten, sie schenken nie."
Giulio sah vor sich hin. Abermals erhob sich am anderen Tische ein
wüstes Geschrei; die Männer schlugen mit dem Pallasch auf den Tisch, stiegen
auf die Bänke und stampften mit den schweren Reiterstiefeln auf den Boden;
dabei brüllten sie, was sie konnten; zwei von ihnen hielten eines der Mädchen,
das sie auf den Tisch gestellt hatten, bei den Händen, während andere sie bei
den Röcken zogen, und sie lachte und schrie, sie werde Gläser und Schüsseln
umstoßen.
Da verbat sich ein langer Mensch an einem anderen Tisch den Lärm.
Sogleich flogen Schimpfworte herüber; der Lange warf ihnen seinen Hand¬
schuh hin; ein Trinkglas kam zur Antwort, das auf den Tisch der beiden
Italiener flog, Degen fuhren aus der Scheide.
„Es ist Zeit zu gehen," sagte der Abbate und stand auf. Ein breiter
Mann mit weißem Bart lachte ihnen hell ins Gesicht; eines der Weiber rief dem
Priester unanständige Worte nach; ein junger Kerl, der rittlings auf einer Bank
saß. an der sie vorüber mußten, faßte ihn an seiner Soutane und bat um seinen
Segen; aber der Abbate umspann sein Handgelenk mit so eisernem Griff, daß
der junge Mensch ihn sogleich losließ und ihm blöde nachstarrte.
Sie hatten nicht weit zu gehen, dann empfahl sich der Abbate, und Avi-
nelli blieb seinen Gedanken überlassen. Nachdem er noch eine Weile auf dem
Prinzipalmarkt umhergegangen oder gestanden und dem fremden Volke zugesehen,
das immer spärlicher wurde, suchte auch er seinen Weg nach Hause. Da er in
den dunklen Lauben bei seinem Wirtshof ging, fühlte er plötzlich seine Hand
gefaßt, aber wie es schien, in nicht unfreundlicher Weise. Eine leise Stimme
sprach in sein Ohr; es war französisch, doch vernahm er die Worte: >,()no non
ascenäam?" Da ward es anders in ihm und um ihn und er ließ sich willig
führen. Vorsichtig folgte er in ein Haus und über dunkle Treppen und Gänge;
jetzt war er allein: eine Tapetentür öffnete sich vor ihm. Eine ganz kleine
Ampel brannte in einem weiten Schlafgemach: in einem Himmelbett lag unter
seidenen Decken schlafend eine junge Frau; er sah den weißen Arm, den sie
um das Haupt gelegt hatte, und schwarze Haare, die über das Kissen fielen.
Da scholl ein leises Lachen, leuchtende Augen, die er schon gesehen, blickten in
die seinen und die Arme legten sich um seinen Hals. Dann wies ihre Hand
nach einem Spiegel gegenüber und das Bild, das er darin sah, gefiel ihm noch
besser, als das er bei der Mahlzeit gesehen.
So schnell vergingen ihm Tage im Glück, daß er sich erst, als die
Woche zu Ende ging, der kleinen Florence erinnerte. Und als wäre der
Gedanke an sie ihr vorausgegangen, sah er sie alsbald selber, von einer Dienerin
mit weißer Haube gefolgt, auf seinem Wege daherkommen. Wieder ward sie
rot, als sie ihn erkannte; grüßend trat er heran, und sie sagte ihm mit leiser
Stimme, aber in sichtlicher Freude einige italienische Sätze, die sie sich inzwischen
zu eigen gemacht hatte. Er lachte und lobte sie, grüßte aber bald wieder höflich
und ging weiter: betroffen sah das Kind ihm nach.
Da es ihm indessen an Geld zu fehlen begann und er bereits Schulden
hatte auflaufen lassen, suchte er einen Notarius und Sachwalter auf, einen
kleinen alten Mann mit sehr großen Ohren, der in einer warmen Jacke mit
Pelzkappe und Brille am Fenster saß, und dem er den Schuldschein zeigte.
Der Notarius zuckte die Achseln. Er sagte, was schon der Abbate bemerkt
hatte: „praeäia ruZtieana nunc parvi pretii 8unt," denn sie sprachen
lateinisch. Für dies Geld, das sein verstorbener Vater geliehen, sagte Avinelli,
habe der Oberst Murlacher dem Franzosenkönig ein Regiment zugeführt, das im
Mantuanischen Krieg aufgerieben worden sei. „Dann möge er doch die
Knochen des Regiments pfänden," erwiderte der Notar. „Das Anwesen des
Herrn Jacob Murlacher kenne er ganz genau: im Schlosse hätte er besonders
für seine Tochter viel köstliche Dinge und sicherlich auch Münze und bares Geld
gehabt, das die Schweden nun davongetragen. Zweitausend Reichstaler würde
er ihm in Erwartung besserer Zeiten für den Schuldschein geben, wenn er ihn
zedieren wolle; und morgen schon vielleicht auch das nicht mehr." Seine
ungeheueren Ohren bewegten sich beim Sprechen, was Avinelli unheimlich war.
Soviel zu opfern entschloß er sich nicht und ging aus der verstaubten alten Stube.
Am selben Abend jedoch gewannen ihm der Abbate und ein französischer
Herr hundertundfunfzig Taler im Spiel ab, denn davon konnte er sich, wenn
er als Kavalier gelten wollte, nicht ausschließen; und nun blieb ihm keine
Wahl: der alte Halsabschneider erhielt den Schein und Avinelli das Geld, das
aus einem sehr geheimen und sicheren Versteck geholt wurde.
Tags darauf wurde er zur Herzogin befohlen; diesmal kam er bereits
sicheren Schrittes;, dennoch errötete er ein wenig, als er unter den wartenden
Damen Frau von Cresnel sah, die ihm gelassen zunickte, als sähe sie ihn eben
zum zweiten Male, und sich sogleich wieder dem reichgekleideten Herrn zu¬
wendete, mit dem sie angelegentlich sprach.
Jetzt trat die Herzogin selbst ein und machte all seine Sicherheit zunichte;
sie war zu schön und ihr Rang und ihr Auftreten zu groß. Sie sah ihn auch
gar nicht, und er mußte fast eine Stunde warten, blaß und rot, weil er sich
selbst in Gedanken so verwöhnt hatte und auch seine heimliche Freundin die
ganze Zeit nicht nach ihm sah. Leute kamen und gingen und das Gedränge
ward immer größer. Endlich hielt er es nicht mehr aus, trat auf Frau
von Cresnel zu, die noch immer Mit dem blonden Herrn sprach, der das
himmelblaue Ordensband trug, und redete sie an. Mit größtem Erstaunen trat
der Kavalier zurück und maß ihn von oben bis unten mit den Blicken. Die
Dame lächelte und sagte etwas auf französisch zu dem Ordengeschmückten,
worauf dieser gleichfalls lächelte, während Avinelli, der das Wort Nachsicht
verstanden hatte, noch mehr aus der Fassung kam. In diesem Augenblick
ward er gerufen; eine der Ehrendamen der Herzogin nahm ihn beiseite und
fragte ihn in ihrem Auftrage, ob er seine Verlobung mit dem „Fräulein
von Murlach" noch geheim zu halten und wann und wie er Hochzeit zu machen
gedenke. Er erwiderte sogleich: „er danke Ihrer königlichen Hoheit für die
große Ehre, die sie ihm erweise; er wisse von einer Verlobung nichts; er habe
dem Vater versprochen, das verlassene Kind in Sicherheit zu bringen; das habe
er auch getan, ohne bei ihrer großen Jugend bisher an mehr zu denken; aber
er stünde zu der Frau Herzogin Befehl, wenn alles übrige in solchem Falle
Nötige und Übliche erwogen sei..."
Die Dame nickte; auf einen Wink der Herzogin hielt sie ihn zurück.
Wieder mußte er lange stehen und warten, bis alle anderen gegangen waren.
Der große Saal war leer bis auf die Schweizer, die mit ihren Hellebarden
an den Türen standen, und er wurde in ein Kabinett am Ende der Galerie
gerufen. Die Herzogin saß an einem Tischchen und stützte das Kinn, halb
hinhörend, auf die Hand, während die Dame ihr die Worte, die Avinelli
vorher gesprochen, wiederholte.
Die Herzogin machte nur eine leise Bewegung und wendete den Kopf noch
etwas mehr zur Seite, so daß er den Ausdruck ihrer kiudhaften und doch so
überlegenen Züge sehen konnte. Um ihren Mund spielte etwas, das nicht
einmal ein Lächeln war. Da die Ehrendame ihn dazu aufforderte, äußerte
er noch mehrere Bedenken und Besorgnisse, sprach von großen Verlusten und
den Nöten der Kriegszeit.
Die Herzogin schwieg noch immer und er wurde sehr verlegen. Endlich
sagte sie mit einem Ton, der ihn bedrückte: „Jrrende Ritter pflegen sonst
nicht so vorsichtig zu sein."
Er wußte nichts zu erwidern; er bedachte nur, wie sehr er sich in die
Nesseln setzen würde, nachdem er seiner Frau, wenn Florence das würde, selbst
einen unerbittlichen Gläubiger geschaffen. Die Herzogin wurde plötzlich sehr
rot, es kam wie eine Welle über ihr Gesicht, und sie stand auf. „Gott behüte,"
sagte sie, „daß wir Frauen uns einem Manne aufdrängen sollten. Wir werden
sehen, wie es sonst mit der Ritterlichkeit in Münster steht. Übrigens mit leeren
Händen kommt die kleine Florence nicht!"
Er war entlassen, und er begriff nicht, weshalb er so mißmutig durch die
Straßen ging, da er doch der Gefahr, die er in diesen Tagen am meisten
gefürchtet hatte, entgangen war.
Als er des Abends mit seinen Gesellen saß, sagten sie ihm, und sie sahen
ihn dabei an, daß zwei junge Edelleute bei der Herzogin um die Hand des
„Findelkindes" — so nannten sie Florence — geworben hätten; und zwar sei
der eine, den sie wohl nehmen werde, ein prachtvoller Junge, dazu vom besten
Blute, aber arm wie eine Kirchenmaus.
„Die Narren I" sagte Pericliti, während er sein Lorgnon senkte und die
Karten auf den Tisch legte.
Avinelli nickte und nahm die Karten auf, die er durch seine Hand gleiten
ließ, als sähe er irgend Merkwürdigkeiten an ihren Figuren; aber in seinem
Herzen brannten Eifersucht und Scham.
„Der Herzog gibt ihm eine Kompagnie," sagte einer boshaft.
Avinelli warf die Karten bald wieder hin und stand auf. Der Abbate
schob Avinellis Arm in den eigenen und ging mit ihm ins Freie; aber Avinelli
schwieg. Der laue Abend brachte ihm kein Behagen. Eine Karosse fuhr langsam
vorüber, in der die Frau von Cresnel neben demselben Kavalier mit dem
Ordenskreuz saß, mit dem sie am Morgen so eifrig gesprochen hatte; sie nickte
flüchtig zu seinem Gruß; ihr Begleiter dankte überhaupt nicht. Das war für
den Gekränkten zuviel; er wendete sich zu dem Abbate zurück und rief: „Jetzt
grüßt sie mich nicht, und vor zwei Nächten hat sie mich geküßt!"
Die Augen des Abbate wurden groß; sein ganzes Gesicht verzog sich in
Neugier und Staunen; noch ungläubig faßte er des Florentiners Arm und
fragte ihn aus, dabei zog er ihn in den Keller hinab zu den anderen, die noch
beim Spiel saßen; und da Avinelli das heftige Bedürfnis hatte, sich in ihren
Augen wieder zu heben, so schilderte er ihnen seine nächtlichen Liebeserlebnisse.
Wie wenn süße Milch gerinnen würde, so war es in seiner Seele, als er, was
so geheim und wonnig in seinem Empfinden gewesen, den frechen Gesellen
schamlos und boshaft preisgab. Der Abbate saß grinsend da und fletschte die
Zähne wie ein halbbefriedigtes Raubtier; die anderen begannen sogleich mit
eigenen Liebesabenteuern zu prahlen. Avinelli aber, der fühlte, daß ihm nicht
besser, nur schlimmer zu Mute geworden, fand die Erzählungen der anderen
greulich und rückte von ihnen fort. Da von draußen Musik ertönte, gingen
alle, das Fest auf demRathaus zu sehen, das der Gesandte der Republik Venedig gab.
Die bunten Fenster des Rathauses waren erleuchtet, einige standen offen
und ließen das Licht der kerzenhellen Säle herausschimmern. Unten an den
Pfeilern loderten mächtige Kienfackeln. Über die Stufen unter den Lauben und
vor dem Rathause waren rote Teppiche gelegt und eine Estrade errichtet. Alle
fünf Schritte stand ein Hatschier mit blinkendem Helm, auf die Hellebarde mit
grüngoldner Troddel gestützt, und hielt die Leute ab. Geputzte Herren und
Damen gingen die Treppen hinauf und herab und auf dem Teppich im Lichte
der farbigen Scheiben spazieren, die auf der roten Wolle ihr buntes Muster
flimmernd wiederspiegelten, während rings umher die dichte Meuge der Zuschauer
stand. Wenn die Musik schwieg, tönte auf dem stillen Platz, über den kein
Wagen fuhr, nur das leise festliche Gebrause wandelnder und redender Menschen.
Avinelli, der am Rande des roten Teppichs stand, sah Florence in ihrem
schwarzen Trauerkleide, ein Goldkettlein umgetan, hübscher und zierlicher als je,
von mehreren Herren umgeben, die sich um sie bemühten; die Wangen ihres
blassen Gesichts waren leicht gerötet; auf einen schien sie gespannt zu hören:
da sah sie Avinelli im Fackelschein, der im Gedränge nicht von der Stelle konnte.
Einen Augenblick schwand die Röte aus ihren Wangen, dann wendete sie sich
hochmütig ab, reichte dem schönen Kavalier an ihrer Seite den Arm und kehrte
in das Rathaus zurück. Jetzt schollen drei Trompetenstöße und die Gesandten
traten mit ihren Damen auf die Estrade. Avinelli sah die Herzogin, von
Juwelen blitzend, am Arm des Venetianers kommen und Platz nehmen, während
ihr steifer geschminkter Gemahl, dessen kreischende Stimme er in der plötzlichen
Stille hören konnte, die Gräfin von Nassau, die Frau des kaiserlichen Ge¬
sandten, führte, und zwischen beiden Paaren der Nuntius in seiner langen roten
Robe, die in dem nächtlichen Licht zu glühen schien, Platz nahm. An allen
Fenstern des Rathauses wie der anderen Gebäude erschienen Männer- und
Frauengesichter, die einen im Schatten, andere hell beleuchtet: heitere Zurufe
erschollen. In der Mitte des langen Marktes aber blitzten Raketen in die Luft,
die in farbigem Feuerregen niederprasselten; Götter und Nymphen mit bunten
Gewändern und Straußfedern stiegen in den Nachthimmel empor und sanken
als Asche herab, und zuletzt ein Ritter, der einen flammenspeienden Lindwurm
niederstieß, während über dem Rathaus Funkenketten die Worte „?axl ?ax!
?ax!" bildeten. Alles Volk, Fremde und Bürger, brach in Freudenschreie der
unendlichen Sehnsucht aus, der der Friedensvermittler in Flammenschrift dort
oben Ausdruck gab.
Avinelli jubelte nicht mit. Während er ohne Freude hinaufsah, fühlte er
seine Hand ergriffen und von weichen Fingern innig gepreßt: ein Parfüm, das
er kannte, wehte an ihm vorüber; aber als er sich umsah, waren der Duft
und die Frau im Gewühl verschwunden. Da begriff er, daß sie ihn nur aus
Vorsicht vor den anderen verleugnet hatte, er aber nun nicht mehr wagen
durfte, zu ihr hinaufzukommen.
Verzweifelt irrte er vom Platz abseits durch die dunkeln Straßen. Am
andern Tag ließ er sich beim Nuntius die versprochene Empfehlung nach Köln
geben, die er sogleich erhielt. Noch am selben Abend ritt er, den kaiserlichen
Kourieren folgend, die eben abgingen, aus den Toren der Stadt Münster, die
er verwünschte. Wieder ritt er durch die einsamen westfälischen Straßen, während
zerflatternde Bilder der drei schönen Frauen, deren Gunst und Anblick er ver¬
loren hatte, in der Abendluft an ihm vorübergaukelten und er nicht wußte, ob
er ein klugerer oder dünnerer Mann geworden war.
riedrich Schlegel, dessen bewundernder Tiefblick zuerst das geniale
Naturell seiner Schwägerin Karoline erkannte, schrieb einmal in
einem Brief an sie: ihre Naturformen wären Briefe und Rezen¬
sionen, und warnte sie, wenn sie einmal etwas schreiben würde,
andere Formen zu wählen. Die Schwägerin bedürfte dieser
freundschaftlichen Warnung nicht, denn sie dachte nie ernsthaft daran, etwas
anderes als Briefe zu schreiben, höchstens gelegentlich ein paar Rezensionen,
und brachte es nicht fertig, einen geplanten autobiographischen Roman über den
Entwurf einiger Seiten hinaus zu fördern, so sehr die romantischen Freunde,
Friedrich Schlegel und Novalis darum drängten. Friedrich meinte zwar, nach¬
dem ihr Kosegarten 1798 seine Gedichte „mit preislich ausgedrückten Namen"
gewidmet hatte: mit der Weiblichkeit sei es nun doch vorbei, aber hierin irrte
er sehr. Karoline war nie gewillt, aus dem Kreise echtester Weiblichkeit her¬
auszutreten, und als sie wegen vermeintlicher Teilnahme an der französischen
Revolution gefangen gesetzt und ihr Name vorübergehend in den Vordergrund
des politischen Tagesklatsches gestellt wurde, hat sie schwer darunter gelitten
und hätte gern ein Stück ihres Lebens darum gegeben, wie sie an Götter
schreibt (1793), wenn sie nicht aus der weiblichen Sphäre der Unbekanntheit
gerissen worden wäre. „Denk," fleht sie in einem anderen Briefe, „ich sei die
selbe Frau geblieben, die du immer in mir kanntest, geschaffen, um nicht über
die Grenzen stiller Häuslichkeit hinwegzugehen, aber durch ein unbegreifliches
Schicksal aus meiner Sphäre gerissen, ohne die Tugenden derselben eingebüßt
zu haben, ohne Abenteuerin geworden zu sein." Die Romantikerin, die nach
Wilhelm Schlegels späterem Bekenntnis das Zeug zu einer Schriftstellerin ersten
Ranges gehabt hätte, ließ sich nicht wie ihre Zeitgenössinnen Therese Henne,
Dorothea Schlegel, Frau von Stahl, Bettina usw. auf den Markt der Literaten
verlocken, sie zog den stillen Glanz und das geheim-schöpferische Leben an der
Seite Schlegels und Schellings vor — und doch ist sie schließlich auf eigene
Faust und unter ihrem Vornamen in die Gefilde der Unsterblichkeit hinein¬
gewandelt. Zweiundsechzig Jahre nach ihrem Tode, 1871, gab Georg Waitz,
der bekannte Historiker und Schwiegersohn Schellings, zum ersten Male die
Briefe aus dem sorgsam gehüteten Familienarchiv heraus und ließ 1882 eine
zweite Sammlung „Karoline und ihre Freunde" folgen. In diesen Briefen,
die durch ein Beiwort zu typisieren, ihrer lebendigen Einzigartigkeit zu ent¬
kleiden, man Anstand nehmen muß, blühte das Bild der viel bewunderten und
viel gescholtenen Frau in neuer Herrlichkeit auf. Das ursprünglich geschaffene
Kunstwerk ihrer Lebensart, das von keinem Roman erreicht worden wäre,
sprach aus jeder Seite und offenbarte dem Leser, daß in Karolines Frauen-
Persönlichkeit die romantische Lebensform und neu-menschliche Ethik schöpferkräftig
hineingelegt war, so daß sie nicht nur der natürliche Mittelpunkt der romantischen
Schule wurde, deren produktive Fähigkeiten zu ihrem großen Leidwesen so bald
erlöschen sollten, daß sie sogar, man möchte sagen, das wundervollste und
vollendetste Gedicht der Frühromantik war. Daß ihr Leben endigte, wie die
Gesänge der romantischen Schule verhallten und das ruchlos-stolze Beginnen
des geistigen Babel-Turmbaus so kläglich im Mystizismus scheiterte — diesen
Parallelismus möchte man für mehr als ein Spiel des Zufalls halten.
Unsere von neuromantischen Stimmungen durchhauchte Zeit hat in Neu¬
drucken der Romantikerbriefe auch Karolines Briefe herangezogen, aber in Aus¬
wahl und Bruchstücken (so erst kürzlich Helene Stöcker im Verlage Oesterheld
u. Co., Berlin). Man muß aber diese wundervollen Dokumente ganz und
ungeteilt lesen, um den Lebensatem zu spüren, von dem sie getragen sind. Es
ist das Verdienst Erich Schmidts, nachdem die Waitzschen Ausgaben vergriffen
sind, in der neuen, zweibändigen Ausgabe des Insel-Verlages über den ersten
Herausgeber hinaus zu den teilweis erhaltenen Handschriften zurückgegangen
zu sein, um, bis auf belanglose Alltäglichkeiten, die Briefe so zu geben, wie
sie Karoline einst geschrieben hat/) In seiner wohlgepflegten Philologenart be¬
gleitet Erich Schmidt die Ausgabe mit einer biographischen Einleitung und
sorgfältig zusammengelesenen Anmerkungen, so daß es leicht ist, das Netz von
Beziehungen, das sich von Karoline zu unberühmter, in der Hauptsache aber
berühmten^ Zeitgenossen ausspann, zu überblicken. Briefe an Karoline und
über sie vervollständigen ihr Bild, Beilagen und Anhänge geben, was zu ihr
gehört: dreiunddreißig Briefe Friedrich Schlegels an Karolines Tochter aus
erster Ehe, Auguste Böhmer, die, ein liebliches Kind und der Schwarm aller
Romantiker, unerwartet im Jahre 1800 starb, zwei Gedichte der tief er¬
schütterten Brüder über ihren frühzeitigen Tod, Stanzen Schlegels und Schellings
an Karoline, ihre Verherrlichung in der „Lucinde", Karolines lustige Parodien
der lateinischen Habilitationsthesen Friedrichs, ihre Kritiken, den Entwurf des
erwähnten Romans, Porträts der Briefschreiberin, der Tochter und des einzig
geliebten Gatten Schelling. das Faksimile des Briefes an Goethe, den sie
bittet, sich des durch Augustes Tod tief verstörten Schelling anzunehmen und
anderes mehr.
Mit Wehmut durchblättert man in unserer brieffaulen Zeit die beiden
Bände, deren gediegen-zierliche Zurechtmachung an die Tage erinnern, da die,
deren Leben sie umfassen, sie schrieb. In diesen langen Briefen, welch eine
seelische Sammlung und lebensvolle Ruhe bei aller Bewegung in Schmerz
und Freude, im Sturm der Schicksale, der um den Lebensweg der Schreiberin
brauste! Wahrlich, diese Frau verdient es, die feinste Briefkünstlerin Deutsch¬
lands genannt zu werden! Nur, daß ihre Briefe so gar keine Kunst, so gar
nicht gemacht, sondern so ganz gelebt und mühelos sprachlich geformt sind, selbst
da, wo sie unsterblich-schöne Worte prägt, wie jenes an Wilhelm Schlegel,
den sie mahnt, sich aller Kritik zu enthalten: „O, mein Freund, wiederhole
es dir unaufhörlich, wie kurz das Leben ist, und daß nichts so wahr¬
haftig existiert als ein Kunstwerk — Kritik geht unter, leibliche Geschlechter
verlöschen. Systeme wechseln, aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein
Papierschnitzel, so werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die
in das Haus Gottes gehn — dann erst kommt Finsternis." Immer sind diese
Briefe interessant, immer spiegeln sie den lebhaften und nie spielenden Geist,
die scharfe Menschensichtigkeit, das anmutige Gemüt ihrer Verfasserin; sie erhalten
den Wert literargeschichtlicher Dokumente in der romantischen Jenaer Zeit, am
schönsten aber und rührendsten sind sie, wenn sie ganz privat werden, wie die an
Schelling, dessen geistige und menschliche Persönlichkeit Karoline mit aller seelischen
Tiefe ihres Wesens und der mütterlich-keuschen Inbrunst ihrer Liebe umwirbt
und gewinnt. Witz, Gefühl, Hoheit, Zierlichkeit, Mut, Kraft — das sind die
Worte, mit denen Friedrich Schlegel Karolines Wesen charakterisiert, aber am
tiefsten trifft er es, wenn er sagt, ein lebendiger Hauch von Harmonie und Liebe
beseele es. Liebe war das ersehnte Schicksal auch dieses Weibes. Früh ver»
heiratet an einen ihr im Grunde gleichgültigen Mann, den Bergarzt Dr. Böhmer,
der nach kurzer Ehe starb, flieht die umworbene Witwe aus der Enge ihrer
Vaterstadt Göttingen, wo ihr Vater ein berühmter Orientalist war, um in Mainz
im Hause Forsters nicht nur ein reges, wenngleich kein aktives Interesse an der
sranzöstschen Revolution zu nehmen: enttäuscht durch eine unglückliche Liebe
schenkt sie die Leidenschaft ihrer Sinne einem jungen Offizier der französischen
Besatzung, CrancS, und muß mit einem Wochenbett dafür büßen. Allein die
Emanzipierte läßt sich weder dadurch noch durch die harte Gefangenschaft die
Heiterkeit der Seele trüben und bezwingt gerade in dieser Zeit ihrer tiefsten
Erniedrigung (1793) durch den Adel ihres Wesens den jungen Friedrich Schlegel,
sür dessen Geist, wie es in der „Lucinde" heißt, die Vergötterung seiner erhabenen
Freundin ein fester Mittelpunkt und Boden einer neuen Welt wurde. Sie weckte
den Romantiker in ihm. Die Liebe zu ihr unterdrückte Friedrich um seines Bruders
willen, der Ritterlichkeit und Größe genug besaß, Karoltne durch den Ehebund mit ihr
zu retten, freilich nicht, sie sich zu erhalten. Er beschwor neue Wirrnisse für ihre
Weibespsyche herauf, denn sie liebte den femininen Mann nicht und mußte den
Irrtum dieser Ehe recht eindringlich fühlen, als Schelling in ihren Gesichtskreis
trat. An diesem „Granit" ging die lose gefügte Schriftstellerehe, die Karoline
zu mancher, übrigens nicht durchgängig lobenswerten, literarischen Fronarbeit
im Sinne ihres Gatten nötigte, entzwei. Karoline widmete ihr Herz dem zwölf
Jahre jüngeren Philosophen. Schlegel verließ Jena bald und fand in Berlin
einen neuen Wirkungskreis und anscheinend auch neue Liebe, doch erst 1803
wurde durch Goethes Vermittlung von Karl August die Scheidung ausgesprochen.
In der Ehe mit Schelling, dem sich die Individualistin, die alle Not des Blutes
empfunden hatte, voll Anbetung, Achtung und Freundschaft beugte, gipfelte
dieser Liebesweg, den wir in den Briefen miterleben, recht nach den Worten
Karolines, die es begreiflich fand, „wie man die Dokumente eigener verworrener
Begebenheiten seinen Kindern und auch der nach uns lebenden Welt als eine
die Menschheit überhaupt interessierende Erfahrung hinterlassen kann." Die
moderne Frauenbewegung hat sich diese Erfahrung zunutze gemacht, und, wie
es durch Ricarda Huch in ihrem Buche „Die Blütezeit der Romantik" und
Helene Stöcker geschehen ist, diese Individualistin und Mannesgefährtin in die
Reihe ihrer Vorbilder hineingestellt, obgleich ihr Bild nicht frei von Flecken ist.
Sie ist kein Idol, und es ist durchaus gerechtfertigt, daß Erich Schmidt in
keiner Weise versucht hat, für sie unvorteilhafte Stellen zu unterdrücken, daß er
keine Advokatur für und wider ausübt, weil, wie er sagen darf, diese einzige
Frau stark genug ist, sich selbst zu behaupten. Es kann nicht ausbleiben, daß bei
der Lektüre so durchaus persönlicher Schriftstücke Neigung und Ablehnung aufs
neue miteinander streiten: Karoline weckt keine unbedingte Begeisterung, dennoch
wird man nicht anstehen, Schellings Wort zu billigen, der bei ihrem Tode
schrieb, hier sei nicht die Rede von einem bloß persönlichen Verlust, die Welt
werde ärmer durch solchen Tod.
u den wenig erfreulichen Kapiteln der Geschichte der europäischen
Kolonialpolitik gehören die Kriege, die England gegen China
führte, um diesen Staat zu zwingen, die Einfuhr des indischen
Opiums zu gestatten.
Schon seit den Zeiten der Englisch-Ostindischen Kompagnie,
welche seit dem Jahre 1677 mit China in Beziehung gestanden und hieraus
große, stets wachsende Vorteile gezogen hatte, da der Handel mit China zu
ihren Monopolen gehörte, war das Opium der wichtigste und den größten
Gewinn bringende Artikel der englischen Einfuhr in China. In China selbst
hatten seit dem achtzehnten Jahrhundert verschiedene Kaiser unter Androhung
drakonischer Strafen die Einfuhr des Opiums untersagt, aber dem dadurch
hervorgerufenen Schleichhandel gegenüber blieben alle Maßregeln wirkungslos,
zumal er von chinesischen Beamten selbst eifrig gefördert wurde. Nachdem die
Einfuhr von Opium sich von 9535 Kisten im Jahre 1828 auf 26 818 Kisten
zum Werte von über 25 Millionen Mark im Jahre 1836 vermehrt hatte,
beschloß Kaiser Taokwang, der ebenfalls ein Edikt gegen Einfuhr und Genuß
von Opium erlassen hatte, dem Opiumhandel mit einem Male ein Ende zu
machen und entsandte am 13. März 1837 den Gouverneur Lin nach Kanton,
der kurzerhand die Auslieferung alles in den englischen Schiffen und Magazinen
befindlichen Opiums verlangte. Über 20000 Kisten im Werte von 4 Millionen
Pfd. Sterl. wurden ausgeliefert und verbrannt, und es kam infolgedessen zu
dem sogenannten Opiumkrieg mit England, der durch den Vertrag von Nanking
im Jahre 1842 beendet wurde, worauf die englische Einfuhr von Opium wieder
freigegeben werden mußte. Ein ähnlicher Vertrag wurde im Jahre 1844 mit
Frankreich geschlossen.
Nun widerstritten die mit beiden Staaten abgeschlossenen Verträge Chinas
sowohl dem Gefühl der Bevölkerung im allgemeinen als auch dem persönlichen
des Kaisers! Anlaß zu neuen Streitigkeiten bot im Jahre 1856 die Ermordung
eines katholischen Missionars; denn als die geforderte Genugtuung ausblieb,
besetzte der englische Admiral Seymour die Forts an der Bocca-Tigris und
beschoß im November desselben Jahres Kanton. Nachdem Frankreich sich England
angeschlossen hatte und inzwischen eine Flotille von Kanonenbooten am 26. Mai
nach Tientsin gelangt war, kamen die angebahnten Verhandlungen zum Abschluß,
worauf Tientsin zum Freihafen erklärt wurde. Als jedoch die chinesische Regierung
die Ausführung der Verträge in die Länge zu ziehen suchte und sich sogar zu
einem neuen Kriege vorbereitete, beschlossen England und Frankreich, den Krieg
bis zur völligen Demütigung Chinas fortzusetzen. Nach mehreren Siegen stand
das Heer am 9. Oktober 1860 vor Peking selbst, worauf seitens der Verbündeten
die Friedensbedingungen gestellt wurden, nämlich: die Erledigung der Verträge
von Tientsin bis zum 23. Oktober, Zahlung von je 16 Millionen Dollar Kriegs¬
entschädigung an die englische und französische Regierung; vor allem aber war
die Grundlage des Vertrages die Freiheit des Opiumexports aus Indien nach
China! Die Ratifikation der Verträge von Tientsin fand am 24. und
26. Oktober 1860 statt.
Nun macht China bereits seit dem Frieden von Tientsin gewaltige An¬
strengungen, um sich von dem aufgezwungenen Laster des Opiumrausches zu
befreien. Im Jahre 1869 versuchte es das indische Opium durch die Kon¬
kurrenz aus dem Lande zu treiben, indem es die Verbote, Mohn anzupflanzen,
die bis dahin bestanden hatten, aufhob; aber diese Maßnahmen hatten nur den
Erfolg, daß die Gewohnheit des Opiumrauchens in erschreckender Weise zunahmI
Auch im englischen Volke begannen sich die Stimmen zu mehren, die gegen die
unrühmliche Rolle ihrer Regierung protestierten. Offen nannte man die Opium-
kriege eine Schande für den englischen Namen und es bildeten sich in England
mehrere große Antiopiumvereine.
Nach dem Kriege mit Japan war die Opiumfrage eine der wichtigsten
Angelegenheiten, mit denen sich die chinesischen Reformer eingehend beschäftigten,
und man unternahm alles, um das Opiumbedürfnis im Innern des Reiches zu
unterdrücken. So wurde im Jahre 1906 das sogenannte Opiumedikt erlassen,
welches den Anbau von Mohn in der Weise abschaffen wollte, daß in jedem
Jahre ein Zehntel der Anbaufläche der Mohnkultur entzogen wurde. Ferner
wurde bestimmt, daß alle Fabriken und Verkaufsstellen in sechs Monaten
geschlossen werden sollten; alle Opiumverbraucher sowie der von ihnen konsumierte
Betrag, die Opiumläden und deren Umsatz sollten registriert werden. Beamte,
Lehrer und Soldaten erhielten den Befehl, den Genuß des Opiums innerhalb
dreier Monate einzustellen, während alle übrigen Chinesen unter sechzig Jahren
ihren Verbrauch um 20 Prozent einschränken sollten. Jedem Chinesen, der nach
einem Zeitraum von zehn Jahren noch dem Opiumgenuß stöhnen würde, sollte
der Aufenthalt im Lande verboten werden. Diese Maßregeln wurden mit aller
Strenge durchgeführt und zwar wurden kaiserliche Kommissare in die entferntesten
Gegenden des Reichs geschickt, um die Befolgung des Edikts zu überwachen.
In China wußte man wohl, daß auch die strengsten und rücksichtslos an¬
gewandten Gesetze keinen Erfolg haben konnten, so lange das Ausland un¬
gehindert Opium einführen durfte. Ein Wandel konnte erst eintreten, als die
englische Regierung unter dem Drucke der Bestrebungen der „Britischen
Gesellschaft für Unterdrückung des Opiumhandels" sich im Jahre 1907 dazu
entschloß, mit China einen Vertrag abzuschließen, durch welchen die Einfuhr
indischen Opiums auf 51000 Chests (1 Esche 38,1 Kx) festgesetzt wurde. Diese
Menge sollte alljährlich um 5100 Chests verringert werden, so daß die Einfuhr
nach zehn Jahren vollständig aufhören mußte. Dieser Vertrag ist aber seitens
der englischen Regierung in Indien nicht innegehalten worden, weil sie in hohem
Grade an der Aufrechterhaltung des Opiumhandels mit China interessiert U;
denn sie hat in den unter direkter englischer Verwaltung stehenden Teilen Indiens
das Opiummonopol und bezieht auch reichliche Abgaben von dem in den Ein¬
geborenenstaaten Indiens bereiteten Opium. Die Masse des in den Regierungs¬
fabriken zu Patna und Ghazipur hergestellten Opiums wird nach China importiert,
und folgende Ziffern mögen beweisen, wie wenig die englische Regierung in
Indien dem Vertrage von 1907 gerecht geworven ist: In den Jahren 1908 bis
1911 duchte die indische Regierung einen Betrag von nicht weniger als
13183900 Pfd. Sterl., während sie normalerweise in diesem Zeitraum nur
5226000 Pfd. Sterl. aus dem chinesischen Opiumhandel hätte beziehen dürfen!
Große Mengen Opium wurden nach den Straits settlements geschickt, dort
umgeschifft und nach China versandt, wo dieses Gift vertragsmäßig aufgenommen
werden mußte. Als es in China endlich gelang, dieses Vorgehen der indischen
Regierung aufzudecken, versprach diese, künftig die nach den Straits settlements
ausgeführten Waren mit einem besonderen Zeichen zu versehen.
Da nun die Opium einführenden Staaten auch auf ihre vom Mohnbau
lebende Bevölkerung Rücksicht zu nehmen hatten, so wurde auf der im Jahre 1909
auf Anregung Amerikas einberufenen Internationalen Opiumkonferenz in
Schanghai die Grundlage für ein endgültiges, sämtliche Vertragsstaaten bindendes
Übereinkommen gefunden, und zwar stellte man sich dabei vollständig auf den
Boden des kaiserlichen Edikts von 1906! Die amerikanische Regierung, welche
an der Lösung der Opiumfrage besonders dadurch interessiert war, daß in den
westlichen Staaten infolge der Zunahme des chinesischen Elements der Opium¬
genuß auch unter der weißen Bevölkerung in erschreckendem Maße zugenommen
hatte, ließ nunmehr für die Internationale Opiumkonferenz im Haag ein
Programm ausarbeiten, dessen endgültige Feststellung langwierige Verhand¬
lungen zwischen den beteiligten Staaten erforderte. Besonders wurden die Ver¬
handlungen dadurch verzögert, daß England seine Teilnahme an der Konferenz
von der Bedingung abhängig machte, daß auch die Herstellung und der Verkauf
von Morphium, Kokain und ähnlichen Drogen denselben beschränkenden Be¬
stimmungen unterworfen sein sollten wie das Opium. Und dieses Verlangen
Englands war wohl berechtigt; denn es konnte nicht zulassen, daß das von ihm
für einen hohen Kulturzweck dargebrachte Opfer anderen Staaten, welche die
genannten Drogen lieferten, Gewinn brachte. Infolge der hierdurch entstandenen
Verzögerung konnte die Konferenz, deren Beginn ursprünglich auf den 1. Juli
1910 festgesetzt war, erst am 1. Dezember 1911 eröffnet werden. Dieser
Konferenz ging jedoch das am 8. Mai 1911 zwischen England und China
vereinbarte Opium aZreemsnt voraus, welches voraussichtlich in Zukunft den
Vertragsstaaten als Muster für die Regelung des Opiumverkehrs mit China
dienen wird. Besondere Bestimmungen ermöglichen den Übergang aus dem
bisherigen Zustande in die vereinbarte Neuordnung, indem der Vertrag vor
allem folgendes bestimmt: „Die Einfuhr von indischem Opium muß aufhören,
sobald in China die Herstellung des Opiums aufgegeben worden ist; inzwischen
soll der Einfuhrzoll für Opium um das Dreifache des früheren Betrages erhöht
werden; die von den indisch-englischen Opiumhändlern aufgespeicherten Opium¬
vorräte im Betrage von etwa 20000 Chests müssen ohne Festsetzung eines
Termins exportiert werden, damit keine Schädigung der englischen Interessen
stattfindet; die indische Einfuhr muß entsprechend verringert werden." In:
übrigen soll das indische Opium von jeder einzelnen chinesischen Provinz ganz
ausgeschlossen werden, sobald in einer solchen auch die Erzeugung und Einfuhr
chinesischen Opiums vollständig eingestellt ist.
Wie ernst es China mit der Unterdrückung des Opiumrauchens meint, beweist
die Tatsache, daß der Anbau des Modus in China in den letzten drei Jahren
um 70 Prozent herabgesetzt worden ist. Nach den Berichten des Generalkonsuls
Sir A. Höhle, der im Auftrage Englands kontrollierte, ob und inwieweit China
die Vertragsbedingung erfüllte, ist in der größten und am weitesten von der
Küste entfernten Provinz Sz'tschwan, wo das meiste Opium erzeugt wurde, die
Produktion von 238000 Picul (1 P. 60 Kx) im Jahre 1906 auf 159000
im Jahre 1908 zurückgegangen und hat seitdem bis 1911 fast ganz aufgehört.
In der Provinz Schansi ging die Mohnkultur von 30000 (1906) auf 20000
Picul (1908) zurück und heute ist von einem nennenswerten Ertrag nicht mehr
die Rede. Auch in der Provinz Milman, wo die Mohnkultur in hoher Blüte
stand, ist sie von 78000 Picul auf 10000, und ähnlich W Kweitschau von 48000
aus 10000 Picul gesunken, während in mehreren Provinzen der Mohnbau so gut
wie verschwunden ist. Man hofft, noch vo<dem Jahre 1917 — der 31. Dezember
1917 ist als äußerster Termin der indischen Opiumeinfuhr nach China beabsichtigt —
jeden Mohnbau für Opiumzwecke in China zu unterdrücken. Im übrigen ist
für den durch das Verschwinden der Mohnkulturen entstehenden Verlust an Ein¬
kommen der Bevölkerung ein Ersatz geboten durch die zahlreicheren und billigeren
Nahrungsmittel, und die Mandschurei hat sogar in der statt des Modus an¬
gebauten Soyabohne einen gewinnbringenden Ausfuhrartikel erhalten. (Vgl. hierzu
die Mitteilungen der Frankfurter Zeitung vom 5. Februar 1912 über den
Bericht des Sekretärs der britischen Gesellschaft für Unterdrückung des Opium-
Handels. Jos. G. Alexander, auf der Opiumkonferenz im Haag.)
Was endlich die Beschlüsse dieser am 1. Dezember 1911 eröffneten und
am 23. Januar 1912 geschlossenen Internationalen Opiumkonferenz im Haag
betrifft, so enthalten die fünf ersten Artikel Bestimmungen über Verbot und
Verkauf von rohem Opium, über Verminderung der Anzahl der Einfuhr- und
Ausfuhrhäfen, sowie über die Kontrolle der vereinbarten Maßregeln. Die
Artikel 6 bis 14 enthalten die Beschlüsse über Ein- und Ausfuhr von Opium¬
präparaten Morphium, Kokain, Heroin), deren chemische Formel genau angegeben
ist, und zwar werden die Vertragsstaaten Maßregeln ergreifen zu einem
allmählichen, aber wirksamen Verbot der Herstellung, des Handels und des
Gebrauchs dieser Präparate, wobei besondere Gesetze die Zulassung für medi¬
zinischen Gebrauch regeln werden. Die Artikel 15 bis 19 regeln den Verkehr
mit China und zwar werden die Staaten, die chinesisches Gebiet gepachtet
haben, dafür sorgen, daß die Gelegenheiten für Opiumraucher verschwinden, wie
anderseits die Staaten, die in China eigene PostVerwaltung haben, die
Beförderung verbotener Sendungen verweigern werden. Die übrigen Artikel
handeln von der Vermittlerrolle, welche vom Niederländischen Ministerium des
Äußern im gegenseitigen Verkehr der Vertragsmächte zu übernehmen ist, und
zwar erfolgen einerseits durch dieses Ministerium alle Mitteilungen über die
von den einzelnen Staaten getroffenen Verwaltungsmaßregeln, während ander¬
seits bei ihm alle statistischen Angaben über Gewinnung, Verkauf und Gebrauch
von Opium gesammelt werden.
Jedenfalls hat die Internationale Konferenz im Haag, welche die Grund¬
züge für das Opiumgeschäft festgelegt hat, eine einzig dastehende Kulturarbeit
geleistet. „Denn auf europäischem Boden — so führt eine Zuschrift aus dem
Haag an die Kölnische Zeitung (Ur. 124, 1912) treffend aus — sind die sitt¬
lichen, geistigen und materiellen Interessen eines vor wenigen Jahrzehnten
unserni Wissen und unseren Interessen noch ziemlich fernstehenden asiatischen
Reichs mit einer nach Hunderten von Millionen zählenden Bevölkerung der
Gegenstand langer Verhandlungen gewesen. Sodann haben einzelne Staaten
durch ihren Beitritt zu den Beschlüssen der Konferenz bedeutende finanzielle und
wirtschaftliche Opfer gebracht. Unter den verheerenden Folgen des Opium¬
mißbrauchs hat das große chinesische Reich am allermeisten gelitten, nicht nur
wegen seiner riesigen Bevölkerung, sondern auch, weil es durch politische und
selbst kriegerische Verwicklungen geradezu gezwungen worden ist, in Gestalt ver¬
schiedener „Vertragshäfen" seine Grenzen fremder Habgier und Gewinnsucht zu
öffnen. Es ist also nur eine Sühne des lange an ihm begangenen Unrechts,
wenn jetzt der von der öffentlichen Meinung längst geforderte Wandel eintritt."
Neuerdings beklagt sich England darüber, daß China seinen Verpflichtungen
nicht nachkomme; es hat kürzlich durch Sir John Jordan, den dortigen englischen
Gesandten, der chinesischen Regierung eine Note überreichen lassen, in der erklärt
wird, daß die Haltung der chinesischen Provinzen in der Opiumfrage eine schwere
Verletzung der britisch-chinesischen Verträge bedeute und durchaus ungerechtfertigt
sei. Der Standpunkt der britischen Regierung, die mit sehr scharfen Maßnahmen
droht, wenn China seine Haltung nicht ändere, ist folgender: der Opiumimport
sollte nur staffelweise vermindert werden; tatsächlich häufe sich aber in Indien
eine ungeheure Masse Opium an, die unverkäuflich bleibe. Außerdem sei die
Opiumproduktion in chinesischen Provinzen trotz der gegenteiligen gesetzlichen
Bestimmungen nicht abgeschafft. China dagegen steht auf dem Standpunkt, daß
die Anhäufung des Opiums in Indien eine Folge der Spekulation der Händler
sei, daß der Verkauf von Opium nicht garantiert sei und daß keine Verletzung
der Verträge vorliege. Nach einer Mitteilung aus Peking sind in Schanghai
trotz aller Gegenbemühungen der chinesischen Regierung für elf Millionen Pfund
Sterling indisches Opium aufgestapelt! Besonders in verschiedenen Jangtse-
Provinzen wird energisch gegen den Opiumhandel gearbeitet und man wünscht sogar
die Abschaffung der englisch-chinesischen Konvention, die bis zum Jahre 1917
eine allmähliche Unterdrückung des Opiumhandels vorsieht. Gelingt es der
gegenwärtigen Agitation, den Opiumhandel noch mehr als bisher einzuschränken,
so droht eine schwere Finanzkrise, da drei britische Banken mit sehr hohen
Summen beteiligt sind.
Erich Schmidt -j-. Wenn ich hier in den
grünen Heften dem Wunsche des Heraus¬
gebers folgend dem verewigten Lehrer und
väterlichen Freunde Erich Schmidt einige
Worte des Gedenkens widme, so geschieht eS
unter dem frischen Eindruck des tiefen
Schmerzes, daß wir einen der besten Men¬
schen verloren haben. Sprach man von ihm,
so nannte man ihn kurzweg „Erich": nichts
charakterisiert treffender die Beliebtheit des
Professors bei den Studenten, das vertrauliche
Verhältnis und die schwärmerische Verehrung
aller, die seines näheren Umganges gewür¬
digt wurden. Er war ja nicht nur der
Lehrer seiner Schüler, deren wissenschaftliche
Arbeiten er mit stets regem Interesse be¬
gleitete und förderte, er nahm auch herzlichen
Anteil an ihren persönlichen Verhältnissen.
Was er — und mit ihm seine gütige, hilfs¬
bereite Gattin — für viele in schwierigen
materiellen und seelischen Nöten und Be¬
drängnissen getan und ohne viele Worte ge¬
sorgt hat, das wird ihm nie vergessen werden.
Der Gedanke erscheint uns unfaßbar, daß
er nicht mehr unter uns weilt; denn er ge¬
hörte zu den Bedingnissen des eigenen Da¬
seins, er verkörperte in sich ein wesentliches
Stück des Wertes und der Schönheit des
eigenen Lebens. Dieser ganz Persönliche
Zauber, der von seiner vornehmen, impo¬
nierender Gestalt mit dem prachtvollen Cä-
sarenkopf ausging, soll uns nicht mehr in
seinen Bann ziehen? Wahrhaft grausam hat
hier das Schicksal gewaltet, das durch ein
tückisches Leiden den noch nicht sechzigjährigen
seinem großen Wirkungskreise jäh entriß.
In der anstrengenden Lehrtätigkeit und
der stillen Arbeit des Gelehrten am Schreib¬
tisch inmitten seiner kostbaren, seltenen Bücher¬
schätze erschöpfte sich nicht die Kraft dieses nie
rastenden Geistes. Erich Schmidt war eine
der bekanntesten Erscheinungen des Berliner
Gesellschafts- und Theaterlebens, er stand an
der Spitze der Goethe-Gesellschaft, die erst
vor kurzem in Jacob Minor auch den Vize¬
präsidenten verloren hatte, er leitete die Ge¬
sellschaft für deutsche Literatur und war der
regelmäßige Besucher der Berliner Germa¬
nistenkneipe, wo er im Kreise alter und junger
Schüler, zu denen sich oft Gäste, auch aus
fremden Ländern, gesellten, den Dienstag¬
abend verlebte. Gerade hier beim Krug
Weihenstephan lernten ihn Wohl die meisten
angehenden Fachgenossen näher kennen; hier
erfuhren sie, welch eine glückliche Mischung
von wissenschaftlichem Ernst und sonniger
Frohnatur in ihm sich einte, die erst dem sich
ganz offenbarte, der das Glück hatte, in
sein gastfreies Haus gezogen zu werden.
Wenn er da dem Besucher gegenüber in dem
fast historisch gewordenen Schaukelstuhl saß
und wissenschaftliche und persönliche Ange¬
legenheiten besprach, wenn er, dem ein frischer,
treffsicherer Humor jederzeit zu Gebote stand,
ein Urteil abgab oder einen Rat erteilte,
dann fühlte man, daß dieser Lehrer mit war¬
mem Herzen zu seinem Schüler stand.
Schon in Schulpforta, dieser wichtigen,
alten Pflegestätte humanistischer Bildung,
hatte Erich Schmidt in dem deutschen Unter¬
richt des Literarhistorikers Koberstein die ersten
entscheidenden Anregungen und Eindrücke von
jener Wissenschaft empfangen, der er sein
Leben weihte. So wurde er Wilhelm Scherers
Schüler und fünfzehn Jahre später sein Nach¬
folger im Lehramt an der Berliner Univer¬
sität. Die Großherzogin Sophie betraute ihn
mit der ersten Sichtung und Ordnung von
Goethes Nachlaß, und hierbei hatte er, wie
er selbst einmal das charakteristische Scherz¬
wort Prägte, das Glück, „sich ins Urfäustchcn
zu lachen": er fand in der Abschrift des
Fräuleins von Göchhausen den Urfaust.
Eine großartige Wirksamkeit entfaltete er
als Professor in Berlin. Wie er die Wissen¬
schaft der Literaturforschung auffaßte, das hat
er deutlich gesagt, als er in das Album der
Germanistenkneipe die Losung eintrug: „Du
sollst nicht töten, sondern lebendig machen!"
Nicht den Buchstaben (obwohl auch der nicht
übersehen werden darf), sondern den Geist
der Dichtung gilt es zu erfassen I Ganz un¬
merklich führte er seine Hörer zu dieser ideellen
Auffassung der Kunstwerke, dadurch auch die
Kritik auf eine höhere Warte stellend. Durch
feine Methode, die nie die Fühlung mit dem
modernen Leben verlor, hat er einen zahl¬
reichen, in seinem Sinne weiter schaffenden
Nachwuchs herangebildet.
Wehmütig nehmen wir noch einmal sein
letztes Werk zur Hand, die Ausgabe der Briefe
Cnrolinens; in tiefer Ergriffenheit lesen wir
wiederholt er> wundervolle, ein Bild reiner
Menschlichkeit begreifende und deutende Ein¬
leitung zu diesem Buche, und in staunender
Bewunderung durchblättern wir den Kom¬
mentar, in dem eine Unsumme von Einzel¬
kenntnissen zu einer Geschichte der roman¬
tischen Periode sich zusammenfügt.
Einer Persönlichkeit von stark und eigen
gefügtem, ragendem Wuchs, einem Künstler
des Lebens und der Wissenschaft, einem Men¬
schen in des Wortes höchster und schönster
Bedeutung trauern wir nach, auf den wir
Goethes Epigramm anwenden dürfen:
Auf deinem Grabstein wird man lesen:
Das ist fürwahr ein Mensch gewesen!
Farbenphvtographie. Das Problem der
Photographie in natürlichen Farben ist durch
die Autochromie, durch die Autochromplatte
der Gebrüder Lumiöre der Lösung ein ganz
beträchtliches Stück näher gerückt. Wirklich
gelöst ist es allerdings noch nicht, denn die
Autochromie ist kein direktes Farbenverfahren,
das uns die Naturfarben selbst direkt auf die
Platte zaubert, sondern ein indirektes Ver¬
fahren. In die Schicht der Lumiöre-Platte
sind Stärkekörnchen in den drei Grundfarben
Rot, Gelb-Grün, Blau eingebettet, die in
der Durchsicht auf additiven Wege die ein¬
zelnen Gegenstände der Aufnahme in an¬
nähernd natürlichen Farben erscheinen lassen.
Wir sehen also in der farbigen Autochrom¬
platte immer nur die Farben und Farben¬
mischungen jener Schicht von Stärkekörnchen,
den sogenannten Farbraster, niemals aber
die Farben der Natur selber. Dennoch ist
uns in dem Autochromverfahren ein Sur¬
rogat für eine wirkliche Photographie in
natürlichen Farben gegeben, das alle An¬
sprüche vollkommen erfüllt, die man billiger¬
weise stellen kann.
Aus diesem Grunde nutzt man die Auto¬
chromie in immer steigendem Maße nament¬
lich auch in den Kreisen der Liebhaber¬
photographen, neben denen der Berufs¬
photographen und der Wissenschaft, weidlich
aus, um sich ein annähernd getreues Bild
vom farbigen Reiz der Wirklichkeit zu ver¬
schaffen. Leider gibt eS bis heute noch kein
einigermaßen brauchbares Verfahren, um von
dem farbigen Autochrom farbige Abzüge in
genügender Anzahl anzufertigen.
Man ist also beim Betrachten der farbigen
Platten auf die Durchsicht unter Benutzung
von Lichtspiegeln oder direkt gegen die Licht¬
quelle angewiesen oder auf die Projektion
mittels geeigneter Apparate. Besonders der
letztere Weg, die Vorführung von Auto¬
chromen mittels des Projektionsapparates,
erscheint bisher als der Weg, der zu einem
am meisten ungetrübten Genuß der Farben
in der Photographie führt. Die Farben er¬
scheinen auf der Leinwand mit einem wunder¬
baren Glanz; allerdings liegt häufig über
dem Ganzen ein Stich ins Bläuliche, der
Wohl auf die Zusammensetzung der Farben
im Farbraster zurückzuführen ist. Dieser Stich
ins Bläuliche läßt sich aber beseitigen durch die
Verwendung goldgelber Projektionsschirme.
Für die Reproduktion von farbigen Auto¬
chromen ist man noch immer auf den Drei¬
bzw. Vierfarbendruck angewiesen, bei dem
die Farben nicht zwangsläufig erscheinen,
sondern vom Drucker derart ausgewählt
werden müssen, wie sie seiner Meinung nach
die farbige Erscheinung der Vorlage am
besten wiedergeben.
Es sind in letzter Zeit eine ganze Anzahl
von Sammlungen solcher Reproduktionen
nach Farbenphotographien erschienen, von
denen wir hier auf zwei näher eingehen
wollen. Es sind zwei Mappen „Herbststudie»
in den Schweizer Alpen" und „Herliststudien
im teuschen Wald", je zehn Kunstblätter
nach farbenphotographischen Aufnahmen von
Hans Hildcnbrand.")
Den Photographen hat bei seinen Auf¬
nahmen die Freude an der Farbe geleitet,
er wollte die neue Technik, stolz auf ihre
Kraft, benutzen, um die Farbensymphonien
des Herbstes einzufangen. Das ne ihm im
großen und ganzen gelungen, und er hat
sogar die Gefahr nach Möglichkeit zu ver¬
meiden gewußt, die bei aller Farbenphoto-
grnphie dem ästhetischen und künstlerischen
Gesamteindruck der Aufnahme droht.
Auf den verhältnismäßig engen Raum
der Platte wird bei der Farbenphotographie
die gesamte Fülle an farbigen Einzelheiten
zusammengedrängt, so daß namentlich bei
Photographien in kleinem Format die Qber-
füllung des Bildraumes mit farbigen Gegen¬
ständen nicht nur unkünstlerisch, sondern sogar
unnatürlich wirkt. Die Originale der Auto-
chromphotographie oder Reproduktionen in
allzu kleinem Format sehen daher häufig wie
angetuscht aus.
Bei der Projektion von Autochromen auf
den Leinwandschirm schwindet diese Gefahr
durch die starke Vergrößerung des Bildes.
In den beiden erwähnten Mappen hat der
Verlag sie verringert durch die Wahl eines
ziemlich großen Formates für die Bilder.
Das Hauptverdienst allerdings für die Über¬
windung dieser Gefahr kommt dem Verfasser
der Photographien selber zu. Er hat sich in
der Wahl seiner farbigen Motive zu be¬
schränken gewußt und sie nach Möglichkeit auf
einige wenige, meistens zwei Grundfarben
und ihre Nuancen hin angelegt. Er zaubert uns
einen kühlen Herbstabend im deutschen Walde
mit den Farben Gelb und Grün als Grund¬
akkord vor, er schwelgt in allen Nuancen
herbstlichen Laubes vom hellen Gelb bis zum
satten Braunrot, er baut aber auch eine
Schweizer Gebirgslandschaft aus dem stäh¬
lernen Blau des Himmels und der Berge,
dem dunklen Grün der Arven und dein
Violett der Heide auf. Die Freude an der
Farbe und ihrem Zusammenklange spricht
aus allen Blättern.
In der Reproduktion erscheinen die rot¬
braunen Farbentöne als am wenigsten ge¬
lungen. Sie wirken oft zu schwer, zu
massig und wenig locker, so daß sie alle feine
Modellierung der Gegenstände verwischen.
Außerdem hat man bei der Reproduktion
vielfach zu satte Farben gewählt, und da¬
durch wird die Lustperspektive zum Teil
ganz beseitigt. Die Farbenflächen stehen
zu hart und unvermittelt neben ein¬
ander, es fehlen die feinen Nuancen, die
durch das verbindende Medium, die Luft,
hervorgerufen werden. Die dadurch gelegent¬
lich erzielte Kälte in der Stimmung Paßt
vielleicht garnicht übel zu den gewählten
Herbstmotiven, ist aber auf einen technischen
Mangel zurückzuführen, der mit leichter Mühe
abzustellen wäre.
Dessenungeachtet hat man an der weitaus
größten Anzahl der Bilder eine reine Freude
und einen hohen Genuß, Die Einleitungs¬
worte zu dem Bande über die Schweizer
Alpen hat I, C. Heer geschrieben, der mit
warmer Sachlichkeit auf die Eigenart der
Alpenlandschaft eingeht. In den deutschen
Wald bemüht sich A, Trinius den Leser
durch einen Panegyrikus auf den deutschen
Herbst einzuführen, in dem viel zu viel von
deutschen Eichen, Waldesduft, Wildgänsen,
Eichhörnchen und Rehen die Rede ist. Dieser
lyrisch-romantische Tonfall will zu der
strengen Sachlichkeit und objektiven Ruhe
und Gründlichkeit der photographischen Technik
nicht so recht passen,
„Cicero im Wandel der Jahrhunderte"
von Th. Zielinski, Professor an der Univer¬
sität Se, Petersburg, Dritte, durchgesehene
Auflage, Verlag von B. G. Teubner. 1912.
— Die Schlacht um dieses Buch ist bereits
geschlagen, und so kann vielleicht, nachdem die
Berufenen sich über eine ungewöhnliche Er¬
scheinung, wie die vorliegende es ist, aus¬
einandergesetzt haben, auch ein „blutiger Laie"
sein Quentlein Senf spenden. Nach Tische,
wie sichs gebührt. Mehr als sechzehn Jahre
sind verflossen, seit Zielinskis Vortrag zu
Ciceros zweitausendstem Geburtstag deutsch er¬
schien. Was damals gleichsam im Handstreich
genommen wurde, hat die zweite Auflage
<1908) dann in regulären Aufmarsch ver¬
teidigt, wobei aber der geistvolle Verfasser
mit glänzender Offenheit im Vorwort alsbald
die Gefahr anerkannte, die in seinem Verzicht
auf die Kürze lag. Genug: die unfreundliche
Beurteilung Ciceros, die Mommsen in Kurs
brachte, fand in Zielinski einen Gegner, der
imstande war, seine eigene Unabhängigkeit
vom konventionellen Mitdenken, wie es die
Wissenschaftlerei übt, durchgehends zu beweisen.
Das bedeutete schon einen gewaltigen Borten.
Es stellte sich hier auch wirklich von neuem
heraus, daß Historiker, die gewissermassen in
einer engeren Periode der Vergangenheit auf¬
gehen, bei aller Kenntnis, Logik und Kombi¬
nationskraft doch dahin neigen, einleuchtende
Zerrbilder fertigzubringen. Der große Wurf von
Zielinskis Cicerostudie beruht in dem genialen
Auffangen der Ausstrahlung, die von dem
Lebenswerk des römischen Redners, Stilisten
und Denkers stets neugestaltig erfloß. Es wäre
ein vergebliches Unterfangen, die Ergebnisse
noch in nuce wiedergeben zu wollen. Die
frühchristliche Zeit, die Renaissance, die Auf¬
klärungsperiode und endlich (aber nicht ab¬
schließend) die Revolutionsära: sie zeugen hier
jede in eigentümlicher Weise. Vielleicht hat
Zielinski, vom Verlauf seiner Arbeit bereits
allzusehr gefesselt, die Rolle Ciceronischen Gutes
im Munde und in den Vorstellungen der
Franzosen seit Rousseau und Voltaire unver¬
sehens überlastet. Mit Beginn der Revolu¬
tion ist das Altertum vorwiegend eine Kammer
für Drapierungsmaterial geworden, und es
müßte ein kostbar Büchelchen geben, wollte
jemand die tollen Mißverständnisse in klassischen
Anspielungen oder Zitaten zwischen 1790 und
1813 einmal zusammenlesen, Cicero als
Quelle steht jedoch bei dieser Komödie schnell¬
fertig angeheuchelter Bildung keineswegs voran,
und die Gesamterscheinung läßt sich nicht von
ihm aus beurteilen. Recht ungern aber er¬
wähnt man einen Mißgriff, der Zielinski
gerade bei Vorbereitung der Stimmung für
seine Darlegung begegnet ist, und den eben
diejenigen Leser, auf die er notwendig ge¬
zählt hat, nicht wieder völlig verwinden.
Bei dem an sich feinfühligen Bestreben,
. Ciceros Stilkunst organisch zu entwickeln, die
bequemere Beispielsammlung also zu ver¬
meiden, ist der Verfasser in eine arge Lehr-
haftigkeit hineingeraten. Sie geht so er¬
staunlich und befremdend weit, daß die un¬
willige Frage fällig wird, was Leute, denen
solche Mitteilungen durchaus nicht erspart
werden konnten, dann mit dem Thema über¬
haupt anfangen sollen. Gilt doch der Kampf
dem vornehmen Muster der Ciceronischen
Periode, die vom „Zeitungstil" bedrängt wird.
Gut, aber der Streit ist nicht erst heute ent¬
brannt und auch nicht von? Zaun gebrochen
Nachdruck sämtlicher Slufsühc mir mit ausdrücklicher Erlaubnis des Vcrlaaö ncstattct.
WeraiUwortlich: der Herausgeber George Cletnow in Berlin-Schöneberg. — ManusKiptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzbotrn in Berlin »Frieden««, Hedwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Uhland SWO, de» Verlags: Amt Lützow KS10.
Verlag: Verlag der Erenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" <S. in, d. H. in Berlin SV/. II, Dessauer Strasze 3S/Z7.
och niemals, solange das Königreich der Belgier existiert, hat die
flämische Nation solch ein Selbstbewußtsein, solch einheitliche Tat¬
kraft an den Tag gelegt, daß das parlamentarische Leben dauernd
unter dem Zeichen gestanden hätte: Hie Vlaamsch! Hie Waalsch!
Die Gesetze, die zugunsten der Flamen zustande kamen, beschränkten
sich auf so primitive Forderungen der Humanität, daß nicht nur einige Wallonen,
sondern sogar die germanischen Gegner jeder germanischen Eigenart, die Sozial¬
demokraten Flanderns, dafür stimmten. Die plutokratischen Fransquillons und
die sozialdemokratischen „Internationalen" sind der Hauptgrund, warum eine
große nationale Partei unter den Flamen noch immer nicht ins Leben ge¬
treten ist. '
Der politische Antagonismus in Belgien ist vielmehr von Anfang an der
gewesen: Hie liberal — hie klerikal! Und wie bekannt, haben vor einigen
Jahrzehnten die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und Veränderungen
einen neuen, werbekräftigeren Gegner auf den Plan gerufen: die Sozialdemo¬
kratie. Da sie die alten, noch von der französischen Revolution herstammenden
Ideale der Liberalen in ihr Programm mit hinübergenommen hat, und zwar
in einer erweiterten, jugendfrischeren Gestalt, so liegt die theoretische Behauptung
nahe, der Liberalismus sei nun überflüssig geworden; da sie mit einfacheren,
drastischeren Mitteln an das Denken, Fühlen und Begehren des Menschen
appelliert, so wird sie auch praktisch die Liberalen allmählich verdrängen, ja,
wenn sie sich erst auf das allgemeine gleiche Wahlrecht stützen kann, wird das
sogar sehr plötzlich eine vollendete Tatsache sein. Unser deutscher Liberalismus
unterscheidet sich von dem belgischen; er hat bei weitem kräftigere Stützen im
Wirtschaftsleben (Städte. Handelsstand, Kapital), besonders aber in gewissen
Idealen (Nationalgefühl, in katholischen Gegenden sogar religiöse Anschauungen:
Varietäten der protestantischen Konfessionen); das alles sind positive Elemente!
In Belgien gehört ihm von diesen Positiven nur das Kapital und die fran¬
zösische, sogenannte feine Bildung: alles übrige ist negativ: der Gegnerschaft
gegen die Klerikalen fehlt die religiöse Unterlage (Protestanten gibt es unter
den eingeborenen Belgiern verschwindend wenige); sie können anch nicht, wie
die Liberalen in Italien und Deutschland, das Nationalgefühl gegen den
Papismus für sich in Anspruch nehmen; denn ihr staatlich belgischer Patrio¬
tismus wurzelt nicht im Volke und kaun: in einer Erdscholle, höchstens in einigen
wallonischen Distrikten können sie vor den anderen Parteien an das Volks¬
bewußtsein appellieren. Kurz, alle Erwägungen und alle Erfahrungen sprechen
dafür, daß es ihnen bald ergeht, wie allen gemäßigten Parteien in hitzigen
Zeiten: sie werden zwischen den Extremen mit elementarer Wucht zerrieben.
Der Kampf der Parteien wogt gegenwärtig um das Wahlrecht; was nach
der Entscheidung für ein Siegespreis winkt, können wir an dem großen Einsatz,
an dem seltenen Schauspiel ermessen, das uns kürzlich geboten wurde, an dem
Generalstreik, der kein Lohnkampf war, sondern um ein politisches Ideal gewagt
wurde und durch den so mancher errungene materielle Vorteil wieder verloren
ging. Es war eine Demonstration, die von den Arbeitern gegen den Rat der
Führer durchgesetzt wurde, für ein Stimmrechtsideal; es ist bekannt, welchen
Entbehrungen zum Trotz sie es wagten, wie wenig Geld in der Streikkasse
war und wie sie ihre Kinder außer Landes taten, um sie nicht verhungern und
verkommen zu lassen, zu Gesinnungsgenossen in Holland und Frankreich.
Da ist zutage getreten, über welche gewaltigen moralischen Kräfte doch
eine Bewegung verfügen muß, die einen solchen Heroismus zeigt. Was be¬
deutet gegen eine solche Kraft der Mammon der liberalen Fransquillons und
ihre französisch sein sollende Halbkultur? Damit läßt sich die Sozialdemokratie
nicht niederkämpfen, sondern nur durch eine gleich starke, aber anders geartete
Bewegung, die instinktiv, seelisch und ethisch große Menschenmassen zu Taten
und Opfern der Solidarität zusammenzwingt! Und das vermögen nur nationale
oder religiöse Bewegungen; solche haben sogar eins vor der Sozialdemokratie
voraus: ihre Ideale lassen sich nicht mit den Händen greifen und in die ent¬
täuschende Verwirklichung herabzerren!
Denn was ist, so erfaßt und mit kühlem Verstände aus der Nähe be¬
trachtet, dies politische Ideal, für das die Arbeiter im Generalstreik so un¬
geheuere Opfer gebracht haben? Es ist zunächst nichts weiter als das allgemeine
gleiche Wahlrecht, das wir in Deutschland längst in seiner Verwirklichung kennen!
Und was ist der gegenwärtige Rechtszustand in Belgien, den man diesem
Ideal zuliebe verändern will? Ein Wahlsystem, das von Leuten geschaffen
ist, die zu erfahren und einsichtig waren, um die Probleme des parlamentarischen
Regimes mit einer simpeln Formel der Gleichheit gedankenlos abtun zu können.
Das allgemeine, gleiche Wahlrecht im Deutschen Reiche traut jedem Manne,
der über fünfundzwanzig Jahre, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und
nicht verrückt ist, die Fähigkeit zu, einen Volksvertreter zu wählen und so an
der Regierung des Staates indirekt teilzunehmen. Diese seltene Fähigkeit, zu
der doch eine gewisse Intelligenz und Erfahrung gehören sollte, traut es dem
Dummkopf in demselben Grade zu wie dem Klugen; der Ungebildete hat das
gleiche Recht, die Regierung mitzubestimmen wie der Gebildete, und der
arbeitende Familienvater, der die Schwierigkeiten und Kosten eines Haushalts
aus eigener Erfahrung kennt und die Verantwortung für mehr als ein Menschen¬
leben trägt, hat kein Vorrecht vor dem reichen Flaneur der Lebewelt, dem es
zu lästig ist, eine Familie zu gründen und der keine Ahnung hat vom harten
Kampfe der Menschen, die für Weib und Kind sorgen müssen. Das sind
einige Beispiele für die Gerechtigkeit dieses idealen, allgemeinen, gleichen
Wahlrechts!
Das belgische Wahlrecht versucht, diese Ungerechtigkeiten zu mildern und
berücksichtigt die Tatsache, daß die Menschen ungleich sind und ungleiche Fähig¬
keiten besitzen. Es verleiht dem seßhaften, dem Familienvater und dem Gebildeten
mehr Rechte als dem Ausladen, dem Unverheirateten und dem Ungebildeten,
indem es dem einzelnen ein einfaches, doppeltes oder dreifaches Stimmrecht
erteilt. Dabei wird auf Besitz von Geld nicht viel Wert gelegt, wohl aber auf
Grund- und Hausbesitz.
Vorausgesetzt, daß er wenigstens ein Jahr am Orte ansässig und im Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte ist, hat jeder Belgier das aktive Wahlrecht, und
zwar für die Deputiertenkammer (Unterhaus) vom fünfundzwanzigsten, für den
Senat (Oberhaus) vom dreißigsten Lebensjahre an.
Seiner Abstimmung wird nun eine doppelte oder dreifache Geltung verliehen
durch ein oder zwei Zusatzstimmen. Durch diese „vote8 8UppIömentaire8"
werden nach dem Gesetze folgende Personen ausgezeichnet:
1. Wer fünfunddreißig Jahre alt und verheiratet (oder Vater ehelicher
Kinder) ist und mindestens 5 Franken Steuer zahlt;
2. wer Immobilien von einem gewissen (ziemlich niedrig bemessenen) Wert
besitzt oder von einem (gleichfalls niedrig bemessenen) Kapital, dessen Anlage
näher bestimmt ist, Renten bezieht;
3. wer einen gewissen Bildungsgrad, Examina, Diplome usw. auf¬
weisen kann;
4. wer eine Stellung einnimmt, die Bildung, Intelligenz und Verantwortung
erfordert (Minister, Deputierte, Richter, Advokaten, Ärzte, Pharmazeuten,
Ingenieure, Geistliche, Offiziere, Professoren, Lehrer u. a.).
Von diesen vier Gruppen erhalten die ersten zwei je eine Stimme zu
ihrem Wahlrecht hinzu; die dritte und vierte Gruppe erhalten je zwei Zusatz¬
stimmen. Doch darf kein Wühler mehr als drei Stimmen haben.
Wenn z. B. ein sechsunddreißigjähriger Bürger, der fünf Franken Steuer
zahlt, Familienvater ist und ein Haus besitzt, so hat er also drei Stimmen,
eine als wahlfähiger Staatsbürger, eine zweite in seiner Eigenschaft als
Familienvater und eine dritte als Besitzer eines eigenen Hauses: wenn aber
ein ungebildeter Mensch, der keine gemeinnützige Stelle im Lande einnimmt
und nicht verheiratet ist, außer seinem Hause noch Millionen besitzt, so können
die ihm doch nicht ohne weiteres zum dreifachen Stimmrecht verhelfen; er hat
nur zwei Stimmen, also weniger als der zuerst erwähnte Bürger, und auch
weniger als ein armer Lehrer oder Geistlicher, der unter Entbehrungen durch¬
gesetzt hat, eine höhere Bildung zu erwerben, und daher über eine doppelte
Zusatzstimme, über ein dreifaches Wahlrecht verfügt.
Die Statistik für die Wahlen von 1900/1901 und 1906/1907 möge die
antivlutokratische Tendenz der Wahlgesetze noch näher veranschaulichen:
Nur wenig mehr als tausend von beinahe einer Million dieser „poles supplö-
meniAires" kamen demnach solchen Wählern zugute, die sich im Genuß von
Renten oder Zinsen befanden; dagegen über vierhunderttausend den Familien¬
vätern reiferen Alters! Der Zahl nach also fiel beinahe die Hälfte dieser Ver¬
günstigungen Leuten zu, die nicht durch Geld oder vornehme Geburt oder
Protektion bevorzugt sind, sondern mehr Lebenserfahrung, ruhigere Auffassung
und größere Verantwortung haben! Wenn man nicht besser von einer
„Aristokratie des reiferen Alters" spräche, könnte man diese Vergünstigung der
ersten Gruppe wohl als eine demokratische bezeichnen — demokratisch im guten
Sinne des Wortes.
Auch die 331870 (1906/1907: 371794) Grundbesitzer der zweiten Gruppe,
die sich einer gleichen Vergünstigung erfreuen, gehören der Mehrheit nach zum
Volk. Denn der Grundbesitz, mit dem das doppelte Wahlrecht verbunden ist,
muß als Mindestmaß nur einem geringen Werte, nämlich 48 Franken Miet¬
zins oder Reinertrag entsprechen. Wer einen tausendmal so großen Besitz hat,
genießt darum noch kein Stimmvorrecht vor dem Kleinbesitzer. Auch diese
Bestimmung entbehrt also nicht einer demokratischen Grundlage, trifft aber eine
Auslese nach der Seßhaftigkeit, Stetigkeit und Gebundenheit an die heimatliche
Scholle.
Noch stärker zeigt sich das Bestreben, wirklich dem Tüchtigsten, ohne An¬
sehen von Reichtum und Geburt, das höchste Mitbestimmungsrecht am Staate
einzuräumen, bei der dritten und vierten Gruppe: der Wahlberechtigte von
höherer Bildung und in höheren Ämtern hat drei Stimmen. Nun läßt sich
freilich nirgends in der Welt die Macht der Konnexionen ausschalten: mancher
wird unverdient, nicht infolge seiner Fähigkeit, höhere Ämter bekleiden, nur
weil er von angesehenen Eltern abstammt und daher den maßgebenden Kreisen
bekannt ist. Auch kann das beste Schulzeugnis nicht als absoluter Garantie¬
schein für Befähigung gelten oder gar das schlechteste für Unbegabtheit oder
Untüchtigkeit: die Schulmeister, die den Schüler Linus für völlig untalentiert
erklären, sterben nicht aus. Doch läßt sich diese Begleiterscheinung menschlicher
Unvollkommenheit nie beseitigen; die Regel, daß jeder Ausnahmemensch ein
Märtyrer ist, kann kein Staat und keine Verfassung umgehen. Inwiefern die
menschliche Unvollkommenheit im Namen der Religion gerade in diesem Teile
des Gesetzes den Boden zu unerfreulicher Saat findet, werden wir weiter
unten sehen.
Dies Wahlrecht, das mit einigen geringen Variationen für die Deputierten¬
kammer, für die Provinziallandtage und Gemeinderäte gilt und mit einigen
erheblichen Abweichungen auch für den Senat, repräsentiert eine wohldurchdachte
Vereinigung demokratischer und aristokratischer Tendenzen. Es versucht, die
widerstreitenden Interessen von Individuum und Staat nach Möglichkeit aus¬
zugleichen und zu vereinigen. Und um die Minoritäten mehr zu ihrem Rechte
kommen zu lassen, als das bisherige Stichwahlsystem erlaubte, wurde 1899
das Proportionalsystem eingeführt.
Im ganzen genommen sucht dies Pluralstimmrecht praktisch alle die Un¬
zuträglichkeiten und Ungerechtigkeiten der „aristokratischen" Wahlgesetze aus¬
zuschalten; es bedeutet nicht die Rechtlosigkeit der Wenigbegüterten, nicht die
Begünstigung der Parvenus und der Hocharistokratie. Aber es unterscheidet
sich doch auch von den demokratischen durch Bevorzugung der stetigen und be¬
sonnenen Elemente. Es ist einfacher und konsequenter als das Pluralsystem
des Königreichs Sachsen, das mit Pluralstimmen bis zu vier und mit mannig¬
faltigeren Einkommensgrenzen arbeitet, und wird darum von den Wählern
leichter verstanden und gewürdigt. Es hat sicherlich den ärmeren Teil des
Volkes allmählich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß am Ende Straßen¬
schlachten und Barrikadengeschrei nicht die einzigen Mittel sind, um heftig ge¬
spürte Bedürfnisse durchzusetzen.
Aber jetzt, da es zwanzig Jahre Geltung hat, möchte man es abschaffen.
Warum und von wem wird auf die Abschaffung hingearbeitet?
Die Linke wünscht es und stützt sich auf den populären Schluß: post,
erK0 proprer! Seitdem das Wahlrecht existiert, ist die Herrschaft der Klerikalen
immer drückender geworden.
Daß sie für die nicht streng-katholischen Minderheiten unerträglich ist,'
kann nicht geleugnet werden. Als Beispiel sei nur ein Fall, der weniger in
der Öffentlichkeit bekannt ist, angeführt:
Südlich von Gent, in der Nähe von Oudenaarde, liegen zwei Ortschaften,
Etikhove und Maria Hoorebeke; beide haben etwa 2000 Einwohner und die
Eigentümlichkeit, daß in ihnen der protestantische Glaube nie ganz erloschen ist.
Mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit haben diese Bauern seit der Reformation
an Glaube und Heimat festgehalten. Sie hielten die Blutjahre Aldas aus,
und als infolge von Parmas Siegen und Erlassen mehr als hunderttausend
Protestanten den Glauben „erkoren vor dem Vaterland" und fast alle die Heimat
verließen, blieben sie im Lande, den rauchenden Scheiterhaufen und Auto-da-fös
zum Trotz. Wie in Gent kamen sie auch hier insgeheim zusammen, nachts,
um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, ohne Dienerschaft, um vor
Verrat sicher zu sein, nahmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt und lasen
das Evangelium. Wohl mancher mag entdeckt und dem Feuertode oder anderer
Folter erlegen sein; aber der Funke hörte nicht auf zu glimmen, Jahrzehnte,
Menschenalter, Jahrhunderte hindurch, bis er wieder in freierer Luft aufleuchten
konnte: Etikhove baute 1780. Maria Hoorebeke 1797 ein protestantisches Gottes¬
haus, und das unter Regierungen, die den gläubigen Protestanten nicht hold
waren. Was aber Philipp der Zweite und die Inquisition nicht erzwingen
konnten — die modernen Klerikalen scheinen es zu erreichen: keiner von den
Protestanten wohnt mehr in Etikhove, ihre Kirche steht verlassen, und wann es
Maria Hoorebeke ebenso ergeht, dürfte eine Frage der Zeit sein.
Aber der belgische Staat ist tolerant, so tolerant, daß er bei Volks¬
zählungen nicht nach der Konfesston zu fragen pflegt; das würde als Eingriff
in die Freiheit des Individuums aufgefaßt werden können. Daher wird man
aus den statistischen Jahrbüchern Belgiens direkt nichts erfahren über den Anteil
der Katholiken, Freidenker, Protestanten und Juden.
Und doch gibt es da Ziffern, die einen Anhalt geben, wo der katholische
Glaube seine stärksten Majoritäten, wo er seine getreuesten Untertanen hat,
nämlich da, wo man am wenigsten Ehescheidungen wagt:
dagegen
Das zeigt klar die größere Abhängigkeit der flämischen, die größere Un¬
abhängigkeit der wallonischen Provinzen vom Klerus.
Die statistischen Tabellen über den Unterricht in den Elementarschulen
gestatten dieselbe Folgerung. Natürlich wird man auch da nach Bezeichnungen
wie „Simultanschule" und „katholische Schule" vergeblich suchen. Man findet
drei Kolumnen: „Kommunalschulen", „Privatschulen", und „adoptierte Schulen".
In welchem Geiste diese letzten die Erziehung besorgen, kann man aus der
Übersicht über ihre Lehrkräfte erkennen. Es waren:
Es handelt sich in der Tat um kirchliche und Kongregationsschulen, die
von den Gemeinden „adoptiert" und unterstützt werden, nachdem sie die eigent¬
lichen Gemeindeschulen verdrängt haben. Auch die Privatschulen sind meist
ausgesprochen katholische Anstalten.
Die Zahl der Schüler und Schülerinnen betrug in den Volksschulen der
wallonischen Provinzen:
Es zeigt sich eine starke Zunahme der (natürlich klerikalen) Privatschulen,
aber doch auch ein tapferes Standhalten der Gemeinden und eine geringere
Ausbreitung der adoptierten Schulen.
Wie ganz anders sieht die Entwicklung in den flämischen Provinzen ans!
Es seien hier nur die entsprechenden Ziffern aus den Provinzen wiedergegeben
Die Gemeinden haben sich hier den Klerikalen untergeordnet und so viele
von den geistlichen Schulen adoptiert, daß die Schülerzahl an den adoptierten
Schulen gegen 1878 jetzt in Westflandern das doppelte, inLimburg das zwanzigfache
erreicht hat; auch die übrigen privat gebliebenen Kongregationsschulen haben
ungeheuer zugenommen, während die Gemeindeschulen sich ungefähr auf der
halben Stärke von 1878 halten.
Ein noch stärkeres Anschwellen klerikaler Macht zeigen die „adoptierten
Schulen für Erwachsene"; ihre Besuchsziffer beträgt in Flandern das zehnfache
gegenüber den eigentlichen Gemeindeanstalten gleicher Bestimmung; in ganz
Belgien hat sie sich gegen 1878 verzwanzigfacht.
Wer die Zustände in solchen Ländern kennt, die von überwiegend ger¬
manischer Nasse bevölkert und von Klerikalen beherrscht sind, wird sich nach
Kenntnis dieser Zahlen das übrige hinzudenken können: den Zwang, der von
der Kanzel und vom Beichtstuhl aus, ja, durch Vorenthaltung der Sakramente*),
auf alle ausgeübt werden kaun, die den Mut haben, die Gemeindeschulen den
katholischen vorzuziehen; häusliche Zwiste da, wo der Mann die Kinder in die
Simultanschule schickt, die Frau aber, durch den Seelsorger geängstigt, das für
eine Sünde hält und sie in die „gutkatholische" statt in die „Geusenschule"
haben will; die Verhetzung der Kinder selbst, die in diese Streitereien hinein-
gezerrt werden; und nicht zuletzt das Schicksal der Lehrer, die an den verpöntem
öffentlichen Schulen wirken und doch ihres Glaubens wegen auf die Gnaden¬
mittel der katholischen Kirche angewiesen sind.
Man wird sich dann leicht die Erbitterung aller derer vorstellen können,
die unter den Foltern dieser Unterdrückung zu leiden haben, und wird be¬
greifen, daß mancher Gläubige, dem ein solcher Grad von Bevormundung zu
stark war, von der Empörung darüber Schritt für Schritt ins Lager der Frei¬
denker getrieben wurde. Und aus dieser Summe von Empörung und Ent¬
rüstung, die der Sozialdemokratie willkommene Agitationsmittel lieferte, ist zu
verstehen, warum jetzt der radikale Wunsch weit verbreitet ist, das Kind mit
dein Bade auszuschütten, das Wahlrecht wegzufegen, unter dessen Zeichen die
klerikale Herrschaft so drückend wurde. Es ist eine elementare Gefühlsauf¬
wallung, die geschickt geschürt, just uach dem greift, was man in greifbare
Nähe gebracht hat: das allgemeine gleiche Wahlrecht!
Man vergißt aber so manches in dieser Erregung: das stärkste Wachs¬
tum der klerikalen Macht fällt in die Zeit vor der Einführung des verlästerten
Pluralstimmrechts; die krassesten Fälle spielten sich gleichfalls in der Zeit davor
ab; nach seiner Einführung haben die Klerikalen verschiedene ihrer Forderungen
nicht durchsetzen können: sie wollten das Proportionalsystem auf Wahldistrikte
beschränken, die ihnen unter allen Umständen sicher waren; sie wollten das
Frauenstimmrecht einführen, das ihre absolute Majorität befestigt hätte; sie
wollten die katholischen Schulen noch mehr begünstigen; alles das mißlang ihnen.
Vor allem vergißt man aber, oder kennt überhaupt nicht, die Zähigkeit
und Fähigkeit zum Herrschen, die dem katholischen Geiste innewohnt. Als ob
es ein System gäbe, das er nicht zugunsten seiner Herrschaft handhaben könnte!
Systeme genügen nicht, um den Geist zu bekämpfen! Dazu gehört Geist von
gleichem Geist, ein Glaube, der imstande ist, ebenso wie der Katholizismus,
die starrsten Persönlichkeiten in seinen Dienst zu zwingen, aufbrausende Leiden¬
schaften zu eiserner Disziplin heranzuziehen, Geizhülse zu Millionenstiftungen zu
veranlassen und Arm und Reich durch dieselbe Sehnsucht aneinanderzuschmieden!
Ein Wahlrecht vermag das nicht, und sei es noch so populär.
Und was ist denn am jetzigen Wahlrecht den Klerikalen so günstig?
Vielleicht das doppelte Stimmrecht, das den Familienvätern von 35 Jahren
zukommt? Sicherlich gibt es manche unter ihnen, die um des häuslichen
Friedens willen so stimmen, wie es der Beichtvater ihrer Frau wünscht. Aber
sicher gibt es auch viele, die nur um des häuslichen Friedens willen so tun,
als ob sie den: Geistlichen in allem zu Willen wären, und die sich freuen, im
Wahlakt Gegenden zu haben, etwas gegen den Willen des Mächtigen zu tun
und ihrem geheimsten Gefühl dort einmal Luft zu machen.
Oder die Zusatzstimmen, die den Grundbesitzern verliehen werden? Die
Zahl der bäuerlichen Besitzer, deren Doppelstimmen besonders zum Vorteil der
Klerikalen den Ausschlag geben, ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen.
An Umfang gewonnen dagegen haben die Bestrebungen, den Industriearbeitern
eigene Wohnungen zu verschaffen, und zwar besonders in der Umgegend von
Brüssel, und in den wallonischen Provinzen Namur, Lüttich und Hennegau,
den Zentren der Streiks. Hier läge vielleicht für die nichtklerikalen Parteien
die Möglichkeit nicht fern, den Arbeitern ihrer Richtung allmählich zum Jmmo-
bilienbesitz und damit zu einem „vote supplömentairo" zu verhelfen.
Auch gegen die Verleihung des höchsten Pluralrechts an die „gebildeten"
Wähler ist nur der eine Einwand ernst zu nehmen, daß trotz der exakten For¬
mulierung der Wahlbestimmungen sich hier stets ein subjektives Element geltend
machen kann: denn wie werden die Zeugnisse, Diplome und Ämter verteilt?
Wer von den „öcolss patronneeZ" und der sogenannten „freien Universität"
Löwen (die Statistik vermeidet auch hier sorgfältig das Wort „katholisch") seine
Bildung empfängt — sollten dessen Zeugnisse unter einen: klerikalen Regime
nicht wohlwollenderen Blicken begegnen als die der Besucher der höheren staatlichen
Bildungsanstalten oder gar der liberalen Universität Brüssel?
Wer stellt überhaupt fest, ob einen: Wähler Pluralstimmen zukommen oder
nicht? Wer prüft das nach? Wer kann verhindern, daß in den Wahllisten
parteiische Schiebungen stattfinden, wenn eine so starke und fanatische Majorität
am Ruder ist wie jetzt? Die Minderheitsparteien hegen in diesem Punkte
berechtigtes Mißtrauen.
Man kann nicht leugnen, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht solche Un¬
klarheiten verringern und auch vielleicht — wenigstens vorläufig — das klerikale
Regime beseitigen würde. Das jetzige Parlament besteht aus
und zwar
Man nimmt an — und wahrscheinlich mit gutem Grund — daß diese
Zusammensetzung den Gesinnungen der Bevölkerung nicht entspricht; man glaubt,
daß die Majorität des Volkes in Wahrheit hinter den Antiklerikalen steht; die
allgemeine Stimmung äußert sich in der Tat augenblicklich so.
Die erste Folge des allgemeinen gleichen Wahlrechts würde also sicherlich
eine Schwächung der Klerikalen sein, aber ebenso sicher eine noch empfindlichere
Schwächung der Liberalen und eine starke, in zwei wallonischen Provinzen absolute
Majorität der Sozialdemokraten. Ähnliche Vergewaltigungen, wie bisher von
feiten der Klerikalen würden nun von feiten der sozialistischen Mehrheit zu er¬
warten sein. Sie würde, ehe die Klerikalen sich an das neue Wahlsystem gewöhnt
und das verlorene Terrain wieder zurückerobert hätten, dem sozialdemokratischen
Programm von heute entsprechend das allgemeine gleiche Stimmrecht weiter
ausdehnen, zunächst auf alle Männer über einundzwanzig Jahre.
Und dann?
Die Grenze der französischen Republik ist nicht fern. Schon zweimal war
Belgien Republik, einmal selbständig, einmal als Anhängsel von Frankreich.
Die Taten Leopolds des Zweiten waren mehr kaufmännisch als königlich;
er trat in mancher Hinsicht weniger hervor, als die Verfassung ihm gestattete.
Als sein Nachfolger Albert der Erste zeigte, daß er ein König sei und ver¬
fassungsgemäß, aber der jetzigen Generation ungewohnt, die Sitzung des Par¬
laments mit einer Thronrede eröffnete, erregte das einen Aufruhr bei Mitgliedern
der Linken, die innerhalb der gleichen Verfassung gewählt waren.
Man wird einwenden, daß die jetzige Generation der Proletarier friedlicher
sei als die vorige, daß z. B. der letzte Generalstreik nicht in Straßenkrawalle
und Blutvergießen ausartete, wie die Aufstände in den neunziger Jahren und
um die Wende des Jahrhunderts. Soll man wirklich nur die Proletarier und
ihre Führer darum loben? Kommen nicht manche von den Streitenden aus
katholischen Schulen, wo sie — wenn sie auch nicht viele Kenntnisse erwerben —
doch das Gehorchen und Sichbeugen lernen, so daß es ihnen lebenslang in den
Knochen sitzt? Wie aber, wenn dieser wichtige Teil der Erziehung, wie wohl
kaum zu bezweifeln ist, in den religionslosen Schulen vernachlässigt wird, wenn
die einundzwanzigjähriger Wahlbürger und die ihnen nachgeratenden jüngeren,
weniger an Subordination und Sichfügen gewöhnt, den Kampf gegen die jetzige
Staatsordnung fortsetzen? Dann werden die Kämpfe nicht mehr mit solcher
Selbstzucht ausgefochten werden. Es bedarf wohl kaum eines Hinweises auf
das Temperament der Wallonen, durch deren Initiative schon mehr als eine
gewalttätige Umwälzung hervorgerufen wurde. Es bedarf auch keiner ausführ¬
lichen Auseinandersetzung, warum und wie schnell eine solche Revolution zur
Republik führen müßte.
Fraglich wäre jedoch, ob die konservativ veranlagten Fleiner auch diesmal
ihren unähnlichen Staatsgenossen folgen würden; noch fraglicher aber, ob sie
ihnen die Gefolgschaft alsdann noch versagen könnten, ob es zu solcher Selbst-
ständigkeit für sie nicht zu spät wäre.
le Lebensgeschichte Anselm Feuerbachs, des Malers, für sich allein
als das Geschick eines edlen und hochfliegenden Geistes betrachtet,
würde ohne Gedanken an die Zeit, die es eben so und nicht anders
vollenden ließ, die tragische Wirkung nicht erzielen, mit der sie
uns besonders nach der Lektüre des „Vermächtnisses" und der
Briefe an die Mutter ergreift. Abgelöst von dem Grunde des neunzehnten
Jahrhunderts, zeigt sie sich im Verlauf einer einzigen Linie: als der Lebensweg
eines Malers, der in nichts als in seinen Bildern lebt und nichts will als nur
durch und für sie leben. Er war im Grunde eine arkadische Natur und darauf
nicht vorbereitet, daß diesem einfachen Ansinnen an das Schicksal widersprochen,
ja mit einer solchen Kette von Peinigungen und Qualen erwidert werden sollte.
Er lebte in sich und seinen Bildern und faßte nicht, warum man ihm entgegen¬
stand. Sein Wesen war aufrecht und lauter. Dieses einlinige Moment, das
in seinem Lebenslauf erkannt wurde, waltet auch in seinem Charakter vor und
zeigt sich besonders in seinen menschlichen Beziehungen: wie es dort die Kunst
ist, so hier die Gestalt der Mutter, der er voll zugewandt bleibt bis zum Ende
und mit solcher inneren Vermähltheit, daß in ihm für eine andere Frau, auch
für eine geliebte, kaum noch Raum ist. Dem Ideal, das er für diese hegt,
bleibt er treu wie dem Modell, das ihm dient und ihn begeistert: der dunkle
romanische Frauenkopf kehrt in allen seinen Bildern wieder. So sehen wir in
jedem, auch im kleinsten, die Einfachheit und Geschlossenheit eines starken Willens
und einer großen Seele.
Aber wenden wir den Inbegriff der Zeit, in der er scheinbar ein Fremd¬
ling war, auf ihn an, so gewinnt dieses einsame Leben typische Bedeutung.
Er ist durchaus ein Sproß des neunzehnten Jahrhunderts, voll gereifte Frucht
jener aufs stärkste bewegten Epoche deutschen Geisteslebens, die man vielleicht
als eine im höchsten Sinne literarische ansprechen kann. Es ist das letzte Jahr¬
hundert des Humanismus, der sich mit den Ideen der Romantik vervollkommnet
hat, das sich jetzt in künstlerischen Wellengängen abenteuerlich ansieht. Es ist
die große Zeit der Anregungen: die Systeme der Philosophie folgen einander,
die Vorstellungen der Antike, des mittelalterlichen Christentums, der Sage, der
Geschichte sind in den Gehirnen und Herzen mit gleichen Kräften wirkend, die
Berufung zur Kunst war nie verlockender, nie gefährlicher als jetzt, denn ihre
Quellen entspringen der Vergangenheit. Der ungeheure Irrtum des Jahr¬
hunderts war, die Kunst ausschließlich im Historischen zu sehen, was nicht nur
im Stofflichen, auch für die Formgebung galt. Die philosophische Unterscheidung
zwischen Romantik und Klassik wird tatsächlich: die Geister strömen hierhin und
und dorthin ab. Die eigene Zeit wird blind durchgelebt. Der künstlerische
Rausch verliert sich in Epigonentum und daran ist die Erinnerung noch lebendig,
wie sich die ausgehende Epoche in den achtziger Jahren zur naturalistischen
Empörung zusammenrafft und mit den leichtesten Mitteln eine Scheinkunst stürzt,
welche aus den größten Kräften der Welt, doch ohne eigene schöpferische Macht
gebildet war.
Es ist hier von einer Literatur gesprochen, die ihre Zeit beherrscht hat
und heute ohne Leben ist. Immerhin darf nicht vergessen werden, daß die
großen Gestalten abseits stehen. Dem neunzehnten Jahrhundert gehören
Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, vor allem
Friedrich Hebbel und Richard Wagner an. Sie sind wohl von all diesen
Quellen genährt worden, allein sie waren eigen, sie besaßen schöpferische Kraft:
also Stil. Stil aber war es, was die Zeit suchte und in sich nicht fand, am
wenigsten dort, wo er sichtbar zu sein pflegt: in den bildenden Künsten.
Ein kurzer Überblick über die Plastik des neunzehnten Jahrhunderts besagt
alles: man vermeinte, die Antike nachzuahmen und besaß kaum die Kunst der
Zopfzeit. Die deutsche Malerei stand im Banne der romantischen Ideen: die
Nazarener kehrten auch in der Formgebung, auch im Kolorit zur Vergangenheit
zurück und sahen das florentinische Quattrocento für die letzte Vollkommenheit
der Malerei an. Ein Genie wie das des Cornelius mußte an diesen zeitlichen
Vorurteilen scheitern. Einige Dezennien später und wir sehen die deutsche Kunst
tief im Historismus befangen: man war von den Florentinern des fünfzehnten
zu den Venezianern des sechzehnten Jahrhunderts vorgeschritten. Man malte
Geschichte, Sage, Dichtung; das Leben nur dort, wo es sich lyrisch anließ: im
Genre. Man blieb bei der großen und der gewinnenden Geste, beim Theater,
man wirkte durch aller Art äußerliche Mittel. Es ist das Zeitalter der Deko¬
ration, das hier anhob und sich mit großeni Aufwand vollendete. In einer
Erscheinung wie Makart gewann diese Renaissanceromantik ihren höchsten Gipfel.
Das Publikum widerstand nicht, es begeisterte sich am Schaugepränge, wie es
sich an der Lieblichkeit der Genrebilder entzückte. In einer Zeit, in der alles
Kostüm war, mußte Menzels „Eisenwalzwerk" mit einer erschreckenden Fremd¬
heit, einer drohenden Richterlichkeit wirken.
Als Anselm Feuerbach in die Kunst eintrat, war er ein Knabe von fünfzehn
Jahren. Er entstammte einem Hause, in dem das deutsche Bürgertum zu seiner
reinsten Blüte gelangt war. Wir kennen diese Welt von den Romanen Gustav
Freytags her, der ihr dichterischer Repräsentant gewesen ist, diese Sphäre ernster
Vornehmheit, gewomien aus Bildung, sittlicher Festigkeit und gewissen konser¬
vativen und leise nationalbewußteu Gefühlen. Bei Feuerbachs Familie ist dieser
Hochstand ins Außergewöhnliche erhoben. Sein Großvater väterlicherseits, Anselm
Ritter von Feuerbach, derselbe, der in dem Caspar-Hauser-Handel eine führende
und populäre Rolle zu spielen berufen war, genoß als Jurist eines internatio¬
nalen Rufes. Von seinen fünf Söhnen, deren jeder in einer Wissenschaft her¬
vorragte, sagte er selbst, daß ihr Ruhm den seinen verdunkle. Der bedeutendste
unter ihnen war Ludwig Feuerbach, dessen Philosophie vom Wesen des Christen¬
tums eine Zeitlang für das deutsche geistige Leben mitbestimmend war. Ein
gewisser theoretischer Zug ist ihnen allen eigen. Nur Anselm, der Vater des
Malers, zeigt durch die Wahl seiner Wissenschaft Hinneigung zur Kunst. Er
war Archäologe und hat in seinem Hauptwerk über den vatikanischen Apoll eine
tiefere künstlerische Anlage bewiesen. Lange nach seinem Tode schreibt der Sohn
an die Mutter über dieses Buch: „Ich lese Vaters griechische Plastik. . .. Daß
der verstorbene Vater so rein, so wahr, so groß sich vor mir aufrichtet, das
sind Dinge, die jeden Sohn packen und bewältigen müssen, aber davon rede
ich, von dem stillen Wunder der Natur, daß mir jetzt nach diesem Stück Leben,
ohne daß ich eine Ahnung hatte, was Vater geschrieben, daß mir jetzt sein
Geist dermaßen begegnet, indem ich bei ihm lese, was die Natur im stillen in
mir vorbereitet hatte, daß ich das lesen muß, wonach ich instinktiv in meiner
Kunst gerungen."
In der Tat erklärt sich der Charakter des Malers in manchem durch die
Wesensart dieses eigentümlichen, edlen, durchaus nicht unbedeutenden Mannes.
Er hatte früh verzichten gelernt, hatte ein kurzes Eheglück durch den Tod seiner
schönen und hochstehenden Frau gebüßt, war erst als Gymnasiallehrer, dann
als Professor an der Universität von Freiburg durch seine schönsten Jahre
hindurch an eine geringe Stellung verwiesen, sein bescheidener Lebenswunsch:
die Professur in Heidelberg erfüllte sich ihm nicht, Zeit seines Daseins hatte er
mit Geldsorgen zu kämpfen und als ihm endlich eine Reise nach Italien ver¬
gönnt war, war es eigentlich zu spät. Als ein müder Mann ging er hin.
müde kehrte er wieder. Das Glück, das ihm seine zweite Frau, Henriette
Heydenreich, ins Haus brachte, wird er kaum gewürdigt haben. Schmermut
befiel ihn, die letzten Jahre seines Lebens brachte er, vor der Zeit gealtert,
in Düsternis und Verbitterung zu. Unversöhnt mit der Welt und seinen:
Schicksal starb er.
Was Anselm, sein Sohn, von seiner früh Hingeschiedenen Mutter geerbt
haben mag, steht dahin: vom Vater erbte er den schnell umwölkten Geist; den
fast schon pathologischen Zug verbitterter Melancholie, ungerechter Abkehr von
der Umwelt. Die zweite Mutter, die ihn noch als Knaben bei ihrem Eintritt
ins Haus fand, war gewiß von der unschätzbarsten Bedeutung für seine mensch¬
liche und wohl auch künstlerische Entwicklung. Man kennt sie aus ihren
Briefen, die vor einem Jahr in Buchform (bei Meyer u. Jessen in Berlin)
erschienen sind. Aus ihnen gewinnt man das Bild einer außerordentlich edlen
harmonischen, reichgebildeten Natur, deren tiefste Wurzeln in Kunst und Wissenschaft
ruhen. Die Geschichte deutschen Frauentums besitzt keine Gestalt, die neben
Henriette Feuerbach an reiner Geistigkeit und dabei doch tiefster Gefühlskraft
und still waltender Fraulichkeit bestünde. Sie liebte vor allem die Musik, ihr
Bruder Christian komponierte mit bedeutender Begabung, sie spielte auf dem
Klavier mit einer Vorzüglichkeit, die ihr die Anerkennung Clara Schumanns
eintrug. In das Gelehrtenhaus verpflanzte sie lebendige Kunst. In dieser
Welt wuchs der junge Anselm auf und wenn sich seine Begabung als bildende
auf der Seite der väterlichen Tätigkeit zeigte, so mag das Musikalische in der
Natur der Mutter die Entfaltung dieses Talents, seine Bestimmung zur lauteren
und rhythmischen Wirkung wohl auch beeinflußt haben.
Den Knaben schon muß es in manchen Stunden mystisch durchfunkelt
haben, vom Stamme der großen alten Maler zu sein. In diesem Sinne war
er ganz ein Sohn des neunzehnten Jahrhunderts, daß er mit den Blicken der
Sehnsucht auf die große Zeit der Kunst Italiens gerichtet war. „Natur und
die Alten ist die Losung", schreibt er als Schüler und dieser Losung ist er
treu geblieben. Sein Talent zeigte sich früh und mit solcher Bestimmtheit,
solcher Forderung nach dem Lebensberuf, daß man — trotz der schmalen
Mittel — beschloß, es heranbilden zu lassen. Man sandte den Knaben an
die erste deutsche Akademie, die von Düsseldorf, der damals Wilhelm Schadow,
der Sohn des großen preußischen Plastikers, vorstand. Der einstige Nazarener
war zur Antike umgesattelt und führte hier ein rationalistisches und konservatives
Regiment, das einem freieren Geiste wie dem Feuerbachs bald unerträglich
werden mußte. Der alte Kampf zwischen der Akademie und dem Genie wird
durch ein neues Beispiel bewiesen. Immerhin darf nicht vergessen werden, daß
mancher wertvolle Einfluß hier auf den jungen Künstler ausgeübt wurde und
namentlich soll nicht unterschätzt werden, daß Carl Friedrich Lessing und Carl
Sohn seine Lehrer waren. Insbesondere der letztere mit seinen Gemälden ver¬
herrlichter Frauen muß auf den empfänglichen Geist Anselm Feuerbachs gewirkt
haben; ein Blick auf Sohns: „Donna Diana" im Städtischen Museum zu
Leipzig zeigt, wo die ersten Anregungen zur Feuerbachschen Kunst zu suchen
sind. Sowohl die Gestalten und Typen der Frauen als die Landschaft tragen
einen Charakter, den man direkt als Feuerbachisch bezeichnen könnte.
Mit der weiterschreitenden Kraft und Zeit mußte das klassizistisch erstarrte
Düsseldorf dem jungen Maler endlich unerträglich werden. Seine Sehnsucht,
zu schaffen, ward zur Leidenschaft. „Ich bin manchmal ganz erfüllt von so
erhabenen und wohltuender Gefühlen," schreibt er an die Eltern, „daß, sollte
ich sie mitteilen, ich ganz in Verwirrung käme; es ist mir oft so wohl und so
wehe in dieser Welt, ich fühle eine solche innere Kraft und Entzücken, daß ich
auf einem feurigen Drachen oder sonst einem fabelhaften Geschöpfe in der
ganzen Welt herumsausen möchte. Ich trage immer innerlich ein Etwas herum.
was eben zuzeiten übersprudelt, ich bin eben ein Feuerbach und werde feuriger
von Jahr zu Jahr." Es wird niemanden wundernehmen, daß einem solchen
Gemüte Direktor Schadow und seine Professoren nicht weiter von Belang sein
konnten. Anselm setzte es durch, die Akademie verlassen zu dürfen. Schon
damals war er entschlossen, sich der Historienmalerei zu widmen, was ihm das
Bedeutendste seiner Kunst dünkte und der starken geistigen Neigung seines
Naturells am ehesten entsprach.
In München, wohin er sich zunächst wandte, wirkte als Lehrer vor allem
Karl Rahl auf ihn ein. Wie vorhin von Sohn gesagt wurde, daß Elemente
seines Stils im Feuerbachschcn leicht zu entdecken seien, so wird man auch
Rasis herben Ernst und Adel im Oeuvre unseres Künstlers erkennen können.
Doch blieb er nicht lange an der Jsar, 1850 treffen wir ihn in Antwerpen
wieder, das damals für den Hauptsitz der Historienmalerei galt. Die Vlamen
Gallait und Bi6spe hatten mit ihren großen geschichtlichen Gemälden: „Die
Abdankung Karls des Fünften" und „Das Kompromiß des niederländischen
Adels gegen die Inquisition" geradezu revolutionierend gewirkt. Die Frucht
dieser Anregung war in Deutschland Kaulbach; Feuerbach verließ die belgische
Akademie ohne Gewinn und wandte sich, halb verzweifelt, daß sein Weg sich
nicht gestalten wollte, nach Paris.
Er trat in das Atelier von Couture ein und von diesem Augenblick an
hatte er sich gefunden. Couture war ein Schüler von Delaroche, weniger
als Maler, denn als Lehrer angesehen. In seinen Bildern wird man nicht
viel an Bedeutenden finden, in seinem Atelier jedoch war schon das junge
Frankreich lebendig, das sich in der Schule von Barbizon, in Millet und
Courbet, repräsentierte. Feuerbach lernte hier malen und indem er sich im
Traum des Kolorits vertiefte, vertiefte er sich zugleich in die Bilder seines
Innern. Seine Phantasie mußte daran tiefer erglüht sein, stärker als je muß
es ihn durchdrungen haben, daß er berufen war. größten Zielen der Kunst zu
dienen. An einem Septembertage, als er gerade eine kleine italienische Be¬
gräbnisskizze malte, erhielt er die Nachricht vom Tode seines Vaters.
Er mußte nun nach Deutschland zurück. In Karlsruhe siedelt er sich an,
voll Eifer ist er tätig, allein die Heimat gönnt ihm den Erfolg nicht; Intrigen
aller Art erschweren ihm das Dasein. So begrüßt er es als Erlösung, als
ihm der Großherzog von Baden ein Stipendium nach Venedig verleiht, mit
der Bedingung, die Assunta des Tizian zu kopieren. Voll Glück, voll Hoff¬
nungen tritt er die Reise an, ihn begleitet der Dichter des „Ekkehard", Josef
Victor Scheffel.
Es gehört zu den schönsten Stellen des „Vermächtnisses", wo von Venedig
die Rede ist. Hat Feuerbach in Paris seine Form endgültig gefunden, in
Venedig sieht er den innersten Traum seiner Künstlerschaft bestätigt. In einem
Briefe an die Mutter sagt er, „eine Welt von Ideen. Grazie und Ernst" Hütte
sich ihm aufgetan und man weiß wahrhaftig nicht, welche Worte sonst die
Eigenart seiner Gemälde besser charakterisierten als diese drei, welche Griechen¬
land, Italien und den deutschen Geist gemeinsam in sich zu fassen scheinen.
Sein ganzes Wesen erhöht sich ihm wunderbar. „Mein Leben ist mir manchmal
wie ein Traum," schreibt er. „Wie kommt es doch, daß meine Bilder so fest
und unberührbar dastehen und ich bin wie ein schwankendes Rohr? Oft sehe
ich hundert Jahre voraus und wandle durch alte Galerien und sehe meine
eigenen Bilder in stillem Ernste an den Wänden hängen. Ich bin zu Großem
berufen, das weiß ich wohl. Zur Ruhe werde ich erst im Tode kommen.
Leiden werde ich immer haben, aber meine Werke werden ewig leben."
Für die Leiden war bald gesorgt, man entzog Feuerbach das Stipendium.
Es traf ihn wie „ein scharfes Schwert", „aber tödlich ist die Wunde nicht,
nur sehr schmerzhaft". Diese Stunde war für ihn Entscheidung und Schicksal.
„Es gibt kein Drama," schreibt er an die Mutter; „dazu gehören zwei, das
richtige tragische Schicksal und der richtige dumme Mensch. Der bin ich nicht.
Ich schlage mich durch." Sein Entschluß war gefaßt; er kehrte der undankbaren
Heimat den Rücken und blieb in den: Lande, das ihn mit Tiefsten begnadet
hatte. Sein Ziel war Rom.
In Florenz ergreift ihn die alte Kunst wieder; in der ersten Nacht, der
Mond schien hell, wandert er durch die Gassen, er kommt auf die Piazza,
weiß strahlt der riesige David des Michelangelo, der damals noch vor dem
Palazzo Vecchio stand, auf ihn, an dem Perseus des Benvenuto Cellini vorbei,
kommt er zum Arno. Jeder Schritt Saat der Seele, die aufgehen sollte in
Bildern von Unsterblichkeit. In den Uffizien aber erfaßt ihn die Kunst der
alten Meister mit solcher Gewalt, daß er die Galerie sofort verlassen muß, die
Tränen liefen ihm unaufhaltsam die Wangen herab. In heftigem Fieber
kommt er in Rom an.
Damit hatte Feuerbach den Boden erreicht, auf dem er einzig gedeihen
konnte. Rom war seine Stadt und blieb es durch zwei Jahrzehnte. Hier
entstanden die großen Bilder: der Dante, die Iphigenie, Ariost, die Medea,
Franceska da Rimini, die PietÄ, das Gastmahl. Man erkennt aus diesen
Titeln die Tiefe der Einwirkung dichterischen Geistes. Die Phantasien und
Gestalten der Dichter zu malen, lag in der Zeit; es sei nur an die Dante-
Barke von Delacroix, an die Gemälde der englischen Präraphaeliten, an
Kaulbach und Piloto erinnert. Aber Feuerbach war selbst dichterlicher Art,
ihn ergriff die Idee des Bildes wie der Stoff den Dramatiker ergreift. Und
wo eine Idee nur edel, hoch und rein war, da war er schon im Innersten
von ihr berührt. Er hatte das lyrische Gefühl für die heroische oder elegische
Vorstellung, darum ging ihm Dante stets nahe, darum ließ ihn Iphigenie und
Medea nicht, bis er sie endgültig gestaltet hatte; von beiden wie auch vom
Gastmahl des Plato existieren zwei Fassungen. Die Stoffe gehören den Vor¬
stellungskreisen der Antike und der Renaissance an, darin zeigt sich Feuerbach
als ganz im neunzehnten Jahrhundert befangen, aber er gewann aus ihnen
an Gestalt und Ausdruck mehr als die historische Erscheinung oder die theatralische
Figur; ihm gelang das Ewige des menschlichen Gefühls aus ihnen zu heben,
Sehnsucht, Traum und Schmerz in der Verklärung der Vergangenheit rein dar¬
zustellen; so wuchs er über die Zeit hinaus und steht in der Sphäre der alten
Meister Italiens.
Umgeben von diesen Bildern, erfüllt von hohen Träumen und Ideen
hätte er in Rom eines glücklicheren Lebens kaum teilhaftig werden können.
Seine stolze Natur fand Genuß an sich selbst und er empfand es tief, daß ihr
schaffende Gewalt und Macht über Schönheit gegeben war. Aber es war ihm
nicht bestimmt, zu ruhen und sich zu entfalten. Die Sorge um das Leben,
die gemeine Not des Brotes ward sein Dämon, der ihn nie verließ. Kaum
einer seiner Briefe an die Mutter ist aus freier Seele gekommen. Geld,
immer wieder Geld müssen sie fordern. Seine Bilder werden nicht verkauft,
auf jedes neue setzt er seine ganze Hoffnung, in der Welt draußen enttäuscht
es ihn. Bielersee Tage des Elends und der Demütigung macht er durch. Die
Mutter, die sich selbst nur kümmerlich mit Klavierstunden und literarischen
Arbeiten fortbringt, muß ihn unterstützen; sie führt für den in geschäftlichen
Dingen gänzlich Unbewanderten die Korrespondenz mit den Galerien, Ämtern,
Ausstellungen, sie richtet ihn mit gütigem Wort, mit Trost und Glauben
immer wieder auf. Er ist leicht verletzlich und mißtrauisch, er leidet mehr,
als ihm zu leiden auferlegt ist, sie erfüllt an ihm in der edelsten, schönsten
Weise das Amt fraulichen Beistandes. An geistiger Höhe ihm jedenfalls über¬
legen, menschlich reicher und reifer, dient sie ihm mit rührender Treue. Ihrer
festen und ruhigen Natur wird das sanguinische, nervöse, ungerechte Temperament
des Sohnes nicht stets sympathisch gewesen sein, aber das Edle im Kern beider
Menschen war gleicher Art. „Ich glaube wirklich," schreibt er, „daß ein solches
Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, ein solches inneres Verständnis ein
Stück Glückseligkeit auf Erden ist." Sie wieder schreibt an ihren Freund
Michael Bernays über den Sohn: „Wir stehen gut und schön zusammen. Was
ich weiß und habe, kann ich ihm gegenüber wenig brauchen, aber was ich
geworden bin, dient zum Aufnehmen und Verständnis ganz neuer wunderbarer
Lebensseiten. Ich komme mir dabei selbst sehr unbedeutend und doch sehr
glücklich und reich vor . . . Ich bin gar zu glücklich, meinen Sohn ganz auf
eigenem Grund und Boden begrüßen zu können."
Der Haß gegen Deutschland, der in ihm allgemach aufkam und immer
tiefer ging, erklärt sich daraus, daß man ihn überall, nicht nur in seiner engeren
Heimat Baden, geradezu übersah oder fallen ließ. In den Ausstellungen
wurden seinen Bildern stets die ungünstigsten Stellen angewiesen, die Kritik fiel ihn
an, die Bilder wanderten von Stadt zu Stadt, nirgends fanden sich Käufer.
Aufträge, um die er sich bewarb, erhielt er nicht. Er war gezwungen, Portraits
und kitschige Köpfe um des nackten Lebens willen zu malen und er wäre buch¬
stäblich verhungert, hätte sich ihm nicht in letzter Stunde in der Gestalt des
Grafen von Schack ein Retter gewiesen. Die wundervollen Bilder, die heute
die Zierde der Schackschen Galerie in München sind — vor allem die pracht¬
volle PietÄ, Paolo und Francesca, Dante und die Frauen, der Hafis, die
Kinder am Meere — wurden dem Grafen damals um ein ganz geringes Geld
gemalt und verkauft. Auch dieses Verhältnis sollte nicht allzulange währen.
Differenzen zwischen Schack und seinem Maler, der eigene Ideen und nicht die
des schöngeistigen Grafen gestalten wollte, erschwerten es und hoben es
endlich auf.
Es hat etwas Rührendes, wie sich das deutsche Gefühl bei Feuerbach im
Jahre 1871 plötzlich aus der Tiefe hebt. Er bittet die Mutter, ihm die Ein¬
nahme von Paris sogleich telegraphisch zu melden, damit er der erste sei, der
die Fahne heraussteckt. „Was die Deutschen an mir gesündigt haben, soll
man mir nicht ansehen," schreibt er. „Wenn ich glaubte, mich nützlicher zu
machen, indem ich meine Glieder den Kugeln der Franzosen preisgebe, so
würde ich es sorglos und ohne Säumen tun." Er liebt sein Vaterland, ob¬
gleich er ihm nichts zu danken hat, sein Haß gilt denen, die ihn ins Elend
gebracht haben; aber er konnte auch schreiben: „Daß ich mein Vaterland hasse,
das ist meine süße und bittere Rache" und: „Hat Dante Erfolg in Paris, so
wird der Augenblick der Rache und Triumph mir Jahre vergessen machen."
Not und Enttäuschungen zerstören und verbittern ihn, er ist manchmal an der
Grenze des Lebens und kaum noch einen Schritt vom Selbstmord entfernt.
Ähnlich Schiller faßt er den Plan, sich durch eine Geldheirat zu retten, aber
doch vermag er sich nicht zu entschließen. Der Anblick seiner Bilder nur gibt
ihm Trost. „In der Abenddämmerung, um diese Stunde, sehen meine Bilder,
die mich umstehen, so aus, als trügen sie die Berechtigung zu existieren in
sich." „Warum," sagt er ein andermal, „ergreift mich der bloße Gedanke an
Iphigenie so sehr, warum rührt mich diese uralte Geschichte so sehr, daß ich
nicht Ruhe habe und Rast, sie durchzubilden, währenddem ich mit Juden.
Geldmangel, Neid und Kränkung im Leben zu kämpfen habe!"
Dennoch wird Feuerbach von dem Vorwurf nicht freizusprechen sein, daß
er allzu weich, allzu sensibel gewesen ist, nennt er sich doch selbst einmal einen
„weichen launischen Knaben". Die schnelle Verdüsterung seines Wesens scheint
sein Erbteil vom Vater her gewesen zu sein. „Es mag eine Dosis unberechtigter
Melancholie in mir sitzen vom Vater her," sagt er selbst, „und ich selbst mag
an vielem schuld sein, obgleich ich nichts bereue, aber manchmal will es mir
bedünken, als sei es unedel von meiner Zeit, daß sie der aufblühenden Blumen
nicht wartet, nicht pflegt, sondern rasch pflückt oder — zertritt. — Wie kann
ich meine Kunst in Rapport mit dem Leben bringen, wenn mir letzteres nichts
bietetI" Seine Melancholie, seine Sucht zu klagen, hat ohne Zweifel einen
pathologischen Zug. Die Lektüre seiner Briefe, die in zwei umfangreichen
Bänden unlängst (bei Meyer u. Jessen in Berlin) erschienen sind, wird durch die
ständige Wiederkehr derselben Dinge und Beschwerden erheblich beeinträchtigt,
der zweite Band ist kaum noch erträglich. Freilich war er wehrlos, sein
Schicksal unverdient und jeder Gedanke daran Empörung und wer sagen kann,
daß der Schmerz wie ein Raubtier an ihm hänge, dem darf man wohl glauben,
daß er leidet.
Man fragt sich, was die Ursache dieses dauernden Mißerfolges sein könne?
Feuerbach stand im Grunde ganz auf dem Boden seiner Zeit; er war Historien¬
maler wie Piloty und Makart, er ging in der Vergangenheit auf wie sie. Er
war kein Revolutionär, nirgends stieß er an, nur das Edelste war ihm gemäß,
und die Schönheit sein oberstes Gesetz. Man kann sagen, daß es die Tiefe
war, in die er sich stets begab, was ihm den Erfolg vorenthielt. Er war eine
im Innersten lyrische Natur, alle seine Bilder sind von einem lyrischen Grund¬
gefühl geschaffen, und dafür hatte die Zeit kein Herz. Er ging den Dingen
auf den Grund und so auch seinen Träumen. Die Welt, die ihm hätte er¬
widern sollen, liebte den Prunk, die Oberfläche, den vergehenden Rausch. Das
Pathos und die Dekoration siegten, er, der die Reinheit einer Seele zu geben
hatte, unterlag. AIs er auf dem Höhepunkte seiner Existenz ankam, wollte es
sein Schicksal, daß auch die deutsche Nation ihren Gipfel erstieg; das Jahr der
deutschen Einigung ward ihm zum Untergang. Denn nun war man voll von
sich, von den Triumphen lärmend, und die stille Stimme der Kunst verklang.
Die Gründerjahre, der wirtschaftliche Aufschwung, das Erwachen eines neuen
materiellen und sozialen Geistes schlössen die Idealitäten einer ewig verlorenen
Traumwelt aus, in der Feuerbach lebte. Dieselbe Epoche, die Nietzsche über¬
hörte, übersah auch ihn. Das Selbstbewußtsein der Nation gestattete ihr nicht,
einer Kunst entgegenzukommen, die ihr fremd war; was hingegen ihr durch
Gefälligkeit oder Pathetik entgegenkam, unterstützte sie und schien sich edel dabei.
Feuerbachs Unstern fügte es überdies, daß er als Professor der Akademie
nach Wien berufen wurde, der Stadt Makarts, den er stets als seinen glück¬
licheren Nebenbuhler ansah. Hier nun war es, wo ihm die bösesten Demütigungen
angetan wurden. Der Geschmack der Stadt, an Makarts Kolossalgemälden
geschult, duldete seine Kunst nicht, die Kritik rezensterte ihn mit Hohn und
Spott, man verfolgte ihn geradezu und Speidel, der zu seinem Freundeskreise
in Wien gehörte, erzählt, daß sogar im Gasthaus, darin Feuerbach zu Mittag
aß, unter seinem Kuvert Zettel mit Schmäh- oder Spottworten lagen. All¬
mählich ergriff den reizbaren Mann Erbitterung gegen die feindliche Stadt.
Seine einzige Freude waren seine Schüler, allein er bekam kein Atelier in der
Akademie und war gezwungen, täglich von einem Schüler zum anderen zu fahren.
Als die Linienwälle fielen und Wiens große Bauzeit anbrach, zog man Feuer¬
bach für die Ausschmückung der Universität, des Parlaments und der Akademie
heran. Es ist bekannt, daß man dem Künstler die schon erteilten Aufträge
wieder entzog, nur das Deckengemälde in der Akademie wurde ihm belassen: es
stellt den Sturz der Titanen dar, keineswegs seine bedeutendste Arbeit: vor drama¬
tischen Aufgaben — wie auch bei der Nürnberger Amazonenschlacht — mußte
er scheitern. Die Kämpfe, die er hier mit den Behörden, dem Unterrichts¬
minister Stremanr, dem Architekten Hansen, dem Akademiedirektor Eitelberger
auszufechten hatte, untergruben seine Gesundheit, verbitterten ihm den Wiener
Aufenthalt völlig. Seine Mutter stand ihm auch hier aufs treueste zur Seite,
sie bestärkte ihn nicht, zu bleiben, sie wußte, daß Wien ihm schädlich war; „ich
hasse Wien," schrieb sie. Er nahm, um ein Ende zu machen, einen Krankheits¬
urlaub nach Italien, von dem er nicht mehr in sein Amt zurückkehrte.
'Was mich betrifft," schreibt er im „Vermächtnis", „so hatte ich Ursache,
die Gemütlichkeit der Wiener etwas ungemütlich zu finden. ... Ich habe voll¬
ständig begriffen, daß ein Lessing oder Goethe in Österreich unmöglich gewesen
wäre; selbst dem bescheidenen Grillparzer hat man den Lorbeer erst auf das
Grab gelegt." Man kann nicht leugnen, daß die Bitterkeit dieser Anklage
berechtigt war. Wien war die letzte und wohl auch schwerste Leidensstation
dieses Künstlerlebens.
Feuerbach hatte seine Mutter überredet, von dem ihr liebgewordenen
Heidelberg fort nach Nürnberg zu ziehen. Dort nahm er selbst für eine Zeit
Aufenthalt, dann ging er wieder nach Italien. In Venedig sieht er die Assunta
wieder, es entsteht das schöne Gemälde: „Das Konzert", das sich heute in
Berlin in der Nationalgalerie befindet. Er kommt wieder nach Rom, seine
Stimmung ist gleichmäßig still, als wäre schon Abendlicht über seinem Leben.
Er hat Lust, die kleine Insel Isca im Venezianischen anzukaufen, er denkt an
ein Hotel, das man einrichten könne, er wolle auf der Insel begraben sein und
seine Grabschrift hätte er sich auch schon gedichtet; sie lautet:
Noch einmal sollte er über die Alpen fahren und die Mutter wiedersehen.
In dieser letzten Zeit überkommt ihn immer stärker eine Müdigkeit an der
Kunst; je friedlicher es ihm im Innern wird, um so stiller wird ihm der Wunsch,
zu schaffen. Als er wieder südwärts reist, hat er abgeschlossen mit allem.
„Wenn man bei mir überhaupt noch von Zukunft sprechen kann," schreibt er
aus Bozen, „so ist das Mißverhältnis so kraß, daß von Heiterkeit keine Rede
sein kann, auch dann, wenn man mir nach unsäglichen Kämpfen zuletzt eine Stellung
gibt. Ich sehe jetzt alles ein und habe keine Illusionen mehr, ich stehe allein
und kann nicht eine kleine Welt in der kurzen Lebenszeit überzeugen." —
Rührend ist, wie die Mutter um ihn sorgt, wie sie ihn bittet, allem Bösen
auszuweichen, nur sich selbst und den innersten Stimmen zu leben. Seine letzten
Briefe aus Venedig sind trüb und müde. Am 21. Dezember 1879 schreibt er
-zum letztenmal an die Mutter. „Einstweilen steht wieder ein großes Kapital in
meinem Atelier", mit einer Hoffnung schließt er auch diesen Brief. Ihr letztes
Schreiben, wieder voll Güte und Treue, wird man nur mit der innigsten
Rührung lesen. Es ist vom 30. Dezember datiert und als Neujahrsgruß ge¬
dacht. „Da ich die Abschiede nicht leiden kann," meint sie, „sag ich Dir lieber
guten Tag im neuen als Adieu im alten Jahr, ohne Verdruß, ohne Senti¬
mentalität im vollen Verständnis dessen, was fehlt und was Du innerlich
leidest, und doch, nach dem bisher Errungenen, hoffend und in Zuversicht und
im guten Glauben. Die Wege sind offen. Was ich bitten möchte, ist einfach,
Dich möglichst ruhig und unbekümmert zu halten und Deiner künstlerischen
Stimmung in Muße oder in der Tätigkeit freien Raum zu lassen." Und in
der Nachschrift noch sagt sie das tiefste Wort, das letzte, das sie an den Sohn
gerichtet hat: „Das ist mein Trost von einem Jahr zum andern, bis es endlich
zu einer wirklichen Heimat kommt."
Dazu kam es nur zu bald; fünf Tage nachher, am 4. Januar 1880 tritt
Feuerbach der Tod unvermittelt an. Ein Herzschlag fällt ihn in seinem Gast¬
hause in Venedig. — Sein Leichnam wurde nach Nürnberg gebracht, wo er
aus dem Johannis-Friedhof zur letzten Ruhe beigesetzt ward.
Aber sein Tod beschloß sein Schicksal nicht, er sollte glorreich auferstehen.
Die Mutter, die bald siebzigjährige Frau, beschloß, ein letztes Lebenswerk zu tun
und wie sie das Andenken des Gatten gerettet hatte, so rettete sie nun das des
Sohnes. Sie ging daran, seine Aufzeichnungen und die bedeutendsten Stellen
aus seinen Briefen in ein Buch zusammenzufassen, das von Anselm Feuer¬
bachs edler Art und Kunst Zeugnis geben sollte einer Nation, für die er nicht
gegolten hatte. So entstand, unter unsäglichen Mühen, als Frucht aufopferndsten
Fleißes, Anselm Feuerbachs Vermächtnis, das seinen deutschen Ruhm begründete.
1882 erschien die erste Auflage bei Gerold in Wien und fand sogleich starken
Absatz; eine zweite Auflage mußte in kurzer Frist gedruckt werden. Eine Gesamt¬
ausstellung aller Werke in Berlin hatte endlich gewiesen, wer er war. Der
bayrische Staat erwarb den Nachlaß und setzte der Frau Feuerbach eine lebens¬
längliche Rente aus. Sämtliche Gemälde waren verkauft, nur die „Amazonen¬
schlacht" wollte niemand, da schenkte sie Frau Feuerbach der Stadt Nürnberg.
Es war ihr beschicken, den vollen Ruhm des Sohnes zu erleben. Die Feier
des zehnten Todestages ihres Anselm hatte ihr die letzte Erhebung bereitet:
sie sah das Andenken des Sohnes geehrt, er stand im Ruhm, ihr Werk war
getan, sie konnte scheiden. Knapp vor ihrem achtzigsten Geburtstag, noch
inmitten eifriger geistiger Tätigkeit, am 5. August 1892 entschlief sie zu
Ansbach.
Anselm Feuerbachs Zeit ist heute voll gekommen, die Bücher, die von
seiner Kunst und seinem Leben Zeugnis geben, finden die stärkste Teilnahme,
seine Gestalt erscheint verehrungswert und märtyrhaft und nationaler Stolz
hängt sich nur zu gern an sie. Neben Leiht, Markes, Menzel, Böcklin zählt
er zu den repräsentierenden Männern der deutschen Malkunst im neunzehnten
Jahrhundert und diese Stellung dürfte unverrückbar bleiben. Man könnte
sagen: die Entwicklung habe er nicht mit beeinflußt, ihre Linie gehe nicht über
ihn, und wenn man sie mit einem Strom vergliche, so stelle er keinen neuen
Zufluß dar, sondern eher eine Insel mitten in der Flut, diese jedoch von
höchster Schönheit, gleicherweise aus der Kraft des Nordens wie aus der Süße
des Südens gewonnen. Nun — es scheint, als ob die heute so beliebte künst¬
lerische Wertung, die vor allem das Moment der allgemeinen Entwicklung ins
Auge faßt, allgemach gefährlich wird. Die prästabilierte Harmonie einer wohl¬
geordneten Entwicklungsreihe wird in der Naturbetrachtung oft genug in Frage
gestellt, erst recht in der Geschichte der Kunst. So gewiß die Mitarbeit der
Zeit und der sozialen Sphäre des Künstlers an Weg und Werk ist. so gewiß
walten aber auch mystische Kräfte, die durch nichts, auch nicht die genaueste
Analyse der Einzelpersönlichkeit erklärbar sind. Der späteren Betrachtung liegt
ob, die Grenzen zu ziehen und das Maß der erreichten Werte festzustellen.
Unsere Gegenwart leidet an einer Überschätzung des Neuen; im blinden Fort¬
schritt begriffen, gewahrt sie nicht das grauenvoll-schnelle Veralten und Ver¬
standen des kaum erst als neu und bahneröffnend Gepriesenen. In maßlosem
Stolze auf Errungenschaften einer in der Tat bewundernswerter Zeit vergißt
sie jener unerschöpflicher Urquellen, die seit je die Welt nähren und an den Tiefen
des Menschentums gebildet haben. Dort, auf jener Seite ewigen Werth, zeit¬
loser Schönheit, finden wir Anselm Feuerbachs Gestalt. Seine Kunst ist die eines
absoluten Geistes, dem das Zufällige, Zeitliche, Unerhörte nicht mehr gilt.
Seine Bilder find — wenn dies zu sagen gestattet ist — schon Ideen von
Bildern. Eine Welt von Reinheit, Erhabenheit, Adel und Freiheit ist in ihnen
aufgeschlagen, eine „Welt von Ideen, Grazie und Ernst", wie er sie selbst ge¬
nannt hat. als sie ihm unter italischen Himmel dämmerte.
Man warf ihm vor. daß er sich allzu sehr an die Alten halte, selbst die
Mutter konnte diesen Tadel nicht ganz unberechtigt finden. Es scheint in der
Tat, als hätte jene frühe Kopie der Assunta den Charakter des noch werdenden
Künstlers venezianisch bestimmt. Immerhin darf nicht vergessen werden, daß
seine gesamte Zeit von den größten Werken der Kunst abhing, freilich in
äußerlich-epigonifcher Weise, während er in der Tiefe begriff, daß Vollkommenheit
in der Erscheinung Schönheit war und daß er als einzelner zu denselben Er¬
füllungen reifen mußte, die einer künstlerisch und menschlich tausendfach reicheren
Zeit von selbst innewohnten. Er war — trotz Holbein — der einzige deutsche
Renaissance-Künstler, der in der Wirkung den alten italienischen Meistern nahe¬
kam. Er bezwang die große Linie der Venezianer als der einzige Deutsche
nach fast vier Jahrhunderten; im Kolorit freilich blieb er Nordländer, seine
verhängte Farbe ist dort am grandiosesten, wo sie Melancholie und Ernst zu
begleiten hat. Seine Gestalten wirken monumental. Was seiner Natur an
Freiheit und Heiterkeit mangelte, ersetzte er mit einem ungeheuren, stets ent¬
flammten Willen zur edelsten Bildung, zur reinsten Figur. Sein Maß war
die Schönheit, die eine ferngewordene Zeit aus sich selbst erreicht hatte, und
man darf von ihm sagen, daß auch er ihrer teilhaftig ward, allerdings unter
welchen Opfern! Er war kein Liebling der Grazien, aber er warb um sie so
lange, bis sie ihn dulden mußten.
Er sagt in den Anmerkungen zum Vermächtnis: „Der landesübliche Ver¬
gleich der Historienmalerei mit der dramatischen Dichtung, das Genre mit der
Lyrik, ist ganz unbrauchbar, weil in der Dichtkunst Dinge erlaubt sind, die die
Grenzen der Malerei überschreiten und umgekehrt." Dennoch ^hat er diese
Grenzen oft überschritten. Ein Funke des Wagnerschen Gedankens von der
Vereinigung aller Künste im Gesamtkunstwerk nutz geheim in ihm geleuchtet
haben. Er malte nie ein Bild ohne die Sehnsucht nach jener innerlichsten
Wirkung, wie sie dem Dichter gelingt. Er beneidet den Musiker um die tiefere
Macht des Ergreifens: „Selig ist Mendelssohn zu preisen," schreibt er, „dessen
ganze Seele wogt die Welt hinauf und hernieder, all sein Sehnen ... all
sein Dichten liegt klar in der lieblichsten Form da . . . selig all die großen
Geister, deren Innerstes mit Riesengewalt und Zauberkraft aufs Papier ge¬
bracht ist, aber so ein Maler! . . . Wenn der Musiker komponiert, denkt er in
Tönen und die Töne sind die Noten, also so gedacht, so gemacht, der Dichter
denkt in Worten, also schreibt er die gedachten hin und da ist seine ganze
Seele, der Maler denkt, und wenn er ans Machen geht, so kommen diese
hundert Schwierigkeiten, da muß Kontur sein, da Farbe und Zeit ... so
malt er und malt in sich hinein, wird immer kühler und kühler und zuletzt
kann er sich nicht mehr denken, wie er anfangs gedacht und macht sich weis
am Ende, er hätte so gedacht, wie fein Gemälde dasteht."
„Ich wollte," ruft er aus, „es käme ein Engel vom Himmel, der malte
mit Götterhand so wie man denkt!" — Das ist wohl mehr, als die meta¬
physische Unzulänglichkeit des Künstlers, und wenn Feuerbach in einer freieren
Stunde sagen konnte, um ein guter Maler zu sein, bedürfe es vier Dinge:
ein weiches Herz, ein feines Auge, eine leichte Hand und immer frisch ge¬
waschene Pinsel, so vergaß er des Dämons, der ihn am bittersten leiden
gemacht, allein ihm auch die Pforte der Unsterblichkeit eröffnet hat: seiner
menschlichen Seele.
Seine Iphigenien zeigen am besten, wie er war, in dieser Figur von
äußerster Erhabenheit und Reinheit ist die Idee seiner selbst immanent. „Deine
Iphigenie ist identisch mit Dir geworden," schreibt ihm die Mutter, „es kann
keinem anderen Maler mehr einfallen, diesen Gegenstand zu wählen". Man
gedenke der tief in sich ruhenden, weißgewandeten hohen Gestalt, an die
Böschung gelehnt, einen Ölzweig in der Hand, am Rande des Meeres, und
jener zweiten mit dem Perlenband im Haar, lauschend auf den Laut der Flut,
deren Ferne die Heimat birgt. Und man wird der ewigen Gestalt begegnen,
die seit Goethe in uns lebt.
Aller dieser Schöpfungen gedenke man wieder, jener Poesie in der Karls¬
ruher Galerie, an der Raffael gebildet zu haben scheint, des Dante zwischen
den Frauen, der Madonna, die Musik von Engeln umklingt, der Frauen, die
die Züge der schönen Römerin Nanna tragen, der Knienden vor der Leiche des
Herrn, der nater äolorosa, deren Rücken und Gewandung so von Schmerz
zeugen, daß man nicht die Verborgenheit des Antlitzes bemerkt. Der Kinder
gedenke man, mit den Mandolinen, im Wald und am Meere und der Nymphe
mit bekränzten Haar, die sie heimlich belauscht, vor allem aber jenes wunder¬
vollen Bildes in Berlin, das er Ricordo ti Tivoli genannt hat und darin das
Schweigen seliger Natur tiefer dargetan ist als in den Allegorien von Böcklin.
Groß erstehe die Medea mit den beiden Kindern und das Schiff, das die
Ruderknechte ins Meer hinabdrängen, und es sprenge der Reiter auf dem
schwarzen Pferd von der Amazonenschlacht wieder einher. Die edle Erscheinung
der Selbstbildnisse von München und Wien veranschauliche mehr als hier mit
Worten gesagt werden kann, und mehr als alles liebevolle und bewundernde
Gedenken wird das Bild bewegen, das er von der Mutter gemalt hat. Das
letzte Gemälde, das Konzert, gemahnt wieder an die raffaelische Weise der
Poesie, das letzte Bekenntnis zu der großen Zeit, der nicht angehört zu haben
Anselm Feuerbachs tiefste Tragik ausmacht.
Sein Kampf ist vorüber, sein Ziel für alle Zeiten erreicht. Seine Passion
ergreift uns, fein Sieg aber erhebt uns auch über sie. Aufs neue lernen wir
erkennen, welche Opfer an zeitlichem Glück der Genius erheischt. Umso ver-
ehrenswerter wird uns das Bild des Abgeschiedenen, um so entrückter in eine
Sphäre, in der er wohl schon bei Lebzeiten geatmet hat. Und man begreift,
daß sich der Ringende schmerzvoll auf jenen Ausspruch des Vasari berufen
konnte, daß Glück und Kunst in steter Feindschaft miteinander leben, denn wenn
sie sich in einem Menschen vereinigen wollten, so wäre das etwas so Vollendetes,
daß es alle anderen vor Neid nimmer aushalten könnten. „Das Leben war
ihm gut genug für seine Kunst," schreibt die Mutter in einem ihrer erschütternden
Dankbriefe auf Kondolenzen. „Er ist ein Opfer des Unverstandes, der schlechten
Zeit, des Neides und schließlich seiner eigenen, feinen, reizbaren Natur geworden,
die kampfesmüde war und die Waffen niederlegte. Er starb nicht an einer
Krankheit, es ist ihm einfach das Herz gebrochen," klagt sie zu Konrad Fiedler.
Aber zu Allgeyer schon findet sie das Wort, das wie als ein Motto hoch steht
über seinem Leben. „Es hat nie einen Menschen gegeben, der so rein er
selbst war als Anselm."
Johannes Brahms war es, der dem Toten die höchste Ehre verlieh.- er
weihte ihm seine „Rauie". Und die Worte, die Henriette Feuerbach nach dem
Tode Urseins über sie an Brahms schrieb, es war eine abendliche Winter¬
stunde, scheint in ihnen nicht die lebendige Seele des gefeierten Geistes selber
Hinzuschweben? Ist es nicht Anselm Feuerbachs Kunst, die gleich dem Liede
„über den Abgründen des irdischen Lebens in Verklärung" steht, „nicht so hoch,
daß der Schmerzenshauch es nicht erreichen kann und nicht so tief, daß es
von ihm getrübt wird?" Auch sie „nimmt alles auf und löst es zu ewigem
Genügen". _
Siehe auch Heft Ur. 2, 11, 12 von diesem Jahre
Ein hoher englischer Beamter in indischen Diensten sagte mir einmal:
„Um den Indern handgreiflich zu beweisen, wie unberechtigt ihr Wunsch nach
völliger Unabhängigkeit ist, müßte eigentlich eines schönen Tages die ganze
englische Militär- und Zivilverwaltung einpacken und die Heimreise nach Eng¬
land antreten. Schon in Aden würden wir ein Telegramm vorfinden, das
uns dringend wieder zurückriefe. Leider ist das Experiment zu teuer, als daß
es versucht werden könnte. Denn der sofort ausbrechende Krieg aller gegen
alle würde in wenigen Tagen die ganze englische Kulturarbeit vernichten."
Dieser Ausspruch eines Mannes, welcher Indien kennt, trifft den Kern der
ganzen Frage. England hat den Kämpfen der ewig untereinander verfesteten
indischen Machthaber ein Ende gemacht und die mit wildem Fanatismus ge¬
führten Religionsstreitigkeiten unterdrückt. Die Ursachen der Uneinigkeit sind
aber damit noch nicht beseitigt. Äußerlich herrscht zwar Friede, aber das Feuer
glimmt unter der Asche weiter. Schon bei geringfügigen Anlässen züngeln hier
und da die Flammen empor. Fehlte die starke und wachsame Macht, welche
immer wieder das Feuer lokalisiert und löscht, der Brand wäre bald allgemein.
Im Jahre 1908 ereignete sich ein sür den Religionshaß charakteristischer
Zwischenfall. In Tithagur, einem vor den Toren Kalkuttas gelegenen Fabrikort,
veranstalteten die Mohammedaner während des Trauermonats Moharrem einen
religiösen Umzug. Die Wogen der Neligionsbegeisterung gingen, wie so häufig
bei solchen Anlässen, höher und höher, so daß man schließlich einige Kühe
schlachtete und mit deren Blut die Hinduheiligtümer besudelte. Nun ist bekannt¬
lich für den Hindu die Kuh ein heiliges Tier, deren Tötung für ein weit
schwereres Verbrechen gilt, als die Ermordung eines Menschen. Die Tat der
Mohammedaner verletzte also die heiligsten Gefühle der Hindus und forderte
Rache. Den Bemühungen der Polizei gelang es zwar noch an diesem Tage,
einen Zusammenstoß der beiden Parteien zu verhindern. Während der Nacht
aber rächten sich die Hindus, indem sie ein totes Schwein in eine Moschee
warfen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht von dieser der
mohammedanischen Religion angetanen Schmach in der Umgegend und schon
am folgenden Tage zogen von allen Seiten mit Knütteln bewaffnete Moham¬
medaner auf Tithagur — es sollen mehr als zehntausend gewesen sein —, um
über die Hindus herzufallen. In Kalkutta herrschte damals über den Zwischen-
fall nicht geringe Erregung. Truppen wurden abgeschickt, um den bedrohten
Ort vor den anrückenden Horden zu schützen. Während der nun folgenden
langen Verhandlungen zwischen dem Truppenkommandanten und den Führern
der „Belagerungsarmee" betonten diese letzteren immer wieder, sie seien ganz
loyale Untertanen der englischen Regierung; aber an den Hindus wollten sie
Rache nehmen; ehe sie darauf verzichteten, würden sie selbst vor einem Angriff
auf die Truppen nicht zurückschrecken. Schließlich zwang man die Leute sich
zu zerstreuen, indem man ihnen das Wasser abschnitt. In Peschawer ereigneten
sich im folgenden Jahre ähnliche Unruhen, deren Einzelheiten ich nicht kenne.
Doch gab es damals zahlreiche Tote und Verwundete.
Was sich so heute in einem engbegrenzten Rahmen abspielt, ist ein ge¬
treues Abbild dessen, was sich nach Abzug der Engländer im großen in Indien
ereignen würde. Man wirft den Engländern so häufig vor, daß sie den Zwist
der Religionen nach dem Prinzip: ciiviäe et impsra im geheimen schürten.
Wahr ist daran nur. daß die Engländer an den in der Minderheit befindlichen
Mohammedanern natürliche Verbündete gegen die Hindumajorität finden (50 Mill.
: 250 Mill.). Aber das Schüren des Religionshasses ist bei der zwischen den
Anhängern der verschiedenen Religionen herrschenden Erbitterung wahrhaftig
nicht mehr nötig. Den Engländern wäre es viel lieber, wenn die Feindschaft
weniger groß wäre. Denn auch das Amt des Friedensengels kann auf die
Dauer recht lästig und kostspielig werden. Im Bestreben unparteiisch zu sein,
kann man sich leicht die Sympathien beider Teile verscherzen, wenn z. B. jede
Partei glaubt, sie habe den Unparteiischen gar nicht nötig und würde ohne
dessen Eingreifen allein Herr der Situation sein.
In den Anfängen der Eroberung Indiens, als dort noch große selbständige
Staaten neben dem englischen Kolonialreich bestanden, hatten die Eingeborenen
Gelegenheit, Vergleiche zu ziehen und lernten die Vorzüge des englischen Re¬
gierungssystems schätzen. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts,
als der kluge Lord Bentink seine großzügigen und humanen Reformen durch¬
führte, baten die Einwohner Sindh (an der Mündung des Indus) und die
mohammedanischen Untertanen der Sikhs die Engländer geradezu, ihr Land zu
annektieren, um so der Segnungen des britischen Regierungssystems teilhaftig
zu werden. Die nun schon mehr als fünfzig Jahre währende pax britannica
hat die Erinnerung an die Schrecken der früheren Zustände verwischt, so daß
man den ersehnten Befreier von damals heute mehr und mehr als lästigen
Fremdling empfindet. Andere Ursachen tragen dazu bei, die Lage noch mehr
zu verschärfen.
Alle vorenglischen Eroberer Indiens hatten nur dadurch ihre Herrschaft
fest begründen können, daß sie sich dauernd im Lande ansiedelten und sich, so
gut sie konnten, in nationale Herrscher verwandelten. Die Familie der Baders
galt trotz ihrer mongolischen Abstammung schon in der dritten Generation ganz
als einheimische Dynastie und genoß daher trotz der jämmerlichen Schwäche
ihrer späteren Repräsentanten noch bis zu ihrer Absetzung im Jahre 1857 ein
weitreichendes Ansehen. Die herrschende Klasse verleugnete also ihre Natio¬
nalität und stieg zu den unterworfenen Völkern herab. Damit legte sie zwar
den Keim zu ihrem späteren Verfall, half sich aber über die Schwierigkeiten
der Gegenwart hinweg. Die Engländer sind dagegen dem Lande, in dem sie
nun schon mehr als hundertundfunfzig Jahre herrschen, immer fremd geblieben.
Selbst Leute, die ein Menschenalter in Indien zubringen, werden dort nicht
heimisch. Vom ersten Tage seiner Ankunft zählt der englische Beamte fast die
Tage, welche er noch im Lande zubringen muß, um sich die Pension von
1000 Pfund zu erwerben.*) Keine bessere englische Familie wird es ver¬
säumen, ihre in Indien geborenen Kinder schon im jugendlichsten Mer nach
England zu schicken, damit diese dort eine rein englische Erziehung erhalten.
Denn jedem in Indien geborenen und aufgewachsenen Engländer hängt das
„native breaä" (im Inland aufgewachsen) als eine Art Makel an. Die Zahl
der englischen Familien, welche schon seit mehreren Generationen in Indien
sitzen, ist daher verschwindend klein. Sie werden auch von ihren eigenen Lands¬
leuten fast wie Eingeborene behandelt, haben keinen Zugang zu den höheren
Staatsstellungen und können kaum in den guten Gesellschaftskreisen verkehren.
Das Los der aus anglo - indischen Mischehen abstammenden Eurasier ist noch
schlimmer. Weder Eingeborene noch Engländer wollen etwas von ihnen wissen.
Von beiden Völkern ausgestoßen, meist mit den charakteristischen moralischen
Defekten der Mischlinge behaftet, sind sie Fremdlinge in ihrer eigenen Heimat.
Ein Engländer, welcher eine Eingeborene oder eine Eurasierin heiratet, ist
gesellschaftlich geächtet. Wer auch nur einen Tropfen asiatischen Blutes in seinen
Adern hat, ist aus allen englischen Klubs ausgeschlossen. So haben die Eng¬
länder eine unübersteigbare Mauer zwischen sich und den von ihnen regierten
Völkern aufgerichtet. Jeder Engländer, und sei er der niedrigste Beamte**),
hält sich selbst für weit besser als den vornehmsten Inder von reinstem Brah-
minenblut. Das stolze „civis k?omarm8 8um" ist ihm angeboren; nur faßt
er diesen Begriff in einem weit höheren Sinne auf als der alte Römer. Durch
Erwerbung des römischen Bürgerrechts konnte schließlich jeder dem asiatischen
Rassengewimmel entsprossene Mischling ein „Römer" werden, während kein
Asiate, kein Eurasier je hoffen kann, in die englische Herrenkaste aufgenommen
zu werden. Instinktiv wehrt sich England gegen die Gefahr, wie das kaiserliche
Rom zum nationalitätslosen Polizeistaat herabzusinken und bleibt, trotz seiner
zahllosen fremdrassigen Untertanen stets streng abgeschlossener Nationalstaat.
Hier liegen die Quellen englischer Kraft, das weiß jeder Brite, und darum ist
ihm die Reinhaltung seiner Rasse zu einer Art selbstverständlichen Glaubenssatzes
geworden.
Freunde erwirbt man sich durch solch stolzes Herrentun: allerdings nicht.
Unter dem Szepter seiner asiatischen Bezwinger konnte der Inder das demütigende
Gefühl des Geknechtetseius nie allzu scharf empfinden. Er konnte sich sogar
einbilden, er sei gar nicht besiegt und unterworfen. Denn der Eroberer brachte
nichts als sein Schwert mit. Alles andere mußte er dem alten Kulturland
entnehmen. Die verfeinerten Sitten, der Baustil, das Regierungssustem, ja
sogar die Sprache ging vom Besiegten auf den Sieger über. So kam es, daß
in Indien nicht wie in anderen Ländern die Befreiung aus der Knechtschaft,
sondern oft gerade die Eroberung durch einen Fremden eine neue Blütezeit
nationaler Kultur herbeiführte.
Erst bei den letzten Eroberern änderte sich das. Diese entstammen einem
ganz anderen Kulturkreise und dachten nicht daran, Sprache und Sitten des
von ihnen eroberten Landes anzunehmen. Dem Volke Shakespeares war mit
der Mahabaratta und der Ramayana wenig gedient. Nicht um zu lernen war
man nach Indien gekommen; man wollte belehren, den unterworfenen Völkern
„die Segnungen der Zivilisation zugute kommen lassen".
So kam es, daß England, trotzdem es sich peinlich gehütet hat, die nationale
Eigenart Indiens anzutasten, nicht etwa befruchtend, sondern hemmend und
ertötend auf die indische Kultur gewirkt hat. Auf einmal galt die englische
Wissenschaft höher als die alte Weisheit der Brahmanen; englische Erzeugnisse
verdrängten das einheimische Gewerbe. Alle aufwärts und vorwärts strebenden
Elemente gerieten unwillkürlich in den Bann der fremden Kultur, viele aus
wahrem Wissensdrang, nicht wenige aber auch lediglich in der Absicht, die
Ursachen der englischen Überlegenheit zu studieren und so die Mittel zu finden,
mit denen man möglichst schnell das fremde Joch abschütteln könnte.
Nun ist aber unsere europäische und speziell die englische Kultur ein viel
zu spröder Stoff, als daß er ohne weiteres den indischen Verhältnissen ent¬
sprechend umgeformt werden könnte. Ein orientalischer Fürst glaubt auf der
Höhe westländischen Kunstgeschmacks zu sein, wenn er seine schönen alten Teppiche,
seine kunstvollen Schnitzereien verschleudert und sein Schloß mit europäischem
Plunder und wertlosen Spielzeug vollstopft. Man sehe nur einmal Inder in
europäischer und in einheimischer Kleidung nebeneinander und man wird wissen,
weshalb Orient und Occident sich nicht miteinander verschmelzen können. So¬
lange der unmittelbare Eindruck der englischen Siege die Orientalen in seinem
Bann hielt, mochte es scheinen, als könne der zwischen beiden Kulturkreisen
klaffende Abgrund durch ein Aufgehen der indischen Völker in den englischen
Untertanenverband geschlossen werden; je mehr aber Indien aus der Agonie
seiner Niederlagen erwachte, um so schärfer mußte der alte Gegensatz wieder
hervortreten. Konzessionen können ihn vorübergehend mildern, Gewaltmaßregeln
ihn den Blicken der Öffentlichkeit entziehen, aber keine Regierungsweisheit kann
ihn aus der Welt schaffen. Denn er wirkt unerbittlich wie ein Naturgesetz.
Daraus ergibt sich die logische Folgerung: über kurz oder lang muß der Tag
kommen, da England die Herrschaft über Indien verliert.
Mit diesem Verlieren ist selbstverständlich nicht der natürliche Prozeß des
Niederganges gemeint, der in allen von Menschen geschaffenen Staatswesen dem
Ausstiege und dem Höhepunkte folgen muß, sondern eine Emanzipation Indiens
von der Fremdherrschaft ganz unabhängig von dem gleichzeitigen Entwicklungs¬
stadium Englands; auch die Frage soll offen bleiben, ob sich das Verlieren in
Form einer friedlichen Loslösung oder als gewaltsame Trennung vollziehen
wird. Wer die lange Reihe der in Indien begangenen politischen Attentate,
der Verschwörungen und der revolutionären Putsche im Auge hat, kommt aller¬
dings leicht in die Versuchung, die gewaltsame Trennung für das allein Wahr¬
scheinliche zu halten und er wird sogar geneigt sein, den Zeitpunkt dieser
Explosion in die nächste Zukunft zu verlegen. Einzeln betrachtet sind diese
Erscheinungen ja wohl auch geeignet, Besorgnisse zu erwecken. In ihrem natür¬
lichen Zusammenhang erscheinen die Dinge aber oft in einem ganz anderen
Lichte. Man muß bei der Beurteilung indischer Verhältnisse nie vergessen, daß
es sich um ein Land handelt, welches fast so groß ist wie Europa ohne Rußland.
Für die dreihundert Millionen Menschen, welche dieses Land bevölkern, will
die Zahl der Attentate noch nicht allzuviel besagen. Ein ernstes Symptom,
eine Warnung, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist, muß man natürlich immer
in diesen Regungen des Terrorismus erblicken. Aber den Anfang vom Ende
bedeuten sie noch nicht. Denn die Revolutionsidee ist noch weit davon entfernt,
Gemeingut des ganzen Volkes zu sein; die Träger der heutigen revolutionären
Bewegung sind vielmehr in der Hauptsache bloß bei einer Volksklasse zu suchen,
bei den sogenannten „Bengali - Babus". Babu ist ein indischer Titel. Man
erhält ihn nach Absolvierung der höheren indischen Lehranstalten und erwirbt
mit ihm die Befähigung zur Verwendung im Negierungsdienst. Da die Ben¬
galis der lerneifrigste und wohl auch begabteste Volksstamm Indiens sind, stellen
sie das Hauptkontingent für die indischen Hochschulen und daher auch für die
Beamtenstellen. Über ganz Indien verbreitet findet man die typische Erscheinung
des Bengali - Babu, als Postbeamten, als Stationsvorsteher, als Schreiber in
den Regierungsbureaus und häufig auch als Prwatangestellten in den europäischen
Banken und Handelshäusern. Meist sind es hübsche elegante Leute, die gute
Manieren und vollendete Höflichkeit zur Schau tragen; aber nicht umsonst gilt
der Bengali für das charakterloseste und unzuverlässigste Element ganz Indiens.
Im ganzen Lande erfreut er sich daher keiner großen Sympathien.
Bei dem starken Andrang der Bengalis an den Hochschulen kann es natürlich
nicht ausbleiben, daß viele Leute nach Beendigung ihrer Studien keine Anstellung
finden. Dadurch entsteht ein für die staatliche Ordnung höchst gefährliches
Bildungsproletariat. An allzugroßer Bescheidenheit leidet kein Bengali. Kann
er leidlich Englisch sprechen und hat er sich eine Art oberflächlicher Bildung
angeeignet, so hält er sich meist ohne weiteres für befähigt, die höchsten Ämter
im Staate zu bekleiden. „Wären die Fremden nicht hier," so argumentiert er,
„dann müßte mir einer der schönen, gutbezahlter Posten zufallen, die mir jetzt
verschlossen sind." Für ihn sind also die englischen Herren des Landes das
einzige Hindernis auf dem Wege zu Amt und Brot. Natürlich soll nicht geleugnet
werden, daß manche idealdenkenden Schwarmgeister, manche selbstlosen Patrioten
Mitglieder dieser revolutionären Propaganda sind. Im allgemeinen ist aber
das alte, den niederen Geistern so plausible „öde-toi qus je in' ^ mette" das
Stimulationsmittel, welches die indischen Mvolutionshelden zu ihren terroristischen
Akten begeistert. Man muß gestehen, daß die englische Polizei nicht ohne Geschick
gegen diese umstürzlerischen Elemente kämpft. Kaum ein politisches Verbrechen
ist ungesühnt geblieben und häufig genug gelang es, terroristische Verschwörungen
aufzudecken, noch ehe sie Schaden stiften konnten. Der wohlbekannte Mzekönig
Lord Curzon (1899 bis 1906) führte einen besonders scharfen Kampf gegen
die revolutionäre Propaganda. Auf seine Veranlassung entschloß man sich im
Jahre 1905 zu der viel besprochenen und viel verurteilten „partitiori LonZal".
Der östlich des Brahmaputra gelegene Teil Bengalens wurde mit der Provinz
Assam zu einer neuen Provinz „Eastern Bengal and Assam" vereinigt, während
der Nest als eine verkleinerte Provinz unter dem Namen „Western Bengal"
bestehen blieb. Motiviert wurde diese Neuerung mit verwaltungstechnischen
Gründen. Der wahre Zweck war indessen, einen Keil in die über ganz Ben¬
galen ausgebreitete revolutionäre Organisation zu treiben. Das Resultat ent¬
sprach kaum den Erwartungen. Die Bevölkerung sträubte sich dagegen, daß ihr
Land willkürlich in zwei Teile zerrissen wurde. Besonders stark war die Er¬
regung in „Eastern Bengal". Der hochkultivierte Bengali hatte bisher immer
voll Verachtung auf die Barbaren des östlichen Nachbarlandes Assam herab¬
geblickt. Nun sollten die beiden heterogenen Elemente plötzlich zu einem Ver¬
waltungsbezirk vereinigt werden. Der ganze Stolz des eitlen Bengali empörte
sich dagegen. Fing man doch im übrigen Indien schon an. den Ostbengali
spöttisch Assami zu nennen. Kurz, die Folge der Teilung Bengalens war nicht
ein Abflauen, sondern ein Anschwellen der revolutionären Bewegung. Gouver¬
neure und Unterbeamte befanden sich jahrelang eigentlich dauernd in Lebens-
gefahr. Der Arm der Terroristen reichte sogar bis London, wo ihnen der
Sekretär für Indien, Curzon Wheely zum Opfer fiel. In den letzten
Jahren sprach man daher auch in Indien ganz offen davon, daß demnächst eine
Wiedereroberung Bengalens notwendig werden würde.
Ich habe oben auseinandergesetzt, warum eine solche Wendung der Dinge
den Engländern nicht einmal unwillkommen sein würde. Ernstlich erschüttert
kann die englische Herrschaft durch solche Teilrevolutionen kaum werden,
wenigstens nicht, solange England in der übrigen Welt freie Hand hat. Eine
europäische Krise, welche die englische Regierung hinderte, im Bedarfsfalle Ver¬
stärkungen nach Indien zu schicken oder gar zu einer Schwächung der indischen
Okkupationsarmee zwänge, würde natürlich den indischen Besitz sofort schwer
gefährden. Ebenso könnte das Erscheinen einer modernen feindlichen Armee an
der indischen Grenze unabsehbare Folgen haben. Solche Möglichkeiten möchte
ich indessen hier ausscheiden und bloß den Fall ins Auge fassen, daß Indien
aus eigener Kraft versucht das fremde Joch abzuschütteln. Augenscheinlich kann
ein solcher Versuch nur dann glücken, wenn das ganze Volk oder wenigstens
sehr große Teile desselben in völliger Übereinstimmung und unter einheitlicher
Leitung an der Erhebung teilnehmen. Dazu fehlen aber augenblicklich noch
alle Vorbedingungen. Auf der Karte erscheint die vorderindische Halbinsel
zwar als ein politisches Ganzes; in der Wirklichkeit ist indessen die Bezeichnung
Indien nur ein geographischer Begriff. Denn, wie ich schon früher betonte,
nirgends auf der ganzen Erde gibt es ein solches Sprachenbabel, so scharfe und
unausgleichbare religiöse und politische Gegensätze, wie in Indien. Schon die
sprachliche Verständigung der verschiedenen Gruppen untereinander würde die
größten Schwierigkeiten bereiten; die Eifersucht und Empfindlichkeit der einge¬
borenen Fürsten (die mit ihrem gesicherten Besitz, ihren geordneten Finanzen
im Grunde heute viel besser daran sind, als in den Zeiten ihrer Despoten¬
herrlichkeit) würde wahrscheinlich die Wahl eines allgemein anerkannten Führers
selbst dann unmöglich machen, wenn keine englischen Schachzüge der Einigung
entgegen arbeiteten. Die Frage, wie sich der tief eingewurzelte religiöse Zwie¬
spalt beseitigen ließe, könnte wohl heute kein Inder in befriedigender Weise
beantworten. Die große Masse des niederen Volkes ist endlich noch gar nicht
genügend im Sinne der national-indischen Idee bearbeitet, um sich auf ein
gegebenes Zeichen wie ein Mann zu erheben. Sie würde sich wahrscheinlich
heute ebenso wie 1857 völlig passiv verhalten. Noch besteht also keine Möglichkeit,
die Kräfte zu entfesseln, welche Englands Herrschaft über Indien ins Wanken
bringen könnte.
Anderseits können natürlich die Engländer nicht damit rechnen, daß dieser
für sie so günstige Zustand unverändert weiterbestehen wird. Je länger die
heterogenen Teile Indiens künstlich zusammengehalten werden, um so stärker
müssen sich zwischen diesen Teilen anziehende Kräfte geltend machen. Ohne es
zu wollen wird England durch seine langjährige Beherrschung der ganzen
vorderindischen Halbinsel das schaffen, was dem Lande bisher fehlte, eine
indische Nation*). Schon heute läßt sich der Beginn dieses Prozesses deutlich
nachweisen. Auf den großen Mohammedaner- und Hindukongressen kommt die
Idee der Zusammengehörigkeit aller Völker Indiens alljährlich stärker zum Aus¬
druck und mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl wächst auch das Selbstbewußt¬
sein dieser Körperschaften. Zwar stellt man sich immer noch sehr loyal, schickt
Begrüßungstelegramme an den Vizekönig und andere offizielle Persönlichkeiten.
Aber man scheut sich doch von Jahr zu Jahr weniger, die Maßnahmen der
Regierung scharf zu kritisieren und fordert eine immer weitergehende Beteiligung
an der Verwaltung des Landes, vor allem eine Kontrolle der Finanzen. Der
Patriotismus und die Opferwilligkeit der Kongreßmitglieder ist häufig sehr groß.
Stets werden bedeutende Summen zu Bildungs- und Schulzwecken gezeichnet.
Das zeigt schon deutlich, worauf man letzten Endes hinaus will: die Bewegung
soll in die großen, heute noch dumpf und stumpf dahinlebenden Massen ge¬
tragen werden; Politik, Schulbildung und Aufklärung sollen Hand in Hand
gehen, damit der große Gedanke der nationalen Vereinigung und der politischen
Emanzipation immer mehr Boden gewinnt. AIs besonders starkes Agitations¬
mittel muß stets die Verfassungsfrage herhalten: „Den Türken und Persern
habt ihr die konstitutionelle Regierungsform als das unfehlbare Heilmittel für
alle politischen Krankheiten empfohlen. Den Ägyptern und uns enthaltet ihr
dieses Recht vor, als wären wir weniger zivilisiert und geistig rückständiger
wie jene Völker." Das englische Gegenargument „was jene Völker erstrebten,
eine freiheitlich und gerechte Regierung, das besäße Indien ja schon lange",
kann natürlich nicht überzeugend wirken. Die Zeiten sind vorbei, da der Hindu
sich gegen alle fremden Einflüsse abschloßt). Nicht bloß Radschahs und reiche
Kaufleute unternehmen heute Reisen nach Europa und Amerika, sondern auch
zahlreiche Vertreter aller anderen sozialen Schichten. Viele Inder haben mehr
oder weniger ernsthafte Studien an europäischen Hochschulen gemacht, haben
die dort herrschenden Ideen in sich aufgesogen und brennen nun darauf, ihre
Reformpläne in die Praxis umzusetzen***). Die Bewegung ist im Gange und
wird sich nicht mehr zurückdämmen lassen. Die „indische Nation" wird wachsen
und wachsen und wenn die Engländer sich ihr entgegenstemmen, so müssen sie
eines Tages (dieser Tag kann natürlich noch sehr fern liegen) einfach durch die
Wucht der vereinigten Masse — vielleicht sogar völlig kampflos — aus dem
Sattel gehoben werden.
Für die Engländer entsteht daher die schwerwiegende Frage, welche Taktik
sie den indischen Nationalisten gegenüber anwenden sollen. In der Theorie
ist die Antwort zwar ziemlich leicht gefunden: „Man brauche ja nur die bei
den anderen englischen Kolonien mit so viel Erfolg angewandte Methode zu be¬
folgen, d. h. den Indern schrittweise immer größere Freiheiten einzuräumen, bis
man schließlich bei dem uneingeschränkten „8eil Zovernement" Australiens und
Kanadas angelangt sei." Das ist mit wenigen Worten die landläufige Vor¬
stellung in England über die Zukunft Indiens. So schön dieser Plan klingt,
so schwer dürste es indessen sein, ihn in die Praxis umzusetzen. Denn Indien
ist nicht Australien oder Kanada. Einer überwiegend von Landsleuten be¬
völkerten Kolonie Selbstverwaltung zu geben, sobald sie auf eigenen Füßen
stehen kann, ist nicht nur eine leicht ausführbare, sondern sogar eine von der
Klugheit gebotene Maßregel. Denn die zwischen Kolonie und Mutterland be¬
stehenden Blutsbande haben sich im Verlauf der Geschichte noch stets als halt¬
barer erwiesen, wie alle bureaukratischen Fesseln. Ein mit dem Schwerte
unterworfenes Volk kann dagegen für seine Bezwinger keine dauernden Sym¬
pathien empfinden, mögen ihm auch noch so große Vorteile aus der Fremd¬
herrschaft erwachsen sein. Was will in Indien die verschwindend geringe Menge
bodenbeständig gewordener Engländer gegenüber den 300 Millionen Eingeborenen
besagen? Es wäre vergeblich darauf zu hoffen, daß dieses nur mittels Kanonen
und Bajonette behauptete Land sich einst durch ähnlich feste Bande an England
ketten ließe, wie Kanada und Australien.
Wäre indessen nicht doch der Fall denkbar, daß der Übergang von der
Fremdherrschaft zum „8elk ^overnement" sich so friedlich und harmonisch
vollzöge, daß die zwischen England und Indien bestehende wirtschaftliche
Interessengemeinschaft allein genügte, um Kolonie und Mutterland zusammen¬
zuhalten? Dieser Gedanke scheint den Männern vorzuschweben, welche heute
über die Geschicke Indiens entscheiden. Die Morleysche Reformbill vom
Jahre 1907 kommt wenigstens zahlreichen indischen Wünschen weit entgegen.
Als tiefeinschneidende Neuerung ist vor allem die Berufung eines Inders in
den nur aus sechs Mitgliedern bestehenden Rat des Vizekönigs C7lis viLewyg
LounLil) anzusehen. Denn damit bekommt ein Eingeborener Einblick in die
geheimsten Beratungen der Regierung und kann einen nicht unbedeutenden
Einfluß auf die Geschicke des Landes ausüben. Anläßlich des Krönungsdurbars
im vorigen Jahre wurde ferner die so unpopulär gewordene Teilung Bengalens
rückgängig gemacht, also die „starke" Politik Lord Curzons desavouiert und
eine weitgehende Konzession an die unruhigen Bengalis gemacht.
Zurzeit arbeitet man endlich an einer großzügigen Justizreform, welche
die Tendenz verfolgt, sich mehr dem Rechtsbewußtsein des indischen Volkes
anzupassen und den von den großen indischen Reformgesellschaften, der Brahmo-
Samadsch und der Uria-Samadsch formulierten Wünschen entgegenzukommen.
(Näheres hierüber in dem Januar- und Februarheft der Zeitschrift Asien.)
Viele englische Beamte, besonders solche, welche lange in Indien waren,
stellen allerdings dem neuen Kurs des „Inäian Mich" kein günstiges Prog¬
nostikuni. Ich entsinne mich u. a. eines 1908 auf einer Station Assams mit
einem englischen Eisenbahnbeamten gepflogenen Gesprächs. Der betreffende
Herr war ein großer Bewunderer Lord Curzons. Dieser habe, so meinte
er, durch sein energisches Auftreten, durch seine unerschütterliche Verteidigung
der Vorrechte der Weißen gegenüber den Farbigen das englische Prestige außer¬
ordentlich gefestigt.*) Das sei ein großes Verdienst. Denn nur wenn dieses
Prestige unangefochten bliebe, könne man hoffen, auch fernerhin mit einer
Handvoll Leuten Indien zu beherrschen. Jetzt wolle man dieses bisher be¬
währte Prinzip durchlöchern, den Indern einen erhöhten Einfluß auf die Ver¬
waltung einräumen, sie sogar in die hohen Beamtenstellen hineinbringen und
sie damit zu Vorgesetzten von weißen Beamten machen. Dadurch würde nicht
nur das Ansehen der Weißen schwer geschädigt, sondern auch die ganze Re¬
gierungsmaschine schweren Reibungen ausgesetzt. Kein Farbiger sei imstande,
ein Amt ohne Oberaufsicht unparteiisch und ehrenhaft zu verwalten. Kein
Weißer würde es auf die Dauer ertragen, unter einem farbigen Vorgesetzten
zu arbeiten. Wenn man mit der Morlenschen Reformbill auf die Dankbarkeit
der Eingeborenen spekuliere, so begehe man einen schweren Prinzipienfehler;
denn alle Konzessionen würden von diesen nur als Schwäche gedeutet und
daher würde die Aufstandsgefahr durch Nachgiebigkeit vergrößert statt verringert.
Ähnlicher Ansichten bin ich auch an anderen Stellen in Indien mehrfach be-
gegnet. Tatsächlich ist die Frage der eingeborenen Beamten mit der wundeste
Punkt in der ganzen anglo-indischen Verwaltung. Sie wird den Reformern
noch manche harte Nuß zu knacken geben. Denn es läßt sich nicht leugnen,
daß es bisher noch nicht gelungen ist, einen guten Stamm tüchtiger und zu¬
verlässiger eingeborener Beamten heranzubilden. Geschickt und anstellig ist der
Bengali-Babu ohne Zweifel; als Unterbeamter leistet er ausgezeichnete Dienste
und versteht es nicht selten, sich geradezu unentbehrlich zu machen.
Die conclitio 8me ama non ist aber genügende Aufsicht. Kann es un¬
gestraft geschehen so vernachlässigt er nicht nur gar leicht seine Pflicht, sondern
denkt auch mehr wie gut ist an seinen persönlichen Vorteil. Vor allem fehlt
es ihm aber an Initiative. Was man ihm vorschreibt, wird er genau und
geschickt ausführen, wenn er weiß, daß er kontrolliert wird. Aber selbst vor¬
ausdenken, in einem unvorhergesehenen Fall auf eigene Faust handeln oder
gar große selbständige Pläne fassen und ausführen, das find Eigenschaften, die
man beim indischen Beamten kaum suchen darf. Großartiges Organisations¬
talent und eine nie um Mittel verlegene Tatkraft sind aber gerade die treibenden
Kräfte, mit denen England Indien einst eroberte und heute regiert.
Eine der lehrreichsten Unterrichtsstunden über indische Verwaltung bekam
ich auf der Rundreise mit einem englischen Beamten in einem wenig kultivierten
Walddistrikt des nordöstlichen Indiens. Mein Lehrmeister war der einzige
weiße Beamte eines Bezirks, der an Ausdehnung einem preußischen Regierungs¬
bezirk nicht nachstand. Seine bewaffnete Macht bestand aus einigen Gurkha-
soldaten zur Bewachung des Kassengebäudes. Den größten Teil des Jahres
verbrachte er auf Reisen innerhalb seines Bezirks. Dort war er im vollsten
Sinne des Wortes „Mädchen für alles": Verwaltungsbeamter, Richter, Wege-
und Wasserbauingenieur, Sachverständiger für landwirtschaftliche Fragen,
Sanitätsbeamter usw. usw., daneben vorzüglicher Jäger und guter Kenner der
Fauna und Flora des Landes. Er beherrschte nicht weniger als vier der in
seinem Bezirk gesprochenen Sprachen und hatte das Vertrauen seiner Unter¬
gebenen in so hohem Maße gewonnen, daß diese ihn schließlich sogar bei
häuslichen Sorgen und ehelichen Zwistigkeiten um Rat fragten. Obgleich er
nie von Bewaffneten begleitet war, genoß er doch unbedingte Autorität und
konnte im entlegensten Zipfel seines Gebietes auf pünktliche Befolgung seiner
Befehle rechnen. Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten erwuchsen ihm eigentlich
nur durch seine bengalischen Unterbeamten, die bei der unzivilisierten, aber
ehrlichen und gutherzigen Bevölkerung gründlich verhaßt waren. Keiner von
diesen Bengalis wäre imstande gewesen, seinen englischen Vorgesetzten auch nur
in einer seiner vielen Funktionen zu ersetzen. Dort ist mir erst wirklich klar
geworden, was der englische Beamte für Indien bedeutet und wie hoch er über
dem eingeborenen Beamten steht.
Ist nun irgendeine Aussicht dafür vorhanden, daß der Inder jemals seinen
Lehrmeister wird ersetzen können? Das ist offenbar der Kernpunkt des anglo-
indischen Problems. Denn von ihm hängt es ab, ob und in welchem Tempo
die Umwandlung Indiens in einen sich selbst regierenden Staat vor sich gehen
kann. Gewiß wäre es vorschnell geurteilt, wollte man dem Inder einfach die
Fähigkeit absprechen, sich die hervorragenden Eigenschaften der Engländer an¬
zueignen; aber eine sprungweise Entwicklung kann man hier nicht erwarten.
Handelt es sich doch um nicht mehr und nicht weniger, als die Umwandlung
von Charaktereigenschaften, welche durch jahrhundertelange Einwirkungen ent¬
standen und welche mehr oder weniger allen Orientalen eigentümlich sind*).
Bis jetzt wenigstens sind uns die Orientalen — mit alleiniger Ausnahme der
Japaner — den Beweis schuldig geblieben, daß sie imstande sind, aus Europa
mehr zu importieren, als bloße Ideen. Gelingt es ihnen nicht, sich auch etwas
von dem Geist und den Fähigkeiten der Europäer anzueignen, so werden die
Ideen immer bloß wesenlose Schemen bleiben. Die Männer, welche an dem
großen Problem der indischen Reformen arbeiten, würden sicher um vieles freier
atmen, wenn die Durchdringung des indischen Beamtenstandes mit englischer
Rechtschaffenheit und englischer Tüchtigkeit recht schnelle Fortschritte machte.
Mancher gefährliche Konfliktsstoff wäre damit beseitigt. Wie die Dinge heute
liegen, ist zu befürchten, daß Regierende und Regierte immer wieder über das
Maß der jeweils zu gewährenden Konzessionen aneinander geraten. Denn selbst
wenn die Engländer eine geradezu ideale Uneigennützigkeit in der Behandlung
der 8elk xovörnement8-Frage an den Tag legten, so würden sie immer
wieder bald an einem Punkt anlangen, den sie ohne Gefährdung ihres ganzen
in Indien geleisteten Kulturwerkes nicht überschreiten könnten. In der Praxis
kann man aber nicht einmal mit dieser idealen Uneigennützigkeit rechnen. Denn
Indien ist nicht nur ein äußerst wichtiges Absatzgebiet für die englische Pro¬
duktion, sondern auch ein großartiges Arbeitsfeld für den englischen Taten¬
drang**), eine unvergleichliche Schule für Staatsmänner und Soldaten, aus
der viele der bedeutendsten Männer Englands hervorgegangen sind und —
Ja8t not least — eine unentbehrliche Versorgungsanstalt für die unbemittelten
Söhne englischer Familien.
Welche Nation würde wohl auf solchen Besitz kampflos verzichten? Der
Weg, den die heutigen Leiter der anglo-indischen Politik eingeschlagen haben,
scheint, je weiter er führt, um so schwieriger zu werden.
Nehmen wir einmal an, es gelänge ihnen, die Opposition in den eigenen
Reihen zu beschwichtigen, und es bestände für sie bloß noch die Aufgabe der
Auseinandersetzung mit den indischen Untertanen. Auch dann erscheint das
Problem noch immer fast unlösbar. Grundsätzliche Revolutionäre müßten
natürlich schon von vornherein ausscheiden; denn deren Forderungen schisßen
stets über das Ziel hinaus und können die Entwicklung zum seit ^overnement
nur hemmen. Aber auch unter den gemäßigten Elementen wird es wenige
geben, die mit der heutigen Lage aufrichtig zufrieden sind. Wer in der geistigen
und nationalen Bewegung Indiens eine Rolle spielt und doch aus voller Über¬
zeugung Anhänger der englischen Oberherrschaft ist, muß schon ein ganz un¬
gewöhnliches Maß von Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung besitzen.
Nur wenigen ist es gegeben, gelassen und mutig weiter zu arbeiten mit
der bitteren Erkenntnis im Herzen, daß nicht sie die Früchte ihrer Arbeit pflücken
und den Tag der Freiheit sehen werden, sondern erst ihre Enkel. Die größte
Gefolgszahl wird immer denen zufallen, welche das ersehnte Ziel in verlockende
Nähe rücken und den Weg zu ihm als leicht und mühelos schildern.
Das sind Erscheinungen, die wir täglich im hochzivilisierten Europa
beobachten. In Indien müssen sie sich noch stärker äußern als bei uns. Denn
dort überwiegt die gänzlich ungebildete Masse und es mangelt an Leuten mit
wirklich gediegenen Kenntnissen; darum spielen dort die Halbgebildeten eine viel
größere Rolle als bei uns. Halbgebildete neigen nur zu leicht zur Überschätzung
ihrer Fähigkeiten. Wer durch ernsthafte und tiefergehende Studien seine Urteils¬
kraft geschärft hat, wird meist die Grenzen seines Könnens richtig einschätzen.
Ein wirklich gebildeter Inder muß wissen, wie schwer es ist, seine Heimat zu
regieren. Er wird meist geneigt sein, in der Fremdherrschaft, wenn auch nicht
eine Annehmlichkeit, so doch ein vorläufig notwendiges Übel zu sehen und daher
zwar ohne Sympathien aber aus praktischen Gründen die englische Herrschaft
stützen. Die indische Frage ist also in letzter Linie ein Erziehungs- und Bil¬
dungsproblem.
Ich will nicht den Propheten spielen und mich in Vermutungen ergehen,
ob die Engländer die Lösung dieses Problems finden werden. Nach allem,
was sie bisher geleistet haben, muß man aber Vertrauen zu ihrem gesunden
praktischen Sinn haben. Gelingt es ihnen, ihre Misston so auszufüllen, daß
sie einst ohne die Gefahr eines Fiaskos den: indischen Volke volle Selbstver¬
waltung geben können, so haben sie eine Kulturtat vollbracht, wie sie die Welt
noch nicht gesehen hat.
!in Volk, das groß sein will, muß es auch im kleinen sein: in
jenen Nebensächlichkeiten, die nicht eben die Grundlagen seiner
Existenz bilden, die aber in ihrer Gesamtheit wie ein untrüglicher
Spiegel seiner Kultur wirken und als Wertmesser sür seine geistige
Reife gelten können. Wenn unser deutsches Volk nach dem
titanischen Ringen der letzten Jahrzehnte auf dem festen Untergrund realer
Existenz nunmehr beginnen kann, an der kulturellen Hebung des Volksganzen
zu arbeiten, so erfüllt es damit nur die Forderung der Zeit, die wie keine
andere zu intensivster Beschäftigung mit den Fragen der Volksbildung drängt.
Diese Bildung soll aber nicht so sehr ihr Schwergewicht in der Entwicklung
der reinen Verstandesfähigkeiten suchen, als vielmehr den gangbarsten Weg in
einer Befruchtung und Stimulierung der Gemütseigenschaften sehen. Denn
nicht der vernünftige Gedanke allein ist die herrschende Kraft in der Welt:
Vaterlandsliebe, Treue, Ehrenhaftigkeit und Gerechtigkeit leiten ihre Triebe nicht
von ihm her.
Diese Anschauungen, die im modernen Staatsleben immer mehr als ein
wichtiger Faktor für die Vertiefung und Veredelung der nationalen Instinkte
erkannt werden, sind erst vor kurzem von dem neugewählten Präsidenten des
amerikanischen Volkes Woodrow Wilson in besonders prägnanter Weise zu
einem programmatischen Bekenntnis von überwältigender Durchschlagskraft er¬
hoben worden: ein Vorgang, der von symptomatischer Bedeutung ist, besonders
im Hinblick auf die Eigenschaften des amerikanischen Volkes, die uns immer
als Reinkultur materieller Gesinnung erscheinen. Um wieviel mehr mußten
bei uns in Deutschland, dem Lande der Dichter und Denker, nach der Ent¬
wicklung der letzten vierzig Jahre mit unbedingter Notwendigkeit jene Gedanken
mächtig werden, in denen sich eine neue Weltanschauung vorbereitet. Diese
Entwicklung, die uns seit den siebziger Jahren aus einem Agrar- zu einem
Industriestaat machte und uns zu einem Massenvolke von 65 Millionen Menschen
werden ließ, brachte uns auf einen solchen Höhepunkt nationalen Wohlstandes,
daß heute unser Volksvermögen auf 400 Milliarden Mark geschätzt wird. Mit
dem wachsenden Reichtums sind über Nacht neue Generationen ans Licht
gekommen, die durch Arbeit und Beruf aus dem Schatten ihrer Existenz
emporgestiegen, sich die äußerlichen Lebensformen der gefestigten Kulturträger
aneigneten, ohne indes zu einer verinnerlichten Lebensanschauung vordringen
zu können.
So hat diese Hebung des allgemeinen Wohlstandes, die vornehmlich dem
Unternehmungsgeiste des deutschen Kaufmannes und der Energie technischer
Intelligenz zu danken ist, zweifellos zu einer höchst einseitigen Überschätzung
und Bevorzugung der rein materiellen Werte geführt, die dem Ausgange des
neunzehnten Jahrhunderts den Stempel aufgedrückt hat.
In diese Zeit fällt die Entstehung des Heimatschutzgedankens als Reaktion
gegen die rücksichtslose Auswirkung der materiellen Interessen in allen Fragen
des öffentlichen Lebens. Auf diesem Nährboden mußte die Heimatschutzbewegung
groß werden, die in der Erfassung ästhetischer, sozialpolitischer und ethischer
Probleme als Inkarnation jener Kultur des Gemüts aufzufassen ist, die, wie
wir sahen, als ein neuer Faktor in der staatsbürgerlichen Erziehung des Volkes
nicht nur innerhalb der Grenzen unseres deutschen Vaterlandes gewertet zu
werden beginnt.
Um zu zeigen, wieviel Positives in diesen Gedanken und Anschauungen
liegt, mit denen der Heimatschutz für seine Ideen wirkt, sind mit gutem Grunde
zuerst diese Zusammenhänge der Heimatschutzbewegung mit den großen
ethischen Fragen der Zeit gestreift worden. Vor allem aber sollen durch den
Hinweis auf die von der staatsbürgerlichen Erziehung zur Heimatschutzbewegung
hinüberleitenden Gedanken alle diejenigen dem Kerne dieser Ideen nahegebracht
werden, die rein äußerlich in dieser Kulturbewegung nichts weiter sehen als
die romantische Modeschwärmerei von Schöngeistern, deren Neigung zu anti¬
quarischer Konservierung überlebter Formen nur der vorwärts drängenden
Entwicklung alles Lebens hinderlich sein will.
Vielleicht ist die öffentliche Meinung in solchen verkehrten Anschauungen
bestärkt worden durch die Art, wie von manchen übereifriger Verfechtern der
Heimatschutzsache das ästhetische Moment zu äußerlich in den Vordergrund des
Kampfes für die Erhaltung der kulturellen Güter unseres Volkes gestellt worden
ist. Anderseits barg auch die Verbreitung des Heimatschutzgedankens in weite
Schichten des Volkes die Gefahr in sich, auf die Grundzüge dieser Kultur-
bewegung verflachend einzuwirken und ihre wahren Ziele zu verwischen. Denn
es geschieht häufig, daß an sich vorzügliche Ideen von einzelnen mit einer
solchen Leidenschaft aufgegriffen werden, daß sie durch eine einseitige, die
aktuellsten Fragen des öffentlichen Lebens übergehende Propagierung bald
Widerstand finden und in ihrer Stoßkraft gehemmt werden. Deshalb muß
auch immer wieder auf die Grundgedanken hingewiesen werden, die der Berliner
Musikprofessor Or. Ernst Rudorff im Jahre 1880 aussprach, als er in einem
Aufsatze über „das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur"*) die Heimat-
schutzbewegung einleitete. Er zeigt darin, wie der Konflikt zwischen den realen
und idealen Interessen ausgeglichen werden kann, und wie nur ein Ausgleich
dieser Interessen dazu führen kann, unsere Kultur zu vereinheitlichen. Im
Schillerschen Geiste hofft er, daß uns diese Kultur auf dem Wege der Vernunft
und der Freiheit zur Natur zurückführe. Hchon damals aber hat er die Ge¬
sichtspunkte ästhetischer, ethischer und vor allem auch sozialpolitisch-wirtschaftlicher
Natur hervorgehoben, die heute noch die wesentlichen Merkmale dieser Kultur¬
bewegung sind.
Freilich ein Hauptziel wird der Heimatschutz in der Verfolgung schönheit¬
licher Fragen immer sehen müssen, um der Entstellung des Landschaftsbildes
durch den Schutz der Natur und Baudenkmäler entgegenzuwirken. Aber dieses
ästhetische Ziel kann niemals Selbstzweck sein, weil man bei der Erhaltung eines
gefährdeten Landschaftsbildes stets auch der Bedeutung wirtschaftlicher Fragen
gebührenden Einfluß einräumen wird. Hier beginnt die Rolle, die dem Heimat¬
schutz als dem Förderer der staatsbürgerlichen Erziehung des Volkes zukommt.
In seinen Bestrebungen, die geschichtlich gewordene und natürliche Eigenart des
Landschaftsbildes zu schützen, ist er auf die Mithilfe aller Einsichtigen an¬
gewiesen, die in der gegenseitigen Achtung von Bürger zu Staat und von Bürger
zu Bürger das Ziel dieser Erziehung sehen. So scheint sich der Heimatschutz
am reinsten auswirken zu können, wenn man ihn — was er letzten Endes auch
ist — als eine Forderung des Gemeinsinnes auffaßt, als eine Frage, die jeder¬
mann lui Staatswesen in gleicher Weise angeht, weil die Gesamtheit in der
richtigen Bewertung seiner Ziele nur gewinnen kann. Diese Betätigung des
Gemeinsinnes wird sich dann, wenn der Heimatschutzgedanke Allgemeingut
geworden ist, darin beweisen, daß er von der höheren Warte eines verfeinerten
Kulturempfindens die Interessen der Allgemeinheit prüft. Schon jetzt hat sich
durch künstlerische Beeinflussung in vielen Fällen gezeigt, wie ein für eine land¬
schaftlich bevorzugte Gegend bestimmter Nutzbau eine alle Teile befriedigende
Lösung unter gleichzeitiger Berücksichtigung der materiellen und ideellen Interessen
gefunden hat. Dieselben Rücksichten gegen die Allgemeinheit wird man fordern
müssen bei allen Fragen, die — wie die Stadterweiterungen, Anlage von Über-
landzentralen, Reinhaltung von Flüssen und Bächen von den Schmutzwässern
der Industrie und ähnliches — über den Rahmen eines Einzelbedürfnisses
hinausgehen. Kaum je wird in diesen Dingen das rechte Gefühl für das
Gemeinwohl versagen, wenn in jeden: einzelnen das Verantwortlichkeitsbewußtsein
für den gewachsenen und überlieferten Boden der Heimat gestärkt wird.
Hier kann uns das Vorbild unserer englischen Vettern dienlich sein, deren
ausgesprochener Gemeinsinn, erzeugt und befestigt durch eine in Jahrhunderten
sich ungestört aufbauende Kultur, nicht nur in allen Fragen des innerpolitischen
Lebens, sondern auch in der Pietät vor den Denkmälern der Vergangenheit,
wie in dem innigen Verhältnisse zur Natur zum Ausdruck kommt.
Wenn der einzelne aus den? Verkehre und dem Vorbilde verfeinerter
Menschen die alltäglichen Lebensformen sich ohne Mühe aneignet, so wird die
Sehnsucht nach den tieferen Fragen des Lebens nur langsam durch aufklärendes
Beispiel in ihm geweckt werden können. Hier hat der Einfluß aller derer ein¬
zusetzen, die gelernt haben, mit offenen Augen die Schönheiten der überlieferten
Kulturwerke zu erfassen, um sie mit freiem Blick für die neuen Aufgaben unserer
Zeit dem Neuzuschaffenden aufzuprägen. Darin liegt die tiefe erziehliche Wirkung
des Heimatschutzes, daß er systematische Aufklärungsarbeit leistet und hierdurch
auf die Gesetzgebung und Verwaltung namentlich nach der volkswirtschaftlichen
Seite hin befruchtend einwirkt. Um diese Aufklärungsarbeit in die Praxis um¬
zusetzen, hat der Heimatschutz durch Schaffung von Beratungsstellen zuerst die
Hebel zu einer Besserung der Auswüchse im Bauwesen eingesetzt, da sich hierin
das wirtschaftliche und kulturelle Leben des Volkes am unmittelbarsten wieder¬
spiegelt.
Mit der Nutzbarmachung der Bauberatung für die Zwecke der städtischen
und staatlichen Baupolizeigeschäfte ist den: Staatsorganismus ein sehr wichtiges
Mittel entstanden, um auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens verbessernd
und fördernd einzugreifen. In Sachsen ist dieser Einfluß der Baupolizeibehörden
im Sinne dieser Bestrebungen ganz allgemein und schon jetzt in seinen günstigen
Wirkungen überall fühlbar. Er erstreckt sich auf die Beurteilung von Bau¬
planungen wie auf die Ausgestaltung von Bebauungsplänen nach den Grund¬
sätzen des modernen Städtebaues. Daneben ist dieser Einfluß am Werk, das
Bauordnungswesen von dem Ballast veralteter Bestimmungen zu befreien und
es den Heimatschutzbestrebungen durch die Aufnahme erleichternder Vorschriften
für die modernen Siedlungsformen sinngemäß anzupassen. In diesem Wirken
vereinigt sich die künstlerische mit der wirtschaftlichen Tendenz, da das Ver¬
ständnis für zweckmäßiges Bauen durch den Hinweis auf die einfache selbst¬
verständliche Formenschönheit der überlieferten Bauweise geweckt wird. Überall
dort, wo ein durch klimatische Verhältnisse und besondere Lebensgewohnheiten
bedingter Wohnungstyp vorhanden ist, wird man die Beibehaltung der boden¬
ständigen ererbten Bauweise, natürlich unter Benutzung aller hygienischen und
technischen Fortschritte, fordern müssen. Freilich wird man sich darüber klar
sein, daß die Anwendung dieser Bauweise da ihre Grenzen findet, wo mit dem
Eindringen völlig veränderter Bedürfnisse — z. B. durch das Entstehen neuer
Industriezweige — auch neue Bautypen geschaffen werden oder wo sich durch
Einführung neuer Konstruktionsweisen — ich nenne nur Eisen und Eisenbeton —
mit notwendiger Konsequenz eine neuartige Formgebung herauskrystallisieren
muß. Für die richtige Bewertung dieser im Wechsel der Zeit fortschreitenden
Bedürfnisse möchte man dem Heimatschutz ewige Jugend wünschen, daß er nicht
im Schema erstarrt, sondern durch eine weitschauende Anpassung an die Förte-
rungen der Gegenwart, in einer künstlerischen Durchdringung der Zweckform
und in der Veredelung der neuen Konstruktionsstoffe lebendigen Ausdruck findet.
Jede Kultur muß der Ausdruck ihrer Zeit sein und jede Zeit fordert neue
Lebensbedingungen. So ist auch eine Umwertung gewisser ästhetischer Begriffe
verständlich, die insbesondere den modernen Werken des Eisen- und Eisenbeton¬
stils gegenüber zu einer Revision des Geschmacks geführt hat. Werke, wie die
Brooklyn-Brücke über den Hudson-River in New-Uork oder den Eiffelturm in
Paris verstehen wir jetzt in ihrer Selbstverständlichkeit, im Zweckgefüge ihrer
gewaltigen Gliedmaßen. Wir sehen auch im Ingenieurbau bewußt die schöne
Linie und empfinden ihn letzten Endes als geschlossenes Kunstwerk. So
würde auch der Gedanke der neuen Zeit und Kultur schlecht erfaßt sein,
wenn wir etwa einen modernen Fabrikbau in ein biedermeierisches Gewand
kleiden wollten. Zweckmäßigkeit und Wahrhaftigkeit sind die Grundlagen jener
Kunst, deren Entwicklung mit der des modernen Staatsgedankens das Ringen
nach ethischer Vertiefung und Vereinheitlichung gemein hat. Wir erstreben nicht
eine Kunst im Sinne des „I'art pour I'art", sondern eine völkische Kunst, die
aus der geistigen, kulturellen und staatsbürgerlichen Entwicklung des Volkes ihre
Kraft schöpft.
Als die Heimatsschutzbewegung einsetzte und Boden zu gewinnen begann,
war sie mehr eine Abwehr gegenüber den brutalsten Verunglimpfungen des
Landschaftsbildes, die der Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit, immer aber
dem Mangel einer vertieften Lebensanschauung des überwiegend größten Teiles
der Bevölkerung zu danken waren. Um diese Abwehr einiger zur positiven
Mitwirkung aller werden zu lassen, muß das Endziel sein, diese feinere Empfin¬
dung für die Forderungen der Natur gegenüber der Kultur zum geistigen Be¬
sitze jedes einzelnen zu machen. Wenn nun gesagt worden ist, die Heimat¬
schutzbewegung werde sich mit der Zeit von selbst erübrigen, weil sie —
einmal in die weitverzweigten Kanäle des Volksempfindens übergeleitet —
jedweden zum Hüter dieser Gedanken mache, so möchte demgegenüber betont
werden, daß der tiefere Sinn des Heimatschutzes in der vielgestaltigen Art, wie
uns ihn der hohe Geist Ernst Rudorffs vertraut gemacht hat, als Befruchter
der geistigen und wirtschaftlichen Strömungen des Volkes sich nie überleben
wird. Und zwar wird dieser Gedanke seine stärksten Triebe in dem Streben
unserer Zeit nach sozialem Ausgleich finden, das immer neue Möglichkeiten zur
Bethätigung erschließen wird. Die Wirkungen des Heimatschutzes für das tiefer
verstandene Gesamtgedeihen des Volkes auf sozialpolitischen Gebiete ist recht
eigentlich der Jungborn für die dauernde Berechtigung dieser Bewegung. Die
Natur wird immer das Allheilmittel sein, in dem die reinigenden und er¬
haltenden Mächte beschlossen sind, die — um mit den Worten Ernst Rudorffs
zu reden — dem Volksleben dienstbar gemacht, eine Menge sozialen Giftstoffes
nach und nach in der sich neubildenden Atmosphäre resorbieren werden. Dies
führt uns zu den Bestrebungen, deren Ziel ist, die in den Großstädten gedrängt
wohnende, vom Lande abgewanderte Bevölkerung „zurück aufs Land" in neuen
Zusammenhang mit der Natur zu bringen. Die Versuche, der Land- und Jn-
dustriearbeiterbevölkerung die Erwerbung von Kleinbesitz zu erleichtern, bilden
den großen Inhalt dieser Anschauungen. Staatliche und kommunale Organe
fangen an, im eigenen wohlverstandenen Interesse diesen Fragen erhöhte Auf¬
merksamkeit entgegenzubringen, da der große moralische Wert solches Klein¬
besitzes durch volkswirtschaftliche Untersuchungen erwiesen ist. Der Besitz der
eigenen Scholle stärkt im Volke das Gefühl für die Zugehörigkeit zum heimat¬
lichen Boden, das in der Vaterlandsliebe den hehrsten Ausdruck findet.
Wenn heute der Heimatschutz das Gebiet der Wohnungsfürsorge zu einer
seiner Hauptaufgaben gemacht hat, so liegt darin die Erfüllung einer wohlver¬
standenen Kulturmission von ungeahnten Perspektiven. Alle die Fragen aber,
die jetzt die öffentliche Meinung — Volksvertretungen und Presse — stärker und
dringender als andere sozialpolitische Maßnahmen beschäftigen: die innere Kolo¬
nisation, die Ordnung der Wohnungsverhältnisse durch Reichs- oder Landes¬
gesetzgebung, die Förderung des Kleinwohnungsbaues — alle diese Fragen
rühren an das, was schon vor dreißig Jahren durch Ernst Rudorff zu uns
gesprochen wurde, der dem Heimatschutze mit seinem literarischen Hauptwerke")
Ziel und Namen gegeben und ihn zu einem Kulturdokument zu wirklich erhabener
Größe gemacht hat.
Wenn wir rückblickend den Wert des Heimatschutzes für das moderne
Staatsleben in dem Maße seines Einflusses auf die Vertiefung des Volks¬
empfindens erkennen, so werden wir die Quelle seiner Lebenskraft und Lebens¬
fähigkeit in dem engen Anschluß an den Geist und die Forderungen der Zeit
suchen müssen; nicht weniger aber in dem treuen Festhalten an dem, was als
der Väter Erbe gut und bewährt in unsere Zeit hineinragt und besteht. Wir
sind heute schon ein gut Teil vorwärts gekommen. Der Heimatschutz hat sich
zu einer Macht im öffentlichen Leben entwickelt und ist in seinen vielgestaltigen
Auswirkungen aus der Struktur des heutigen Staatsgebildes nicht mehr weg¬
zudenken. Helfen wir die zu gewinnen, die jetzt noch lau und verärgert zur
Seite stehen, weil sie in dem vom ästhetischen Snob oft mißbrauchten Worte
Kultur nichts weiter als ein inhaltleeres Schlagwort sehen können. Suchen wir
den Einfluß dieser staatserhaltenden Gedanken immer mehr in unseren, Volke
zu stärken durch werdendes Wort und helfende Tat.
Die Insel Rügen ist ein in sich
abgeschlossenes dankbares Wandergebiet, von
einer Eigenart, die es den Weltschönheiten eben¬
bürtig zur Seite stellt. Die 1000 Quadrat¬
kilometer große Insel (fünfundfünfzigtausend
Einwohner) ist durch gewaltige geologische Vor¬
gänge der Urzeit, durch Faltung und Hebung
der Erdrinde, durch die Moräneschiebungen
der Eiszeit, durch furchtbare Sturmfluten bis
in die neueste Zeit, so zerrissen und zerstückt,
durchsetzt mit Bodden und Wicken, geteilt in
Halbinseln und Landzungen, daß jetzt kein
Punkt der Insel weiter als nur 7 Kilometer
von der See entfernt ist. Aus weizenschwerem
Humusboden, den Seedünste umspülen, hebt
sich dus Land nach Norden und Osten aus
absoluter fruchtgesegneter Ebene zu leichtem
Bergland, das dort jus in großartigen Kreide¬
klippen und riesigen goldenen Dünen hinab¬
stürzt ins Meer. Wo die Hebung anfängt
beginnt auch der Wald, der mit seinen grünen
Armen auch den Seestrand umfaßt, die Bade¬
orte einbettend in ein Meer von alten Eichen
und holzschweren Buchen, während grillige
sturmstrotzende Föhren und bizarre Kiefern
die flacheren Dünen beschatten.
Von den Höhepunkten, wie Jagdschloßturm
bei Binz, Ernst-Moritz-Arndtturm auf dem
Rugard bei Bergen, Hohen-Seelow bei Sa¬
gard, Nordpeerd bei Göhren, Bakenüerg bei
Thiessow bieten sich dem Auge Rundsichten,
wie sie nur das Meer und die Insel, nur
Rügen bieten kann. Sie zu beschreiben ist
ein vergebliches Beginnen. Mit Recht sagt
Galen: „daß die Schilderungen von Dichtern
doch niemals die Rügennatur in ihrer wunder¬
baren Majestät, Größe und Schönheit er¬
reichen können." Den Rundblicken gleich¬
wertig, die durch zahllose Fernblicke auf die
See von Felsenriffen, Kreideklippen und Dünen¬
hängen ergänzt werden, sind die Buchten der
Insel. Wenn z. B. ein schwedisches Bad sich
das nordische Binz nennt, das an der Prorer
Wiek liegt, so ist das ein Beweis, daß diese
eingereiht ist in die vorbildlichen Schönheiten
der Erde. Wenn Saßnitz von den Welt¬
reisenden als Amalfi bezeichnet, Binz schon
seit langen Jahren das nordische Sorrent und
die freundliche Fürstenresidenz Putbus von
den Gästen „das grüne Schatzkästlein" genannt
wird, so kann Rügen mit Stolz und Dank¬
barkeit gegen den Vater der Natur, seine
Schönheiten rühmen von Land zu Land. Die
weite Tromper Wiek zeigt, im Gegensatz zur
Prorer Wiek, die ruhigernste Schönheit der
nordischen Landschaft. Und wenn auf Arkona,
dem Nordkap Deutschlands, auch noch keine
Mitternachtssonne scheint, so breitet die All¬
mutter Natur doch über Land und See, über
Himmel und Wald, in Sage und Geschichte
einen Glanz aus, der des Dichters Sehnsucht
verstehen läßt.
Daß Rügen das alte Sagenland der
Deutschen ist, lernt schon jeder deutsche Schul¬
bube. Die tausend verträumten Hünengräber,
die uralten Ringwälle und Tempelstätten,
die Erdtrümmer des Swantewitheiligtums
auf Arkona und Carenzawalls bei Garz, der
gewaltige Opferstein bei Quoltitz führen das
jeden? Besucher in ehrfurchterweckender Weise
zu Gemüt, wenn auch der Herthasee, mit der
Sage von der blonden Göttin, nicht durch¬
weg von den Gelehrten als Götterverehrungs¬
stätte angesehen wird. Die Kreideformationen
des Seeufers, welche durch alljährliche Fels¬
stürze seltsame Versteinerungen und wunder¬
bare Gebilde des FeuersteinschwammeS über
den Strand ausschütten, die Riesensteinfind-
linge im ganzen Land, die erkennbaren Mo¬
ränen der Steinzeit, sie wecken auch im flüch¬
tigen Wanderer Ewigkeitsgedanken.
Aber auch der moderne Mensch findet,
was er haben will, in den herrlichen Bade¬
orten, die modernsten Zuschnitt aufweisen,
der um so eigenartiger anmutet, als die un¬
verfälschte Natur sich hier nicht hat unter¬
drücken lassen. Aus dem Glanz des elek¬
trischen Lichtes geht es unvermittelt in den
Dämmerschatten eines Waldes, der durch
Farrenvegetation und Stämmigkeit seiner
Baumriesen wie ein Urwald anmutet. Neben
dieser gefälligen Unkultur der berühmte
Schloßpark in Putbus, die Gartenkulturen
der Schlösser Dwasieden, Ralswiek, Panse-
vitz, und das historisch merkwürdige Spuk¬
schloß Spyker mit dem Enthauptungs¬
zimmer. Rügeuland hat aber auch seine
Bedeutung in der Geschichte, davon zeugen
die ragenden Denkmäler Friedrich Wilhelms
des Ersten bei Groß-Stresow und des
Großen Kurfürsten bei Neukamp, der Bis-
marckstein in Putbus. Rügen ist das Ge¬
burtsland Ernst Moritz Arndts und des be¬
rühmten Wiener Professors Billroth.
Rügen ist in Summa ein interessantes
Land, ein Land der Gegensätze, ein Land,
das sich ohne Selbstüberhebung den Globe¬
trotter-Verkehrsgebieten anreihen läßt, und
der Besuch seiner prächtig gelegenen Bade¬
orte, vor allem Binz, Saßnitz, Selim und
Göhren, aber auch der kleineren, wie etwa
Baabe, Thiessow, Lohne usw., die von Jahr
zu Jahr größeren Aufschwung nehmen, lohnt
um so mehr, als die deutsche Flotte in Rügen
ein Manöverzentrum hat, welches das herz¬
liche patriotische Interesse aller Deutschen
und die Schaulust ausländischer Besucher
weckt, die hier die stolzen Schiffe manövrieren und
oft wochenlang vor Anker liegend sehen können.
Durch die neuesten Wcltrouten Berlin—
Köln —Hamburg—Stockholm — Kopenhagen
ist Rügen der Mittelpunkt des Nordlands¬
verkehrs, und als solcher eine Etappe für
Weltreisende und Erholungsuchende.
Mit über 100 Abbildungen und zwei Karten.
Leipzig, F. A. Brockhaus. M. 10.— geht.
Grönland d. h. grünes Land nannte Erik
der Rote, der um 986 das schon 100 Jahre
früher von isländischen Seefahrern entdeckte
Land besiedeln wollte, die größte Insel der
Erde. Der Jnselcharakter Grönlands ist
allerdings erst über 900 Jahre später
zweifelsfrei festgestellt worden, solange setzte
der ungeheure Eispanzer dem menschlichen
Forschungseifer ein gebieterisches Halt ent¬
gegen. Große Opfer mußten und müssen
noch immer gebracht werden, um demi ewigen
Eise seine Geheimnisse entreißen zu können,
wie erst kürzlich wieder das Schicksal der
Scottschen Südpolexpedition lehrte. Während
sich dort im Süden die Tragödie zuspitzte
und der Weiße Tod eine grimmige Ernte
hielt, gelang es in: Norden eine fast auf¬
gegebene Expedition zu einem glücklicheren
Abschluß zu bringen.
Der dänische Kapitän Mikkelsen zog im
Sommer 1909 auf einem winzigen Schiffe
mit sechs Teilnehmern aus, um an der Nord-
Ostküste Grönlands Nachforschungen nacki den
hinterlassenen Aufzeichnungen der verunglückten
Mylius-Erlassen-ExPedition anzustellen. Nach
Überwinterung auf der Shannon-Insel legte
Mikkelsen mit nur einem Begleiter über
2000 Kilometer auf dem fast unwegsamen
Inlandeis zurück, untersuchte vom Danmark-
Fjord an der Nordost-Rundung bis zur
Shannon-Insel die ganze grönländische Ost¬
küste, überall nach Spuren Mulus-Erichsens
forschend, um schließlich sein eigenes Schiff
von der Mannschaft verlassen als hilfloses
Wrack wiederzufinden. Ohne Hunde — die
mitgenommenen hatten sämtlich ihr Leben
auf dem großen Zuge lassen müssen — war
an ein Aufsuchen bewohnter Stätten nicht zu
denken. Nur einige Tage Dampferfahrt von
Norwegens Küste entfernt mußte Mikkelsen
zwei Jahre warten, bis endlich die kaum
noch erhoffte Erlösung kam.
Die ganz hervorragende Reise und das
spätere zweimalige Überwintern lassen in
Mikkelsen eine außerordentliche geistige Spann¬
kraft erkennen, und eine solche ist auch nötig,
um nicht den Schrecken der unheimlichen,
schweigenden, langen Winternacht zu erliegen.
Man muß die Schilderungen Mikkelsens ge¬
lesen haben, um zu begreifen, was ein langer,
einsamer Aufenthalt in der Polarregion zu
bedeuten hat. So anziehend das behandelte
Gebiet an sich schon ist, der Wert des Präch¬
tigen Buches liegt nicht zum wenigsten auch
in der Art der Darstellung. Flott und an¬
regend geschrieben durchzieht das Werk ein
sonniger Humor, der ein versöhnendes Licht
auch über die weniger erfreulichen Ereignisse
I. Zenneck, „Lehrbuch der drahtlosen
Telegraphie." Zweite Auflage. (Suttgart,
Verlag von F. Ente. 1913.) 621 S. Preis
1ö M, H. Thuvn, „Die Funkentelegraphie."
Zweite Auflage. 1913. (Teubner: „Aus Natur
und Geisteswelt." Band 167.) 128 S. Preis
geb. 1,25 M.
Nachdem H. Hertz und andere Forscher
die Erzeugung elektrischer Wellen gelehrt und
ihre Eigenschaften klargestellt hatten, lag der
Gedanke einer technischen Verwertung der
elektrischen Wellen zur telegraphischen Zeichen¬
übermittlung nicht fern. Eine solche Über¬
mittlung ist tatsächlich von vielen Physikern
und Technikern versucht worden. Der erste,
dem es gelang, auf diese Weise größere
Strecken zu überbrücken, war bekanntlich der
Italiener Marconi. Er begann seine Versuche
auf dem Landgute seines Vaters bei Bologna,
angeregt durch die Borlesungen Professor
Righis an der Universität Bologna. Das
geschah im Jahre 1897. Seitdem hat der
neue Zweig der Elektrotechnik manchen Schritt
vorwärts getan und durch gründliche Studien
zahlreicher Forscher — nicht zuletzt auch
deutscher Physiker — nie geahnte Erfolge
errungen.
Wer sich über den gegenwärtigen Stand
der drahtlosen Telegraphie unterrichten will,
der greife zu Zennecks Buch. Aus dem Leit¬
faden (erste Auflage) ist in der zweiten Auf¬
lage ein Lehrbuch geworden, das über alle
technischen Fragen der drahtlosen Telegraphie
Auskunft gibt.
Zunächst werden die Schwingungsvorgänge
in einem geschlossenen Kondensatorkreis unter¬
sucht, dann in einem offenen. Wir lernen
ferner die verschiedenen Methoden der Er¬
zeugung ungedämpfter Schwingungen kennen
und ihre außerordentlich große Bedeutung für
die Praxis. Doch nicht genug damit, daß
man die Schwingungen erzeugt, man muß
sie an der Empfangsstation auch nachweisen
können. Dazu dienen die Wellenanzeigor oder
Detektoren, denen ein besonderes Kapitel ge¬
widmet ist. Natürlich wird auch des ebenso
wichtigen wie interessanten Problems der
gerichteten Telegraphie ohne Draht gedacht,
von dessen Lösung man außer einer besseren
Energieausnutzung einen Fortschritt in der
Geheimhalmng der Telegramme und die
Möglichkeit eines ungestörten Neben ein ein der-
arbeitens mehrerer Stationen erwartet. Wie¬
weit die Versuche der Sprachübertragung
durch elektromagnetische Wellen, also eine
drahtlose Telephonie, gediehen sind, wird in
einem Schlußkapitel auseinandergesetzt.
Zennecks Buch ist nicht für Laien, sondern
für Physikalisch Borgebildete geschrieben. Die
theoretischen Ergänzungen befinden sich in
eineni Anhang, so daß sie den Nichtmathema-
tiker bei der Lektüre nicht stören. Erwähnt
sei noch, daß zahlreiche gute Abbildungen und
Skizzen zum Verständnis des Inhaltes bei¬
tragen.
Eine andere Aufgabe hat sich H Thurn
in seinem Büchlein gestellt. Ihm kommt es
in erster Linie darauf an, die Verwendung
der Funkentelegraphie zu zeigen und ihren
Einfluß auf das Verkehrsleben darzustellen.
Seine Ausführungen hierüber sind interessant
zu lesen und bringen jedem, der außerhalb
der Praxis steht, viel Neues. Die furcht¬
baren Ereignisse beim Untergang der „Titanic"
sind uns allen noch in Erinnerung, auch die
guten Dienste, welche die Funkentelegraphie
damals leistete. Und was hätte sie noch
leisten können, wenn alle Dampfer, die sich
in Reichweite befanden, Funkenstationen an
Bord gehabt hätten I Thurn behandelt ein¬
gehend die Funkentelegraphie im Seeverkehr
und zeigt an Beispielen ihre Wichtigkeit.
Auch ihre Bedeutung für die Luftschiffahrt,
für den Zeitsignaldienst, für den Wetterdienst
und für den Kriegsfall wird erörtert. Wie
sich das nationale und das internationale
Recht mit der drahtlosen Telegraphie befaßte,
erfahren wir ebenfalls. In diesen Ausfüh¬
rungen beruht der Wert des Büchleins, das
deshalb als Ergänzung zu jeden? Lehrbuch
der Funkentelegraphie dienen kann.
Die Abschnitte über die Theorie der
elektrischen Vorgänge und über die in der
Praxis angewandten Apparate sind sehr knapp.
Der Verfasser entschuldigt das mit dem eng¬
begrenzten Raum. Mit solchen Ausführungen,
die häufig nur Aufzählungen sind, ist weder
dem Laien gedient, der ihnen ja gar nicht
folgen kann, noch dein Physikalisch Vorgebil¬
deten, der kein richtiges und vollständiges
Bild von der Funkentelegraphie erhält. Leider
sind die Abbildungen in einigen Fällen (z. B.
S. 34, 35, 39) so schlecht, daß sie nicht viel
zum Verständnis beitragen. Auf S, 16 ist
von der ersten Auflage her ein Druckfehler
im Namen des Professors Reuleaux stehen ge¬
blieben; auf S. 66 sind die Schwingungs-
knrven der Vokale in einer falschen Reihen¬
folge wiedergegeben.
Drittes Jahres-Supplement 1911/1912
zu Meyers Großem Konversations-Lexikon.
K. Aufl. (Bibliographisches Institut, Leipzig.)
Die Leser der Grenzboten auf das Er¬
scheinen der Ergänzungsbände zu Meyers
Konversations-Lexikon aufmerksam zu machen,
ist uns von jeher eine angenehme Pflicht ge¬
wesen. Diese stattlichen, überaus reich illu¬
strierten Bände haben eine selbständige Be¬
deutung als übersichtlich geordnete, durchaus
zuverlässige Chroniken deS letztvergangenen
Jahres, Chroniken, die nicht nur alle wich¬
tigeren geschichtlichen Ereignisse berücksichtigen,
sondern auch einen Überblick über die wirt¬
schaftliche Entwicklung der Kulturstaaten, über
die Fortschritte auf den Gebieten der Technik,
des Bau- und Jngenieurwesens, der Lcmd-
und Forstwirtschaft, des Heerwesens und der
Marine und über die neuesten Errungen¬
schaften von Wissenschaft und Kunst bieten.
Um einen Begriff von der Reichhaltigkeit des
mit siebenundneunzig, zum Teil farbig aus¬
geführten Tafeln, sechs Karten, acht Stadt-
Plänen (von Groß-Berlin Südwest und Südost,
Darmstadt, Gelsenkirchen, Mülhausen im Elsaß,
Mülheim an der Ruhr, Plauen und Saar¬
brücken), zehn Textbeilngen und mehreren
hundert Textabbildungen ausgestatteten neuen
Bandes zu geben, wollen wir nur eine An¬
zahl der wichtigsten Artikel herausgreifen.
Von größeren Beiträgen zur Länderkunde
seien genannt: Argentinische Republik, Asien
(Forschungsreisen), Belgien, Brasilien, China,
Deutsches Reich und dessen Kolonien, Frank¬
reich, Großbritannien, Japan, Marrokko,
Osterreich, Persien, Rußland, Skandinavien
(mit farbiger geologischer Karte) und Tür¬
kisches Reich. Die Volkswirtschaft ist ver¬
treten durch ausführliche Arbeiten über Aus¬
stellungen, Auswanderung, Bevölkerungsbe¬
wegung, Seefische des Marktes (mit 2 Tafeln),
Kapitalismus, Kriegswirtschaft und Volks¬
wirtschaftslehre (mit 2 Porträttafeln), die
Technik durch Artikel über Bahnhöfe (in. 6 T.),
Bindungen in der Weberei, Buchbinderei¬
maschinen (in. 2 T.), Dampfschiffe und Dampf¬
schiffahrt, Drahtlose Telegraphie (in. 2 T.),
EinWickel- und Verpackmaschinen, Elektrische
Eisenbahnen (in. 2 T.), Geschütze (in. 2 T).
Jagdgewehre (in. 2 T.), Kautschukverarbeitung
(in. 2 T), Kinematographie (in. 2 T.), Land¬
wirtschaftliche Maschinen (in. 2 T.), Luftfahrt,
Mühlen (in. 2 T.), Nadelfabrikation (in. 2 T),
Schiffsmaschinen, Schnellpressen, Schreibma¬
schinen (in. 2 T.), Verbrennungsmaschinen
(in. 4 T.) und Zementfabrikation (in. 2 T).
Aus dem Bereiche der Naturwissenschaften im
weitesten Sinne heben wir hervor die Ar¬
tikel: Chemische Analyse (in. 1 T.), Anatomie
(in. 1 Porträttafel), Anthropologie, Astronomie
(in. 1 Porträttafel), Brutpflege, Haarkleid des
Menschen, Hautfärbung, Hygiene, Keim¬
pflanzen (in. 2 T), Schädlinge der kolonialen
Kulturpflanzen (in. 1 farb. T.), Maul- und
Klauenseuche, Medizin (in. 2 Porträttafeln),
Meteorologie im. 2 Porträttafeln), Natur¬
denkmäler, Nutzhölzer liefernde Pflanzen
(in. 2 T.), Stammesgeschichte der Pflanzen
(in. 4 T.), Pflnnzenbewegungen (in 1 T.),
Physikalische Instrumente und Methoden,
Physiologie (ni. 1 Porträttafel), Plankton,
Wasserbewegung in den Pflanzen, Stammes¬
geschichte der Wirbeltiere (in. 4 T.) und
Zoologische Gärten der Gegenwart. Von
kunstgeschichtlichen Beiträgen sind zu erwähnen:
Bilderrahmen (in. 2 T.), Chinesische Kunst
(in. 3 T,), Denkmalpflege (in, 2 T,), Japanische
Kunst (in. 4T.), Volkskunst (ni. 5 T., darunter
1 farb.) und Wandteppiche (in. 2 farb. T,);
von kulturgeschichtlichen und solchen, die sich
nicht unter eines der genannten Gebiete ru¬
brizieren lassen, die Artikel über Alpenstraßen,
Kirchengeschichtliche Forschung, Kirchenwesen
in Deutschland, Palethnologie und Musik der
Naturvölker (in. 1 T. und 2 Seiten Noten¬
beispiele).
So repräsentiert sich auch dieser neue
Band wieder als eine reiche Fundgrube des
Wissens, als ein zuverlässiger Berater und
vor allem auch als ein schönes Zeugnis für
deutschen Fleiß und deutsche Gründlichkeit.
Möge er dazu beitragen, dem unvergleich¬
lichen Werke viele neue Freunde zu erwerben I
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet.
TermüworMch: der Herausgeber Georg« Cleinow in Berlin-Schöneberg. — ManusKiptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
Nu den Herausgeber der Grenzbotrn i« «erim-Friede»«», Hedwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Uhland 8SS0, de» Verlag«: Amt Lühow «610.
Verlag: Verlag der «SrenzSoten «. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: „Der ReichSSote" «S. in. S. H. in Berlin SV/. 11. Dessauer Strasze g«/S7.
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cZsAi-ünclst 1300. (Zssi-ünclet 1SV0.
Die nachstehenden Ausführungen werden als interessante Anregung und
weil sie den Auffassungen weiter gebildeter Kreise entsprechen, veröffent¬
licht; daß die Grenzboten in wesentlichen Punkten andere Ansichten
vertreten, ist meinen Lesern, besonders aus unserer Haltung in der
G. Li, Marokkofrage, bekannt.
örterung
Aufsatzeser Aufsatz des Herrn von Dirksen: „Grundlagen des Imperia¬
lismus" (Ur. 19 der Grenzboten 1913) hat sicher das Verdienst,
die weiteren, theoretischen Verzweigungen einer außerordentlich
wichtigen praktischen Frage dem Leser nahegebracht zu haben,
wenn er auch der — unvermeidlichen — Gefahr, bei der Er-
fo umfassender wissenschaftlicher Fragen im Rahmen eines kurzen
nicht ganz entgangen zu sein scheint: weder die wissenschaftliche Seite
der Frage ganz erschöpft zu haben, noch den Leser von den praktischen aktuellen
Ergebnissen ganz überzeugt zu haben. Es wäre wünschenswert gewesen, daß
der Verfasser sich nicht damit begnügt hätte, eine theoretisch einwandfreie Be¬
gründung des Imperialismus zu geben, sondern daß er uns auch seine Ge¬
danken über ihre praktische Verwendbarkeit für den Deutschen mitgeteilt hätte.
Wenn wirklich der Imperialismus eine innere Notwendigkeit für alle
kräftigen Völker der Gegenwart ist, wie steht es dann mit dem deutschen
Imperialismus? Wie kann Deutschland daran teilnehmen?
Das sind Fragen, noch brennender, noch unabweisbarer, als eine korrekte
Aufstellung einer imperialistischen Theorie. Auf ihre Beantwortung möchte ich
hindeuten, so weit es bei diesem in jeder Beziehung schwierigen Thema
möglich ist.
Es ist in der Tat heilet, heute über deutschen Imperialismus zu schreiben,
also die Wege zu einer kraftvollen deutschen auswärtigen Politik zu weisen —
heute, wo man sich von offizieller Seite her nicht genug tun kann in ernst-
gemeinten Beteuerungen, daß Deutschland hier und dort „desinteressiert" sei,
daß seine Interessen mit denen anderer Mächte nicht kollidierten. Schließlich
beschränkt sich ja die auswärtige Politik Deutschlands — wenn man aufrichtig
sein will — darauf, allgemeine Handelsinteressen zu betonen und hin und
wieder die energische Erklärung abzugeben, daß die Verletzung „vitaler" deutscher
Interessen nicht ungerächt bleiben würde. Indessen: was ist vital? Was
Verletzung deutscher Interessen?
Diese Friedfertigkeit ist bereits so weit in Deutschland eingezogen, daß
man mit dem Aussprechen einer Selbstverständlichkeit, wie dieser: daß Deutsch¬
land in Anatolien Interessen habe, deren Verletzung es nicht dulden könne,
als starker Mann gefeiert werden kann.
Noch mehr Schaden, als die Feinde einer deutschen imperialistischen Politik
richten ihre Freunde an, die Deutschland wahllos an jedem nur denkbaren
Punkt der Erde festsetzen möchten. Sie erreichen mit solcher treudeutschen
Offenheit und Planlosigkeit nur das eine, daß der unbegründete Argwohn
anderer Staaten Nahrung erhält.
So ist die Behauptung nicht übertrieben, daß eine Erörterung über
deutschen Imperialismus, d. h. also über eine kräftige, stetige, wachsende Wahr¬
nehmung deutscher Interessen, über eine starke, kraftvolle, auswärtige Politik
auf nur sehr, sehr wenig Verständnis rechnen kann, zumal der politische Takt
die freie Erörterung aller Möglichkeiten verbietet.
Indem ich also den Beweis für das Vorhandensein der theoretischen Vor¬
bedingungen für einen deutschen Imperialismus als durch die Dirksenschen Aus¬
führungen erbracht annehme, will ich versuchen, auf ihre praktische Ausführbar¬
keit hinzudeuten.
Da ist zunächst ein Einwand aus dem Wege zu räumen: Deutschland sei
zu spät gekommen für einen deutschen Imperialismus; die Welt sei schon ver¬
geben. Dieser so oft gehörte Einwurf widerlegt sich am besten durch den Hin¬
weis auf die Entwicklung Englands oder anderer imperialistischer Nationen im
letzten Jahrzehnt. Wieviel Zuwachs haben sie nicht in diesen Jahren erhalten!
Wieviele Länder, die durch eigene Kraft oder durch ein internationales ^toll
me tanZers fremdem Zugriff entrückt zu sein schienen, sind nicht annektiert,
assimiliert worden! In der Tat: auch heute noch werden soviele abgelegene
Länder allein durch die modernen Verkehrsmittel in den Bereich der auswärtigen
Politik gebracht, entgleitet soviel Land den Händen müde gewordener Nationen,
daß der Einwand, die Welt sei schon vergeben, nicht durchgreift. Immer
wieder bietet das ewige Werden und Vergehen der Geschichte dem Starken die
Gelegenheit, seine Stärke zu vergrößern. Nur dann könnte man sagen, Deutsch¬
land komme zu spät, wenn ihm die inneren Voraussetzungen für eine imperia¬
listische Politik abhanden gekommen wäre, wenn ihm die innere Kraft fehlte,
der Wille zur starken Weiterentwicklung, nur dann könnte man mit Recht sagen:
Deutschland ist zu spät gekommen. Aber zu so trüben Schlußfolgerungen liegt
kein Grund vor. Zwar hat eine unglückliche äußere Geschichte Deutschlands
Entwicklung verzögert, zwar hat eine nationale Einigung erst spät seine gesamten
Kräfte zusammengefaßt, aber noch zeigt es nicht die Spuren nationaler Er¬
schlaffung und Kraftlosigkeit. Wenn es den Willen hätte für eine imperialistische
Politik — die Kraft dazu hat es.
Die Vorbedingung für einen erfolgreichen deutschen Imperialismus ist die
organische Fortentwicklung deutschen Einflusses und deutscher Macht. Nichts
wäre falscher, als etwa aus überstürzter Habgier jedes Fleckchen Erde, das
irgendwo frei würde, sich anzueignen, vielleicht nur aus dem Grunde, weil
keine andere Macht widerspricht. Ein solches Verstreuen deutscher Besitzungen
über die Erde müßte gerade den entgegengesetzten Erfolg haben, den eine
imperialistische Politik erzielen will. Statt Deutschlands Macht zu stärken,
würde sie durch eine solche Schaffung von neuen Angriffspunkten nur geschwächt
werden. Nur aus diesem Grunde verdienten die Stimmen, die im Sommer 1911
eine territoriale Beteiligung Deutschlands an Marokko forderten, eine so scharfe
Zurückweisung. Daß sie einer Vermehrung französischen Einflusses auf Kosten
des deutschen widerstrebten, daß sie eine starke deutsche Politik forderten, war
eine richtige und patriotische Idee. Daß sie Marokko haben wollten, obwohl
dieses Land in keinen inneren oder äußeren Zusammenhang mit Deutschland
gebracht werden konnte, war eine Torheit.
Eine organische Fortentwicklung Deutschlands hat zur Voraussetzung, daß
sie erfolgt im Einklang mit den natürlichen und geschichtlichen Vorbedingungen.
Die charakteristische Eigenschaft Deutschlands ist aber die, daß es eine mittel¬
europäische Großmacht ist. Es ist keine Insel, wie England, die, des
Grenzschutzes überhoben, seine Kraft auf überseeische Unternehmungen verwenden
könnte; es ist kein schwer erreichbarer Kontinent, wie Amerika, der unbekümmert
seine eigene Politik betreiben könnte; es ist keine Mittelmeermacht, wie Frank¬
reich, das die Herrschaft über das Mittelmeer erstreben könnte. Deutschland
hat lange, bedrohte Grenzen, auf deren Schutz es die nötige Kraft, das nötige
Geld verwenden muß. Deutschland liegt im Zentrum von Europa; so muß es
seinen Einfluß vor allem hier behaupten und stärken. Deutschland hat eine
schmale Küste an der Nordsee; so muß es sich die Verteidigung dieser Küste,
die Aktionsfreiheit auf diesem Meere sichern. Es hat die größte Küste von
allen Anliegern an der Ostsee; so muß es sich hier einen beherrschenden Einfluß
sichern oder erwerben.
Das also ist das eine grundlegende Prinzip für eine deutsche imperia¬
listische Politik: Stärkung und Festigung der Stellung Deutschlands als mittel¬
europäischer Großmacht. Daraus folgt, daß es seine nächste, unabweisbare
Pflicht ist, diese Aufgabe zu lösen. Daraus folgt weiter, daß es sich auf eine
überseeische Politik nur in einem Maße einlassen kann, das der Stärke seiner
mitteleuropäischen Stellung entspricht. Auch hier ist die Fixierung einer ab¬
soluten Norm unmöglich. Wenn Deutschlands mitteleuropäische Stellung sich
'
stärkt, wenn Gegner, die es bedrohten, fortgefallen oder überflügelt sind, wird
es in demselben Maße seine auswärtige Aktion steigern können und umgekehrt.
Die Frage, ob Deutschland seine überseeischen Engagements überhaupt
verstärken soll, beantwortet sich aus der Betrachtung der allgemeinen imperia¬
listischen Grundsätze, wie sie Dirksen aufgestellt hat, und aus der speziellen
Betrachtung der Eigenschaften Deutschlands. Der Erwerb von Pflanzungs¬
und Siedlungskolonien, die das Mutterland in seinem Rohstoffbezug unab¬
hängiger machen, die dem Menschenüberschuß Gelegenheit zur Siedlung und
zum Gelderwerb, dem Kapitalüberschuß Anlagegelegenheit geben, ist eine der
wesentlichen Eigenschaften imperialistischer Politik. Deutschland mit seinem
starken Überschuß an Menschen und Kapital, mit seiner hochentwickelten Industrie,
bedarf solcher ausländischen Gebiete zu seiner Ergänzung in ganz besonders
hohem Maße. Deutschland hat also auch nach dieser Richtung hin zu einer im¬
perialistischen Politik das größte Recht — wenn man bei Lebensnotwendigkeiten
des Staates nach Recht und Unrecht fragen will.
Die Grundzüge für eine deutsche imperialistische Politik würden also sein:
Festigung und Erweiterung seiner Stellung als mitteleuropäische Großmacht
und Neuerwerbung überseeischer Gebiete.
Man wird nun einwenden, daß auch dies alles nur theoretische Aus¬
führungen feien und wird ihre Übertragung in die Praxis fordern und wird
fragen: welches sind nun die überseeischen Gebiete, die Deutschland erwerben
soll? Wie ist es möglich, daß Deutschland seine mitteleuropäische Stellung
stärken und erweitern soll, ohne sich noch mehr mit nationalen Fremdkörpern
zu infizieren? Wenn ich nun diese Frage mit einem: „Das weiß ich nicht"
beantworte, so wird man mir nicht vorwerfen können, daß ich Steine statt
Brot gegeben habe, daß ich ein blasser Theoretiker sei. Denn der Staats¬
mann, der eine imperialistische Politik Deutschlands in die Tat umsetzen will,
kann nicht im voraus ein bestimmtes Programm entwerfen, kann nicht im voraus
bestimmen, in welchem Jahre er dieses Gebiet erwerben will, in welchen: jenes.
Es muß genügen, daß er folgerichtig nach den Grundlinien eines bestimmten
Planes handelt. Wann er handeln muß, wie er handeln muß, das entwickelt
sich aus dem Lauf der Begebenheiten, den zu bestimmen in keines Menschen
Macht liegt. So bleibt also alles Reden darüber, wo Deutschland anfangen
sollte und mit welchen Mitteln es seine Ziele erreichen solle, nur müßiges
Bierbankpolitisieren.
Daher läßt sich auf die grundlegende, praktische Frage, womit Deutschland
seine imperialistische Politik nun beginnen müsse, ob mit dem Erwerb über¬
seeischer Kolonien oder mit der Stärkung seiner europäischen Stellung, keine
bestimmte Antwort geben. Es wäre wohl denkbar, daß ein weiteres Vor¬
drängen Rußlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung führte; dann
wäre der Gedanke wohl erwähnenswert, das alte deutsche Siedlungsland, das
dem Deutschtum von Jahr zu Jahr mehr verloren geht, ihm wieder zu ge-
wirren und dort die Kolonisationsarbeit fortzusetzen, die vor Jahrhunderten
abgebrochen wurde. Überhaupt wird die scharfe, aggressive Politik der russisch¬
französisch Verbündeten leicht auch anderen Nationen ihre bedrohte Lage vor
Augen führen. Dann wäre es Deutschlands — als der germanischen Vor¬
macht — Pflicht, alle diese germanischen Anlieger der Ostsee bis hin nach
Holland zu einen: entwicklungsfähigen Bündnis zusammenzuschließen. Die
gemeinsame Bedrohung würde das Mißtrauen der Kleineren gegen den Großen
zurücktreten lassen, zumal wenn sich ihnen durch den Anschluß an das ungeheuer
mächtige Wirtschaftsgebiet des Deutschen Reiches auch wirtschaftliche Vorteile
böten. Die politische Selbständigkeit müßte natürlich allen solchen Gliedern
eines Bundes gewährleistet werden. Die Zeit der völligen politischen Ver¬
schmelzung mit kleineren Nationen durch Schaffung neuer Reichslande oder
Provinzen ist vorüber. Eine solche Aufnahme fremdsprachiger Elemente wäre
nur eine Schwächung Deutschlands.
Alle diese mitteleuropäischen Fragen aber müßten ruhen, wenn z. B. die
orientalische Frage nicht zum Stillstand käme. Ein weiterer Zerfall der Türkei
würde Deutschland zwingen, seinen kleinasiatischen Interessen endgültige Geltung
zu verschaffen. Wenn Portugal seinen Kolonialbesitz liquidieren wollte, so würde
Deutschland diese Gelegenheit, seinen afrikanischen Besitz zu vergrößern, nicht
vorübergehen lassen dürfen. Ein deutsch ° englischer Konflikt ist zu sehr in die
Ferne gerückt, als daß eine Erörterung seiner kolonialen Folgen für Deutschland
nötig wäre.
So gäbe es der Möglichkeiten für eine deutsche imperialistische Politik genug.
Wann die Gelegenheit sich bietet, sie in die Tat umzusetzen, muß der Zukunft
überlassen bleiben.
Der deutsche Staatsmann aber, der eine imperialistische Politik beginnen
wird, wird schon am ersten Tage über ganz andere, viel größere Hilfsmittel,
als die meisten anderen imperialistischen Nationen verfügen. Er wird nicht,
wie die Amerikaner, zu kämpfen brauchen, um in fremden Ländern amerikanische
Interessen erst zu schaffen; er wird nicht, wie die Franzosen, eine zurückgehende
Schiffahrt durch übermäßige Subventionen künstlich konkurrenzfähig erhalten
müssen. In allen wichtigen Ländern der Erde sind ja die deutschen Interessen
schon vorhanden, ist deutscher Einfluß schon mächtig. Eine kraftvolle deutsche
Politik würde ihn vervielfältigen, würde die Schwachen, die jetzt sicherer unter
anderer Flagge segeln, wieder zurückgewinnen und dem Deutschtum nutzbar
machen. Die deutsche Schiffahrt und der deutsche Handel, die trotz der quie-
tistischen äußeren Politik Deutschlands groß und mächtig geworden sind, würden
dann erst zu ihrer vollen Geltung kommen.
Der Boden ist überall in der Welt bereitet für deutschen Imperialismus.
E
lief war an ihm, als müßte es so sein", schreibt ein Zeitgenosse
über Gneisenau. Er war einer von jenen, die eine „unsichtbare
Königskrone" auf dem Haupte tragen. Frau von Beguelin, mit
dem General innig befreundet und seine Verehrerin, sagt wie mit
einem leisen Schauer von dem Dämonischen dieser Persönlichkeit:
„Ginge es ihm wie Napoleon, wäre er in zwanzig Jahren besser?"
Daß in solchem Manne ein mächtiger individueller Ehrgeiz schlummerte,
ist nur naturgemäß und, wie bei anderen, eine Voraussetzung der größten
Leistungen. Schon die Natur schien diesen stattlichen Herrn mit dem im¬
ponierender Auftreten und der vollkommenen Selbstbeherrschung zum Befehlen
bestimmt zu haben. Die schöne ritterliche Erscheinung mit dem prächtigen
Charakterkopf flößte Sympathie und Ehrfurcht ein. Mit seinem selbstbewußten
Anstand, seinen vornehmen Allüren und seiner diplomatischen Gewandtheit war
Gneisenau ganz besonders zum Verkehr mit all den gekrönten und anderen
hohen Herren geeignet, die — nicht immer zum Vorteile der Sache — den Krieg
von 1813 und 1814 mitmachten, oder eigentlich dem Krieg zusahen und in
ihn hineinredeten.
Gneisenau, der elegante redegewandte Offizier, ist ein ganz anderer Typus
wie der finstere, brummige Uorck oder der urwüchsige, derb zufahrende „Marschall
Vorwärts"; eine andere Spezies auch des großen Militärs, wie der bescheidene,
meist in nachlässiger Uniform erscheinende, gesenkten Hauptes einhergehende
Bauernsohn Scharnhorst. Und doch hat sich Gneisenau selber eine Pygmäe
neben dem Riesen Scharnhorst genannt, derselbe Gneisenau, der in vertraulichen
Briefen sich über andere seiner Mitkämpfer, so über Wellington, über Tauentzien,
ja selbst über Blücher sehr freimütig und nicht immer günstig geäußert hat.
Gewiß hat der fähigste Stratege, den die Verbündeten in ihren Heeren
hatten, dieser gefährlichste Gegner des unerreichten korsischen Schlachtenmeisters,
auch für sich einen Lohn angestrebt: Ruhm, Ehre, Beförderung, und da er mit
Glücksgütern nicht allzu gesegnet war, auch eine gewisse materielle Entschädigung
für die zahlreichen und schweren Opfer, die er dem Ganzen gebracht hatte.
Aber der Gedanke an seinen Vorteil, an seine Privatsachen ist allezeit hinter
dem Gedanken an das Vaterland zurückgetreten. Diesem zuliebe vernachlässigt
er seine wirtschaftlichen Angelegenheiten, weilt er durch Jahre fern von seiner
teueren Familie, verschwindet er völlig von der Oberfläche der Öffentlichkeit, da
er im Verborgenen ohne Rang und Gehalt seine patriotischen Ziele besser ver¬
folgen zu können meint. . .
Nicht auf der Menschheit Höhen ist der Große, neben dem sich die zeit¬
genössischen Monarchen des außerfranzösischen Europa so klein ausnehmen,
geboren. Die Familie Neidhardt stammte aus Oberösterreich und nach einer
Besitzung derselben nannte sich ihr welthistorischer Sproß August später
„von Gneisenau" ... Er war ein Kind des Krieges und der Liebe; sein Vater
ein armer Artillerieleutnant in der nicht sonderlich angesehenen Reichsarmee,
die man boshaft, aber nicht ganz gerecht, auch die „Reißausarmee" genannt
hat. Die Mutter war dem Offizier gegen den Willen ihrer Eltern ins Feld
gefolgt. Das damals kursächsische Städtchen Schildau, wo Gneisenau am
27. Oktober 1760 geboren wurde, war also nur eine Zufallsheimat. . .
„Während des Marsches, mitten im Kriegsgetümmel auf einem Troßwagen
brachte die Frau Leutnant Neidhardt ein Knäblein zur Welt, das so im aller-
ursprünglichsten Sinne von der Pike auf Soldat ist. Eine armselige Kindheit,
ein wildes Jünglingsalter mit mangelhafter wissenschaftlicher Ausbildung, öster¬
reichische und aufband-bayreuthische Kriegsdienste, der Eintritt endlich in das
preußische Heer, nicht aus irgendeinem höheren Grunde, sondern der besseren
Vorrückungsaussichten halber: all das wirft auf den jungen Krieger den
Schimmer des Romantischen, wenn man will des Abenteuerlichen."
Gneisenau hatte also Recht, wenn er Preußen nicht sein angestammtes,
sondern sein frei erwähltes Vaterland nannte. Der Staat Friedrich des Großen
hatte ja in den Tagen der Erniedrigung wie in denen der Erhebung mit
solchen Adoptivsöhnen Glück. Blücher war als mecklenburgischer. Scharnhorst
als hannoverscher Untertan geboren und Stein hatte als der Sprosse einer
reichsfreiherrlichen Familie überhaupt kein Sondervaterland. All diese Namen
aber sind längst von spezifisch-preußischen zu deutschen geworden.
In den Friedensjahren rückte Gneisenau nur langsam vor; man hat ihn
scherzweise mit dem biblischen Hauptmann von Kapernaum verglichen, der auch
niemals Major wurde. Bekanntlich zählte Gneisenau im Unglücksjahre 1806
zu jenen, die inmitten eines Meeres von Fehlern, Niederlagen und Schmach
die preußische Waffenehre retteten. „Tausendmal lieber sterben, als das noch
einmal erleben," sagte er nach Jena. Aber indes sonst überall die vollendetste
Kopflosigkeit herrschte und eine Anzahl fester Plätze sich ohne ernstlichen Wider¬
stand ergab, hat Gneisenau durch die tapfere und erfolgreiche Verteidigung von
Kolberg, die er gemeinsam mit dem alten Bürger Nettelbeck leitete, bewiesen,
daß es in dem schwergeprüften, niedergeworfenen Lande noch mutige Herzen
gebe. Damals schob sich der schon siebenundvierzigjährige. unbekannte Truppen-
offizier in die Reihe der geschichtlichen Personen vor; und von da ab tragen
seine persönlichen Erlebnisse und so auch die Erzeugnisse seiner Feder den Stempel
des Historischen.
Gneisenaus Briefe müssen bei der Klarheit seines Denkens, bei der Stärke
und Fülle seines Empfindens, bei der Bestimmtheit seiner ganzen Art unfehlbar
vom höchsten Interesse sein, nicht für die Kenntnis seines Charakters allein, sondern
auch für die Detailgeschichte seiner Tage. Sie werfen aber auch auf die großen
weltbewegenden Entwicklungen manch scharfes Licht. Der richtige Sohn einer Zeit,
die ohne rasche Verkehrsmittel, ohne Telegraphen und Fernsprecher weit mehr,
weit längere und schönere Briefe schrieb als die unsrige, war Gneisenau ein
eifriger Korrespondent, was auch durch die große Zahl seiner persönlichen Ver¬
bindungen und durch die viele Abwesenheit von der Heimat bedingt war. Von
seinen Briefen haben schon Pertz und Delbrück viele veröffentlicht, auch Hormavr
bringt einige in seinen noch heute wertvollen „Lebensbildern aus den Befreiungs¬
kriegen" und Albert Pick in seinem inhaltreichen Buche „Aus der Zeit der Not".
Nun hat Julius von Pflugk-Harttung eine Sammlung von fast durchweg
unbekannten und ungedruckten Gneisenau - Briefen der Öffentlichkeit übergeben,
die schon deshalb höchst belehrend und beleuchtend wirken, weil sie fast aus¬
nahmslos vertraulichen Charakter tragen*). Der berühmte Soldat hat ebenso¬
gut zu schreiben verstanden, wie er seine Truppen zu befehligen und wie er,
nach zeitgenössischen Urteilen, zu sprechen und die Mitmenschen zu behandeln
wußte. Ob er nun die höchsten Fragen der Politik und der Strategie oder die
intimsten Familienangelegenheiten bespricht; ob es sich um Napoleon oder Kaiser
Alexander, um einen Hauskauf, die Viehpest oder den Alkoholometer handelt;
ob Heeresbewegungen und diplomatische Pläne oder die Sendung frischer Hemden
und einiger Flaschen Rotweins erörtert werden: immer ist der Ausdruck knapp
und klar, ohne sichtliche Kunst und ohne Rhetorik, aber belebt von kräftigen
Bildern und Vergleichen, niemals unbedeutend und stets von energischer Logik.
Was immer er schreibt, zeichnet den Mann und die Situation. Der Ton ist
auch der Gattin gegenüber meist ein kurzer, befehlender: Du wirst, Du hast usw.
Eine sonderliche Zärtlichkeit liegt kaum in diesen Briefen; aber die tiefe, echte
Sorge für das Wohl der Lebensgefährtin und der sieben Kinder, von denen
Gneisenau jahrelang ferngehalten war, spricht aus jeder Zeile. Allerdings oft
auch die Unzufriedenheit mit dem, was die Gattin tut oder nicht tut, schreibt
oder zu schreiben vergißt.
„Dein Schreiben aus Warmbrunn" (dem schlesischen Schwefelbade) heißt
es einmal, „habe ich erhalten. Man sah ihm den Ort an, wo es geschrieben
ward, das heißt unter Zerstreuungen. Es ist so undeutsch, mit so vielen Aus¬
lassungen und Wiederholungen und so vielen Sinnentstellungen abgefaßt, daß
ich es vernichtet habe, damit man, wenn ich bei meiner Unternehmung zugrunde
gehen sollte und man es nach meinem Tode fände, nicht daraus auf Deine
Bildung schließe. Ich habe es nicht ohne Lachen gelesen." Noch schärfer als
dieser formelle klingt oft der sachliche Tadel, zumal der Vermögensverwaltung
in seiner Abwesenheit. „Du verlangst einen Rat von mir in betreff Deiner
Mittel-Kauffungen ^-Anordnungen. Aber wenn ich ihn auch geben könnte, so
würde ich ihn doch nicht gerne geben, da ich immer fürchten müßte. Du würdest
gerade deswegen, weil er von mir kommt, folchen nicht befolgen.--Wenn
die allerbestimmtesten und als unabweislich angekündigten Befehle nicht befolgt
werden, wie würde dies ein Ratschlag?"
Solche kleine Sorgen beschäftigten den Vielbeschäftigten in den großen
Tagen des Krieges, aber auch schon früher in jenen Jahren, welche als die der
inneren Wiederaufrichtung Preußens nicht minder wichtig sind. An diesem
Werke der Regenerierung hat ja Gneisenau neben Scharnhorst, Boyen, Clause-
witz, Grolmann, vor allem aber neben dem unvergleichlichen und einzigen
Freiherrn vom Stein sein reichlich Teil. Mit seinen Gedanken vom „Volk in
Waffen" zeigt gerade er eine wahrhaft moderne Auffassung. „Welche unendliche
Kräfte," schreibt er, in diesem Punkte noch klarer blickend als selbst ein Napoleon,
„schlafen im Schoße einer Nation unentwickelt und ungenutzt. In der Brust
von tausend und tausend Menschen wohnt ein großer Genius, dessen auf¬
strebende Flügel seine tiefen Verhältnisse lähmen. . . . Während ein Reich in
seiner Schwäche und Schmach vergeht, folgt vielleicht in einem elendsten Dorfe
ein Cäsar dem Pfluge, und ein Epaminondas nährt sich karg von den: Ertrag
der Arbeit seiner Hände." Die großen Lehren der Revolution, die schmerzliche
Schule, durch die Bonaparte seine Zeit geführt, waren an Gneisenau nicht ver¬
loren. Voll ehrlicher Bewunderung für den ebenso ehrlich gehaßten Meister in
Krieg und Frieden wünscht er für diesen Bonaparte einen Gegenbonaparte,
aus dem Volke herausgewachsen, ebenso fähig, die Kräfte einer ganzen Nation
zusammenzufassen, und ebenso skrupellos wie jener. Mit seinen Mitteln, mit
brutaler Gewalt und teuflischer Schlauheit müsse man den Zwingherrn Europas
bekämpfen.
Im Jahre 1809 war Gneisenau bekanntlich eines der Häupter der Kriegs¬
partei, die offenen Anschluß an Österreich, das ja auch für Deutschlands Freiheit
und Ehre kämpfe, verlangte. Eine Verbindung mit Napoleon schien ihn: ehrlos
und gefährlich. „Einmal in der Höhle des Zyklopen, können wir nur auf den
Vorzug rechnen, zuletzt verspeist zu werden." Neben der Koalition mit Österreich
plante der kühnste aller preußischen Patrioten eine gewaltige Erhebung ganz
Norddeutschlands. Alle bürgerlichen Verhältnisse sollten davon durchdrungen.
ja terrorisiert werden. Man veröde die Gegend, wo der Feind vordringt.
Man schaffe Frauen und Kinder an unzugängliche Orte. Man erkläre alle
deutschen Fürsten, die zu Napoleon hielten, ihrer Throne verlustig und lasse
ihre Untertanen sich würdigere Regenten wählen. Jeder Adel, der nicht im
Kriege erworben ist, höre auf usw.
Aber wie hätte ein Friedrich Wilhelm der Dritte sich mit so verwegenen
Plänen befreunden können! Österreich blieb allein. Gneisenau bat um seinen
Abschied und erhielt ihn in Gnaden gegen das Versprechen, zurückzukehren, so¬
bald der König genötigt wäre, die Waffen zu ergreifen. In aller Heimlichkeit,
auf dem durch stürmische See erzwungenen Umwege über Schweden, ging der
verabschiedete Oberst nach England. Solche Reise war, von den schweren
Strapazen abgesehen, nicht ungefährlich. Napoleon hatte seine Späher und
gewissenlosen Agenten überall. Das rätselhafte Verschwinden des aus Wien
kommenden Lord Bathurst in Perleberg, der wahrscheinlich von der französischen
Geheimpolizei ermordet wurde, sprach deutlich genug.
Gneisenau hoffte eine englische Landung in Norddeutschland, die dessen
Erhebung veranlassen sollte, zu erzielen. Auch dem Erzherzog Karl soll er
Unterstützung durch eine englische Legion angeboten haben, ohne aber eine
bestimmte Antwort zu bekommen. In London trat er mit dem Prinzen von
Wales, mit dem Grafen Münster, mit dem preußenfreundlichen Minister Canning
in Berührung, erzielte aber nichts. In schärfsten Worten tadelt einer seiner
Briefe die Erbärmlichkeit der englischen Politik, die von unwissenden und un¬
geschickten Menschen gemacht werde. Die ganze Trostlosigkeit der Zeit spricht
aus diesem Schreiben. „Tritt nicht ein Gott ins Mittel, so sind wir alle ver¬
loren." In Wahrheit aber verzagte Gneisenau nicht. Über Schweden ging er
nach Petersburg. Was ihn dorthin führte, ist unschwer zu erraten. Auch Stein,
der „nomme Stein", weilte ja . seit seiner Achtung durch Napoleon in
Rußland.
So ist aus dem Offizier ein ruheloser Wanderer, ein unermüdlicher Agi¬
tator geworden, ein Verschwörer, wenn man will, der mit allen Napoleon¬
hassern in Deutschland, England, Rußland, Österreich, Spanien geheime Be¬
ziehungen unterhält und in der merkwürdigen Korrespondenz jener Tage bald
als Logier, bald als R. Schmid oder Fischer oder dergleichen auftaucht.
Neben diesen Sorgen der hohen Politik vergaß er seine Privatangelegen,
selten nicht, die freilich unter seiner langen Abwesenheit litten. Ein treuer
Familienvater, ein pflichtmäßig strenger Rechner gibt er seiner Frau An¬
weisungen, über die Bewirtschaftung von Mittel-Kauffung, über Verbesserungen
und Verpachtungen, über Schnapsbrennerei und Biererzeugung, dann wieder
über die Erziehung der Kinder usw. Die Sorgen, welche die Belastung des
Gutes und die schlechten Zeiten verursachen, blicken aus manchem Briefe heraus.
In Summa — ein Mann, der an das Größte und Kleinste denkt, bei allem
patriotischen Gram voll ungebrochenen Mutes.
Ende Juni 1810 war er wieder in der Heimat*). Im November treffen
wir ihn in Breslau, hauptsächlich in eigenen Angelegenheiten, wie es scheint,
die aber nicht vom Flecke kamen. Übrigens langweilt er sich in der schlesischen
Hauptstadt, da er in Gesellschaften zu gehen keine Lust hatte. Im Anfang des
nächsten Jahres richtet wieder Hardenberg sein Augenmerk auf den Vielbewährten.
Am 17. März 1811 hatte der Staatskanzler — bei dem der Patriot ja so oft
hinter dem Diplomaten zurücktreten mußte — in Tempelburg bei Neustettin
eine geheime Zusammenkunft mit dem Eroberst. In einer Denkschrift riet
Gneisenau damals dem König, da die Verstimmung zwischen Napoleon und dem
Zaren immer akuter wurde, zu rüsten, als ob jeden Augenblick eine Katastrophe
eintreten könne.
Im Juni 1811 ist er, wieder getrennt von den Seinen, in Berlin. Seine
Privatverhältnisse hatten nach langen Verhandlungen endlich eine günstige
Wendung genommen, der König hatte ihm ein Geschenk von 37000 Talern zu¬
gewiesen. An militärisch hervorragender Stelle war der notorische Franzosen¬
feind schon zu kompromittiert; seine Unterstützung aber wollte Hardenberg doch
nicht missen und gab ihm eine Zivilanstellung. „Der König hat mich," schreibt
Gneisenau an seine Frau, „zum Staatsrat ernannt. Lasse dies den nächsten
Bekannten wissen und nimm künftighin nicht mehr den Oberstentitel an, sondern
nur den der Staatsrätin. Es sind hierbei besondere Absichten. Mein Gehalt
ist 2500 Taler. Doch bei heutiger Zeit verdient so etwas keiner Erwähnung.
Man kann nur von dem reden, was man den laufenden Monat besitzt; des
kommenden schon ist man nicht mehr sicher." Er bezog eine schöne Wohnung
Unter den Linden, die ihm ein Freund abgetreten hatte; sie war schön möbliert,
für alle Bedürfnisse war gesorgt**).
Gneisenau hielt die herrschenden Zustände, deren Kern Preußens
demütigende Abhängigkeit von Napoleon war, nicht für haltbar. „Für tiefe
Übel," schreibt er an seine Frau, „gebe es nur durchgreifende Arzneien. Richte
Dein Hauswesen immer so ein, daß Du dem Sturm unter irgendeinen Scheuer¬
dach zusehen kannst. Ich werde Dir nahe sein." Der „travestierte Staatsrat"
hatte sich nicht zu friedlichen Ideen bekehrt. Aber der König sah das Heil nur
in einem Anschlusse an Frankreich. „Preußen scheint sich vernünftig zu de-
tragen," sagte Napoleon im Dezember 1811 zum Fürsten Schwarzenberg, „und
sich mit mir verbinden zu wollen. Der König ist weise, das Ministerium ist
es auch. Aber es ist eine böse Nation, die ich nicht liebe. Es gibt immer
einen großen Widerspruch in den Gemütern." Die „Jakobiner des Nordens"
hat er ja die Preußen genannt.
Als Friedrich Wilhelm der Dritte sich im Februar 1812 entschloß, Napo¬
leon ein Auxiliarkorps für den russischen Krieg zuzusagen, verlangte Gneisenau
seine Entlassung und erhielt sie.
„Abermals ein Akt durchgespielt," schreibt er an seine Frau, „der mir
viel Sorgen gemacht hat. Ich habe darüber schnell einen grauen Kops be¬
kommen." (Er zählte damals zweiundfünfzig Jahre.) Er geht nach Livland,
dann nach England, landet, da die Dinge in Norddeutschland zum Losbruche
überreif scheinen, in Kolberg und ist am 10. März 1813, durch einen könig¬
lichen Brief berufen, an der Seite Friedrich Wilhelms in Breslau.
Was Gneisenau, „der Kopf Blüchers", wie dieser selbst ihn nannte, für
die Befreiungskampfe bedeutete, gehört der Geschichte an. Verdienste, die längst
anerkannt sind und die in der Pflngk-Harttungschen Briefsammlung ihre neuerliche
Beleuchtung finden. Wie in der österreichischen Armee Radetzky, so ist in der
preußischen Gneisenau derjenige, der unablässig treibt, der das Schicksal des
Krieges nicht von diplomatischen Bedenken und dynastischen Rücksichten abhängig
wissen will. Der Rückzug nach den für die preußischen Waffen zwar un¬
glücklichen, aber überaus ehrenvollen Schlachten von Lützen und Bautzen im
Mai 1813 scheint ihm unnötig, denn der Mut des preußischen Heeres sei un¬
geschwächt. Den Waffenstillstand von Poischwitz im Juni bedauert er schwer.
„Der Kampf ist noch nicht durchgefochten. So viele Opfer als unsere Nation
gebracht hat, dürfen nicht verloren gehen, ohne die Früchte dafür zu ernten."
Die Niederlage von Dresden, 26. und 27. August erkundigte ihn nicht, denn
sie sei nur durch Mißverständnisse und einen Mangel an Einverständnis, nicht
durch die Überlegenheit der feindlichen Waffen herbeigeführt worden: daß er
mit dem aus Politik ewig zögernden Bernadotte — dem „Piaffeur" — nicht
einverstanden war, ist selbstverständlich. „Er sollte" — schreibt er am 7. Ok¬
tober, „über die Elbe gehen und ging nicht. Die große Armee in Böhmen
sollte aus ihren Bergen hervortreten und kam nicht. Wir fühlten, daß abermals
wir die ersten Schritte tun und den Anstoß geben müssen." Nach Leipzig, so
ist seine oft geäußerte Ansicht, hätten die Verbündeten sofort auf Paris los¬
gehen können und sollen, statt dem Gegner Zeit zur neuerlichen Sammlung zu
lassen. Mit Napoleon, der alle Regenten beschimpfte, zu verhandeln sei
schimpflich. — Am 30. März 1814 endlich standen die alliirten Kaiser, Könige
und Fürsten auf dem Montmartre; bei ihnen war Gneisenau. „Eine Glorie
umstrahlte sein Gesicht, als er auf die eroberte Hauptstadt des Feindes herabsah."
Auch im Feldzug von 1815 ist wieder Gneisenau das geistige Haupt der
Verbündeten, das treibende Element. Wieder geht ihm alles zu langsam.
Wieder fordert er strenge Friedensbedingungen und eine ausgiebige Kriegs¬
kontribution, die dem französischen Volke die Kriegslust etwas verleiden solle.
Mit Grimm empfand er, daß nach Bezwingung Frankreichs nicht einmal
Elsaß und Straßburg wieder deutsch wurden. Auch sonst mißfiel ihm die
Entwicklung nach dem Frieden. Er hatte sich schon 1814 offen für eine Ver¬
fassung, als den schuldigen Lohn, der dem Volke für seine unermeßlichen Opfer
gebühre, ausgesprochen. Dadurch solle, namentlich in den neu gewonnenen
rheinischen Landesteilen die öffentliche Meinung gewonnen, für Preußen ein
„Primat der Geister" geschaffen werden. Als Kommandant eben dieser Rhein¬
lande sprach er sich mit größtem Freimut für politischen Fortschritt aus und
wurde oben ebenso mißliebig, wie andere ähnlich denkende Patrioten, wie ein
Görres, ein Arndt, ein Jahr, ja selbst ein Stein. Offiziöse Federn durften
von „Wallensteins Lager in Koblenz" sprechen. Gneisenau zog sich endlich —
zum Grafen war er nach dem ersten Pariser Frieden erhoben worden, zum
Feldmarschall wurde er 1825 befördert — auf sein Gut Erdmannsdorf im
Riesengebirge zurück. Dort genoß er vornehme Muße, ohne das temperament¬
volle Interesse an den Fragen der großen Politik zu verlieren. Für den Mann,
der auch vor starken und bedenklichen Mitteln nicht erschrak, ist ein Zug be¬
zeichnend, den Wertheimer in seiner vorzüglichen Reichstadtbiographie urkundlich
feststellt. Nach der Vertreibung der Bourbons 1830 riet nämlich Gneisenau
der österreichischen Regierung, dem Sohne Napoleons auf den französischen
Thron zu verhelfen, im nördlichen Teile Frankreichs die dort in der Majorität
befindlichen Bonapartisten, zugleich aber in den südlichen und westlichen Provinzen
die Royalisten zu unterstützen, und auf diese Art Frankreich zu verwirren, innerlich
zu schwächen und ungefährlich zu machen. Der hochbetagte General kam in
seinen Gesprächen mit dem österreichischen Gesandten in Berlin immer wieder
auf diesen „Giftplan" zurück, der freilich Metternichs Billigung nicht fand.
Der Feldmarschall, der nach Ausbruch der großen polnischen Erhebung 1831
zum Kommandanten der an der russischen Grenze aufgestellten preußischen
Beobachtungstruppen ernannt worden, erlag in der Nacht vom 23. auf den
24. August zu Posen der astatischen Cholera, die damals ihren ersten grausigen
Siegeszug durch Mitteleuropa antrat. Er starb, nach einem Bismarckschen
Worte, wie ein gytes Pferd in den Sielen. Besser hat kaum irgend jemand
die Bedeutung Gneisenaus für die preußische Heeresgeschichte, und was unendlich
darüber hinausreicht, für die Geschicke Deutschlands in den Jahren 1813, 1814
und 1815 gezeichnet, als es Moltke tat, da man ihn einmal mit Blüchers
Generalstabschef verglich. „Zwischen uns ist ein Unterschied" sagte er. „Wir
haben nur Siege zu verzeichnen gehabt. Er hat die Armee nach einer Nieder¬
lage zum Siege geführt. Diese höchste Probe haben wir noch zu bestehen."
Aus der in Borbereitung befindlichen Monographie des Verfassers:
„Karl Spitteler und das neudeutsche Epos".
last ein Jahrhundert hat Goethes Irrtum, der Roman sei eine
subjektive Epopöe, die Ästhetik im Banne gehalten, obschon es
«allbekannt war, wie wenig Gewicht Goethe ästhetischen Ein¬
teilungen, Begriffsbestimmungen und Gattungsbegriffen muaß.
Die beiden großen Gattungen erzählender Dichtung: Roman und
Epos stehen grundverschieden, wenn auch nicht zusammenhanglos nebeneinander.
Nicht bloß grundverschieden in ihrer Entstehung, sondern auch in ihrer vor¬
handenen Form. In seinen „Landenden Wahrheiten" hat Karl Spitteler, der
größte, vielleicht der einzige lebende deutsche Epiker (Eposdichter) geradezu eine
Gegensätzlichkeit von Roman und Epos verkündet und dies zu einer Zeit, da
alle Welt, namentlich Spielhagen, auf Grund der Hegel-Vischerschen Ästhetik
von deren Identität überzeugt war und man im Roman schlechtweg die
moderne Form des Epos erblicken wollte. Nach Spitteler wäre der Roman
nicht etwas dem Epos Ähnliches auf anderer Stufe, sondern sein schnurgerades
Gegenteil in allem und jedem. Wer Romane schriebe wäre schon deshalb kein
Epiker. Als Kennzeichen des „romanschreibenden Nichtepikers" gilt für Spitteler
die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse, an der Entwicklungs¬
geschichte des Helden, an der wohlmotivierten, logisch-vernünftigen Erzählung,
an der „Bourgetiererei". Der Epiker aber sei mit Widerwillen gegen alle
Psychologie erfüllt, denn er will nicht Seelenzustände ergründen, sondern sie in
Erscheinung umsetzen. Statt Psychologie erstrebe der Epiker das denkbar schroffste
Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller
Motivierung.
Spittelers epische Theorie ist keine Idee, sondern eine Erfahrung. Sie ist
daher wahr, unanfechtbar, — für den einen empirischen Fall, dem sie ent¬
wachsen ist, für das epische Schaffen Spittelers. Sein Epos — ist allerdings
ein Gegensatz zum Roman, es ist das Werk, das die Alleinherrschaft des Romans
auf dem Felde der deutschen Epik gebrochen hat. Aber das Epos ist ebenso¬
wenig ein dem Roman entgegengesetztes, wie ein ihm identisches Gebilde.
Spittelers Auffassung der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit, Wischers Idee der
Identität von Roman und Epos stecken uns beide nur die äußersten Grenzen
ab. innerhalb deren unsere Untersuchung sich bewegen darf.
Epos und Roman sind wohl verwandte, wenn auch vielfach verschiedene
Gebilde. Sie sind beide, samt dem Bericht, der Novelle und dem Märchen in
die Gemeinschaft der epischen Gattungen einbegriffen, nicht weil die ästhetische
Einteilung des Aristoteles dies so angeordnet, sondern weil sie alle einer be¬
stimmten Seelenfunktion des menschlichen Geistes entspringen: der Erinnerung.
Ob aus der Betätigung unseres Erinnerungsvermögens, aus der Mitteilung
unserer Erinnerungen ein Bericht, eine Novelle, ein Roman oder ein Epos
entsteht, hängt lediglich von der größeren oder geringeren Erinnerungsferne ab,
in welche sich der Epiker zu den Ereignissen stellt, genau so, wie das perspekti¬
vische Bild jeglicher Erscheinung sich in unseren Augen lediglich nach der größeren
oder geringeren Sehferne regelt. Der Epiker wählt seine Erinnerungsferne zu
den Ereignissen unabhängig von der historischen Vergangenheit oder Längst¬
vergangenheit ebenso frei, wie der Zeichner seinen perspektivischen Standort
wählt. (Vgl. über Erinnerung und Erinnerungsferye Heft 19 und Heft 33
der Grenzboten, Jahrgang 1912.) Bei der geringsten Erinnerungsferne entsteht
der Bericht, bei der größten das Epos. Auf die Abgrenzung von Roman und
Epos angewandt: der Roman steht unter der größtmöglichen Erinnerungsferne,
wahrt jedoch die logischen Notwendigkeiten, er hält sich innerhalb der eisernen
Grenzen unserer Anschauungskategorien: Zeit, Raum, Kausalität; das Epos
dagegen überschreitet auch diese Grenze, es lebt in der Einheit des Kosmos.
Der Roman steht sozusagen an der Grenze materieller Anschauungsmöglichkeit;
das Epos steht jenseits dieser Grenze, im schrankenlosen Gebiet der Idee. Aus
diesem Unterschiede der Idee folgen alle Unterschiede der Phänomene.
1. Der erste und grundlegende Unterschied zwischen Roman und Epos liegt
bereits in der Bewegungsrichtung ihrer Entstehung.
Der Roman baut von unten nach oben. Er bewältigt eine ungeheuere
Fülle der Erscheinungen und gelangt als Ergebnis zur ästhetischen Einheit der
Idee. Der Roman verfolgt das Ziel, die Mannigfaltigkeit der Phänomene in
der Einheit der Persönlichkeit, der Gattung oder des Schicksals darzustellen.
Diese von unten zur Pyramide aufstrebende Bauweise des Romans enthüllen
die beiden Fassungen des Wilhelm Meister, die „Lehrjahre" und die neuentdeckte
„theatralische Sendung" mit klassischer Klarheit.
Gerade in entgegengesetzte Richtung bewegt sich die Entwicklung des Epos:
sie dringt von oben nach unten. Das Epos bezweckt nicht die Eingeistung der
tausendfachen Empirie in die poetische Einheit der Idee, sondern es will die
Idee, das Transzendente in die sinnliche Erscheinung umsetzen; es will aus dem
aprioren Vollbesitz der einen Idee soviel in das Gefäß des Phänomens hinein¬
gießen, wieviel da nur hineingeht. Das Epos will das bloß Denk- und
Fühlbare in den sichtbaren, riechbaren, hör- und Schmeckbaren Stoff bannen.
Aus der Einheit der Idee ausgehend, will das Epos in die Vielheit der Dinge
hineinkriechen, wie die Sonnenstrahlen aus der alleinen Sonne fließend, alle
Dinge um- und durchleuchten. Die Ilias gipfelt nicht etwa romanmäßig mit
all ihren tausend Einzelkämpfen, mit ihren Gastmählern, Waffenbeschreibungen
und tausend Unbedeutenheiten in der Idee des ewigen Schicksals, sondern im
Gegenteil: aus der Schicksalsidee entfließt das alles, daraus enthält es Sinn
und Lebensfähigkeit.
„Denn wir schaffen ja nichts mit unserer starrenden Schwermut.
Also bestimmten die Götter der elenden Sterblichen Schicksal,
Bang' in Gram zu leben; allein sie selber sind sorglos.
Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions,
Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles.
Weni nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion,
Solcher trifft abwechselnd ein böses Los, und ein gutes.
Wem er allein des Wehs austeilt, den verstößt er in Schande;
Und herznagende Not auf der heiligen Erde verfolgt ihn,
Dasz nicht Göttern geehrt noch Sterblichen, bang' er umherirrt."
Oder:
„Oft schon haben mir dieses Achaias Söhne gerüget, (—sagt Agamemnon, —)
Und mich bitter geschmäht; doch trag' ich dessen die Schuld nicht,
Sondern Zeus, das Geschick und das nächtliche Schrecken Erinnys:
Die in der Volksversammlung zum heftigen Fehl mich verblendet,
Jenes Tags, da ich selber Achilleus' Gab ihm entwandte.
Aber was konnt' ich thun? Die Göttin wirkt ja zu allem,
Zeus' erhabene Tochter, die Schuld, die alle bethöret,
Schreckenvoll: leicht schweben die Füß' ihr; nimmer dem Grund' auch
Nadel sie, nein, hoch wandelt sie her auf den Häuptern der Männer,
Reizend die Menschen zum Fehl; und wenigstens einen verstrickt sie."
Aus diesem Grundunterschted der entgegengesetzten Entwicklungsrichtung im
Roman und Epos folgen weitere Abweichungen. So ist die Rolle und die
Beschaffenheit der Einzelheit, des Details in den beiden Kunstgattungen eine
verschiedene. Im Roman muß das Detail von Bedeutung sein, und je näher
wir dem Gipfel der Pyramide kommen, desto bedeutender, desto stärker muß es
wirken. Je näher wir der Idee kommen, desto gewichtiger wird das Einzel¬
erlebnis, desto mehr entfernt sich die Schilderung vom Körperlichen und wird
zu immer reinerer Stimmungsdarstellung. In der Ilias dagegen gibt es kein
eigentlich bedeutendes oder unbedeutendes Detail: alles ist gleich wichtig. Die
rosige Tochter des Brises ist doch nicht wichtiger als die Zubereitung des Gast¬
mahls (9, 205), oder als die Toilette der Hera (14, 180). Alles ist gleich
bedeutend, gleich wichtig, nicht an sich, durch sich selbst, sondern bloß durch
das Licht der Idee, das im Augenblick darauf ruht. Alles hat eben nur
sofern Bedeutung, sofern das Schicksal sich im gegebenen Augenblick an seiner
Nichtigkeit betätigt: Agamemnon oder Thersites. — gleichviel. Es ergibt sich
im Epos keine Steigerung des Details wie im Roman, sondern eine ruhige
Horizontale. Man darf vielleicht sagen, daß die Wichtigkeit der Einzelheit im
Roman — ihre Potenz — mit der Quadratur ihrer Entfernung von der
gipfelnden Idee abnimmt. In der Ilias jedoch ist der Besuch des Priamos
bei Achilleus, obschon im letzten Gesang, doch um kein Haar gewichtiger als
Hektor und Andromache oder als Agamenmons Zank mit Achill, — weil die
Idee im Epos eben nirgends gipfelt, sie ist außerhalb, weil sie antizipiert
ist und jeder Zeile gleich nah und fern bleibt. Daher muß die Einzelheit im
Roman bedeutend, sich steigernd und in seiner Verkettung mit der Idee not¬
wendig sein. Im Epos ist sie von holdester Überflüssigkeit, aber funkelnd im
strahlenden Lichte der Idee. Keine Einzelheit ist wie beim Roman Inhalt der
Ilias, denn ihr Inhalt und Gehalt ist ja nur Eines: die eherne Unabänderlich¬
keit des waltenden Schicksals. Deshalb durchschauert eine gleichgültige Begeben¬
heit seit Jahrtausenden die Menschheit, wenn dies Innerste ausgesprochen wird:
„Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt."
Im Roman baut Detail für Detail die Höhe bis zur Idee hinauf,
die Funktion der Einzelheit ist eine tragende; in der Ilias erduldet jede
Begebenheit das Licht der Idee, das auf sie fällt, ihre Funktion ist eine
ertragende.
2. Die Erinnerungsferne des Romans ist an die Grenze unserer Erfahrung
über die Kategorien menschlicher Anschauung: Raum, Zeit, Kausalität, gebunden.
Die Erinnerungsferne des Epos ist von dieser Schranke frei. Hieraus folgt
ein grundsätzlicher Gegensatz in der Behandlung des Wunders in den beiden
Kunstformen. Die übliche Aufstellung: das Wunder wäre im Epos heimisch,
der Roman dagegen halte die rationelle Grenze der Anschauung ein — ist rein
äußerlich und auch falsch. Ein Roman wird durch das Wunder noch nicht
zum Epos, sonst müßten wir in E. T. A. Hoffmanns Romanen lauter Epen
sehen. Fast das Entgegengesetzte ist wahr: das Wunder kommt eigentlich nur
im Roman vor und ist gar kein ungeeignetes Kriterium zur schwierigen und
richtigen Entscheidung, ob ein erzählendes Werk ein Roman oder ein Epos sei.
Wenn wir in „Wilhelm Meisters Lehrjahren", wo wir von Anfang an mitten
w der Zeitlichkeit geatmet, wo wir dem Raumgesetz und dem von Ursache und
Wirkung so unbedingt unterworfen waren wie in unserem Alltag, wenn da in der
Turmszene (VII, 9) urplötzlich weitzerstreute, längstvergangene Menschen wie auf
einen Zauberschlag der Reihe nach hinter dem Vorhang hervortreten und
wir somit den Sprung aus unserer räunckich - zeitlichen Welt in eine andere.
kategoriefreie vollziehen sollen, da wundern wir uns des Wechsels, das
ist Wunder. Im Wechsel liegt es. nicht in der Zeitlosigkeit an sich? Wer
aber hat sich je darüber gewundert, daß die windschnell eilende Iris im Augen¬
blick vom Olvmpos zum Peleiden herunterstürmt? Stehen wir denn nicht von
Anfang an außerhalb aller Zeitlichkeit? In einer Ferne der Erinnerung, in
der jeder Dimensionalbegriff längst aufgehört? Ob der Turmszene, oder über
das Kapitel der lebenden Brücke im Grünen Heinrich wird sich jeder Leser
wundern, weil die einen Sprung erfordern, aus der einen Welt in die andere;
wenn aber die silberfüßige Thetis aus den Fluten steigt und dem weinenden
Sohn neue Rüstung vom hinkenden Meister Hephaistos bringt, — so sind das
keine Wunder, sondern Selbstverständlichkeiten. Es hat sich auch noch nie ein
Leser darüber gewundert.
Im Roman entsteht daher das Wunder durch den Durchbruch der Kate¬
gorien; im Epos gibt es kein Wunder, weil die Kategorien in der Erinnerungs¬
ferne des Epos überhaupt aufhören.
3. Des weiteren unterscheiden sich Epos und Roman in der Art und Weise,
Masse und Individuum zu behandeln. Das Epos hat nie einen Helden,
das ist eine notwendige Folge seiner geschilderten Entstehungsart, denn der
eine Held des Epos ist ja die Idee, der Roman aber hat immer einen Helden,
einen persönlichen, meist den Autor selbst, und hat er viele, so hat er einen
Haupthelden. Auch hierin bekundet sich das Bestreben der Gipfelung. Wilhelm
Meister ist der Held des Romans, Achilleus oder Hektor, Agamemnon oder
Zeus sind nur Helden im Epos.
4. Aus dem Grundsatz der Erinnerungsferne diesseits und jenseits der
Anschauungskategorien folgt auch der letzte Wesensunterschied zwischen Roman
und Epos. Im Roman treffen wir stets den Helden auf der inneren oder
äußeren Wanderschaft begriffen, während ihm gegenüber das stabilere, fast
unbewegliche Sein der Gesellschaft verharrt und Widerstand leistet. Der
Rahmen des Epos dagegen ist immer: Massenbewegung, Reiseunternehmung des
Ganzen, „Thomas Cook and Sons", in der Ilias so gut wie im Nibelungen¬
lied, bei Dante, in Hermann und Dorothea und im Olympischen Frühling.
Wie könnte dem auch anders sein? Die Erinnerungsferne des Epos ist ja von
vornherein außerweltlich gegeben! Aus diesem Standort gesehen bewegt sich
eben das ganze: ?A Wie sehr die Idee der Gesamtbewegung dem Epos
und nicht dem Roman eignet, läßt sich am besten am Beweglichkeits- und
Ständigkeitsverhältnis der Parteien in der Ilias einerseits in Hermann und
Dorothea anderseits beobachten.
In der Ilias ist die Gliederung, die Teilung der Massen ganz und gar
nicht auf den doch so naheliegenden und sich aufdringenden ungeheueren Unter¬
schied zwischen den auf der Wanderschaft sich befindenden Achaiern und den
säßigen Troern eingestellt. Jeder Romanschriftsteller hätte hierin das ganze
Werk verankert, aus dieser Grundverschiedenheit der Lebensbedingungen alle
Probleme erstehen lassen — und mit gutem Fug. Anders der Epiker.
Seine größte Sorge war diese Verschiedenheit aufzuheben, um das Ganze in
Bewegung zu setzen. Wohl Hausen die Troer in festen Mauern hinter dem
Mischen Tore, wohl geht Hektor ins wohlgebaute Haus. Aber über Ilion ist
das Todesurteil gesprochen und das Bewußtsein der Troer ist durchtränkt von
dem unabwendbaren Verhängnis. Die Ordnung, die Behaglichkeit des fried¬
lichen, gefestigten Zustandes ist auch in Troja bloß Vergangenheit; gegenwärtig
aber ist Auflösung, Lockerung, Einsturz, Kopfüber-kopfunter. Bei den Achaiern
wieder erscheinen die behaglich und breitausgesponnenen Erinnerungen an das
„liebe Land der Vater" als ausgleichendes Gegengewicht, das ihr Abenteuerer¬
dasein unter dem Zelte dem Zustand der Stätigkeit näher bringt. So ist hüben
und drüben mit viel Kunst und weitverzweigter Absichtlichkeit der Wesensunter-
schied zwischen dem stäten und dem Ausladen aufgehoben und das zugunsten
einer alles umfassenden, aber gemäßigten Gesamtbewegung. Hie Bewegung
des Anstürmenden — da Bewegung des Einstürzenden, aber hüben und drüben
der außerordentliche, aufgelöste Zustand: M'ol« ?zr. In Hermann und Dorothea
dagegen stehen sich die beiden Welten, das Stäte und das Unstcite in einer Schnitt¬
fläche kraß gegenüber. Die bodenständige, heimische, wurzelnde Menschheit steht
plötzlich der flüchtigen gegenüber, und das in der Gegenwart des Geschehens!
Darin liegt aber auch der wunde Punkt des hohen Werkes; sein stellenweises
Hinneigen zum Roman unter dem einheitlich eposhaften Kleid rührt von der
Gegenwärtigkeit einer unbewegten, verharrenden Welt her. Überall fällt Goethe
ins romanhaft Idyllische, wo der Löwenwirt und sein Besitz, sein Kreis uns
beschäftigt, das Großepische kosmischer Erinnerungsferne erreicht seine Dichtung
nur im Findender, in der vorbeifegenden Sturzwelle der Entwurzelten. Der
Geist des Epos spricht aus dem Munde der Vertriebenen:
—; denn alles bewegt sich
Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen.
Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten.
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,
Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe.
Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden;
Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden.
Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze;
Gold und Silber schmilzt-aus den alten heiligen Formen;
Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."
Die bisher äußerlich und rein empirisch beobachteten Stileigentümlichkeiten
des Epos werden sich nun mit Hilfe der Idee der epischen Erinnerungsferne
und seiner Folgen einem System einfügen. Solcher Eigenheiten kann man ja
'
die Unzahl beobachten, es genüge hier einige der bekanntesten in die neue
Beziehung zu bringen.
Die unbegrenzte Zeit und Raummöglichkeit einer Wellenbewegung fordert
selbstredend rhythmische Gliederung, weil Grenzenlosigkeit unseren Sinnen nur
durch ein stets sich wiederholendes Gleichmaß faßbar gemacht werden kann.
Daher die Neigung des Epos zur rhythmischen Sprache, die Vorliebe und die
Sinnfälligkeit der epischen Wiederholungen, der stehenden Ausdrücke des Ne-
präsentativtypischen in der Wortwahl. Dieser Stil erzeugt dann — sofern er
echt ist — das Unpersönliche der Figuren, ein Riesenmaß der Leiber, das
Repräsentative der Eposfigur. Wie ein Glied der Kette folgt daraus das
Zeremonielle, das Öffentliche der epischen Gefühls- und Ausdrucksweise im
Gegensatz zur Intimität, zur Aufgeknöpftheit des Romans. Ein sich gegen¬
seitig durchwachsendes Zwiegespräch ist daher nur im Roman heimisch, im Epos
kaum denkbar: Reden tauschen nicht nur die Könige in der Volksversammlung,
Reden tauscht auch Hera mit Aphrodite und mit Zeus in den Augenblicken
ehelicher Vertraulichkeit, Reden tauschen die Mutter Thetis und der Sohn
Achilleus, wenn sie ihr kummervolles Herz einander ausschütten.
! cum die starke Bewegung auf dem Gebiete unseres höheren Schul¬
wesens in ihren Ergebnissen immer noch wenig befriedigend bleibt,
so liegt das ganz gewiß zu einem guten Teil daran, daß die
mancherlei fruchtbaren Ansätze noch nicht genügend Zeit gehabt
' haben, sich zu entwickeln. Es ist eben ein charakteristisches Zeichen
unserer Zeit, daß sie, verwöhnt durch das sich fortwährend steigernde Tempo
in allen technischen Betrieben, organisches Wachstum nicht mehr recht in Ruhe
abwarten kann. Tiefer gesehen hängen aber doch jene unaufhörlichen Reform¬
versuche mit der Wandlung zusammen, die unsere gesamte geistige Kultur heute
durchmacht. Daß diese Wandlung darin besteht, daß wir nach einer der
gesamten heutigen Entwicklung der Weltzustände und der Kenntnis der Wirk¬
lichkeit entsprechenden Weltanschauung streben, daran ist gar nicht mehr zu
zweifeln. Die Fähigkeit aber, sich eine solche, im ernstesten und verantwort¬
lichsten Sinne moderne Weltanschauung zu bilden — die bewußt Lebenden
wollen es doch als Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts tun, das selbst freilich
nicht ohne die Entwicklung der voraufgegangenen Jahrhunderte zu verstehen
ist —, ist allmählich sehr geschwunden, die Fähigkeit und leider eben vielfach
auch schon das Bedürfnis danach. Friedrich Naumann hat diesen unverkenn¬
baren und tiefgreifenden Mangel unserer Zeit im vorigen Jahre auf dem
evangelisch-sozialen Kongreß zu Essen tief beklagt, daß nämlich das Wissen der
Menschen weit über das hinausgewachsen ist, was ein einzelner in sich ver¬
arbeiten kann, und daß nun als notwendige Folgen eingetreten sind: Fach¬
bildung und Halbbildung bei sinkender philosophischer Allgemeinbildung, Ver¬
mehrung der Weltkenntnis ohne Weltanschauung.
Gerade auch die durch die höheren Schulen vermittelte Kenntnis der Welt
leidet heute darunter, daß ohne weiteres angenommen wird, es werde dieser
bloße Stoff sich später gewissermaßen von selbst in eine Weltanschauung um¬
setzen. Weil der immer zahlloser sich andrängende Stoff solcher Weltkenntnis,
um dessen rastlose Vermehrung man immer eifriger bemüht ist, im Unterricht
gar zu sehr ein bloßes Nebeneinander bleibt, entwickelt sich die unerfreuliche Tat¬
sache, daß heute in weiten Kreisen unserer Gebildeten, eingestandener- oder nicht
eingestandenermaßen, jedenfalls ganz unzweifelhaft Materialismus oder Skepti¬
zismus vorherrscht und der Mangel einer wirklich philosophischen Weltanschauung
in oft besonders trübseliger Weise hervortritt. Was unsere Jugend, wenn sie
erwachsen sein wird, davor bewahren kann, bei der bloß technisch geschickten Ver¬
arbeitung des fast erdrückenden Tatsachenstoffes stehen zu bleiben und die noch
größere Gefahr zu vermeiden, nämlich von seiner Wucht einfach niedergestampft
zu werden, das ist die Fähigkeit, sich zu einer ideenmäßigen Erfassung jenes
Tatsachenstoffes emporzubilden. Die Überschätzung dieses bloßen Tatsachenstoffes
ist in einer Zeit, wo eine Entdeckung und Erfindung die andere drängt, nur
allzu erklärlich. Auch war sie bei unserem deutschen Volke zumal wohl zu
begreifen, das im neunzehnten Jahrhundert nach langer und tiefgründiger
Geistesarbeit, dem Goethescher „Faust" vergleichbar, vom Grübeln und
Sinnen zu nationalen Taten übergegangen war. Wenn wir nun heute
nach der Entwicklung, die sich inzwischen vollzogen hat, immer deutlicher die
Notwendigkeit erkennen, die ,,Jdee" wieder stärker zu betonen und in die ihr
gebührende Wirksamkeit einzusetzen, so weisen wir natürlich die Zumutung
weit zurück, als ob wir zu dem Ideal der Deutschen als des Volkes
der Träumer und Denker zurücklenken wollten. Dieses gehört der Ver¬
gangenheit an und war freilich, wie wir jetzt sehen, eine notwendige Ent¬
wicklungsstufe. Wohl aber wollen wir durch die stärkere Betonung der Idee zu
einer „Organisation der Erfahrungsmafsen" anleiten nach dem Vorbilde Goethes.
Denn Ideen, wie Goethe sie definiert, sind „Organe", mit deren Hilfe Erfahrungs-
Waffen „erfaßt" werden und zu „eigen" gemacht werden. Die Überlieferung bloßer,
wissenschaftlich einwandfrei festgestellter Tatsachen genügt uns nicht mehr als
höhere Bildung, da sie auf eine bloße Vermehrung der Weltkenntnis hinaus-
läuft. Vielmehr wollen wir mit Goethe „den Unwert einer überhäuften Empirie"
einsehen lernen und lehren, den Kampf gegen die „millionenfache Hydra der
Empirie" und das Sichverlieren „in die Minutien des grenzenlosen Mannig¬
faltigen" mutig aufnehmen und die höher zu bildende Jugend in der Über¬
zeugung bestärken, daß man „das Neuzuerfahrende" keineswegs „durch bloße
Erfahrung in seine Gewalt bekommen könne". Vielmehr nur durch Jdeen-
bildung wird das Gesehene geschaut und in den Busen als ein „Wirkliches"
zu dauerndem Besitz — als „Gehalt" — aufgesogen, vermag das „Feste",
das ist die Welt der Dinge, deren Kenntnis aller Unterricht in erster Linie
übermittelt, „zu Geist zu verrinnen" und als „Geisterzeugtes sest bewahrt"
zu werden.
Gewiß wird das alles durch verstärkte Pflege der Philosophie aus den
höheren Schulen angebahnt werden können. Nur dürfen wir hierbei eben nicht
in zwei Fehler verfallen, einmal zu einseitig Geschichte der Philosophie zu
betreiben — eher Geschichte philosophischer Probleme — und anderseits,
fertige, vermeintlich endgültige Lösungen als unumstößliche Wahrheiten ein¬
prägen zu wollen — vielmehr „philosophieren" soll gelehrt werden, weniger
„Unterricht in der Philosophie" als „Philosophie im Unterricht" soll getrieben
werden, wie es auch zutreffend ausgedrückt worden ist, d. h. also sorgfältige
Pflege der in allen Unterrichtsstoffen enthaltenen philosophischen Elemente. Daß
das schon für die Heranbildung der Lehrer auf den Universitäten weiter¬
greifende Folgen haben muß, versteht sich von selbst. Die können gar nicht aus¬
bleiben, wenn nur erst die Notwendigkeit des Obigen genügend eingesehen ist.
Und notwendig ist freilich die Pflege des Sinnes für die Selbständigkeit eines
geistigen Lebensinhaltes — man denke daran, wie die gesamte philosophische
Wirksamkeit eines Rudolf Eucken dieses Ziel verfolgt —, damit nicht jener
Typus des modernen Deutschen zu einer nationalen Gefahr sich auswachse,
den ich als den allzu zielbewußter Nichts-als-Zweck-Menschen bezeichne und
dessen Erscheinen durch die ungeahnten Erfolge unserer nationalen Industrie
und unseren gesamten volkswirtschaftlichen Aufschwung erklärlich genug ist.
Aber es handelt sich bei der Ausbildung der Fähigkeit, den aus den höheren
Schulen erworbenen Stoff der „Weltkenntnis" später zu einer „Weltanschauung"
zu formen und zu gestalten, keineswegs nur um ein Verfahren im Unterricht
selbst, der natürlich überall, z. B. durchaus auch in der Religion, wissen¬
schaftlich begründet sein muß, und dessen technische Vervollkommnung heute schon
wieder viel zu einseitig betont wird. Vielmehr ist gerade auch in den mancherlei
erzieherischen Momenten, deren Pflege neben dem wissenschaftlichen Unterricht,
neben der Vermittlung von Kenntnissen, mit Recht immer nachdrücklicher gefordert
wird, die Möglichkeit vorhanden, jene Fähigkeit zu künftiger Weltanschauung
auszubilden.
Bei der ungeheuren Bedeutung, die das Verständnis für das rechte Ver¬
hältnis von Freiheit und Notwendigkeit für jede Weltanschauung hat —
ist doch das Ganze der Welt, in dem wir enthalten sind, ebenso wie unser
eigenes Leben auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit
zusammengesetzt — wird z. B. die einsichtige Förderung der freiwilligen Gemein¬
schaften unter der heranwachsenden Jugend von großem Nutzen sein können,
da hier der freiwillige Gehorsam gegen das „Gesetz" ganz besonders geübt
werden kann. Ferner, wenn Weltanschauung im Gegensatz zu Weltkenntnis etwas
Allerpersönlichstes ist, da der Stoff der Weltkenntnis an alle gleichmäßig heran¬
gebracht wird, seine Umformung und Umbildung zu einer Gesamtanschauung aber
von dem „Daimon" und der „Psyche" eines jeden einzelnen Menschen abhängt,
wie sollte da nicht die rechtzeitige Beachtung der Keimzellen der künftigen Persönlich¬
keit und die verständige Pflege individueller Anlagen von Vorteil sein können?
Die Fähigkeit aber wieder, eine Gesamtanschauung auszubilden, muß notwendiger¬
weise durch die Pflege der Anschauung überhaupt unterstützt werden. Wer die
der Jugend so verderbliche schweifende Kraft der Phantasie zu meistern gelernt
hat, wird vorzüglich befähigt werden für das Zusammenschauen auch innerer
Erlebnisse und Erfahrungen. Mithin ist die Forderung, daß auch den sogenannten
technischen Fächern ein recht ernsthafter Anteil an der Gesamtbildung aus den
höheren Schulen zuteil werde, gerade im Interesse künftiger Weltanschauung
berechtigt. Ist doch auch Weltanschauung Gestaltung eines Stoffes aus der
Kenntnis von dessen innerstem Wesen heraus, eine Formgebung im höchsten Sinne.
Fragt man nun aber, welcher Art die Weltanschauung sein müßte, zu der
auf unseren höheren Schulen die Vorarbeit getan werden solle, so muß
zunächst einmal festgestellt werden, daß weder die allgemeine Geschlossenheit des
christlichen Mittelalters mehr möglich ist, weil unsere allgemeine Gebundenheit
hat aufhören müssen, noch diejenige Richtung, die den überwiegenden Teil der
höher Gebildeten im neunzehnten Jahrhundert beherrschte, so lange allein das
humanistische Gymnasium die höhere Schule war: also die durch das Dogma des
klassischen Altertums bestimmte. Vielmehr, wie die Kultur dieses klassischen
Altertums auf den heutigen Gymnasien allein unter dem kulturgeschichtlichen
Gesichtspunkte betrieben fruchtbar wirken kann, so gilt es überhaupt, alle Kultur
der Vergangenheit, die für Vermittlung von Kenntnissen in Frage kommt, von
diesem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu würdigen.
Und das wird hier von dem wünschenswerten Erfolge begleitet sein, wenn
die in dieser geschichtlichen Wirklichkeit sich offenbarenden „Ideen" aufgezeigt
werden. Freilich muß dann mit dem reinen Historismus, der auch in der
höheren Schulbildung die verhängnisvollsten Folgen gehabt hat, noch viel offener
und bewußter gebrochen werden. In gewissen! Sinne soll also damit eine
Wiederaufnahme Hegelscher Art, die Vergangenheit zu betrachten, stattfinden,
das heißt: der Tatsachenstoff soll nicht bloß gezählt und gemessen, er soll gewertet
und gewogen werden. Vergessen wir es doch gerade jetzt, bei der Hundert¬
jahrfeier unserer großen nationalen Wiedergeburt, nicht, daß Hegel zuerst wieder
den Nachweis führte, daß es ein sittliches Handeln nur gibt im Einklang mit
denk sittlichen Geist, der in einem Staat oder Volk als Substanz lebt und
gegenwärtig ist. Hat doch auch ein Historiker wie Schäfer in seiner Deutschen
Geschichte den Nachweis geführt, „wie trotz der unvermeidlichen letzten Ent¬
scheidung durch die Waffen die deutsche Einheit Ergebnis geistiger Strömungen
war" (Deutsche Geschichte II, 417). So wird auch der Hauptnachdruck bei Ver¬
mittlung von Lileraturwerken nicht wie bisher zu einseitig aus die ästhetische
Bedeutung gelegt werden dürfen, sondern nach dem Beispiel bedeutsam voran¬
gehender Führer auf den Nachweis, daß diese Kunstgebilde Gestaltungen von
Weltanschauungen sind.
In hervorragendem Maße werden die realen Lehranstalten, ohne daß die
humanistischen ganz davon ausgeschlossen wären, bemüht sein müssen, auch in
der gesamten durch die Naturwissenschaften vermittelten „Wirklichkeit" die Offen¬
barung von Ideen nachzuweisen, hier besonders nach dem Vorgange Goethes.
Gerade im Hinblick auf die Naturforschung sagte Goethe einst: „Abneigung
gegen die Philosophie" bewirke, daß, „ehe man sich's versieht, der Weg
zur Philisterei betreten ist" und daß „alle, die ausschließlich die Erfahrung
anpreisen, nicht bedenken, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist."
Hat doch gerade auch die ausschließlich unter dem mechanistischen Gesichtspunkt
betriebene Naturforschung die Bildung einer anderen als materialistischen Welt¬
anschauung ganz außerordentlich erschwert und den verhängnisvollen Wahn auf¬
kommen lassen, daß die Welträtsel spielend leicht und daß sie nur richtig mit ihren
Methoden zu lösen seien. Die wohlverstandene „ideenmäßige" Betrachtung der
Natur, die dem exakten, physikalischen Verfahren innerhalb seines Bereichs sein
volles Recht unangetastet beläßt, ermöglicht aber auch andere als materialistische
Weltanschauungen.
Deutschem Wesen ist, soweit wir unsere gesamten nationalen, weltbedeutenden
Kulturleistungen in Anschlag bringen, diejenige Richtung der Weltanschauung
immer hauptsächlich gemäß gewesen, die wir als „praktischen Idealismus" zu
bezeichnen pflegen: die zwei Hauptzüge unseres nationalen Wesens, die tiefe
Innerlichkeit und der starke Wirklichkeitssinn, kommen eben dabei gleichmäßig
zur Geltung. Der Engländer Carlyle war es, der im Hinblick auf diese Haupt¬
richtung deutscher Weltanschauung das Wort prägte, daß das einzig Reale der
Gedanke sei, denn er ist der Vater der Tat. Anleitung also, gerade auf diese
Weise den Stoff der Weltkenntnis zu künftiger Weltanschauung zu gestalten,
wird eine Hauptangelegenheit unserer höheren Schulen bilden müssen: sie bekämen
dadurch auch wieder eine besonders tragfähige einheitliche Grundlage.
chloß Borküll lag in tiefem Frieden.
Heute schwiegen alle Arbeitsgeräusche, und in Maras ab¬
gelegenes Zimmer drangen nicht einmal die langgezogenen Töne
der frommen Sänger, die Gräfin Emerenzia Schildberg unten
in: großen Saal allsonntäglich um sich versammelte.
Mara wachte auf, als ihr die Sonne durchs offene Fenster mitten aufs
Gesicht schien. Da reckte sie sich behaglich: „Endlich einmal Sonne!" Aber
ihre Fröhlichkeit hielt nicht vor. Sie dachte daran, daß dieser Sonntag so
langweilig sein würde, wie alle anderen.
Zu Mittag hatten sich die Rosenhofer angemeldet, und ihr graute vor den
endlosen Salbadereien der beiden alten Damen, Tante Emerenzia und Gräfin
Hahn. Dazu der entsetzlich fade Woiko, das Muttersöhnchen von dreiunddreißig
Jahren, dem sie den Spitznamen „Knabe nämlich" gegeben hatten! Wenn
Mama doch wenigstens heute aufstände und die Honneurs machte! Der Gräfin
Schildberg anmaßendes Getue war einfach nicht mehr auszuhalten.
Laut rief das junge Mädchen ins Nebenzimmer hinüber, das von dem
ihrigen nur durch eine Portiere getrennt war:
„Es ist wunderschönes Wetter draußen, Mama! Heute mußt du an die
Luft. Paß auf, es wird dir gut tun!"
Eine müde Stimme antwortete:
„Komm lieber und zieh die Vorhänge vor. Ich kann das grelle Licht
nicht vertragen! Wie hast du nur bei dem Lärm da unten so lange schlafen
können? Der alte Maddis singt immer drei Töne zu hoch. Das ist geradezu
Gift für meine Migräne!"
„Du hättest lieber nicht so lange lesen sollen!" predigte Mara am Bett
der Mutter mit verhaltener Ungeduld. „Ich glaube gar, du hast das dicke
Buch schon wieder durch? Deine ewigen Krimmalgeschichten! Und das heiße
Fußbad hast du gestern Abend auch nicht genommen! Wie willst du denn
jemals gesund werden?"
„Laßt mich in Ruhe mit euren Ideen! Gegen mein Leiden ist eben kein
Kraut gewachsen. Da hilft Tante Emerenzias Beten und Handauflegen eben
so wenig wie deine Wäscherei. Gib mir mein Pulver her! Vielleicht komme
ich noch ein bischen zum Schlafen."
So ging es jeden Tag. Seufzend gab Mara ihren Versuch, die Mutter
zu beeinflussen, auf.
Mit aller Energie wehrte sie sich gegen diese hoffnungslose Müdigkeit, von
der sie sich auch selber oft erfaßt fühlte. Sie steckte jetzt mit ein paar Griffen
ihrer mageren Hände ihr reiches rotblondes Haar vor dem Spiegel auf und
schlüpfte in ihr Reformkleid.
Dann wollte sie selbst wenigstens den herrlichen Morgen genießen. In
durstigen Atemzügen trank sie die köstliche frische Luft, die durch das Fenster
hereinströmte und ließ ihren Blick in die duftige Ferne schweifen. Da sah sie
am Rand der Wiese hinter dem Park eine fremde Erscheinung. Anfangs hielt
sie den hellen Fleck für eine weiße Ziege, die sich im Grase sonnte. Aber dann
schien es ihr doch wieder anders. Wenn ihre kurzsichtigen Augen sie nicht
täuschten, mußte es ein Mensch sein. Wer aber hatte dort um diese Stunde
was zu suchen?
In prickelnder Neugierde suchte sie ihr Fernglas hervor und stellte es ein.
Da erkannte sie zu ihrem hellen Erstaunen, daß der weiße Fleck die Leinewand
eines Malers war, der seine Staffelei dort drüben auf der Wiese aufgestellt hatte.
Ein Maler, ein richtiger Maler — wie mochte der hierher in diesen ab¬
gelegenen Erdenwinkel gekommen sein?
Mara pfiff ihrem Hund, einem schönen silbergrauen Barsoy, der noch
verschlafen auf seinem Kissen lag und rannte die Treppe hinunter in den Park.
Ihre Absicht war, geraden Wegs nach der Wiese zu gehen, um sich das
Wunder, das sich da in Borkülls nüchternes Milieu verirrt hatte, aus der Nähe
anzusehen. Aber die Menschenscheu, die ihr anhaftete, und die nichts war als
ein Symptom ihrer inneren Haltlosigkeit, kam wieder über sie und hemmte ihre
Schritte, je deutlicher der Maler hinter den Büschen des Parks sichtbar wurde.
Sie tat, als bemerke sie ihn nicht, schwenkte rechts in einen Seitenpfad
ein, machte einen großen Bogen und kam dann langsam auf demselben Weg
wieder zurück.
Der Maler hatte sie längst gesehen. Als er vor einer Stunde seine
Werkstatt auf diesem Wiesenabhang aufschlug, von wo aus das braunrote Dach
des Schlosses so malerisch über den goldgelben Wipfeln der Linden sichtbar
war, hatte ihn nicht nur das hübsche Motiv bestimmt, sondern auch die Absicht,
sich bemerkbar zu machen.
Frau Pastor Tannebaum hatte ihm von Mara und ihren Neigungen er¬
zählt. „Sie schwärmt für Nietzsches .Übermenschen' und geht jeden Morgen
barfuß auf dem Nasen spazieren!"
Da hatte sich Madelung, der Maler, vorgenommen, die Bekanntschaft
dieses ungewöhnlichen, ihm von vornherein sympathischen Mädchens zu machen,-
koste es, was es wolle.
Vor drei Tagen war er mit dem letzten Dampfer aus Deutschland ge¬
kommen, um seine Kusine zu besuchen, die jetzt endlich des verwitweten Pastors
Tannebaum Frau geworden war. Sie hatte sich das Glück durch eine lang¬
jährige Tätigkeit als Erzieherin der sieben Kinder wohl verdient.
Traugott Madelungs wasserblaue Augen hatten an diesem Morgen scharf
nach dem Herrenhaus hinübergesehen. Die Perspektive der Dachkonstruktion
machten dem mäßig talentierten Schüler des Professors Neide in Königsberg
ziemliche Schwierigkeiten. Aber kein künstlerischer Katzenjammer quälte ihn.
Er war sehr zufrieden mit sich. Die Malerei war nicht die einzige Aufgabe,
für die er lebte. Die anderen glückten ihm entschieden besser. Er war ein
unentwegter Kämpfer gegen die Sünden, deren sich die verrottete Menschheit
mit der Zunahme der sogenannten Kultur wider die Forderungen der Natur
schuldig machte. Sein graugelbes Haar, das ihm in langen Strähnen tief in
den Nacken hing, bewies nicht nur, daß er zur freien Gilde der Kunst gehörte,
es war vor allem ein Protest gegen das Haarschneiden überhaupt. Da gehen
sie nun alle vierzehn Tage hin und überliefern sich der Scheere des Barbiers,
tragen schwere Hüte aus dichtem Filz und versagen ihrer Hirnhaut die Wohltat
der frischen Luft. Ist es ein Wunder, daß sie mit Glatzen herumlaufen —
ein Spottbild auf den Namen Mensch? Es galt, ihnen zu zeigen, welche
Schönheit einem unbeschnittenen Haupt eigen ist.
Sein Bart zeigte freilich nicht die gleiche üppige Triebkraft, wie sein
Schöpf. Aus der Oberlippe schössen ihm einige dürftige Härchen, und das
Kinn war nur gerade so viel bewachsen, um von der Hand gezupft werden zu
können, wenn sie helfen sollte, der Haltung des Malers die nötige Gedanken¬
schwere zu geben.
Auch jetzt hatte Madelung in dieser philosophischen Stellung hinter seiner
Staffelei gesessen, als er an dem östlichen Eckfenster die weiße Gestalt des
Schloßfräuleins bemerkte. Ein unklares Sehnen hatte sich dabei in sein
Asketenherz geschlichen, und für eine Weile waren alle Lebensaufgaben vergessen.
Dort drüben in dem Herrenhaus, so träumte er, dort wohnen Glück und
Reichtum. Ja — ein herrliches Gefühl mußte es sein, solchen Besitz sein
eigen zu nennen. Nicht wie er sich kümmerlich durchschlagen müssen, von Mal¬
stunden und dem kärglichen Erlös seltener Bilderverkäufe leben, sondern Herr
sein über sein eigenes Geschick, wie über das von vielen anderen Menschen!
„Welch einen Segen würde ich mit dem vielen Gelde stiften, wenn es
mir gehörteI" dachte er, da sah er Maras rotes Haar durch die Büsche
schimmern. So flüchtig der Eindruck war, den er von der Erscheinung des
jungen Mädchens hatte, er genügte, um seinen Träumen eine bestimmte Rich¬
tung zu geben.
Der scheue ängstliche Blick Maras weckte in ihm eine sichere Überlegenheit. -
Ihre schlanke magere Gestalt entsprach ungefähr jenen, Idealbild der Frau, die
auf seine Liebe rechnen durfte. Er hatte bemerkt, daß sie Sandalen an den
bloßen Füßen und ein Reformgewand trug, dessen Linienfluß von keinem Korset
verunstaltet wurde. Sicher war hier eine Basis gegenseitigen Verstehens, und
die wollte er nicht ungenutzt lassen.
Als Mara zum zweiten Mal in die hypnotisierende Nähe der Staffelei
gezwungen wurde, trat der Maler hinter der Leinewand hervor und näherte
sich ihr mit linkischer Verbeugung.
„Ich stehe wohl der Herrin dieses schönen Parks gegenüber!" sagte er
milde lächelnd. „Verzeihen Sie bitte. Die Liebe zur Natur hat mich hierher getrieben.
Ich bin sicher, Sie werden mich nicht fortweisen. Ja mehr noch, ich bin überzeugt,
daß mich der Zufall einer Gesinnungsgenossin in den Weg geführt hat!"
„Wie meinen Sie das?" Unter dem starren Blick des Malers errötete
Mara verlegen.
„Nun — jeder sogenannte Kulturmensch würde sich an diesem frischen
Morgen ängstlich gegen die Luft abschließen. Sie aber, Fräulein, bieten ihren
Fuß willig dem Kuß des Taues und das schöne Haar dem Winde!"
„Darf ich Ihr Bild betrachten?" fragte Mara, erschreckt durch die unver¬
frorene Begrüßung, aber doch auch geschmeichelt, daß man ihr Verständnis
entgegenbrachte.
„Oh — es ist nur angelegt, Fräulein, Sie können noch nicht viel darauf
erkennen. Der Vordergrund muß noch lebendiger werden. Vorhin, als ich
Sie aus dem Park schreiten sah, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen,
da hatte ich mit einem Male die Staffage, die dem Bild fehlt. „Herbsttraum"
will ich es nennen. Und die holde Melancholie dieses Oktobertages soll sich in
der Gestalt eines jungen Weibes ausdrücken, das sich träumend an jenen grauen
Buchenstamm lehnt."
Es stimmte, was Madelung sagte. Die paar Farbenstriche ließen noch so
gut wie nichts von seinen Absichten erkennen.
Mara meinte, um nur etwas zu sagen: „Daß unser altes Borküll noch
einen Maler reizen könnte!"
„Ja, es kommt eben alles aus den Standpunkt an," fiel Madelung lehrhaft
ein. „Der denkende Mensch soll durch das Leben gehen wie der Maler durch
die Landschaft. Hier wie dort ist.die Forderung: den Standpunkt wechseln!
Motive finden und Irrtümer erkennen, ist das Resultat!"
„Ich denke mir, Ihre Kunst muß Sie unendlich glücklich machen!" Maras
Interesse war erwacht.
„Die Kunst allein niemals! Sie ist nur ein Teil meines Glückverlangens.
Schaffen allein tut es nicht — wenn es auch natürlich den Künstler wie den
Betrachtenden erfreut, aber die Natur stellt höhere Ansprüche an uns. Sie gab
uns die Einsicht und die Kraft zum Wirken. Leider sind sich die meisten
Menschen dieser Pflicht nicht bewußt. Um so mehr müssen die wenigen auf
dem Platze sein, die unvoreingenommen, mit ungetrübtem Auge dein Wahn in
sein verzerrtes Antlitz sehen."
Diese inhaltsschweren, gedankentiefen Worte sprach der Maler nicht etwa
mit erhobener Stimme. Er stand neben Mara, den rechten Ellenbogen in die
linke Hand gestützt und fuhr von Zeit zu Zeit mit den langen knochigen Fingern
über sein Kinn. Der Ausdruck seines Auges blieb gelassen und leblos — ein
Fischauge, das gegen die Wand seines gläsernen Behälters starrt.
„Ein seltsamer Mann!" dachte Mara in einem Gemisch von Interesse und
Ablehnung. „Aber ich glaube, er ist ein guter Mensch!"
Als sie so stand und ihn heimlich von der Seite betrachtete, wurde das
Schweigen plötzlich von einem Bellen unterbrochen. Ihr Hund Barry war
vorhin einem Waldhasen nachgesetzt und hatte seine Herrin verloren. Jetzt
hatte er sie gefunden und blieb ein paar Schritte vor den beiden stehen, indem
er wütend nach dem Maler klaffte.
Mara wies ihn zur Ruhe: „Er hat noch keine Staffelei gesehen!"
„Ein herrliches Tier," meinte Madelung und lockte den Hund: „Nun
komm schon her, nun komm schon her!" Aber all sein Werben regte das Tier
nur noch mehr auf. Er fletschte die Zähne und sprang den Maler an, so daß
er gezwungen war, sich mit der Leinewand des Bildes zu schützen.
„Was ist mit ihm los?" Mara war erstaunt, aber doch auch ein wenig
belustigt über die komische Situation. „Kusch dich, Barry!" Sie faßte ihn
energisch am Halsband. „Ich glaube, es ist der ungewohnte Anblick Ihres
langen Haares!"
Sie hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen, denn Madelung hielt immer
noch den Keilrahmen als Schild vor sich und blickte ängstlich über seinen Rand.
Da fiel ihr seine Ähnlichkeit mit Berta „Angsthase" auf, und jetzt erinnerte sie
sich, daß sie ja schon längst von ihm gehört hatte.
„Sind Sie nicht der Vetter von unserer Frau Pastorin?" Als er es be¬
jahte, mußte sie doch laut auflachen.
Dessen hatte sich Madelung am allerwenigsten versehen, nachdem ihm die
erste Anknüpfung der Bekanntschaft so vorzüglich gelungen war.
„Sie verzeihen!" sagte Mara, „aber es ist wirklich ein komischer Zufall.
Fräulein Berta Madelung war nämlich bisher der einzige Mensch, der sich mit
meinem Barry nicht gut stand, ein paar Hofleute ausgenommen."
„Das Tier wittert, daß ich kein großer Hundefreund bin, und die Madelungs
sind es wohl alle nicht. Sie haben immer in der Stadt gelebt. Er wird es
sicher lernen, sich mit mir zu vertragen."
„Sie dürfen nur keine Angst zeigen wie Fräulein Berta — pardon, wie
Frau Pastor Tannebaum. Übrigens erwarten wir ja heute Besuch aus dem
Pfarrhaus. Vielleicht kommen Sie auch mit?"
„Sehr gerne, Fräulein —"
„von der Borke!" fiel Mara ein, die seit der Entdeckung der verwandt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen dem Maler und Berta „Angsthase" den Rest
ihrer Befangenheit verloren hatte. Aber Madelung blieb vor der Hand bei
der Anrede „Fräulein". In dem Wörtchen „von" sah er die Prätention eines
Standesunterschieds, den er nicht anerkannte.
Vom Schlosse her schallten die Töne eines Gong.
„Man ruft mich zum Frühstück. Ich freue mich, heute Nachmittag unsere
Unterhaltung fortsetzen zu können." Und lachend fügte das junge Mädchen
hinzu: „Ich sage Ihnen aber gleich, daß kaum einer von den Gästen Ihren
Ansichten beipflichten wird. Hier behält man immer denselben Standpunkt!"
„Ich fürchte mich nicht! Ich bin den Kampf gewohnt und liebe ihn.
Je tiefer der Irrtum, desto herrlicher die Misstoni" war Madelungs stolze
Entgegnung.
Mit leichter Verneigung hatte sich Mara verabschieden wollen, aber der
Maler streckte ihr feierlich die Hand entgegen. Nur zögernd und mit erstaunten
Blick reichte sie ihm ihre Fingerspitzen, die er fest umklammerte. Seine Hand
war kalt und feucht. Mara hatte eine unangenehme Empfindung. Noch lange
schien es ihr, als läge ein eiserner Ring um ihre Finger.
Und doch hatte dieser Sonntag jetzt auf einmal ein besonderes Gesicht
bekommen. Das Erlebnis, wonach sie sich gesehnt hatte — hier war es!
Schon im voraus fühlte sie ein kribbelndes Vergnügen bei der Vorstellung, wie
die steife Nachmittagsgesellschaft auf den originellen Apostel reagieren würde.
(Fortsetzung folgt)
an soll mir nicht den Vorwurf machen, ich überschätze die Be¬
deutung dieser Affäre, wenn ich mich ihr so ausführlich widme;
es wäre ungerecht und vor allem gefährlich, an ihr vorbeizugehen,
das Ludwigsche Antiwagnerbuch mit persönlicher Mißachtung zu
> erledigen, wie es leider vielfach geschehen ist. Ungerecht, weil es
ein ehrliches, geistvolles Buch ist, das den Pfad anständiger Erörterung nie
verläßt. Ungerecht auch, weil es seine Verdienste hat: die Kapitel über den
Tristan und über Mozart (dessen Sonne auch ich von neuem aufgehen sehe),
das allein sicherte ihm neben der Fülle geistvoller, wenn auch unzulänglicher
Kritik das Lebensrecht.
Gefährlich aber vor allem wäre hier achselzuckende Verächtlichkeit: wie nur
je ein Buch ist dieses hier Symptom. Das erste deutlich kennbare Symptom
der neuen Antiwagnerbewegung. Und jedes Wort, das man diesem Werk
widmet, richtet sich gegen alle, die seit zwei Jahren ihre Stimme gegen Bayreuth
erheben, trifft jene „Entzauberten", die sich aus der Fülle allzuheißer Wagner¬
liebe bitteren Haß gegen des Künstlers Leben und sein Werk getrunken haben.
Und deren Schar ist viel größer, als wir alle noch vor einem Jahre wähnen
konnten, als der Streit um Parsifal begann. Geht es so weiter, so hallt Deutschland
in kurzer Zeit nicht nur von den Kampfrufen aus den Tagen von Hanslick,
Klara Schumann und Friedrich Nietzsche wider: es kann dieses Mal viel
schlimmer werden. Die heute von Wagner abfallen, sind, wie ich angedeutet
habe, doch nur dieselben, die ihn ehemals in hysterischer Trance verehrten.
Ihr Haß kann dieses Mal zur schrankenlosen Massenpsychose werden, wie ihre
Liebe von gestern eine Massenpsychose gewesen ist.
Merkwürdig! Vor zwei Jahren war noch alles, was sich heute so un¬
sinnig gebärdet, in tiefem Frieden. Das Antiwagnertum von früher war tot,
spukte nur noch, vertreten durch einige Kritikerfosstlen aus der Hanslickzeit, im
nicht nur politisch konservativen Osten. Im übrigen sahen und sehen wir
jenen Vorgang, der doch immer erst die dauernde Lebensfähigkeit eines Kunst¬
werkes erweist: an Wagner setzte sich immer von neuem die junge Musiker¬
generation an. Und unter dem Einfluß seines schaffenden Nachwuchses, unter
Leitung der Dirigentengeneration, deren geistiger Vater er gewesen (auch hier
sei dankbar Felix Mollis gedacht), wurde sein Werk allmählich der Tageser¬
örterung entzogen. Der ekstatischen Verhimmelung sowohl, die noch jedem
Werk geschadet hat, als auch der erbitterten Feindschaft. Allmählich wandelte
es sich mit dem Unvergänglich-Neuen, das es uns geschenkt, trotz aller Trübungen,
die ihm die Disharmonie seines Schöpfers nicht nur, sondern auch dessen Zeit
ihm eingefügt hatten, zum sicheren, unantastbaren Besitz deutschen Geisteslebens.
Vor zwei Jahren noch war es so. Nun ist der Schrei gegen Wagner fast zur
Mode geworden!
Erste Etappe: Wagners alle überzarten Gemüter verletzende Selbstbiographie.
Intermezzo: die Veröffentlichung seines höchst unsympathischen Briefwechsels
mit den: Freiherrn von Hornstein und der letzte Band von Glasenaps Biographie,
der in seiner kritiklosen, zum Teil anmaßenden Verhimmelung Wagners nur
berechtigten Widerspruch herausforderte.*)
Zweite Etappe: der Kampf um das Schicksal des Parsifal mit dem leiden¬
schaftlichen Für und Wider. Und nun die Frucht: das Ludwigsche Buch und
die neue Antiwagnerbewegung, die hinter ihm steht.
Daß eben diese Bewegung aus dem Boden der Kritik an der Person des
Künstlers erwachsen ist, kennzeichnet sie mehr, als sie selbst zu ahnen scheint.
Es ist am Ende nicht das erste Mal, daß zarte Gemüter sich von einem Heros
wenden, sowie sie sehen, daß der Mann rin beiden Füßen auf der Erde stand
und kindlichen Blütenträumen nicht entsprach. Es ist das Schicksal der Schwäch¬
lichen aller Zeit, daß sie dem Genius immer nur soweit zu folgen vermögen,
wie das eigene beschränkte Sittengesetz es erlaubt. Da, wo der Angebetete
diesen Punkt überschreitet, hat sich schon manche heiße Liebe in blindes Wüten
verwandelt. Eine richtige Wertschätzung hat noch kein Großer, der über diese
Erde ging, bei denen gefunden, die in ihm die Erfüllung eines außen und innen
gesäuberten Backfischideales sahen.
Ist es nicht bezeichnend, daß unter allen ausgesprochenen Wagnergegnern
von heute nicht nur kein einziger Musiker oder Dramatiker, sondern auch mit
Friedrich Huchs Ausnahme überhaupt kein einziger produktiver Künstler ist? Der
Laie schlechthin wird eben doch immer nur ein begrenztes Verständnis für den
Mechanismus eines Künstlerlebens haben, wenn es in seinen Tatsachen enthüllt
vor ihm liegt: die scheinbaren Egoismen, die sprunghafter Äußerungen brutal
scheinenden Temperaments werden ihn nur zu leicht verletzen und ihm Werk und
Mann verärgern. Er bleibt, genau wie der kritisierende Literat, doch immer der
typisch anständige d. h. zum ehrlichen Objektivieren neigende Unbeteiligte. Der
Künstler aber war von jeher der nur auf Schaffen und Wirken bedachte kecke
Gesell, der leicht die Bahnen bürgerlichen Anstandes verläßt, wenn ihm irgend
jemand den Weg dazu verlegt.
Konnte man Wagner literarischer beurteilen, wenn man mit Ludwig von
seinem „amusischen Willen zur Wirkung" spricht? Wann lebte je ein Künstler,
der den Erfolg nicht wollte und nicht auf ihn reflektierte? Auch der Vor¬
wurf, den man nun von fo vielen Seiten gegen Wagner erheben hört, der
Vorwurf, „er habe im Theater gewurzelt", hat nur am Schreibtisch entstehen
können. Wagner meisterte in der Tat das Theater fast immer genial. So
genial, daß man heute zufrieden wäre, die dramatische Produktion unserer
Tage hätte nur einen Bruchteil von seinem Verständnis für die Perspektive
der Bühne. Aber — das Theater bleibt dem ästhetisierenden Literaten
immer ein anrüchiges Ding, zu dem er zwar fast immer im Busen eine
heimliche Sehnsucht nährt, das er aber fast nie meistern kann, weil dazu mehr
lebendiges Künstlertum, mehr Impuls, Persönlichkeit und Menschenkenntnis
gehört, als zu einem Leben voller kritisch-ästhetisierender Arbeiten.
Ich will keine widerlegenden Argumente anführen gegen Ludwigs eifrig
suchende Zusammenstellung unsympathischer Episoden und kleiner Eigen¬
schaften in diesem beispiellos dissonierenden Leben. Und ich zweifle nicht
daran, daß er den Tatsachenbestand gewissenhaft verwandt hat, der ihm
reicher und unmittelbarer zur Verfügung stand, als mir, den mit Bayreuth
keine alten Beziehungen verbinden. Ich verteidige nicht mit einem
Wort jede einzelne von Wagners zur Anklage gestellten Äußerungen und
Handlungen.
Einfach weil ich weiß, daß das Werk den Mann verteidigt.
Als ich das Ludwigsche Buch las, plante ich es erst anders. Und vor
mir liegt jetzt eine kleine Sammlung von schriftlichen und wohlverbürgter
mündlichen Äußerungen großer Geister über ebenso große oder größere Zeit¬
genossen. Äußerungen und Episoden, die wir heute, wo den Kritiker und
den Kritisierten nicht mehr der Kampf der Zeit umtobt, schlechtweg als un¬
sympathisch und anmaßend bezeichnen müssen.
Ich habe es schließlich doch gelassen, das alles hier im einzelnen anzu¬
führen. Nicht nur, weil ich sonst den dieser Affäre gebührenden Raum
überschreite: am Ende verblaßte zartbesaiteten Seelen auch Hugo Wolfs
Lebenswerk, wenn ihnen im einzelnen seine mündlichen und schriftlichen
Kritiken, nein, Schmähungen! Brahmsscher Musik reproduziert würden. Oder
die bunte Farbenpalette Liliencrons, weil sich die vollsaftige Natur des Pogg-
fredmannes durchaus nicht in die Lebensform wohlgesitteter Bürgerlichkeit
fügte! Wer sich entrüsten will, suche nur. Er findet in Hans von Bülows
Leben, in Anselm Feuerbachs Briefen genug der scheinbaren Überhebung, der
Maßlosigkeit im Urteil, die sich für Sehende immer aus dem Widerspruch
gegen andersschaffende Zeitgenossen, aus der persönlichen Gereiztheit des Moments
erklären. Mehr noch: auch von dem, der nach allgemeinem Urteil ein Beispiel voll¬
kommenster Lebensharmonie gegeben hat, auch von dem Durchstöbern des
Goethescher Lebens wird frommer Eifer nicht ergebnislos zurückkehren und wird
selbst vor dem ewigklaren, spiegelreinen von Mozart nicht Halt machen können.
Zugegeben: der Fall Wagner liegt ungünstiger, als etwa der Fall Wolf-
Brahms. In diesem Leben hier häufen sich jene Episoden der Selbstsucht
und der Anmaßung. Häufen sich so, wie sie sich vielleicht in keinem anderen
Künstlerleben häufen. Und dann hat hier — ich habe es schon flüchtig
angedeutet — die maßlose Verzückung, der hysterische Kult, der vielfach mit
dem Mann und mit dem Werk getrieben worden ist, ebenfalls reichlich das
seine dazu beigetragen, bei leidlich Feinfühligen Widerspruch zu erwecken.
Oder ist es etwas anders als hysterischer Kult, wie sich Glasenap in seiner
Biographie gebärdet? Wenn er etwa von der gewiß ganz ungewöhnlich starken
Persönlichkeit Kosimas nie anders als von der „hohen Frau" spricht? Wenn
die ganze Schar der „Bezauberten" Wagner unpersönlich wie den einen Gott
immer nur „den Meister" nennt, als sei er der einzige gewesen, der droben
im Licht gewandelt ist?
Begreift man es, wenn man an diese tausend Torheiten denkt, daß alle,
die sich einmal in den Traum von dem makellosen Ideal- und Universalmeister
wiegen ließen, mit einem Katzenjammer ohne gleichen erwachen mußten, als
sie die rauhe Wirklichkeit eines erbittert durchkämpften, mit einem fanatischen
Willen zur Wirkung durchfochtenen Lebens sahen?
Was aber hat diese Entzauberung mit dem Wert eines Werkes zu tun,
wie er sich dem enthüllt, dem Hysterie nicht den Blick trübt? Aber ich will
einstweilen nicht von dem Werk sprechen, ich verweile zunächst bei diesem nun
so vielfach geschmähten Leben.
Woran haftet bei der Mehrzahl der Wagnergegner der maßlose Vorwurf?
Neben der Verärgerung durch die vielen unsympathischen Episoden vor
allem an dem Willen Wagners, sich und sein Werk durchzusetzen, um jeden
Preis und mit Aufgebot jedweder Propaganda. Schließlich auch an der ewigen
Disharmonie (vgl. die „Krampftheorie" von Ludwig), die diesen Mann rastlos
von einem Menschen zum anderen getrieben hat, von einem Extrem ins andere.
An der Disharmonie, hinter der doch am Ende nichts anderes gestanden hat
als der nämliche, allzuoft enttäuschte Wille, seine Mitwelt zur Anerkennung zu
zwingen.
Die Tatsache, daß dieses Leben so war, wird nach dem, was wir heute
wissen, niemand leugnen. Niemand wird bestreiten, daß Wagner jeden, der
je in den Bannkreis seiner Persönlichkeit getreten ist, für sein Leben und sein
Werk ausgenutzt hat. Rücksichts-- und hemmungslos oft. Die Phrase von
Wagner dem Gütigen ist dahin, für Wissende nicht erst seit zwei Jahren.
Was tuts?
Wagner hat Neues und zum Teil unumstritten Schönes gefördert. Um
die Meistersinger machen die Wagnergegner von heute durchweg einen weiten
Bogen; und ein so entschiedener wie Ludwig findet für Tristan nur Worte
der Liebe. Hat aber der, der solche Werke in die Trübheit einer Zeit warf,
die wir heute mit Fug und Recht eine Kulturbaisse nennen, hat der, der mit
einem Werke wie den Tristan unstreitig seiner Zeit vorauseilte, eigentlich ein
Recht auf eine Wirkung bei Lebzeiten? Oder ist es ein für allemal des
deutschen Künstlers Pflicht und Schuldigkeit, mit Bitternis ins frühe Grab zu
fahren (wie sieben Jahre nach Wagners Tode Anselm Feuerbach) und erst in
Jahrhundertfeiern verspätete Anerkennung zu finden?
Was steckt heute zum Teil hinter der sittlichen Entrüstung über Wagners
Willen zur Wirkung? Daß dieser Wille Erfolg gehabt hat. Wäre er damals
gescheitert, käme erst heute die Tristanpartitur ans Tageslicht, man feierte, die
um Emil Ludwig an der Spitze, die Selbstbiographie mit allen ihren Emana¬
tionen des Egoismus und des Ringens um Anerkennung als eine Tragödie
des mit überstarken Willen an der Unzulänglichkeit der Zeit gescheiterten
Künstlers.
Aber so? Der Mann hatte ja Erfolg, wußte seine Zeitgenossen ins Joch
zu zwingen! Und das scheint eine Sünde wider das kritische Selbstgefühl der
Menge zu sein. Die jeweiligen Zeitgenossen erkennen freiwillig eben nur da
an, wo der Künstler ihnen scheinbar oder in der Tat entgegenkommt. Mozart
konnte sie mit seiner Musik, von der seine graziöse Zeit nur die scheinbare
Heiterkeit hörte, orpheisch leiten. Goethes erster ganz großer Erfolg ist keins
von jenen Werken, ein denen unser Gedenken an ihn heute vor allem haftet:
es ist sein Wertherbekenntnis, das demi Massengefühl von damals, der blau¬
befrackten und gelbgehosten Sentimentalität der Zeit entgegenkam.
In solchen Fällen wie diesen hier spendet die Zeit gern frühen Ruhm,
obwohl sie auch das Götterkind aus Salzburg in pekuniären Elend hat sterben
lassen.
Wer aber als Künstler Wege geht, auf denen die Zeit nicht ihr Sentiment,
nicht ihr Pathos, nicht ihre Tragik zu finden meint, der ist meist um den
erlebten Erfolg seines Werkes betrogen. Beethoven stirbt unermessen, Hölderlin
muß ins Narrenhaus, Feuerbach muß — das klassischste Beispiel — umstritten
und meist verkannt, ein Fünfzigjähriger ins Grab. Und lächelnd mag man
sich vorstellen, was vor zwanzig Jahren, als Ibsen die Zentralsonne war, die
naturalistischen Schriftgelehrten und Kritiker über eine verfrühte Regung unserer
heutigen Neuromantik gesagt hätten I
Wagner ist eine unerhörte, ich möchte sagen napoleonische Ausnahme von
der Regel, die ich eben genannt habe.
Er war seiner Zeit fremd und hat sie doch zur Anerkennung gezwungen.
Mit genialer Menschenkenntnis und oft fast dämonischer Energie.
War etwa, bevor man in ihm die Apotheose auf die Versailler Kaiser¬
krönung erblickte, der Ring populär? Und klang etwa aus der Tristanpartitur
das Fühlen der Zeitgenossen? Derselben Zeit, die gerade damals in ihren
besten Köpfen den Materialismus von neuem gebar, die mit altem Kulturbesitz
aufräumte um schneller reich zu werden, dieser durchaus tüchtigen Zeit, die sich
anschickte, das Reich zu schmieden? Wie klingt in ihr der weltverlorene, nein
weltignorierende Rausch der Tristannacht?
Konnte Wagner eine feindseligere Öffentlichkeit finden, er, der mit Liszts
und etwa Hans von Bülows Ausnahme nicht eine Stütze unter damals bereits
geltenden Musikern fand, wohl aber eine Schar sich entsetzt von dem Neuerer
abwendender, zum Teil mit ebenso persönlichen Waffen fechtender Feinde?
Bewußt sah er sich im Gegensatz zu seiner Zeit, nahm bewußt halb und
halb im dunklen Drange genialer Selbstsucht den Kampf auf unter Nutzung
seiner persönlichen Suggestion, unter Nutzung aller modernen Propagandamittel
(vergleiche seine journalistische Sendung) und hat gesiegt. War, als erster
Künstler vielleicht, stärker als das Urteil serner Zeit.
Das scheints, vergibt ihm, nun da seine Technik des Erfolges, seine
Propagandamittel bekannt werden, das gemeine Urteil noch heute nicht. Die
Masse, die sich in ihren Bewertungen ihrer jeweiligen Künstler blamiert hat,
seit die Geschichte der Künste es aufzeichnet, diese Masse will sich nicht aus dem
Richteramt gedrängt sehen. Weiß sie einer, der ihre Schwächen kennt, zu
ködern, zu lenken, zu sich zu zwingen, just so, wie es Wagner verstanden hat,
so folgt sie, solange der Bezwinger lebt und persönlichst auf sie einwirkt.
Sieht sie später ein, daß sie um ihr seit Jahrhunderten verbrieftes Recht der
*
Verdammung und des Verkennens betrogen ist, so wähnt sie sich „bezaubert"
und heult in Wut auf.
Hat, um es nicht bei der unbestimmten Andeutung von vorhin zu belassen, dieses
Künstlerleben in seinem erfolgreichen Willen zur Geltung nicht eine zwingende
Ähnlichkeit mit dem Genius, der vor hundert Jahren Europa — bezauberte?
Im Leben Napoleons findet sich just dieselbe Technik, sich um jeden Preis
durchzusetzen. Und bald nach seinem Tode hören wir eine ähnliche, auf dieselbe
Tonart gestimmte Kritik (Thiers u. a.), die die tausend Disharmonien und
unsympathischen Episoden eifrig zusammenträgt.
Und hätten beide nichts anderes aufzuweisen (sie Habens am Ende doch),
als diesen Urwillen zum persönlichen Erfolg mit dieser massenbezaubernden
Wirkung, diesen Genius, zu zwingen, sie hätten für den menschlichen Richter
alle Mittel durch eben diesen Genius geheiligt und wären unvergänglich.
Dieses Leben vollends hat ein Werk hinterlassen, das es doppelt recht¬
fertigt.
Und von diesem Werk, Herr Emil Ludwig, sprechen wir bei der nächsten
Gelegenheit.
Hoffnung, daß die politische Entspannung eine schnelle und
t^V« ^ durchgreifende Rückwirkung auf das internationale Wirtfchafts-
>M>l'° ausüben werde, hat sich bisher nicht erfüllt. Insbesondere
läßt die Entwicklung der Geldverhältnisse durchaus nicht erkennen,
M^«» ol^ü daß sich die so sehnlich erwünschte Wendung zum Bessern an¬
bahnt. Noch immer steht der internationale Geldmarkt unter dem Drucke einer
außergewöhnlichen Spannung. Nirgends freilich mehr als in Deutschland, wo
die Reichsbank sich ganz außerstande sieht, den sechsprozentigen Zinsfuß zu
ermäßigen und wo dementsprechend auch die Zinssätze des Marktes eine
exorbitante Höhe bewahren. Diese Erscheinung ist indessen weniger auffallend,
wenn man bedenkt, daß die politischen Verhältnisse nicht in letzter Linie oder
gar ausschließlich die Steigerung der Zinssätze verursacht haben. Vielmehr ist
die Ursache für die letztere durchaus in der internationalen Konjunktur und
dem damit verbundenem Geldbedarf zu suchen. Selbstverständlich haben die
politischen Unruhen und die Kriegsbefürchtungen die Situation verschärft, weil
sie eine große Zurückhaltung des Kapitals zur natürlichen Folge hatten. Aber
es scheint fast, als sei die unmittelbare Einwirkung der Tesaurierung auf den
Geldmarkt überschätzt worden. Denn andernfalls wäre schwer erklärlich, daß
nunmehr nach Beseitigung des Kriegsschreckens der ersehnte Rückfluß und die
Kräftigung des Geldmarktes ausbleibt. Man darf freilich nicht übersehen, daß
die Fälle der sich augenblicklich an letztere herandrängenden Ansprüche eine
tatsächlich vorhandene Erleichterung mehr wie ausgleicht. Dieses allgemeine
Jagen nach dem Kapital ist nicht geeignet, den Leihwert desselben herab¬
zudrücken und es aus seiner Reserve herauszulocken.
Charakteristisch für diese Tatsache ist der eklatante Mißerfolg der großen
brasilianischen Anleihe in London. Obwohl diese Emission von elf Millionen
Pfund durch den Emissionskredit des Hauses Rothschild getragen war, sind von
der Anleihe nur fünf Prozent gezeichnet worden, so daß fast der gesamte Be¬
trag in den Händen der Übernehmer geblieben ist. Und dies geschah am
Londoner Markt, der für solche Anleihen in normalen Zeiten ein stets williger
Abnehmer gewesen ist! Es ist klar, daß solche Mißerfolge eine abschreckende
Wirkung äußern müssen. Es läßt sich daher auch kaum behaupten, daß die
große chinesische Fünfmächte-Anleihe, welche dieser Tage zur Zeichnung auf¬
gelegt wird, rein finanziell betrachtet, sehr gelegen kommt, obwohl die Bedingungen
Die Schicksale dieser so lange beredeten Chinesenanleihe sind merkwürdig.
Die Verquickung von Politik und Geschäft hat hier finanziell keine besonders
günstigen Ergebnisse gezeitigt. Wenigstens nicht für China. Ursprünglich war
die Anleihe gedacht als solche, die dem neuen China neben der Durchführung
politischer und militärischer Reformen auch solche wirtschaftlicher und kultureller
ermöglichen sollte. Dementsprechend sollte sich die Anleihe auf die gewaltige
Summe von 1200 Millionen Mark belaufen. Unter diesen Umständen war es
erklärlich und gerechtfertigt, daß alle Großmächte an der Anleihe und an der
wirtschaftlichen Aufschließung des Reiches der Mitte ihren Anteil haben wollten.
Das bisherige tatsächliche Monopol des deutsch-englischen Bankkonsortiums für
chinesische Anleihen mußte einer erweiterten Gruppierung weichen, aus der
schließlich durch den Zutritt Japans und Amerikas ein Sechsmächtesyndikat
wurde. Nach dem Präsidentenwechsel in New Aork hat sich Amerika zurück¬
gezogen, und wie das Syndikat, so ist auch die Anleihe ein Torso geworden.
Sie beläuft sich nur auf 500 Millionen Mark und ihr Erlös reicht gerade aus,
China finanziell und politisch zu arrangieren, aber nicht um ihm die Durch¬
führung wirtschaftlicher Aufgaben von Staats wegen zu ermöglichen.
Die den Chinesen gewährte Summe ist aber doch groß genug, um die Durch¬
führung innerpolitischer Reformen zu gewährleisten, wenn einiger guter Wille
und Konsequenz vorhanden sind. Damit aber wären die Interessen aller jener
Mächte, die an China ein wirtschaftliches Interesse haben, genügend gesichert,
und somit sind die deutschen Bestrebungen für China wieder auf eine Basis
gestellt, daß man mit einiger Zuversicht an das chinesische Geschäft Herangehen
kann. Wie man in den Kreisen der altchinesischen Interessenten denkt, geht am
besten daraus hervor, daß sowohl von Hamburg aus wie von Berlin weit¬
blickende Kaufleute und Industrielle an einer weiteren Ausgestaltung deutsch-
chinesischer Handelseinrichtungen arbeiten, und daß an der Spitze dieser
Bestrebungen Männer wie Exzellenz Fischer, der Vorsitzende des Aufsichtsrates
der Deutsch-asiatischen Bank und Exzellenz von Truppel, der frühere Gouverneur
von Kiautschou stehen. Deutschem Unternehmungsgeist sind somit tatsächlich die
Wege geebnet, es handelt sich nur darum zuzufassen und energisch zu arbeiten.
Die finanzielle Entspannung dürfte wahrscheinlich in nächster Zukunft noch
weitere Kreise erfassen, wenn erst die Vereinbarungen zwischen England und der
Türkei, die gegenwärtig schweben, — Deutschland hat bisher noch an
keinen Verhandlungen über die Bagdadbahn und Koweit teil¬
Die Umgestaltung des Seminars für
orientalische Sprache. Im Preußischen Ab¬
geordnetenhause hat in diesem Frühjahr der
Abgeordnete Erzberger den Wunsch geäußert,
es möchte das Orientalische Seminar um¬
gestaltet und zu einer Auslandshochschule
ausgebaut werden. Der Minister hat eine
Prüfung des Wunsches und die Vorlegung
einer Denkschrift in Aussicht gestellt. In
Kürze gesagt handelt es sich dabei um fol¬
gendes: Das Seminar befindet sich gegen¬
wärtig in einer Art Zwitterstellung: Es ist
ein Zwischending zwischen einer Mittelschule
und einer Hochschule. Der ausgesprochene
Wunsch geht dahin, daß es zu einer reinen
Hochschule und zwar zu dem Vertreter eines
besonderen Typus einer solchen entwickelt
werde.
Das Seminar verfolgt in seiner gegen¬
wärtigen Gestalt fast ausschließlich praktische
Zwecke. In erster Linie lehrt es gewisse
Sprachen verstehen und sprechen, gegebenen¬
falls auch lesen und schreiben. Mehr an¬
hangweise gesellt sich dazu die Einführung
in die einschlägigen Realien und die Bei¬
bringung gewisser praktischer, für den Kolonial¬
dienst wichtiger Kenntnisse und Fertigkeiten.
Die Unterrichtssprachen sind längst nicht
mehr ausschließlich diejenigen des Orients:
außer dem Türkischen, Arabischen, Persischen
und Äthiopischen werden auch die Sprachen
Chinas und Japans sowie für die Zwecke des
Kolonialdienstes eine Anzahl afrikanischer
Sprachen gelehrt. Dazu kommen endlich
verschiedene europäische Sprachen, wie Russisch,
Rumänisch, Neugriechisch, Französisch und
Englisch. Als Schüler für diesen Unterricht
führt das amtliche Vorlesungsverzeichnis nur
zwei Klassen von Personen an: die künftigen
Dolmetscher im Orient und Ostasien und die
künftigen Kolonialbeamten in Afrika. Andere
Klassen von Personen sind nicht geradezu
ausgeschlossen, für die Befriedigung ihrer be¬
sonderen Bedürfnisse sind jedoch im allgemeinen
keine Vorkehrungen getroffen. An sich würden
nämlich zunächst auch die Kaufleute, die ins
Ausland gehen, sowie die künftigen Mitglieder
des Konsulats- und des diplomatischen Dienstes
in Betracht kommen. Aber auch Arzte, Missio¬
nare und Lehrer, die in den Orient, nach
Ostasien oder in die Kolonien gehen wollen,
würden bei einer anderen Art des Unterrichts
hier sehr wertvolle Belehrungen und An¬
regungen finden können. Gegenwärtig ist,
wie gesagt, der Zweck des Unterrichts fast
ausschließlich das Beibringen gewisser Prak¬
tischer sprachlicher Fertigkeiten. Es hat aber
much einen großen Wert, die inneren Zustände
fremder Länder, ihr geistiges Leben und ihre
geistige Kultur kennen zu lernen, nicht selten
sogar einen großen praktischen Wert. Ein
solches Wissen flößt uns eine höhere Achtung
bor dem fremden Volke ein, es ermöglicht
uns eine bessere Würdigung seiner Interessen
und Bedürfnisse und erleichtert den Umgang
mit den einzelnen Angehörigen desselben.
Wie wichtig ein solches inneres Verständnis
für alle diejenigen ist, die in fremden Ländern
irgendwie zu gebieten oder zu bestimmen
haben, Wie wichtig auch für den Diplomaten,
der über ihre Zustände berichtet, wie vorteil¬
haft für den Kaufmann, der dort festen Boden
gewinnen und sich eine Stellung verschaffen
soll, das bedarf kaum der ausdrücklichen Ver¬
sicherung. Wie erfreulich und gewinnbringend
kann es sein, wenn der europäische Beamte
oder .Kaufmann dem gebildeten Japaner oder
Chinesen gegenüber sich ebenfalls als ein
„gebildeter" Mann ausweisen kann, der nicht
nur Briefe und Zeitungen in der fremden
Sprache zu lesen und zu schreiben versteht,
sondern auch über ihre Literatur Bescheid
weiß. Und wenigstens einen Teil der Härten
der Eingeborenenpolitik kann der vermeiden,
der die Eingeborenen wirklich versteht und
verstehen will. Wieweit nun die im Orien¬
talischen Seminar abgehaltenen Vorlesungen
über die kulturellen Zustände der afrikanischen
Kolonien solchen Zwecken genügen, muß hier
dahingestellt bleiben; die dafür angesetzte
Stundenzahl erscheint freilich etwas zu gering.
Anders bei allen denjenigen Ländern, bei
denen eine Schriftsprache und eine Literatur,
überhaupt eine höhere geistige Kultur vor¬
handen ist. Eine zweistündige Vorlesung
über die Religion der Japaner, die einzige
derartige über die geistige Kultur Japans, die
am Seminar überhaupt gehalten wird, genügt
lange nicht, ebensowenig wie eine zweistündige
Vorlesung über die Geographie Chinas. Wie
wichtig wäre eine Einführung etwa in die
Kunst Japans oder in die Philosophie der
Chinesen. Unsere Gymnasien sind auf der
Voraussetzung aufgebaut, daß das Studium
der Schriftsteller am besten und gründlichsten
in den Geist eines fremden Volkes einführt,
und diese Voraussetzung hat sich nach allge¬
meiner Anschauung durchaus bewährt. Warum
macht in eineni Lande, das aus seinen klassi¬
schen Schulunterricht stolz ist, das Orienta¬
lische Seminar von dieser Voraussetzung gar
keinen Gebrauch? Warum gibt es hier keine
Vorlesungen über persische, arabische oder
chinesische Philosophen oder andere Schrift¬
steller? Die wissenschaftlichen Lehrkräfte, die
die einschlägigen Fächer vertreten, sind für
derartige Vorlesungen selbstverständlich be¬
fähigt, und gewiß wären sie much dazu ge¬
neigt, schon allein um im Einerlei deS schul¬
mäßigen sprachlichen Unterrichts eine Abwechse¬
lung zu haben und sich zeitweilig etwas über
sein Niveau erheben zu können. Daneben wäre
es wichtig, auch den sprachlichen Unterricht
nach der wissenschaftlichen Seite weiter aus¬
zubauen, als es bei der verhältnismäßig ge¬
ringen Anzahl von Lehrkräften und ihrer fast
ausschließlichen Inanspruchnahme durch Prak¬
tische Zwecke gegenwärtig möglich ist. Erst
dadurch würde dieser Unterricht auf die Höhe
der Hochschule gehoben werden. Durch einen
derartigen Ausbau würde das Seminar nicht
nur eine Menge neuer Besucher gewinnen,
sondern auch manche der jetzt vorhandenen
Würden die gebotene Gelegenheit benutzen,
würden dadurch Anregungen und eine ver¬
tiefte Bildung erfahren, die ihrer späteren
Berufstätigkeit und damit dem Deutschen
Reiche selber zugute kämen. Auch Populäre
Vorlesungen und vielleicht auch Einzelvorträge
über die Kulturen der fremden Länder würden
in Frage kommen: in den letzten beiden
Wintern sind öffentliche Einzelvorträge dieser
Art von einer Anzahl der Lehrer unentgeltlich
veranstaltet worden. Der rege Besuch und
der Beifall, den sie gefunden haben, weist
schon auf die Bedeutung hin, die ein der¬
artiger Unterricht bei systematischer Pflege ge¬
winnen könnte: er würde in weiten Kreisen
das Interesse und Verständnis für das Aus¬
land steigern — ein Vorgang, der bei unserer
regen Teilnahme um der Weltwirtschaft und
am Kolvnialleben nur erwünscht sein könnte.
Allein war es ein Zufall, daß die eben er¬
wähnten Vorträge nicht in einem Auditorium
des Seminars oder der Universität, sondern
in einem gemieteten Raume abgehalten
wurden?
Mit der Steigerung des wissenschaftlichen
Charakters des Orientalischen Seminars müßte
eine Umgestaltung seiner Verfassung Hand in
Hand gehen. Auch in dieser Beziehung besteht
gegenwärtig ein unerfreulicher Zwitterzustand.
Freilich kann man hier nicht von einer Zwi¬
schenstellung zwischen Hochschule und Mittel¬
schule reden, vielmehr steht das Seminar in
dieser Beziehung noch unter der Mittelschule.
Nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation stehen
die hauptamtlichen Lehrer des Seminars (von
den Lektoren ist hier nicht die Rede) nicht auf
der Stufe der Gymnasiallehrer, sondern auf
derjenigen der Universitätslehrer: sie sind Ge¬
lehrte, die in ihrem Fache wissenschaftlich tätig
sind. Diese Tatsache findet sogar einen offi¬
ziellen Ausdruck darin, daß das Seminar
eine besondere Zeitschrift herausgibt, in der
streng wissenschaftliche Arbeiten seiner Mit¬
glieder veröffentlicht werden. Zunächst aber
ist im Verhältnis dazu die Unterrichtslast
Wenigstens für einige Lehrer zu groß. Das
Vorlesungsverzeichnis des verflossenen Winters
weist für einen Lehrer siebzehn Stunden, für
einen anderen mindestens sechzehnundeinhalb
Stunden auf. Das entspricht nahezu der
Stundenzahl eines Oberlehrers und läßt zu
wenig Muße für wissenschaftliche Arbeit. Vor
allem aber müßten Männern, von denen
wissenschaftliche Arbeit erwartet wird, andere
Rechte bei der Festsetzung des Unterrichts und
überhaupt der Verwaltung des Seminars
eingeräumt sein. In dein amtlichen Vor¬
lesungsverzeichnis ist mehrfach von etwaigen
Anordnungen und Regelungen des Unterrichts
durch die „Seminardirektion" (z, B. der Um-
setzung weiterer besonderer Kurse im Bedarfs¬
falle) die Rede; gemeint ist damit lediglich
der Direktor des Seminars. Der einzelne
Professor (amtlich heißt er überhaupt nicht so,
er ist bestenfalls Titularprofessor) hat nicht
das Recht, wie seine Kollegen an der Uni¬
versität, seine Vorlesungen selbst zu bestim¬
men. Es ist auch nicht so wie bei den tech¬
nischen Hochschulen, bei denen bekanntlich in
den einzelnen Abteilungen die entsprechenden
Teilkörper des Kollegiums gemeinschaftlich
einen festen Lehrplan aufstellen, der den vor¬
liegenden Praktischen Bedürfnissen in erforder¬
licher Weise Rechnung trägt. Es gibt hier
überhaupt kein Kollegium, nicht einmal in
dem Sinne, in dem ein solches an den Mittel¬
schulen dem Direktor mit gutachtlicher und
beratender Stimme zur Seite steht. So fehlt
den Professoren auch die Möglichkeit, zu der
jetzt aufgeworfenen Frage der Reform ihrer
Anstalt als eine Körperschaft Stellung zu
nehmen und sich begutachtend oder mit Vor¬
schlägen darüber zu äußern. Ungünstiger als
die Oberlehrer und die meisten anderen Be¬
amten sind sie auch darin gestellt, daß ihnen
Titel und Gehalt lediglich nach Ermessen,
wobei natürlich der vorgesetzte Direktor das
Recht des Berichtes und des Vorschlages hat,
nicht nach einer festen Ordnung gewährt wird.
Faßt man alles zusammen, so ist es gewiß
keine Übertreibung zu sagen: die Stellung
der wissenschaftlichen Lehrer des Orientalischen
Seminars hat, verglichen mit ihrer wissen¬
schaftlichen Qualifikation, etwas Gedrucktes.
Und jedenfalls haben, um es zu wieder¬
holen, die ganzen Zustände einen Zwitter¬
charakter: sie sind weder diejenigen der Hoch¬
schule noch diejenigen der Mittelschule. Auf
alle Fälle wäre es erwünscht, dieser Halbheit
ein Ende zu machen und entweder zu einer
reinen Mittelschule oder zu einer reinen Hoch¬
schule überzugehen. Die Dinge drängen auch
selbst zu einer Entwicklung nach der einen
oder anderen Seite hin. Denn auf die Dauer
wird man verdienstvolle Gelehrte für der¬
artige „Lehrstühle" kaum noch gewinnen
können. Diejenigen, die aus Unkenntnis der
Dinge oder aus wirtschaftlichen Gründen die
Stelle annehmen, werden sie bei der nächsten
Gelegenheit wieder aufgeben. Es muß ent¬
weder heißen aufwärts oder abwärts. Der
Weg nach unten ist in einem Staate, der
selbst in der Zeit der tiefsten Erniedrigung
eine neue Universität zu gründen vermochte,
in dem heutigen Zeitalter gewaltig aufsteigen¬
den Lebens wohl in jedermanns Augen von
vornherein ausgeschlossen. Es bleibt nur der
entgegengesetzte Weg übrig: folgerichtiger
Ausbau einer Hochschule. Und diese Hoch¬
schule würde freilich einen ganz eigenen
Charakter besitzen. Sie würde — und darin
würde ihr besonderer Wert liegen — eine
Gattung für sich bedeuten. Sie würde fest-
halten an dem, was den besonderen Wert
des Seminars in seiner jetzigen Gestaltung
ausmacht. Das Seminar ist die einzige
staatliche Schule, an der man den praktischen
Gebrauch einer großen Anzahl fremder
Sprachen vollständig erlernen kann. Wer
anderweitig diesen Zweck erreichen will, ist
auf Privatunterricht oder Privatschulen an¬
gewiesen; die Universität kommt für derartige
Praktische Interessen kaum in Frage. Neben
diesen Praktischen aber müssen die rein wissen¬
schaftlichen Interessen in dem vorher ange¬
deuteten Sinne in vollem Maße zur Geltung
kommen: der wissenschaftliche Botrieb der
fremden Sprachen und die Einführung in die
geistige Kultur muß zu dem Praktischen
Sprachunterricht und der Kenntnis der
.Realien hinzutreten. Weiter würde es sich
wahrscheinlich empfehlen, den Kreis der be¬
handelten Sprachen weiter auszudehnen, be¬
sonders gewisse nicht vertretene europäische
Sprachen und etwa die Sprachen der Südsee
heranzuziehen. Die Verbindung rein Prak¬
tischer mit streng wissenschaftlichen Zwecken
trägt natürlich Schwierigkeiten in sich; aber
diese sind grundsätzlich von keiner anderen
Art, als sie auch bei den technischen Hoch¬
schulen bestehen. Für die Praktischen Zwecke
sind schon heute in allen Sprachen Lektoren
angestellt; daneben würden vielleicht weitere
Assistenten in Frage kommen. Jedenfalls
müßten die Professoren von diesen praktischen
Arbeiten erheblich entlastet werden, um für
den wissenschaftlichen Unterricht Zeit und
Kraft zu gewinnen. Wie an den übrigen
Hochschulen, würde ihnen die Leitung und
Beaufsichtigung der von den Assistenten und
Lektoren geleisteten Arbeiten verbleiben müssen.
Einzig das Hamburger Kolonialinstitut käme
als eine Anstalt von verwandten Zielen in
Betracht; aber in unserem deutschen Reiche
mit seinem heutigen wirtschaftlichen Leben
sollte doch Wohl auch für zwei derartige An¬
stalten Raum sein und vor allem dürfte das
Reich selbst sich diese Aufgabe nicht durch einen
Einzelstaat aus der Hand nehmen lassen.
Damit berühren wir einen letzten Punkt.
Das Orientalische Seminar ist im Jahre 1887
ins Leben gerufen. Es sollte in erster Linie
der Heranbildung von Reichsbeamten für den
Auslandsdienst in asiatischen und afrikanischen
Ländern dienen. Folgerichtig hätte es als
eine Reichsanstalt errichtet werden müssen.
Tatsächlich wurde ein Vertrag zwischen dem
Reiche und Preußen geschlossen, wonach sich
beide in die Kosten teilten und Preußen,
hauptsächlich weil es dem Reiche an einer
Behörde für Unterrichtsverwaltung überhaupt
gebrach, die Verwaltung übernahm. Daß
Berlin zum Sitz bestimmt wurde, war fast
selbstverständlich. Daß die Anstalt dann aber
an die Berliner Universität äußerlich ange¬
gliedert und als ein Seminar an ihr be¬
zeichnet wurde, beruht auf einer rein äußer¬
lichen Analogie, die nach jeder Richtung hin
in die Irre führt. Die Seminare an den
Universitäten dienen der Vertiefung des
Studiums in einem einzelnen an der
Universität betriebenen Fache. Nicht ein¬
mal für diejenigen orientalischen Sprachen,
für die eine ordentliche Professur an
der Berliner Universität besteht, trifft
dieses Verhältnis des Seminars zum Uni¬
versitätsunterricht zu. Das Seminar hat
völlig andere Aufgaben, ein anderes Publi¬
kum und andere Zulassungsbedingungen.
Ebenso sind seine Lehrer nicht Assistenten
und andere jüngere Leute in vorüber¬
gehender Stellung, sondern vorwiegend
ältere Gelehrte mit völlig selbständigem Wir¬
kungskreis, deren Stellung einer Professur an
der Universität entspricht oder vielmehr ent¬
sprechen sollte. Daher ist auch der Name
eines Seminars so unpassend wie möglich.
Anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Be¬
stehens unserer Anstalt wurde im vorigen
Jahre eine amtliche Denkschrift über sie her¬
ausgegeben, in der sie als eine „öffentliche
akademische Hochschule", an anderer Stelle
als eine „orientalische und Kolonialakademie"
bezeichnet wird. Dieses Wort enthält ein
ganzes Programm in sich. Möge es nun
auch verwirklicht werden. Wir leben in einer
Zeit gewaltiger Kraftentfaltung, in der alles
stürmisch vorwärts drängt, überall neue Bahnen
beschritten und insbesondere auch im Hoch-
schulleben nicht nur die Anzahl der Hoch¬
schulen vermehrt, sondern auch neue Arten
von solchen geschaffen werden. Will in dieser
allgemeinen Bewegung allein das Orien¬
talische Seminar fortfahren als bescheidenes
Veilchen im Stillen zu blühen?
Die Beschäftigung von Referendaren bei
der Presse. In der letzten Zeit ist sowohl
von der Tagespresse wie in der juristischen
Presse die Frage der Beschäftigung von Re¬
ferendaren bei der Presse wiederholt erörtert
worden. Auf der Generalversammlung des
Verbandes der rheinisch-westfälischen Presse,
die Oktober 1912 in Hagen tagte, gelangte
einstimmig eine Resolution zur Annahme, in
der es u, a. hieß: „die Generalversammlung
des Verbandes der rheinisch - westfälischen Presse
in Hagen spricht daher den Wunsch aus: . . .
K) daß die Referendare während ihrer Vor¬
bereitungszeit auf das Assessorexamen, ähnlich
wie bei der Staatsanwaltschaft, bei Notaren
und Rechtsanwälten, für einige Zeit bei Re¬
daktionen größerer Blätter, die sich hierzu
bereit erklären, zu ihrer Information zu be¬
schäftigen sind." Durch diese Beschäftigung
auf den Redaktionen soll vor allem der heute
noch so vielfach in Juristenkreisen herrschenden
Unkenntnis der tatsächlichen und rechtlichen
Verhältnisse der Presse abgeholfen werden,
wie es in der von der Generalversammlung
angenommenen Begründung der Forderung
ausdrücklich heißt. Wie übrigens Professor
l)r. Reiche!-Zürich in einem in der Zeitschrift
Das Recht (Ur. 23 vom 10. Dezember 1911)
veröffentlichten Artikel mitteilt, hat diese For¬
derung der Hägener Generalversammlung
bereits vorher vereinzelt eine Praktische An¬
wendung gefunden, und zwar in Dresden.
Dort wird den (in sehr geringer Zahl) auf
der Redaktion des Kgl. Dresdener Journals
beschäftigten sächsischen Referendaren die dort
verbrachte Zeit auf den Justizvorbereitungs-
dienst angerechnet.
Professor Dr. Reiche! steht der von der
Hägener Generalversammlung erhabenen For¬
derung recht sympathisch gegenüber. In einem
neuerdings in der Deutschen Juristenzeitung
(Ur. 4 vom 2. Februar 1913) veröffentlichten
Artikel „Referendare als Journalisten" betont
er, die. juristische Fachwelt werde, nachdem
die Presse in Hagen ihre Bereitwilligkeit in
so erfreulicher Weise dokumentirt habe, Re¬
ferendare bei sich zu beschäftigen, nicht umhin
können, dem erhobenen Postulat ernsthaft
näherzutreten, es wäre denn, daß sie wirklich
stichhaltige Gegengründe beizubringen ver¬
möchte. Professor Reiche! räumt dann gleich¬
zeitig einige kurz vorher in der Deutschen
Juristenzeitung gegen die Hägener Forderung
von Herrn Rechtsanwalt Dr. Hachenburg er¬
hobene Bedenken aus dem Wege, als ob eS
für den jungen Juristen gefährlich sein könne,
ihn für einige Zeit dem unmittelbaren poli¬
tischen Einfluß einer Zeitung auszusetzen. Er
betont demgegenüber mit Recht, daß die stän¬
dige alleinige Lektüre eines Parteiblattes für
die Politische Beeinflussung von viel weit¬
tragenderer Bedeutung sei.
Aber trotz alledem besteht zwischen der
Forderung der Hägener Generalversammlung
und den: Verlangen Professor Reichels noch ein
weitgehender Unterschied. Die Hägener Re¬
solution, die auf meinen Antrag und im An¬
schluß an ein von mir erstattetes Referat über
die Stellung der Presse in der modernen
Strafrcchtspraxis angenommen wurde, hatte
in erster Reihe das Interesse der Presse im
Auge. Durch seine Beschäftigung auf einer
Redaktion soll der junge Jurist einen Einblick
in die innere Tätigkeit der Presse erhalten,
ihre Arbeit im Dienste der Allgemeinheit, im
öffentlichen Interesse würdigen lernen, Ver¬
ständnis für den ganzen Werdegang der Zei¬
tung, und alles was damit zusammenhängt,
gewinnen, um so in seiner späteren Tätigkeit
als Richter oder als Verwaltungsbeamter,
wo ihn sein Beruf zwingt, sich mit der Presse
zu beschäftigen, in der Lage zu sein, ihr ohne
Voreingenommenheit entgegenzutreten, und
die an ihn herantretenden Fragen aus eigener
Kenntnis der Verhältnisse beurteilen zu können.
Professor Reichel hat dagegen in erster Reihe
das Interesse des jungen Juristen im Auge,
und so deckt sich denn auch seine Forderung
nach Beschäftigung der jungen Referendare
auf Redaktionen einzelner Blätter nicht mit
der der Hägener Generalversammlung. Er
denkt sich dabei nicht die Einführung des jungen
Juristen in die gesamte Rednktionstätigkeit,
soweit dies eben angängig ist — Politische
Leitartikel werden die Herren selbstverständ¬
lich nicht abzufassen haben —, sondern er
meint, die Referendare sollten „lediglich Ge¬
richtssaalberichte und allenfalls juristische
Enlrcfilets liefern". Darin erblickt er eine
gute und willkommene Gelegenheit für die
juristische Ausbildung des Referendars, der
dadurch die beste Gelegenheit hat, sich in der
Kunst zu üben, rechtserhebliche Tatbestände
aller Art richtig aufzufassen, richtig wiederzu¬
geben und juristisch richtig einzuwerten. Gleich¬
zeitig kann dadurch dem Interesse der Presse
insofern gedient werden, als dadurch den
berechtigten Klagen über - die Unzulänglich¬
keit der Gerichtsberichterstattung unserer Presse
Abhilfe geschaffen werden soll.
Den Hauptgrund für die auch von der
Presse zugegebenen Mängel auf dem Gebiete
der Gerichtsberichterstattung der Presse sieht
Professor Reiche! in der meist sehr mangelhaften
fachmännischer Vorbildung der Berichterstatter.
In Wirklichkeit ist das aber nur ein äußerer
Grund, dem unschwer abzuhelfen wäre. Der
wahre und letzte Grund der unzulänglichen
Gerichtsberichterstattung liegt vielmehr in der
mangelhaften, völlig ungenügenden Infor¬
mation der Presse über die tagtäglich vor
unseren Gerichten zur Verhandlung gelan¬
genden Sachen. Es gibt keine Stelle, welche
die Presse regelmäßig und ausreichend hier¬
über informieren würde, oder an der sich
die Presse eine solche Information holen
könnte. Eine Ausnahme machen nur die
Schwurgerichte, deren Tagesordnungen vor
jeder Sitzungsperiode veröffentlicht worden.
Die Gerichtsberichte über die Schwurgerichts¬
verhandlungen geben denn auch im allge¬
meinen zu Klagen wenig Anlaß. Hier ist
eben die Presse in der Lage, zu den ein¬
zelnen Sitzungen befähigte Berichterstatter zu
entsenden. Anders ist es mit unseren Schöffen-
und Amtsgerichten, Straf- und Zivilkammern.
Hier erfährt die Presse nur durch Zufall oder
durch besonders günstige Umstände, welche
Sachen in den einzelnen Sitzungen zur Ver¬
handlung stehen. Im allgemeinen weiß sie
nichts darüber. Sie weiß also auch vorher
nicht, welche unter den vielen Sachen vor¬
aussichtlich für die Öffentlichkeit Interesse
haben, welche nicht, und wohin sie mithin
einen befähigten, rechtskundigen Berichterstatter,
eventuell auch ein Mitglied der Redaktion zu
entsenden hatte, und wohin nicht. So ist sie
eben in ihrer Gerichtsberichterstattung auf den
gewöhnlichen, nieist sehr mangelhaft fach¬
männisch vorgebildeten Gerichtsberichterstatter
angewiesen. Und auch dieser hängt in seiner
ganzen Tätigkeit vielfach vom Zufall ab. Er
wird sich bestreben, dahin zugehen, wo „voraus¬
sichtlich" etwas Wichtiges zur Verhandlung
kommt, damit die Zeitung seine Berichte auf¬
nimmt und er auf diese Weise etwas verdient.
Diese Berichterstatter werden ja meist nach
der Zellenzahl der abgedruckten Berichte von
den Redaktionen der einzelnen Blätter ho¬
noriert. So wird der Berichterstatter oft
zwischen Schöffengericht und Strafkammer,
zwischen Amtsgericht und Zivilkammer —
die ja vielfach nebeneinander tagen — hin
und herpendeln, um schließlich doch das
wirklich Wichtige zu versäumen oder nur
Bruchstücke zu hören, die er sich dann selbst
durch unzuverlässige Erkundigungen ergänzt.
Vielleicht wird er auch des lieben Verdienstes
halber Unwesentliches aufbauschen, ja ganze
Geschichten erfinden. Alles das ist schon da¬
gewesen. Die Redaktion hat ja keine Kon¬
trolle darüber, nur durch Zufall erfährt sie da¬
von. Wollte eine Redaktion eine zuverlässige und
umfassende Gerichtsberichterstattung Pflegen, so
müßte sie für Amts- und Schöffengericht, für
jede Zivil- und Strafkammer einen stän¬
digen fachmännischer Berichterstatter haben,
der den Verhandlungen der einzelnen Ge¬
richte von Anfang bis zum Schluß beiwohnte.
Das ist aber den meisten Blättern schon aus
finanziellen Gründen unmöglich. Auch die an
einzelnen Gerichten erfolgte „Kartellierung"
mehrerer Berichterstatter genügt nicht. Das
einzige wirksame Mittel zur Abhilfe wäre,
wenn unsere Gerichte sich entschließen könnten,
den einzelnen Blättern rechtzeitig ein Ver¬
zeichnis der an den einzelnen Terminen zur
Verhandlung kommenden Sachen, die kurz
charakterisiert sein müßten, zugängig zu machen.
Die Blätter wären dadurch in der Lage, aus
leichte Weise durch Entsendung eines fach¬
männischer Berichterstatters oder eines Re-
dnktionsmitgliedcs in die ihr Interesse bean¬
spruchenden Verhandlungen für eine zuläng¬
liche Berichterstattung zu sorgen, und sie
würden auch gerne einen entsprechenden Betrag
zur Deckung der durch die Anfertigung der
Verzeichnisse entstehenden Unkosten tragen.
Einen Teil dieser Berichterstattung könnten
ja auch die bei der Presse volontierenden
Referendare übernehmen. Damit allein möchte
ich aber die Tätigkeit der Referendare bei
der Presse nicht erschöpft sehen. Die Frage
des meines Erachtens berechtigten Anspruchs
der Referendare auf Honorierung ihrer Arbeit
darf hier Wohl außer Betracht bleiben.
Ausgewählte Werke
und Briefe. Herausgegeben und mit Ein¬
leitungen und Anmerkungen versehen von
Wilhelm Schellberg. Kempten und München
bei Jos. Kösel, 1911. Zwei Teile in einem
Bande.
Wenn in einem Menschen längere Zeit
hindurch niedere Triebe das Übergewicht
hatten, dann aber das Edlere in ihm durch¬
bricht und siegt, mag man von einer Wieder¬
geburt oder Bekehrung sprechen. Görres gibt
sich selbst das Zeugnis, das; sein Streben
immer rein gewesen sei (I, 173); seine Ent¬
wicklung vom Jakobiner zum gläubigen Katho¬
liken war nur eine Frucht tieferer Einsicht,
nicht die Folge einer Willenswandlung, dar¬
um darf man sie weder als Bekehrung Preisen
noch Abfall schelten. Die Revolution begrüßt
der Sohn der Aufklärung als den Beginn
eines neuen, eines schöneren Zeitalters: einer
vernünftigen Selbstregierung des Volkes nach
langem unheilvollen Despoten- und Pfaffen¬
regiment. „Der mächtige Schimmer, der
wie ein Blitzstrahl alle Winkel durchdrang,
schreckte die Despoten; sie blinzten das in
mächtiger Fülle dahinströmende Licht an;
ihnen war nur in Finsternis Wohl" (I, 4).
Was seinen Sinn änderte, war nicht die
Schreckensherrschaft; sentimental war er nicht.
„Es ist kein milder, liebevoller, schonender
Geist, der vom Anbeginne her durch die
Erdengeschichte unsichtbar geht; eine mutige,
unbezwingliche Kraft, eine finster verschlossene,
erbarmungslose Macht mit festem Willen
ohne Wanken führt sie dem ernsten Ziel ent¬
gegen" (I, 455). Sondern es war „der
stinkende Pfuhl" (II, 17), den er bei seinem
Aufenthalt in Paris kennen lernte, die Rück¬
kehr der Franzosen unter die Herrschaft eines
Despoten, wodurch sie ihre Unfähigkeit zur
Selbstregierung bekannten, und die Annexion
des linken Rheinufers. Er erkannte deutlich
die Verschiedenheit des französischen vom
deutschen Volkscharakter, das Unnatürliche der
Einbeziehung deutscher Stämme in den fran¬
zösischen Staat (I, 53 bis 6S), und daß der
Rhein nicht Deutschlands Grenze sondern
Deutschlands Pulsader ist. Von dieser Einsicht
beseelt, ward er einer der geistigen Führer
des Befreiungskampfes und gab vom Ja¬
nuar 1814 an seinen Rheinischen Merkur her¬
aus, den Napoleon die fünfte der ihn be¬
kämpfenden Großmächte genannt hat. Für
die Neugestaltung Deutschlands konnte in
einer Zeit, da aus allen deutschen Kehlen
Arndts „O nein, o nein o nein o nein, sein
Vaterland muß größer sein" erschallte, kein
anderes als das großdeutsche Ideal in Be¬
tracht kommen (I, 564 und II, 387). War
nun schon die „Deutschtümelei" an sich, hinter
der jeder Bureaukrat die Revolution witterte,
in Wien und Berlin gleich sehr verhaßt, so
mußten die großdeutschen Pläne im Norden
noch ganz besonders anstoßen, weil bei der
damaligen Weltstellung der Dynastien Hohen-
zollern und Habsburg an Unterordnung
dieser unter jene nicht gedacht werden konnte,
das Umgekehrte eher möglich schien. Hierzu
kam sein Kampf gegen den Wiener Kongreß,
der Elsaß-Lothringen um Frankreich verriet
und überhaupt durch seine schwächliche Nach¬
giebigkeit gegen die französische Diplomatie
alle deutschen Patrioten erbitterte (I, 530 bis
533); ferner daß er der Mißstimmung der
Rheinländer gegen das neue preußische Re¬
gime kräftigen Ausdruck verlieh und den An¬
spruch der deutschen Stämme auf Verfassungen
versucht. Da war es denn nicht zu verwun¬
dern, daß die Preußische Regierung seine
Schrift „Teutschland und die Revolution" (sie
war durch die Ermordung Kotzebues an¬
geregt), zum Anlaß nahm, gegen den un¬
bequemen Mahner und Warner einzuschreiten.
Sie bereitete dadurch den Franzosen den
Triumph, ihren größten Feind auf französischem
Boden Schutz suchen zu sehen. Seine Sprache
Berlin gegenüber war allerdings von nicht
zu rechtfertigender Schärfe, denn er, der viel¬
seitige, litt an einer höchst einseitigen Ab¬
neigung gegen den Norden, die um so selt¬
samer erscheint, da er die Preußischen Truppen
schätzen gelernt hatte. Zum Teil war daran
schuld, daß er nie in die mittleren und öst¬
lichen Gegenden Norddeutschlands gekommen
war; Perthes schrieb ihm einmal: „Deutsch-
land kennen Sie nicht über Frankfurt hin¬
aus. Für wichtig halten Sie nur Ihr Land,
für liberal nur Ihre Ansichten, jenseits Frank-
furt fängt Ihnen die Barbarei an."
Daß seine Entwicklung in den Katholizis¬
mus ausmündete, lag im Geiste der Zeit;
hat er doch mit Achin von Arnim und Cle¬
mens Brentano zusammen die Quellen der
romantischen Strömung erschlossen. Eine
Zeitlang bewegte er sich im Fahrwasser
Schellings, doch ließ sich seine urkräftige
Originalität in eine philosophische Schule
nicht einsperren; große Ähnlichkeit haben die
Schriften seiner literarisch-romantischen Periode
mit denen von Novalis. Ultramontan darf
man ihn nicht nennen, denn er ist kerndeutsch
geblieben. Die Sünden der Päpste zu
geißeln, hat er sich auch in seiner späteren
Zeit nicht nehmen lassen (II, 478). Die Not¬
wendigkeit der Reformation hat er anerkannt
(I, 276 und 276), und er mißbilligte es, daß
in der Zeitschrift „Der Katholik", für die er
schrieb, ein Mitarbeiter „aus Luther, Fichte
und Napoleon seinen dreiköpfigen Höllenhund
bildete" (II, 416). Hätte er in den Zeiten
des neunten und des zehnten Pius gelobt,
er hätte sich von diesen sein freies Denken
nicht einhegen lassen in den engen Pferch
vatikanischer Orthodoxie. Auch ist er dem
allzu mittelalterlichen Adam Müller entgegen¬
getreten, welcher der Religion mehr Einfluß
auf die Politik einräumen wollte, als gut ist
(II, 266 und 279); Geistliche, wünscht er,
sollen sich so wenig wie möglich in die Politik
einmischen (II, 492). Was bei ihm, dessen
Jugend in dein Boden der Aufklärung ge¬
wurzelt hatte, der katholischen Anschauung
zum Siege verhalf, das war der historische
Sinn. An Jean Paul schreibt er einmal
(II, 374 und 376): „Ich habe in religiösen
Dingen nach reiflicher Erwägung für besser
gefunden, an den: alten Bau fortzuarbeiten,
als auf eigene Faust aus Stroh und Gold-
Papier ein eigenes Schwalbennest zu bauen.
Sie sind darin Wohl anderer Meinung, und
ich habe für jede redliche Überzeugung Platz."
Wie sich ihm die „liberalen" Strömungen
der Restaurationszeit darstellen, drücken n. a.
die Worte aus: „Die Welt hat nie einen so
öffentlichen geistigen Bankerott gesehen und
eine solche freche Verschwörung von allem,
was gemein im Menschen ist, gegen alles
Höhere, und doch so ganz ohne allen Nach¬
druck, ja beinahe ohne alle Bosheit, alles
wie im Gähnen, in: sah af und Traum"
(II, 270). Auch in München vermag er 1830
nichts als ekle Fäulnis zu sehen; Künste und
Wissenschaften seien nur eine dünne Kleckserei,
die den Dreck vergolde (II, 474 bis 477).
Um die Vertreter einer falschen Aufklärung
ins Herz zu treffen, warf er sich mit aller
Wucht seiner gewaltigen Persönlichkeit auf die
Mystik, aus der er, in anatomischen und
physiologischen Studien die Theorien der
MeSmer, Justinus Kerner, Eschenmayer
vollendend, eine tötliche Waffe zu schmieden
gedachte.
Sein Naturell machte ihn zum Agitator
und Publizisten. Was er als solcher geleistet,
hat Napoleon anerkannt, und sieht man heute
noch am Zentrum; denn obwohl er 22 Jahre
vor dessen Gründung gestorben ist, darf er
als sein Gründer angesehen werden; er vor
allen anderen Erneuerern des Katholizismus
hat jene gebildete katholische Jugend der
dreißiger und vierziger Jahre begeistert, die,
zur Manchen gereift, von 1870 an den sie
erfüllenden Geist in einer Politischen Form
verkörperte. Ein Publizist und Agitator ge¬
wöhnlichen Schlages ist er freilich nicht ge¬
wesen. Er verfügte über ein ungeheures
Wissen, war jedoch vom Gelehrten das gerade
Gegenteil. Aus dem Leben schöpfte er seine
Weisheit, nicht aus Büchern („O Aller-
gelehrteste, wie seid ihr so dumm, wenn ihr
eure Bücher zu Hause gelassen!" I, 296); aus
Büchern nur, so weit das Leben, so weit der
Geist der Völker und der Zeiten aus ihnen
spricht. Diesen zu erfassen, den Menschen
und den Dingen auf den Grund zu sehen,
die Eigenart der Nationalitäten, den Zu¬
sammenhang der Begebenheiten, den Gang
der Weltgeschichte durch Intuition zu erkennen,
das und nicht kritische Analyse dessen, was
er als ein Ganzes schaute, war seine Gabe.
Die einander nach Zeit und Raum welten¬
weit entfernt liegenden Dinge verband seine
Phantasie miteinander, so daß ihn? aus der
Ferne und aus der Vergangenheit Bilder in
Fülle zuströmten, die Geschehnisse der Gegen¬
wart und seines Wirkungskreises z» erläutern.
DaS ergab nun einen Stil, wie ihn vor ihm
niemand geschrieben hat, den nachzuahmen
lächerlich wäre, und der das Gegenteil ist
von wissenschaftlicher Exaktheit. Seine
Universitätsvorträge hat Friedrich Hebbel mit
den Worten charakterisiert: „Ein AoluSschlauch
mit den in alle Richtungen auseinander-
gehenden Winden." Es ist sehr erklärlich,
daß von den hervorragenden Männern des
Zeitalters der Befreiungskriege Clausewitz
der einzige war, der ihn ablehnte, denn die
Militärs sind ja die exaktesten aller Denker,
und von Clausewitz haben wir überdies
kürzlich in den Grenzboten (im 16. Heft) den
Ausspruch gelesen: „Das erste Geschäft einer
jeden Theorie ist das Aufräumen der durch-
einandergeworsenen Begriffe und Vor¬
Verlag der Jos. Koselschen
Buchhandlung. Kempten und München 1912.
VII, 836 S. 8°. M. ö,—, geb. M. 6.-.
Ein Großdeutscher aus der Zeit vor 1866,
ein Kurhesse, der in Österreich sein zweites
Vaterland gefunden hat, ein Katholik, der
vom Fuldaer Kloster nach manchem Abfall
wieder zum Kinderglauben zurückkehrt, hat
seine Memoiren niedergeschrieben. Viel In¬
teressantes erfahren wir aus den hie und da
mit der behaglichen Breite des Alters aus¬
gesponnenen Erinnerungen; besonders für die
inneren Verfassungskämpfe des alten Kur¬
fürstentums Hessen sind Traberts Mitteilungen
viertvoll; hat er selbst doch mitten in den
Stürmen der vierziger Jahre als leitender
Volksmann gestanden, stets, wie Uhland, für
die Selbständigkeit des Landes eintretend, hat
er selbst doch sein mannhaftes Ausharren
mit jahrelanger Festungshaft in Spangenberg
büßen müssen I Aber dieser aufrechte Mann
hat durch den Gang der Geschichte nichts
lernen wollen. Die Einverleibung Kurhesseus
durch Preußen ist ihm zeitlebens als ein
„Rechtsbruch" erschienen; die Aufrichtung des
Deutschen Reiches 1871 ohne Österreichs An¬
teil hat er als einen Verrat an der „groß-,
deutschen" Sache empfunden und hat sich von
dieser veralteten Anschauung nie bekehren lassen.
In Osterreich gründete er sich eine zweite
Heimat, da er mit dem„verpreußten" Deutschen
Reich eines Bismarck seinen Frieden nicht
machen wollte, und hat hier im Dienste der
christlich-sozialen Partei eifrig gewirkt an der
Seite eines Baron Vogelsang, eines Lueger.
Auch in diesen Blättern kämpft er aufs eifrigste
gegen Liberalismus und Judentum, gegen
unbedingte Preßfreiheit (für die er selbst 1848
„irrtümlicherweise" eingetreten ist!) und kon¬
fessionslose Schulen. Doch auch in seinen ein¬
seitigen Betrachtungen, aus denen immer von
neuem der Haß gegen Preußen und Bismarck
hervorbricht, erkennt der Leser das Bild eines
idealgesinnten mutigen Kämpfers und bedauert
nur das eigensinnige Festhalten dieses Mannes
an unerfüllbaren Forderungen,
Herausgegeben von Heinz Amelung.
Deutsche Bibliothek in Berlin. Preis 1 M.
Andersen hat sein Leben in zweifacher Ge¬
stalt erzählt. Die eine Darstellung ist uns
allen bekannt: „Das Märchen vom häßlichen
jungen Entlein" (Den grimme Alling). Kam
er sich doch, als sein Stern aufgegangen war,
vor, wie der Weiße Schwan, den nur Mi߬
gunst und Beschränktheit verkannt hatte oder,
wie er sich selbst ausdrückt, „wie ein Bauern¬
knabe, dem man einen Königsmantel umwirft/'
Diese poetische Gestaltung seines Lebens wird
ergänzt durch eine ausführliche Schilderung
deS Lebensganges in deutscher Sprache, von
der zwei Fassungen vorhanden sind. Die eine
ist 1846 „in Rom, am Meerbusen von Ne¬
apel und mitten in den Pyrenäen zu Papier
gebracht" und für die erste deutsche Gesamt¬
ausgabe seiner Schriften bestimmt. 18so hat
sich Andersen verleiten lassen, die erste Nieder¬
schrift weitschweifig und in jenem gereizten
Tone gegen alle Kritik fortzusetzen, der auch
in der Fassung von 1846 schon hin und wieder
anklingt. — Andersen war und blieb krankhaft
ehrgeizig; er hat es den Dänen niemals ver¬
ziehen, daß er unter ihnen erst anerkannt
wurde, als Deutschland, Schweden und Frank¬
reich ihm bereits zujubelten. Seine Erbitte¬
rung kannte keine Grenzen; 1843 schrieb er
aus Paris an eine Freundin: „Ich hasse den,
der mich haßt, ich fluche dein, der mir flucht.
Aus Dänemark kommt stets der eisige Hauch,
der mich da draußen erstarren läßt. Sie
speien mich an, sie treten mich in den Kot.
Ich bin doch eine Dichternatur, wie ihnen
Gott deren nicht viele gegeben hat, die ich
ihn aber in meinem Todesaugenblick bitten
will, diesem Volke niemals wieder zu be¬
scheren."
Seine an Albernheit grenzende Anerken¬
nungssucht macht uns den Menschen oft fremd.
Schon bei seinen Lebzeiten wurde seine Person
auch von denen verspottet, die seine Werke
willig anerkannten. Als Brandes ihn einst
entschuldigen wollte, er sei ja ein Kind, gab
man ihm zur Antwort: „Ein Kind? Er ist
noch nicht entwöhnt!" Kindlich war er im
guten und bösen Sinne bis zum letzten Augen¬
blick seines Lebens. Die glühende kindliche
Dankbarkeit gegen seine Wohltäter, die naive
alles vergessende Freude über Ruhm und Aus¬
zeichnung läßt uns die Kehrseite dieses kind¬
lichen Gemüts begreifen und verzeihen. Die
deutsche Niederschrift vom Jahre 1346, die
Amelung mit sicherem Takt für die vorliegende
Ausgabe zum Abdruck gewählt hat, zeigt
uns den Andersen, wie wir ihn uns am
liebsten vorstellen mögen: als liebenswürdigen
Plauderer, der es wirklich versteht, „das
Märchen seines Lebens" zu erzählen.
Wild, Jagd und Bodenkultur von Geh.
Regierungsrat Prof. Dr. G. Nörig. Neu¬
damm, Verlag von Neumann. Ein vielseitiges
wertvolles Buch, wertvoll für jeden Natur¬
freund, unentbehrlich für den Gutsbesitzer und
Jäger. Der Verfasser behandelt die volks¬
wirtschaftliche Bedeutung der Jagd und der
Jagdtiere und die wechselseitigen Beziehungen,
die zwischen dem Wild und der Land- und
Forstwissenschaft bestehen, so z. B. den Ein¬
fluß der Bodenkultur auf die Fagdtiere, den
Schutz der Kulturpflanzen gegen die Jagd¬
tiere, die Blutauffrischung und Einbürgerung
neuer Wildarten und vieles mehr. Aus dem
statistischen Teil seien einige Zahlen heraus¬
gegriffen, die geeignet scheinen, die volkswirt¬
schaftliche Bedeutung der Jagd ins rechte
Licht zu rücken. Die jährliche Einnahme des
Staates aus dem Erlös der Jagdscheine be-
trägt in Preußen 8^/2 Millionen Mark. Für
etwa 50 000 Jagdschutzbeamte werden jährlich
insgesamt 37 Millionen Mark Gehalt gezahlt.
Die Ausfuhr der Jagdwaffen aus Deutschland
ergab 190S 4 Millionen Mark. 36 Millionen
Patronen im Werte von annähernd 3 Millionen
Mark werden jährlich auf Wild verschossen.
Der Abschuß an Nutzwild in Deutschland ent¬
spricht einen? Wert von 26 Millionen Mark.
Zum Schluß empfiehlt der Verfasser aufs
wärmste die Gründung eines „Reichsinstitut
für wissenschaftliche Jagdkunde", das in exakter
Forschung die Beziehungen ermitteln soll, in
denen das Wild zum Betriebe der Land- und
Forstwissenschaft und zu unserem National¬
Nachdruck sämtlicher Aiifsittje nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags erstattet,
verantwortlich: der Herausgeber George Tletnow in Berlin-Schöneberg. — Manuskriptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
«» den Herausgeber der Greuzdotr« i» »erim-Friedens». Hedwigstr. 1».
gernsprech-r der Schristleitnng: Amt Uhland SSSV. de» Verlags: Amt Lützow «51K
Verlag: Verlag der «renzboten S. in. ». H. in Berlin SW. 11.
Druck: .Der R-ichSbote» «. in. b. H. in Berlin SV. 11, Dessau« Strafe LS/S7.
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^ltoris, ^uLsburA, Lautren, Leutner O.-Leut., KlieKedurA, Lunz-Ihn, Lsnnststt,
Lliemnit?, Lordscn, vetmold, Lmäen, LscnweZe, Frankfurt s. O., preiburg i. Kr.,
puläa, pürtli, (Zleivit?, Oöttinxen, Qrei-!, llsrburA, Heidelberg, tteildronn, Kstto-
vit?, KöniZsnütte O.-L<ni., l^cer, I^iel
Fiit^, l^übeek, /VleilZen, planen i. V.,
-Spsnäau, Stettin, l'arnowit?, Ulm, V/iesbsäen, Altan, ?wiekau.-
/innonme von /)e^os/?enFs/Ä^n ^e^insunF,- ^4n- «mal I^e/-^a«/ «-o/z et^/'/-
M/v/e/'en, ans/anÄtsc/een Qe/alö^en, Oev/sen nsiv.
^/n/of«nF von t7on/vous nnÄ O/v/o/enckenscnstnen,' ^«hö/e//nnA von 5alten/s unak
/(^Alto^/e/en,-
O/s^on/is^en NNÄ Q'nA'me'n von Ip'senff/n NNÄ 5c/?ec^s,- ^e/e/nttNF 0ö>S6NF«NKtF6/'
ki/e^hoäo/e^e unÄ Ah^en ^s/aus^nnF F^Fen /<it^spe^/list t/n /Ä//s t/e/- ^us-
/0MNF,- ^«/ohn-a/e^nnF «na? /e^doa/knnF von et^h?aM^su,- Lescna//«NF nnÄ
t/n/e/'S/'/nFNNF von /Aoo/us^snFe/a^/'n, I^s/'/nöFensve/'ivattunFen, Tes/amsnts»
voÄs^ec^nnFen, solo/'e? o//e sonsüFSN van^Fesc^a/it//euer 7>ansa^//oren.
Vermietung von LtanII<ammspn
er Aufenthalt des Präsidenten des englischen Geheimen Staatsrath
Viscount Morter of Blackburn in Berlin ist von so hochpolitischer
Bedeutung, daß sich die Offiziösen gar nicht genug tun können,
den privaten Charakter dieses Besuches zu betonen. Man erinnert
sich dabei an die „Studien über deutsches Erziehungssystem", die
seinerzeit der Zweck des Besuches Lord Haldcmes waren. Es liegt nahe, diese
beiden Ministerreisen in eine Parallele zu bringen und man geht kaum fehl,
wenn man ihre Motive für verwandt hält. Beide Sendungen sind Symptome
einer Neuorientierung der englischen Auslandspolitik, den jüngsten Besuch Lord
Morleys mag man sogar fast einen Beweis nennen. Nach der Krisis des
Jahres 1911 hatte man in England mit Schrecken gesehen, wie nahe es an
den Rand eines Krieges mit Deutschland geraten war. Die Anklagen der
radikalen Presse gegen die gefährliche Politik einer einseitigen Stellungnahme
gegen Deutschland haben ihren Zweck nicht verfehlt. Aber auch in unionistischen
Kreisen machte sich eine plötzliche Ernüchterung geltend, die wesentlich ein
Widerhall der Stimmung in den überseeischen Teilen des britischen Reiches
war. In den Dominions des Reiches hatte man mit wachsender Besorgnis
die Festlandspolitik König Eduards verfolgt, die England in ein Netz europäischer
Verpflichtungen verstrickte und für sie die deutliche Gefahr in sich trug, in den
Widerstreit der Festlandsinteressen hineingezogen zu werden. Gewiß ist man in
Kanada und Australien bereit, mit Gut und Blut für die Sicherheit des
Mutterlandes einzutreten, aber man sieht dort nicht ein, weshalb man wegen
russischer Balkanträume oder französischer Revanchegelüste einen Krieg auf sich
nehmen sollte. Die großen britischen Dominions sind zwar willig, ihren Teil
an der Seerüstung des Reiches zu tragen, aber sie wollen auch Bürgschaften
haben, daß nur Lebensinteressen des britischen Gesamtreiches maßgebend für
die Politik Englands sein dürfen und keine europäischen Abenteuer des Mutter¬
landes. An das kanadische Flottengeschenk, dessen wie und wann noch heiß
umstritten ist, knüpft sich bekanntlich die Bedingung, daß ein kanadischer Minister
als ständiges Mitglied des Reichsverteidigungsausschusses in London seinen
Wohnsitz nehmen solle. Dieses Imperial Defence Committee, dem die Minister
sowie die leitenden Männer der Flotte und des Heeres angehören, hat natur¬
gemäß einen erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der englischen Auslands¬
politik. Dieser Einfluß wird sich durch die Vertretung der Dominions in dieser
Körperschaft — es steht zu erwarten daß Australien, Südafrika und Neuseeland
dem kanadischen Beispiel folgen — noch verstärken, aber auch mehr als bisher
in dem angedeuteten Sinn einer Loslösung von der kontinentalen Ententepolitik
Eduard des Siebenten geltend machen. Diesem Gedanken tragen heute gerade
die englischen Imperialisten durchaus Rechnung. Wollte ein britischer Staats¬
mann den weiten Gesichtspunkt einer größer-britischen Weltpolitik vergessen und
sich in eine rein europäisch-kontinentale Politik wieder hineinziehen lassen, so
würde er dadurch die Einheit des Reiches gefährden.
Aber noch andere Erwägungen zwingen England zur Zurückhaltung in
der europäischen Politik. Vor einigen Jahren hat Paul Deschanel im „Temps"
auf den Zwiespalt verwiesen, der zwischen Englands damaliger europäischer
Politik und seiner Unfähigkeit, an einem Feldzug auf dem Festlande teil¬
zunehmen, bestand. Natürlich wollte der französische Politiker diesen Wider¬
spruch dadurch gelöst wissen, daß sich England zu einer Militärmacht ersten
Ranges entwickeln solle. Der englische Premierminister, Herr Asquith, zeigte
die andere Alternative, wenn er kürzlich im englischen Unterhaus erklärte, daß
heute England durch keinerlei Abmachungen im Fall eines europäischen Krieges
gebunden ist.
Die Freundschaft mit Frankreich hat zwar dem Ententegenossen
Marokko verschafft, aber England selbst hat herzlich wenig dabei profitiert.
Immer wieder hört man Klagen englischer Kaufleute über die Schikanen, die
ihnen in französischen Kolonien in bemerkenswerten und in England keines¬
wegs unbeachteten Gegensatz zu der Handelsfreiheit in deutschen Besitzungen
zuteil werden. Das Geschäft mit Nußland endlich ist der Gegenstand einer
immer schärferen Kritik, und Persien ist im Zeichen des Abkommens mit Ru߬
land das Schmerzenskind Sir Edward Greys. Durch die Niederlage der
Türkei ist die Gefahr des russischen Vordringens im Orient noch bedeutend
gewachsen. Eine solche Entwicklung steht aber im schroffsten Widerspruch mit
den Interessen Großbritanniens. Wieder sind es außereuropäische Einflüsse,
auf die der Minister in der Downing Street hören muß. Die wachsende
Erregung im indischen Islam hat lange, vielleicht schon zu lange, in London
keine genügende Beachtung gefunden. Die englische Politik hat den Übergang
dreier mohammedanischer Länder unter fremde Botmäßigkeit — Marokkos,
Tripolis' und Perstens — geduldet oder sogar begünstigt, und im Balkankrieg
keine türkenfreundliche Haltung eingenommen. Dies hat zu einem vollständigen
Frontwechsel der indischen Mohammedaner geführt. Bisher gehörten diese
fünfundsechzig Millionen Moslems in Indien zu den treuesten Untertanen
Georgs des Fünften. Im Gegensatz zu der nationabindischen Bewegung fühlten
sie, die doch unter den dreihundert Millionen Jndiern nur eine Minderheit bilden,
ihre Rechte am besten unter dem herrschenden aufgeklärten Absolutismus gewahrt.
Darin brachte die antimohammedanische Politik Englands während der letzten
Jahre eine gründliche Änderung. Vor wenigen Wochen beschloß der zu Lucknow
tagende Kongreß der All Jndia Moslem League die Fühlung mit den Auto¬
nomiebestrebungen der Hindus aufzunehmen. Das heißt mit anderen Worten:
der indische Islam hat das Vertrauen zur Krone verloren und glaubt in
Zukunft seine Rechte im Rahmen der nationalindischen Bewegung besser zur
Geltung bringen zu können. Kenner indischer Verhältnisse weisen mit besonderem
Nachdruck darauf hin, daß die indischen Moslems dann völlig unkontrollierbar
würden, wenn weitere Erschütterungen der Türkei die mohammedanische
Schutzherrschaft über die heiligen Stätten Mekka und Medina in Frage
stellten. Mithin hat die englische Politik alles Interesse daran, die Kon¬
solidierung der asiatischen Türkei zu erleichtern. Jedwede weitere Ge¬
fährdung der ottomanischen Macht, wie sie leicht durch russische oder
französische Intrigen in Armenien bzw. Syrien heraufbeschwört werden kaun,
steht im scharfen Gegensatz zu dem Interesse Englands, das sich nicht mehr
länger der Erregung seiner mohammedanischen Untertanen verschließen kann.
I»: dieser Politik im nahen Osten begegnen sich dafür die Interessen Englands und
Deutschlands. Beide sind wirtschaftlich in erheblichem Maße interessiert, beide
aber können und wollen ihren wirtschaftspolitischen Zielen nur dann erfolgreich
nachgehen, wenn das ottomanische Reich sich ruhig und gedeihlich fortentwickelt.
Über die Fortführung der Bagdadbahn ist in diesen Tagen eine Einigung
zwischen England und der Türkei zu erwarten. England wünscht seine Stellung
am Persischen Golf zu sichern und wird dafür um so eher zu Opfern bereit
fein, als es auch zuverlässiger Bundesgenossen gegen die russischen und fran¬
zösischen Ambitionen bedarf.
Es ist keine Frage, daß die Berliner Reise Lord Morlens mit diesen
Dingen zusammenhängt. Ein liberales Blatt versicherte in diesen Tagen, seit
der Krisis im Spätjahr 1911 sei es das vornehmste Prinzip britischer Staats¬
kunst, das Recht Deutschlands auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen.
Das ist ja vielleicht ein bißchen zuviel gesagt. Wenn man aber fragt, wo
dieser „Platz an der Sonne" liegt, so wird man unfehlbar auf Anatolien
und auf Zentralafrika verwiesen . . . England sei kolonialpolitisch im großen
ganzen gesättigt. Es habe kein Interesse Universalerbe der im Sterben liegenden
Portugiesischen Kolonialmacht zu sein. Freilich habe es den Wunsch nur eine
*
solche Macht im Besitz neuer Kolonien zu sehen, die Ordnung sowie rechtliche
und freiheitliche Zustände für den Handel aller Nationen gewährleistet, und
dies sei, so betonen die englischen Kolonialautoritäten, in erster Linie bei
Deutschland der Fall. Die Notwendigkeit einer kolonialen Expansion für
Deutschland wird in England fast lebhafter empfunden als in Deutschland selbst
und man ist in England froh, wenn man ein Ventil für diese Expansion
findet, die jahrelang als eine unheimliche Gefahr für die englischen Inseln
selbst empfunden wurde. Wenn diese Furcht von England weicht, so weicht auch
der deutsch-englische Gegensatz, der in verhängnisvoller Weise während der
vergangenen Jahre die hohe Politik beherrschte.
Es ist kein Zufall, daß gerade Viscount Morley der Träger einer Mission
in Berlin ist. Dieses Kabinettsmitglred galt von jeher als der Freund einer
englisch-deutschen Rückversicherung zur Ergänzung der französischen Entente.
Im selben Augenblick scheidet Sir Gerard Lowther, der Botschafter Gro߬
britanniens am Goldenen Horn und damit der Träger der bisherigen englischen
Orientpolitik in verhältnismäßig jugendlichem Alter und nach nur fünfjährigem
Wirken aus dem Amt. Noch bedeutsamer aber erscheint der in hiesigen diplomatischen
Kreisen vielerörterte bevorstehende Rücktritt Sir Arthur Nicolsons. Sir Arthur
bekleidet zurzeit das Amt eines ständigen Unterstaatssekretärs der Auswärtigen
Angelegenheiten. Man erinnert sich, welche Rolle dieser Diplomat als Berater
König Eduard des Siebenten gespielt hat, den er als Botschafter in Se. Peters¬
burg und zwar auf der Konferenz von Algeciras vertreten hat. Zum Über¬
fluß tauchen Gerüchte von Abschiedsgedanken des Wiener Botschafters Sir
Fairfax Cartwright auf, den man als den Prototyp der englischen Diplomaten
antideutscher Schule bezeichnen kann.
nde Februar 1894 hat Herr Syndikus Dr. Voelker in Gemeinschaft
mit mir „Beiträge zur Beurteilung der Frage der Aufhebung des
Identitätsnachweises sür Getreide" herausgegeben, in welchen wir
für diese Aufhebung und für Schaffung einer Freizügigkeit des
Getreides eintraten. Ostdeutscher Überfluß sollte in Form aus¬
ländischen Getreides den westdeutschen Bedarf decken; eine Tauschwanderung
örtlichen und zeitlichen Überflusses gegen anderweitigen und anderzeitigen Bedarf,
entbehrlicher inländischer Gemeinqualität gegen benötigte ausländische Sonder¬
qualität sollte offene Aus- und Eingangstore finden.
Wir hatten die Genugtuung, kurz darauf das Einfuhrscheingesetz in Kraft
treten zu sehen. Wurde früher zuerst eingeführt und dann bei Ausfuhr der
nämlichen Partie (Jdentitätsnachweis) der Zoll zurückvergütet, so erfolgt jetzt
zuerst die Ausfuhr, wobei ein Ausfuhrschein, der aber Einfuhrschein heißt,
erteilt wird, ein Jnhaberpapier, das bei Einfuhr der nämlichen Warengattung
statt Barzolles in Zahlung genommen wird. Also früher Parteiidentität, jetzt
Gattungsidentität.
Um es gleich vorweg zu sagen: der Erfolg war glänzend. Getreidehandel
und Reederei, besonders in Königsberg, Danzig und Stettin fanden reichere
Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, die Landwirtschaft, besonders die östliche,
flotteren Absatz und steigende Preise.
Leider nur ermächtigte das Gesetz den Bundesrat, die Scheine auch bei
Einfuhr „anderer Waren" (Kaffee, Erdöl) an Zahlungsstatt zuzulassen. Ein Agrar-,
Schriftsteller*) nennt diese Bestimmung „belanglos, entbehrlich und wegen der
scheinbaren (?) Durchbrechung des Prinzips einen Schönheitsfehler".
Der Zweck des Gesetzes war durch diesen Schönheitsfehler durchbrochen,
der Keim zur Umwandlung von Austauschwanderung in Auswanderung war
gelegt. Erst Ende 1911 wurde, ohne irgendeinen Schaden anzurichten, irgend¬
eine Umwälzung hervorzurufen, der Schönheitsfehler beseitigt. Man hätte das
schon bei erster sich bietender Gelegenheit tun sollen.
Statt dessen fügte man bei der ersten, Ende 1902 beschlossenen, am
1. März 1906 in Kraft getretenen Änderung des Gesetzes noch einen organischen
Fehler hinzu, indem die Scheine nicht nur bei Einfuhr „der nämlichen Waren¬
gattung" (die ausgeführt wurde), sondern bei Einfuhr „einer" (also jeder)
„der" im Gesetz „benannten Warengattungen" annahmefähig erklärt wurden. —
Auch die Gattungsidentität war mithin aufgehoben!
Die eingetretene Wirkung davon wagte man damals einerseits nicht zu
hoffen, und ahnte anderseits nicht, sie fürchten zu müssen. Niemand erwartete
damals auch nur für eine einzige Warengattung eine so einseitige Entwicklung,
ein so rapides, überwiegendes Wachstum der Ausfuhr, wie sie der „organische
Fehler" späterhin beim Roggen — vorübergehend auch beim Hafer — zeitigte.
„Ein für die Produzenten glücklicher Zufall hat die Bestimmung gerade früh
genug entstehen lassen; bereits zwei Jahre später wäre sie bei veränderten
Getreideproduttiousverhältnissen wohl nicht mehr durchzusetzen gewesen." Auch
Graf Mirbach soll schon 1888 betont haben, daß man jenes System nie ein¬
führen dürfe, wenn z. B. Deutschland an Roggen mehr produziere als man brauche.
Die Scheine erhielten durch die neue Bestimmung Bargeldcharakter, die
Kontrolle über Ein- und Ausfuhr der einzelnen Warengattungen entfiel, sie
bestand — ohne Zweck — nur noch über die Summe der gesamten heterogenen
Warengruppe, man konnte schrankenlos exportieren und warf sich hierin besonders
auf Roggen.
Der Bodennutzungsgemeinbetrieb der deutschen Landwirtschaft änderte sich
durch Hypertrophie von Roggenproduktion und Roggenexport zu Lasten un¬
genügender Erzeugung anderer Bedarfspflanzen,
Es wurden ausgeführt:
welche bei einem Ausbeuteverhältnis von 100 zu 155 einer Körnermenge von
entsprechen, dazu
Die Ausfuhr ging nicht nur wie früher nach Finnland, Schweden, Nor¬
wegen, Schweiz, Österreich-Ungarn, sondern auch nach Frankreich, Belgien,
Dänemark, Rußland! (Livland und Polen), Niederlande. Nordamerika (!),
Großbritannien, Italien, Portugal, Spanien, Egvpten, Deutsch-Südwestafrika (!).
Das industrie- und volkreiche Deutschland, traditionell das zweitgrößte
Importland der Erde bezüglich Roggen, wird Weltkornkammer I
Im ersten Quartal resp, bis 20. April 1913 haben wir
mehr ausgeführt als eingeführt. Die Überausfuhr wächst also beständig, wenn
keine Hemmungsmaßregel eintritt.
Jede Mehrausfuhr — auch nur einer Warengattung — vermindert die
Reichszolleinnahme. Bezüglich Hafer, dessen vorübergehende Mehrausfuhr sich
glücklicherweise nicht wiederholt hat, gibt dies die Reichsregierung*) ausdrücklich
zu. Bezüglich der Roggenmehrausfuhr will man das nicht recht Wort haben;
sie solle eine gleich große, sogar S, 5^ Mark zu verzollende, Mehreinfuhr von
Weizen erzeugen. Man verschweigt nur, daß der bezügliche Weizenzoll — 37
Millionen Mark in 1912 — nicht bar entrichtet wird, sondern in Scheinen,
welche das Reich den Witwen und Waisen nicht in Zahlung geben kann.
Verminderung der Roggenausfuhr mag Beschränkung des Roggenanbaues
herbeiführen. Insoweit ihn Weizenanbau ablöst, braucht weniger Weizen ein-
geführt zu werden. Das braucht nicht pari passu zu geschehen. Die speziell
auf Vermählung harten Auslandweizens eingerichteten Mühlen gehen davon nicht
gleich ab, wenn Jnlandsweizen stärker oder billiger angeboten wird. Sie fügen
sich eher in eine geringere Rente, als daß sie ihre Methode ändern. Aber
angenommen, die Weizeneinfuhr ginge pari pa8su zurück, so entginge dem
Reiche nur eine Zolleinnahme, die es bisher nicht bar, sondern in Scheinen genoß.
Wird das bisherige Roggenfeld nun in Klee oder Wiesenkultur genommen,
mit Kartoffeln, Winterraps usw. bestellt, so schraubt das die Weizeneinfuhr nicht
zurück. Sie bleibt bestehen, wird aber bar verzollt, statt bisher mit Roggen¬
scheinen. Reiner Einnahmezuwachs für die Zollkasse!
Letztere Wirkung tritt auch ein bezüglich desjenigen Roggens, der künftig,
statt ausgeführt zu werden, im Inlande verfüttert wird. Allerdings mag jeder
verfütterte Doppelzentner Roggen die Einfuhr eines Doppelzentners Futtergerste
unnötig machen, also dem Reiche 1,30 Mark Zolleinnahme entziehen. Aber er
vermindert auch die Ausstellung und Jnzahlunggabe von 5 Mark Einfuhr¬
scheinen. Es bleiben sonach 3,70 Mark pro Doppelzentner reiner Einnahme¬
zuwachs für die Zollkasse.
Insoweit bislang exportierter Roggen künftig zum Jnlcmdsverzehr kommt,
mag das auf den Weizenverzehr und Weizenimport drücken. Aber auch nicht
pari pÄ8Su. Ich bekomme täglich eine feste Zahl Weißbrötchen; aber vom Laib
Roggenbrod schneide ich ab solange und soviel mir schmeckt. Ich kann mir
denken, daß der Arbeiter um so mehr davon abschneiden wird, je billiger es wird.
Mühlen, die nur auf Weizenvermahlung konstruiert sind, können wegen der
neuen Roggenkonkurrenz nicht gleich umsatteln, sie müssen ihre Walzen und
Gänge beschütten und auch bei schmälerer Rente weiter Weizen kaufen resp,
einführen.
Nach alledem ist wohl nicht zu bezweifeln, daß durch Verminderung der
'Roggenausfuhr die Reichskasse Vorteile erhielte, daß sie durch den jetzigen Zustand
also Nachteile hat.
Zu untersuchen bleibt auch die volkswirtschaftliche Wirkung der Mehrausfuhr
von 731268 Tonnen Roggen und ihr Ersatz durch entsprechende Weizeneinfuhr.
Das Mittel der Großhandelspreise für Roggen an den Hauptausfuhrzentren
Königsberg, Danzig, Stettin, Breslau. Posen war im Jahresdurchschnitt 1912
175,2 Mark pro Tonne. Das Mittel der Großhandelspreise für Weizen an
den Haupteinfuhrplätzen Köln. Frankfurt, Mannheim, München im Jahres¬
durchschnitt 1912 war 242,7 Mark pro Tonne. Der Mehraufwand zu Lasten
des Volkshaushalts von 67^ Mark pro Tonne beträgt für 1912 rund 50
Millionen Mark, denen kein wirtschaftlicher Faktor gegenübersteht, da die provo¬
zierte Geschmacksverfeinerung kein wirtschaftliches Bedürfnis ist und keinen Er¬
nährungsvorteil auslöst. Im Gegenteil, Ärzte und Zahnärzte empfehlen mehr
die Roggenbrotnahrung und England geht im Interesse der Volksgesundheit
wieder mehr zum Roggenbrotverbrauch über.
Im Falle eines Krieges kann die Auswanderung unseres Roggens dann
verhängnisvoll werden, wenn der Krieg erst nach Neujahr oder im Sommer
ausbricht. Dann ist unser Getreide gewohntermaßen schon außer Landes,
Ersatzeinfuhr aber abgeschnitten. Und nennenswerte Raggenlager haben wir
schon lange nicht mehr, seitdem die Ausfuhr so flott ist. Ende 1912 waren auf
Zollagern usw. nur vorhanden 438 Tonnen Roggenmehl gegen 1201 Tonnen
Ende 1910 und 13651 Tonnen Roggen gegen 31814 Tonnen Ende
1910.
Nach alledem ist wohl nicht zu bezweifeln, daß die Getreideauswanderung,
die sich besonders beim Roggen herausgebildet hat, bekämpft werden muß. Wir
drängen uns im Osten dem Auslande als Lieferanten auf, um uns im Westen
desto abhängiger vom Auslande als Lieferanten zu machen. Der Landwirtschaft
ganze Kraft muß aber dem Inlande nutzbar bleiben. Sie muß ihre Produktion
tunlichst dem Sortenbedarf anpassen.
Der „organische Fehler" hat die Übelstände gezeitigt, durch seine Aus-
merzung, durch Wiederherstellung des 8law8 quo ante 1906, durch die von
weitesten Kreisen geforderte Wiederherstellung der Gattungsidentität sind sie zu
heben. Dies ist das gegebene Mittel, um Überausfuhr irgendeiner Getreide¬
gattung zu verhindern. Welche Wirkung wird die Anwendung dieses Mittels
erzeugen?
Nachstehende Tabelle wird es erleichtern, das zu untersuchen.
Außer bei dem Roggen ist hiernach die Einfuhr jeder einzelnen Waren¬
gattung so stark überwiegend, daß die glatte Unterbringung ihrer Ausfuhrscheine
bei der Einfuhr derselben Warengattung gesichert erscheint und es nur nötig
sein wird, die Umlaufdauer der Scheine auf zwölf Monate zu erstrecken, damit
der Eigner in aller Muße gute Verwendung dafür suchen kann. Bei Hafer
und Buchweizen wenigstens kann das mal erwünscht sein, alle anderen Scheine
dürften nach wie vor stets sofort anzubringen sein.
So berechtigt und notwendig nun diese Maßregel auch erscheint, so schreckt
man doch zurück, sie auszuführen, angesichts der Umwälzungen für die Ost¬
provinzen, deren Hauptfrucht gerade der Roggen ist. Die Befürchtung einer
wüsten Spekulation in Roggenscheinen bis zur völligen Entwertung hat sich in
den Landwirtschafts- und Handelskreisen des Ostens zu sehr festgesetzt, als daß
sie durch Gegenausführungen zu bannen wäre.
Wenn diese Kreise schon mal in Verwertung der Scheine beschränkt sein
sollen, wird ihnen jedenfalls ein fester Verlust, mit dem sie kalkulieren können
lieber sein. Nun hatte die Handelskammer Berlin vorgeschlagen, die Scheine
über Weizen, Hafer, Roggen um 1 ^/z Mark pro Doppelzentner niedriger aus¬
zustellen. Dies auch beim Weizen zu tun, liegt überhaupt kein Grund vor
und gerade ihm ist Austauschwanderung am nötigsten. Die müßige Überaus¬
fuhr von Hafer, die sich nicht wiederholt hat, mag nur eine vorbeugende
Kürzung minimalster Höhe, vielleicht 15 Pfennig pro Doppelzentner rechtfertigen.
Zur Beseitigung der Roggenüberausfuhr dürfte ein Abzug von 1 Mark pro
Doppelzentner schon genügen. Ein höherer Abzug kann leicht die ganze Aus¬
fuhr fortrasieren, das Kind mit dem Bade ausschütten. Den Gedanken einer
Beschränkung der Ausfuhrvergütung soll übrigens schon 1888 der Vorkämpfer
dieser Vergütungen, Graf Mirbach, ausgesprochen haben und nur eine 90vro-
zentige Zollvergütung vorgeschlagen haben.
Um zu positiven Vorschlägen zu kommen, möchte ich mich bezüglich des
Roggens dieses Gedankens bemächtigen und dielvProzentKürzung gleich 50Pfennig
pro Doppelzentner vorschlagen. Das wird allerdings nicht genügen, die Über¬
ausfuhr zu beseitigen, aber doch, sie erheblich, vielleicht auf die Hälfte zu be¬
schränken. Für den zum Roggenmehl benötigten Roggen darf der Abzug noch
etwas niedriger sein, um den Mehlexport mehr als den Roggenexport zu be¬
günstigen, Kleie und Mahllohn also dem Inlande zu erhalten.
Prinzipiell wären auch alle übrigen Warengattungen mit einer minimalen,
den Verkehr nicht hindernden Auflage zu bedenken, etwa 10 Pfennig pro
Doppelzentner. „Ein Groschen für das Reich" fällt beim Exportgeschäft schon
nebenher ab. Der Exporteur und der ausländische Importeur tragen ihn zu¬
sammen als „Spesen".
Vorstehendes in das Zolltarifgesetz ZU hineinzuarbeiten ist umständlich
und birgt die Gefahr, daß alle die schwierigen Fragen der Gesamtmaterie auf¬
gerollt werden, ohne zu einer Einigung zu gelangen. Ein Quittungsstempel
auf Einfuhrscheine zugunsten des Reiches würde den gleichen Zweck bequemer
erfüllen. Wer einen Einfuhrschein in Zollzahlung gibt, muß auf demselben mit
einer „Anrechnungsbestätigung" quittieren. Diese Quittung mag gestempelt werden.
Da die Scheine über Mark- und Pfennigbeträge lauten, kann der Stempel nicht
über Gewichtssätze sondern muß über Prozente des ausmachenden Betrages lauten.
Ich habe nachfolgenden Tarif nebst Ergebnisrechnung ausgearbeitet:
Stempeltarif
Dem Tarif sind die Ausfuhrmengen des Kalenderjahres 1912 zugrunde
gelegt, foweit die Ausfuhr sich gegen Erteilung von Einfuhrfcheinen vollzog.
Eine so geringfügige Auflage wird keine Beschränkung der Ausfuhr herbeiführen,
außer beim Roggen in Mehlform auf schätzungsweise die Hälfte und Roggen
in Körnern die starke Hälfte.'
Allerdings nur 3.8 Millionen Mark erbrächte hiernach der Stempel; für
den Suchenden ist es des Bückens immerhin noch wert. Aber Scheine über
4 Millionen Doppelzentner Roggen und 1^ Millionen Doppelzentner zu Mehl
verarbeiteten Roggen 5 5 Mark im Betrage von 26^ Millionen Mark würden
dann weniger ausgegeben und bei Verzollung anderer Waren weniger in Zahlung
gegeben werden. Die Barzolleinnahme des Reiches würde sich erheblich erhöhen!
Dies beides spricht bei der jetzt im Vordergrunde des Interesses stehenden
Deckungsfrage doch schon mitt
Die Landwirtschaft der „Roggenprovinzen" mag durch die Reform etwas
von ihrer Hochrentabilität einbüßen. Sie hatte auch den größten Vorteil von
diesem System. Roggen kostete im Jahresdurchschnitt 1912 in Königsberg
17,78 Mark pro Doppelzentner. Im Geburtsjahr des Einfuhrscheinsystems
1894 kostete er nur 10,68. Weizen 1912 20,98 Mark, im Jahre 1894 nur 12,69.
(Heute ist Roggen wieder billiger, aber 1907 und 1908 stand er noch höher.)
Königsberg, 1904 der billigste Getreideplatz Deutschlands, hat heute höheren
Roggenpreis als Danzig, Stettin, Posen, Breslau, Magdeburg, Halle, Leipzig,
Dresden. Die heutige Danziger Weizennotiz ist, abgesehen von Rhein- und
Süddeutschland, die höchste von ganz Deutschland.*)
Die Rentabilität der Landwirtschaft im Osten ist im letzten Jahrzehnt allein
bis 100 Prozent gestiegen; der Bodenpreis von S73 Mark pro Hektar im Jahre
1894, auf 1383 Mark im Jahre 1906.**)
Der Getrcidehandel dort wird für den Ausfall im Roggenausfuhrgeschäft
andere Beschäftigung finden. Die Speicheranlagen Danzigs können für die
Verminderung des Roggenumschlagverkehrs Ersatz finden in stärkerer Lager¬
haltung als Grundlage eines auszubildenden Gctreideterminhandels (zugelassener
handelsrechtlicher Lieferungshandel).
Es ist der Herren im Osten nobile ottieium, auch ein Opfer zu bringen.
Sie sollten es sich nicht erst abringen lassen. Die Angriffe gegen das System
verstummen nicht. Sie ermangeln nicht mancher, kaum länger wegzuleugnender
Berechtigung. Über den Landwirtschaftsminister hinweg wird sich der Reichs¬
schatzsekretär die Wirkung auf die Zölle mit eigenen Augen ansehen müssen.
Das Ausland ist erbittert. Schon 1910 forderte ein polnischer Gutsbesitzer***)
russische Gegenmaßregeln gegen den ostdeutschen Prämienroggen. spätestens
bei den neuen Handelsvertragsverhandlungen wird der Stein des Anstoßes ins
Rollen kommen. Vielleicht früher schon mal über Nacht. Die betreffenden
Kreise täten besser, freiwillig einem maßvollen Reformvorschläge zuzustimmen,
als zu warten, bis die Welle mißgestimmter Gegnerschaft weit mehr von den
Errungenschaften fortschwemmt.
Steuer¬
betrag
6?
Warengattung
M.
in °/o
P. 6?
p. 62
M.
10
60
3 947 420
6
7 894 841
Roggen
336 908
6Vs
11
2
3 062 793
Weizen
1986
11
6V2
2
Spelz
18 052
10,4
920
Gerste
8
1,30
8 841
15
674 973
3
Hafer
5
3 833 159
465
2
Buchweizen
5
10
4 645
1891
Gerste als 13 636 6? Malz
8
10,4
1,30
18 180
1760
7
Speisebohnen
2
14
12 567
12 797
1,50
7
10,6
Hülsenfrüchte
121872
7
9 562
Raps und Rübsen
2
14
68 299
1
2V9
Malzkaffee
40
40
523
511
30
30
1703
Suppentafeln
1 006 352
Roggen als 1 668 344 62 Mehl
8
40
5
2 516 879
6V2
271 873
2
Weizen als 1 704 534 62 Mehl
11
2 471 574
1
3 354
Hafer-, Gersten- und Erbsenmehl
l^'/s
14,5
23 202
Gerste als 133 562 62 Graupen, Gries
173 202
18 013
und Grütze
1,30
8
10,4
Hafer als 448666 62 Haferflocken und
800 000
120 000
6
3
16
Hafermehl
Raps und Rübsen als 1186 62 Rüböl
2
14
553
7
3 953
14
1768
14
Weizenstärke
12 630
14
Dextrin usw.
1
14
327
2 334
as seit Jahren im stillen von Scharnhorst, Stein, Hardenberg u. a.
vorbereitet worden, soll ins Leben treten; wir aber haben nun
durch die Tat zu beweisen, daß es nicht leere und vergebene
Worte waren, welche Fichte, Schleiermacher, Arndt und Jahr
an die deutsche Jugend richteten." So heißt es in dem Briefe
eines jungen Freiheitskämpfers aus Breslau vom 3. Februar 1813. Kaum
ein anderes Wort aus jenen Heldentagen vor hundert Jahren beleuchtet Heller,
was Arndt den Kämpfern für Deutschlands Freiheit war. — Was ist er uns
heute? Gehören auch uns seine Schriften noch „zu dem Kräftigsten und Er-
weckungsreichsten, was je eine deutsche Feder geschrieben"? Hat man bei den
Erinnerungsfeiern in Königsberg seiner gedacht? Im Januar und Februar
1313 hat er dort „das Schwingen, Ringen und Klingen dieser Morgenröte
deutscher Freiheit" fördern helfen, indem er die Preußen aufrief zur Tat und
ihnen sagte, was Landsturm und Landwehr bedeuten sollten! Auch bei der
Feier der Berliner Universität scheint man nur sein Lied von dem Gott, der
keine Knechte wollte, gesungen zu haben. Ob man sich aber allgemein bewußt
war und der deutschen Jugend eindringlich zu Gemüte geführt hat, wieviel
Arndt zur Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins beigetragen hat, er¬
scheint mir nach den mir vorliegenden Berichten sehr zweifelhaft. Und — mögen
auch wirklich einzelne Kenner und Freunde Arndtschen Wesens in Erinnerungs¬
feiern sich seiner angenommen haben, — auch Arndt will weniger erhoben und
fleißiger gelesen sein. Er hat ein Recht darauf, nicht nur ein historisches; wir
sind es ihni schuldig, nicht nur aus Pietät. Ich kann Victor Klemperer, dessen
gedankenreicher Aufsatz in diesen Blättern (1910 Ur. 4) mir sonst viel Freude
bereitete, nicht beistimmen, wenn er meint, man müsse die Feststellung, daß
Arndts Lebenswerk im Gedächtnis der Heutigen nicht mehr viel gelte, als dem
natürlichen Verlauf der Dinge entsprechend ohne Tadel hinnehmen. Nein,
nimmermehr! Im Gegenteil! Laßt uns nicht müde werden gegenüber der
Lässigkeit und Eigenliebe der vielen, sondern immer wieder unsere Jugend,
unser Volk dorthin führen, wo uns die starken Wurzeln unserer Kraft gewiesen
werden, wo der tiefe, ewige Born der Deutschheit aufquoll, aufrauschte, als
das Schwert und die Not der Zeit den Fels der Verstocktheit gesprengt hatten.*)
Arndt ist solch Ouellsucher und Quellfinder nicht weniger als Fichte, wir müssen
ihn als solchen erkennen; er geht dieselben Wege wie jener — auch er setzt die
Gleichung Deutschtum ist „verwirklichtes Menschentum", ist Lebensgröße, ist
Wille zur Kraft, ist Wille zur Zucht; auch ihm ist die Nation Hülle des
Ewigen und Patriotismus „konkretisierter Kosmopolitismus"; auch er sah schlie߬
lich in Bonaparte die „Inkarnation des Bösen"; auch er haßte den skrupelloser
Willen, den Willen schlechthin zur Eigenmacht; „Gesetz" war ihm Grundlage
des Staates, geboren aus Freiheit und Notwendigkeit. Ja, es gilt noch zu
untersuchen, ob nicht vielleicht Quellwasser aus Arndts Gedankenstrom in den
Fichteschen eingeströmt ist; — zum andern aber: Arndts Deutschtum ist erden¬
hafter; sein Weg zum Nationalstaat war kürzer als Fichtes und führte auf
festem Erdboden, wo jener, „den Schollenpatriotismus" weit unter sich lassend,
kühnen Fluges Bahnen zog, auf denen wohl viele ihm nicht sogleich folgen
konnten. Wo die Fichte bauen, haben die Arndt auch zu tun, wo man dem
Professor der Philosophie, der politischen Ethik, lauscht, hat dieser Professor
der Geschichte, der Künder des historisch-politischen Realismus, sein Daseinsrecht
nicht verloren. Daß man dies überhaupt noch beteuern muß, wird einem
schwer, wenn man bei monatelanger fast ausschließlicher Beschäftigung mit
Arndtschen Schriften auch nicht einen Augenblick die innere warme Anteilnahme
erlahmen, die Zugkraft der Gedanken nie versagen fühlte. Wem Arndt Freund
und Berater geworden ist, der mag und kann es nicht glauben, daß er es so
vielen, vielen Volksgenossen nicht mehr sein soll. Auf Schritt und Tritt ver¬
blüfft Arndt ja durch Gedanken und Forderungen, die die Jetztzeit der Ver¬
wirklichung näher führt. Diese, manchmal seltsame. Beobachtung habe ich auch
wieder bei dem Buche gemacht, das Dr. Kurt Levinstein geschrieben hat als
einen „Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im ersten Jahrzehnt des neun¬
zehnten Jahrhunderts": „Die Erziehungslehre E. M. Arndts" (Weidmann,
Berlin). Vom wissenschaftlichen Wert dieser tiefgründigen Untersuchungen
nachher! Hier zunächst mein — Erlebnis, wenn ich es so nennen darf: daß
Arndt sich uns entpuppt in der Politik als zielbewußter Verkünder des Macht¬
prinzips, als Fürsprecher der inneren Kolonisation, der Stärkung des Bauern¬
standes, in religiöser Beziehung als Befreier vom Dogma, verwundert den,
der ihn halbwegs kennt, nicht allzu sehr; daß in jenem neuen Buche die
Eigenart der Arndtschen Erziehungslehre erwiesen wird in der Ersahrungs¬
und Naturgemäßheit, in der vernünftigen Betonung des Körperlichen, in der
Forderung der Charakterbildung, der gegenwartsfroheren und individuellerer
Gestaltung des Unterrichts, der Verselbständigung des Schülers, auch das ist
dem Arndtkenner nicht mehr allzu überraschend. Wer aber hätte in ihm einen
Vorahner des Genfer, jetzt Hellerauer Meisters Jaques - Dalcroze vermutet?
Arndt — ein Prophet der rhythmischen Gymnastik! Wie sollte das möglich
sein? Allerdings, wenn auch nicht ganz aus eigener Vernunft! — Als ich
vor Jahren Arndts „Fragmente über Menschenbildung" zum erstenmale las,
wurde ich von dem, was er über den griechischen Tanz, die griechische Gym¬
nastik, das „Musikalische" ihres Wesens sagt, seltsam im Innern getroffen;
geheime Sehnsucht brachliegender Kräfte ahnte hier die Möglichkeit der Ent¬
faltung. Jetzt ist mir durch Dalcroze aufgegangen, was Arndt fühlte und
meinte. Es schmälert Arndts Verdienst nicht sehr, wenn er mehr nachfühlend
als frei schaffend zur Forderung einer engeren Verbindung von Musik und
Gymnastik gelangt: Plato ist sein Gewährsmann; aber ohne das Arndt eigen¬
tümliche, der Antike sympathische Einfühlungsvermögen, ohne seinen romantisch
ahnungsvollen, ins Innere alles Wesens dringenden Sinn wären Platos Ge¬
danken für den Deutschen nur klingende Schellentöne geblieben. Es macht
Arndt alle Ehre, daß für ihn Gewißheit war, was mancher Zweifler am
ethischen Wert der Methode Jaques-Dalcrozes nicht glauben will: die Lehre
Schillers, daß jede ästhetische Wirkung zugleich eine ethische ist, daß das Gute
und das Schöne nur verschiedene Erscheinungsformen desselben Ideals bedeuten.
Es ist hier nicht der Ort, aufzuzeigen, bis zu welchem Grade Dalcrozes
seelisch-erzieherische Folgerungen und Absichten vorweggenommen werden —
ich behalte mir das vor —, wer eine Ahnung davon bekommen will, lese die
Seiten 55 ff. in Levinsteins Buch nach, das überhaupt höchst anregend ist.
Seine Untersuchungen zeichnen sich aus durch größte Sorgfalt und umfassenden
Einblick. Levinstein erkennt dem Pädagogen Arndt bei allem Nachweis seiner
Anregung durch Rousseau, Salzmann, Pestalozzi, seiner Bedingtheit durch An¬
schauungen des klassischen Altertums doch die selbständige Stellung und hohe
Bedeutung zu, die man ihm bisher mehr gefühlsmäßig beigelegt hatte, und er
gibt damit dem pädagogischen Hauptwerk Arndts, den „Fragmenten. . ." vom
Jahre 1805, seinen lebens- und zeitgeschichtlichen Platz. Sehr tief und ein
schönes Zeugnis der liebevollen Versenkung in Arndts Wesen ist auch das fünfte
Kapitel, das „Arndts erzieherische Persönlichkeit", ihr Wesen und Werden auf¬
zeigt. Ich möchte dieses Kapitel, im Gegensatz zu Adolf Matthias, der das
Buch in der Monatsschrift für höhere Schulen sonst sehr günstig besprochen hat.
durchaus nicht missen.*)
Findet also in dieser Schrift der Pädagoge viel Anregung und unerwartete
Entdeckungen, so kann auch dem Politiker und Historiker durch neue Arndt-
vücher hohe Freude widerfahren, zumal durch einen Neudruck der erst vor kurzem
von Müsebeck wiederentdeckten Schrift Arndts aus dem Jahre 1810: „Der Bauern¬
stand politisch betrachtet. Nach Anleitung des königlich Preußischen Edikts vom
9. Oktober 1807" (s. Prß. Ib/Juli 1910). Dieser Neudruck ist sehr dankens¬
wert; macht er doch eine höchst seltene Schrift Arndts bequem zugänglich, in
der die Grundlagen unserer neueren Bauernpolitik und ihre allermodernsten
Bestrebungen klar und wohlgegliedert in echt Arndtscher historisch-realer Beweis¬
führung niedergelegt sind. Es ist für mich eine der fesselndsten, auch stilistisch
besten Schriften Arndts. Sie findet sich in der neuen Arndtausgabe, die der
Borghese Verlag (Goldene Klassikerbibliothek) von Leffson und Steffens, zwei
noch jungen Historikern, in vier Bänden hat herausgeben lassen. Es gehörte
Mut dazu, diese Ausgabe auf den Markt zu bringen, nachdem bereits 1908
Max Hesse eine treffliche vierhändige Auswahl geliefert hatte, die dem damals
dringenden Bedürfnis abzuhelfen durchaus geeignet war, nun aber gar nicht
den Erfolg zu haben scheint, den sie verdient als eine tüchtige Leistung der
beiden Veteranen der Arndtforschung H. Meisner und R. Geerds. Wer also
einen solchen Mut hat, muß schon überzeugt sein, etwas besonders Gutes zu
bieten. Und in der Tat: die Ausgabe ist vortrefflich; nach sorgfältiger Prüfung
und Vergleichung muß ich der Überzeugung Ausdruck geben, daß sie sich neben
der Hesseschen behaupten kann; zumal nach Ausstattung und Format wird sie
vielen mehr gefallen. Einem Bedürfnis aber entsprach sie nicht; die Heraus¬
geber von Schriftstellern Arndtscher Art, die schwerlich einen Massenabsatz er¬
zielen werden, sollten lieber eine Arbeitsteilung eintreten lassen, statt eine Kon¬
kurrenz uni jeden Preis zu betreiben. Bietet doch die Hessesche Ausgabe an
Umfang sogar erheblich mehr. Sie enthält allein etwa einhundertundsiebzig
Gedichte und Einzelstrophen, die Leffson ausschied, darunter solche, die man
nicht gern entbehrt (I, 26. 113; II, 40, 76. 93, 96, 105, 114. 120, 144,
177. 179, 183; III, 68, 175, 183, 187). Und acht „kleine Schriften" finden
sich in dem von Geerds zusammengestellten Band 4, die man in Bongs Aus¬
gabe vergeblich sucht.
Nach dieser Hinsicht scheint die Ausgabe von Meisner und Geerds mehr
für die Bibliothek des Wissenschaftlers, des Geschichts- und Literaturforschers,
des Politikers geeignet. Auch die Einleitungen sind in ihrer Schlichtheit und
Bündigkeit, die Archivalisches und Bibliographisches bevorzugt, anscheinend mit
Absicht, mehr auf das äußere Drum und Dran eingerichtet, als auf eine Ein-
führung in Wesen und Bedeutung des einzelnen Schriftwerkes. Die wird in
der Bongschen Ausgabe durchweg in sehr erfreulicher literarischer Form und
mit oft sehr eigenem, zum Nachdenken zwingenden Urteil geboten; vielleicht wird
hier sogar das, was der Leser aus dem Lebensbild sich selbst holen oder sonst
erschließen kann, zuweilen allzu mundgerecht und wortreich noch einmal dar¬
gereicht.
Meisners Lebensbild in der Hesseschen Ausgabe (das übrigens auch ge¬
sondert in Max Hesses Volksbücherei für 20 Pfennige zu haben ist) hat seine
großen Verdienste. Er zuerst stellte Arndts Leben nach den neuen Quellen,
besonders den Briefen, die er mit Geerds herausgab, dar, und manches Problem
in Arndts Leben hat er zuerst der Lösung näher geführt. Und in seiner
schlichten pragmatischen Darstellungsweise kommt die warme Anteilnahme des
Biographen zu wohltuender Wirkung. Aber seitdem ist die Forschung erheblich
fortgeschritten: Müsebecks Entdeckung warf ein überraschendes Licht auf Arndts
Fühlungnahme mit Preußen; Meineckes Gedankengänge über Weltbürgertum
und Nationalstaat wirkten ungemein befruchtend auch auf die Arndtforschung.
Die von mir in diesen Blättern 1911 Heft 38 und 39 und von Steffens in
der Vossischen Zeitung 9. Juni 1912 veröffentliche Vergleichung der zwei Auf¬
lagen des Geistes der Zeit II von 1809 und 1813 gab neue Aufschlüsse über
Arndts Stellung zu den Anschauungen der französischen Revolution, zu Preußen
und Österreich und über seine literarische Abhängigkeit, vielmehr Unabhängigkeit
von Stein. Das alles hat seinen Niederschlag gefunden in dem Lebensbilde,
das Wilhelm Steffens für die Borghese Ausgabe geschrieben hat. Es ist eine
höchst erfreuliche kluge Leistung; es ist die beste Lebensbeschreibung Arndts auf
neuer Grundlage und wird als Ganzes nur von der berühmten, in ihrer Art
unübertrefflichen, die R. Harn 1860 für die Preußischen Jahrbücher schrieb,
überboten. — Deutete Meisner, wohl mit Bedachtsamkeit, die Probleme meist
nur an, so führt Steffens geschickt und sicher in sie hinein und entwickelt sie.
Überall spürt man das tiefe Sichversenken und den freien weiten Blick des
echten Historikers und Psychologen. Man hat überall das wohlige Gefühl:
alles ist hier geschaut, erlebt, zu Ende gedacht und in runder Form ausgedrückt.
Im einzelnen ist die Darstellung der Jugend bei Steffens nicht nur ausführ¬
licher, sondern auch wärmer und lichtvoller geboten als bei Meisner; ferner ist
der Tod der Eltern nicht übergangen, die seltsame Entwicklung Arndts zum
Deutschen und Preußen ist in ihrer ganzen reizvollen Eigenart erfaßt und so
handgreiflich, schön und klar dargestellt worden wie bisher noch nicht. Das
Verhältnis zu Johanna Motherby, wie es in den von Meisner veröffentlichten
Briefen Amts an Johanna sich darstellt, wird mit einer erfreulich gesunden
Ungeschminktheit als das bezeichnet, was es war: nicht als eine „Freundschaft"
(Meisner), sondern als eine leidenschaftliche, romantisch überschwängliche Liebe,
in der ein übermächtiges Gefühl auch die „Zurückhaltung", von der Geerds in
seinem „Volksbuch" redet, nur sehr selten aufkommen ließ. Man kann über
das Recht der Nachlebenden zu solchem Aufdecken des Allereigensten streiten
(der Mann war hier vorsichtiger als das Weib: Arndt verbrannte anscheinend
ihre Briefe), Aber das Schöne ist, daß Arndts reine Menschlichkeit durch die
Darstellung Steffens' nur gewinnen kann. In ihrer ganzen Größe wird man
sie nur in den Briefen selbst erfassen. Wie erhebt doch dieses heroische Verzichten,
diese Befreiung von der Gewalt, die alle Wesen bindetl Wie ist doch sein großes
Schweigenkönnen ein Spiegel für uns, die wir oft allzu vertrauensselig und schwatz¬
haft, eigenes und fremdes Innenleben zu sezieren geneigt sind. Man gebe es doch
auf, in der Liebe und im Leid der Liebe allzusehr nach Gründen zu forschen.
Wo tiefe, ewige Notwendigkeiten walten, was sollen da Gründe? Arndts Ver¬
hältnis zur Romantik wird von Steffens an den gegebenen Stellen stets treffend
gekennzeichnet; ich hätte hier aber etwas mehr Ausführlichkeit, vielleicht ein Zitat
aus den in Anbetung der Gotik schwelgenden Schriften aus der Frankfurter
Zeit („Blick aus der Zeit") gewünscht. Ebenso wäre S. 23 und 24, wo vom
ersten Hervorbrechen des deutschen Nationalgeistes (1799) in Arndt die Rede
ist, ein Hinweis auf die hessischen Bauernfreischaren angebracht gewesen („Briefe"
S. 35). Wie stark in Arndt beim Anblick solcher Volksscharen die Imponderabilien
des Vaterlandsgefühls in Schwingungen versetzt wurden, das hat er in rührenden
und zugleich erhebenden Worten noch oft bekannt. Es schwang noch mehr in
ihm als in Eichendorff Versen:
Eigenste gründlichste Arbeit erkennt man auch in der Auswahl der Gedichte,
die Leffson mit sicherem Geschmack vorgenommen hat; eine große Anzahl aus
der Meisnerschen Sammlung hat er gestrichen; die vierundzwanzig, die er statt
deren neu aufgenommen hat, verdienen es. Mit rechtem Verstand hat auch
Steffens in der engeren Auswahl der „kleinen Schriften" sich beschränkt auf das
Notwendigste, das zu dem „Gesamtbilde der Entwicklung des Menschen, vor
allem aber des Politikers Arndt" beizutragen geeignet erschien.
Nun aber auch einige Wünsche und Bedenken: wenn nun einmal noch
eine Ausgabe nach eigenem Kopfe für die große Menge der Gebildeten gemacht
werden mußte, warum in aller Welt mußte man da zum zweiten Male die
sämtlichen Märchen, die doch Leffson so sicher bewertet, abdrucken? Verdient
Arndt. der Märchenerzähler, wirklich die fünfhundert Seiten? Was hätte auf
zweihundertundfünfzig Seiten, die man den Märchen nahm, alles Platz finden
können! Ferner: auch Steffens druckt vom Soldatenkatechismus beide Ausgaben
ab, und zwar hintereinander, als je ein selbständiges Ganzes. Das ist in diesem
Falle mehr zu billigen als die Art des „Druckes unter dem Strich", die Geerds
vorzog; denn die Ausgaben weichen tatsächlich so stark voneinander ab, daß
man die Entsprechungen nicht gut im Druck andeuten kann. Ganz unangebracht,
ja geradezu störend erscheint es mir aber, die Anmerkungen und den kritischen
Apparat zu solchen Schriften hinter dem Text zu bringen. Sie verfehlen so
vollkommen ihren Zweck; mindestens sollten Zahlen auf sie hinweisen.
Noch einen Wunsch: Ich habe Arndts Wanderungen schon einmal mit
SchüleM der oberen Klassen gelesen (was übrigens erst für die Primaner
ratsam ist!): eine Reihe seiner Flugschriften sind schon in billigen Ausgaben
vorhanden; es erscheint mir aber sehr wünschenswert, die Teile der beiden
Arndtausgaben auch einzeln abzugeben. Gerade einige Arndtsche Flugschriften
sind für die Behandlung im Deutschen wie im Geschichtsunterricht vorzüglich
geeignet. Dem Verlag Hesse und Becker möchte ich außerdem die dringende
Bitte vorlegen, einige Ergänzungsbände, vielleicht auf dem Wege der Subskrip¬
tion, zu bringen. Eine kritische Gesamtausgabe ist ja kaum zu erwarten, so oft
auch Männer wie Max Lehmann sie als eine Ehrenpflicht des deutschen Volkes
bezeichnet haben; Arndt, „der Jakobiner", ist noch immer nicht gut angeschrieben.
Da könnte ein solcher Ersatz sich wohl verlohnen.
Noch mehr Unternehmungslust und Vertrauen zum deutschen Volke als die
genannten Herausgeber muß der rührige Verleger Georg Müller in München
haben. „Es ist kein unnützes Ding," heißt es in seiner Anpreisung, „gerade
in diesem Augenblick dem deutschen Lesepublikum die .Erinnerungen aus dem
äußeren Leben' in einer neuen Ausgabe ins Gedächtnis zurückzurufen." Hoffen
wir, daß er recht behält, daß er die Deutschen (und ihren Geldbeutel!) besser
kennt als Klemperer: die Ausgabe kostet geheftet 6 Mark, in Halbleder 8 Mark,
in Luxusausgabe 16 Mark! I Ihr Wert liegt in ihrer vorzüglichen Ausstattung,
vor allem auch in der Beigabe von zweiundzwanzig, zum Teil seltenen Bildern;
unter ihnen befinden sich sieben von Arndt, in welchen sein aufrechtes, biederes
und freundliches Wesen sich in immer neuen Feinheiten zeigt. Im übrigen hat
sich der Herausgeber Kircheisen die Arbeit nicht schwer gemacht: die „Vor¬
bemerkung", eineinhalb Seiten lang, ist eine nur von den gröbsten Verstößen
wider den Geist der deutschen Sprache befreite Wiedergabe des geradezu pein¬
lichen Waschzettels. Ich denke ferner, man kann auch auf eineinhalb Seiten
mehr sagen, als mit diesen Binsen- und Halbwahrheiten dem respektvoll lau¬
schenden Käufer geboten wird. Wenn ein Vorwort nur bietet, was ein halb¬
wegs gebildeter und begabter Menfch sich aus dem Buch selbst herausholen
kann, dann — ist es überflüssig. Was soll z. B. der Satz: „Wenn er in
politischer Beziehung nicht immer klar und unparteiisch ist, so vergibt man dies
dem Alten um seiner alles überstrahlenden vaterländischen Begeisterung willen"?
Weder ist es sonderlich historisch gedacht (in aller Bescheidenheit sage ich das),
von vergangenen Zeitaltern — und zumal von jenem — klare und unparteiische
Stellungnahme zu verlangen, noch wird deutlich, gegen wen denn Arndt un¬
parteiischer hätte austreten sollen. Etwa gegen Napoleon und die Franzosen?
Wir wollen doch unseren lieben Deutschen, die Luneville und Nancy 1913
erleben mußten, etwas anderes predigen als diese verwünschte sogenannte „Un¬
parteilichkeit", diesen deutschen Erbschaden! Wir wollen ihnen lieber vor die
Augen halten, was Arndt in seinen köstlich frischen und lebensvollen Briefen
aus Schweden im Jahre 1804 geschrieben hat, die er selbst noch 1847 in den
Monatsbl. der Allg. Ztg. veröffentlicht hat: „Ich bin mir unserer weichen und
bröcklichen Deutschheit in diesem Norden schon oft mit Schamröte bewußt
geworden und habe mir fest vorgenommen, dieser meiner Deutschheit von diesen
Eisernen nichts bieten zu lassen und auch mit Eisen und Stahl ins Zeug zu
gehen. Denn ich fühle es von Tag zu Tag mehr, es ist nichts Kümmer¬
licheres in der Welt als dieses elendige deutsche Ding, was wir Gutmütigkeit,
auch wohl Milde und Menschlichkeit nennen, was im Grunde aber weder Ja
noch Nein zu sein wagt und eitel Schwächlichkeit ist. . . . Was wollen wir
unsere zerrissene deutsche Erbärmlichkeit, unser sogenanntes humanes Alles und
Nichts, wodurch unser Vaterland ebenso nichtig und den Fremden verächtlich
geworden ist, noch länger als eine höhere Menschlichkeit loben! Hier geht alles
mit fester Geschlossenheit und Entschiedenheit auf die Sache und den Mann
los. und das macht doch den Kerl und das Volk." Wir haben Arndt nichts
zu verzeihen. Im Verzeihen liegt wie im Mitleid nichts Erhebendes; beides
drückt nieder. Verstehen allein erhebt, im gesellschaftlichen wie im politischen
und historischen Leben.
Auch die Anmerkungen sind mehr als dürftig; nicht einmal sind die Daten,
in denen Arndt oft geirrt hat, durchgängig geprüft und richtig gestellt; die
Vorausgaben sind darin weniger willkürlich, aber auch nicht einwandfrei. Im
übrigen: historische, zum Teil allbekannte oder -zugängliche. Tatsachen, nichts
'veiter. Will man dem heutigen Leser wirklich zu Hilfe kommen, so erscheint
es mir mehr geboten, auf die Zuverlässigkeit Arndts. seinen politischen Scharf¬
blick und auf die oft verblüffende Übereinstimmung seiner historischen Beurtei¬
lungen mit den heutigen Forschungsergebnissen hinzudeuten. Auch gilt es wohl,
an vielen Stellen Arndts Bericht mehr aus seinen sonstigen Lebenswerken und
-zengnissen zu ergänzen. Das gibt dem Leser die Anregung, die er in den
Anmerkungen doch auch sucht, Der ganz anorganische Exkurs Arndts über den
Bauernstand verfehlt heute, zumal in solcher Ausgabe, völlig seinen Zweck;
Ulan hätte ihn streichen sollen. Dies alles soll den Wert der Ausgabe nicht
abstreiten; es sollten nur unmaßgebliche Gedanken über das heutige Bücher-
wachen nicht verheimlicht werden. Mögen sie einer Ausgabe der „Wanderungen"
Zum besten dienen.
Auch in Velhagen und Klasings Volksbüchern der Geschichte ist E. M. Arndt
jetzt durch eine hübsche, schlichte Darstellung aus der Feder von Robert Geerds
vertreten. Sie entspricht in ihrer knapp erzählenden, doch warmherzigen Form
ganz ihrem Zweck; der Ausdruck aber ist nicht immer glücklich. Am besten
gelungen scheint mir die Darstellung der Zeit der Demagogenverfolgung. Sehr
hübsch, wie bei allen diesen Volksbüchern, ist der Bilderschmuck; eine wahre Freude ist
der Anblick des prächtigen, biederen Vaters von Arndt: nicht ein freigelassener Bauer
scheint er. sondern ein Mann feinster, geschmackvollster Lebensführung der Goethezeit.
'
Ich habe aus der Beschäftigung mit den neuesten Arndtbüchern immer
wieder die Überzeugung gewonnen, daß Arndt so vieles bringt, daß er jedem
Deutschen mindestens etwas bringen kann; möchte er ihm das Größte wieder¬
bringen helfen, die Fähigkeit, „das ganze Leben dreinzusetzen", „die große Sache
und nichts anderes zu denken und zu träumen", „ganz in einem zu leben ver¬
stehen" und sagen zu können wie er: „das Vaterland hat mich, die Sorge für
mein Volk und für unsere Kinder, und wird mich haben bis ans Ende; ich
fühle es, an Arbeit wird es mir nie fehlen, so drängt ein Entwurf den anderen
und eine Hoffnung die andere, und so wird es sein, bis die kühle Erde viele
Sorgen und auch viele Liebe kühlt." Arndt war der Besten einer unseres
Volkes: Nichts Menschliches war ihm fremd: das machte ihn milde und nach¬
sichtig, wo strebende Menschen irrten. Nichts tat er aus Eigenliebe. Er
wählte im Widerstreit zweier Pflichten immer die schwerere, er war unerbittlich
gegen sich selbst.
Wieder einmal gilt es, N. M. Meyers Worte den Deutschen in die Seele
zu hämmern: „Besäße eine andere Nation ein Buch wie den .Geist der Zeit'.
— es stände auf dem Bücherbrett jedes Patrioten, es fehlte nirgends, wo man
die Kraft der Rede ehrt. Wir schwärmen heute für Carlyle: hier könnten wir
Deutsche mehr haben als an Carlyle."
uf den Bildern der ausgehenden Frührenaissance (Gozzoli, Ghir-
landajo und andere sind ihre Schöpfer) kann man ein merkwürdiges
Moment beobachten: die Gleichheit aller Gestalten in bezug auf
die Darstellung. Die drei Könige, welche das Christuskind an¬
beten, das Christuskind selbst, Maria und der Nährvater Josef
sind in Komposition und Durchführung des betreffenden Gemäldes nicht stärker
betont als irgendein Knappe aus dem Gefolge, als irgendein Hirte, als
irgendein Windhund oder Roß, die das Bild bis zum Rande hin füllen.
Es mag dem Betrachter des öfteren geschehen, daß jener stupid vor sich hin¬
glotzende Bursche, der das Pferd hält oder dieses Pferd selbst mit dem seiden¬
weich aufleuchtenden Fell seine Aufmerksamkeit stärker festhalten als die Haupt¬
gestalten der Handlung.
Vor der mehr technischen als inspiratorischen Inbrunst jener Meister galten
alle Gestalten als einander Gleichwertiges. Der Einzelne und das Einzelne:
jedes ein Rad von gleicher Bedeutsamkeit in dem vielfältigen Gefüge: Leben
genannt. Und Gut und Bös: treibend in gleicher Kraft, im gleichen Maß
Anerkennung heischend, in gleichem Maß existenzberechtigt.
Damals hatte der Naturalismus eines Masaccio sich selbst noch überstiegen,
die Bedeutung einer jeden Daseinsform zum Programm gestempelt und in einer
tieferen Erfassung der Kräfte den Kontrast eines dunklen und lichten Prinzips
verwaschen. Das heißt: er war zum Indifferentismus geworden.
Und ebenso ist, durch einen ähnlichen Prozeß, jener Naturalismus, der
unseren Tagen vorausging, der Naturalismus der achtziger und neunziger Jahre,
in den Händen der heutigen Generation unmerklich gewandelt worden. Eine
Anzahl jüngster Dichter kann eine moralische Frage nicht anrühren; indifferent,
wie sie schon sind, lieben sie die letzten Ausschweifungen sadistischer Lustmörder
nicht weniger als die Aufopferung der Märtyrer für eine gottumschließende
Idee. Positive und negative Faktoren haben beide für sie den gleichen Zweck:
Reibung und Kampf zu erzeugen, aus welchen allein die Bewegung, Leben
genannt, aufsprüht. Ist alles nun in dieser Welt in gleicher Weise liebenswert.
Anerkennung heischend und existenzberechtigt, so scheint es nicht mehr notwendig,
sich irgendeine Stellungnahme anzueignen; denn jede Stellungnahme wäre nur
ein Sichbelügen um diese letzte Erkenntnis. Man begnügt sich, das Einzelne
des Lebens in seinem Zusammenhang zum Ganzen zu gestalten: das Leben zu
geben, wie es ist, mit seiner kleinsten, trivialsten, verschwimmendsten Bewegung,
mit diesem niemals Stehenbleiben und mit diesem Hinrauschen über alle mora¬
lischen und weltanschaulichen Paragraphen kurzsichtiger Menschen.
Dieser Jndifferentismus, in Frankreich schon in den neunziger Jahren
gereift, ohne je, wie es seiner Natur nach verständlich ist, populär zu werden,
hat erst im letzten Jahrzehnt nach und nach die deutsche Literatur durchsetzt.
Max Brod aus Prag ist sein bewußtester, fanatischer und vielleicht auch
begabtester Vertreter. Daß dieser Vertreter des Jndifferentismus von Prag
kommt, mag Zufall sein, kann aber doch die Möglichkeit von Zusammenhängen
offen lassen. Prager Juden können als die Typen indifferenter Menschen gelten.
Zwischen Slawismus und Deutschtum auferzogen (ihre Dienstboten sind tschechische
Landmädchen und ihr geistiges Zentrum ist das deutsche Landestheater, sie
haben tschechische Geliebte und deutsche Korpsstudenten als Freunde), er¬
ringen sie sich eine Neutralität in politischer und nationaler Beziehung, die,
wie ein Funke im Stroh leicht zu Feuer wird, zu jeder anderen Beziehung
sich durchfrißt, die ganze Denk- und Gefühlsweise befruchtet und mit einem
absoluten, ein wenig melancholisch lächelnden Jndifferentismus, allzuoft mit
gänzlicher Passivität endet.
Mag es Zufall sein oder Kausalität, daß Max Brod aus Prag kommt:
es verdient, bemerkt und aufgezeichnet zu werden. Vielleicht ist es aber diese
ganze Zeit, die, ohne große Ziele und gewaltig innerliche Gesichtspunkte, Ziel
und Gesichtspunkt als Requisit einer bunteren Zeit erklären möchte. Dieses
legöre Sich - Gehn - Lassen, ein wenig Träumen, Sinnen, Betrachten, ein
Ästhetentum an die Form hingegeben, willen- und tatenlos, das die Jugend
von heute gerne trägt, — ob es nun Veranlagung oder verliebte Pose ist — es ist
in den Büchern Brods gestaltet. Er selbst schreibt irgendeinmal von sich, er
habe immer nur „nachdenkliche Jünglinge" gezeichnet; aber sie sind nicht nur
nachdenklich, sie sind ebenso untätig, spielerisch und an das Tausenderlei hin¬
gegeben. Jener Carus seiner ersten Novellenbücher*) ist der von seinen un¬
wichtigen, spielerischen Launen Eingenommene: heute Mitglied eines Knabenklubs,
um ein Mädchen aus gutem Haus zur Dirne zu erziehen, morgen mit der
sentimentalen Ruschanka für einen Sommer ein Verhältnis eingehend, um es,
sobald es Kampf kosten würde, melancholisch zu lösen, übermorgen hält er
in irgendeinem Seebad vor der unbedingten Stupidität einer zusammen¬
gewürfelten Gesellschaft Vorträge über Wien, Gustav Mahler und Pavillon¬
architektur. Diese ersten Bücher: ein krampfhaftes Bemühen, die Viel¬
gestaltigkeit des Lebens zu fassen, das Ringelspiel immer wiederkehrender und
doch erfreulicher Abwechslungen zu beweisen — aber ein Bemühen, das scheitern
muß an der noch unreifen, oft kindischen Gestaltung, an der Sucht nach Origi¬
nalität um jeden Preis. Dem Erinnern bleibt aus diesen Büchern nur das
Verschwimmende einer Gesellschaft, die aus Dekadenz immer das Letzte will, die
langweilige Herzlosigkeit von Experimenten am Menschendasein und das Zersetzt¬
sein jeder Lebensbewegung. Und nichts anderes bedeuten sie, als Tastversuche,
den Jndifferentismus auf einzelnen Tendenzen, sei es Eleganz oder Liebe oder
Erotik, zu erproben.
In „Schloß Nornepygge", dem Roman des Indifferenten, erscheint nun
alles zusammengefaßt: nicht nach einer bestimmten, vereinzelten Richtung hin
versucht der Held, seinen Jndifferentismus geltend zu machen, nein, er ist
der Indifferente selbst, der Haltlose, der Stillose, der alles Begreifende. Und
vor allen:: er ist der unersättliche Freiheitsdurstige. Der Mensch wäre nur
frei, wenn er alles sein könnte. Der Mensch mit Prinzipien und Stil ist der
freiwillig Unfreie. In seinen Charakter, in seinen Beruf, in seine Neigungen,
in seine Weltanschauung eingezwängt, fehlt ihm alle Möglichkeit, anders zu sein.
Freilich ist die große wirkliche Freiheit nur das imaginäre Ziel. Aber der
Indifferente, tausend Daseinsmöglichkeiten verstehend, von einer positiven Be¬
jahung der Welt ebenso weit entfernt wie von einer negativen, steht dieser
Freiheit näher als der Mensch mit einem ausgesprochenen persönlichen Stil.
Er erreicht die größtmöglichste Ungebundenheit.
Soweit wäre alles dazu angetan, die Glückseligkeit des indifferentistischen
Daseins zu beweisen. Ergäbe sich nur nicht die letzte Folgerung. Wälder, der
Held des Buches, muß durch den bis ins letzte durchgeführten Jndifferentismus
zur Passivität gelangen. Durch und hinter die Dinge schauend, erkennt er die
Gleichwertigkeit alles Daseins und aller Tendenzen, das Unnütze einer jeden
Bewegung, vor allem das Sichselbstbelügen einer jeden Bewegung. Er verliert
selbst die geringste Fähigkeit, noch irgendwie in diesem Wahn-Spiel Leben an¬
zutun, katastrophal stürzt es über ihni zusammen, ohne daß er es sür notwendig
fände, sich zu wehren, und im verzweifeltsten Unglück, das lebendige Leben durch
den eisigen Intellekt verloren zu haben, geht er durch Selbstmord zugrunde.
Und zeugt damit gegen seine Theorie.
Es ist der Schrei einer Jugend: nach Freiheit. Ein Aufschrei, zuletzt von
einer erschütternden Tragik. Vielleicht könnte man „Schloß Nornepygge" als
.das Hauptwerk Max Brods bezeichnen, als seine Auseinandersetzung mit der
Welt, als ein Bekenntnis. Dichterisch genommen hat er damit sein stärkstes
gegeben. Eine Vielfältigkeit des Lebens aufgezeigt, Charaktere von einer nicht
nur symbolischen, sondern auch naturalistisch-wirklichen Umrissenheit beleuchtet,
eine große, vielverschlungene Fabel virtuos gelenkt und zum harmonischen, fast
möchte man sagen, klassischen Ausklang gebracht. Mag manches verzerrt er¬
scheinen, über irdische Konturen hinausgebaucht: so bedenke man, daß hinter dem
Buch ein Zweck stand und daß dem Autor in einer gewissen Angst nach Verständlichkeit
jedes Mittel, diesen zu erreichen, noch zu schwach erscheinen mußte. Nur durch
enorme Kontrastwirkung des Lebendigen gegeneinander glaubte er dieses Darüber-
stehn seines Helden, dieser Zentrale aller Möglichkeiten, begreiflich zu machen.
Immerhin war mit „Schloß Nornepygge" die Lebensunfähigkeit des abso¬
luten Indifferenten festgestellt. Eine Errungenschaft, zu der Brod vielleicht erst
selbst mit diesem Buche gelangen mußte. Die Theorie war gescheitert, das
Leben selbst hatte dem Einseitigen recht gegeben. Die nächsten Bücher versuchen
kaum mehr, das ethische Problem des Jndifferentismus anzufassen. Aus dein
ethischen wird nur mehr ein rein künstlerisches. Der Schriftsteller kann als Er¬
lebender, so darf man sich diese nächsten Bücher deuten, nicht absoluter Jndiffe-
rentist sein, denn die Menschlichkeit vertrocknet in ihm; so bleibt er es nur
als Gestaltender. Der absolute Jndifferentismus wird überwunden, Gefühl
bricht auf, Liebe nach irgendeiner Seite, Haß gegen irgendeine andere. Das
Lächeln des Überlegenen ist nicht mehr der Grundzug dieser Werke"), es ist schon
das Lächeln der an irgendeine Sache dieser schönen Welt Hingegebenen, ist ein Leid¬
tragen, eine Freude, ein Unterscheiden zwischen Dunkel und Licht. Wie weit ist doch
dieser kleine, ängstliche, schwachstnnliche, opferbereite Hugo aus den „Jüdinnen"
von jenem Carus der ersten Bücher entfernt. Von einer indifferentistischen
Weltbetrachtung liegt nicht viel mehr in ihm als in einem jeden intelligenten,
frühreifen, jüdischen Knaben unserer Zeit.
Das ethische Problem ist, wie schon einmal erklärt, zum künstlerischen ge¬
worden. Die Helden dieser Bücher haben beinahe den Jndifferentismus abge¬
streift, nur Max Brod selbst, der Autor, der Erzähler, der Alleswissende, hat
ihn behalten — als Künstler. Mit einem freundlichen Lächeln verstehender
Leute spricht er von Hugo, von Irene, von Arnold Beer, den Helden, ebenso
wie von irgendeinem Fußball, dem gestopften Strumpf, der Aviatik, der Not¬
durft in nächtlichen Straßen, dem Denkprozeß. Das Kleinste dieses Lebens
gilt ihm dem Hervorstechendsten gleich; alles ist schön, liebenswert, bedeutsam.
Sein künstlerisches Bestreben gilt nun nicht mehr der Analyse einer Lebens¬
anschauung, sondern der getreuen Aufzeichnung des Lebens selbst, der alltäglichen
Vorgänge, des Getriebes auf Straßen und in Stuben. Nichts ist ihm un¬
poetisch. Alles muß in dieses Kunstwerk gepreßt werden. Der Unendlichkeit
irdischer Schönheiten komme die Kunst nur durch die möglichst genaue Be-,
Schreibung nach. Kurz gesagt: es heißt die äußere Erscheinung einfangen. Die
verschwimmendste Bewegung, das bisher ungestaltete Dasein, wie z. B. Seifen¬
wasser oder der Saft einer Stachelbeere, in ein Wort von möglichst genauer
Denkkraft zu zwängen. Ein jedes neue Buch ist ein abermaliges der Wirklichkeit
Abgerungen-sein.
Als Übergang zu dieser zweiten Gruppe, noch vor dem Grenzstein „Schloß
Nornepygge", liegt ein kleines Buch „Das tschechische Dienstmädchen", worin eine in-
differentistische, passive, faule Seele den Ausweg zu einem schönen und leidenschaft¬
lichen Gefühl findet. Ein gleichgültiges Bureaudasein schließt sich plötzlich auf, wird
hell und bewegt und umgewandelt, nur weil die Kostfrau ein neues Dienstmädchen
aufgenommen hat, eine Tschechin, die noch dazu Pepicka heißt, rein animalisch, ziemlich
gemütlos veranlagt ist und anderen Männern nicht mehr als eine Episode gewesen
wäre. Ein Buch von einer unerhörten Zärtlichkeit, überströmender Leidenschaft
und zuletzt melancholischer Resignation. Überschwemmt von Wirklichkeitsgefühl
ebenso von Stimmungen, die berauschen. Die melodische Traurigkeit böh¬
mischer Volkslieder ist darin, der heiße Atem von Prag, die Vertraulichkeit der
Kleinseite und das zeitlose Rager des Hradschin. Und nur wem derbe, gesunde
Sinnlichkeit als Frivolität erscheint, nur der kann die knabenhafte Keuschheit
dieser Gefühle verkennen. Es ist das liebenswerteste Buch Max Brods, weil
es das menschlichste ist.
Am Schluß der zweiten Gruppe aber liegt ein romantisches Lustspiel in
drei Akten „Abschied von der Jugend", dasjenige seiner Bücher, in dem das
Gefühl am höchsten sich gesteigert hat. Und zugleich dasjenige, welches
in seinem Ausklang die Spielerei des Herzens zur Gänze ablegt: nicht mehr
belächeln sollt ihr dieses Leben, sondern ernst nehmen, sehr ernst. Der Herzog
Arthur, achtundzwanzig Jahre, ein großer Schlachtenhelv, hat die Staatsgeschäfte
und Sorgen beiseite gelegt, um mit indianerspielenden Knaben zurückgezogen
auf dem Lande zu leben, damit er, am Ende seiner Jugend stehend, sich Kind¬
lichkeit und Frohsinn noch so lange als möglich erhalte. Wie aber nun das
Leben in seinen Plan eingreift, wie er selbst ehemals kindlich Betrachtetes
immer wieder unvermutet als Mann anfaßt, wie sich Leichtgewonnenes als
Schwerzuwägendes entpuppt und er schließlich selbst erkennt, daß Kind-
heit und Lächeln und Spiel zurückgeworfen sein müssen und daß von nun an
nichts ihm Lebenswerkes gelten könne als ein reifer Mann zu sein — dies mag
nicht mehr der Abschied von irgendeiner Jugend, es mag vielleicht der Ab¬
schluß auch einer künstlerischen Jugend sein. Und daß dieses Drama vielleicht,
auf seinen Dichter zurückbezogen, „ein schwaches Abbild der schönen Ordnung
ist, die ich jetzt in meinem Herzen habe." — Vielleicht also ein zweiter Grenz¬
stein. Man kann es ja nur vermuten, nicht vorhersagen. Und es wäre dann
eine Straße zurückgelegt von einem gemütlosen, rein intellektuellen, pragerischen
Indifferentismus zu einem zwar Alles-Verstehen, aber trotzdem schon zu einem
Zugestehen moralischer Kontraste.
An der aber immerhin noch indifferenttstischen Natur des Dichters, die
ihn, immer in einem gewissen Grade verbleiben wird, mag es liegen, daß
dieses entzückende, prickelnde, geistvolle und lebendige Lustspiel doch mehr ein
Spiel bleiben mußte als ein Drama. Denn der Dramatiker ist der vom Erd¬
geist erleuchtete Wisser des ewigen Kampfes. Er weiß: in alle Zeit hinein
kämpft ein dunkles Prinzip mit einem lichten. Und die Gestaltung dieses Kampfes,
für den es keinen endgültigen Sieg giebt, ist das Drama. Dies gilt auch für das
Lustspiel, nur daß es einen zeitlichen Sieg des hellen Prinzips bringt und den
Weltkontrast durch die Lupe des Optimisten betrachtet. Nun mag der Jn-
differentist mit seinem Alles-Geltenlassen ein großer Epiker werden — man denke
nur an spanische und frühfranzösische Vagabundenromane bis zum „Gil Blas" —
niemals aber ein Dramatiker. Die Objektivität, der gnadenvolle Vorzug des
Epikers, wird zum Herzfehler des Dramatikers. Brod konnte ein über alles
liebenswertes Spiel geben, einen berauschenden Überschuß an poetischer Lebendig¬
keit: aber das Wesen des Dramas mußte ihm — vorderhand — versagt bleiben.
Die ganze bisherige Entwicklung Max Brods umschließend, stehen, wie zwei
schlanke Pfeiler, einer am Anfang seiner Laufbahn überhaupt und der andere
am Ende, seine beiden Gedichtbücher. Das erste „Der Weg des Verliebten"
kann ein Buch der Erotik genannt werden, ein Kessel der ungebändigten Sinn¬
lichkeit, ein ununterbrochener Genuß am Weib und an der ganzen Erde, eine
Hitze des Leibes. Das zweite „Tagebuch in Versen" — eine Hitze der Seele,
ein Sich-Verschenken, eine schöne freundliche Rührung und endlich das Verlangen
nach gegenseitiger Güte. Aus dem indifferentistischen Nur-Nehmen sprüht hier
und dort die Bitte auf: auch geben zu dürfen. Aus der Erotik ist zärtliche
Liebe geworden.
Mögen in den Büchern Max Brods die Gestalten und der Dichter wie
immer zur Welt stehen, diese Welt selbst, die äußere Welt, die stnnenfaßliche,
die ereignisreiche, die stets wechselnde — sie ist überall, auf jeder Seite, mit einer
Inbrunst ohnegleichen eingefangen. Man denke nur an seine Verse, an die
besseren, denn der gänzlich unpoetischen und bubenhaft willkürlichen gibt es auch
genug, und welch eine Erweiterung künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten wird
einem bewußt! Das Telephon. Tramwaybillets, die Sommerfrische mit „Bier,
Wurst, Butter in dicken Stangen", die Jalousien, das Wiener Schnitzel, die
Pflastersteine, die Redaktionsbriefe: alle sind ihm Objekte dichterischer Begeiste¬
rung. Man könnte ihn den Romantiker des Allerlei nennen. Gleich Johannes
V. Imsen hat er jene Schönheit erschaut, die, einem Fluidum gleich, ein jedes
Ding durchdringt und sei es das bisher von der Allgemeinheit als häßlichstes
Verworfene. Gleich Johannes V. Imsen ist ihm der moderne Atem, das
immerwährende Einander-Übersteigen aller Empfindungen und Industrien, die
subtile Bewegtheit der Großstädte und der Zinshäuser, die Kompliziertheit unserer
Denkprozesse ein Märchenland von einer solchen Überfülle noch nicht begriffener
und noch nicht gestalteter künstlerischer Werte, daß er wie ein Betrunkener von
einem Ding zum andern taumelt, alle an sich zieht und seine Gedichte bis ins
letzte Wort mit ihnen vollpreßt. Der indifferentistische Grundzug seines Wesens,
der ihm die Fähigkeit schenkte, alles zu erkennen, hat sich, da seit dem „Schloß
Nornepygge" das Gefühl für die Glückseligkeit des Lebens und der Wille zur
Hingabe aufbrachen, zu einem ekstatischen gesteigert. Und man könnte sein ganzes
bisheriges Schaffen als Ekstase des Beseligten (auch die leiderfüllte Träne gilt ihm als
köstliches Geschenk) überschreiben oder als einen Hymnus an das Leben im Kleinen.
Vielleicht, daß sich mit Max Brod und seiner Schule, die heute schon
ziemlich weitreichend ist und erst vor kurzer Zeit in einer Lyrikanthologie „Der
Kondor" ihr Manifest niedergelegt hat, ein Kreislauf schließen will, der mit
der klassischen Sturm- und Drangzeit begonnen hat. Aus der scheinbaren Wirr¬
heit des immer Werdenden lugt in der Rückschau der rote Faden Gesetz¬
mäßigkeit stets aufs neue hervor. Den Klassikern, die einen neuen Kreislauf
mit Revolution in Bewegung setzen, folgte die Romantik, ihr der naturalistische
Realismus, dem jetzt der Jndifferentismus, als letzte Steigerung, ein Ende setzt
und damit dem ganzen Kreis. Der Gleichsetzung alles Bestehenden, der neu¬
tralen Stellungnahme zwischen positiver und negativer Lebensbetrachtung kann
nichts mehr folgen als eine neue revolutionäre Reaktion: ein neuer Klassizismus.
Auf die Gleichsetzung alles Bestehenden in seiner Vielheit wird es abermals
heißen: nur ein zweierlei besteht — ein positives und ein negatives Prinzip. Die
Welt: Ringen polarer Mächte. Und der Kunst Aufgabe sei es, der großen
Helle zuzuführen. Der Jndifferentismus aber ist die Überkultur selbst, der
Grenzfall des nach der Subtilität sich entwickelnden Menschen, der nächste Nachbar
der Passivität, die überwunden werden wird von einer Generation, die schon
an die Türen pocht und die kraft ihrer Einseitigkeit, ihres Verblendetseins dem
Gegner gegenüber wieder die starke Bewegung bringen wird. Die Geschichte aller
Künste lehrt es: der Überkultur folgen Umwälzungen, folgt ein abermaliges Be¬
ginnen. Folgt die Aufstellung einer neuen, harten, leuchtenden Moral im höchsten
Sinn. Folgt die kämpferische Führerschaft der Kunst. In einer solchen späteren
Zeit wird Brod als der Ausdruck des Überwundenen gelten: als ihr markanter
und ekstatischer Vertreter, als der Jndifferentist in der deutschen Literatur.
„Du mußt dich sehen lassen, Mama!" sagte Mara am Bett ihrer Mutter.
„Das Haus ist voller Gäste. Alle fragen nach dir. Jetzt ist auch Schlede-
hausen gekommen. Du wirst doch deinen alten Verehrer begrüßen!" Und
wirklich: Baronin Clementine klingelte nach der Jungfer. . .
Im großen Saal unterhielt man sich gruppenweise.
„Nämlich!" sagte Graf Woldemar Hahn und machte eine Pause, in der
er seine Nase umständlich mit dem Taschentuch bearbeitete, „nämlich das Volk
verträgt keine gute Behandlung. Es gibt nämlich Hunde, die auch so sind,
aber es handelt sich dann um gewöhnliche Rassen. Wirklich edle Tiere brauchen
keine Peitsche. Das weiß ich nämlich aus eigener Erfahrung..."
Mara unterbrach ihn. „Gestatten Sie, Graf: Herr Madelung, ein Vetter
unserer lieben Frau Pastor, Kunstmaler aus Königsberg."
„Wie interessant!" sagte Graf Woldemar nach der Vorstellung. „Ich habe
mich nämlich von klein auf für die schönen Künste interessiert."
Mara überließ es den beiden, sich kennen zu lernen und wandte sich den
anderen Gästen zu. Seltsam, wer alles heute aus Borküll zusammentraf —
es war doch ein ganz gewöhnlicher Sonntag!
Dort am Kamin saß Herr von Wenkendorff im Gespräch mit Doktor Schlosser
und Pastor Tannebaum; am runden Sofatisch aber hatte die Gräfin Hahn Platz
genommen — eine große hagere Erscheinung, mit einer stolzen Hakennase und
hohen gewölbten Brauen, unter denen ein paar graue kalte Augen hochmütig
hervorblickten. Neben ihr auf dem Sofa thronte die Gräfin Schildberg, korpulent
und lebhaft und ließ ihre kleinen listigen Augen im Raume umherstreifen. Sie
hielt tätschelnd Edles Wenkendorffs Hand gefaßt: „Das geistliche Leben sollten
Sie doch nicht ganz vernachlässigen, liebes Kind! Kommen Sie doch einmal
zu meiner Bibelstunde am Donnerstag. In dieser schweren Zeit brauchen wir
ganz besonders des Herrn Segen!"
„Edles steht mit unserem Herrgott auf dem besten Fuß, Gräfin!" rief der
alte Wenkendorff vom Kamin herüber. Seine kräftige Stimme brachte die
Bekehrungsversuche Tante Emerenzias sofort zum Schweigen. „Das Mädel hat
mir vor drei Tagen einen Gaul gerettet. So eine Stallwache bei einem kranken
Tier ist auch eine Betstunde!"
Pastor Tannebaum nickte zustimmend. Neben der massigen Gestalt des
Sternburger Gutsherrn nahm sich der kleine Mann mit dem rosigen Gesicht recht
dürftig aus. „Wer seine Pflicht so tut wie Baroneß Edles und Sonntags in
der Kirche nicht fehlt, der gibt den Leuten das beste Beispiel!" sagte er mit
seiner freundlichen hohen Stimme.
Frau Berta, geborene Madelung, war über die freimütiger Worte ihres
Mannes erschreckt. Sie beugte sich weit über den Tisch und sagte mit süßlicher
Liebenswürdigkeit zu der sichtlich verletzten Gräfin:
„Wie bewundernswert ist Ihre unermüdliche Fürsorge für das Volk, Frau
Gräfin!"
„Ja, leider finde ich nur wenig Unterstützung!" Und sie begann aus¬
führlich und umständlich von ihrem opferfreudigen Wirken zu erzählen. In der
Tür zum grünen Salon zeigte sich jetzt neben der stolzen Erscheinung des Baron
Schledehausen das bleiche müde Gesicht der Baronin Clementine. Sie rang
ihre krankhaft weißen, aber mit kostbaren Ringen geschmückten Hände:
„Was kann ich denn tun? Elend wie ich bin? Soll ich ihm kündigen,
wo Alexander doch so viel auf ihn hält. Raten Sie mir, Baron!"
Doktor Schlosser hörte ihr Jammern. „Um Gottes Willen nicht kündigen!"
sagte er, die Hand der Baronin an die Lippen führend. „Der Mann hat
seinen Denkzettel weg. Kollege Bergstrom erzählte mir, daß ihm ein faustgroßes
Loch in den Kopf geschlagen sei — jeder andere Mensch wäre daran eingegangen.
Aber dieser chemische Dickschädel ist nicht so leicht umzubringen. Nach acht Tagen
wird er ganz kusch hier antreten, und es wird sicher besser mit ihm auszukommen
sein als früher."
Baronin Clementine seufzte: „Gott gebe es! Kirschs Halsstarrigkeit hat
uns das Leben schwer genug gemacht. Den ganzen Hof hat er tyrannisiere!"
„Nicht zu Ihrem Schaden, Baronin, nicht zu Ihrem Schaden!" brummte
der alte Wenkendorff und machte, sich halb erhebend, eine schwerfällige Ver¬
beugung vor der Hausherrin.
Schledehausen trat zu der Gruppe am Kamin: „Sie nehmen die Sache
doch etwas zu leicht! Der Kerl hat ja geradezu kommunistische Ideen entwickelt!
Selbst einer Wetterfahne wie dem Müller Mäggi, der jetzt natürlich auch zu
der chemischen Sache schwört, ist es zu bunt gewesen. Er hat mir erzählt, wie
es in Reval in der ,Estonio/ zugegangen ist. .Uns gehört das Land!' hat
Verwalter Kirsch geschrien, ,uns, die wir es im Schweiße unseres Angesichts
bestellen!' Die Deutschen hat er alle miteinander freche Schmarotzer genannt,
Blutsauger, Tagediebe! Wenn er auch jetzt wahrscheinlich wieder kleinlaut ist,
so kennen wir doch seine innerste Meinung. Das wäre der reine Bakterienherd
auf Borküll, um in Ihrer Sprache zu reden, Doktor. Ich finde, da muß das
Messer angesetzt und das Geschwür herausgeschnitten werden!"
„Man müßte vielleicht an den Herrn Baron nach MonteCarlo telegraphieren!"
ließ sich Pastor Tannebaum vorsichtig vernehmen. „Die Damen allein haben
doch einen zu schweren Stand."
„Die einzige Schwierigkeit ist die Brennerei!" sagte Gräfin Emerenzia mit
Nachdruck. „Alles andere können wir schwachen Frauen mit des Herrn Hilfe
und dem guten Maddis bewältigen. Die Brennerei aber — das habe ich
immer gesagt — ist ein Schandmal für ein christliches Gut!"
„Aber Gräfin!" rief jetzt Herr von Wenkendorff aus und warf seinen schweren
Körper entrüstet in den Sessel zurück. „Wo steht geschrieben, daß Branntwein
und Christentum sich nicht miteinander vertragen?"
„Aber das Christentum ist die wahre Sittlichkeit, und Sittlichkeit bei
Branntweintrinken ist undenkbar!" Mit purpurrotem Kopf hatte die Gräfin den
Hohn auf Wenkendorffs breitem Gesicht bemerkt und wurde von einer maßlosen
Wut gepackt, als keiner der Gäste ihre Meinung unterstützte.
„Herr Madelung ist nämlich Abstinenzler!" schrie die Fistelstimme des
Grafen Wolly aus dem Hintergrund. Damit zerrte er den Maler in das Licht
des Kronleuchters und rieb sich vergnügt die Hände, daß er endlich den weisen
Gesprächen des neuen Propheten entgangen war.
Madelung hielt dem Dutzend Augenpaare, das sich jetzt erstaunt auf ihn
richtete, mit der ihm eigenen Gelassenheit stand. Er machte auch nicht den
leisesten Versuch zu einer Verbeugung, denn er fühlte, daß es vor dieser Ver¬
sammlung von Herren galt, den Stolz des freien Mannes und Denkers zu
zeigen. Mit verschränkten Armen blieb er stehen, richtete den Blick in die Ferne
und fing mit einer etwas belegten Stimme zu reden an:
„Sittlichkeit ist gleichbedeutend mit Gesundheit. Der Alkohol als Genu߬
mittel ist unseres Leibes ärgster Feind. Eine Gesellschaftsordnung, die aus der
Fabrikation dieses Giftes eines ihrer Existenzmittel nimmt, ist aber nicht mehr
gesund!"
Graf Woldemar stand mit ausgerissenen Augen neben seinem Protegö. Nun
kicherte er: „Er braucht nämlich niemals einen Barbier, und eigentlich geht er
nämlich immer barfuß."
Madelung sah seinen gräflichen Interpreten mit einem großen Blicke an
und fuhr ruhig fort:
„Ein ungesunder Leib zeigt Krankheitserscheinungen. Die Vorgänge, die
Rußland jetzt erschüttern, sind aber nichts als solche Krankheitserscheinungen am
Leibe der Gesellschaft____"
„Amen!" rief Doktor Schlosser. Hinter den Brillengläsern funkelte sein
Auge halb belustigt, halb ärgerlich zu dem Redner hinauf, und auf seinem
glattrasierten, lebensklugen Gesicht wetterleuchtete der Spott.
„Was ist das sür ein Kauz?" Der alte Wenkendorff wandte sich ziemlich
laut an Baron Schledehausen. Der hatte nur ein verächtliches Achselzucken. Da
rollte Gräfin Schildberg ihre dicke Gestalt neben den Maler: „Herr Madelung
hat sich eingehend mit der Alkoholfrage beschäftigt," sagte sie zu den drei
Herren mit einer vor Erregung sich überschlagenden Stimme. „Er hat schon
als Knabe nicht trinken mögen, aus dem sicheren Instinkt des unverdorbenen
Menschen, und bis auf den heutigen Tag hat er noch keinen Tropfen Alkohol
über die Lippen gebracht!"
„Das spricht sehr für den Alkohol!" flüsterte der Doktor Pastor Tannebaum
zu, der von dem Auftreten seines angeheirateten Verwandten peinlich berührt
war. Und laut sagte Schlosser:
„Ein Glas Burgunder täglich würde Ihnen gut tun, Herr Madelung!
Mir scheint. Sie brauchen eine AppetitanregungI"
Gern hätte der Maler diesen Hieb mit einem Lobgesang auf die Magerkeit
pariert, aber er war geistesgegenwärtig genug, es sich zu verbeißen. Er sah
die üppigen Formen seiner Gönnerin und schwieg.
Jetzt öffnete sich zur rechten Zeit die Flügeltür zum Eßzimmer und Baronin
Clementine bat ihre Gäste zur Tafel. „Mara ist für die Tischordnung
verantwortlich!" sagte sie, indem sie Schledehausens Arm nahm.
Es herrschte anfangs eine ziemlich frostige Stimmung. Die Hausherrin
bedeutete ihrer Tochter mit unwilligen Blicken, daß sie den Fehler gemacht hatte,
die Gräfin Hahn zu weit unten zu plazieren. Und wirklich saß diese während
der ganzen Mahlzeit steif und verstimmt auf ihrem Platz und antwortete ebenso
einsilbig auf des Pastors höfliche Fragen, wie sie Doktor Schlossers Geschichten
aus der Nachbarschaft ohne Teilnahme anhörte.
„Es ist wegen meines Herzens!" sagte Gräfin Schildberg sich entschuldigend
zu dem Maler, der den Ehrenplatz an ihrer Linken inne hatte. Sie goß sich
einen kräftigen Schluck Rotwein in ihr Wasser, um es dann noch mit viel Zucker
zu versüßen. „Herr Doktor Schlosser hat es mir verordnet."
Man war bereits beim Dessert angelangt, als der alte Maddis mit wich¬
tigem Eifer auf die Gräfin zugeschritten kam. Sein schwarzer Bratenrock und
seine weißen Handschuhe deuteten darauf hin, daß ihm heute die Rolle eines
Haushofmeisters übertragen war. In seinem kleinen grauen Schifferbart um
das gutmütige Gesicht nahm er sich recht ehrwürdig aus.
„Wrau Kräfin — ein russisch Kontrollmensch ist kommen, um unse
Prennerei zu rewädären", sagte er im vergeblichen Versuch, seine kratzende
Stimme zu dämpfen.
„Was geht mich das an, Maddis — hast du gehört, Clementine?" schrie
sie über den Tisch weg. „Ein Tschinownik ist da, der eure Brennerei kon¬
trollieren will!"
Die Baronin rang die Hände: „Der kommt zu passender Zeit, was macht
man mit dem Menschen?"
„Der ist nämlich von der Negierung!" erklärte Graf Woldemar mit auf¬
gerissenen Augen. „Dem muß man nämlich tüchtig zu essen geben, dann wird
er guter Laune."
Aus dem Saal hörte man eine heisere Baßstimme.
„Wo est Fro Barronnin? Lassen Sie! Dönke, Dönke, Dönke! Tut nix,
das bißchen Staub kommt von weite Reise — nitschewo, nitschewo!" Alles
wandte sich nach der Tür. Es war, als wenn der russische Bär selbst aus dem
Walde herausbräche.
Graf Woldemar sprang auf: „Das ist nämlich Dimitrief! Den kenne ich
gut!" Er ging auf den riesigen Menschen zu, dem die Dienstmädchen mit
Mühe und Not den beschmutzten Pelzmantel abgenommen hatten und begrüßte
ihn kichernd.
„Oh Herr Graff!" rief der Russe erfreut und schlug dem Grafen kräftig
auf die Schulter. „Serr angenämm! Frau Barronnin entschuldigen, daß ich
so platze mitten hinein in Souper. Mußte Weg direkt auf Borkull räumen —
brennt Brennerei von Sperliugshof, hat kein Zweck hinzugenn! Hat) — machen
uns arme geplagte Beamte Arbeit leicht — Herren Revolutionäre! Puff —
wie eine große Rakette flog Kessel in die Luft!"
„Auf Sperlingshof? Um Gottes Willen! Baron Schledehausen schob
feinen Stuhl zurück und sprang auf: „Der arme Kurt! Ich muß ans Telephon,
entschuldigen Sie, Baronin!"
Auch Edles sprang auf. Die junge Herrin auf Sperlingshof war ihre Freundin.
„Jetzt wird es Zeit!" Die Hand des alten Wenkendorff schlug schwer
auf den Tisch. Es gab einen allgemeinen Tumult. Nur Graf Woldemar
Hahn wurde von der Nachricht nicht erschüttert. Er hatte den russischen Beamten auf
einen Stuhl genötigt und ihm ein Wasserglas voll Wein in die Hand gedrückt.
„Bring dem Herrn Dimitrief zu essen!" rief er dem Diener zu. „Er hat
nämlich auch einen Magen!"
Dimitrief schüttete das Glas hinunter, daß ihm die Tropfen von seinem
langen schwarzen Bart herabrieselten. Dann lachte er dröhnend auf: „Stimmt
gut, Harr Graff, einen Rrreisemagen, groß wie ein Haferrsack und ganz karr!"
Und er trank und aß und hatte keine Augen für die anderen Gäste, die sich
bald wieder um den Tisch einfanden.
„Natürlich Brandstiftung!" war die Nachricht, die Schledehausen zurück¬
brachte. „Aber der Wind stand günstig, der Hof ist gerettet."
„Das müssen wirJhnen heute sagen, Baronin!" hubHerr von Wenkendorff an.
„Wir müssen uns auf schlimme Zeiten gefaßt machen. Borküll ist am meisten
gefährdet: ihm fehlt der Herr. Sie müssen Ihren Ältesten rufen!"
Die Baronin war von dem gewichtigen Ernst der Worte wie vernichtet.
„Mein Gott — Wolff Joachim setzt seine ganze Karriere aufs Spiel, jetzt
wo die Hofbälle beginnen. Ich arme, verlassene Frau!"
Schledehausen sah mitleidig das Häufchen Unglück an seiner Seite: „Geben
Sie mir Vollmacht, Baronin, ich werde veranlassen, was nötig ist. Man wird
uns auf Tarjomaa wohl noch eine Weile verschonen. Ich denke, wir besprechen
das nachher!"
Das letzte sagte er mit einem bedeutsamen Blick auf die beiden fremden
Gäste, der auch verstanden wurde.
Schweigend verlief der Rest der Mahlzeit. Nur der Russe klapperte mit
seinem Besteck und ließ sich die Gerichte vortrefflich munden. . . .
Es war im grünen Salon, wo die beiden jungen Mädchen den Kaffee
herumreichten.
„Was meinst du, ist es wirklich so schlimm bei uns?" fragte Mara.
Edles strich leicht über die schmalen Wangen der Freundin.
„Du unverbesserliche Träumerin! Hast du denn gar nichts gemerkt?"
„Aber hier ist doch alles ruhig auf Borküll? Zum Sterben ruhig I
Manchmal wünsche ich, irgendwas möchte geschehen, damit hier frische Luft
eindringt!"
„Ja — frische Luft tut not bei euch! Dann würde auch dein Bruder
Paul wieder kommen. Er ist jetzt drei Jahre nicht zu Hause gewesen! Und
doch könnte ihn euer Borküll gerade jetzt gut brauchen. ..."
„Ob du dir nicht ein falsches Bild von ihm machst? Er hat eine zu
weltfremde Art und ist zu sehr Gelehrter, als daß ihn Hof und Wirtschaft
interessierten. Wolff Joachim taugt noch am besten zum Herrn!"
„Wenn Herr sein soviel bedeutet wie herrisch sein! Ich habe eine andere
Auffassung. Wer Herr ist, muß wissen, was er will und muß es durchführen
können. Gib zu, Paul hat sich auf seinem Weg von niemandem beirren
lassen. Er ist der klarste und ruhigste von euch!"
„Siehst du!" fiel Mara lebhaft ein. „Die Ruhe hat mir auch an dem
Maler gefallen. Er läßt sich durch nichts aus dem Konzept bringen. Du
glaubst nicht, wie das wohltut bei all der Zerfahrenheit hier im Hause!"
„Mir gefällt er nicht! Ruhe ist nicht dasselbe wie Heimlichkeit, ich halte
ihn für einen Schleicher!"
Mara fuhr auf: „Ihr seid eben gegen alles voreingenommen, was nicht
Schablone ist!"
So redeten die beiden Mädchen, während die alten Herrschaften über die
Maßnahmen berieten, die die Lage erforderte. „Du kannst auch zuhören!"
rief der alte Wenkendorff und winkte seine Tochter neben sich. Da ging Mara
ins Speisezimmer zurück.
„Ich dachte mir, daß Sie die Bilder interessieren!" sagte sie zu Madelung,
der die alten Familiengemälde studierte. „Das sind zwei echte Bouchers und
drüben Großvater und Großmutter sind von dem Berliner Maler Krüger."
„Schöne Bilder! Und was für herrliche alte Möbel!" Madelung staunte.
„Da steckt ja ein Vermögen drin!"
„Wirklich? Sind die alten Dinger so wertvoll? Ähnliche haben wir
noch massenhaft im oberen Stock. Und die ganz wurmstichigen Sachen hat
Tante Emerenzia im Sommer ausgemustert und auf den Bodsn bringen lassen
— Bilder und Truhen und so Zeug! Sie hat die reine Ordnungswut. . ."
Madelung horchte interessiert auf: „soo? Wenn ich das doch mal sehen
könnte. Wir Maler lieben solche alten Scharteken, wenn sie auch sonst keinen
Wert mehr haben!"
„Herzlich gern. Ich will Sie mal rumführen. Kommen Sie nur, wann
es Ihnen paßt."
Ein sägendes Geräusch unterbrach plötzlich ihre Unterhaltung und ließ
Mara zusammenfahren. Aber gleich lachte sie wieder hell auf: „Da liegt der
Russe in der Sofaecke und schnarcht! Ich habe einen richtigen Schrecken bekommen!"
Sie erschauerte noch einmal. „Dabei bin ich gar nicht schreckhaft. Mama
wird oft von mir ausgelacht. Sie kann diese weiten menschenleeren Räume
nicht vertragen. Sie sagt, es wäre ihr oft, als wenn jemand hinter ihr stände."
„Ja, was mag dieses alte Schloß alles gesehen haben! Vielleicht sind es
die Geister der Vergangenheit ..."
„Glauben Sie wirklich an so was?"
„Ich glaube an das Karna!" sagte Madelung feierlich.
Da griff Mara, von einem neuen jähen Schrecken getroffen, nach seinem
Arm. Ihre Augen hingen starr an der Tür. Ein langgezogenes Heulen war
zu vernehmen. Rufe ertönten im Salon, Stühle wurden gerückt. Und lauter
als alles gellten die Schreie der Baronin. Die Tür sprang auf: jämmerlich
winselnd kroch Baru) seiner Herrin zu Füßen.
Von roher Hand war ihm die herrliche Rute dicht an der Wurzel ge¬
kappt. Eine Blutspur zog sich hinter ihm her über das Parkett. Nun lag er,
halbtot vor Qual, und blickte in hilflosen Schmerz zu Mara auf, die neben
ihm kniete und seinen edlen Kopf in ihre Arme nahm.
„Die Kriegserklärung!" sagte Schledehausen bitter. Baronin Clementine
lag ohnmächtig im Sessel, und weder Tante Emerenzias Riechfläschchen noch
Doktor Schlossers Stirnreiben konnten sie erwecken. Der alte Maddis mußte
sie mit des Doktors Unterstützung aus ihr Zimmer tragen.
Dimitrief aber war aus seinem bleiernen Schlaf emporgefahren. Er saß,
die gespreizten dicken Finger auf die Schenkel gelegt, mit offenem Munde da
und blickte verständnislos auf die Gruppe um den zuckenden Hund. „Schto takoje?"
fragte er stumpf, einmal über das andere.
„Am besten ist nämlich, man erschießt ihn gleich. Er wird noch den
ganzen Teppich verderben!
„Schweigen Sie!" fuhr Edles den Grafen Wolly an. „Besorgen Sie mir
lieber frisches Wasser und ein Handtuch!" Sie hatte ihre Geistesgegenwart
durchaus behalten.
Bald kniete sie neben Mara und legte dem entstellten Tier mit geschickten
Händen einen Verband an. Ihr tapferes Zugreifen trug mehr zur Beruhigung
des jungen Mädchens bei als alle Trostworte der anderen.
„Aber jetzt will ich wissen, wer diese Gemeinheit begangen hat!" rief
Mara, wild aufspringend. „Der soll die Peitsche fühlen!"
Der alte Wenkendorff hielt sie zurück: „Hat keinen Zweck, Mädchen! Den
Schubiak findest du nie. Es werden wohl mehrere an dem Spaß beteiligt sein!"
„Ja" fuhr er fort, „was machen wir jetzt mit euch? Wir müssen nach
Hause fahren! Sollen wir euch drei Frauen ganz allein hier lassen? Ich glaube
nicht, daß was passieren wird. Aber natürlich — unheimlich ist es für euch,
bis Wolff Joachim kommt. ..."
Seiner Überlegung kam der Maler zu Hilfe: „Wenn es mir gestattet ist
— ich bleibe gerne bei den Damen!"
Über Wenkendorffs eben noch besorgtes Gesicht flog ein joviales Lächeln:
„Richtig, der Herr Maler, das wird besonders der Frau Gräfin willkommen
sein. Abgemacht — Sie bleiben da und halten sich für jeden Fall bereit!"
„Machen wirr, machen wirr!" ließ sich der Russe gutmütig vernehmen:
„Ich halte mir auch bereit. Wirr spielen Karrten und trrinken dazu!" Er
legte seinen dicken Arm freundschaftlich um Madelnngs Asketenfigur und drückte
sie fest an sich.
Da konnte sich keiner des Lachens erwehren und selbst Mara mußte mit
einstimmen.
„Es ist eine große Ehre für dich!" sagte Frau Pastor Tannebaum zu
ihrem Vetter beim Abschied. . . .
Unten im Hof fuhr ein Wagen nach dem anderen an der Rampe vor.
Die Laternen flackerten im Winde.
„Sie brauchen sich um Ihre Mutter nicht zu sorgen!" versicherte Doktor
Schlosser nochmals. „Ich habe ihr Morphium gegeben — sie schläft ganz
ruhig!"
„Kopf hoch!" sagte auch der alte Wenkendorff zu Mara, und Edles flüsterte
ihr halb ernst, halb neckisch ins Ohr: „Verlieb dich nicht!"
Schledehausens Wagen war der letzte. Er hatte im Kondor noch mit dem
alten Maddis verhandelt und klopfte ihm jetzt, im Begriff einzusteigen, freundlich
auf die Schulter:"
„Fünfzig Jahre sind Sie auf Borkull, und Sie haben es immer gut gehabt.
Denken Sie daran, Maddis!"
Bald wurde es ganz still auf dem Hof.
Schwer und dumpf war das Tor ins Schloß gefallen. In der Ferne
verhallte das Rollen der Räder und der rasche Hufschlag der Pferde.
„Ich bin doch froh, daß er da ist!" dachte Mara, als sie ihr Fenster
gegen den Wind verschloß. Zerrissene Wolken jagten über den Mond, und
der Wind pfiff und heulte um das alte Herrenhaus.
Madelung aber ging noch lange in seinem hohen Zimmer auf und ab
und strich sich befriedigt über das Kinn.
„Da wären wir!" sprach er zu sich selbst. . . .
(Fortsetzung folgt)
le Psychologie der Arbeiter ist noch ziemlich jungen Datums;
obwohl die Wichtigkeit der psychologischen Betrachtungsweise für
die Lösung der sozialen Frage auf der Hand liegt, ist ihre Methodik
noch durchaus nicht geklärt und man sucht dem Problem auf den
verschiedensten Wegen näher zu kommen.
Zunächst begannen Gebildete durch den unmittelbaren Verkehr mit Arbeitern
die Fragen aus eigener Anschauung kennen zu lernen; Bücher wie Paul Göhres
„Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" sind zur Einführung jeden¬
falls außerordentlich lehrreich, wenn auch ihr wissenschaftlicher Wert durch die
immerhin kurze Beobachtungszeit und die subjektive Stellung des Autors beein¬
trächtigt wird.
Weit mehr objektiven Wert haben Autobiographien von Arbeitern, von
denen im letzten Jahrzehnt mehrere erschienen sind; die bedeutendste ist wohl
die von Göhre herausgegebene „Lebensgeschichte des Arbeiters Karl Fischer", für den
Nichtfachmann vielleicht die beste Einführung in die Arbeiterpsychologie überhaupt.
Einen dritten Weg schlägt Dr. Adolf Levenstein ein, der Fragebogen an
Berg-, Textil- und Metallarbeiter verschickte; einige von den Antworten veran¬
laßten ihn zur weiteren Korrespondenz und aus diesen hat er schon verschiedene
außerordentlich interessante Beiträge zur Arbeiterpsychologie veröffentlicht*) und
die Anregung zur Arbeiterdilettanten - Kunstausstellung (1. November 1909 bis
30. Januar 1910 in Berlin) empfangen. Die große Enquete des Vereins für
Sozialpolitik über „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen
Großindustrie" fußt zuni Teil aus den Levensteinschen Fragenbogen, und so dürfte
man auf die abschließenden Resultate dieser Erhebung in seinem Buch: „Die
Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des
modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter"
(München bei Ernst Reinhardt, 1912, Preis 6 Mary mit Recht gespannt sein.
Levenstein versuchte durch die Beantwortung der Fragen:
durch Arbeiter die soziale Frage überhaupt zu lösen. Die Fragebogen
nun, von denen er achttausend versandte, wurden von fünftausendundvierzig
Arbeitern beantwortet 63 Prozent) und zwar kamen für die ganze Unter-
suchung nur politisch (sozialdemokratisch) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften)
organisierte Arbeiter in Betracht. Die sechsundzwanzig Fragen teilt Levenstein
in vier Gruppen, die
betreffen. In diesen Rubriken findet sich nun eine merkwürdige Mischung von
rein sachlichen und nur gefühlsmäßig zu beantwortenden Suggestivfragen, die
für die Lösung der Probleme wenig nützen können, da sie teils nach dem
Parteiprogramm abgeschrieben werden („— wieviel Stunden würden Sie gern
arbeiten?"), teils eine bestimmte Antwort direkt herausfordern (1, 5: „Was
drückt Sie mehr, der geringe Lohn oder daß Sie vom Arbeitgeber so abhängig
sind, so wenig Aussichten haben, im Leben weiterzukommen, Ihren Kindern
gar nichts bieten zu können?" 4, 1: „Glauben Sie an den lieben Gott, oder
sind Sie und aus welchen Gründen aus der Landeskirche ausgetreten?" 4, 2:
„Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, wenn Sie auf dem Wald¬
boden liegen, ringsherum tiefe Einsamkeit?")
Die Beantwortung dieser Fragen teilt Levenstein nun wörtlich mit, indem
er die Antworten der drei Arbeiterkategorien trennt, das Alter, die Kinderzahl,
zuweilen den durchschnittlichen Wochenverdienst und die tägliche Arbeitszeit,
am Schluß jedes Abschnittes eine statistische Berechnung hinzufügt, die wissen¬
schaftlichen Ansprüchen auf Klarheit nicht voll genügt. Am auffallendsten ist
aber, daß die Arbeiter in vier Klassen, die Massenschicht, die verbildete, die
kontemplative und die intellektuelle Schicht eingeteilt werden, und gerade diese
Schichten mit ausgeprägten Kollektiveigenschasten innerhalb der Arbeiter¬
massen zu treffen, war nach Leoensteins eigenen Worten hauptsächlich sein
Bemühen. Die Merkmale, die er uns für diese Klassen gibt, sind aber
durchaus nicht präzisiert. So sagt er z. B.: „die intellektuelle Schicht aus¬
zusondern bot naturgemäß ganz besondere Schwierigkeiten. Schöpferische,
autonome Charaktere bildeten den Grundzug dieser Arbeiterlategorie. Solche
mit dem Zukunftswechsel in der Tasche, die mit jungfrohem Optimismus eigene
Wege gehen" . . . und den Grund zur Einordnung eines bestimmten Arbeiters in
eine dieser Klassen ergibt nicht etwa der ausgefüllte Fragebogen, sondern ent¬
weder die später mit den Arbeitern gewechselten, aber nicht unveröffentlichten Briefe,
oder der von einem „Freund" des betreffenden Arbeiters ausgefüllte Bogen,
der dann bei einem Angehörigen der Massenschicht auch wieder die Merkmale
der Massenschicht trug — ein Verfahren, das jedenfalls nicht wissenschaftlich
genannt werden kann und das nachzuprüfen dem Leser gar nicht möglich ist. —
Jeden einzelnen Abschnitt seines Buches beginnt Levenstein mit einer Ein¬
leitung, die sich öfters überhaupt nicht auf die Ergebnisse der Fragebogen,
sondern der (zum Teil in dem Buch „Aus der Tiefe" veröffentlichten) Briefe
stützt; diese Einleitungen beleben vielleicht die später folgende, nicht leicht
übersehbare Statistik, geben aber durchaus keine Zusammenfassung des reichen
Materials.
Die Ergebnisse seiner Untersuchung gibt Levenstein am Schluß: er stellt
in Form einer kaufmännischen Bilanz (!) die Unlustempfindungen auf die Debet-,
die heilsame Wirkung der Gefühlswerte auf die Kreditseite, wobei unter anderem
alle Antworten, in denen auf Fragen wie: „Macht Ihnen Ihre Arbeit Vergnügen?"
„Was drückt Sie mehr: der geringe Lohn oder daß Sie vom Arbeitgeber
abhängig sind?" „Denken Sie bei Ihrer Arbeit?" Gleichgültigkeit zum Ausdruck
kam, als Debet gerechnet werden! Auf Grund dieser Bilanz berechnet er ein
Defizit von 55,5 Prozent, woran er noch einige Betrachtungen knüpft, die den
Leser, wie schon früher bei der Lektüre des Buches, wünschen lassen, daß mit
Levensteins begeisterter Hingabe an seine Ideen und seiner zweifellosen Kenntnis
der Arbeiterpsyche ein nationalökonomisch und sozialpsychologisch geschulter
Mitarbeiter verbunden gewesen wäre, der ihn sowohl bei der Aufstellung der
Fragebogen, wie auch beim Bearbeiten der erstaunlich zahlreichen und wert¬
vollen Antworten beraten hätte, während man so fürchten muß, daß die unwissen¬
schaftliche Behandlung einer so schwierigen Frage auch späteren Erhebungen bei
den Arbeitern höchstens schaden wird.
Muß man auch zugeben, daß Levenstein mit Unrecht sein Buch „Die Arbeiter¬
frage" genannt hat, da die von ihm gedachte Lösung nicht gelungen ist, so
hat doch seine jahrelange Beschäftigung mit den Fragebogen überraschend viel
wertvolles Material zu einer Arbeiterpsychologie ergeben. Jede einzelne Kategorie
ist wert, für sich selbständig nach den verschiedensten Richtungen hin durchforscht
zu werden; hier sei es nur erlaubt, einige besonders prägnante Beispiele namhaft
zu machen, die von der Fülle des Interessanten einen Beweis geben mögen.
Auf die Frage: „Was ist Ihnen lieber, Akkord- oder Stundenlohn?"
schreibt ein Berliner Metallarbeiter: „Streng genommen, ist mir Stundenlohn
lieber, aber da die üblichen Stuudenlöhne größtenteils sehr gering sind, aus¬
genommen einige besonders qualifizierte Arbeiterkategorien, gebe ich der Not
gehorchend dem Mord den Vorzug, da es mir auf diese Weise möglich ist,
einen den Ansprüchen einer gesteigerten Lebenshaltung wenigstens einigermaßen
entsprechenden Verdienst zu erzielen. Vollständig verwerfe ich den Gruppen-
akkord, da bei ihm immer die schlechten Arbeiter auf Kosten der besseren
profitieren," und ein Solinger Metallarbeiter: „Akkord, weil ich hierdurch mein
eigener Herr bin, mir also keiner etwas zu befehlen hat. Auch ist die Akkord¬
arbeit mir deshalb sympathischer, weil sie einen gewissen Ansporn von Fleiß
und Regsamkeit mit sich bringt, gerade das Gegenteil von der Lohnarbeit,
welche in sehr vielen Fällen der Trägheit Vorschub leistet."
Hervorragend interessant sind die Antworten auf die Fragen „Macht Ihnen
Ihre Arbeit Vergnügen oder haben Sie kein Interesse an derselben? (1. 2.)"
„Verspüren Sie irgendwelche Ermüdung oder sonstige Beschwerden durch immer
dieselbe Arbeit? Nach wieviel Stunden werden Sie gewöhnlich müde?" (1. 3.)
„Denken Sie bei Ihrer Arbeit und an was denken Sie, oder ist es Ihnen
überhaupt unmöglich, dabei zu denken? (1. 4.)" weil es sich hier um noch un¬
gelöste Probleme von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung handelt. — Ein Berg¬
arbeiter aus dem Ruhrrevier schreibt: „Meine Arbeit macht mir absolut kein
Vergnügen, das ist auch wohl im Bergbau so gut wie ausgeschlossen. Wenigstens
habe ich noch niemand kennen gelernt, der Vergnügen an der Grubenarbeit
fände. Man verrichtet seine Arbeit rein mechanisch, unter einem Zwange stehend.
Wenn man nicht Vagabund werden will, muß man arbeiten, und in anderen
Berufen würde man auch nichts Besseres finden. Ich habe zuweilen Interesse
für neue technische Errungenschaften im Bergbau, neue Abbaumethoden, neue
Maschinen, auch für die manchmal eigenartigen Gebirgsformationen." Ein
Forster Weber: „Meine Arbeit hat mir von der ersten Stunde ab noch kein
Vergnügen bereitet. Interessant sind mir nur die Fälle, bei welchen nur der
Mechanismus der Webstuhle eine besonders harte Nuß zu knacken gibt."
Ein Solinger Werkzeugschlosser: „Die Arbeit an sich macht mir sehr viel
Freude. Ich glaube sogar, sie zur Erhaltung meines Gleichgewichts zu be¬
dürfen. Es ist dies allerdings nicht der Fall, wenn ich anhaltend monotone
Arbeit verrichten muß. Dann kann sich die Unlust bis zum Ekel steigern ...."
Ein Solinger Metallarbeiter: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten bereits
vierundzwanzig Jahre jeden Morgen eine Kaffeemühle genommen und dann im
Akkord täglich elf bis dreizehn Stunden gedreht, so können Sie vielleicht be¬
greifen, wieviel Interesse ich meiner Arbeit entgegenbringe." Ein schlesischer
Bergmann: „Ich kann mir keinen Zustand vorstellen, bei dem man nicht denkt.
Ich baue bei der Arbeit Luftschlösser, forme Länder und Welten und mache
große und kleine Politik, philosophiere wie Diogenes. Kurzum: ich bin ein
unruhiges Quecksilber, daß ich immer einen Knochen haben muß, an dem ich
nagen kann." Ein anderer: „Ich denke, kanns leider nicht lassen, zumeist an
mein Kind zu Hause oder über das zuletzt gelesene Buch. Einmal kostete mich
das Denken in der Grube zwei Finger. Kauns trotzdem nicht lassen." Ein
Dreher (Berlin): „Das Liebste ist mir, daß ich immer solche Arbeit habe, die
mein ganzes Denken in Anspruch nimmt, denn ich bin von« vielen Grübeln so
nervös, daß ich oft die Tränen nicht unterdrücken kann." Auf die letzte Frage
antwortet ein Berliner Metallarbeiter: „Die Aussichtslosigkeit (drückt mich am
meisten), ewig ein Lohnsklave zu sein. Mag meinen Kindern gar nicht mehr
in die Augen sehen." — Diese kurzen Stichproben zeigen schon, wie reiches
Material die Rubrik „das seelische Verhältnis der Arbeiter zu ihrer berufs¬
mäßigen Arbeit" enthält, sowohl um die Gefahren für den zur rein mechanischer
Arbeit gezwungenen Menschen kennen zu lernen, als auch Möglichkeiten zu finden,
irgendwelche Abhilfe zu schaffen. Aus dem nächsten Abschnitt: „die positiven
Wünsche der Arbeiter in bezug auf die Umgestaltung ihrer ökonomischen Lage"
wollen wir nur zwei charakteristische Anworten wiedergeben, von denen die erste
den starken Einfluß von Karl Marx auf die denkenden Arbeiter, die zweite den
Typus des resignierten Arbeiters illustriert: „Habe den sehnligsten Wunsch, daß
die arbeitenden Massen aus ihrer Letargie aufgeweckt werden möchten, um zu
begreifen, welchen Zweck ihr Dasein hat. Solange sie noch mit ihrer Ware
„Arbeitskraft" zu Markte gehen können, kommt den meisten der Gedanke nicht,
daß es, so bald man dem Kapital nichts mehr nützt, bald anders wird. Aus
diesem Grunde verachte ich alle Institute, in denen sie dem Arbeiter Genüg¬
samkeit und Entsagung predigen, wogegen gerade dem Arbeiter das Recht zu¬
stehen müßte, in vollem Maße an dem Segen der Kultur teilzunehmen. Da
ich nun mehr berechtigte Hoffnungen als wie erfüllbare Wünsche habe, so bin
ich fest davon überzeugt, daß es mit Hilfe des klassenbewußten Proletariats
über kurz oder lang doch gelingen wird, die Lage der ums tägliche Brot
ringenden Menschheit mehr und mehr zu bessern." — „Für mich persönlich hoffe
ich nichts, was erwähnens Wert wäre, es hat eine Zeit gegeben wo ich meinte
die Welt läge mir offen, da ich die Welt noch nicht kannte und meinte so ein
Sehnen nach Glück müsse das Glück auch bringen. Still ists geworden im
Herzen, und manches Mal da zuckt es noch dieses rebellische Herz und will sich
gar nicht damit abfinden das es kein Anteil an Glück Soll haben, Villeicht
stell ich die Ansprüche an das was man Glück nennt zu hoch. Wenn ich die
Menschen um mich betrachte, alle haben fast so wie ich, sich nach Glück ge¬
sehnt und meinen es zu haben und sind zufrieden, oh ich möchte trotzdem
nicht mit ihnen Täuschen. Lieber Wissen daß das Glück ich nicht habe, als
unwissend durchs Leben gehn." — Von den übrigen Antworten wäre be¬
sonders die Stellung zur Alkoholfrage, zur politischen und Gewerkschafts¬
bewegung, zum Gottesglauben einer eingehenden Untersuchung würdig; stellen¬
weise müßte das vorliegende Material freilich noch durch mündliche Besprechungen
nachgeprüft werden, denn es sind selbstverständlich oft gute Vorsätze statt Tat¬
sachen berichtet worden, wie die Nachsätze von Arbeiterfrauen unter den
Äußerungen der Arbeiter beweisen, und anderseits würde man im mündlichen
Verkehr") vielleicht gerade bei den besten Köpfen weit mehr erfahren („über
diese Frage bewahre ich immer lieber Diskretion" schreibt z. B., ein Textil¬
arbeiter auf die Frage nach dem Glauben an Gott).
Die sonderbare Frage: „Was denken Sie, wenn Sie auf dem Waldboden
liegen?" (Eine Statistik über die Nichtbeantwortungen fehlt hier!) ist zum Teil
gar nicht verstanden worden, oder hat Anlaß zu gefühlvollen Ergüssen der heim¬
lichen Dichter unter den Arbeitern gegeben, die im Fragebogenformat sich seltsam
genug ausnehmen.
Das letzte Kapitel, „welche Bücher haben Sie gelesen?" hat. wie Leven-
stein in der Einleitung dazu berichtet, eine Privatkorrespondenz von 1874 Briefen
erfordert; aus dieser berichtet er einiges über die Philosophen, die die Arbeiter
gelesen haben; die „interessanten Ergebnisse" über „die pantheistischen Mystiker,
wie Kant, Goethe, Lessing (!) usw." teilt er nicht mit und wenn man seine
Statistiker zusammenstellt, so hatten
gelesen,
Inwiefern diese Zahlen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, ist
zweifelhaft, wenn matt Angaben findet wie „Ergreifende" (ein Forster Weber)
„die Wiesendschaftlichen" (Bergmann aus dem Nuhrgebiet) „nur wahrheits¬
liebende" (Textilarbeiter Berlin) „meist Schundliteratur" (!) (ein Berliner
Weber); wohin Bücher wie der Corvinsche „Pfaffenspiegel" und die „gekrönten
Häupter" gerechnet werden, wird auch nicht gesagt; die hohe Prozentzahl der
sozialistischen und gewerkschastlichen Literatur mag sich aus den Beständen der
den Arbeiter zur Verfügung stehenden Bibliotheken ergeben, und gerade bei so
ungenauen Angaben wie „ich bin ein Freund von Leßen und leße alles"
(Bergarbeiter aus dem Ruhrrevier) „die Bibel und auch politiser Schriften"
(Forster Spinner) wäre eine mündliche Befragung am Platz gewesen. Josef
Kilche betont in einem auf Zusammenstellungen der Benutzungsziffern der
Arbeiterbibliotheken beruhenden Aufsatz*), daß auch bei der politischen und
sozialistischen Literatur hauptsächlich Bücher in Betracht kommen, von denen
etwas Sensationelles erwartet wird, und an ein Erfassen etwa des oft angegebenen
Marxschen Kapitals ohne Vorbildung nicht zu denken sei, obwohl Levenstein meint,
daß Marx gar nicht belehre, sondern den namenlosen persönlichen Erfahrungen des
Arbeiters nur den Namen, seinen eigenen Erlebnissen nur den logischen Begriff gebe.
Wie in diesem letzten Kapitel, so ist auch im ganzen Buch das Material
nicht bloß nicht bis ins kleinste gesichert, sondern auch nicht einmal vollständig
veröffentlicht. Es zeigt sich eben, daß zu einer so umfassenden Erhebung nicht
die Erfahrung und der Eifer eines einzelnen Menschen genügt, sondern die
wissenschaftliche Schulung und gegenseitige Kontrolle einer ganzen Reihe von
Mitarbeitern nötig ist. Trotzdem muß jeder, der sich irgend mit den sozialen
Problemen beschäftigt, Levenstein dankbar sein, daß er ungeachtet aller Hindernisse
und aller Anfeindungen als erster diesen schwierigen Weg betreten hat, auf
demi seine Nachfolger nun weniger leicht straucheln werden und daß er uns,
ehe die Ergebnisse dieser großen Untersuchungen abgeschlossen vorliegen, wert-
volle und umfassende Beiträge zur Kenntnis der Arbeiterpsyche zugänglich macht.
Kiderlen und die Marokkokrise. Im
Heidelberger Tageblatt findet sich folgende
Notiz:
„Herr von Kiderlen - Waechter, der ver¬
storbene Staatssekretär des Auswärtigen Amtes,
ist, belastet mit dem Vorwurf der Unwahrheit
und der Fälschung, ins Grab gegangen. Er
hat es nie versucht, die altdeutsche Anklage zu
widerlegen. Aber nach seinem Tode haben
sich der Berliner Journalist Cleinow und
der Stuttgarter Historiker Egelhaaf bemüht,
den Staatssekretär reinzuwaschen. Man ver¬
suchte, zu beweisen, daß Herr von Kiderlen-
Waechter nie daran gedacht habe, in Marokko
deutsches Kolonialland zu erwerben und daß
er sich auch über die Lage in der Türkei
keineswegs getäuscht habe."
Diese Notiz stützt sich auf Angaben des
Herrn Dr. Albrecht Wirth.
Welche Berechtigung die gegen Kiderlen
erhobenen Vorwürfe haben, ergibt sich u. a.
aus einem Schreiben des verstorbenen Staats¬
sekretärs, datiert Berlin, den 8. Mai 1911,
also etwa sieben Wochen vor der Entsendung
des „Panther" nach Agadir, in dem sich fol¬
gende Stelle findet:
„. . . der Reichstag gönnt nur offenbar
den Urlaub nicht, während sie hier schwitzen I
Heute fragten sie bei mir an, ob nicht eine
Jnterpellation über Marokko .den deutschen
Interessen nützlich sein und unsere Politik
fordern könne'. Du kannst Dir denken, daß
ich deutlich abgewunken habet Ich sehe die
marokkanische Sache mit Ruhe heranreifen;
den Franzosen ist dabei sehr unheimlich zu
Mute und je mehr wir uns ausschweigen,
desto unheimlicher wird eS ihnen. Da wäre
es doch töricht jetzt zu sagen, daß wir wegen
Marokko nicht vom Leder ziehen, oder, wie
wir es bisher taten, uns in Drohungen zu
ergehen, die wir nachher doch nicht aus¬
führen I! Sie werden schon ohne unser Zutun
ein Haar in der marokkanischen Suppe
findenI ..."'
In einem Brief, Berlin, den 18. Juli
1911, also nach Agadir, heißt es: „. . . es
geht ziemlich lebhaft zu. Ich bekomme Stöße
von anonymen oder von Unbekannten unter¬
schriebenen Karten und Briefen mit Zustim¬
mung zu Agadir. Diese amüsieren mich
ebenso wie die begeisterten Zeitungsartikel —
nachher wird das Lamento und Geschimpfe
um so größer sein. Ich freue mich schon
darauf! Denn das fällt mir doch nicht ein,
Südmarokko zu besetzen, wo wir außer den
Franzosen auch noch die Engländer auf dem
Hals hätten und wo wir ständig eine ansehn¬
liche Truppenmacht unterhalten müßten. Da
heißt es immer, die Marokkaner empfingen
uns mit offenen Armen. Ja, jetzt, wo wir
ihnen als Popanz gegen die Franzosen
dienen; aber das wäre gleich anders, wenn
wir das Land für uns besetzen wollten, dann
hätten wir die gleichen Schwierigkeiten wie
die Franzosen und größere; denn wir sind
Weiter ab und die Berber im Süden sind viel
streitbarer als die Araber im Norden. . .
Bei kaum
einer zweiten Persönlichkeit der politischen und
Kulturgeschichte derMenschheitist die Forderung,
den Menschen, seine Lehre und sein Werk aus
ihren geschichtlichen Bedingungen heraus zu
verstehen, so unerläßlich, wie bei dem ersten
selbständigen Staatsphilosophen der Neuzeit,
bei Nikolaus Machiavelli, Man gewinnt am
besten einen Einblick in diese geschichtlichen
Bedingungen, wenn man sich klar macht,
welche Veranlassungen das Renaissancezeitalter
hatte, sich mit den politischen Problemen aus¬
einanderzusetzen. Für die Renaissance im
weitesten Sinne des Wortes kann auf die
Tatsache hingewiesen werden, daß der Huma¬
nismus mit der allgemeinen Wiederbelebung
der Antike zugleich auch die großartigen
politischen Staatsideale des Altertums wieder
in den Mittelpunkt des Interesses rückte. So
kann z. B. die „Civitas Solis" (der Sonnen¬
staat) des Campanella — ein Buch, daS in
der Geschichte der sozialistischen Staatsuto¬
pien eine Rolle gespielt hat — als neuzeit¬
liches Gegenstück der „Politeia" des Platon
angesehen werden. Für die italienische Re¬
naissance im besonderen hat Jakob Burckhardt
uns in seinem bekannten Werke gezeigt, wie
in Italien der mächtigste Grund zu der so
frühzeitigen Ausbildung des Jtalieners zum
modernen Menschen in den Politischen Ver¬
hältnissen dieses Landes gelegen war. Die
Renciiffancephilosophie wollte sich losmachen
von den philosophischen und kirchlichen Auto¬
ritäten der Scholastik, insbesondere auch auf
dem Gebiete der Rechts- und Staatslehre.
War das mittelalterliche StaalSideal die
Vereinigung von Staat und Kirche, so
forderte Machiavelli deren völlige Trennung.
Er stellt das durchaus moderne Ideal des
unabhängigen Nationalstaates auf, dabei in
glühendem Patriotismus immer zunächst an
sein geliebtes Italien denkend. Durch welche
Mittel läßt sich ein zerrüttetes Staatswesen —so
wie es Machiavelli zu seiner Zeit in seinem Vater¬
lande in lebendigem Beispiel vor sich sah —
nieder aufrichten? Nur durch die Herrschaft
eines Fürsten von unbeugsamer Tatkraft, der
die Schlauheit des Fuchses mit der Stärke
des Löwen vereinigt. Für einen solchen
Fürsten kann und soll der gewöhnliche
„bürgerliche" Moralkodex nicht verbindlich
sein. Seine Mittel werden einzig durch den
Erfolg gerechtfertigt. Böse und verwerflich
sind bei ihm nur die halben Maßnahmen,
das Schwanken. Gut und erstrebenswert ist
für ihn unter allen Umständen die den Er¬
folg verbürgende Tatkraft. Von diesen Ge¬
danken ist das berühmte vielgelesene Buch
„Vom Fürsten" getragen, eines der am
meisten geschmähten und ungerecht beurteilten
Werke der Weltliteratur. Wir wissen, daß
Friedrich der Große als junger Prinz seinen
„Antimachicwelli" schrieb, um die Menschheit
vor jenem „Ungeheuer" zu retten, das sie
zu verderben drohe. Die leidenschaftliche
Entrüstung macht der Gesinnung des jungen
Friedrich alle Ehre, wird aber der tatsäch¬
lichen Bedeutung des Machiavellischen Werkes
keineswegs gerecht und erfüllt nicht die For¬
derung, diesen Mann und sein Werk durch¬
aus aus ihren geschichtlichen Bedingungen
heraus zu deuten. Auf alle diese Dinge,
die zur Beurteilung des großen italienischen
Staatsphilosophen herangezogen werden
müssen, soll an dieser Stelle nicht einge¬
gangen werden. Sie sind in der Fnch-
literatur genügend behandelt. Dagegen soll
auf ein anderes Moment nachdrücklich hin¬
gewiesen werden, daS meines Wissens noch
niemals in? besonderen zur Klarlegung des
inneren Wesens des Menschen Machiavelli
und seines Werkes herangezogen worden ist!
auf die Tatsache, daß der große Italiener
— ganz abgesehen von seiner Politischen und
staatsphilosvphischen Begabung — anch ein
außerordentlich scharfer Beobachter und fein¬
sinniger Psychologe in allgemein menschlichen
Dingen war. Auch den Psychologen Machi¬
avelli muß man kennen, wenn man den
Staatsphilosophen Machiavelli verstehen will.
Aus dem vielgeschmähten Vnche vom Fürsten
— dem „Fürstenspiegel", wie man es
neuerdings treffend genannt hat —
seien ein Paar Beiträge zur Psychologie
dieses bedeutenden Mannes angeführt:
„Die Menschen, die das ausführen was sie
können, werden stets gelobt und nicht ge¬
tadelt; wollen sie aber um jeden Preis etwas
ausführen was sie nicht können, so handeln
sie verkehrt und verdienen Tadel." „Da
die Menschen fast immer in ausgetretenen
Wegen gehen nud in ihren Handlungen die
anderen nachahmen, so muß ein Mann von
Geist, auch wenn er nicht imstande ist, jenen
Vorbildern in allem gleichzukommen, noch gar
die Tugend derer, die er nachahmt, zu über¬
bieten, doch immer auf den Wegen der Großen
wandeln und die hehrsten Muster nachahmen,
damit er, wenn er das Ziel auch nicht er¬
reicht, wenigstens in ihrem Geiste handelt
Er muß es den klugen Schützen gleichtun,
welche in der Einsicht, daß das Ziel zu weit
und die Kraft ihres Bogens zu gering ist,
über den Treffpunkt hinauszielen, nicht um
mit der Kraft ihres Pfeiles so weit zu ge¬
langen, sondern um das Ziel selbst zu er¬
reichen/' „Wer da glaubt, daß neue Wohl¬
taten bei den Großen alte Beleidigungen aus¬
löschen, der irrt sich." „Das Ziel des Volkes
ist viel erhabener als das Ziel der Großen:
diese wollen unterdrücken, jenes aber unbedrückt
sein." „Es liegt in der menschlichen Natur,
sich durch das Gute, das man tut, ebenso zu
verbinden, wie durch das, welches man
empfängt." „Mit einigen Strafgerichten, die
du verhängst, bist du menschlicher, als wenn
du durch übertriebene Nachsicht Unordnungen
einreißen läßt, die zu Mord und Raub führen."
„Die Menschen scheuen sich weniger, den zu
beleidigen, der sich beliebt macht, als den,
der sich gefürchtet macht." „Die Menschen
verschmerzen leichter den Tod des Vaters als
den Verlust des Erbteils." „Es geht auf
Erden so zu, daß man nie einer Unbequem¬
lichkeit zu entgehen sucht, ohne in eine andere
zu geraten. Die Klugheit aber besteht darin,
ihre Größe richtig abzuschätzen und das ge¬
ringere Übel als Vorteil zu betrachten." „Es
gibt kein anderes Mittel, um sich gegen
Schmeichelei zu sichern, als die Menschen er¬
kennen zu lassen, daß sie dir die Wahrheit
sagen können, ohne dich zu verletzen." „Ferner
glaube ich, daß der Glück hat, dessen Hand¬
lungsweise dem Charakter der Zeit entspricht,
während der Unglück hat, der mit seiner Zeit
im Widerspruch steht." „ES ist besser, un¬
gestüm als vorsichtig zu sein, denn das Glück
ist ein Weib, und wer es bezwingen will,
muß es schlagen und stoßen; und man sieht,
daß es sich leichter von diesen besiegen läßt,
als von solchen, die kaltblütig zu Werke gehen.
Darum ist es als Weib auch den Jünglingen
gewogen, weil diese weniger bedächtig und
gewalttätiger sind und ihm dreister befehlen."
In einer Zeit, wo der Bildungswert
des klassischen Altertums fortwährend bestritten
wird, hat sich die Altertumswissenschaft in
ganz ungeahnter Weise erweitert und vertieft.
Vor allem zwei Perioden sind durch die wett¬
eifernden Forschungen und Ausgrabungen der
Kulturvölker in helleres Licht getreten oder
geradezu erst entdeckt worden: die vorhellenische,
kretisch-mykenische Kultur, die den engen Zu¬
sammenhang der altgriechischen Kultur mit dem
Orient erkennen läßt, und die sog. hellenistische
Zeit seit Alexander dein Großen, die trotz der
bahnbrechenden Arbeiten Joh. Gustav Drohsens
der einseitig philologischen Auffassung der
griechischen Geschichte als eine Verfallzeit galt
und deshalb von der Forschung lange ver¬
nachlässigt wurde. Mit der wachsenden Er¬
kenntnis ist dagegen jetzt immer klarer ge¬
worden, daß erst gerade in dieser Periode die
griechische Kultur zur Weltiultur geworden,
daß sie in dieser Form die römische Kultur
befruchtet und von ihr auch über das romn-
nisierte Abendland verbreitet worden, da¬
mit aber die Grundlage auch für die gesamte
moderne Kultur geworden ist. Diese Zu¬
sammenhänge im einzelnen nachzuweisen und
für einen größeren Kreis gebildeter Leser
darzustellen, ist die Absicht des verdienstlichen
Werkes „Die hellenistisch-römische Kultur",
dargestellt von Fritz Baumgarten, Franz
Poland, Richard Wagner (Leipzig und Berlin,
B.G.Teubner, 1913, XIV und 674 S.. gr. 8°),
in dessen Bearbeitung die Verfasser sich, wie
bei dem ihm vorausgegangenen Buche die
„Hellenische Kultur" (zuerst 190S) derart geteilt
haben, daß Fritz Baumgarten die Kunst, Franz
Poland das staatliche Leben, Richard Wagner
die Literatur und das allgemeine geistige Leben
darzustellen unternommen hat. Jeder ist auf
seinem Gebiete selbständig und doch schaffen alle
drei in einem Geiste besonnener Kritik, die
jede Erscheinung aus ihrer Zeit heraus zu
verstehen sucht, gründlicher Forschung, ma߬
vollen Urteils, lebendiger, übersichtlicher Dar¬
stellung. Ein reicher Schmuck an Bildern
(vierhundertundvierzig im Text, fünf bunte
und sechs einfarbige Tafeln) und Karten
bringt das Geschilderte zu lebendiger An¬
schauung und macht das Buch zu einem vor¬
züglichen Unterrichtsmittel sür höhere Schulen,
für die es durch seine vortreffliche Ausstattung
und den billigen Preis (12 Mark) auch als
Bücherprämie sehr geeignet ist.
Auf den reichen Inhalt im einzelnen ein¬
zugehen, ist hier nicht Wohl möglich, nur die
leitenden Gedanken, die von den Verfassern
konsequent festgehalten werden, können hier
herausgehoben werden. Im ersten, dem
„Hellenismus" gewidmeten Teile (bis S. 216)
werden die drei Gebiete: Staat, Leben und
Götterverehrung, geistige Entwicklung und
Schrifttum, bildende Kunst zusammenfassend
durch die ganze Periode verfolgt. Im Staats¬
leben tritt das alte Hellas hinter den mo¬
narchischen Großreichen des Ostens, sein alter
Mittelpunkt Athen hinter den neuen Gro߬
städten Asiens und Ägyptens, Alerandria,
Antiochia, Pergamon ebenso zurück, wie die
exklusive hellenische polis, der Stadtstaat, dem
monarchischen Flächenstaat mit seinem in
Makedonien patriarchalischen, im Orient despo¬
tischen Königtum, seinem vielgestaltigen Berufs¬
beamtentum, seinem Finanz- und Kriegswesen
und seinem vielseitig durchgebildeten, dem
römischen durchaus ebenbürtigen Rechte weicht
und sich auf munizipale Selbstverwaltung be¬
schränkt. Nur wenige Stadtrepubliken wie
Rhodos behaupten ihre alte Selbständigkeit.
Ein kräftiger Mittelstand bildet sich nicht aus,
Wohl aber wächst die Zahl der freien Ar¬
beiter, während die Sklavenschaft bei weitem
nicht so stark ist, wie später bei den Römern.
Dank den zahllosen Papyrusfunden, aus
denen eine besondere Wissenschaft empor¬
gestiegen ist, können wir das alles am besten
in Ägypten erkennen. Wie sich nun das
Griechische über ungeheuere Räume verbreitet,
bildet sich auf der Grundlage des attischen
Dialekts die griechische Gemeinsprache, die
Koinö; sie wird im Orient bis Indien hin
zur Weltsprache und dadurch geeignet, die
Trägerin des Christentums zu werden. Mit
der alten polis schwindet auch der starre
Stadtpatriotismus, der Stadtbürger wird zum
Privatmann, zum Weltbürger und sein Ziel
die Ausbildung des Individuums. Daher
tritt der Wille zur Erkenntnis beherrschend
hervor, und es entfaltet sich, vor allem in
Alexandria, eine Blüte der Wissenschaft, der die
althellenische Zeit nichts an die Seite zu setzen
hat und die erst in der Neuzeit wieder erreicht
wird. Die Philosophie der Stoiker und Epi¬
kuräer stellt durchgebildete Systeme der Moral
auf, die für den Gebildeten den schwindenden
Götterglauben ersetzen; ganz neu ersteht die
Philologie, die Geschichte wird zur Welt¬
geschichte, Mathematik und Mechanik, Astro¬
nomie und Geographie, Naturkunde und
Heilkunde schaffen die festen Grundlagen der
modernen Wissenschaft, die das Mittelalter
fast ganz vergaß, soweit sie nicht die Araber
bewahrten, bis die Renaissance sie wieder auf¬
deckte und an sie anknüpfte.
In der Dichtung wiegt die Reflexions¬
poesie durchaus vor, aber Mencmders bürger¬
liche Komödie wird das Vorbild für das
römische und durch dieses für das moderne
Lustspiel, wie Theokrits Jdyllendichtung, der
notwendige Rückschlag gegen die herrschende
Uberkultur, in verwandten Zeiten für die Pflege
dieser Gattung in der römischen und mo¬
dernen Literatur. Ganz besonderes Interesse
und weitgehende Wirkung hat die hellenistische
Kunst erregt, denn sie hatte ganz neue und
vielseitige Aufgaben zu lösen, nachdem die
volle Durchbildung der Technik erreicht war:
den Planmäßigen großartigen Städtebau bei
den vielen Neuanlagen im Osten, in der
Plastik und Malerei die realistische Dar¬
stellung des Porträts, der Landschaft und des
Leidenschaftlich-Pathetischen, dazu die Be¬
friedigung der Prachtliebe an den Fürsten¬
höfen und im vornehmen Haushalt durch eine
unübertroffene Entwicklung des Kunstgewerbes.
Reben die alten Kunststätten Sikyon und Athen
treten beherrschend und in besonderer Eigenart
Alexandria, Pergamon (der Zeusaltar, die
Gallierstatuen), Rhodos (Laokoon), Priene,
das jetzt wieder aufgedeckte Bild einer helle¬
nistischen Kleinstadt, das von Alexander wie¬
derhergestellte Milet, die hellenistische Gro߬
stadt, und Delos, das uns das vornehme
hellenistische Privathaus zeigt. Diese helle¬
nistische Kunst, vornehmlich die Plastik, ist
der Neuzeit viel früher bekannt geworden, als
die der klassischen Zeit, und sie, nicht diese
hat die römische Kunst beherrscht.
selbständig ist die römisch-italische Kultur
in Staat und Recht, in Wirtschaft und Kriegs¬
wesen; in Religion, Kunst, Dichtung, Wissen¬
schaft steht sie auf hellenistischen Grunde seit
der Eroberung des Ostens, also seit etwa
200 v. Chr. Ihr sind über zwei Drittel des
Buches gewidmet. Dabei wird sachgemäß
die Zeit deS Königtums und der Republik
von der Kaiserzeit so getrennt, daß in jeder
dieser großen Perioden die drei Gebiete für
sich behandelt werden. Da sich hier die Ver¬
fasser auf bekannteren Boden bewegen und
die neuen Entdeckungen bei weitem nicht so
bedeutend sind wie auf griechischem Boden,
so begnügen wir uns, einzelne besonders be¬
merkenswerte Punkte ihrer Darstellung, vor
allein die feinsinnige Schilderung der Lite¬
ratur und der Kunst, hervorzuheben. In der
Literatur findet der lange verkannte Cicero
eine gerechte Würdigung als der Vermittler
der hellenischen Kultur und dadurch der große
BildungSmeister für sein Volk und die Mensch¬
heit; verständnisvoll werden die Prosaiker
und Dichter der großen Augusteischen Zeit,
Livius, Vergil, Horaz, geschildert, ebenso wie
die der späteren Kaiserzeit, Seneca, Tacitus,
Plutarch, wie Arrian und Lukian, bis auf
die späten Vertreter der Provinzialkultur
Ausonius und Apulejus. Aber der Verfasser
schließt mit der heidnischen Antike nicht ab;
er zeigt vielmehr, wie an sie anknüpfend,
vorbereitet durch die Philosophie und durch
orientalische Kulte, vor allem durch die
Mysterien der Isis und des Mithras, in
denen das tiefe religiöse Sehnen der Zeit
Befriedigung suchte, das Christentum durch
Paulus, „einen der größten Männer, die über
diese Erde gegangen sind", in die Welt kam,
in die Kultur und Sprache des hellenistischen
Ostens einging und in den Kirchenvätern
seine begeisterten und geistvollen Verteidiger
sand. Eine Würdigung des größten unter
ihnen, des feurigen Afrikaners Augustinus,
der mit seinem Buche vom Gottesstnat die
Weltanschauung des Mittelalters und da¬
mit die katholische Kirche begründete, schließt
diese Betrachtung.
Denselben Anschluß an das Christentum
findet auch die eingehende Darstellung der
römischen Kunst. Von der etruskischen Kunst
ausgehend, die in den ersten Jahrhunderten
Rom völlig beherrschte, aber für uns dort kaum
Spuren hinterlassen hat, schildert sie das rasche
Eindringen der griechischen Kunst in den letzten
vorchristlichen Jahrhunderten und verweilt
dann am längsten, wie es der Sache ent¬
spricht, bei der Kaiserzeit, die in so stattlichen
Resten zu uns redet. Die Denkmäler der
Augusteischen Zeit, der Flavier, Trajans
und Hadrians werden in Wort und Bild
genauer behandelt; in Aufnahmen des gegen¬
wärtigen Zustandes, Rekonstruktionen und
Plänen treten uns hier die Paläste des
Palatins, die Kaiserfora, die Ära Pacif
Augustae, das Meisterwerk der neuattischen
Kunst in Rom, der Titusbogen, das
Kolosseum, das Grabmal Hadrians, die
jetzige Engelsburg, die sich heute wieder so
darstellt, wie sie um 1600 gewesen ist, die
Säulen Trajans und Marc Antons, das
Pantheon u. a. in. entgegen. Und wie diese
Zeit, neben ihrer Neigung zur Pracht Neues
und Originales im Gewölbe- und Kuppelbau
geleistet hat, so hat sie auch das Porträt
ganz realistisch, das Relief perspektivisch¬
malerisch entwickelt. Trotz des damit be¬
ginnenden Verfalls der Plastik, wie er schon
im Severusbogen und noch viel mehr im
Konstantinsvogen hervortritt, hat doch die
Architektur noch in der Spätzeit des dritten
und vierten Jahrhunderts wahrhaft Großes
geschaffen: das Septizodium des Septimus
Severus auf dem Palatin, das erst Sixtus
der Fünfte abbrechen ließ, die Riesenthermen
des Caracalla und Diocleiian, endlich den
Schlußstein der antiken Architektur, die Basi¬
lisk« Konstantins.
Wie ganz unmittelbar diese kaiserlich römische
Kunst die Hochrenaissance beeinflußt hat, zeigt
das bekannte Wort Bramantes über den Bau
der Peterskirche: er wolle das Pantheon auf
die Gewölbe der Constantinsbnsilika setzen.
Außerhalb Roms sind in Italien, abgesehen
von Pompeji, wenige große Werke der Kaiser¬
zeit erhalten, mehr in Nordafrika, Gallien
und den Rheinlanden, wo die?oro mZra
in Trier aus der constantinischen Zeit stammt,
Dalmatien (Spalato), Hellas, Kleinasien,
Syrien und Arabien bis Bnalbek, Palmura
und Petra hin, wo diese Kunst unmittelbar
an den Hellenismus anknüpft. Die christliche
Kunst bewegt sich in den Malereien der rö-
mischen Katakomben, aus denen allein wir
sie kennen, anfangs ganz in den antiken
Formen und geht erst später zu christlichen
Gegenständen über, wandelt dann aber das
Mosaik zum glänzenden Wand- und Decken-
schmuck. Die Plastik beschränkt sich fast ganz
auf Sarkophagreliefs in der Weise der spät¬
römischen Zeit, die Baukunst hat zunächst
vielfach antike Gebäude benutzt (die ^sria
sntiqus am Nordfuße des Palatin ist in die
Bibliothek des Augustustempels eingebaut),
aber ihre Kirchen, die Basiliken, Wohl selbst-
ständig, nicht in einfacher Nachahmung der
antiken Basiliken, nach den Bedürfnissen des
Gemeindehauses gestaltet, früh auch Kuppel¬
kirchen errichtet, wie schon Santa Costanza
in Rom aus der Zeit Konstantins des Großen,
und diese Form beherrscht dann die ostgotischen
Bauten in Ravenna wie die byzantinischen
dort und in Konstantinopel, wo die frei-
schwebende Riesenkuppel der Hagia Sophia
die großartigste Raumwirkung erzielt, die
jemals erreicht worden ist. Keine bessere
Vorbereitung für den Besuch Roms als diese
schönen Kapitel.
Neue Bücher über Musik. (Biographisches.)
Immer und immer wieder wird das Leben
unserer größten und großen Tonsetzer zum
Gegenstand von Büchern gemacht, welche für
weite Leserkreise bestimmt sind. Demnach
scheint unserer so ungemxin ausgebreiteten
Musikpflege das Interesse für die Schöpfer
der Tonwerke einigermaßen zu entsprechen.
So erfreulich das wäre, so kann doch den
Autoren jener Bücher der Vorwurf nicht er¬
spart werden, daß sie vielfach das Interesse
des Publikums irreleiten oder einem irre¬
geleiteten Interesse entgegenkommen, indem
sie gegen die Person, ja selbst gegen das
äußere Leben des Komponisten dessen Werke
in ungebührlicher Weise in den Hintergrund
treten lassen. Zweifellos hat der, welcher zu
den Sonaten und Symphonien eines Beethoven
ein inneres Verhältnis gewonnen hat, das
natürliche Bedürfnis, über die Schicksale des
Meisters, über seine Lebens- und Welt¬
anschauung usw. etwas zu erfahren. Aber
die wichtigste Aufgabe des Biographen, der
sich an ein großes Laienpublikum wendet,
wird es doch immer bleiben, das Verständnis
für die Werke seines Helden zu erwecken oder
zu vertiefen. Selbstverständlich soll die Not¬
wendigkeit der historischen Forschung über den
Lebensgang der Komponisten und über die
außermusikalischen, ja die außerkünstlerischen
Seiten ihrer Persönlichkeit nicht geleugnet
werden. Aber solche Darstellungen sind stets
als Vorarbeiten oder als Ergänzungen der
eigentlichen Biographie zu betrachten.
Ein derartiges und zwar sehr gutes Buch
ist unter den vorliegenden Schriften das von
Sebastian Röckl über „Ludwin it. von
Bayern und Richard Wagner" (zweite neu
bearbeitete und vermehrte Auflage, C. H.
Becksche sOskar Bechj Verlagsbuchhandlung,
München 1913). In schlichter, zum Teil
aktenmäßiger Darstellung behandelt eS den
merkwürdigen Verkehr zwischen dem jungen,
kunstbegeisterten König und dein von ihm
geradezu vergötterten, bis dahin viel umher¬
getriebenen Künstler, der von der Freundschaft
dieses Fürsten die Verwirklichung seiner
kühnsten Träume erhofft. Aber je weiter wir
lesen, um so klarer erkennen wir das tragische
Verhängnis, das über dem Bunde waltet,
den zwei Männer geschlossen haben, die beide
unfähig sind, den natürlichen Widerstand der
realen und materiellen Mächte richtig in ihre
Rechnung einzustellen. Wagners Weggang von
München, mit dem das Buch schließt (ein
zweiter Band, der die Darstellung bis zu
seinem Tode fortführen soll, ist uns ver¬
sprochen^, war, wie wir heute, nach dem furcht¬
baren Schicksal und Ende des Königs, deut¬
lich übersehen können, eine Notwendigkeit im
wohlverstandenen Staatsinteresse. Das hätte
Röckl betonen sollen, statt durch eigene Be¬
merkungen dem gedankenlosen Gerede von
der in der Stadt und am Hofe herrschenden
Philisterei, die ja gewiß auch ihre Rolle
dabei gespielt hat, neue Nahrung zu geben.
Vermehrt ist die zweite Auflage um ein ein¬
leitendes Kapitel über Wagners Beziehungen
zum Münchener Hoftheater vor 1864. Wir
erfahren daraus, daß der „Holländer" 1841
von der Intendanz abgelehnt wurde, aber
auch, was wichtiger ist, daß sich Franz Lachner,
wenn auch Wohl mit innerem Widerstreben,
als Dirigent ehrlich für eine möglichst gute
Wiedergabe der Wcignerschen Werke einsetzte
(1356 kam „Tannhäuser", 1358 „Lohengrin",
1864 der „Holländer" zur Aufführung). Das
geht aus Wagners eigenen, an ihn gerichteten
Briefen hervor. Also auch hier wird, wie
so 'oft, die kürzlich erschienene Autobiographie
durch die authentischen Quellen berichtigt.
Lag ein Eingehen auf die Werke selbst
nicht in Zweck und Plan der Röcklschen Arbeit,
so war ein solches dagegen um so mehr von
dem dickleibigen Buche Schjeldernps zu er¬
warten, das eine Gabe zum hundertsten Ge¬
burtstag Wagners sein soll und sich auf dem
Titel „Richard Wagner und seine Werke,
ein Volksbuch" (Verlag von F. E. C. Leuckart,
Leipzig 1913) nennt. Aber der Besprechung
der Werke ist nur ein Abschnitt eines einzigen
Kapitels, „Wagners Werke, Charakter und
Lebensanschaumig," gewidmet, und noch dazu
werden wir in demselben zum Teil mit wenig
fördernden Erörterungen über das Männliche,
Weibliche und Kindliche in der Kunst und
insbesondere bei Wagner abgefunden. Eine
klare Vorstellung von dessen spezifischer Eigen¬
art und von der gerade bei ihm so stark her¬
vortretenden spezifischen Eigenart jedes ein¬
zelnen Werkes erhält der Leser nicht. Alles
übrige ist biographisch. Gegen diesen Haupt¬
teil des Buches sind Wohl keine Einwendungen
zu erheben, und der Anspruch des Verfassers
darauf, Wagners Verhältnis zu Mathilde
Wesendonk im Gegensatz zur Autobiographie,
aber auch zu Glasenapp und Chamberlain
nicht verschleiert, sondern in seiner vollen Be¬
deutung für das Innenleben des Künstlers
dargestellt zu haben, ist zweifellos berechtigt.
Auch die allerdings viel kürzer gehaltene
Wagnerbiogravhie von N. Batka (1912) ist
fast ausschließlich eine Lebensdarstellung.
Seltsamerweise scheint sich der Verlag
(Schlesische Verlagsanstalt, vormals Schatt¬
länder, G. in. b. H., Berlin) selbst nicht dar¬
über klar zu sein, was er mit der Samm¬
lung „Berühmte Musiker" eigentlich bezweckt.
Gemeinsam ist allen Bänden nur der reiche,
oft wohl überreiche Bilderschmuck. Im
übrigen wird den Autoren offenbar freie
Hand gelassen, und so fehlt den Biographien
ein einheitlicher Grundplan. Frimmrl in
seinem viel gelesenen „Beethoven" (4. Auf¬
lage 1912) enttäuscht uns, indem er ein
Spezialgebiet seiner Forschung, nämlich die
Einwirkungen fremder Werke auf Beethovens
Iugendkompositionen, sehr ausführlich, sogar
mit Notenbeispielen, behandelt, später aber,
also gerade von da an, wo das Interesse
seiner Leser erst recht rege wird, alles Musi¬
kalische viel zu summarisch und farblos er¬
ledigt. Auch H. Rcimann in seiner Bach¬
biographie (durchgesehen und ergänzt von
Bruno Schröder 1912) ist der Versuchung
nicht entgangen, sein Spezialgebiet, die Orgel¬
werke, zu eingehend zu behandeln, ja sogar
Ausführungsanweisungen für den Organisten
zu geben. Dabei aber dringt er doch auch
in die übrigen Werke geschichtlich und ana¬
lytisch in ganz anderer Weise ein als Frimmel,
und das Verhältnis der einzelnen Teile zu
einander wäre Wohl ein noch günstigeres ge¬
worden, wenn er das letzte Kapitel, „Kan¬
taten und Passionen", noch selbst hätte aus¬
arbeiten können. Die Aufgabe in engem
Rahmen ein anschauliches Lebensbild eines
Meisters zu entwerfen und den Leser zugleich
in seine Werke einzuführen, hat Leopold
Schmidt in seinem „Mozart" (1912) gut
gelöst. Besonders erfreulich ist es, daß er
sich nicht einfach an Otto Jahr hält, sondern
auch die neuere Forschung heranzieht und so
z. B. im Anschluß an Chrysander und
Kretzschmar Mozarts Verhältnis zur italie¬
nischen Oper richtig darstellt. Daß man sich
mit dem Verfasser nicht in allem einverstanden
erklären kann (so erscheint ihm z. B. „Das
Veilchen" zu dramatisch; so wird er dem
herrlichen Fragment der c-Mollmesse nicht
gerecht) hat wenig zu bedeuten.
Ein neues biographisches Unternehmen hat
der Verlag Breitkopf und Härtel in Leipzig
mit seinen „Musikbüchern" ins Leben gerufen.
Hier scheint ein fester Grundplan zu bestehen,
indem jedes der Bündchen, das nur eine
Mark kostet, die Lebensbeschreibung eines
Meisters neben einer selbstverständlich knappen
Einführung in seine Werke bringt. Sehr
gut gelungen ist, abgesehen von der Einlei¬
tung, M. Morolds „Bruckner" (1912) worin
der Lebensgang des schlichten Mannes an¬
ziehend erzählt und seine Eigenart als
Symphoniker in großen, aber scharfen Zügen
herausgearbeitet wird. Ein bedauerlicher
Mangel ist es freilich, daß seine kirchlichen
Kompositionen ganz außer acht gelassen sind.
Weniger befriedigt hat mich des gleichen
Verfassers „Hu„o Wolf" (1912), namentlich
weil mir die Mannigfaltigkeit seines Lied¬
stiles, die Abwesenheit jeder Prinzipien¬
reiterei, nicht genügend betont zu sein scheint.
La Mara versucht in ihrem „Mendelssohn"
(1912) die Besprechung der Werke mit der
Lebensdarstellung zu verschmelzen. Für
Biographien von so kleinem Umfang aber ist
es Wohl empfehlenswerter, beide Teile ge¬
trennt zu halten. Freilich ist es ungemein
schwer, zusammenfassende Charakteristiken zu
geben, und in gewissem Sinne ist es kein
Paradoxon, daß die Aufgabe des Biographen
um so mehr wächst, je geringer der Umfang
seines Buches ist. Leider nimmt man heute
meist noch den entgegengesetzten Stand-
Punkt ein.
Clemens Brentano, Nachtwachen von
Bonnventnrn, herausgegeben von Erich
Frank. Heidelberg 1912
Bereits im Titel tritt diese Edition eines
vielgenannten Buches höchst anspruchsvoll auf:
die Hypothese, für die der Herausgeber in
der einhundertundfünf Seiten langen Einlei¬
tung kämpft, wird gleich auf dem Umschlag als
unwiderlegbare Tatsache verkündet. Von einem
berühmten Dichter, von Clemens Brentano,
sollen die „Nachtwachen des Bonaventura"
stammen, jenes 1804 erschienene Werkchen,
das man lange Zeit irrig dem Philosophen
Schelling zuschrieb und das vor kurzen? unter
Angabe guter Gründe einer Nebengestalt der
Romantik, Fr. G, Wetzel, zugewiesen ist. Frank
befaßt sich gar nicht damit, diese letzte An¬
nahme zu widerlegen; er sucht lediglich die
seine zu beweisen. Gut, wenn ihm dies ge¬
lingen wollte. Leider aber überzeugt Frank
in keiner Weise. Innerlich sind die „Nacht¬
wachen" dem Wesen Brentanoscher Poesie
durchaus fremd; die äußeren Beweismittel
Franks sind sämtlich angreifbar. Und wenn
Frank sich eine Schutz- und Zufluchtsmauer
in der „Anwendung des sprachvergleichenden
Verfahrens" errichtet hat, so ist diese Wissen¬
schaftlichkeit nur eine scheinbare. Hoffentlich
findet Frank einen Rezensenten, der ihm das
in wissenschaftlicher Form eingehend nachweist.
Ich sehe in Franks Arbeit geradezu ein
Musterbeispiel für die falsche Art der Beweis¬
führung, die — blind nach allen anderen
Seiten — für die einmal gewählte Hypo¬
these viele winzige Belegmittel, in Wahrheit
Zufälligkeiten, heranzerrt, bis eine Schein¬
möglichkeit entsteht. In der Tat hat es nicht
an Zustimmung gefehlt. Demgegenüber kann
nicht bestimmt genug betont werden, daß durch
Franks Edition die Werke eines berühmten
Dichters ohne triftigen Grund um einen wesens¬
fremden Bestandteil vermehrt werden sollen.
Frank möchte in den „Nachtwachen" sogar
„Brentanos bedeutendstesWerk"finden. Sehen
wir einmal von Brentano ganz ab — etwas
„wirklich Großes" oder „das vielleicht geist¬
reichste Werk der Romantik", wie Frank sich
ausdrückt, sind die „Nachtwachen" überhaupt
nicht, sondern sie sind eine talentvolle Jean-
Paul-Nachahmung, die sich durch eine gewisse
Wildheit von dem Vorbild originell unter¬
scheidet. Daß das Werk dem Anhänger Jean
Pauls Fr. G. Wetzel zugehört, hat die größte
Wahrscheinlichkeit für sich.
N-ckidruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdriicklichcr Erlaubnis des Verlauf gestattet.
Kerantworllich: der Herausgeber George TIeinow in Berlin-SchöneSerg. — Manullriptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
«» den Herausgeber der Grenzbotr« in Berlin-Frieden««. Hedwinftr. 1».
gernsprecher der Schriftl-itung: Amt llhland 8KM, d«! Verlag«: Amt Lü«vo S510.
Verlag: Verlag der «renzb-ten «. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: .Der RsichSbote" «. in. v. H. in Berlin LVV. II, D-jj-ner Strad- »S/S7.
le Balkankrisis, die monatelang Europa in Atem und in manch¬
mal täglicher Erwartung des Kriegsausbruches gehalten hat, darf
als beendigt gelten, wenigstens insoweit, als die Beziehungen
und Interessen der großen Mächte dabei in Frage kommen. In
Rußland ist die besonnene und nur vom realen Interesse des
eigenen Reiches geleitete Staatskunst der Minister Sasonow und Kokowzow
siegreich geblieben gegenüber einer zwar kleinen, aber einflußreichen und sehr
viel Lärm machenden Gruppe. Wenn nun auch die Liquidation und das
Verhältnis der Balkanstaaten zueinander noch manche Schwierigkeiten machen
werden, so darf doch mit einer gewissen Sicherheit damit gerechnet werden,
daß in der nächsten Zeit aus diesem alten Hexenkessel keine internationalen
Verwicklungen hervorgehen werden.
Dafür haben sich die Großmächte nun mit der neuen Lage abzufinden.
Das wesentlichste daran ist zunächst doch, daß sich der Jahrhunderte alte
und dadurch historisch gewordene Gegensatz Österreichs und Rußlands in dieser
orientalischen Frage nun allmählich lösen muß. Zwischen beiden stehen die
emporgekommenen Balkanstaaten, namentlich Bulgarien, und schließen nach
menschlichem Ermessen territoriale Ausdehnung jener beiden in der orientalischen
Frage rivalisierenden Großmächte nunmehr aus. Das ist für den Frieden
Europas und für das europäische Konzert zweifellos ein Gewinn, weil die
damit sich anbahnende Friedlichkeit zwischen Rußland und Österreich naturgemäß
auf die Kriegsstimmung Frankreichs gegen Deutschland niederdrückend wirken muß.
Vom Standpunkt der beiden Großmächte ist dieser Ausgang freilich nicht
so erwünscht.
Rußland kann sich allerdings damit abfinden: seine ruhigen Politiker
haben schon seit dem Krimkrieg und dem Kriege von 1877 auf 1878 ein-
sehen gelernt, daß die alten Pläne Peters und Katharinas der Zweiten
auf eine Ausdehnung des russischen Reiches in die Gebiete der orthodoxen
Balkanslawen nicht durchführbar sind. Außerdem aber bleibt das realste
Interesse Rußlands an der europäischen Seite dieser Frage durch die Entwick¬
lung des letzten Winters ganz unberührt: die Frage der freien Durchfahrt
durch Bosporus und Dardanellen. Da Bulgarien nicht in den Besitz Kon¬
stantinopels gekommen ist, bleibt diese Frage nach wie vor unverändert und
kann Rußland eine Gelegenheit abwarten, die ihm diese für seine Machtent¬
wicklung unbedingt notwendige Durchfahrt gewährt. Zudem aber hat der Krieg
ja auch in keiner Weise die Interessen Rußlands in Kleinasien betroffen, wo
eine möglicherweise in nicht zu ferner Zeit einsetzende Expansion Rußlands es
für jene Verschiebung schadlos halten wird.
Dagegen ist die Konsequenz aus den Entscheidungen dieses Winters für
den österreichischen Staat doch unerfreulich genug, und das muß zurück¬
wirken auf die Art, in der wir in Deutschland das ganze Problem betrachten.
Österreich hat definitiv, so weit man dieses Wort politisch überhaupt aus¬
sprechen darf, jene nach Südosteuropa gerichtete Politik aufgeben müssen, die
in früherer Zeit mit dem Namen des Prinzen Eugen verbunden wurde, die
es dann eineinhalb Jahrhundert — seit der Aufgabe von Belgrad — gänzlich
liegen ließ und zu der es in der Neuzeit drei Anläufe nahm: unter dem
Grafen Andrassy, unter dem Freiherrn von Aehrenthal und unter dem Grafen
Berchthold.
Uns beschäftigen naturgemäß die beiden letzten Vorstöße am nächsten. Es ist
keine Frage, daß sie mit ihrem anscheinend deutlich ausgesprochenen Willen zu
einer aktiven Orientpolitik Österreichs in Deutschland mit lebhafter Zustimmung
begleitet worden sind. Alles, was den mit uns auf das engste verbundenen
österreichischen Staat konsolidiert, — und das tut eine energische und einheitlich
nach außen betriebene Politik immer — mußte und muß uns hochwillkomner
sein. Und darum ist es auch für den Deutschen doch schmerzlich zu sehen, daß
diese beiden Anläufe in der Hauptsache gescheitert sind und zwar so, daß eine
Wiederaufnahme jener österreichischen Politik im früheren Sinne nicht möglich
ist. Ich glaube nicht, daß der endgültige Besitz Bosniens und der Herzegowina
die Preisgabe des Sandjak aufwiegt, und vor allem den endgültigen Verlust
von Saloniki, dessen große Bedeutung für Österreich z. B. der verstorbene Kron¬
prinz Rudolph lebhaft betonte Denn auch daß den Serben der Zugang zur
Adria verwehrt ist, daß Skutari von Montenegro geräumt wurde und die
albanische Frage im österreichischen Sinne der Lösung zugeführt werden soll,
ist dafür ebensowenig ein Äquivalent, wie die an sich und für den Dreibund
hocherfreuliche Tatsache, daß die ganze Krisis Italien und Österreich einander
näher geführt hat.
Der Reichsdeutsche vermag sich kein Urteil zu bilden über die Einzel¬
heiten der österreichischen Politik in diesem Winter und es widerstrebt uns
naturgemäß auch, an dieser Politik unseres Bundesgenossen, mit dem wir
gegebenenfalls zusammen zu fechten bereit waren, herumzukritteln. An der Tat¬
sache freilich ist kaum etwas zu ändern, daß diese Politik nicht klar hat er¬
kennen lassen, wo eigentlich ihre Ziele lagen, welches die Grenzen seien, hinter
die man unter keinen Umständen zurückgehen würde, und daß infolgedessen, wie
gesagt, der Ausgang unter allen Umständen mit einem Minus für Österreich
abschließt.
Das wirkt aber auf Deutschland zurück. Denn dessen Stellung zur gesamten
orientalischen Frage wird naturgemäß auch eine andere, wenn die Österreichs
sich verändern muß. Es wird eine Hauptaufgabe unserer Politik in der nächsten
Zeit sein, mit den Balkanstaaten, die ja nun ihre friedliche Konsolidierung
anstreben werden, in gute und freundliche Beziehungen zu kommen, was an
sich nicht schwer sein kann, da die realen Interessen aufeinander zuweisen.
Aber die Konstellation ist für uns jetzt gegenüber dem erweiterten starken Bul¬
garien, gegenüber den gleichfalls gewachsenen Serbien und Griechenland eine
andere als vorher. Der Zugang zum Ägäischen Meer, wie ihn Saloniki dar¬
stellt mit seiner Richtung auf Smyrna und die Bagdadbahn, ist auch nicht mehr
in dem bescheidenen Maße zu Österreichs Verfügung, wie die Aehrenthalsche
Politik das vor fünf Jahren proklamierte.
Regt mithin dieser Ausgang an sich an, die Orientierung der deutschen
Weltpolitik erneut zu durchdenken, so kommt auf der anderen Seite dafür
hinzu, daß in der Krisis des letzten Winters die Stellung Englands zu
Deutschland eine völlig andere geworden ist. Es ist ein Wandel vom
Herbst 1911 bis zum Mai 1913, der in höchstem Grade erfreulich ist und von
dem nur zu wünschen ist, daß er von Dauer sein möge. Für die Orientierung
unserer großen Politik ist das insofern von Belang, als ja bisher, da das
Gespenst des englisch-deutschen Krieges immer drohte, Deutschland naturgemäß
auf jedem Wege seiner weltpolitischen Expansion England als den gegebenen
Widersacher und Gegner vorfand. Wird das jetzt anders werden? Wirkt die
freundschaftliche Gemeinschaft beider Staaten in der Lösung der Balkankrisis
so weit, daß nunmehr auch an anderen Stellen der Erde sich jene Rivalität
lösen kann?
Für diese Erwägungen kommt eine kleine Schrift gut zurecht, die unlängst
erschienen ist: Deutsche Weltpolitik und kein Krieg? Von V. (9? Seiten.
Berlin 1913. Puttkammer u. Mühlbrecht.) Man lasse sich durch den Titel
nicht abstoßen, der allerdings so unglücklich wie möglich ist. Der Verfasser
will sagen, daß eine deutsche Expansion in der Gegenwart möglich sei durch
diplomatische Mittel ohne kriegerische Auseinandersetzung. Er hätte nur nicht
das im Titel so ausdrücken sollen, daß das Ausland meinen muß, Deutschland
wolle überhaupt an eine Möglichkeit kriegerischen Auftretens nicht denken. Gerade
in einer Zeit, in der wir aus fehr begründeter Überlegung unsere Landmacht
außerordentlich zu verstärken uns bemühen, hätten Verfasser und Verleger sich
»
das überlegen sollen. Auch in solchen Kleinigkeiten muß man auf die Wirkung
bedacht und der Verantwortung sich bewußt sein. Ich fürchte, daß gerade der
Titel, dem übrigens der Inhalt keineswegs etwa in Friedensseligkeit und der¬
gleichen entspricht, manchen abschrecken wird, die Schrift zur Hand zu nehmen.
Diesem Inhalte aber rechtfertigt es sich näherzutreten. Denn wie man
sich im einzelnen auch zu ihrem Gedankengang stellt, die Schrift ragt durch
ruhige und sehr kenntnisreiche Betrachtung der großen Politik sehr hoch über
ähnliche Erzeugnisse hervor. Mit Rücksicht auf gegenteilige Behauptungen sei
übrigens besonders betont, daß die Schrift in keiner Weise offiziösen oder
offiziellen Ursprunges ist.
Die Lage Deutschlands wird darin von jenem Grundgedanken aus unter¬
sucht, daß eine deutsche Expansion, über deren Begründung und Notwendigkeit
kein Wort weiter zu verlieren ist, mit friedlichen Mitteln und ohne Krieg in
heutiger Zeit durchführbar sei. Doch sei zu dem Motiv deutscher Expansion
hier eins besonders bemerkt. Es hat sich im letzten Jahrzehnt einigermaßen
gewandelt, insofern die alte Anschauung, daß Deutschland für seinen Bevölkerungs¬
überschuß Ackerbaukolonien brauche, zunächst widerlegt ist durch die Tatsache,
daß nicht nur dieser Überschuß seine Nahrung in Deutschland findet, sondern,
wie bekannt, wir sogar alljährlich Hunderttausende nichtdeutscher Arbeiter heran¬
ziehen müssen. Und wenn Land für den Überschuß gebraucht wird, so ist dieses
in unserem Osten ja reichlich vorhanden. Aber damit ist diese Frage nicht
abgemacht. Wir haben heute zwar keinen Überschuß an Masse, den wir nach
außen abzugeben hätten, wohl aber einen solchen Überschuß an Intelligenz. Die sehr
ernste Frage, was auf die Dauer mit der immer mehr anschwellenden Menge
akademisch Gebildeter werden soll, wird jetzt zu einem Motiv unserer Expansion.
Wir brauchen Gebiete, wohin wir derartige Kräfte abgeben können, wo diese
natürlich nicht selbst mit den Händen zu arbeiten hätten, sondern wo sie
die Organisierung der Arbeit zu übernehmen und zu leiten hätten. Das trifft
zusammen mit der anderen Notwendigkeit, daß unserer Volkswirtschaft immer
mehr Rohstoff liefernde tropische und halbtropische Gebiete angegliedert werden
müssen.
Wir stimmen dem Verfasser der Schrift darin zu, daß die Rückendeckung
in Europa gegeben sein muß durch den Dreibund, dessen rein defensiver Charakter
gegenüber mancherlei Überspannungen der Gegenwart mit Recht ausführlich
betont wird, und durch freundliche Beziehungen zu Rußland. Zu dieser einen
unerschütterlichen Grundtatsache unserer großen Politik kommt die andere hinzu,
daß, wie es hier ausgedrückt wird, die deutsche Expansion unter allen Umständen
an den Kanonen der englischen Nordseeflotte vorbei muß. Von diesen beiden
Grundtatsachen aus ist die Frage zu stellen: wo liegt die Richtung oder
wo liegen die Richtungen einer deutschen Expansion?
Die deutsche Expansion hat sich, seit Deutschland überhaupt in diesem Sinne
Weltpolitik betreibt, ohne besonderen Zusammenhang, ja in ziemlicher Zersplitterung
vollzogen. Wir haben uns zur gleichen Zeit in drei Kontinenten engagiert. Wir
setzten uns in Kiautschau fest, erwarben die spanischen Inseln des sullen
Ozeans, begannen die Bagdadbahn und schlössen mit England ein Geheimab¬
kommen über gewisse afrikanische Gebiete. Wir können die Gründe für diese
Zersplitterung der Politik ebenso auf sich beruhen lassen, wie die für die
Unsicherheit unserer öffentlichen Meinung über die Richtungen, in denen sich
unsere Expansion bewegen soll. Wünschenswert ist unter allen Umständen, daß
sich beides mehr klare und daß sich in unserer öffentlichen Meinung vor
allem, das Chaos expansionspolitischer Ideen, die wir seit Mitte der
neunziger Jahre hin und herbewegt haben, etwas setze. Es hat wohl bisher
nicht anders sein können; Deutschland kam, wie so oft gesagt worden ist, als
letzter in diese Weltpolitik hinein und mußte zugreifen, wo sich etwas bot,
mußte auch, was gegenüber dem Tadel daran in dieser Schrift hervorgehoben
sei, erst einmal überhaupt weltpolitische Erfahrungen machen, überhaupt erst in
größerem Maßstabe aufs hohe Meer und über See hinaus gezogen werden. Aber
nach ziemlich zwei Jahrzehnten solcher weltpolitischen Betätigung und Stimmung
ist es allerdings erwünscht, daß wenige, aber klare Ziele und Richtungen sich
herausarbeiten und mit voller Konzentration verfolgt werden. Denn darin liegt
doch ein grundsätzlicher Unterschied, der auch bleiben wird, zwischen der englischen
und deutschen Weltpolitik, daß die englische als die Politik einer überragenden
Seemacht sich nach allen oder wenigstens vielen Richtungen erfolgreich betätigen
kann, der deutschen aber bei der geographischen Lage dieser ausgesprochenen
Landmacht das nur in wenigen oder nur in einer Richtung erfolgreich möglich
ist. Unsere Schrift legt nun allen Nachdruck darauf, daß dies nur in einer
Richtung möglich sei, und sucht als solche die Betätigung in Mittelafrika zu er¬
weisen, anderseits die im nahen Orient als nicht nützlich und gefährlich
darzustellen. Sie verlangt mit anderen Worten eine völlige Revidierung der
Anschauung über Deutschlands Interessen im nahen Orient, die sich gerade
in den letzten Jahren erst mehr zu verbreiten begann, und eine ausschließliche
Konzentration deutscher Betätigung auf Zentralafrika.
Es kommt nun darauf an, was man unter „Betätigung" versteht. Meint
man damit lediglich die Schaffung wirtschaftlicher Interessen. Kapital- und
Wareneinfuhr, Abgabe von Intelligenz in fremde Gebiete, fo ist nicht einzu¬
sehen, warum Deutschland mit seiner Kapitalkraft und seinem Überschuß an
Intelligenz nicht in beiden Richtungen tätig sein könne, warum es nicht das
eine tun und das andere nicht lassen solle. Versteht man aber unter solcher
Betätigung die Schaffung einer mehr oder minder ausschließlich für Deutschland
reservierten Interessensphäre, die gegebenenfalls auch politisch und militärisch
zu verteidigen sei, so liegen die Dinge anders, und diese Schrift erwirbt sich
im gegenwärtigen Augenblick ganz zweifellos ein Verdienst, wenn sie zu erneutem
Durchdenken der deutschen Politik im nahen Orient in dieser Beziehung ver¬
anlaßt.
Das entschiedene Eintreten für Österreich in jenen beiden Krisen ist bei
uns vielfach und mit Recht auch damit motiviert worden, daß mit durch die
österreichische Politik den deutschen Exportinteressen ein dauernd freies Feld ge¬
schaffen werden solle in den zukunftsreichen Gebieten der Balkanhalbinsel und
dann auch Vorderasiens. In manchen Schriften dazu sah man schon ein
großes deutsch - österreichisch - balkan - türkisches wirtschaftliches Interessengebiet
zwischen Hamburg, Trieft, der Südspitze Griechenlands und dem Ausgang der
Bagdadbahn vor sich. Eine merkwürdige und immerhin beachtliche Äußerung
des bekannten englischen Kolonialpolitikers Harm Johnston, die diesen Gedanken
in recht abenteuerlicher Fassung aussprach, ist für diese Auffassung gewisser¬
maßen als Schwurzeuge herangezogen worden. Wir verkennen nicht, daß in
solcher Betrachtung ein großer zukunftsfroher Zug liegt, und sehen nicht ein,
warum in Deutschland dergleichen nicht ausgesprochen werden soll, da es sich
ja doch nicht um die Gewinnung politischer Interessensphären oder Kolonien
handelt, sondern nur um ein großes wirtschaftliches Interessengebiet. Aber dabei
ist nicht zu vergessen und das macht es wiederum schwer, sich diesen:
zweifellos verlockenden Gedankengang hinzugeben, daß heute die wirtschaftlichen
Interessen auf diesem Gebiete im Gesamtbereich unserer Interessen noch erst
einen verhältnismäßig geringen Teil einnehmen. Sie betragen doch für unseren
deutschen Gesamthandel in Ausfuhr und Einfuhr, selbst wenn man dabei
Österreich, Italien, die gesamte Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien und
Griechenland zusammenrechnet, nur höchstens ein Sechstel (1911 von 17,8 Mil¬
liarden Mark nur 2,7 Milliarden). Ob diese Interessen in großem Um¬
fange steigerungsfähig sind, auch wenn die Bagdadbahn alle auf sie gesetzten
Hoffnungen erfüllt, ist doch recht zweifelhaft. Es ist ganz richtig und wird
jetzt auch mit gutem Grunde häufiger betont, weil es für unser Verhältnis zu
England von großer Wichtigkeit ist, daß im Überseehandel England nach wie
vor an der Spitze bleibt und die große Vorwärtsbewegung Deutschlands vor
allem aus seinem Landhandel stammt. Aber dabei muß gleich beachtet werden,
daß innerhalb dieses Landhandels die Interessen Deutschlands gegenüber jenem
(schon sehr weit gezogenen) Gebiete Südosteuropas und Vorderasiens nicht er¬
heblich viel größer sind, als seine wirtschaftlichen Interessen mit Rußland
(Gesamthandel in 1911 sür jenes Gebiet 2,7 und mit Rußland 2,2 Milliarden
Mark). Schon diese wirtschaftliche Teilung weist darauf hin, daß die Stellung
Deutschlands zum nahen Orient kompliziert genug ist. Dauert die innere Er¬
starkung Rußlands an, so wird in absehbarer Zeit das wirtschaftliche Interesse
Deutschlands an seinem östlichen Nachbarn das am nahen Orient erreicht oder
übertroffen haben.
Zu diesen wirtschaftlichen Interessen Rußland gegenüber kommen aber
weiter die politischen. Wie schon betont wurde, rückt der asiatische Teil
der Türkei für Rußland in immer stärkere Beleuchtung, je mehr es sich daran
gewöhnen muß, seinen Ansprüchen auf den europäischen Teil zu entsagen. Bei
jedem Engagement Deutschlands also nach dieser Richtung hin ist doppelt und
dreifach zu erwägen, ob es nicht die allgemeinen Beziehungen zu Rußland
gefährdet, die heute trotz allem im großen und ganzen gut und günstig ge¬
worden sind. An jener einen Grundtatsache unserer Lage nach außen, den
guten Beziehungen zu Rußland, darf auch die Betätigung Deutschlands im
Orient nicht rütteln.
Sie darf das um so weniger jetzt, da sich eben durch den letzten Winter
die Verhältnisse grundlegend geändert haben, da, wie nun nochmals betont sei,
eine aktive Balkanpolitik Österreichs nicht mehr möglich ist und die Erwartungen
auf eine Gesundung der Türkei in bisherigem Umfange sich nicht erfüllt haben.
Durch diese Entwicklung kommt Deutschland in die Lage, bei einem übermäßigen
Engagement im nahen Orient dieses von sich aus und zur See, d. h. dann
gewissermaßen als Mittelmeermacht, verteidigen zu müssen. Davon kann aber
gar keine Rede sein und unter diesen Gesichtspunkten kann z. B. eine beinahe
programmatische Äußerung nicht als politisch richtig und günstig bezeichnet werden,
wie sie der deutsche Botschafter in Konstantinopel am 27. Januar 1913 mit
seinem Hinweis auf die vitalen Interessen Deutschlands in Anatolien getan
hat. Niemand, der die expansiven Kräfte unseres Volkes kennt, wird gegen
ihre Betätigung in Kleinasien sein oder von der Preisgabe unserer Interessen
dort reden können. Aber ich glaube, daß eben die Ereignisse des letzten
Winters und ihre Folgen uns sehr ernsthaft veranlassen, genau zu überlegen,
wie weit dabei gegangen werden kann. Wirtschaftliche Betätigung ist schon
deshalb weiterhin nötig, weil bereits Hunderte von Millionen deutschen Kapitals
dort arbeiten. Aber Deutschland darf sich dort nicht ein System von Interessen
schaffen, das zu politischen und militärischen Engagements führen würde, weil es
dann in der ungünstigsten Situation den Kampf darum zu beginnen hätte,
die sich denken läßt. Die Grenze, die dort der Betätigung Deutschlands vom
Standpunkte seiner realen Interessen aus gezogen ist, ist ganz klar. Sie
ist wohl in der Politik des Freiherrn von Marschall, der seine bedeutende
staatsmännische Kraft für ein zweifellos großes Ziel deutscher Auslandspolitik
ganz einsetzte, überschritten worden und die Folge macht sich jetzt bemerkbar,
wo die große Umgestaltung in der orientalischen Frage in der Hauptsache perfekt ist.
Demgegenüber fordert unsere Schrift, die wir zum Ausgangspunkt dieser
Auseinandersetzung nehmen, daß Deutschland sich vielmehr mit aller Kraft
nach einer anderen Richtung seiner Expansion wende, wo jene allgemeinen
politischen Bedenken nicht vorhanden seien, nämlich nach Zentralafrika. Dort
sollen für uns die „besten und man muß hinzufügen, die einzigen Aussichten"
liegen. Das ist übertrieben und wirkt so noch stärker, weil es sich um Gebiete
handelt, die nicht mehr frei sind, sondern Portugal und Belgien gehören.
Die Schrift wendet sich auch mit vollem Recht sehr entschieden gegen eine
Auffassung, als wenn Deutschland seine Expansion politisch auf diese Gebiete
ausdehnen solle, und versieht nur die Forderung stärkster wirtschaftlicher
Jnteressierung im ganzen zentralafrikanischen Gebiete mit Portugal und Belgien
zusammen, besonders zunächst in verkehrspolitischer Beziehung, für die
ganz Zentralafrika als ein einheitliches Gebiet behandelt werden müsse.
Es ist mißlich, sich auf dieses Terrain zu begeben, wo sofort Mißdeutungen
laut werden können und der andere Teil, in diesem Falle Belgien und
Portugal, stutzig werden muß. Immerhin kann ruhig der Zweifel aus¬
gesprochen werden, ob die beiden Staaten auf die Dauer in der Lage sein
werden, diese ihre Kolonien zu behaupten, ebenso wie ein solcher Zweifel in
bezug auf Holland und seine Südseekolonien ausgesprochen werden kann. Denn
die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt, daß, je mehr die Weltpolitik die
ganze Erde umfaßt, um so mehr nur große Staaten darin dauernd mitsprechen
können. Deshalb wird ja z. B. die Idee des Balkanbundes über alle kleineren
Gegensätze hinaus mit elementarer Kraft wirksam bleiben, wenn überhaupt die
dort emporstrebenden Staaten irgend etwas bedeuten wollen. Und so ist es
auch in bezug auf das Mißverhältnis, das heute zwischen den beiden europäischen
Staaten Portugal und Belgien einerseits und ihrem Kolonialbesitz anderseits
besteht. Aber dergleichen im einzelnen zu erörtern, ist nicht opportun. Dagegen
ist allerdings für diesen Gedanken zu fragen, wie die wirklich großen Kolonial¬
mächte in Afrika zu einer Idee stehen, die auf eine stärkere wirtschaftliche Durch¬
dringung Zentralafrikas mit deutschem Kapital, deutscher Technik und Intelligenz
hinweist. Das sind Frankreich und England.
Die Austeilung Afrikas, die in den siebziger Jahren begann, ist in der
Hauptsache heute zum Stillstand gekommen, zu einem Stillstand, der ebenso¬
wenig wie alles Gewordene ewig zu sein braucht, mit dem aber für unsere
politischen Kombinationen gerechnet werden muß. England und Frankreich
haben sich durch das Abkommen von 1904 geeinigt, und die daraus für England
erfließenden Verpflichtungen sind mit dem Marokko -Kongo-Abkommen zwischen
Deutschland und Frankreich erledigt. Man darf wohl annehmen, daß Frank¬
reich, das ja mit Marokko reichlich zu tun hat, in bezug auf afrikanischen
Kolonialbesitz „saturiert" ist und daß es einer wirtschaftlichen Ausdehnung
Deutschlands in Zentralafrika nicht entgegentreten würde. So mühsam die
Verhandlungen 1911 waren, so ist doch aus ihnen der fruchtbare Gedanke her¬
vorgegangen einer Ausdehnung Deutschlands an eines der großen Stromsysteme
selbst. Diese Bedeutung des Abkommens vom November 1911 kann mit aller
absprechender Kritik an unseren neuen Erwerbungen nicht aus der Welt geschafft
werden, mit einer Kritik übrigens, der, auch wenn sie von Fachmännern aus
Augenschein geübt wird, immer die Unsicherheit ihrer Grundlage entgegengehalten
werden muß. Bekräftigt wird diese Auffassung und die Möglichkeit weiterer
Entfaltung ferner dadurch, daß Frankreich im Abkommen mit Deutschland zwar
nicht ausdrücklich auf sein vertragsmäßiges Vorkaufsrecht auf den Kongo ver¬
zichtet, aber sich verpflichtet hat, im Kongobecken keine territorialen Veränderungen
vorzunehmen ohne Deutschland und die anderen Signatarmächte der Kongoakte,
so daß also die weitere internationale Behandlung des Problems gesichert ist.
Und das ist für Deutschland zunächst die Hauptsache.
Wichtiger bleibt aber doch die Haltung Englands. In dieser ist nicht nur
allgemein, sondern auch Afrika gegenüber eine deutlich erkennbare Änderung
eingetreten. Die vorliegende Schrift erinnert mit berechtigtem Nachdruck an
die außerordentlich wichtige Erklärung, die Sir Edward Grey im Parlament
am 27. November 1911 abgegeben hat und die hier im Hauptteile wieder¬
gegeben werden muß:
„Nach meiner Ansicht — wenn ich auch in dieser Frage nur für mich selber
sprechen möchte — ist es eine weise Politik für England, daß wir uns so wenig
wie möglich weiter ausdehnen, namentlich durch künftige Erwerbungen in Afrika.
Natürlich gibt es gewisse Gebiete in Afrika, die in absoluter Grenznachbarschaft
mit britischen Besitzungen liegen, namentlich mit denen der südafrikanischen
Union, und die wir nicht in andere Hände kommen lassen könnten, wenn terri¬
toriale Veränderungen stattfinden sollten. Und wenn es zu großen territorialen
Veränderungen käme, so würde es in der Nachbarschaft britischen Gebiets andere
Fragen wie Grenzregulierungen geben. Aber das ist keine Expansionspolitik,
und wenn es so große territoriale Veränderungen in Afrika geben sollte, die
natürlich in Freundschaft und durch Verhandlungen mit anderen Mächten Zu¬
standekommen müßten, dann sind wir, wenn Deutschland mit anderen
Ländern freundschaftliche Vereinbarungen in bezug auf Afrika treffen
will, nicht bestrebt, ihm und den anderen Ländern in den Weg zu
treten. Ich halte das für eine weise Politik für England, und wenn es für
uns eine weise Politik ist. sich nicht in große Expansionspläne einzulassen, so
würde es nach meiner Meinung diplomatisch wie moralisch falsch sein, anderen
gegenüber eine mißgünstige Politik zu verfolgen."
Diese Erklärung ist damals vom Führer der Opposition gleichfalls abgegeben
worden. Ihr Sinn ist seitdem, auch in bezug auf andere Expansionsgebiete
der Erde, z. B. auf Persien, häufiger wiederholt worden, so daß wir berechtigt
sind, darin eine dauernde Neuorientierung der großen englischen Politik zu sehen,
für die sich ja auch sonst, in der Haltung Englands zur Balkankrise, im —
soweit man davon sprechen kann — politischen Programm des Königs Georg u. ä.,
eine ganze Reihe Symptome anführen lassen. Der durch die englische Politik
jetzt gehende Gedanke scheint doch zu sein das Bemühen, die Selbstverwaltungs¬
kolonien enger mit dem Reiche zu verbinden und, worauf in unserer Schrift
nicht hingewiesen wird, Ägypten und Indien unbedingt zu sichern und zu
diesem Zwecke gleichfalls miteinander zu verbinden. Man ist daher in Afrika
vorläufig gleichfalls saturiert, freilich mit allen Vorbehalten, die in der Rede
Sir Edwards ja recht deutlich ausgesprochen sind. Ist das alles richtig, dann
würde England einer stärkeren deutschen Expansion in Zentrafrika nicht feindlich
gegenüberstehen und auch an seiner Seite stehen, wenn in diesen Gebieten Neu¬
ordnungen Platz greifen würden, wie sie z. B. der vielberufene Geheimvertrag
zwischen England und Deutschland über Portugiesisch - Südwestafrika von 1898
schon vor Jahren als möglich in Aussicht nahm. Im einzelnen darauf einzu¬
gehen, ist gar nicht möglich, da hier in dieser Beziehung alles hypothetisch ist.
Und leicht wird es nicht sein, Fragen, wie z. B. das Katanga-Problem, in dem
Sinne zu lösen, wie ihn unsere Schrift anscheinend für möglich hält.
Darin aber stimmen wir mit ihr überein und darin liegt ihr Verdienst,
daß sie auf zweierlei so entschieden hinweist: auf die unbedingte Notwendigkeit
für Deutschland, sein Kapital und überhaupt seine expansiven Kräfte stärker in
Zentralafrika zu entwickeln, und zweitens, daß eine deutsche Expansion über¬
haupt und unter allen Umständen nur möglich ist unter Zustimmung Englands.
Diese Zustimmung muß Deutschland entweder freundschaftlich erwerben oder
sich erkämpfen. Jetzt liegt erfreulicherweise die erstere Alternative im Bereich
des Möglichen, nachdem es lange Jahre geschienen hatte, als könne sich
Deutschland die Ellbogenfreiheit nur in einem Kriege mit England erkämpfen.
Und wenn hier mit aller Vorsicht und gutem Willen weiter gearbeitet wird,
so ist wohl auch möglich und zu hoffen, daß dauernde Früchte daraus er¬
wachsen. Immer und immer wieder muß unsere öffentliche Meinung auf das
Unerbittliche dieser Situation hingewiesen werden und muß sie bei jeder Einzel¬
frage die Erwägung anstellen, ob sie ein Durchbiegen mit allen Mitteln und
allem Risiko wert ist und ob die allgemeine Situation Deutschlands das ge¬
stattet, die, wie zum Überfluß nochmals betont werden mag. von jenen beiden
oben bezeichneten Grundtatsachen nicht abweichen darf. Wir glauben, daß bei
aller Schwierigkeit der Probleme, die sowohl in Afrika wie in Vorderasien
liegen, zwischen Deutschland und Englrmd auf diesem Wege erfolgreich und
freundschaftlich weitergegangen werden kann und daß die Hoffnungen unserer
Schrift in gewissem Maße berechtigt sind. Nur müssen wir uns dabei völlig
von der Vorstellung frei machen, als ob uns bei diesen Auseinandersetzungen
etwas eigentlich bereits gehöre. Ein Recht auf koloniale Gebiete hat nur,
wer die Macht hat. Die hat England in Ägypten und in Südafrika und
anderswo gehabt. Und die damit gegebene Situation muß jede ernsthafte Er¬
örterung bei uns einfach akzeptieren. Die oft angestellte Erwägung, daß
England sich so viel erworben habe und wir nichts, daß gewissermaßen erst
eine Rechnung über alles das aus den letzten zwei oder drei Jahrzehnten auf¬
gestellt werden müsse, ist, wenn sie menschlich auch erklärlich ist, politisch einfach
naiv und scheidet aus jeder ernsthaften Diskussion mit den anderen, aus der
wir für uns etwas wollen, aus.
Es sind nicht gerade einfache und mit wenigen Schlagworten auszudrückende
Gedankengänge, die durch diese Broschüre ausgelöst werden. Das ist aber
das Charakteristische für unsere Weltpolitik überhaupt und das will natur¬
gemäß der allgemeinen Beurteilung bei uns so sehr schwer eingehen, die erklär¬
licherweise immer kurze, bestimmte Schlagworte und Forderungen verlangt, die
nicht einsieht, warum es dem Engländer oder Russen möglich ist, mit wenigen
Worten seine weltpolitischen Ansprüche auszudrücken, und warum uns das
nicht auch möglich sein soll. Wer sich mit den Dingen beschäftigt, braucht
dafür keine Erklärung. Das ist eben die Folge der deutschen Geschichte seit Be¬
ginn der Neuzeit, an der wir tragen, die überall in der Gegenwart noch auch
in den kleinen politischen Geschäften des Tages sich spürbar macht. Es ist
auch keine Frage, daß dadurch unsere offizielle auswärtige Politik einen Zug
der Undurchstchtigkeit und Unübersichtlichkeit erhalten kann. Der Verständige wird
sie darum nicht schelten können, sondern spüren, daß sie sich der Kompliziertheit
unserer Lage und der Schwierigkeit, unsere Forderungen im einzelnen klar zu
formulieren, stets bewußt ist. Daß sie dabei die großen Grundtatsachen
unserer politischen Existenz immer fest im Auge hält, sollte man ihr vielmehr
danken. Grundsätzliche Kritik, wie sie bei uns zur Genüge und oft genug
ohne ausreichende Kenntnis geübt wird, wäre nur dann gerechtfertigt, nenn
diese Kompliziertheit unserer Lage und Stellung zum Vorwande genommen
würde für die Vernachlässigung unserer eigentlichen Lebensinteressen, mit anderen
Worten: für die Scheu auch vor einem Kriege. Das ist aber erst recht nicht
der Fall. Unzweideutig genug ist von Deutschland mehrmals in den letzten
Jahren erklärt worden, daß es vor einem Kriege nicht zurücksehend, und viel¬
leicht noch wirksamer als dies ist, daß im letzten Winter neben der klug sich
zurückhaltender, auf den Frieden bedachten Diplomatie unseres Reiches von
demselben Staatsmann die Durchführung der größten Rüstungsvorlage in die
Wege geleitet worden ist, die Deutschland bisher gesehen hat. Das gehört
innerlich durchaus zusammen, und aus all den schwierigen und nicht ganz
übersichtlichen Gedankengängen, die hier entwickelt worden sind, leuchtet doch
mit größter Stärke das eine hervor, daß Deutschland in der Hauptsache, ohne
daß wir das (rückendeckende) Bündnis mit Österreich unterschätzen wollen, auf
seine eigene Kraft angewiesen bleibt. Wenn die deutsche große Politik in den
Wirrnissen dieses Winters unbedingt auf den Frieden hingearbeitet, zugleich aber
um eine entsprechende Rüstung unseres Volkes sich bemüht hat, für den Fall, daß
aus allem doch die Notwendigkeit eines nicht gewollten, aber auch nicht gefürchteten
Krieges entspringt, so stand und steht sie damit auf einem Standpunkte, der genau
den realen Interessen unseres Volkes entspricht. Sie beherzigt dabei vollkommen
die abgedroschen klingenden und doch ewig wahr bleibenden alten Sätze, daß die
Politik die Kunst des Möglichen und der Krieg nur die Fortsetzung der Politik
rin anderen Mitteln ist.
s sind von je die stolzen Eroberervölker, es sind die von Skan¬
dinavien, der früheren, und von Deutschland, der späteren Völker¬
wiege, ausgehenden Herrenvölker gewesen, die bei Regelung der
Frage, wer zu ihnen gehöre oder nicht, gefußt haben auf dem
reinen Blutsrechte, dem sogenannten Personalgrundsatze. Wenn
Haus und Hof den zweitgeborenen Ritterkindern keinen Raum mehr ließen,
wenn sie an Nordfrieslands Küste ihr Schwert, den kurzen Sachs um sich banden
und die Kriegskähne ins Wasser schoben, um die britischen Kelten totzuschlagen,
dann war diesen Enterbten nur dreierlei heilig: ihr Blut, ihre Familie, ihr Volk.
Letzten Endes mag denn auch der vielbewunderte englische Grundsatz, der bis
zum Jahre 1870 in unbeschränkter Geltung war, jener Grundsatz nämlich, daß
die englische Untertanenschaft im Auswanderer unzerstörbar sei bis zu Kind und
Kindeskind, zurückzuführen sein auf das Jahrhundert der Hengist und Horsa,
auf unser fahrendes und doch so sehr an sich selbst festhaltendes Volk. Das
waren wir auch später noch, als wir „gen Oostland" fuhren. Wir waren es,
bis Hanse und Deutschorden niedergingen, bis hin in die Zeit, in der der
Dreißigjährige Krieg uns den Rest gab und das neuentdeckte Amerika unsere
Enterbten aufnahm. Diese freilich kamen waffenlos, gedrückt und zermürbt,
ein armselig „Heer ohne Offiziere". Damals war es denn auch mit der Voll¬
geltung unseres Blutes- und Abstammungsrechts zu Ende, der amerikanische Boden
bürgerte alle ein, die sich auf ihm niederließen.
Nicht daß es erst im amerikanischen Rechte entstanden wäre, dieses dem
Erobererrechte (Personalgrundsatz) entgegengesetzte, von dem großen überseeischen
Einwanderungslande verfochtene Territorialprinzip (Bodenrecht). Allüberall viel¬
mehr, wo sich in alter Zeit jenseits der See und des Rheines unsere angel¬
sächsischen und fränkischen Staatengründer in dünner Herrenschicht über Kelten
und Romanen setzten, allüberall, wo sie ihr Capua fanden und das Wandern
verlernten, mußte sich dieser Schwertadel den Boden und die auf ihm geborenen
Menschen dienstbar machen. Die Leibeigenschaft ist ein Auswuchs dieser Boden¬
herrlichkeit. Wie später selbst der kleinste Grundherr sein: „Die Luft macht
eigen" aufstellen und seine Knechte an die Scholle binden konnte, so hat es
schon unter den fränkischen Herrschern den Grundsatz gegeben, daß der Boden
eigen, wehrpflichtig und staatsangehörig mache und daß er den stammesfremden
Zuwanderer, vor allem aber auch seine, auf dem fürstlichen Territorium ge¬
borenen Kinder ohne weiteres ergreife.«'
Der Gedanke, daß die Geburt auf dem Staatsboden für die Staats¬
angehörigkeit entscheidend sei, ist der wichtigste Inhalt des Territorialprinzips,
ausgebildet überall dort, wo, wie in Rußland, der von Norden vordringende
Waräger oder wo, wie in Frankreich, die burgundisch-fränkischen Staatengründer
darauf angewiesen waren, das bodenständige Volk zu sich heranzuziehen, um
schließlich selbst bodenständig zu werden.
In Rußland geriet der dünngesäete, dem Wasser entfremdete Germane
in die Steppe und in ein slawisches Nitschewo hinein. Deshalb bildete sich
dort das Bodenrecht in einem engherzigen auf das Blutsrecht völlig ver¬
zichtenden Sinne aus: erst langsam und erst in unseren Tagen löst sich Ru߬
land von einem Gesetze, das den Auswanderer verstößt und die Auswanderung
zeitweilig sogar unter Strafe stellt. So sehr hat Rußland das im Auswanderer
fortwirkende russische Blut über dem ausgeprägten russischen Bodenrechte ver¬
gessen können.
Wie anders das Seefahrerrecht der Normannen und der Angelsachsen.
Wo der Germane an „See und Sand" saß, wo das freie Meer seinen Geist
befreite, da hat er das Stammes- und Personalrecht unabhängig vom Boden¬
rechte hoch gehalten. stolzer in der Tat und schärfer konnte das Recht des
Blutes nicht zum Ausdrucke kommen, als in der „Magna Charta" von 1215:
„I^lese uruLuiqus sxire as nostro reZno — falva kiäs nostra." — „Jedermann
mag abwandern aus unserem Königreiche, unbeschadet der Treue zu uns."
Manchem mag freilich das „falva kiäe ne>8tra" allzusehr nach einem Zwange
des Auswanderers zur Königstreue klingen. England selbst aber hat diesem
Grundsatze der Unzerstörbarkeit seines Bürgerrechts mit seinem Gesetze vom
Jahre 1870 den Zwangscharakter genommen. Die Unzerstörbarkeit beruht
seitdem nur noch auf dem freien Willen seiner Auslandsbürger. Zudem auf
einer klugen, teils entgegenkommenden, teils ausweichenden Behandlung des
etwa freiwillig oder automatisch erworbenen fremden Bürgerrechts und endlich
auf der Wehrfreiheit, die für den Auslandsbriten eine von dem Ausland¬
deutschen grundverschiedene Lage schafft. Neben Englands kolonialer, politischer
und wirtschaftlicher Machtstellung liegt ganz überwiegend in dieser Wehrfreiheit
der unleugbare Vorsprung, den die englische Treue gegenüber der deutschen in
der Welt da draußen besitzt.
Durch das bisherige deutsche Gesetz wurde dieser Vorsprung vergrößert:
Deutschland schickt sich erst jetzt an, jene auf rein militärischen, auf rein preußisch-
binnendeutschen Grundsätzen beruhende, mehr als ein Menschenalter hindurch
in Geltung gewesene Bestimmung zu beseitigen, die den Auslandsdeutschen zwar
zehn Jahre nach der Abwanderung hindurch der Wehrpflicht halber am Reiche
festhielt, ihn aber, wenn er nicht innerhalb dieser Zeit für seine Eintragung in
die Listen des Konsuls sorgte, nach Fristablauf aus der reichsdeutschen Gemeinschaft
ausstieß.
Eines von deutschen Heeresbedürfnissen diktierten Zwanges zum Verbleibe
beim Reiche, wie er in jenen zehn Jahren lag, glaubt Deutschland, obwohl es
im Inlande fortan alle wehrfähigen Männer zur Fahne heranziehen will,
künftig entraten zu können. Damit entfällt auch die oft als geringschätzig be¬
zeichnete Art, in der Deutschland bislang, allen Mahnern zum Trotze, die Er¬
haltung der überseeischen Reichsgemeinschaft vernachlässigte. Man verlangte
bislang vom Deutschen, daß er den Willen, über zehn Jahre hinaus deutsch
zu bleiben, innerhalb der zehn Jahre durch den Antrag auf Eintragung in die
Listen der Konsuln bekunden solle. Man stellte also die staatliche Vermutung
einer mangelnden Treue auf, widerlegbar lediglich durch die Eintragung. Es
war der norddeutsche Bund, der wenige Jahre vor der Reichsgründung diese
für mehr als ein Menschenalter in unsere Reichsgesetzgebung übergegangene
Bestimmung schuf, die von unseren nationalen Verbänden mit anhaltender Ver¬
bitterung schon darum bekämpft worden ist, weil sie des deutschen Blutes im
Auswanderer und seinen Kindern nicht achtete und ausging von der Meinung,
die Wehrpflicht werde in Vätern und Söhnen den Willen zum Deutschtum
immer wieder zerstören.
Diese Meinung und die aus dieser Vermutung hervorgegangene Be¬
stimmung war einseitig, aber sie war ihrem geschichtlichen Ursprünge nach nicht
ganz so unbegreiflich, wie sie uns Deutschen von heute erscheinen möchte. Und
auch künftig werden wir auf Englands Vorsprung, sollte sich unser neues Reichs¬
gesetz selbst zum verständigsten von der Welt gestalten, solange mit einer ge¬
wissen Entsagung blicken müssen, als nicht entweder Deutschland seinen Aus-
landkindern die Wehrfreiheit gewährt oder England sich unter dem Drucke
kontinentaler Kräfte veranlaßt sieht, auch seinerseits die allgemeine Wehrpflicht
einzuführen. Es ist bitter aber wahr, und wird trotz aller überaus anerkennens¬
werten und im neuen Gesetzentwurfe geplanten Erleichterungen immer Wahrheit
bleiben, daß der Auslanddeutsche sich mit der Eigenschaft eines Trägers unserer
Kultur trösten, aber die reichsdeutsche Eigenschaft fast immer abstreifen wird,
wenn er sich oder seine Kinder vor die Notwendigkeit gestellt sieht, über das
Weltmeer, sei es auch mit Unterstützung aus dem speziellen Reichsfonds, zurück¬
zueilen, um in Deutschland oder seinen Kolonien Waffendienst zu tun. Daß
dieser Reichsfond bislang kaum jemals, vielleicht sogar noch nie in Anspruch
genommen worden ist, zeigt leider, wie wenig alle sonstigen persönlichen Er¬
leichterungen eine größere Bereitwilligkeit zu dem oft enormen Opfer erhoffen
lassen. Wenn überhaupt, wird man nur an Angehörige derjenigen Kreise denken
dürfen, aus denen sich die Einjährig-Freiwilligen rekrutieren; gerade hier jedoch
steht die seltene Ausstattung der deutschen Auslandschulen mit der Berechtigung
zum einjährig-freiwilligen Dienste der Ausübung der Wehrpflicht im Wege.
Mag es also selbst unter fremdem Kleide fortleben, das alte deutsche Blut,
für unser Reich als solches zerstört die teuto-germanische Wehrpflicht nur gar
zu leicht unser von Ewigkeit her ererbtes Blutsrecht der Normannen, Sachsen
und Franken.
Angesehene deutsche Auslandkreise, so unter anderem der Verband deutscher
Flottenvereine im Auslande, haben deshalb für die Auslanddeutschen Wehr¬
freiheit gefordert. In unserer eisernen Zeit war es das begreifliche Schicksal
dieses Gedankens, daß ihn der deutsche Reichstag schon in der ersten Lesung
des Neichsangehörigkeitsgesetzes verwarf und an seiner Stelle den Grundsatz,
daß auch fürderhin keine Reichsgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft bestehen
solle, auf den Schild erhob. Eine im Reichstage noch nicht erörterte, aber
überaus wichtige Ausnahme ließe sich vielleicht für die im Auslande geborenen
Kinder reichsdeutsch gebliebener Väter schaffen, denn die Wehrfreiheit ihrer
künftigen Kinder könnte den Deutschen im Reiche schwerlich den Anreiz zur
Auswanderung bieten. Die Wehrfreiheit dieser Auslandgeburten oder ihre
grundsätzliche Überweisung zur Ersatzreserve ist aber auch das einzige, was sich
zur Stärkung unserer kaufmännischen und kulturellen Auslandarmee erörtern
ließe. Wir werden insbesondere verzichten müssen auf den in seiner geschmei¬
digen Einfachheit überaus bemerkenswerten Weg, den das britische Blutsrecht
einschlägt, um sich dem dauernden Einflüsse fremden Bodenrechts zu entziehen.
Solange und nur genau solange, als der in Brasilien oder Argentinien, in
Frankreich oder sonstigen Ländern des Okzidents — denn diese alle huldigen
auf eigenem Boden dem Territorialgrundsatze — geborenen und durch die
bloße Tatsache seiner Geburt eingebürgerte Engländer sich in dem Rentamte
seiner Geburt aufhält, achtet England des fremden Bodens, der fremden Luft,
der fremden Herrschaft und des fremden Bürgerrechts. Mit der Rückkehr in
die Heimat lebt der unverwüstliche John Bull wieder auf. Ein Antrag auf
Wiederaufnahme wird nicht erfordert. Das Band braucht nicht neu geknüpft
zu werden, denn es war niemals zerrissen.
So kann ein Volk nur dann handeln und in dieser ungeschwächten Art
kann ein stolzes Blutsrecht nur dann wieder aufleben, es kann, kurz gesagt,
auf eine ausdrückliche Äußerung des Treuwillens und auf den von unseren
Rücksiedlern so sehr gescheuten Gang in die Vorzimmer der Behörden nur dann
verzichtet werden, wenn dem Heimwanderer keine Bürgerlast, keine Wehrpflicht
entgegentritt.
Und es ist nicht nur das englische Blut, es ist nicht nur die englische
Wehrfreiheit, die also wirken. Es ist auch der englische Boden. Denn nur
Deutschland, nur die teuto-germanische Mutter der Nationen und mit ihr das
Reich der Habsburger, unter allen großen Kulturvölkern diese beiden ganz
allein, verzichten noch heute auf jede einbürgernde, insoweit also auf jede staats-
und volkserhaltende Kraft ihres Bodens. Kein deutscher Geburtsschein, und
stamme er vom Vater und Großvater, vermag unser Deutschtum zu beweisen,
denn die Geburt auf dem Reichsboden sagt nichts. Wir gründen vielmehr
unseren staatlichen Zusammenhang auf ein vom Boden gänzlich losgelöstes
Abstammungsrecht, als hätte sich unser Volk nicht verändert, seit unsere Kähne
in See stachen und unsere Planwagen aufbrachen aus den vlämischen
Niederungen zur Fahrt „gen Oostland". Weil das Leben des einzelnen schnell
dahinfährt, mag es für uns letzten Endes fast gleichgültig sein, ob sich der
nach Deutschland zurückkehrende Auswanderer für seine Person die deutsche
Nationalität wieder aneignet. Unser Interesse liegt bei seinen Kindern, die
mit ihm zurückkehren oder bei uns geboren werden, und bei seinen Enkeln.
Unser Interesse liegt darin, daß ehemals deutsche, mit einem fremden Bürger¬
rechte ausgestattete Familien nicht durch Generationen hindurch als Fremde
unter uns wohnen. Solchen Möglichkeiten und Erscheinungen gegenüber ver¬
missen wir ein deutsches Bodenrecht. Es tritt uns die Tatsache vor Augen,
daß deutsche Luft nicht deutsch macht, daß deutsch vielmehr nur die deutsch¬
gebliebenen Kinder deutschgebliebener Väter sind, einerlei, ob die Familie ihre
Zelte in Wiesbaden, am Missisippi oder am Silberstrome aufschlüge. Hat das
russische Recht seine Menschen und seinen Staatsbegriff bis in die heutige Zeit
hinein in unfreier Form an den Staatsboden gebunden, so ist es, als wären
wir in umgekehrter Richtung nicht vorangeschritten: unser Recht ist vom Boden
losgelöst, wie keines. Es ist, als würden wir noch heute im Wikingerschiffe
und nicht unter den heimischen Eichen geboren. So sehr hat also umgekehrt
Deutschland über dem germanischen Blutsrecht ganz des deutschen Bodens ver¬
gessen können. Der Grund ist zu suchen in unserer kriegerischen Vergangenheit,
die seit den Tagen Albrechts des Bären und des Deutschordens eine Krieger¬
kaste über wendisch-slavische Bauern setzte und in dem gegenwärtigen Zurück¬
sinken dieses eingedämmten Polen- und Slawentumes. Deutschland will sich die
Art erhalten, die seine Schlachten schlug, so sehr sie auch in den unteren
Schichten von je durchsetzt war mit fremdem Blute.
So konnte es kommen, daß eine, in der nordwestlichsten Ecke unseres
Reiches sich abspielende Frage, wie diejenige der dänischen Heimatlosen, die
Arbeit der für größere Dinge bestimmten Reichstagskommission ernstlich zu
hemmen vermochte. Diese „Südjüten", kaum unterscheidbar von den Deutschen
Nordschleswigs, berufen sich auf ein Naturrecht deutscher Geburt, das Deutsch¬
land nirgends kennt. Die Frage wird künstlich verschärft durch den Umstand,
daß der dänische Jnseltrotz zwar eine Volksgemeinschaft aller „Dänen" nach¬
drücklichst betont, in staatlicher Hinsicht aber eine Reichsgemeinschaft und eine
dänische Staatsangehörigkeit diesen Nachkommen in Dänemark geborener Menschen
versagt, nur um Preußen zu zwingen, sie zu widerwilligen Preußen zu machen.
Es ist unschwer festzustellen, daß Dänemark dabei Unrecht tut. Aber ebenso
offensichtlich ist es, daß eine Zeit kommen wird und muß, in der auch wir uns
dem Territorialgrundsatze der übrigen Völker bei unserem eigenen Staats¬
angehörigkeitserwerbe nähern.
Empfohlen werden soll die Einführung einer deutschen Geburtseinbürgerung,
eines deutschen Bodenrechts zur Stunde nicht. Denn die Zeit dafür ist noch
nicht reif, die Zeit geht in Waffen, und einstweilen mag es gelten, unser
Krieger» und Herrenrecht. Ansätze zur Änderung der deutschen Auffassung sind
jedoch bereits in den Kommissionsverhandlungen des Reichstags über das neue
Gesetz festzustellen. Man will denen, die als Kinder Nicht-Reichsdeutscher bei
uns geboren und erzogen sind, die erleichterte Möglichkeit geben, reichsdeutsch
zu werden. Der Boden ihrer Geburt bürgert sie nicht — wie in England
und Frankreich — ein, aber sie sollen mit erleichterter Erfüllung den Willen
äußern dürfen, diesem Boden anzugehören.
Im übrigen darf man sich freuen, daß unser neuer Gesetzentwurf geeignet
ist, unser deutsches Blutsrecht im Auslande zu fördern und uns mehr als bisher
davor zu bewahren, daß uns, die wir die Einheitlichkeit der Familie achten,
stets mit den Vätern auch die Söhne verloren gehen. In allen Geschlechter¬
folgen sollen sich künftighin die Söhne und Enkel verlorener Deutscher mit dem
Antrage auf Wiederaufnahme in den Reichsverband im Auslande, also auch
ohne Wohnsitz in Deutschland, beim Konsul melden dürfen. Der Reichskanzler
und nicht mehr allein eine einzelstaatliche Jnlandbehörde soll über ihre Gesuche
entscheiden dürfen, denn es soll ihnen — darin ist die Kommisston einem Vor¬
schlage des Verfassers dieser Zeilen gefolgt — bei einer Wiederaufnahme die
reichsunmittelbare Zugehörigkeit zu unserem Staatsvolke gewährt werden.
le Zeitungen brachten neulich eine Notiz, die nicht genug beachtet
werden kann und die blitzartig eine Anstrengung Frankreichs auf¬
deckte, von der man in Deutschland wenig weiß. Sie teilte mit,
daß französische Kreise im Hinblick auf das Lernbedürfnis der
chinesischen Jugend sich mit dem Gedanken beschäftigen, junge
Chinesen, die in Frankreich studieren wollen, zu unterstützen; dabei wurde er¬
wähnt, daß ein Chinese Li vorgeschoben sei, um dem Unternehmen keinen
amtlichen Anstrich zu geben. Die folgenden Zeilen sollen nun ein Licht werfen
auf die Kräfte, die in stiller und zielbewußter Arbeit, zum Teil hinter den Kulissen
tätig find, um den Kultureinfluß Frankreichs zu verbreiten und zu verstärken
und so auch politischen Einfluß zu gewinnen. -Unsere Nachbarn machen darin
augenblicklich große Anstrengungen. Man verbreitet systematisch die Kenntnis
der französischen Sprache, Literatur und der sonstigen französischen Kultur über
den ganzen Erdball. Man betont drüben, daß unsere Expansion militärischer,
industrieller, handelspolitischer, die französische aber geistiger, kultureller Natur ist.
In erster Linie hat man dabei die lateinischen Schwesternationen Spanien
und Italien, ferner auch Rußland bearbeitet. Es sind dort sogenannte fran¬
zösische Institute gegründet worden, die zum Teil weiter nichts sind als kleine
Universitäten und die vom Ministerium des Auswärtigen pekuniär reichlich unter¬
stützt werden. Man organisiert in diesen Ländern umfassende Vorlesungskurse
über französische Sprache, Literatur, Geschichte, Kunst, handelspolitisches Leben
und die sonstige Kultur Frankreichs.
Zuerst haben sich die drei Universitäten Bordeaux, Toulouse, Montpellier
zusammengetan, um in dieser Weise in Spanien vorzugehen. Professoren dieser
Universitäten werden an die spanischen wie Barcelona, Salamanca, Burgos, Madrid
geschickt, um Vortragsreisen über französische Kultur zu veranstalten; vielfach
gründen sie zu gleicher Zeit französisch-spanische Studentenvereinigungen. Die
Krönung des ganzen bildet ein Institut in Madrid, das der Herd des französischen
Kultureinflusses in Spanien ist und das seine Lehrkräfte von jenen drei
südlichen Universitäten Frankreichs bezieht. Die Universitäten Lyon,
Grenoble, Marseille haben als Feld derselben Betätigung Italien über¬
nommen. Sie haben mit vielen italienischen Universitäten Beziehungen
angeknüpft, vor allem mit Florenz, wo ebenfalls ein Institut besteht. Es
soll die wissenschaftlichen und literarischen Bande zwischen beiden Ländern
verstärken und sorgt für französische Vorträge aller Art. Auch eine französisch¬
italienische Zeitschrift erscheint in der Arnostadt. Vor allem hat man sich aber
in Nußland festgesetzt. Man kann sagen, daß eine wirkliche kleine französische
Universität in Petersburg gegründet worden ist. Sie soll angeblich der Mittel¬
punkt des Studiums der slawischen Kultur für französische Gelehrte und
Studenten sein; in Wirklichkeit ist sie ein Herd des französischen Kultureinflusses
in Nußland. Auch Stipendien werden verliehen, um Franzosen den Besuch
dieses Instituts zu ermöglichen; ferner erscheint dort eine französische Zeitschrift.
Von hier aus wird ganz Nußland mit einem Netz französischer Darbietungen
wissenschaftlicher und künstlerischer Art überzogen. Die Universitäten Paris
und Nancy haben die slawische Welt als Arbeitsdomäne zugewiesen erhalten.
Vor einer Reihe von Jahren ließen sich in einer gewissen Wiener Presse deutsch¬
feindliche Stimmen hören. Das mußte dem nicht auffällig erscheinen, der weiß,
daß seit Jahren französische Bemühungen im Gange sind, auch in der Donau¬
stadt ein französisches Institut zu gründen und Wiener Zeitungen in Abhängigkeit
von französischem Gelde zu bringen. Diese Bestrebungen finden in Österreich
mächtige Bundesgenossen in den Tschechen und Polen, die immer franzosen¬
freundlich gewesen sind. In ähnlicher Weise versucht man schon lange gegen
den deutschen Einfluß in Konstantinopel vorzugehen. Französische Sprache und
Kultur sind dort seit den Kreuzzügen populär; das Andenken an die „Franken",
an Napoleon den Ersten ist noch heute im Orient lebendig. Am heftigsten
ist der Kampf zwischen französischer und deutscher Kultur in Belgien. Auf die
Einladung der Sorbonne hielt im Winter 1910/11 ein belgischer Professor
von der Universität Lüttich in Paris eine Reihe von Vorträgen über den
Gegensatz zwischen Vlamen und Wallonen; sie waren zum Teil recht deutsch¬
feindlich. In Lüttich hat man außer zwei großen Vereinigungen zur Ver¬
breitung der französischen Sprache um 1909 herum eine sogenannte internationale
Liga der französischen Freundschaften gegründet, die es sich zur besonderen
Aufgabe macht, überall in der Welt die französische Kultur gegen Angriffe zu
verteidigen. Sie hat Ortsgruppen in Belgien, Holland. Luxemburg, vielleicht
auch in Elsaß-Lothringen, in der Schweiz, in Italien, Spanien und natürlich
auch in Frankreich. Sie organisiert im Auslande französische Rezitationen und
Theatervorstellungen, auch Studienreisen dorthin. Französische Theatergesellschaften
gehen bis nach Japan. In den letzten Jahren hat sich die Pariser Universität
zu denen der Vereinigten Staaten in Beziehung gesetzt. Amerikanische Pro¬
fessoren kommen jetzt auch nach Frankreich und halten an der Sorbonne und
selbst an den Provinzuniversitäten Vorlesungen über ihr Vaterland. Ich erwähne
unter ihnen den Professor Barret-Wendet, der 1904 von der Harvard-Universität
an die Sorbonne geschickt wurde. Seine Erfahrungen hat er in einem Buche
niedergelegt, das jeder studieren sollte, der sich in ernster Weise mit französischen
Verhältnissen beschäftigt. Anderseits werden französische Professoren nach den
Vereinigten Staaten gesandt. Schon im Jahre 1898 unternahm der bekannte,
aber darum noch nicht bedeutende Literarhistoriker Doumic eine Vortragsreise
durch das Dollarland; in den letzten Jahren auch der hervorragende Verfasser
der wissenschaftlichsten französischen Literaturgeschichte Lanson. Im vorigen Jahre
reiste eine wirklich „illustre" Abordnung nach Kanada; ihr gehörten u. a. an
der ehemalige deutsch-freundliche Minister des Auswärtigen Hanotaux, bekannt
als Geschichtsschreiber des großen Kardinals und der dritten Republik, ferner,
wenn ich nicht sehr irre, der jetzige Ministerpräsident Barthou. Auch Henri
Bergson, den hochbedeutenden eigenartigen Philosophen am LollöM ac Trance,
dem die gelehrte Welt Deutschlands, z. B. Windelband, immer größere Auf¬
merksamkeit schenkt, und den Schriftsteller Firmin Roz hat man über das Wasser
geschickt, und sie sollen nach allem, was man hört, mit der dem Franzosen an¬
geborenen glänzenden Vortragsweise tiefe Eindrücke hinterlassen haben. Man
sieht aus diesen Namen, welchen Wert unsere westlichen Nachbarn darauf legen,
die Amerikaner mit ihrem Geistesleben bekannt zu machen, und die Persönlich¬
keiten zeigen, daß man babi,i auch an die politischen Folgen denkt. Die Kolumbia-
Universität wollte jedes Jahr ein sogenanntes französisches Semester organi¬
sieren; es ist mir nicht bekannt, ob dieser Plan zur Ausführung gekommen ist.
Gerade so wie wir, wenden die Franzosen ihre besondere Aufmerksamkeit
den lateinischen Staaten Südamerikas zu. Diese standen bis jetzt vollständig,
'
unter französischem Kultureinfluß, der nun von angelsächsischer und deutscher
Seite ernstlich bedroht wird. Dort war bisher französische Zivilisation mit der
europäischen identisch, und Paris galt als die Kulturhauptstadt der Welt. Wie
Feldmarschall von der Goltz, war auch der bekannte deutschfeindliche Staats¬
mann Clomenceau in Argentinien, wo er Vorträge über Frankreich gehalten
hat. Ein französisch-amerikanisches Komitee hat sich gebildet, das den Austausch
von amerikanischen und französischen Studenten vermittelt.
Unter den sonstigen französischen Bildungsherden in der Welt nenne ich
die medizinische Fakultät in Beyritt, die ganz Vorderasien mit Ärzten und
Apothekern versorgt und die man jetzt zu neuer Blüte bringen will.
Ferner gibt man in verschiedenen Ländern französische Zeitschriften heraus,
die meist ausgezeichnet redigiert sind und dort viel gelesen werden. So z. B.
eine in Ungarn, wo die kulturelle Sympathie für Frankreich immer lebendig
gewesen ist; aber die dem Magyaren angeborene politische Klugheit läßt solche
Kulturfreundschaft hinter seine realen Interessen zurücktreten. Auch für Rußland,
für die skandinavischen Länder und für Brasilien erscheint je eine französische
Zeitschrift. Eine andere interessiert uns Deutsche besonders: I^es NareneZ as
I'L8t, die Ostmarken; sie soll den französischen Einfluß in Belgien, Luxemburg,
Elsaß-Lothringen und in der Schweiz stärken. Sie hat z. B. in Böhmen und
Polen besondere Korrespondenten, deren Beiträge natürlich einen tiefen Haß
gegen uns atmen. Im Jahre 1911 veröffentlichte darin der nun verstorbene
Artilleriegeneral Langlois, Mitglied der Akademie, einen interessanten Aufsatz
über den Aufmarsch der deutschen Heere an der Grenze im Kriegsfalle. Daß
wir die Neutralität Belgiens, Hollands und der Schweiz nicht achten werden,
steht für ihn fest; so sollte auch dieser Artikel Mißtrauen gegen uns säen.
Durch besondere Maßregeln im Innern wird nun diese Kulturexpansion
sachgemäß und geschickt ergänzt. Man sucht systematisch ausländische Studenten
an die französischen Universitäten zu ziehen. Das ganze Hochschulwesen Frank¬
reichs ist jetzt mit auf sie zugeschnitten, besonders seit der Reform von 1902,
als man die Provinzialuniversitäten nach deutschem Muster selbständiger machte
und aufbaute. An allen Universitäten gibt es besondere Kurse für Ausländer,
besondere Komitees, um sich ihrer in jeder Beziehung anzunehmen. Sogar
Stipendien und Freistellen für ausländische Studenten sind vorhanden. Tür¬
kische und ägyptische Studenten wiesen bei meiner Frage, warum sie nicht nach
Deutschland gingen, auf alle diese Unterstützungen hin, die sie in Frankreich
fänden. Mohammedaner und Chinesen sucht man jetzt besonders nach Frank¬
reich zu ziehen. Die /^lllÄNLe iranLaiss ist auf diesem Gebiete hervorragend
tätig, hat unstreitig großartige Erfolge erzielt und ist auch gut organisiert. An
den meisten Universitäten, während des Sommers auch in französischen See¬
bädern, hat sie Vorlesungskurse für Fremde eingerichtet und sucht diese auf alle
mögliche Weise anzulocken. Sie gründet Ortsgruppen im Auslande, z. B. in
Petersburg, selbst in Deutschland. Im Jahre 1910 soll es zehntausend aus-
landische Zuhörer an französischen Universitäten gegeben haben. Das größte
Kontingent stellen die Slawen, vor allem die Russen, für die sogar eine besondere
französische Zeitung herausgegeben wird.
Diese Arbeit für die Ausbreitung der französischen Kultur vollzieht sich
nun — und das ist bemerkenswert — in einer für Franzosen verhältnismäßigen
Stille und Zielsicherheit; sie gehen hier ausnahmsweise ziemlich methodisch vor.
Mehrere Persönlichkeiten, die sich durch ihr organisatorisches Geschick — im
allgemeinen mangelt es den Franzosen daran — auf diesem Gebiete aus¬
gezeichnet haben, hat man ins Unterrichtsministerium berufen, um das Werk
der Kulturexpansion, weiter auszubauen. Der ehemalige tüchtige Minister Steeg
schenkte dieser Arbeit seine besondere Aufmerksamkeit.
Alle derartigen Veranstaltungen Frankreichs gehen nun darauf hinaus,
möglichst viel Zuhörer zu gewinnen, Interesse und Sympathie für französisches
Wesen zu erwecken, im Auslande Mittelpunkte des französischen Kultureinflusses
zu bilden und die Bande mit den betreffenden Ländern enger zu knüpfen; sie
sollen für das Mutterland „moralische Eroberungen" machen. Dabei tritt
mehr oder minder verhüllt eine bestimmte Tendenz zutage; die ganze Arbeit
steht im Dienste dessen, was man drüben die lass kran?al8s nennt. Man will
die Ideen der französischen Revolution, die Ideen von 1789, die Gedanken der
Völkerverbrüderung, der Abrüstung und der Schiedsgerichte in der Welt ver¬
breiten, den „kulturfeindlichen Militarismus" bekämpfen, vor allem das Dogma
jedes Franzosen der dogmensüchtigen romanischen und slawischen Welt ver¬
künden: die Überlegenheit der französischen Rasse und Kultur, die die Ver¬
treterin der modernen Menschheit und ihres Fortschrittes zum Weltfrieden ist.
Wer nun aber ist in der Welt der geschworene Feind dieser sozialistischen
Ideen? Wer allein zwingt Frankreich und die übrige Welt zu den gewaltigen
militärischen Rüstungen und hält sie davon ab, die Milliarden für Werte des
Friedens zu verwenden? Darin ist drüben alles einig: nur Deutschland!
Das moderne Deutschland ist nach der Meinung der Mehrzahl der gebildeten
Franzosen ein sogenannter Anachronismus, der Sitz des kulturfeindlichen Mili¬
tarismus und der politischen Unfreiheit in der Welt. Wir aber erwidern, daß
man instinktiv erfaßt hat: unser Heerwesen ist der Ausdruck einer heldischen
und aristokratischen Lebensauffassung, die dem Germanen im Blute liegt und
die allerdings der Todfeind der modern-französischen ist. Wir wollen sie darum
noch nicht verachten, aber müssen sie ablehnen, weil sie unserem Wesen nicht
gemäß ist, es fälschen und verderben würde. Kultur und Heeresdienst sind
dem heutigen Franzosen, wie Religion und Wissenschaft, totale Gegensätze, die
er nicht miteinander vereinigen kann. Als geborener Analytiker ist er im
allgemeinen zu der höchsten Leistung des menschlichen Geistes, zur Synthese,
zur Auflösung von Antinomien unfähig, also gerade zu dem, was der deutsche
Geist seiner Anlage nach in der Welt zu leisten berufen ist. Er kann nicht
frei und fromm zu gleicher Zeit sein, nicht Soldat sein und doch alle Werke
des Friedens schätzen, nicht Rechte und Pflichten, nicht Natur und Kultur
miteinander versöhnen, es sind ihm unfaßbare Gegensätze. Von unserer tief¬
sittlichen Auffassung des Heeresdienstes, von den Ideen Scharnhorsts, Steins,
Gneisenaus, Moltkes und von der Goltz' ahnt er nichts. Hier könnte —
darauf sei nebenher kurz hingewiesen — der Wehrverein nach Erledigung der
großen Militärvorlage mit seiner Arbeit einsetzen und seine Aufgabe innerlicher
gestalten, indem er die Massen darüber aufklärt, daß die deutsche Auffassung
vom Militärdienst sich mit allem Kulturfortschritt wohl verträgt; denn für
alles soldatische haben die breiten Schichten bei uns instinktiv Sinn und
Verständnis.
Es ist klar, daß die deutschfeindliche Tendenz der französischen Kultur¬
expansion schließlich von großer politischer Bedeutung ist. In unserem demo¬
kratischen Zeitalter werden die Stimmungen der Völker, ihre Antipathien und
Sympathien immer ausschlaggebender für die auswärtige Politik. Das fran¬
zösische Institut in Petersburg kann gar nicht anders wirken, als zur Demo¬
kratisierung Rußlands beitragen, die seit altersher deutschfeindlichen Tendenzen
der slawischen Welt verstärken. Der Herrscher eines sich immer demokratischer
entwickelnden Rußlands wird beim besten Willen nicht mehr imstande
sein, seiner Politik eine deutschfreundliche Richtung zu geben. Die letzten
Monate haben es gezeigt, wie schwer der besonnene und mindestens uns nicht
feindlich gesinnte russische Ministerpräsident gegen die Volksstimmung in seinem
Lande zu kämpfen hatte. Wie wird das werden, wenn die russischen Staats¬
einrichtungen noch demokratischer geworden sind! Der größte Teil der aus¬
ländischen Studenten in Frankreich stammt aus slawischen Ländern. Man kann
sich denken, daß z. B. Vorlesungen über Napoleon, über französische Geschichte
im neunzehnten Jahrhundert, über das europäische Gleichgewicht, über die elsatz-
lothringische Frage, wie sie den Fremden in gewohnter französischer „Objekti¬
vität" geboten werden, nicht geeignet find, freundschaftliche Gefühle für uns zu
erwecken; die alte Vorliebe der slawischen Völker für französische Kultur wird
nur noch zunehmen.
Deutschfeindliche Tendenzen machen sich bei unseren westlichen Nachbarn
selbst auf rein wissenschaftlichem Gebiete bemerkbar. Ich kann es hier nur
flüchtig andeuten. Man kennt den Kampf, den gewisse Kreise gegen die neue
Sorbonne führen, gegen ihre Germanisierung, gegen die deutschen Methoden,
die an der philosophischen Fakultät vorherrschen. Man wirft ihr vor, daß ihre
philologischen Forschungsmethoden unter deutschem Einfluß zur Vernachlässigung
der Form, zu übertriebener Spezialisierung, zu einem Niedergang des fran¬
zösischen Geisteslebens führen. Man wehklagt, daß sie die Franzosen zu einem
Volk von Zrammairien8 mache, daß die alten Vorzüge der französischen Sprache,
Klarheit, Schönheit und Anmut, dahinschwänden, daß schließlich die französische
Kultur nicht mehr ihren alten Reiz und Zauber auf die Fremden ausüben
werde.
Auf der Fähigkeit zur Objektivität, die bei uns oft zur Schwäche geworden
ist. beruht doch im Grunde unsere Überlegenheit über andere Völker. Sie ist
auf intellektuellem Gebiete, was die Nächstenliebe auf sittlichem ist: sie befähigt,
fremdes Wesen wie eigenes zu verstehen und zu schätzen. Diese Kraft der
Selbstentäußerung bewahrt uns vor Erstarrung und Selbstüberschätzung; sie läßt
uns nie fertig werden, uns immer wieder zulernen und begründet so unsere
geistige Überlegenheit. Bismarck will in seinen „Gedanken und Erinnerungen"
die Objektivität des deutschen Charakters sogar als einen politischen Vorteil
ansehen. Darum wollen wir nicht leugnen, daß die Vorliebe vieler Völker für
französische Sprache und Literatur aus Vorzügen unserer Nachbarn zu erklären
ist, daß die französische Kultur von altersher werbende Kraft besitzt. Dies fehlt
der deutschen; das sei hier nur kurz gestreift. Sie ist noch zu jung; erst vor
hundert Jahren haben wir die Grundlagen zu einem einheitlichen nationalen
Geistesleben gelegt. Darum entbehrt unsere Kultur noch der rechten Stileinheit
und Stilreinheit. Der französische Charakter, durchaus antiindividualistisch, und
die französische Geschichte, die zur Zentralisation des Landes hindrängte,
begünstigten die frühe Entwicklung einer geschlossenen, harmonisch durchgebildeten
Kultur. Über Stillosigkeit im Auftreten unserer Landsleute hat wohl jeder zu
klagen, der im Auslande gewesen ist. Es fehlt uns der romanische Formensinn,
daher wird der Deutsche so leicht formell oder neuerdings etwas affektiert. Die
einzige Seite, von der her wir einen einheitlichen Stil haben, ist bezeichnender¬
weise die militärische. Trotz allem Haß gegen den Militarismus reden auch die
sozialdemokratischen Volksredner durchaus in militärischem Stile von dem Marsch
und dem ehernen Tritt der Arbeiterbataillone, von der blutroten Fahne der
Revolution, um die sich alle scharen, von dem Korpsgeist und der Disziplin
ihrer Partei. Daher das unwillkürliche Interesse der breiten Volksmassen für
alles soldatische, daher die wichtige Rolle, die der Offizier als Erzieher zur
Vaterlandsliebe spielen kann! Alle Ausländer geben zu, daß in unseren besten
Offizierskreisen immer noch am leichtesten natürliche Vornehmheit des Verkehrs
zu finden ist.
In seinem angeborenen Formgefühl legt der Franzose auf gute Aus¬
bildung in der Muttersprache und Pflege seiner nationalen Literatur großen
Wert. Mag der Stoff noch so langweilig sein, man kann nicht leugnen, daß
selbst der französische Durchschnittsprofessor ihn in angenehmer und fesselnder
Form darbietet, und mag das Thema noch so verwickelt und schwierig sein, er
wird es in lichtvoller Klarheit und Faßlichkeit dem Verständnis seiner Zuhörer
nahezubringen suchen. Seine Fähigkeit zu eindringender Analyse befähigt den
Franzosen dazu, Kompliziertes zu klären; er scheidet und trennt gern und leuchtet
dann so lange in den Ecken herum, bis überall Licht ist. So gestand eines
Tages ein Deutscher, daß, wenn er einen schwierigen deutschen Philosophen ver¬
stehen wolle, er erst ein französisches Werk über ihn zu lesen pflege. Stileinheit,
Formensinn und Klarheit müssen aber Ausländer besonders anziehen, denn sie
erleichtern ihm die Mühe des Einarbeitens in die fremde Kultur. Dabei will
ich aber nicht die Kehrseite der Medaille unerwähnt lassen. In seinem Bedürfnis
nach Klarheit kennt der Franzose meist nur scharfe Gegensätze, keine vermittelnden
Übergänge. Es gibt für ihn im sittlich-religiösen wie im politischen Leben nur
entweder — oder, nur bigott oder ungläubig, nur schwarz oder rot, nur reaktionär
oder radikal. Er kann nicht die letzten dunkeln Tiefen und Rätsel unseres
Lebens fassen; unter seiner Hand wird leicht alles nicht nur wasserklar, sondern
verwässert und oberflächlich.
Mit der Einheitlichkeit der nationalen Kultur hängt auch die Kontinuität
einer machtvollen politischen Tradition zusammen. Aller Wechsel der Dynastien,
der Regierungsformen und Ministerien, alle Revolutionen haben sie nicht zu
erschüttern vermocht; die Marokkopolitik liefert dafür ein schlagendes Beispiel.
Sie ist die glänzende Krönung der jahrhundertealten französischen Mittelmeer¬
politik. Sie begann mit Ludwig dem Heiligen und seinen Kreuzzügen, wurde
fortgesetzt durch das Mittelalter bis zu Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon,
wieder aufgenommen von Louis-Philippe und in unseren Tagen von der dritten
Republik zum Abschluß gebracht.
Die alte einheitliche Kulturtradition macht sich auch noch in anderer Weise
geltend. So scharf sich die rechts und links stehenden Parteien, Klerikale und
Radikale, Nationalisten und Sozialisten bekämpfen, in einem sind sie sich doch
einig: die französische Kultur ist die erste in der Welt, ihren Wert bestreitet
keine Partei und kein Stand; ein hoher einheitlicher Kulturpatriotismus durch¬
zieht alle Schichten des französischen Volkes und mildert für den Ernstfall alle
innerpolitischen Gegensätze. Daher überschätzen wir die sozialistische und anti¬
militaristische Propaganda in ihren Wirkungen für einen Krieg gegen Deutschland.
Können wir im Hinblick auf den Ultramontanismus und die Sozialdemokratie
in demselben Maße von einem Kulturpatriotismus sprechen? Hier taucht das
Problem der nationalen Gestaltung unseres Unterrichts- und Erziehungswesens
auf, die Frage nach einer nationalen Einheitsschule, wobei ich freilich die Be¬
denken gegen letztere nicht unterschätze!
Wenn man die Zähigkeit sieht, mit der heute Frankreich still seine Kultur¬
expansion treibt, so fragt man sich unwillkürlich, ob die Stimmen recht haben,
die von einer besonderen Dekadenz Frankreichs sprechen. Der amerikanische Professor
Barret-Wendet, von dem schon vorher die Rede war, kam mit dieser Über¬
zeugung 1904 nach Paris. Nachdem er seinen Lehrauftrag an der Sorbonne
erledigt hatte, war er aus einem Saulus ein Paulus geworden, und sein Wer!
ist stellenweise ein Lobhymnus auf das heutige Frankreich. Jedenfalls merkt
der aufmerksame Beobachter, daß unsere Nachbarn seit ungefähr zwölf Jahren
auf allen Gebieten eine ungewöhnliche Tätigkeit, eine gewisse offensive und
expansive Kraft entfalten, an einem Aufstieg arbeiten. In der auswärtigen
Politik merken wir es zur Genüge; der Chauvinismus steht in voller Blüte.
Die junge strategische Schule tritt eifrig für eine kräftige Offensive in einem
zukünftigen Kriege ein. Das große nordafrikanische Kolonialreich zeigt, daß die
Franzosen als Kolonisatoren nicht so unfähig sind, wie man es gewöhnlich
glaubt. Berechtigter Stolz über die Leistungen in dem Automobil- und Flug¬
wesen erfüllt alle Franzosen. Seit der Reform von 1902 hat man im Schul¬
wesen Fortschritte gemacht, besonders in der Erlernung der Fremdsprachen; der
Geschichtsunterricht an den höheren Schulen ist, soweit es den Franzosen möglich,
etwas objektiver geworden. Auf philosophischem Gebiete erleben wir das Er¬
wachen des Idealismus und Optimismus in der Philosophie Bergsons, und
auf literarischem Gebiete haben wir die Erscheinung eines so bedeutsamen
Werkes wie es „Jean Christophe" von Romain Rolland ist. Jedenfalls ist die
la als siöcle-Stimmung vorüber, von einem müden Pessimismus bemerkt man
nichts mehr. Ich datiere diesen Umschwung von der Erledigung der Dreyfus-
Affäre, die Frankreich bis in seine Tiefen erschüttert und durchwühlt hat. Etwas
in der französischen Kulturgeschichte Unerhörtes trat damals ein: die literarische
Produktion, die sich bei unseren Nachbarn immer auf einer gleichmäßigen Höhe
bewegt, fing an zu stocken, und selbst die Theater waren ungewöhnlich leer.
Ich glaube zwar nicht an die Wiedergeburt des französischen Volkes, von der
man drüben voll Pathos und Überhebung redet, aus mancherlei Gründen, die
darzulegen hier zu weit führen würde. Aber es wäre eine gefährliche Täuschung,
von einer Dekadenz Frankreichs zu sprechen. Die französische Volksseele birgt
noch eine Unsumme von Lebensenergie in sich und hat der Welt schon oft
Überraschungen bereitet, zuletzt in dem mühseligen Winterfeldzug von 1870/71.
Wenn uns unsere Nachbarn militärisch und politisch in ihrem gallischen Hochmut
unterschätzen, so wollen wir es kühl hinnehmen, denn es kann für uns nur von
Vorteil sein. Aber die gewaltige Arbeit der Kulturexpansion Franksreichs möge
für Regierung wie Reichstag eine Mahnung sein, unsere Auslandsschulen zu
einer kräftigen Blüte zu bringen. Bureaukratische Bedenken mögen den Männern,
die als Kämpfer für den deutschen Gedanken, als Kulturpioniere in der Welt
tätig find, keine Hindernisse bereiten. Der Oberlehrerstand ist jetzt überfüllt.
Manchen jungen Lehrer wird der alte deutsche Tatendrang in die Weite locken.
Dienstjahre im Auslande müßten als Kriegsjahre gelten. Man sollte die
Wiederanstellung solcher Männer, die sich an Auslandsschulen bewährt haben,
in der Heimat begünstigen. Keinem Stande sind in dem Maße Großzügigkeit
des Denkens, Weite des Blickes und Hochherzigkeit der Gesinnung nötig, wie
dem Bildner und Erzieher an unserer höheren Schule, aus der die führende
Minorität der Gebildeten hervorgehen soll; die tägliche Kleinarbeit schafft nicht
immer die Luft, in der solche Eigenschaften gedeihen können. Ein längerer
Aufenthalt draußen in der Welt, ernste Tätigkeit an deutschen Auslandsschulen,
sind geeignet, den Blick für das Wesentliche zu schärfen, das Kleine vom Großen
unterscheiden zu lehren, Vorurteile zu zerstören, Welt- und Menschenkenntnis
zu vertiefen, den Horizont zu erweitern, weltmännische Persönlichkeiten heran¬
zubilden, und für die Erziehung unserer Jugend sind solche Männer gerade
gut genug. Nach dem Vorbilde der Markenpolitik unserer mittelalterlichen
Kaiser schicke man aber immer die Tüchtigsten hinaus und vermeide den Fehler,
den man früher in Polen und Elsaß-Lothringen gemacht hat. Darum wäre es
ein schöner Gedanke, die Jubiläumsstiftung der Philologen für die deutschen
Auslandsschulen, für das größere Deutschland zu verwenden, deutsche Sprachkurse
für Ausländer unseren Auslandsschulen anzugliedern. Vor allem verdient eine solche
hochherzige Stiftung wie das Bollinger-Studienhaus für Ausländer in Berlin
die größte Beachtung und Unterstützung; sie war eine nationale Tat; mögen
bald ähnliche Anstalten an anderen Orten Deutschlands entstehen. Der deutsche
Geist muß an sich arbeiten, sich rüsten und muß kämpfen, um seinen Siegeszug
durch die Welt anzutreten in dem Glauben, der den französisch gebildeten
Friedrich den Großen, trotz aller Zweifel, in seiner berüchtigten Abhandlung
über die deutsche Literatur beseelte: „Vielleicht werden die zuletzt kommen, alle
ihre Vorgänger übertreffen."
Da kommt ja Wohl ein neues Chor?
Ich höre ferne Trommeln.
Nur ungestört, es sind im Rohr
Die uniform Dommeln.
UMon Wagners unentwegter, urteilslosen Bewunderern muß ich
auch heute sprechen. Daß sie sein Werk mit einer Begeisterung
derselben Art bedenken, wie sein Leben, ist selbstverständlich.
Gerade ihnen ist es ja ein heiliger Grundsatz, im Schöpfer das
Geschöpf zu ehren (nicht umgekehrt, wie man es sonst tut), den
Schlüssel zum Werk erst im Leben des Mannes zu suchen. So muß ich
heute, da ich mich mit dem Werk allein beschäftigen will, eben diesen Wagne¬
rianern alten Geblüts antworten, die in diesem Jahre der Feier ihres einzigen
Meisters mehr denn je in Zungen reden werden. Gerade in diesen Tagen
hat in einem Vortrag einer der ihren, der Wiener Literaturhistoriker Koch
verkündet: „Es ist ebenso ein Unding, wagnermüde zu sein, wie etwa eine
Rembrandtmüdigkeit ein Unding wäre." Wer hat wohl dreißig Jahre nach
dessen Tode von Beethoven so gesprochen? Und wann durfte man un¬
angefochten es wagen, einen noch umstrittenen Künstler, den wir alle fast noch
erlebt haben, so anmaßend einem Genius gleichzustellen, dem zwei Jahr¬
hunderte und ein halbes die Göttlichkeit zugesprochen haben?
Was wir von dieser Seite noch hören werden, ist noch vom vorjährigen
Parsifalstreit in guter Erinnerung: „Unerhört schwerverständliche Werke, die
nun einmal für die Masse nicht bestimmt sind. Werke voll der tiefsten
Philosophie und der letzten Regungen der christlichen Gefühlswelt."
So ungefähr konnten wir es vor einem Jahr jeden Tag lesen. Und ohne
diese Hymnen geht es nicht. Unerhört schwierig? Wagners Werke sind dem
Verständnis leichter zugänglich, als irgend eine andere Musik des neunzehnten
Jahrhunderts. Und der Figaro setzt an Kultur und Empfindlichkeit der Sinne
bei seinen Hörern mehr voraus, als der Parsifal. Von den Gründen spreche
ich noch.
Nun soll man mir nicht den Vorwurf machen, ich wende mich gegen die
Partei Glasenapp und nicht, wie ich es angekündigt habe, gegen die Partei
Emil Ludwig. Aber ich mußte sagen, was ich gesagt habe: weil sich eben
aus diesem Wagnerianertum alten Schlages die neue Gegnerschaft von der
Art Ludwigs ganz folgerichtig entwickelt hat. Und ich habe mit guter Absicht
an das Wort von den Werken voll tiefster Philosophie und an die christlichen
Mysterien erinnert: weil eben in diesem Satz die Schwäche nicht nur der
Wagnerliebe Glasenappschen, sondern auch die Wagnerfeindschaft Ludwigschen
Typs enthalten ist. Weil hier die Falle verborgen ist, in die sie beide
geraten sind. Und diese Falle heißt: die intellektuelle Betrachtung Wagnerscher
Kunst, das Aufnehmen seiner Werke mit dem Großhirn, nicht mit dem Ohr
und Auge und mit dem Organ von Lieben und Hassen. Und um von vorn¬
herein lieber etwas zu deutlich als zu undeutlich zu erscheinen, füge ich hinzu:
wir, d. h. die, die sich in ihrem Verhältnis zu Wagner vor dem einen wie
vor dem anderen Übermaß zu hüten wußten, sehen in seinen Werken des
Großgefügten, des Erschütternden wie des Entzückenden so viel, daß wir der
Philosophie entraten können, ja, daß wir sie für zehn Takte des Meistersinger-
oder Tristanvorspiels mit Freuden hingeben. Auch — um der Geringschätzung
zu begegnen, die Herr Ludwig für den Ring hegt — für zehn Takte des
Nheingoldvorspiels.
Was ich hier unter Intellektualismus im Wagnerausnehmen verstehe,
habe ich schon im großen Umriß gezeigt. Im einzelnen gehört zu diesem
Begriff nicht nur das Bestreben, im Ring nur das Handbuch einer gewissen
Philosophie zu sehen, sondern auch die ganze Theoretisiererei über das Mustk-
drama in seinem Unterschied von der Oper und — als Sünde wider den
heiligen Geist der Musik — ihr Aufnehmen mit dem Verstand, der an den
Wagnerschen Motiven haftet und aus ihrer Wiederkehr und ihrer Variierung
ein gedankliches Gebäude sich zimmert.
Auf diesem Boden aber sind sie beide gewachsen, Wagnerianer von gestern
und Wagnergegner von heute.
Überschwer mag das Unternehmen erscheinen, diesen „Intellektualismus" zu
bekämpfen. Wer mich in meiner Ansicht niederringen will, hat scheinbar einen
starken Gegner zur Seite, denselben, den er im ersten Teil meiner Arbeit
neben sich hatte: dieser Helfer heißt Richard Wagner. Richard Wagner, der
nicht müde geworden ist, selbst von dem philosophischen Gehalt seiner Werke
zu sprechen, der in unzähligen Schriften den theoretischen Unterschied seiner
Werke von der Oper erörtert hat, der die Motive so benannt hat, wie sie
heute noch in Klavierauszügen, Textbüchern, Erläuterungen immer benannt
werden.
Daß Wagners Freunde und Feinde von heute eben von Wagners Wort
ausgehen, nicht seine Werke lieben, sondern immer nur das, was er von diesen
Werken gesagt hat, das kennzeichnet sie beide, Freunde und Feinde, als unzu¬
länglich. Daß das Genie ein so wunderliches, von der eigenen Bewußtheit so
unabhängiges Ding ist, daß es seine Werke oft selbst nicht im rechten Licht
sieht, ihnen Werte zuschreibt, die sie nicht haben und andere, die unbewußt
geschaffen darinnen sind, überhaupt nicht erkennt, das alles ist am Ende nicht
so selten. Daß Künstler nach der Tat, nach der Geburt ihres Werkes über
ihr Geschöpf sinnen und grübeln, es nicht bei der aus dem Unbewußten
gekommenen Schöpfung bewenden lassen, sondern hinterher mit dem Gedanken,
mit dem Symbol spielen, das ist eine Erscheinung, die um so häufiger ist, je
mehr der Künstler in seiner eigenen Seele Zwiste zu schlichten hat, je weniger
er über den Kämpfen seiner eigenen Zeit steht. In manchem Künstlerleben
der Renaissance finden wir dieselbe Erscheinung. Bei Wagner sehen wir die
Phase des Grübelns immer dann am deutlichsten, wenn er, der sprunghaft und
im Sturm Schaffende sein Werk vollendet hatte, wenn nach der Zeit der uner¬
hörten Anspannung die der Erschlaffung gekommen war: der Ring, das nächst
dem Parsifal heute am meisten befehdete Werk, war vor seiner Philosophie.
Und gerade ein Mann, dessen Leben so wenig das Glück des Ebenmaßes
gekannt hat, gerade der mußte der Gefahr erliegen, in seinem Werk nachträglich
die ungeklärten Wünsche seiner Zeit, das trübe Grau Schopenhauers zu sehen,
das für den, der diesem Werk unbefangen naht, nicht darinnen ist. Ein
Mann mit diesem Dämonenwillen, Anhänger zu sammeln mußte ganz anders
als andere versucht sein, nach einer Formel sür seine Schöpfung zu suchen und
mit dieser Formel die ersten Anhänger und Schüler zu gewinnen.
Hier aber liegt der Irrtum, der tragische des Meisters: eben diese Formel
war unzulänglich. Und doch glaubte er mit ihr sein Werk umspannt zu haben
und überantwortete es auf diese Weise dem Hirn und nicht dem Herzen der
Seinen — Richard Wagner gegen Richard Wagner.
Nun war aber seine Zeit viel zu weit entfernt von jener glücklichen Einfalt
des Herzens und der Frische und Unbefangenheit der Sinne, ohne die man
nicht den rechten Weg zum Schönen findet. Gerade diese Zeit, die Erkenntnisse
und technischen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht richtig ein-
zuschätzen gelernt hatte, gerade sie war wie geschaffen zu dem Unterfangen, im
Kunstwerk nicht die Kunst, sondern die Lehre zu suchen, es gewissermaßen auf
eine logische Gleichung ohne Unbekannten zurückzuführen. Sie mußte das Ton¬
werk um so höher schätzen, je mehr sein Motivgefüge auch einem geringen Musik¬
verständnis etwas zu offenbaren schien*). Und gerade dieses Motivgefüge hat
zur verstandesmäßigen Auslegung der Wagnerschen Musik geführt. Es schien
nun alles so leicht: auch denen, für die jede Musik bis dahin unzugänglich
gewesen war, erschloß sich nun eine ganze Welt von Gedanken. Und es ist
gewiß kerr Zufall, daß ein so großer Teil gerade der „philosophischen" Wagnerianer
gänzlich unmusikalisch ist.
Wohin dieses „Denken mit der Quint und Text" geführt hat, können wir
ab und zu noch heute schaudernd erleben. Ich las neulich in der Neuen
Rundschau eine Arbeit von Bernhard Shaw, in der auf dem Ring ein ganzes
Gebäude nicht nur einer Philosophie, sondern sogar einer Volkswirtschaft auf¬
gebaut war: „Wer aber ein solcher Tor ist zu sagen, der Ring sei ein sogenanntes
Kunstwerk und habe als solches nichts mit Fettaktien und Börsenwerten zu tun,
wer so töricht ist, dem sei das Wort des Meisters entgegengehalten. . ." usw.
So ungefähr war der Wortlaut. Man spreche diesen Unsinn nach und
höre dann den goldenen Hörnersatz des Walhallmotivs oder die gramvolle
chromatische Folge der Wandererakkorde, denke wieder an Shaws Fettaktien und
Vörsenwerte und entscheide dann zum Schluß selbst, wer zuerst, wer stärker war:
Wagner der Musikant oder Wagner der Philosoph und Volkswirt!
Kennzeichnend ist es auch, daß die Musiker, die Wagner gezeugt hat, sich
um seine Philosophie überhaupt nicht gekümmert haben: wer Model und Fischer
gekannt hat, wird vergeblich in ihrem Verhältnis zu Wagner nach ihr suchen.
Und Hans Richters wohlgefügte, dauerhafte Männlichkeit läßt nicht viel Gedanken
an einen weltentsagenden Pessimismus aufkommen. Von den Jungen, die an
Wagner ansetzen, ganz zu schweigen.
Und jetzt erst kann ich wieder von der neuen Gegnerschaft Wagners
sprechen. Es ist ihre Achillesferse, daß sie eben diese ganze Torheit dieses
„Gedankenlesens" mitmachen. Auch Friederich Huchs, des nun viel zu früh
geschiedenen, „Enzio" ist nicht davon freizusprechen. Emil Ludwigs Buch gar
setzt sich zu drei Vierteln seines Umfanges mit Wagners Philosophie aus¬
einander.
Sie sind denselben Weg gegangen wie ihre Väter. Sie haben alle aus
dem Orchester des Ringes, wie es der Meister befahl, die Nebelwelt Schopen-
Hauers und Buddhas aufsteigen sehen und sich vom Gewölk berauschen lassen.
Die Väter waren in diesen Schlaf versunken und träumten den Traum von
ihrem Universalmeister weiter — die Jungen, unterscheidender und wählerischer,
sahen die Unzulänglichkeit dieser Gedankenwelt ein und sind heute erwacht.
Manche aufgerüttelt von den disharmonischen Klängen der Selbstbiographie.
Alle aber mit unendlich schwerem Kopf. . . .
Gewiß, Emil Ludwigs Buch hat, wie ich sagte, seine Verdienste. Verdienste
selbst um Richard Wagner. Aber leider sind das immer Einzelheiten. Es
bleibt bei der Grundsünde, der schwersten, die man angesichts eines Kunstwerkes
auf sich laden kann: es mit den Waffen des philosophischen Seminars zu
bekämpfen. Und wenn man hier dieses Aufgebot an Symbolismen, an musikalisch-
philosophischen Schuhplattlern*) sieht, so ärgert man sich doch schließlich über
dieses schöngeistelnde Dozententum, das am Anfang Verständnis für den Künstler
verspricht, je länger aber je mehr in schulmeisternder Unzulänglichkeit stecken
bleibt. Wer aber vor den Künstler tritt, soll, er mag richten oder rühmen, die
gewohnte Tracht von ernstem Schwarz zu Hause lassen. . . .
Und wenn man sie sieht, diese so zart empfindsamen Wagnerrichter von
heute, die immer gleich mit der philosophischen Paraphrase bei der Hand sind,
dann sehnt man sich dreifach nach dem Hörer, der, käme er auch von der Dreh¬
bank, einfältig und unbelesen genug ist, im Ring nichts, aber auch nichts anderes
zu sehen, als den Zusammenbruch einer Schuldbeladener Götterwelt, dem es im
übrigen völlig gleichgültig ist, ob Wotan die Lehre Schopenhauers (davon handelt
bei Emil Ludwig ein ganzes Kapitel) stützt oder zerfetzt.
Aber — sie alle haben schrecklich viel gelesen. Natürlich sind sie viel zu
gute Kritiker, um nicht alle Schwächen der Wagnerschen Stellung zu erspähen.
Und hier trifft sie wieder der Vorwurf, den ich vorhin erhoben habe: daß sie,
wie die Wagnerianer, viel zu sehr auf Wagner den Lehrenden, viel zu wenig
auf Wagner den Schaffenden geschaut haben. Denn auch auf dem Gebiet, von
dem ich jetzt sprechen will, in Wagners Dramatik liegen die Schwächen in der
Lehre, nicht im Werk. Sie liegen überall da, wo er auf diesem Felde in
eigener Sache ins Theoretisteren kam. Was er über das Wesen des Musik¬
dramas geschrieben hat, ist heute zum großen Teil unzulänglich. Zum mindesten
hat er sich, dem bei diesen Schriften der mächtige Wille den eigenen Werken
zur Wirkung zu verhelfen, die Feder führte, zu mancher Behauptung verstiegen,
zu mancher Behauptung über die künftige Entwicklung deutscher Bühnenkunst,
die unsere Tage längst Lügen gestraft hat. Und so sehr dieses Bekenntnis Bayreuther
Ohren als eine Gotteslästerung klingen mag: man muß es heute zugeben, daß zwischen
der Oper und dem Musikdrama in der Tat nicht der bodenlose Spalt klafft, den
Wagner dort klaffen sah. Das Bühnengeschick, mit dem er seine Dramen gebaut hat,
das Vermeiden von Arie, Duett, Terzett usw., selbst das Gebärden-Rhythmus spiel
scheint mir nicht genug zu sein, um in seinen Werken ein unerhört Neues zu
sehen. Schon vor ihm gab es Opern, deren Handlung den nämlichen Rhyth¬
mus schlug, wie ihre Musik: das zeigt Mozart, wie wir ihn heute darstellen
und sehen; der Figaro, dessen entzückender Filigranmusik es gelingt, einen Text
mit sich zu verschmelzen, wie ihn vorher und nachher kein Musiker für eine
Oper zu erwählen gewagt hat: ein geistsprühendes Unterhaltungsspiel mit dem
Unterton der Gesellschaftsfrage und dem unterirdischen Grollen der Revolution.
Wenn wir heute den „Don Juan" und den „Figaro" textlich von den Lächer¬
lichkeiten der Zeit säubern, sie vor den Torheiten der alten Opernregie bewahren
(für beides hat die neue Mozartschule, die in München unter Felix Model heran¬
gewachsen ist, gesorgt), so haben wir hier musikdramatische Schätze von uner¬
hörter Pracht. Das Musikdrama war schon vor Richard Wagner. Nur hat
niemand es zu sehen verstanden. Daß wir es heute auch aus Mozarts Hand
empfangen, ist freilich Wagners Verdienst. Davon wird gleich die Rede sein.
Zunächst noch ein Eingeständnis, um keine der Schwächen unerörtert zu
lassen: daß der Dramatiker Wagner an mancher Klippe nicht ungefährdet
vorbeigefahren ist, muß man heute seinen Feinden zugeben. Am schlimmsten
ist die Häufung von Wirkungen, von dramatischen Entladungen an Stück- und
Aktschlüssen. Zwei nebeneinander kann der Hörer nicht aufnehmen; eine wird
immer von der anderen erdrückt. Das endliche Schicksal des Ringes und seines
Räubers Hagen am Schluß der Götterdämmerung geht im Lärm des Welten¬
sturzes nnter. Und das Erscheinen des Herzogs von Brabant interessiert nicht
das Auge, das an dem scheidenden Lohengrin hängt. Und doch muß man an diesen
Stellen, angesichts gerade dieser Fehler, wieder bewundernd vor dieser drama¬
tischen Urkraft stehen, die sich nicht erschöpfen kann im Geschehenlassen.
Ich hätte das alles nicht erwähnt, handelte es sich hier nicht um die
Auseinandersetzung mit einer Gegnerschaft, die jedes Verschweigen ausnützen würde.
Gewiß, man muß das alles zugeben. Aber ein bitteres Unrecht ist es darüber
zu vergessen, was Wagner auch auf diesem Gebiete an Genialem geschaffen
hat. Ich habe vorher von der Befruchtung der älteren Oper durch die Regie
von heute gesprochen. Hier ist der Grundgedanke dieser Regie: in jeder
Einzelheit entwickelt sich die szenische Leitung aus der Partitur. Die Musik
bestimme die Geste, Mine des Solisten, Gruppierung der Massen, Beleuchtung
und Farben auf der Bühne. Das ist moderne Opernregie. Und wir danken
sie Richard Wagner.
Und weiter: man mag auf vielen Druckseiten nachweisen, daß der Ring
lange, lange Erzählungen birgt, die seine Handlung unterbrechen.
Man nehme den ersten Lohengrinakt und bekenne, daß die Verquickung
seiner Musik und seiner Dramatik, dieser Steigerung und strahlenden Lösung
nicht mehr zu überbieten ist. Wem solche Szenen gelangen, wie die zwischen
Erda und Wotan, Siegfried und Wotan, Siegfried und den Rheintöchtern,
durste viel schlimmere Fehler begehen. Sich an den vorhandenen festzusetzen,
ist kleinlich und undankbar. Wie sich dann die Kritik, die Ludwig übt, not¬
wendigerweise oft ins Kleinliche und in Gesuchtes verliert. Was soll der Hin¬
weis auf die Kinderlosigkeit aller Wagnerscher Frauen? Was geht es uns an?
Ist etwa Beethovens Leonore, die Gräfin Almaviva von der Mutterschaft um¬
strahlt? Uno was soll der spöttische Hinweis auf die Blutschande Siegmunds
und Siegelindes? Ist etwa das Verhältnis Figaros zu seiner Mutter Mar-
zelline, über das Mozart unbefangen halb und halb mit entzückender, schelmischer
Frivolität hinwegtänzelt, weniger Schuldbeladen? Oder was foll die sitten¬
richterliche Zusammenstellung aller stnnenschwülen Szenen bei Wagner? Die
Brünstigkeit der Klarinettenzweiunddreißigstel im Brunhildmotiv zu zeugen, ver¬
langte mehr Lendenkraft, als auf dreißig Papierbogen über die Erotik des
Lohengrin, der Walküre oder des Siegfried zu Gericht zu sitzen.
Man suche nur auch hier; man wird immer finden. Wer das Löwenfell
auf Parasiten durchforschen will, mag es tun. Es schaut deswegen nicht
anders aus.
Von einem sehr ernst zu nehmenden Vorwurf gegen Wagner muß ich
noch sprechen. Von dem Verstandesmäßigen, das scheinbar seine Musik be¬
herrscht. Daß seine Motive mit ihren bestimmten Namen immer bestimmte
Erinnerungsbilder wecken und der Phantasie des Hörers nichts zu tun übrig
lassen. . .
In diesem Punkte ist die Stellung gegen Wagner scheinbar unüber¬
windlich. Denn er selbst hat ja den Motiven die Namen gegeben und damit
angeblich selbst ihre Deutung vorgeschrieben.
Erstens: der Motivbau in der Musik ist viel älter, als Wagners Werke.
Ich will es nur nebenher erwähnen, daß Mozart im Figaro die Szene mit
dem Gärtner Antonio, in der bekanntlich vom Fenstersprung des Pagen die
Rede ist, von der in Triolen aufgelösten Melodie des im ersten Akt an
Cherubim gerichteten „^lon piu anärai" umspielen läßt. Der Webersche Frei¬
schütz zeigt einen ganz ausgebildeten Motivbau. Bei Beethoven kehren in der
neunten Symphonie, bevor die schlichte Melodie des Freudenliedes den wilden
Taumel des Orchesters erlöst, alle Themen der vorhergehenden Sätze wieder:
die leeren Quinten des ersten, die Paukenoktaven des molto vivace, die
ruhigen Akkorde des Adagio, jedes von einem unwilligen Grollen im Orchester
ablehnend beantwortet: eine richtige Unterhaltung.
Wagner ist also nicht der einzige und nicht der erste, der bestimmte Motive
sich wiederholen ließ. Der erste freilich, der diese Wiederholung so ausgebaut
hat. Und ich wendete mich mit Ludwig von ihm ab, wären seine Motive
auch nur zu einem beträchtlichen Teil „Photographien", zwingend deutliche
Abbilder seiner Ereignisse und seiner Gedankenketten: Abbilder der Art, wie
manche Motive bei Richard Strauß es sind (das vom Fagott nachgeäffte
Kindergeschrei in der LvmpKoriia äomLstica. Oder bei Saint-Sasns der
Hahnenschrei am Ende des Totentanzes). Wo in dieser Weise nur photo¬
graphiert wird, stirbt die Kunst.
Nur verschwindend wenige Motive Wagners geben in Rhythmus und
Tonfolge bestimmte Vorstellungen und Vorgänge getreu wieder: im Ring nur
das Schmiede- und das Arbeitmotiv. Ich wüßte auch nicht, wie man etwa
den Gedanken an die Götterdämmerung oder an Siegfried tonmalerisch so
zwingend wiedergeben sollte, wie Richard Strauß in dem erwähnten Falle das
Kindergeschrei. Ludwig freilich behauptet, daß die meisten Motive Wagners in
dieser Weise auf eine bestimmte Vorstellung hinleiteten. Er mag mir außer
den erwähnten beiden im Ring auch nur drei nennen, die es tun.
Zweitens: Wagner hat die Motive selbst „offiziell" benannt. Im Ring
tragen über achtzig bestimmte Namen. Aber für Sehende ist dieser scheinbare
Einwand nur ein Zug, der sich trefflich einfügt in das Bild, wie ich es von
ihm entworfen habe: der große Theatermeister bereitet die Ausführung seiner
Werke vor. Durch die Partituren gleitet der Stift. Natur-, Götterdämmerungs-,
Walhall-, Erdamotiv usw. Wegweiser sür Sänger und Dirigenten, die an
Werke dieses Umfanges damals noch nicht gewöhnt waren und dieses Weg¬
weisers bedurften. Vielleicht hat er auch daran gedacht, ein paar Jüngern das
Verstehen zu erleichtern. Er blieb eben auch hier der treffliche Vorkämpfer
der eigenen Sache.
Die Phantasie der Hörer in Fesseln schlagen, sie in bestimmte Bahnen
zwingen, das konnte er mit diesen Motiven nicht. Selbst wenn er es gewollt
hätte. Wer sich gezwungen fühlt, bei den beiden Tönen der Dezime an Hagen
zu denken, kann sich mit einiger Aussicht auf Erfolg als musikalisches Wunder
sehen lassen.
Was konnte Wagner mit dem Namengeber anders wollen, als dem Ver¬
ständnis einen geringen Boden zu weisen, auf dem die schaffende Phantasie
weiterbauen konnte! Phantasie setzte er voraus, als er das Siegfriedmotiv schuf,
nicht einen gelehrigen Schulbubenverstand, der flink die eingebläute Antwort
auf die Frage nach der Bedeutung zu nennen weiß.
Aber auch hier hat man die eine Motivbedeutung, wie im anderen Falle
die Philosophie und die dramatische Lehre zum einzigen wahren Glauben er¬
hoben, auf dem sie beide fußen Wagnerianer und Wagnergegner. Daß die
Gegner bei aller Feinfühligkeit nicht diese Gemeinschaft bemerkt haben, daß sie,
die trefflichen Kritiker, nicht Wagner den Künstler und Wagner den Lehrer zu
unterscheiden vermochten, ist die Tragikomödie dieser neuen Bewegung die
Ludwig um sich sammeln will.
Uns — wen ich damit meine weiß man wohl — kann es nicht ändern. Uns
war er stets ein Größter, nie der bisher ungeborene Allumfasser. Wir wußten,
daß ihm. wie jedem Künstler Grenzen gezogen sind. Um des Jammers und
der Lust seines Spiels und seiner Töne lieben wir ihn, nicht um seiner
Philosophie.
Mit der umgürte sich niemand als Waffe, wer kritisch gegen eine Kunst
zu Felde zieht. Denn sie ist Leben und will vom Leben gerichtet sein.
Wer sie mit der Theorie zerfetzen will, findet meist nur ihre Maske, die
die schelmische ihm hinterlassen hat.
Sie selbst ist ihm lächelnd längst entwichen.
Am gleichen Tage, der den deutschen Maler und Naturapostel Madelung
in das Herrenhaus von Borküll führte, empfing Paul von der Borke am
Bahnhof von Villefranche an der Riviera seinen Studienfreund Wassilsew.
„Als er sich anschickte, mit ihm hinunter in die Stadt in seine Wohnung
zu gehen, wehrte der Russe ab:
„Bleiben wir im Freien I Ich will Sie allein haben. In Ihrem Laboratorium
treffen wir Menschen."
„Ja, wenn Sie mir wirklich nur zwei Stunden schenken wollen?"
Kurz entschlossen wandte er sich nach rechts zu dem Bahnübergang und
führte seinen Gast in den Schatten der Olivengärten, die sich den Berg hin¬
anzogen.
Aber auch das schien dem Russen nicht zu gefallen: „Offen gestanden —
ich hatte mir das eigentlich anders gedacht, Pawel Alexandrowitschl" sagte er.
„Sie vergessen, daß ich einen ganzen Tag gefahren bin — dritter Klasse in
italienischen Eisenbahnwagen! Nun schleppen Sie mich für die paar Stunden
hier aus die Berge, daß einem der Atem vergeht, Sie unverbesserlicher Natur¬
sex! Dabei ist's halbe Nacht — ich dread mir noch alle Knochen entzwei..."
Paul von der Borke wies den Pfad hinan: „Sehen Sie dort die weiße
Wand zwischen den Oliven? Das ist unser Ziel! Da Sie nun einmal keine
Lust hatten, in meinen Bau zu kommen, scheint mir dieser Bummel hier
herauf das beste zu sein. Sie können sich in der ländlichen Kneipe besser aus¬
ruhen als in irgendeinem Cafü. Kein Mensch wird uns stören, und, wenn
Sie noch der Alte sind, werden Sie mir doppelt dankbar sein. Nirgends an
der ganzen Riviera gibt es einen so reinen Wein wie bei Großmutter Farina.
Der und ihre Enkeltochter Angelique werden Sie für die kleine Strapaze be¬
lohnen!"
Doktor Wasslijew blieb stehen: „Was hör ich? Pawel Alexandrowitsch
hat Augen für das andere Geschlecht bekommen? Nun bin ich aber wirklich
neugierig!"
Als die beiden Freunde wenige Minuten später, tief aufatmend auf dem
Felsenvorsprung standen, brummte der Russe gut gelaunt in seinen buschigen
Bart:
„Es sei Ihnen vergeben!"
Tief unter ihnen lag eine leuchtende Welt.
Auf den Kriegsschiffen im Hafen von Villefranche flammten verschieden¬
farbige Signale auf. Ein mächtiger Panzer nahte sich vom Meere und schnitt
in die dunklen Wogen seine silberne Bahn. Die roten und blauen und grünen
Lichter des verankerten Geschwaders, die sich eben noch ruhig im Wasser ge¬
spiegelt hatten, gerieten in zitternde Bewegung.
„Was für ein Feuerwerk man Ihnen zu Ehren abbrennt, Doktor!" sagte
Paul von der Borke. „Blicken Sie um sich! Dort die Perlenkette sind die
Lichter der Promenade des Anglais in Nizza, und hier zur Linken sehen Sie
Monte Carlos nächtige Aureole. Da — erkennen Sie das massige Gebäude,
das der Scheinwerfer jetzt aus dem Dunkel holt? Der alte Kasten ist unser
Laboratorium, ein Stück Rußland auf französischem Boden. Da sitze ich nun
schon drei Jahre lang am Mikroskop und habe alle eure Politik darüber ver¬
gessen."
„Ähnlich wie ich in Rom bei meinen Plänen und Rissen. Bis man eines
schönen Tages daran erinnert wird. Äh! Wissen Sie, daß ich mir in all den
Jahren im Grunde doch immer wie ein Fahnenflüchtiger vorgekommen bin?
Und die Stellung in Petersburg habe ich eigentlich nur angenommen, um als
Russe wieder meine Pflicht zu tun. Leute wie wir, modern, aufgeklärt, mit
unseren Ansprüchen auf Freiheit, nicht nur der Wissenschaft, sondern überhaupt
der Weltanschauung, die werden zu Hause gebraucht. Einfach da sein gilt es.
Unsere bloße Anwesenheit ist ein Bollwerk gegen die Finsternis."
„Mensch!" Paul von der Borke schlug seinem Gast kordial auf die
Schulter. „Heute sollten Sie wirklich mal ihr Sorgenbündel absetzen. Sie
mögen recht haben, Sie haben ganz gewiß recht, aber verdüstern wir uns
doch nicht die paar Stunden, die Sie mir schenken können. Kommen Sie, —
ist denn niemand da: Angölique, ma petits mouclie, wo steckst du? Bringe
uns Wein und Obst und Käse!"
Paul hatte es zur Tür der kleinen Buvette hineingerufen. Aus der Küche
antwortete eine helle Stimme: „Lubito, subito!" Die Freunde setzten sich auf
die Bank vor dem Häuschen in die Nacht der Weinlaube und warteten schweigend
auf das Bestellte.
In den Blättern über ihnen regte es sich geheimnisvoll. Nachtfalter
raschelten mit schwirrenden Flügeln, und Millionen Lichter erwachten in dem
unermeßlichen, blaudunklen Luftraum vor ihnen. Von ihrer Bank aus schien
es, als sei jede menschliche Wohnstätte unter ihnen im Meer versunken. Zeit-
und raumlos flogen sie durch den leuchtenden Äther hin, berauscht von dem
Bewußtsein, teilzunehmen am Wandel der Sterne.
„Was sind wir? Atom oder Welt?" fragte Paul, die Stille unterbrechend.
„Verirrte sind wir! Schwärmer, Phrasenmacher, Genußmenschen, Egoisten,
Verbrecher, Verräter!"
Der Russe war aufgesprungen und hieb mit den Fäusten den Akzent zu
seinen Worten in die Luft.
Paul lächelte schmerzlich. Der Ausbruch klang mißtönend hinein in die
wundervolle Stimmung dieses milden, südlichen Abends.
Da nahten sich leichte Schritte, und der Schein eines Windlichts verlöschte
mit einem Schlag das Bild der Welten draußen. Eine andere, eng umgrenzte
war dafür aus dem Dunkel gezaubert. Sie ging nicht weiter, als der Kerzen¬
schein reichte, aber sie bot Farben und Schönheit genug zum Ersatz.
Außer dem Windlicht trug Angölique ein wahres Stilleben guter Dinge
auf ihrem Tablett. Rubinrot leuchtete der Wein in der langhalstgen Flasche,
goldene Orangen, tiefblaue Trauben, braune Feigen, ins Grün der Weinblätter
gebettet, türmten sich neben einer saftigen Schnitte gelben Käse. Knuspriges
Weißbrot lag dabei. Aber mehr als diese frugalen Leckerbissen lenkte das
Mädchen selber das Auge auf sich.
„Krassawiza!"*) murmelte Wasslijew. Aus seinem schwarzen Bart blitzten die
weißen Zähne in wohlgefälliger Überraschung.
Mit heiterer Anmut begrüßte die Wirtstochter ihre Gäste.
„Ich habe Ihnen doch meinen Freund bringen müssen, ma petits amis,"
sagte Paul von der Borke.
Das Mädchen setzte ihr Tablett ab. „Sicher auch ein Russe!" meinte sie,
und während sie sich die schwarzen Haare aus der Stirn strich, sahen ihre
sanften grauen Augen den Fremden ruhig an.
„Alle Russen blicken ernst! Aber das mögen wir gerade. Deshalb haben
wir uns ja mit Euch verbündet. Wir ergänzen uns so gut!"
Wasslijew lachte: „Auch eine politische Begründung!"
„Also trinken wir auf unser Bündnis!" Paul schenkte ein, und das
Mädchen nippte an dem Glas, das ihr der Russe ritterlich darbot. Sie lachte
hell auf, als er die Stelle suchte, die ihre Lippen berührt hatten: „Fröhlich
sein, steht Ihnen auch gut!"
Ihr heiteres Geplauder bewirkte, daß die Wandlung, die sich in der
Stimmung des Russen vollzogen hatte, anhielt.
Paul von der Borke beobachtete die beiden. Worte sind Schall und Rauch,
dachte er in Erinnerung an die leidenschaftliche Selbstanklage, die eben noch
unter dieser Laube in die Welt hinausgeschleudert wurde.
Die drei waren des scherzhaften Gespräches, das sie wie ein heiteres Ball¬
spiel dort oben festhielt, noch lange nicht überdrüssig, als eine zänkische Weiber¬
stimme der fröhlichen Sitzung ein Ende machte.
„Die Großmutter ruft, ich muß in den Stall und füttern!"
Angölique sprang auf und stimmte mit lebhaften Worten in das Bedauern
der Freunde ein. »
— Man ging.
Auf dem Heimweg, den ihnen die rotgoldene Kugel des aufgehenden Mondes
erhellte, sprachen die beiden noch lange von dem fesselnden Reiz des Mädchens.
„Es ist das Produkt der Rassenkreuzung hierzulande," erklärte Paul.
„Wie in ihrer Sprache, zeigt sich auch in ihrem Äußeren die Mischung von
Italienischem und Französischem."
„Ein anthropologischer Fingerzeig, den wir uns merken sollten," war
Wassiljews Meinung. „Mir scheint, dieses Mädchen übertrifft an Geist und
körperlicher Schönheit ihre beiderseitigen Vorfahren. Sie bedeutet eine Auf¬
besserung der Rasse."
Das Problem der Hinaufzüchtung des Menschen gab die Anregung zu
einer lebhaften Erörterung.
„Denken Sie an Ihre baltische Heimat, Pawel Alexandrowitsch, an die
ängstliche Absperrung der Deutschen von der Urbevölkerung. Wer weiß, ob die
Konflikte, die jetzt Ihr Land erschüttern, so stark hätten werden können, wenn der
Kastengeist der Gesellschaft nicht so ängstliche Distanz vom Volk gehalten hätte I"
„Und die Kultur?" brauste Paul auf. „Glauben Sie. daß wir je
fo weit gekommen wären, wenn sich das Deutschtum nicht fest zusammen¬
geschlossen hätte?"
„Ach — das berühmte Wort von der baltischen Kulturl" Wasslijew lachte.
„Pawel Alexandrowitsch, Hand aufs Herz! War sie in ihrer Isolierung stark
genug, um dem Tschinownik standzuhalten? Hat sie der russische Beamte nicht
in wenigen Jahren über den Haufen gerannt?"
„Es wird sich zeigen, daß sie lebt!" sagte Paul mit Nachdruck.
„Wenn sie klug genug ist, sich das Volk zu gewinnen. Und da hätten
wir eben wieder die Forderung der Rassenmischung. Glauben Sie mir! Die
Kultur der Zukunft ist ohne das Volk undenkbar."
„Lassen wir diese Hypothesen!" Paul beendigte das Thema in schroffer
Ablehnung.
Sie kamen jetzt in die engen Gassen der alten Stadt, in denen das lebendige
Treiben eines südlichen Feierabends herrschte. Die vielfältigen Geräusche der
Straße machten eine weitere Unterhaltung unmöglich. Das war gut, denn
Paul hatte Mühe, seine Verstimmung zu verbergen.
Wasslijew aber ging träumend dahin, ohne seiner Umgebung die geringste
Beachtung zu schenken. Er kümmerte sich weder um die bunten Auslagen der
Händler, noch um das Gewimmel der Menschen, die sich an ihnen vorbei-
drängten. Wettergebräunte Seeleute zogen in Reihen vorüber, neckten die
Mädchen und zeigten sich zu Reibereien aufgelegt.
„Sie sind ja gar nicht hier, Wasslijew!" sagte Paul. „Ihre Seele wenigstens
ist längst in Rußland."
„Der Leib wird auch bald da sein! In einer halben Stunde geht mein
Zug. Sie dürfen mir nicht böse sein! Aber ich muß das schlechte Gewissen
los werden. Nein — bitte begleiten Sie mich nicht! Ich habe mein Gepäck
auf dem Bahnhof und werde den Weg schon finden. Leben Sie wohl, Pawel
Alexandrowitsch! Eines Tages werden Sie mir recht geben."
Mit langen Schritten eilte der Freund davon. „Es ist vielleicht das beste,"
dachte Paul, ihm nachsehend. „Er ist und bleibt der exaltierte Russe! Im
Grunde werden wir uns immer fremd bleiben!"
Er hatte sich auf das Zusammentreffen mit dem alten Studienfreund
ehrlich gefreut. Aber jetzt fühlte er sich geradezu erleichtert, als er wieder
allein war. Er wollte es nicht wahr haben, daß ihn Wassiljews Worte
beunruhigten und in der Tiefe seiner Seele doch ein leises Echo geweckt hatten.
Nein — er hatte die Freiheitsträume der russischen Jugend nie geteilt.
Das kommunistische Ideal der russischen Revolutionäre war ihm geradezu
unsympathisch. Seine Wissenschaft liebte er nicht zum wenigsten deshalb, weil
ihm die stille Arbeit im Laboratorium der Berührung mit allen Streitfragen
des Tages überhob.
In dem alten Klostergebäude, in dem der russische Staat auf französischen:
Boden ein zoologisches Laboratorium unterhielt, hatte der junge Gelehrte auch
seine Wohnung. Bevor er zu ihr hinaufstieg, machte er noch einen Gang
durch die Arbeitsräume. In den großen Bassins schwamm das Ergebnis des
letzten Fanges, das Paul einer kurzen Sichtung unterzog. Aber das Interesse
an der Arbeit fehlte ihm heute. Er fühlte sich müde und abgespannt. Das
beste war, er suchte sein Zimmer auf und vertiefte sich in irgendein Buch.
Unter der eingelaufenen Post, die ihn hier erwartete, fand er einen Brief
aus Estland. Er trug den Poststempel „Sternburg" und zeigte die Schriftzüge
Ediths von Wenkendorff.
In der unharmonischen Stimmung, in der er sich befand, sah er den
Brief nicht mit der Freude, die er sonst empfunden hätte. Er zögerte deshalb,
ihn aufzuschneiden und setzte sich unschlüssig und finster in seinen Sessel, um
hier, wie es seine Art war, seine Gefühle unter die Lupe zu nehmen und ihren
Zusammenhängen nachzugehen.
Seine Kusine Edles von Wenkendorff war der einzige Mensch in der
Heimat, an den er gern zurückdachte, verbanden ihn mit ihr doch lichte Jugend¬
erinnerungen. Trotz ihrer gegensätzlichen, von Kind an auf praktische Betätigung
gerichteten Art, hatte sie stets Interesse für Pauls wissenschaftliche Neigungen
gehabt und stand auf feiner Seite, wenn ihn die anderen alle wegen seiner
Sammelwut verlachten.
Gute Kameraden waren sie gewesen und es trotz der räumlichen Entfernung
voneinander geblieben. Aber eine Bemerkung in Ediths letztem Brief hatte
einen leichten Schatten auf dieses schöne Verhältnis geworfen.
Er hatte ihr von Angölique und seinen häufigen Besuchen in der romantisch
gelegenen einsamen Buvette erzählt. War sein Brief wirklich so schwärmerisch
ausgefallen, daß Edles ein Recht hatte, ihn zu verspotten?
„Nun, können wir es uns erklären, weshalb Sie nicht einmal im Sommer
mehr den Weg in die Heimat finden . . ." hatte sie geschrieben und die kränkenden
Worte hinzugesetzt: „Auch sie sind also ein echter Borke!"
Ein echter Borke — das sollte nichts anderes heißen, als daß nun auch
in seinem Leben das weibliche Geschlecht jene Rolle spielte, die den Borkes so
oft zum Verhängnis geworden war.
Lächerlich! Die Bekanntschaft mit Angölique und ihrem schattigen Felsennest
stammte erst aus dem Frühling und war nur eine angenehme Zugabe zu den
Momenten, die ihn bestimmt hatten, die Riviera auch im letzten heißen Sommer
nicht zu verlassen.
Wenn Villefranche in Sonnengluten brütete, so wehte da oben immer ein
frischer Wind. Und wenn sich Paul von der Einsamkeit bedrückt fühlte, die in
seiner Arbeitstätte herrschte, weil die Kollegen alle in kühlere Regionen geflohen
waren, dann fand er in den Plauderstunden mit dem aufgeweckten Mädchen
leicht wieder den notwendigen Zusammenhang mit dem Leben, den er — was
er gern zugab — bei der steten Beschäftigung mit den abstrakten Theorien seiner
Wissenschaft häufig genug verlor.
Aber wie tat die Ruhe wohl! Bei den unerquicklichen Zuständen im
Vaterhause bedeutete eine Reise nach Borküll für seine Nerven eine Strapaze,
von der er noch jedesmal bedrückt und unfroh zurückgekehrt war. Wußte denn
das Edles nicht? Wenn er sich auch noch niemals darüber ausgesprochen hatte,
so erwartete er doch von ihrem Feingefühl, daß sie sich seine Entfremdung von
der Heimat richtig deutete. Ja — wenn er auf Sternburg hätte wohnen dürfen,
wo der alte Wenkendorff mit seinen drei Töchtern ein Leben voll fröhlicher,
erfolgreicher Arbeit führte! —
Mein Gott — hatte er in seinem Alter nicht Anspruch auf Freude und
Jugend? Und das war es, was er da oben fand. Deshalb vergaß er die
alte Freundschaft noch lange nicht!
Was für ein Gefühl hinderte ihn heute, wo er den kurzen Besuch seines Freundes
mit einer Einkehr bei der alten Farina verbunden hatte, Ediths Brief zu lesen?
Als er vorhin Angölique von Wassiljews Kennerblick geschätzt und bewundert
sah, hatte er dieses flüchtige Gefühl gehabt, daß er auch dieser Gabe des Lebens
gegenüber, wie bisher immer, der Theoretiker geblieben war. Zum erstenmal
wollte ihm als ein Mangel erscheinen, was ihm als pflichtmäßige Erfüllung
eines Grundsatzes galt: die Bekämpfung jeder Impulsivität, deren gefährliche
Wirkung er in seiner Familie genugsam erfahren hatte.
Wie blitzte es in beider Augen, als Wasslijew die Stelle des Glases suchte, die
Angöliques Lippen berührt hatten. So hatte sie ihn selbst noch nie angesehen I
Ja — hatte er es denn bisher vermißt? Dann würde Edles seine Stellung
zu dem Mädchen also richtiger beurteilt haben als er selbst?
Er griff nach dem Brief. Während er die kräftige, charakteristische Schrift
betrachtete, sah er im Geist die Gestalt der Schreiberin vor sich, wie sie vor
drei Jahren Abschied von ihm genommen hatte.
Auf der Station war es gewesen, wo er den Petersburger Zug erwartete.
Gerade als er vom Wagen stieg, kamen die drei Wenkendorffer Damen über
die Stoppeln gesprengt — Edles und Edda auf Izwei Rappen edelsten Blutes,
mehrere Längen hinter ihnen die kleine Evi. Sie hatte Tränen im Auge vor
Wut über den schwerfälligen Trott ihres wohlgenährten Father. Edles beugte
sich von ihrem hochbeinigen Gaul herab und reichte Paul die Hand:
„Ich sah den Borküller Wagen und habe mit Edda gewettet, daß wir
noch vor dem Zug ankommen würden. Vergessen Sie uns nicht in Ihrem
Sonnenland, Herr Vetter. Und halten Sie Wort — schreiben Sie mir matt"
Aus dem Kupeefenster sah Paul die drei Reiterinnen den Sturzäcker hinan¬
traben. Oben auf der Höhe wendete die erste und stand als schwarze Silhouette gegen
den Himmel. Sie winkte mit einem Taschentuch. War es Edles gewesen?
Wie damals wallte es jetzt warm und zärtlich in ihm auf. Nein — mochte
Angölique anlächelt, wen sie wollte. Es beunruhigte ihn nicht. Wohl aber
spürte er in diesem Augenblick Unruhe in dem Gedanken an das zukünftige
Verhältnis zwischen ihm und seiner Kusine.
Sie war in dem Alter, wo junge Mädchen, wenn sie hübsch und ver¬
mögend sind, sich zu verheiraten pflegen.
Wenn Edles von Wenkendorff eine Ausnahme machte, so kam es nur
daher, weil ihr Leben auch jetzt schon mit Pflichten und Aufgaben ausgefüllt
war. Ihr Vater hatte aus ihr eine regelrechte Landwirtin gemacht, die ihm
allmählich eine männliche Hilfe bei der Verwaltung des Gutes ersetzte. Da
aber ihre weibliche Anmut dabei keinen Schaden genommen hatte, so machte
sie ihre weithin im Land bekannte Tüchtigkeit erst recht zu einer begehrenswerter
Partie. Und eines Tages mußte es wohl wahr werden, daß sie einem ihrer
vielen Bewerber die Hand reichte.
Paul schnitt die Vorstellung dieser Möglichkeit ins Herz. Ihrer ganzen
werkfröhlichen Art nach schien ihm Edles allerdings bestimmt, eine Gutsherrin
zu werden, nicht eine Professorengattm, die sie bestenfalls dereinst sein würde,
wenn sie sich zu einer Ehe mit ihm entschließen könnte.
„Es wäre eben doch eine Stilwidrigkeit!" sagte sich Paul und verspottete
sich selbst in der Vorstellung, daß er Edles einen Antrag machen müsse, wenn
er jemals seinen Traum verwirklicht sehen wollte.
Dabei mußte man sich ja wohl zu einem Kniefall entschließen und in beredten
Worten seine Liebe erklären?! Ein peinliches Unternehmen!
Das Endergebnis seiner Selbstbetrachtung war frostige Resignation. Er
nahm das Papiermesser und schnitt Ediths Brief mit aller Sorgfalt auf. Er
hatte keine Scheu mehr vor ihm, der aus zwei engbeschriebenen Bogen bestand:
Sternburg. 27. September 1905.
Längst war ein Brief von Ihnen fällig. Daß er nicht eintraf, deute ich
mir als Strafe für meine Bemerkung über Ihre Beziehungen zur hübschen
Angölique. Wenn ich Ihnen heute trotzdem und ausführlicher als sonst schreibe,
so brauchen Sie das nicht als Ausdruck von Reue zu nehmen.
Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über die außergewöhnlichen Dinge
zu berichten, die bei uns im Land und in Ihrem Vaterhaus vorgehen, denn,
wenn sie auch auf den Revaler Beobachter abonniere sind, so gewinnen Sie doch
kaum ein richtiges Bild daraus.
Streiks sind auch bei uns leine neue Erscheinung, und Brandstiftungen
kamen ebenso wie gelegentlich Raubanfälle im Walde vor. Die Presse redete
etwas zu voreilig von „Revolution". Aber jetzt hat es wirklich den Anschein,
als sollte sie auch unser Estland in Flammen setzen!
Zwar verlief der Septembertermin in Reval wie üblich. Steife Visiten bei
alten Tanten, Routs, Einkäufe, Bälle: das Ereignis war natürlich wieder der
Aktienball. Wie immer wiegten sich Estlands Edelfräulein im Kerzenlicht der
alten Kandelaber — ein Feld von bunten Blumen in der Sommerluft — doch
herrschte eine ganz besondere Stimmung: die Ballgespräche waren weniger banal
als früher und, wie sehr die Jugend auch geneigt war, die Ereignisse auf die
leichte Achsel zu nehmen — sie gruselte sich doch etwas. Das alte Ritterblut
wurde in den Kavalieren wach, und ihr wortreicher Mut berauschte uns zarte
Mädchen mehr als alle galanten Huldigungen.
Auch bei den alten Herren löste diesmal der Champagner nicht die her¬
gebrachten Witze und Anekdoten aus. Es war fast mehr eine politische Ver¬
sammlung als eine Ballgesellschaft. Soviel ich bemerken konnte, hatten die
Zuversichtlichen die Oberhand. Sie fühlen sich sicher unter dem Schutz des
Militärs, der uns vom Gouverneur zugesagt ist. Baron Schledchausen teilt
ihre Meinung nicht. Er war mit schweren Befürchtungen aus Petersburg
gekommen. Meinem Vater gegenüber ließ er sich offen aus. „Wir kämpfen
gegen zwei Fronten," sagte er. „Die eine davon ist versteckt, und mir scheint,
von ihr droht uns die größere Gefahr!" Sie werden die Worte verstehen,
Vetter! Sind wir nicht die Stiefkinder unseres geliebten Väterchens? Auch die
Toaste beim Souper standen unter dem Eindruck der letzten bewegten Wochen.
Papa richtete an die Jugend des Landes in seiner knorrigen Art ganz famose
Worte. Die Ehrfurcht vor ererbten Überlieferungen dürfte uns nicht den Blick
trüben für die Forderung der neuen Zeit. „Schlagen wir Tore in die Mauern,
die uns vom Volke trennen, so werden wir am besten verhüten, daß sie gewalt¬
sam niedergerissen werden."
Ich fürchte. Papas Ansichten fanden den allgemeinen Beifall nicht. Ich
sah manche alte Tante ihre spitze Nase rümpfen. Schledehausen dagegen ent¬
fesselte einen wahren Sturm der Begeisterung. Er appellierte an die Solidarität
des Deutschtums und erinnerte an die historische Führerschaft des baltischen Adels.
Aber Sie wollen jetzt sicher auch etwas über Borküll hören. Und da will
ich mit unserer Meinung nicht hinter dem Berge halten: es ist dort nicht alles
wie es sein sollte. Verwalter Kirsch macht wieder einmal von sich reden. Er
hat sich zum Septembertermin tolle Sachen geleistet. Natürlich war er, wie
immer wenn er in der Stadt ist, betrunken und soll sich im Estnischen Klub
zu wüsten Brandreden gegen die Deutschen verstiegen haben. Nach einer
Schlägerei wurde er verwundet ins Hospital geschafft. Dort liegt er seit drei
Tagen, und Papa sorgt sich um euer Borküll, das nun ganz ohne Aufsicht ist.
Der alte Maddis. Ihr bewährtes Faktotum, hat doch nicht Übersicht genug,
um alles in Ordnung abzuwickeln. Und die Baronin und Ihre Schwester Mara
find zu wenig orientiert in dem komplizierten Betrieb, auch leben beide dank
ihren Neigungen zu wenig in der Wirklichkeit. Mara namentlich ist immer
mehr ein Bücherwurm geworden, und ihre hypermoderne Weltanschauung hat
ihr allen praktischen Sinn genommen. Gräfin Emerenzia Schildberg aber, Ihre
würdige Tante, bringt mit ihren Gebetstunden und ihrer Bekehrungswut das
ganze Tagewerk auf dem Hof in Unordnung. Unser guter Pastor Tannebaum
ist nicht sehr erbaut von dieser Seelenfischerei, die seine Herde nachgerade
konfus zu machen beginnt. Kurzum: die Anwesenheit des Herrn ist dringend
nötig. In diesem Sinne wollte Papa auch schon an Ihren Vater schreiben.
Aber wenn er jetzt wieder in Monte Carlo ist, können Sie ja selbst rin ihm
reden. schlimmstenfalls müßte eben Wolff Joachim Urlaub nehmen. Übrigens
fehlte er diesmal beim Septembertermin. Er ist sehr vermißt worden.
Edda hat ihre alte Not mit Evi. Fräulein Schneider, die Gouvernante,
konnte mit dem Kinde nicht mehr fertig werden. So haben wir sie gehen
lassen und hoffen, daß das Mädel im nächsten Jahre in der Schweizer Pension
etwas Schliff bekommt. Sie ist noch gräßlich ruppig. Den geschlagenen Tag
strolcht sie mit Förster Sandberg im Wald herum. Seitdem er ihr ein weißes
Eichhörnchen gebracht hat, besitzt er vollends ihr ganzes Herz. Das Tierchen
wird allgemein wie eine Art Wunder angestaunt. Sternburgs Glück nennens
die Leute. Und merkwürdigerweise war unsere Ernte die beste der letzten
zehn Jahre. Aber jetzt Schluß! Gerade eben höre ich die neue Dreschmaschine
heranwalzeu. Ich muß auf den Hof, lieber Doktor, und sicher warten auch auf
Sie irgend welche sonderbare Lebewesen, die Sie unter Ihre Lupe nehmen wollen.
Leben Sie wohl, und hoffen Sie mit uns, daß sich alle Wolken von
unserem baltischen Himmel verziehen mögen.
(Fortsetzung folgt)
Zur Lebensgeschichte von Karl Stanffer-
Bcrn. Die besondere Geltung, die Karl
Stauffer - Bern nach seinem Tode zuge¬
messen ward, ist nicht aus dem Wert seiner
künstlerischen Leistung allein erwachsen. Das
verworrene Schicksal, in das sein Leben sich
verstrickte, mußte eifrige Neugier rege machen,
sein jähes Ende Schrecken und Mitleid aus¬
lösen. Und nun offenbarte es sich gar, daß
der früh in voller Kraft Gebrochene von dem
zähen Ringen seiner reifen Schaffensjahre in
umfassenden Bekenntnissen selber Rechenschaft
gegeben hatte. Aus dem Nachlaß der Frau,
die sein Leben in die Irre geleitet hatte,
kamen lange, reiche Briefe ans Licht und
enthüllten leidenschaftlich durchlebte Werde¬
schmerzen, die als Vollreife Frucht nur eine
bescheidene Zahl meisterlicher Werke der
Griffelkunst gezeitigt hatten. Die Ideale,
Erkenntnisse und Überzeugungen einer grund¬
ehrlichen und mit sich selbst unbarmherzig
strengen Künstlernatur stellten sich so im Zu¬
sammenhang dar, und zugleich taten sich die
Abgründe, in die sie die Mischung ihres
eigenen Blutes und unselig sich verbündende
äußere Mächte hinabgetrieben hatten, dem
schauernden Verstehen auf.
Otto Brahm durfte damals Stauffers
Aufzeichnungen zuerst veröffentlichen. Die
Lebensskizze, die er ihnen zum Hintergrund
gab, geriet ihm trotz allem sorgsamen Wägen,
aller klugen Umsicht doch hart und nüchtern.
Es fehlte ihr das Mitbeben eigener innerer
Schwingung, die Wärme persönlichen Mit¬
erlebens. Und der Versuch, in die eigenste
Welt des Künstlers einzudringen, die Rich¬
tungen und Ziele seines Schaffens zu um¬
reißen, seine Entwicklung aus inneren Not¬
wendigkeiten und aus sachlichen Bedingungen
heraus zu begreifen und klarzulegen, war
hier gar nicht unternommen. Aber einem
solchen Verständnis war ja durch Stauffers
eigene Bekenntnisse auf weite Strecken der
sicherste Weg schon erschlossen. Die seltsame
Verflechtung von persönlichem Temperament,
künstlerischer Gesinnung und äußerer LebenS-
fügung, die dieser starken Begabung ihr
inneres und äußeres Schicksal bestimmt hat,
wurde aus ihnen lebendig offenbar.
Das Buch war mit den Jahren in Ver¬
gessenheit geraten; nun ist eS neuerdings
durch eine wohlfeilere Neuausgabe, Verlag
von Meyer u. Jessen, wieder besser zu¬
gänglich gemacht worden. Seine ursprüng¬
liche Fassung hat es aber unverändert bei¬
behalten. Die Aufzeichnungen und Briefe
Stauffers sind nirgends vermehrt oder er¬
gänzt, wie man das hätte wünschen mögen
und nach soviel Jahren vielleicht sogar hätte
erwarten dürfen. Und vor allen Dingen
hätte man sich nicht noch einmal auf die
kargen Proben aus Stauffers Dichtungen
beschränken sollen, die Brahm zusammengestellt
hat. Nachdem schon Isolde Kurz*) in ihrer
warmherzigen Würdigung des Dichters
Stauffer bisher unveröffentlichte Stücke hat
mitteilen dürfen, hätte eine reichere, unbe¬
fangenere Auswahl zum mindesten eine vollere
Ahnung von dem Wesen dieser plötzlich ele¬
mentar hervorbrechenden, in einem wilden
Erguß sich ausströmenden Dichterkraft ver¬
mitteln können.
Die Trümmer dieser Selbstoffenbarung
reizen, ja sie zwingen geradezu, ihre Lücken
auszufüllen und einen einleuchtenden Zu¬
sammenhang zwischen ihnen herzustellen.
Diese Ausgabe hat Wilhelm Schäfer ange¬
zogen, und so hat er es unternommen, „Karl
Stauffers Lebensgang", ebenfalls beiG. Müller
in München erschienen, in einer ausgerun¬
deten Gesamtdarstellung zu erzählen. Auch
er gibt seinen biographischen Versuch als
Eigenbericht, als eine umfassende Schlu߬
beichte aus Staussers letzten Lebenstagen. Er
sührt also eben das aus, was Staufser einst
selber noch im Sinne gehabt hat.
HätteStauffers eigene Hand diese Bekennt¬
nisse noch niederschreiben können, so wären
sie Wohl ein erschütterndes Seelenzeugnis ge¬
worden, durchbebt von dem Ungestüm eines
lräftereichen Wollens und durchtränkt mit den
Bitternissen dunkelster Schicksale. Wer will
sich zutrauen, solch einen Ausbruch in seiner
vollen Gewalt nachzuschaffen? Ein Dichter
vielleicht, der in eigener Glut das fremde
Edelmetall zu einem neuen, einheitlich starken
Guß zusammenzuschmelzen vermöchte. Aber
auch dafür scheint die Stunde heute noch nicht
gekommen. Das Tatsächliche aus Stauffers
Leben ist uns noch zu nah unter den Augen,
das Geschlecht, das mit ihm lebte, wandelt
noch zu leibhaftig auf Erden, als daß wir
einer dichterischen Darstellung dieses Künstler-
lebens mit freier Unbefangenheit folgen
könnten. Die künstlerische Gestaltung löst sich
nicht rein genug ab von dem unmittelbaren
Bewußtsein einer noch gegenwärtigen Wirk¬
lichkeit. Die bedenklichste Gefahr ist aber für
diesen besonderen Fall das Vorhandensein
einer Fülle echter Selbstzeugnisse. In ihnen
allein steckt das wahre, volle Ich Stauffers, sie
allein sprechen seine Sprache. Und nach ihnen
zu schließen, hätte Stauffer auch in den Tagen
schmerzlichster Ermattung doch kaum mit der
immer gleichen, nachdenklich müden Gelassen¬
heit sein ganzes Leben überprüft und vor
sich hingestellt. Diese Gedämpftheit des Ge¬
samttones und das immer wiederkehrende
Umlenken in die Endtonart beeinträchtigt am
stärksten die volle Unmittelbarkeit der Dar¬
stellung des Menschen Stauffer. Es erwächst
aus ihr keine durch und durch zwingende
Vergegenwärtigung der Persönlichkeit, die
herausgehobenen Lebensmomente empfangen
nicht einer um den andern ihre Wahrheit
allein aus sich selber, sondern sie begeben
sich von Anfang an unter dem schweren
Himmel der letzten Tage und stehen im
gleichen getrübten Licht. Man steht darum
den Stauffer, der sein Schicksal erzählt,
immer wieder so vor sich, als käme er nach
einer langen Krankheit in Kleidern daher,
die ihm viel zu weit geworden sind. Und
diese Gestalt steht einer voll überzeugenden
Vergegenwärtigung des Jünglings und des
Mannes im Licht.
Über das Wesen des Menschen Stauffer
werden also nach wie vor nur seine eigenen
Äußerungen eine völlig befriedigende Aus¬
kunft geben. Wohl aber hat Schäfer es ver¬
mocht, die Kräfte offenbar werden zu lassen,
die Stauffers künstlerisches Wollen und Voll¬
bringen geleitet und bestimmt haben. Ein
klares Wissen um die sachlichen Erfordernisse
der einzelnen Kunstgattungen schafft der Dar¬
stellung ihre sichere Grundlage, feinsinnige
Einfühlung in die Technik zeigt die Ziele
des Schaffenden, lehrt seine Wege und Um¬
wege verstehen, und liebevolles Miterleben
läßt durch all die Nöte und Schmerzen des
künstlerischen Werdeprozesses hindurch schließlich
den mächtigen, einheitlichen Zug innerer Ent¬
wicklung erkennen. Künstlerisches und dichte¬
risches Verständnis haben hier zusammen¬
gewirkt, und so wächst aus eindringender
Betrachtung der Werke die lebendige Veran¬
schaulichung der gespannten Schaffenserregung,
die sie eines ums andere hervorgetrieben hat.
In dieser überzeugenden Darstellung des
Strebens und Ringens eines der begabtesten
und selbständigsten Künstler der letzten Jahr¬
zehnte liegt der eigentliche Wert des Schäfer-
schen Buches. In den Kreisen uni Stauffers
nächste Verwandtschaft will man freilich auch
das nicht gelten lassen. Man hat eS ins¬
besondere bemängelt, daß Schäfers Stauffer
zuletzt seine Lebensarbeit und ihren Ertrag
an der schöpferischen Leistung Adolf Hilde-
brandS mißt, den er neben sich eine Fülle
harmonischer Gebilde zu klarer Vollendung
gestalten sieht. Aber gerade diese Gegen¬
überstellung zeigt mit einleuchtender Deutlich-
keit die Grenzen der Begabung Stauffers.
Warum soll man die nicht zugeben? Und
wer eines Künstlers Eigenart so sorgsam
nachgegangen ist wie Schäfer, hat doch gewiß
das erste Recht, den Wert und Gewinn seines
Schaffens schließlich in größere Zusammen¬
hänge einzufügen und für seine Gesamt¬
erscheinung die Stelle zu suchen, die ihr
zwischen anderen zukommt.
Daß den Anwälten des persönlichen An¬
denkens Karl Stauffers die Unbefangenheit
dieser Lebensdarstellung ein Ärgernis ist,
läßt sich eher verstehen. Man mochte sie so¬
gar gerne gewähren lassen in ihrem Eifer,
gar zu bedenkliche Vorstellungen von Stnuffers
Wesensart und Lebensführung zu bekämpfen,
denn sie legten ja zugleich neue Selbstzeugnisse
von seiner Hand vor. Aber was sie seitdem
aus den Briefen, die sie noch daheim be¬
wahren, zur Rechtfertigung haben veröffent¬
lichen lassen*), fügt dem Bilde des Menschen
Stauffer nirgends wesentlich neue, nirgends
sonderlich bedeutende Züge hinzu. Und an
Ergiebigkeit für das Verständnis von Stauffers
künstlerischer Persönlichkeit reichen sie an die
Bekenntnisse der Briefe an Lydia Escher nicht
von ferne heran. Daran wird auch die er¬
weiterte Buchausgabe dieser Familienbriefe
nichts ändern können. Um so freudiger wird
man es ihr danken, daß sie einen lange ge¬
hegten Wunsch endlich erfüllen und Stauffers
hinterlassene Dichtungen ohne ängstliches
Unterdrücken nun in ihrem ganzen Umfang
darbieten will.
Der bekannte und um die Südseeforschung
hoch verdiente Ethnologe veröffentlicht das
von ihm vorwiegend auf Bougcnnville ge¬
sammelte Material in möglichst dokumenta¬
rischer Form, die gerade auf soziologischen
Gebiet große Vorteile bietet; denn sie bewahrt
den Leser davor, daß er an Stelle der kon¬
kreten Tatsachen eine durch Theorien und
Vorurteile beeinflußte Schilderung der Formen
und Bedingungen des geselligen Zusammen¬
lebens der Eingeborenen erhält und sie läßt
ihm den Weg für die eigene Urteilsbildung
frei. Durch die getreuliche Wiedergabe der
Berichte der Eingeborenen selbst in Verbin¬
dung mit den Mitteilungen über das, was
der Berichterstatter selbst gesehen und erlebt
hat, werden wir so nahe als möglich an die
Wirklichkeit herangeführt, eine Wirklichkeit, die
für ein werdendes Knlonialvolk nicht allein
wissenschaftliches, sondern auch erhebliches
praktisches Interesse hat.
Die Veröffentlichung gliedert sich in drei
Teile. Der erste behandelt die Lebens¬
abschnitte (Pubertät, Heirat, Tod); im zweiten
Teil folgen Mitteilungen über Wirtschaft und
Staat (Wirtschaft, Politische Organisation,
Verletzung der sozialen Ordnung); im drittten
Teil endlich werden an der Hand der An¬
gaben eingeborener Gewährsmänner typische
Ereignisse geschildert.
Einige charakteristische Mitteilungen seien
hier wiedergegeben.
Nach dem Tode eines großen Häuptlings
wird in Songa auf Vellalavella erst nach
tausend Tagen das Totenmahl veranstaltet.
Um diese tausend Tage aufzuzählen, wird
ein Rechnungsknotenfaden geknüpft (rmku
mento sie machen Rechnung, vsru —
Faden), und zwar macht zuerst ein Mann
einen Faden mit hundert Knoten. Der Faden
wird derartig geknotet, daß sich zwischen je
zehn Knoten ein größerer Zwischenraum be¬
findet. Ein zweiter Mann macht ebenfalls
einen Faden mit hundert Knoten usw., so
daß zehn verschiedene Leute beteiligt sind.
Rum beginnt der erste, jeden Tag einen
Knoten abzureißen. Wenn der erste fertig ist
mit seinem Faden, dann geht er zum zweiten,
teilt ihm das mit und der beginnt, von
seinem Faden die Knoten abzureißen. Ist
der zehnte fertig, so weiß man, daß die Frist
zu Ende ist. Es kann aber auch so gemacht
werden, daß ein Mann die Zählung des
ganzen Tausend vornimmt, und zwar so, daß
er zehn verschiedene Bastfasern nimmt und
an jeder Bastfaser jeden Tag einen Knoten
macht, bis er hundert Knoten auf einer Bast-
faser hat. Hat er dann alle zehn Bastfasern
mit je hundert Knoten versehen, so ist die
Zeit des Festessens da und das Bastfasern¬
bündel wird dann zusammen mit dem Schwein
beim Festessen verbrannt.
Der Häuptling ist der reichste an Muschel¬
geldringen. Wenn ein Mann Geld braucht
zur Heirat, um ein Mädchen zu kaufen, so
geht er zum Häuptling und dieser gibt ihm
Geld. Hat er Geld erhalten, so gilt er als
sein Gefolgsmann. Stirbt nun der Schuldner,
bevor er an den Häuptling das Geld zurück¬
gezahlt hat, so sind auch die Kinder dem
Häuptling gefolgpflichtig. Stirbt das Weib
früh, so zahlt der Schuldner dem Häuptling
das Geld zurück, da er dann wieder das
Geld von den Angehörigen der Frau zurück¬
erhält. Wenn der Häuptling gestorben ist,
so wird sein Sohn oder die Witwe Gläubiger.
— Wenn der Mann stirbt, so gehört sein
Besitztum, Haus.Kann, Kokospalmen, Schweine
und Pflanzung dem ältesten Sohn, nicht allen
Kindern. Die übrigen Kinder werden Ge¬
folgsleute des Häuptlings und müssen für
ihn arbeiten, bis das Geld, das der Mann
für die Heirat bekommen hat, zurückbezahlt ist.
Die Strafe ist vollkommen in die Form
der Rache gekleidet. So tritt uns zunächst
die Tötung als Vergeltung eines Totschlags
oder Mordes entgegen. In der Regel wer¬
den aber gerade diese Taten, mit denen eine
Strafe verbunden sein soll, meuchlerisch be¬
gangen. Tötung wird nicht nur für Mord
oder Totschlag, sondern auch für schwere
körperliche Verletzungen mit tätlichem Aus»
gang und für Zauberei geübt. Besonders
schwer gerächt wird schwerer Ehebruch und
der Verdacht, durch Zauberei den Tod eines
Menschen herbeigeführt zu haben. — Für
schwere Verwundungen Pflegt man sich da¬
durch zu rächen, daß man gemäß dem Prinzip
der „Aquiws" dem Gegner wieder eine schwere
Verwundung zufügt. Bei zweifellos zufälligem
Totschlag oder Verwundung begnügt man
sich dagegen mit Zahlung von Bußen, ohne
jemand eine Verletzung zuzufügen.
Dem Buche sind siebenunddreißig Stamm¬
tafeln angehängt, die das Leben und Schicksal
einzelner Persönlichkeiten, in denen sich die
Begebenheiten des Lebens gleichsam kristalli¬
sieren, verfolgend, wirkliche Vorkommnisse,
ihre Ursachen und ihren Ablauf feststellen
und erörtern. In Verbindung mit den Aus¬
führungen des darstellenden Teils gewähren
sie einen außerordentlich interessanten Einblick
in die biologischen Verhältnisse der Bevölkerung
von Buin (Bougcrinville) und Lambutjo (Ad¬
miralitätsinseln).
Besonders möchte ich endlich auf die sta¬
tistischen Ergebnisse aufmerksam machen, die
der Verfasser in den Abschnitten: Gesamt¬
statistik, Generationsstufen, Verhältnis der
männlichen zur weiblichen Bevölkerung, Ver¬
hältnis der Gesamtbevölkerung zu den Kindern,
Volksvermehrung, Kindersterblichkeit, Heirats¬
statistik (insbesondere Einehe und Mehrehe),
aus den Stammtafeln ableitet. Die Aus¬
wertung dieser Ergebnisse ist für die Praktischen
Fragen der Eingebvrenenpolitik von unver¬
kennbarer Bedeutung.
Wer mit der Urgeschichte der Kultur, den
Kräften, welche bestimmend auf das Zusammen¬
leben der Menschen einwirken, sich zu be¬
schäftigen Sinn und Neigung hat, der sei, ob
Gelehrter oder Nichtgelehrter, auf die feinen
Beobachtungen und fesselnden Mitteilungen
Thurnwalds hingewiesen.
Zweiter Band. (Bielefeld und Leipzig,
Velhagen K Klasing.) Anfangs 1911 (Heft 10)
zeigte ich hier den ersten Band von Busses
„Geschichte der Weltliteratur" an — jetzt liegt
das Werk mit dem zweiten vollendet vor.
Er führt von der Gegenrenaissance und Gegen¬
reformation des siebzehnten Jahrhunderts bis
zur Gegenwart und behandelt in drei großen
Abschnitten das siebzehnte, das achtzehnte und
das neunzehnte Jahrhundert, wobei selbst¬
verständlich der deutschen Dichtung verhältnis¬
mäßig der Hauptraum zugemessen wird. Auch
hier erkennt man überall den Dichter, der
nach künstlerischer Anschauung strebt, und den
Erzähler, der fesselnd berichtet. Die Abschnitte
sind wohlgegliedert, in sich zusammenhängend
und lesen sich gut, ja, man wird gespannt
und ist stets der Fortführung begierig. Im
neunzehnten Jahrhundert stellt Busse sehr sein
die deutsche und die französische Literatur der
sechziger Jahre nebeneinander und zeigt aus
dem Vergleich der Dichtung des zweiten
Kaiserreichs mit der bürgerlich-realistischen
deutschen Zeitgenossenschaft, wie notwendiger¬
weise jenes Volk zum Sturz und dieses zum
Siege gelangen mußte. Busse gibt von jedem
Dichter nach Möglichkeit ein persönliches Bild
und geht dabei freilich manchmal etwas zu
weit. Er wählt nicht den Weg, daß zuerst
das Werk an sich und dann alles das kommt,
was wir durch Erinnerungen und Briefe vom
Leben des Dichters wissen, sondern das
ästhetisch Zweite wird ihm oft das Erste.
Wohlverstanden: alle Dichtung soll am Leben
gemessen werden, wie das Busse tut, aber
seine wiederholte Ausführung über die „Kerls"
die hinter dem Werk stehn, würde, so wie er
sie manchmal übersteigert, schließlich dahin
führen, nicht nur, wie er das tut, Heine,
sondern auch Geibel über Mörike zu setzen;
denn Geibel war ein ganzer Mann, der weder
Rücksichten nach oben noch nach unten kannte,
und wenn seine nationale Überzeugung in
Frage kam, ebenso wie Heyse, auf Ehrensold
und Fürstengunst unpathetisch und mit männ¬
licher Würde verzichtete. Hier liegt etwas
schiefes in Busses Auffassung, wie er Wohl
überhaupt das neunzehnte Jahrhundert als
„das der Gebundenheiten" etwas einseitig
betrachtet. Mit Befremden habe ich den
Schluß seiner Ausführungen über Wilhelm
Raabe gelesen. Nach der zum Teil vortreff¬
lichen Darstellung des Dichters erwartet man
alles andere als das Endurteil, seine Werke
würden der Vergänglichkeit rasch ihren Tribut
zahlen und keine Dauer haben. Als be¬
sonders gelungen hebe ich die Charakteristik
von Gerhart Hauptmann hervor, den Busse
mit wärmster Liebe umfaßt, und was Busse
über die Artistenkunst sagt, ist vortrefflich.
Busses Anschauung über Heine ist ein Kern¬
stück des Buches, ich teile sie ganz und gar
nicht, stelle vor allem Liliencron hoch über
Heine, aber ich leugne auch als Gegner nicht,
daß Busses ernste Auseinandersetzung Hand
und Fuß hat und sich von der vielfachen Ver-
bummelung des Dichters vernünftig fernhält.
Im ganzen ein ernsthaftes, überall an¬
regendes, vielfach wertvolle Ergebnisse bringen¬
des Werk. So wie Busse sich als Lyriker
bis zu den gehaltvollen Versen der „Heiligen
Not," als Novellist zu den ergreifenden
„Schülern von Polajewo" sin ihrer neuen
Fassung) entwickelt hat, hat er auch als Literar¬
historiker von seiner einstigen „Geschichte der
deutschen Dichtung im neunzehnten Jahr¬
hundert" bis zu diesem Werk einen Weg der
Klärung und der Arbeit, gesteigerter Schauens-
fähigkeit und Eindringlichkeit zurückgelegt,
der Achtung abnötigt und seinem Bilde ein
weit schärferes Gesicht gibt, als es vordem
für uns hatte.
Band 3 bis 6.
(Verlag I. C. C. Bruns, Minden i. W.; brosch.
je 4,50 M., geb. 6,50 M.)
Es sollte zu den unnötigen Aufgaben ge¬
hören, auf Edgar Man Poch Bedeutung noch
in unseren Tagen hinzuweisen. Aber noch
immer gibt es Leute, welche in ihm nur den
bekannten Erzähler spannender oder aufregen¬
der Geschehnisse erblicken und den großen, in
seiner Art unerreichten Dichter niemals er¬
kennen können. Die billigen Ausgaben seiner
Novellen beschränken sich, dank der Speku¬
lationssucht der Verleger, nur auf den Teil
seines Schaffens, der dem grobsinnigen Publi¬
kum (also der Mehrheit, die nach Sckillers
unsterblichem Worte der Unsinn ist) ange¬
nehme Schauer einflößt, etwa wie eine Mord¬
geschichte im „Kintopp"; denn das Letzte, das
Tiefste bleibt ihnen auch hier verschlossen und
fremd. — Gewöhnlich wird Poe mit unserem
E. Th. A. Hoffmann zusammen genannt oder
verglichen. Ein verhängnisvoller Irrtum!
Gewiß: beide haben Spukgeschichten krausester
und grausigster Art geschrieben. Hoffmann,
der Fabulierer, hat mehr Freude am Phan¬
tastischen Erfinden; Poe, der Dichter, am
phantastischen Scharfsinn. Jener mehr Sprung¬
hafte Grimasse, dieser starres, nach innen
glühendes Auge. Dort oft zügelloses Sich¬
verlieren im Schauerlichen, hier bis zur Grenze
gesteigerte Möglichkeit. (Man vergleiche z. B.
Hoffmanns „Majorat" und Poch „Untergang
des Hauses Asser".) Das eben erscheint mir
das Wichtige und so Wertvolle: er ist ein
Rätselrater, ein Denker; ein scharfer Intellekt
beherrscht auch die wunderlichsten Gebilde
seiner ausschweifenden, heißen Phantasie. Er
waltet in jenem Grenzreiche, wo der Men¬
schenverstand entweder in leeren Wahnsinn
oder in genial gehobene Trunkenheit fällt;
die Wahrscheinlichkeiten, die er anrührt und
gleichsam mit Plötzlichen Lichtstrahle aus frem¬
der Finsternis beleuchtet, verlieren fast das
Ungewöhnliche und dünken uns nach und nach
wie Selbstverständlichkeiten. Das Nebensäch¬
lichste, Geringste wächst zu schier ungeahnter
Bedeutung; im Grotesken liegt stets ein Pro¬
blem verborgen. Wer sich über Poe näher
unterrichten will, der lese — außer den
Werken! — vor allem die wundersamen Auf¬
sätze Baudelaires, die der Verlag Bruns
gleichfalls herausgegeben hat in der vortreff¬
lichen Aufgabe von Baudelaires Werken; sie
bilden in ihrer warmen Anteilnahme, in ihrem
schwerduftenden Stil das Schönste, was über
den großen Amerikaner gesagt ist.
Diese vier Bände, die bis jetzt erschienen
sind, bergen die Kriminalerzählungen, die
humoristischen, grotesken und grausigen No¬
vellen und die Abenteuergeschichten. Die Über¬
setzungen lesen sich vortrefflich und bewahren
einen Hauch von Edgar Poch glashellen,
klarem Stile. Marcus Behmer schmückte die
Bücher mit Zeichnungen; es ist eine Wonne,
die Prächtigen Bände in Händen zu halten
und an stillen Abenden zu Gefährten zu wählen.
So möge auf dieses überaus wertvolle, ver¬
dienstreiche Unternehmen des eifrigen Ver¬
lages nachdrücklich hingewiesen sein. Es über¬
mittelt den Deutschen einen echten, seltenen
Dichter. Die moralisierenden Philister aber
mögen geruhig zetern, wie die Leute in Spieß-
burgh, als eS dreizehn schläget Freien Geistern
ist Poe ein bestimmendes Ereignis I
Nachdruck sämtlicher Aufsähe nur mit ausdritcklicher Erlauinis des Verlags gestattet,
verantwortlich: der Herausgeber George Eleinow in Berlin-Schöneberg. — Manuslriptsendungen und Briei«
werden erbeten unter der Adresse:
A» de» HerlMSgeier der Grenzbotr» in Berlin-Friedena«, Hrdwiaftr. 1».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Abt-.no SKSO, de» Verlag»: Amt Lützow SSI».
Verlag: Verlag der «renzooten S. in. b. H. in Berlin SV. 11.
»ruck: .Der lNeich»b»te' «. in. i. H. in Berlin SV/. 11, Dess-ner Straf,« »SM.
Kinbanddecken für die Krenzboten
Ausgabe ^: Halbfranz. Dunkelgrüner Lederrücken und
Ecken, gekörnter Bezug, Schrift in Goldpressung. M. 1.7S.
Ausgabe S: Leinen. Dunkelgrünes Rohleinen, Pressung in
Schwarz mit Gold. M. 1.—.
13 Aeste — ein Vierteljahr — bilden einen Band, für den
ganzen Jahrgang sind demnach vier Decken erforderlich.
-------- Jede Buchhandlung vermittelt den Bezug. ---------
Einen Prospekt mit Abbildungen der beiden Ausgaben nebst Bestellschein
sendet auf Wunsch der Verlag.
^^!mpSKr^.f°r zö-. Werlag der Hrenzvoten, G. in. b. s.
nennten von Festesjubel und frohlockender Feierstimmung sich den
kühlen Sinn des Kritikers zu bewahren, ist an sich schon ein schwierig
Ding, — doppelt schwierig, wenn man selbst getragen wird von
dem Bewußtsein der Bedeutung einer Feier über den Jubiläumstag
hinaus, wenn Freude am Erreichten Herz und Sinn gefangen hält, und wenn
frohes Hoffen die Brust schwellt. Es war, man mag noch soviel nach Un¬
günstigem suchen und schürfen, sich noch so lebhaft mancher sorgenvollen
Stunde und manches kritischen Augenblicks erinnern, doch eine segensreiche
Zeitspanne dieses erste Vierteljahrhundert der Regierungszeit Kaiser Wilhelms
des Zweiten!
Kein Gebiet des Volkslebens, möge es Fragen der Wirtschaft, der Kunst,
der Wissenschaft berühren, gibt es, auf dem nicht eine mächtige Entfaltung zu
beobachten wäre, — kein Gebiet, auf dem sich nicht lebensstarke Keime entwickelt
hätten und stürmisch zur Reife drängten, kein Gebiet, auf dem wir nicht dem
bis 1870 oder 1888 überlegenen oder führenden Auslande erheblich nahe ge¬
kommen oder es gar überflügelt hätten. Nicht nur mit der Flotte sind wir
von einer unbedeutenden Stelle zur zweiten unter den Völkern aufgerückt. —
in vielen Dingen marschiert Deutschland an der Spitze aller Kulturnationen!
Und das ist erreicht ausschließlich mit friedlichen Mitteln, konnte erreicht werden
lediglich durch die Wucht deutschen Fleißes, deutscher Intelligenz und deutscher
Arbeitstüchtigkeit, die keine anderen Hilfsmittel verwandten, als wie sie der
sorgsam behütete Frieden eines Kulturvolkes schafft. Die einzige Tatsache, daß
Germania heute nicht nur allen ihren eigenen Kindern Brot und Arbeit gibt,
vielmehr auch noch einer Million Fremden, sollte genügen, um das Heil dessen
auszurufen, der fünfundzwanzig Jahre zielsicher am Steuer gestanden hat.
Wilhelm der Zweite hat sich zwar entsprechend den Aufgaben der Zeit kein
weit sichtbares Denkmal von der Gewaltigkeit der Dimensionen setzen können,
wie es einst mit Bismarcks, Moltkes und Roons Hilfe am 18. Januar 1871
zu Versailles errichtet wurde, aber er hat zusammen mit seinem Volke in zäher,
unverdrossener Alltagsarbeit, die er sich durch Kunstgenuß und Reisen mit
romantischem Sinn zu veredeln trachtet, Bausteine geformt, zusammengetragen
und beHauen, und manchen neuen Strebebalken in den alten Bau gefügt.
Möge es ihm vergönnt sein im engen Zusammenwirken mit der Nation,
in weiteren fünfundzwanzig Jahren nun als ein Künstler auf der Höhe seiner
Lebens- und Schaffenskraft jenes gewaltige Werk der Reichsgründung so aus¬
zugestalten, daß alle die hohen Ideale, denen er selbst als Mensch und Staats¬
mann nachhängt, für die Menschheit und für den Staat keine bessere Pflegstätte
finden könnten als im Deutschen Reiche.
le elsaß-lothringische Regierung befindet sich in einer recht üblen
Lage. Ihre durch Veröffentlichungen im Matin bekannt ge¬
wordenen Anträge zum Reichsvereins- und Preßgesetz, durch die
sie sich Handhaben gegen die deutsch - feindlichen Umtriebe des
Nationalismus verschaffen wollte, haben ihr die Mißbilligung
sämtlicher Fraktionen der Zweiten Kammer und ein zwar höflich formuliertes,
aber keineswegs weniger klares ablehnendes Votum der Ersten Kammer des
Landtags zugezogen; außerdem haben sie zu einer Jnterpellation im Reichstage
geführt, nach deren Ergebnis es feststeht, daß nur eine kleine Minderheit für
einen den Anträgen entsprechenden Gesetzentwurf eintreten würde. Elsa߬
lothringische und altdeutsche Zeitungen demokratischer und klerikaler Richtung
ziehen aus alledem den Schluß, daß die Regierung abgewirtschaftet habe und
von Rechts wegen von der Bildfläche verschwinden müßte. Wenn auch die Regeln
parlamentarisch regierter Länder für sie nicht gelten, so sei es doch ein Gebot
der Selbstachtung und des Respekts vor der Verfassung, dem nahezu einstimmigen
und vom Reichstag anerkannten Spruche der Volksvertretung Elsaß-Lothringens
zu weichen.
Diese Argumentation klingt recht überzeugend, macht aber, abgesehen von
ihrem Eingriffe in die kaiserlichen Rechte, den großen Fehler, eine Verantwor¬
tung der elsaß-lothringischen Regierung vor dem Landesparlament zu konstruieren,
wo es sich um reichsgesetzliche Angelegenheiten handelt. Die elsaß-lothringische
Regierung ist, wie die jedes einzelnen Bundesstaates, berechtigt, ohne Anhörung
des Landesparlaments Anträge beim Bundesrat zu stellen, sobald sie von ihrem
Standpunkt aus, der sich keineswegs mit dem der Volksvertretung zu decken
braucht, die reichsgesetzliche Regelung einer bestimmten, der Zuständigkeit des
Reiches unterliegenden Frage für erforderlich hält. Geht der Bundesrat auf
ihre Anträge ein, dann ist es Sache des Reichstags, sich für oder gegen die
betreffenden Anträge zu entscheiden, wobei er sich die Ansicht der Volksvertretung
des in Frage kommenden Einzelstaates als Richtschnur dienen lassen kann, wenn
er ihr eine genügend große Bedeutung beimißt.'
Selbstverständlich wird in allen Bundesstaaten, in denen gefestigte Ver¬
hältnisse bestehen und für den Verkehr zwischen Regierung und Parlament klare
Traditionen geschaffen sind, die Regierung auch in reichsgesetzlichen Angelegen¬
heiten mit ihrer Volksvertretung Fühlung zu nehmen suchen, bevor sie einen
entscheidenden Schritt unternimmt. In Elsaß-Lothringen sind diese Voraus¬
setzungen einstweilen aber noch nicht gegeben. Es herrscht dort noch nicht das
für konstitutionell, aber nicht parlamentarisch regierte Staaten natürliche Be¬
streben, zwischen Regierung und Volksvertretung einen dem Lande dienlichen
Machtausgleich zu schaffen, sondern das Parlament und besonders seine Zweite
Kammer suchen von den Rechten der Regierung soviel wie irgend möglich für
sich zu usurpieren. Die Verfassungsreform von 1911 hat zunächst die Wirkung
gehabt, die Volksvertretung im wesentlichen antigouvernemental und außer¬
ordentlich geneigt zu machen, ihre eigenen Rechte auf Kosten der Regierung zu
erweitern. Darunter leiden in erster Linie diejenigen Aufgaben der Regierung,
die diese im Reichsinteresse zu erfüllen hat.
Mir ist aus der Zeit der Einführung der neuen Verfassung ein Ausspruch
eines elsässischen Politikers bekannt, der für diese Erscheinung sehr bezeichnend
ist. Dieser Herr — eine bekannte politische Persönlichkeit — erwiderte auf die
Klage einiger Parteifreunde, daß die neue Verfassung dem Lande doch auch
nur beschränkte Selbstverwaltungsrechte bringe: „zweifellos hat die neue Ver¬
fassung noch manche Lücken und enthält uns noch verschiedene Rechte eines
autonomen Bundesstaates vor. Aber schließlich wird sie für uns die Bedeutung
haben, die wir ihr zu geben wissen. Darum müssen wir so auftreten, als ob
sie uns alle politischen und parlamentarischen Rechte gebracht hätte." Nach
diesem Grundsatz handeln praktisch sämtliche in der Zweiten Kammer vertretenen
Parteien und gehen dabei über ihre wirkliche Zuständigkeit oft weit hinaus.
Es ist daher nicht anzunehmen, daß die elsaß-lothringische Regierung die
Mißbilligung der Zweiten Kammer allzu schwer empfinden wird. Im Falle
Grafenstaden hatte sie schon etwas ähnliches erlebt und auch die Erfahrung
gemacht, daß einzelne Abgeordnete, die wacker mit für das Mißtrauensvotum
gestimmt hatten, ihr hinterher die Versicherung gaben, eigentlich sei die Sache
gar nicht nach ihrem Wunsch gewesen.
Außerdem hat die elsaß-lothringische Regierung noch einen sehr triftigen
sachlichen Grund, die Bedeutung der Resolution der Zweiten Kammer nicht zu
überschätzen. Das Hauptargument, auf das sich die verschiedenen Fraktionen
bei der Verurteilung des Vorgehens der Regierung stützten, war die Behauptung,
ihre Parteien wollten von dem chauvinistischen Nationalismus nichts wissen,
und das Volk werde diesen aus eigener Kraft überwinden, ja habe ihm bereits
eine deutliche Absage erteilt. Diese Behauptung entspricht — und das weiß
die Regierung ganz genau — nicht den Tatsachen. Allerdings haben sich die
Parteien Wetterle gegenüber, als dieser seine hetzerischen Vorträge in Frankreich
gehalten hatte, einmal zu mehr oder minder kräftigen Protesten aufgeschwungen,
aber diese Kundgebungen, die nebenbei beim Zentrum mit vielen Entschuldigungen
für den Missetäter verbrämt waren, entsprangen keineswegs dem nationalen
Verantwortlichkeitsgefühl, sondern in erster Linie der Besorgnis, Wetterlös
Reden könnten die in jener Zeit ohnehin so gespannten Beziehungen zwischen
Frankreich und Deutschland noch weiter verschärfen und die Kriegsgefahr erhöhen.
Im übrigen aber wird der Nationalismus von den einzelnen Parteien immer
nur dann bekämpft, wenn er sich bei einer anderen Partei zeigt. Im eigenen
Lager übt man eine weitgehende Toleranz und duldet nicht nur die alles
Deutsche verabscheuenden nationalistischen Vereine, sondern auch die nationalistischen
Blätter, die systematisch das Ansehen des Deutschtums untergraben und fran¬
zösische Kultur, französische Einrichtungen und Anschauungen in allen Tonarten
preisen und ihre politischen Betrachtungen ganz unter dem Gesichtswinkel der
politischen und Geschichtsauffassungen Frankreichs anstellen. Ja selbst die viel
gerühmte und bei den Jnterpellationsdebatten über die Anträge der Regierung
wieder gefeierte Niederwerfung einiger rationalistischer Führer bei den ersten
Wahlen zum elsaß-lothringischen Landtag im Jahre 1911 erweist sich für den¬
jenigen, der die Dinge aus der Nähe betrachtet hat, keineswegs als eine
Niederlage des Nationalismus. Denn um die klerikalen, oder dem Zentrum
nahestehenden Nationalisten Laugel, Preiß, Blumenthal zur Strecke zu bringen,
mußte die Gegenseite den demokratischen Nationalismus zu Hilfe rufen und
ihm einen recht beträchtlichen Einfluß einräumen. Also weniger dem Nationalismus
als dem Klerikalismus galt der Kampf, und von der Kraft der Parteien und
des Volkes, sich selbst von den nationalistischen Hetzern zu befreien, hat man
auch da herzlich wenig verspürt.
So hat die elsaß-lothringische Negierung tatsächlich keinen Grund, die bei
der Begründung der Mißbilligungsresolution in der Zweiten Kammer abgegebenen
vollklingenden Versicherungen für etwas anderes zu halten, als für ein Mittel,
ihr Vorgehen vor dem Lande ins Unrecht zu setzen. Daher hätte der Staats-
sekretär Freiherr Zorn von Bulach sich die Anerkennung, daß die Zweite
Kammer sich so einmütig gegen die Nationalisten ausgesprochen habe, ruhig
sparen können.
Auch der Einwand, daß der elsaß-lothringischen Regierung jetzt schon aus¬
reichende Möglichkeiten gegeben seien, deutsch-feindlichen Treibereien ein Ende
zu machen, da sie im Notfall ja die Gerichte anrufen könne, ist wenig stich¬
haltig. Nur in Ausnahmefällen wird es gelingen, die nationalistischen Feinde
des Deutschtums auf einer strafrechtlich belangbaren Handlung zu ertappen.
So vorsichtig sind die Herren schon, daß sie den Schlingen des Strafgesetzbuches
aus dem Wege gehen. Dafür hat die Freisprechung des Souvenirpräsidenten
Jean vor dem Metzer Schöffengericht, die von klerikalen und demokratischen
Zeitungen als eine neue Niederlage der Regierung gefeiert wird, erst jetzt
wieder einen schlagenden Beweis geliefert. Die Regierung hat sich auch wohl
gehütet, die Gerichte anders als in ganz zwingenden Fällen in Anspruch zu
nehmen, denn neben der Gefahr eines Mißerfolges scheute sie mit Recht auch
das Odium, das einer gerichtlichen Wahrung ihrer Autorität stets anhaften
müßte.
Die Anträge, die die elsaß - lothringische Regierung beim Bundesrat ein¬
gebracht hat. sind sachlich nur zu gut begründet, und manches liebe Mal habe
ich in Gesprächen mit Alt- und Neu-Elsaß-Lothringern den Wunsch, daß etwas
ähnliches kommen möge, aussprechen hören. Aber freilich — öffentlich wird
so leicht kein elsaß-lothringischer Abgeordneter für sie einzutreten wagen, da ein
derartiger Mutbeweis ihm unter Umständen das Mandat und seiner Partei so
und soviel hundert rationalistischer Anhänger kosten würde. Daran hat sich die
Regierung aber nicht zu kehren. Für sie handelt es sich einzig und allein um
die Frage, ob die nationalistischen Treibereien tatsächlich einen die friedliche
und deutsche Entwicklung des Landes gefährdenden Umfang angenommen hat,
und ob die ihr zur Bekämpfung dieser Gefahr zur Verfügung stehenden Mittel
wirklich nicht ausreichen. Daß sie dieser Überzeugung ist, geht aus ihren An¬
trägen hervor, daß sie sie aber keineswegs erst in letzter Zeit gewonnen, sondern
schon vor der Verfassungsreform besessen hat, weiß ich bestimmt. Wenn sie
gleichwohl erst jetzt mit ihren Anträgen hervortrat, so hat das folgenden Grund:
Bei der Schaffung des Reichsvereinsgesetzes war sie mit ihren Bedenken
gegen die unbeschränkte Ausdehnung des neuen Gesetzes auf Elsaß-Lothringen
nicht durchgedrungen. Das schloß die Formulierung dieser Bedenken in An¬
trägen an den Bundesrat unmittelbar nach Einführung des Reichsvereinsgesetzes
selbstverständlich aus. Dann kam die Verfassuugsreform. Für sie setzte sich die
elsaß - lothringische Regierung und besonders der Statthalter mit aller Kraft
ein. Das geschah nicht, um den Nationalismus durch sie zu vernichten,
sondern um der nicht nationalistischen großen Mehrheit des elsaß - lothrin¬
gischen Volkes die Rechte und Freiheiten zu geben, die sie durch ihr loyales
Verhalten verdient hatte. Aber die Hoffnung, daß die Bevölkerung sich
von den Einflüssen rationalistischer Neichsfeindlichkeit befreien würde, so¬
bald sie zu größerer politischer Selbständigkeit emporgehoben und mit
einer größeren politischen Verantwortung ausgestattet worden sei, war
bei der Regierung zweifellos vorhanden. Erst als sich zeigte, daß diese Hoff¬
nung falsch gewesen war, daß der Nationalismus infolge der Mandatsjagd
der einzelnen Parteien in nationalistischen Kreisen erst recht zu politischer Be¬
deutung gelangte und die Parteien alles vermieden, was den nationalistischen
Teil der Bevölkerung vor den Kopf stoßen konnte, sah sie sich durch ihr natio¬
nales Pflichtgefühl gezwungen, beim Bundesrat zu beantragen, daß ihr auf den
Gebieten des Vereins- und Preßwesens größere Vollmachten eingeräumt würden.
Also nicht als eine Bankerotterklärung, der mit der Verfassungsreform eingeleiteten
Versöhnungspolitik, sondern als deren logische Folge sind die Regierungsanträge
zu betrachten. Hätte der elsaß-lothringische Landtag und besonders die Zweite
Kammer sich früher zu der Absage an den Nationalismus aufgeschwungen, zu
der sie sich jetzt, als sie die Regierung ernst machen sah. entschloß, und —
was noch weit wichtiger ist — hätten die Parteien auch für sich selbst ehrlich
die Konsequenzen einer solchen Absage gezogen, dann wären die Anträge der
Regierung nicht nur überflüssig, sondern direkt ein Fehler gewesen. Statt dessen
hat man sich jetzt zwar in eine gewaltige Entrüstung über die Regierung hinein¬
geredet, aber weder dem elsaß-lothringischen Zentrum, noch der elsässischen Fort¬
schrittspartei, noch der Lothringer Partei wird es einfallen, auch nur einen
nationalistischen Abgeordneten von sich abzuschütteln und irgendeinem nationalistischen
Verein oder nationalistischen Blatt, wofern sie nicht parteipolitisch zur Gegen¬
seite gehören, den Kampf anzusagen.
Wenn der Reichstag sich bei der Besprechung der Jnterpellation über die
elsaß-lothringischen Anträge an diese Tatsachen gehalten hätte, dann wäre dem
deutschen Volke doch wohl das betrübende Schauspiel erspart worden, daß der
weitaus größte Teil der Volksvertretung sich von der scheinbar so einmütiger
Entrüstung der elsaß-lothringischen Parteien und des elsaß-lothringischen Par¬
laments über die Nationalisten irreführen ließ. Hoffentlich verfällt wenigstens
der Bundesrat nicht in denselben Fehler, denn sonst hätte nicht nur die elsa߬
lothringische Regierung, sondern die ganze deutsche Reichspolitik gegenüber dem
Nationalismus eine kaum wieder gut zu machende Niederlage erlitten.
u den ersten Regierungshandlungen, die Kaiser Wilhelm der
Zweite im Jahre 1888 vornahm, gehören die Besuchsreisen bei
den Höfen befreundeter Mächte. Am 15. Juni hatte der neun-
undzwanzigjährige Monarch den Thron bestiegen und schon einen
Monat später zog er an der Spitze eines ansehnlichen Geschwaders
nach Nordosten, den Zarischen Oheim zu begrüßen. Gleich daran schlossen sich
die Besuche in Stockholm und Kopenhagen, während Wien und Italien erst im
Herbst aufgesucht wurden. Welche politisch-sachlichen Gründe und Erwägungen
den Kaiser seinerzeit veranlaßt haben, die erwähnten Besuche gar so bald nach
der Thronbesteigung und auch in der angegebenen Reihenfolge zu unternehmen,^'LZ
soll nicht erörtert werden; es sprechen genug persönliche dafür: die bis dahin
unbefriedigt gelassene Reiselust des Monarchen, seine große Vorliebe für die
Marine.
Bismarck hat auch zu den politischen Reiseplänen und der Art ihrer Ausführung
den Kopf geschüttelt, aber sich schließlich doch nicht ernsthaft widersetzt, sich vielmehr
damit begnügt, dem Kaiser in den Personen seines Sohnes Herbert, damals Staats¬
sekretär des Auswärtigen Amtes, und des Legationsrath von Kiderlen-Waechter
Begleiter beizugeben, die ihm über alle Einzelheiten des Verlaufs der Reisen
zuverlässig berichten konnten. Die Beobachtungen des Staatssekretärs haben in¬
dessen die Bedenken des Kanzlers nicht nur nicht zerstreut, sondern verstärkt,
und als der Plan zum ersten Male auftauchte, außer den offiziellen Reisen
eine Vergnügungsfahrt nach Norwegen zu unternehmen, hat Bismarck ihn im
Keime zu unterdrücken versucht. Alle die Eigenschaften des Kaisers, die ihm die
Sympathien aller derer erwerben, die mit ihm in außeramtliche persönliche
Berührung treten, hat Bismarck als weltkluger Staatsmann beargwöhnt. Die
große persönliche Liebenswürdigkeit des dritten Kaisers, seine Bereitwilligkeit
auf interessante Anregungen einzugehen, ohne viel zu fragen woher sie
kommen, verbunden mit soldatischem Freimut, daneben der nicht fortzuleug¬
nende Hang, die Realitäten des Lebens durch die Kunst zu verbrämen, was
leicht romantischen Neigungen Nahrung gibt, — alle diese Eigenschaften, so
fürchtete Bismarck, könnten fremden, besonders ausländischen Einflüssen die Wege
zum Kaiser ebnen und die Durchführung politischer Aufgaben stören und zwar
um so leichter, als die Kürze der Regierung Friedrichs des Dritten den
jungen Kaiser gehindert hat, sich bereits allseitig und gründlich für
seinen erhabenen und verantwortungsvollen Beruf vorzubereiten; noch andert¬
halb Jahre vor dem Tode des großen Dulders, wie Bismarck den Kaiser
Friedrich nannte, konnte der Prinz Wilhelm nicht ahnen, daß die Nation seiner
so bald bedürfen würde.
Man wird die Bedenken des ersten Kanzlers und Erbauers des Reiches ver¬
stehen, dessen Tätigkeit zu einem nicht unerheblichen Teil in der Abwehr fürst¬
licher und fremder Einflüsse, die sich bei seinem Allerhöchsten Herrn durchsetzen
wollten, bestanden hat. Aber ebenso wird man den Monarchen begreifen, der, auf
die mit seinen Reisen verbundenen Gefahren aufmerksam gemacht, sich sein persön¬
liches Vergnügen nicht schmälern lassen wollte, nachdem er die Überzeugung,
ihnen ausweichen oder begegnen zu können, gewonnen hatte.
Der junge Kaiser hat um seine erste Nordlandsreise im Jahre 1889
einen harten Kampf führen müssen. Schon im Jahre 1888, als der Kaiser,
angeregt durch die Schönheiten einer Schärenfahrt zwischen Rußland und Schweden
und bezaubert durch das malerisch-imposante Bild der Hafeneinfahrt von Stockholm,
den Wunsch äußerte, auch die norwegische Küste kennen zu lernen, hat Bismarck
Schwierigkeiten bereitet, — im übrigen verbot sich die Fahrt wegen der vorgerückten
Jahreszeit und den einmal angefangenen politischen Besuchen von selbst. Als
dann nach sorgfältiger Vorbereitung des Reiseprogramms durch den bekannten
Forschungsreisenden Dr. Güßfeldt der Zeitpunkt für die Nordlandsreise im Sommer
1889 festgelegt werden sollte, hat Bismarck kein Mittel unversucht gelassen, die Reise
doch noch im letzten Augenblick zu hintertreiben. Noch am 2. Juni 1889 hoffte
Bismarck, wie sein Sohn Herbert mitteilt, daß die Reise unterbleiben würde: der
Leibarzt des Kaisers wurde mit angespannt, das Ziel zu erreichen; der Kaiser sollte
in ein deutsches Bad gehen; Bismarck ließ kein Mittel unversucht! Als schließlich
der Kaiser seinen Willen dennoch durchsetzte, gab es „eine furchtbare Hatz" und
die erste Nordlandsreise mußte unter so ungünstigen Auspizien angetreten werden,
daß Kiderlen am 10. Juli notieren konnte: „der Zeitpunkt der Abreise war
allerdings ein recht kritischer ... es handelt sich um nichts weniger als um eine
Kanzlerkrise . . ." und ein Jahr später, als schon Caprivi Reichskanzler war:
„ ... ich hoffe jedenfalls, daß diesmal sür mich die Reise dienstlich leichter
wird, als voriges Jahr, wo bereits die .Konflikte' anfingen. Schon sehr ernst!
Ich durfte damals den tampon machen, habe mich redlich für die Bismarcks
abgeschunden . . "
Aus der Stimmung der angedeuteten Kämpfe heraus gewinnen auch die
Worte des Kaisers vom 5. März 1890 eine besondere Bedeutung, mit denen
er seine Nordlandsreisen begründet:
„Bei Meinen Reisen habe Ich nicht allein den Zweck verfolgt, fremde Länder
und Staatseinrichtungen kennen zu lernen und mit den Herrschern benachbarter
Reiche freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, sondern diese Reisen, die ja viel¬
fach Mißdeutungen ausgesetzt waren, haben für Mich den hohen Wert gehabt, daß
Ich, entrückt dem Parteigetriebe des Tages, die heimischen Verhältnisse aus der
Ferne beobachten und in Ruhe einer Prüfung unterziehen konnte. Wer jemals
einsam auf hoher See, nur Gottes Sternenhimmel über sich, Einkehr in sich
selbst gehalten hat, der wird den Wert einer solchen Fahrt nicht verkennen.
Manchen von Meinen Landsleuten möchte Ich wünschen, solche Stunden zu
erleben, in denen der Mensch sich Rechenschaft ablegen kann, über das, was er
erstrebt und was er geleistet hat. Da kann man geheilt werden von Selbst¬
überschätzung, und das tut uns allen not."
„Für die Dauer der Nordlandsreise," erzählt der schon erwähnte Geheimrat
Dr. Güßfeldt in Bongs Jubiläumswerk, „hat der Kaiser die Grenzen der Hof¬
etikette stark erweitert und gestattet seinen Fahrtgesellen eine große Bewegungs¬
freiheit im persönlichen Verkehr mit ihm." „Der Kaiser ist sehr nett und der
Verkehr äußerst zwanglos," bemerkte Kiderlen in dem schon erwähnten Schreiben
vom 10. Juli. „Der Kaiser sieht es nicht als Verstoß an, nimmt es vielmehr
freundlich auf, wenn man ihn an Deck — falls die Umstände es zulassen —
anredet, und oft entwickeln sich daraus Gespräche, die eine bleibende Erinnerung
zurücklassen."
Streng ist der Kaiser in der Handhabung der Dienstgeschäfte und in der
Beaufsichtigung der den einzelnen Personen des Gefolges übertragenen Ob¬
liegenheiten, wobei er das Bestreben, in alle Details einzudringen, mit großer
Umsicht in der Zeitausnutzung verbindet, aber doch nicht ohne Dringlichkeit! An
den einzelnen stellt er recht erhebliche Anforderungen. Kiderlen, dem die Bericht¬
erstattung an die Presse übertragen ist, stöhnt auch gelegentlich, als er in einem
Briefe an seine Schwester, Exzellenz von Lattre, „wegen der Details der Reise
ganz auf die Kölnische Zeitung, die seine Berichte bringen wird oder wenigstens
soll", verweist. „An der Länge derselben," fährt er fort, „könnt Ihr sehen,
was es mir für Mühe macht. Aber der Kaiser drängelt immer danach, ich
muß sie ihm vorlesen, er gibt dann auch noch seine Wünsche dazu und dann
gehen Abschriften an die Kaiserin. Die Gegendbeschreibungen finde ich besonders
langweilig, aber auf die hält gerade der Kaiser viel. Momentan schwelgt er
in Frithjofssage und Fischen, deren er heute fünf gefangen."
Dreimal am Tage vereinigt der Kaiser seine Gäste, nebst den Komman¬
danten und zwei Offizieren des Stabes, zu gemeinsamer Mahlzeit um sich: des
Morgens um neun Uhr, des Mittags um eins und des Abends um acht Uhr.
Man versammelt sich auf dem Achterdeck, nahe dem Eingang zum Speisesaal,
und erwartet die Ankunft Seiner Majestät. Bei der Tafel ist das durch die
Hofrangordnung vorgeschriebene Placement aufgehoben, man darf seinen Platz
nach eigenem Ermessen wählen; ausgenommen sind nur die Plätze rechts und
links von Seiner Majestät; über diese bestimmt der Hausmarschall, der stets
dem Kaiser gegenübersitzt und dafür sorgt, daß jedem Gast in wechselnder Folge
die Auszeichnung zuteil wird, das Mahl an der Seite Seiner Majestät ein¬
nehmen zu dürfen. Die Tafel erscheint lieblich und prunkvoll zugleich: lieblich
durch den nie fehlenden Blumenschmuck, der häufig von norwegischen Händen
dargebracht wird, prunkvoll durch die silbernen und goldenen Pokale, die der
Kaiser auf seinen Regatten errungen hat. Die Unterhaltung bei Tisch ist von
der angenehmsten Art. Zuweilen werden auch Kontroversen lebhaft diskutiert,
mit einem Hin und Her von Offenheit, in der sich jahrelange, freundschaftliche
Beziehungen widerspiegeln. Es herrschen dann nicht immer der leise Flüsterton
und die Gemessenheit in Haltung und Gebärde, die für die kaiserliche Hoftafel
im Berliner Schloß sich von selbst verstehen. Der Kaiser bekundet herzliche
Freude, wenn gelegentlich „die Geister aufeinander platzen", wenn die Kon¬
versation das akustisch erlaubte Maß überschreitet, wenn lautes Lachen an einem
unbotmäßigen Flügel erschallt, wenn Rede und Gegenrede über die Breite des
Tisches hinweg gewechselt wird.
„Kaiser Wilhelm der Zweite sieht in der Musik die Spenderin von Freuden
und inneren Erhebungen, die keine andere Kunst zu geben vermag. Deshalb
führt er eine Kapelle mit sich an Bord; sie ist gegenwärtig etwa achtunddreißig
Köpfe stark und verfügt über ein Repertoire von erstaunlicher Mannigfaltigkeit.
Das Orchester spielt regelmäßig bei der Mittag- und bei der Abendtafel. Nach
letzterer verlängert sich oft das Konzert, besonders in den Häfen, wo Hunderte
von Booten sich um das Kaiserschiff drängen, während ihre Insassen gespannt
lauschen und stets Beifall klatschen, wenn die norwegische Nationalhymne
ertönt."
Kiderlen, der übrigens in musikalischer Hinsicht ein Barbar ist, gibt zu
obiger Beschreibung am 16. Juli 1889 eine hübsche Illustration, indem er
berichtet:
„Die Reise geht nun also doch noch bis zum Nordkap, vor einer Stunde
haben wir den nördlichen Polarkreis überschritten. Die Gegend ist wild und
großartig, das Wetter prachtvoll.
Mein Geburtstag war doch nachträglich herausgekommen, und wurde am
11. Juli nachträglich durch ein von Leutnant von Hülsen vorgetragenes Gedicht
gefeiert, worauf sich der Kaiser erhob und mit mir anstieß.
Auf Anstiften Waldersees schenkte mir die Tischgesellschaft einen großen
Porzellanhumpen. Ich hoffe, daß Ihr über unsere Erlebnisse genügend durch
meine Reiseberichte in der Kölnischen informiert seid, und mich auch in dem ,in
Sandven zur Kur weilenden Landsmann' erkannt habt.
Die Abende verlaufen harmlos, teils musikalisch (!!!), teils zaubert Hülsen
etwas vor, teils muß man irgendetwas aufführen: ich habe schon den Zwerg
aufgeführt und zum allergrößten Gaudium des Kaisers das Licht ausgelöscht!!!
Nun werden wir gleich nach Bodo kommen, wo ich diesen Brief auf die
norwegische Post gebe. . . . Dann geht es über Tromsö, Hammerfest nach dem
Nordkap, von da auf dem Rückweg nach den Lofoten und dann in einer
geraden Tour nach Bergen (25. Juli)."
Die Umgebung des Kaisers während der ersten Nordlandfahrten umfaßte
nach den Angaben Güßfeldts dreizehn Herren; während der folgenden Reisen
wurde die Zahl um drei vermehrt. Das engere Gefolge setzt sich zusammen
aus den mit dienstlichen Funktionen betrauten Herren. Unter diesen muß der
Hausmarschall Seiner Majestät, Freiherr von Lyneker, an erster Stelle genannt
werden, der auf sämtlichen Nordlandreisen die Leitung der weit verzweigten
Hofhaushaltung verwaltete. „Alle übrigen Chargen, die der Kabinettschefs, der
beiden diensttuenden Flügeladjutanten und des Leibarztes haben im Laufe der
Jahre andere Vertreter gefordert. Zu dem engeren Gefolge treten nun die
sieben bis neun Gäste, die der Kaiser aus einem kleinen Kreise vor jeder Nord-
landreise auswählt. So ist es gekommen, daß vier Herren zu sämtlichen Reisen
befohlen worden sind; freilich haben nur zwei davon das Glück erfahren, tat¬
sächlich an den vierundzwanzig Fahrten teilzunehmen." Nach statistischen Aus¬
zügen aus vorhandenen Tagebüchern haben teilgenommen:
Außer von diesen wissen wir noch von dem Berliner Historiker und Uni¬
versitätsprofessor Dr. Theodor Schiemann und dem General Dickhut. daß sie
wiederholt Gäste des Kaisers auf seinen Seereisen gewesen sind. Herr Schiemann
hielt dem Kaiser historisch-politische Vorträge, wozu er bei dem großen Interesse,
das osteuropäische Fragen seit geraumer Zeit beanspruchen, durch seine berühmten
Forschungen über die neue russische Geschichte besonders berufen ist; General
Dickhut ist ein gleichfalls hochgeschätzter Historiker und Generalstäbler; sein
Spezialgebiet sind die Befreiungskriege.
Das eigentliche Gefolge und die Gäste bilden zwei Gruppen. Aber die
für alle geltende gemeinsame Tracht des Kaiserlichen Jachtklubs verwischt schon
äußerlich alle Unterschiede: „der Verkehr ist eingestimmt auf den Grundton der
Kameradschaft, des gegenseitigen Vertrauens und des daraus entspringenden
Freimuth."
(Fortsetzung folgt)
le Ära Althoff war für unsere höheren Schulen, wiewohl sie hier
noch kein volles Jahrzehnt gewährt hat, eme bedeutungsvolle
Epoche. Äußerlich genommen ist ihr Hauptverdienst, daß sie den
Schulstreit zwischen gymnasialer und realistischer Richtung, der in
den beteiligten Kreisen fast ein Menschenalter hindurch mit stei¬
gender Heftigkeit geführt worden war, beendigt oder ihm doch wenigstens den
Stachel der Berechtigungsfrage entzogen und dadurch den erbitterten Kampf in
einen friedlichen und fruchtbaren Wettbewerb verwandelt hat. Ihrer inneren
Tendenz nach aber ging die von Althoff angebahnte Richtung über diese, wenn
auch wichtige Einzelheit hinaus auf ein allgemeineres Ziel. Welcher Art dieses
war, hat am prägnantesten Fr. Paulsen einmal zum Ausdruck gebracht: „Das
vergangene Jahrhundert hat der deutschen Schule heilsame Normen gebracht.
Möge ihr das künftige erwünschte Freiheit bringen!"
Drei Männer sind es hauptsächlich, denen das Verdienst zukommt, die
freiheitliche Bewegung in unserem Schulwesen angebahnt zu haben. Zu Althosf
und Paulsen gehört als dritter Adolf Matthias, der einzige Überlebende von
ihnen, der noch in Frische und Kraft unter uns wirkt. Das gemeinsame Ziel,
das alle drei innerlich und zum Teil auch äußerlich untereinander verband,
war, mit dem alten starr und unfruchtbar gewordenen Gymnasialsystem zu
brechen, an seine Stelle den freien Wettbewerb verschiedener Richtwege, Lehrziele
und Stoffgebiete zu setzen und hierdurch eine Mannigfaltigkeit von geistigen
Kräften zu entbinden, die den Zustand der Jugend und das Leben der Nation
nach allen Seiten hin bereichern und fördern sollte. Paulsen, der Theoretiker
unter ihnen, war aus geschichtlicher Forschung und gerecht abwägender all¬
gemeiner Betrachtung dazu gelangt, für die neue Aufgabe einzutreten und sie,
gestützt auf umfassende Kenntnis der bisherigen Entwicklung, entscheidend zu
formulieren. Althoff, zum guten Teil von ihm angeregt und beeinflußt, hat
mit dem Blicke des Staatsmanns für soziale und geschichtliche Notwendigkeiten
diese Aufgabe ergriffen und mit den Machtmitteln seiner Herrschernatur frei¬
heitliche Ideen zu verwirklichen unternommen. Matthias, sein erster Gehilfe
und praktischer Ratgeber bei der Durchführung, ist derjenige von den dreien,
dem die freiheitliche Richtung am unmittelbarsten in der Natur und im Blute
liegt. Er brauchte nur sein eigenes Wesen in Tat umzusetzen, um der Sache
der erzieherischen Bewegungsfreiheit aufs beste zu dienen. Die glückliche
Harmonie, zu der er veranlagt ist, bewahrte ihn dabei zugleich vor Maßlosigkeit
und vor Enge.
Althoff, bis zu seinem Tode in unerschöpflich rastloser Tätigkeit, wenn
auch zuletzt nicht mehr im Amte stehend, hat keine Zeit für seine Denkwürdig¬
keiten gefunden, von denen er nicht selten träumte und gerne selbst zu Ferner-
stehenden sprach. („Bosheit war sein Lebenszweck", wollte der viel verschriene,
im innersten Grunde gütige Mann als ironisches Motto auf den Titel setzen.)
Paniscus schöne Selbstbiographie ist, soweit sie seine Jugendjahre umfaßt, der
Öffentlichkeit übergeben worden. Matthias, dem ein Geschick, das es besser mit
ihm als mit der deutschen Schule meinte, verhältnismäßig früh den Weg ins
Privatleben und damit in die rein literarische Tätigkeit gewiesen hat, ist hier¬
durch in den Stand gesetzt worden, der Öffentlichkeit ein Buch zu übergeben,
das man als den Ertrag seiner Lebenstätigkeit und seiner persönlichen Erfahrungen
bezeichnen kann*).
Es sind nicht Denkwürdigkeiten im überlieferten Verstände des Wortes,
was dieses Buch enthält, wohl aber in einem höheren und eigentlicheren Sinne.
Das Biographische tritt ganz zurück. Es beschränkt sich auf gelegentliche, mit
der Amtstätigkeit des Autors unmittelbar zusammenhängende Einzelheiten. Auch
das Schulgeschichtliche bildet nur in dem Kapitel über die beiden entscheidenden
Schulkonferenzen in den Jahren 1890 und 1900 den Gegenstand der Darstellung.
Vielleicht wird es nicht nur klatschsüchtige Neugier, sondern auch ernsthaft
historisches Interesse bedauern, daß Matthias uns, in offenbar gewollter Dis¬
kretion, so wenig von der internen Geschichte des Althoffschen Schulregimentes
verrät, von der schwerlich ein anderer soviel weiß als er. Allein die persön¬
lichen Erfahrungen aus Unterrichtsverwaltung, Schule und Erziehung bilden nur
die Unterlage und im einzelnen die Ausgangspunkte für die Darlegungen von
Anschauungen und Überzeugungen, welche den Gesamtkreis dieser Gebiete um¬
fassen und den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen. „Lebenserinnerungen,"
so charakterisiert Matthias die Anlage des Buches, „verweben sich überall mit
den Gedanken über Schule und Erziehung, die in festem Grund und Boden
einer nicht ganz armen Lebenserfahrung fußen."
Wenn somit die Ziele, denen die Darstellung zustrebt, rein sachlicher Natur
sind, so wird durch sie doch auch das persönliche und historische Interesse ent¬
schädigt. Denn die Persönlichkeit des Autors tritt gerade dadurch in ein um
so helleres und schärferes Licht, daß sie sich weniger absichtlich, gewissermaßen
naiver und ursprünglicher gibt, als es in einer Autobiographie der Fall sein
könnte. Der sachliche Gehalt des Buches aber zeigt uns zusammenfassend, was an
praktisch pädagogischen Ideen in jener geschichtlichen Epoche unseres Unterrichts¬
wesens lebendig geworden ist und ihr die Richtung gegeben hat. Zugleich aber
zeigt sich auch das Maß des Erreichten im Verhältnis zu dem, was unerreicht
geblieben ist.
Matthias, wie er uns in diesem Buche persönlich entgegentritt, ist ein im
schönsten Sinne freiheitlich gerichteter Mann. Nichts liegt ihm serner als Kräfte
zu binden, fremder Eigenart seinen Stempel aufzudrücken. Wie er für sich selbst
das Recht in Anspruch nimmt, unverhohlen seine Meinung zu sagen, so räumt er
jedem anderen das gleiche Recht ein, immer zur Anerkennung, immer zu hoffnungs¬
vollen Gewährenlassen bereit. Und es ist nicht nur angeborene oder durch Selbstzucht
erworbene Gerechtigkeitsliebe, die ihn leitet, wie sie etwa Paulsen oder auch Mlwch,
der ein anderer Typus verwandter Gattung war, geleitet hat, sondern vielmehr
eine Art von ästhetischer Freude am Anblick eigenartiger Kräfte und ihrer Ent¬
faltung, sei es auch und vielleicht auch ganz besonders in Wettstreit und Kampf.
Mehr als einmal tritt uns die Anschauung entgegen, wie der Streit, selbst
wenn er sich nicht in den erquicklichsten Bahnen und Formen bewegt, es doch
eigentlich ist, der die Entwicklung vorwärts bringt. „Die höheren Knaben¬
schulen sind zu dem was sie sind, erwachsen aus einem heftigen Kampfe, der
eine Klärungs- und Übungsstätte geistiger Kräfte bildete und der das Ganze
förderte, indem er durch offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vor¬
urteile beseitigte und vor weiteren Einseitigkeiten und Irrwegen schützte." Gemeine
ist der Gymnasialstreit der achtziger und neunziger Jahre, von dem es an
einer anderen Stelle heißt, daß er „mit seinen Übeln Begleiterscheinungen und
seinen Übertreibungen und gegenseitigen UnHöflichkeiten — doch auch sein
Gutes hatte. Vor allem erschütterte er die behagliche Ruhe aller Schul¬
philister intra et extra muro8, und er rechtfertigte eine Änderung veralteter
Formeln und Vorrechte und eine Neugestaltung und Neubelebung der höheren
Schulen".
Der letzte Grund für diese Freude an freiheitlicher Kraftentfaltung ist der
freudige Optimismus, der in der innersten Natur des Pädagogen begründet liegt.
Vielleicht daß ihm das frohmütige Vertrauen, das er der Welt und den Menschen
entgegenbringt, bisweilen den Blick für das einzelne trübt und das Urteil beirrt.
Im ganzen ist es doch die beste Quelle seiner persönlichen Kraft und Wirk¬
samkeit. Gerade das, was auch der aufgeklärten Bureaukratie gemeiniglich
sehlt, die ruhige Zuversicht in den natürlichen Gang der menschlichen Dinge,
in die Vernunft, die sich auch ohne Zwang und gewaltsame Lenkung allmählich
durchsetzt, besitzt Matthias im ausgesprochensten Maße.
So ist es denn kein Wunder, daß dieser Verkünder optimistischer Weisheit
in einem innerlichen Gegensatz zur Bureaukratie steht und tatsächlich wohl auch
während seiner Amtszeit gestanden hat. Auch in Althoff, so virtuos er den
amtlichen Apparat zu handhaben verstand, lag ein Gegensatz gegen die büreau¬
kratische Routine, und dieser bildete im persönlichen Verkehr nicht selten einen
ernsten oder humoristischen Kontrast zu dem Machtbewußtsein des höheren
Beamten, das ihn denn doch erfüllte. Bei Matthias aber darf man geradezu
von Antibureaukratismus sprechen: ihm eignet ein natürlicher Widerwille gegen
Schema und Schablone, gegen Gleichmacherei und Bindung, gegen den Mangel
an Persönlichkeit, der auch bei sachlicher Tüchtigkeit die Schwäche des Beamten¬
tums ausmacht. „Frisches Leben in die Akten und in die geheimrätlichen Hüter
dieser Schätze!" Diese Tendenz beherrscht alles, was er über unsere Schul¬
verwaltung sagt. Mit Ironie wird die Stellung des Verwaltungsbeamten
gegenüber der unmittelbar erzieherischen Tätigkeit des praktischen Schulmanns
^geschätzt: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß unter hundert Schulmännern,
die in die Verwaltung in .den Staat an sich' eintraten, neunzig nicht klüger
und interessanter wurden, sondern langweiliger, und ich selbst habe die Empfindung
gehabt, daß auch ich zu den neunzig lange Zeit gehört habe." Die Herbheit
des ersten Urteils wird durch die liebenswürdige Selbstironie des Zusatzes in
charakteristischer Weise gemildert, wie denn überhaupt alles, was nach Bitterkeit
und Verärgerung schmeckt, dem glücklichen Temperamente dieses Mannes fern¬
liegt. Ein echter und überlegener Humor, der mit seinem Optimismus aufs
engste zusammenhängt, ist die Grundstimmung seines Wesens und seines Schrift¬
tums, und derselbe tritt in seinem jüngsten Werke ebenso unverfälscht und unauf¬
dringlich hervor, wie in feinen früheren Schriften, denen er so viel Anziehungs¬
kraft verliehen und soviel Freunde erworben hat.
Es kann nicht anders sein, als daß ein Mann von solcher Seelenverfassung
für Freiheit in der Erziehung und als Ziel der Erziehung eintritt und daß
sein freudiger Optimismus sich vor allem der Jugend gegenüber betätigt.
„Bildung selbständiger und freier Charaktere," so lautet die Überschrift des
letzten und für die allgemeine Seite des Buches wichtigsten Kapitels. Auf
Willenserziehung und Charakterbildung legt auch Matthias das Hauptgewicht,
ein stärkeres als auf alles Wissen und intellektuelle Können. Dieser Zug vor
allem verbindet ihn mit den pädagogischen Führern unserer Zeit, mit Männern,
die, von anderen Ausgangspunkten ausgehend und nach anderen Seiten des
Volksbildungswesens orientiert, zu der gleichen Forderung gekommen sind: wie
G. Kerschensteiner und Fr. W. Förster. Und hier trübt ihm auch sein natür¬
licher Optimismus und die Liebe zur Jugend nicht das Urteil über die Tat¬
sachen. Mit scharfer Kritik erkennt er die Mängel unseres heutigen Erziehungs¬
wesens, ihren Ursprung im Charakter des jetzigen Geschlechts und ihre ver¬
hängnisvollen Folgen für die künftige Generation. „Daß wir in Deutschland
in unserer Zeit viel feste Charaktere, viel starken Willen, viel Zielbewußtsein in
unseren sogenannten .besseren Kreisen' hätten, wird selbst der kühnste Optimist
nicht behaupten können. Freiheit von den äußerlichen Werten des Lebens,
Einheit und Geschlossenheit des ganzen Denkens und Wollens, Widerstandskraft
gegen Schwäche und Weichlichkeit der Gesinnung ist verhältnismäßig wenig vor¬
handen. Es fehlt den führenden Ständen im geistigen und im politischen
Leben an Freiheits- und Selbstgefühl und an dem Maße von Selbstverant-
wortung, das wir von jedem Führer im Leben verlangen müssen." Und daher
geht denn auch „der Charakter unserer Jugend, das Hinarbeiten aus männ¬
liches Selbstgefühl und männliche zielbewußte Tatkraft, lediglich um der Sache
willen, vielfach in die Brüche. Wir erziehen in unseren Schulen wohl ein mehr
oder weniger kenntnisreiches, pslichtgetreues und gehorsames Geschlecht; aber
dieses Geschlecht ist nicht selten gedrückt, mißmutig, seines Lebens und seiner
Arbeit nicht recht froh, es ist zu abhängig von äußerem Lernzwang und zu
sehr gebunden durch des Gesetzes strenge Fessel." Eben deshalb verlangt
Matthias in erster Reihe Erziehung zu Freiheit und Selbstgefühl. „Die Schule
muß die falsche Meinung aufgeben, als ob Zucht und Freiheit, Disziplin und
Menschenwürde, Gehorsam und Selbstgefühl Widersprüche seien." Aber in dieser
Begründung schon spricht sich zugleich der starke Abstand aus, der ihn von
den pädagogischen Schwarmgeistern unserer Zeit trennt. Die Freiheit, die er
verlangt, ist nichts weniger als die Anarchie, welche jene anstreben; und die Ver¬
urteilung, die er ausspricht, entspringt keiner unkritischen und ungerechten
Gegnerschaft. Er ist ebensoweit davon entfernt, die Schuld an den Mängeln
der deutschen Erziehung, die unsere ganze Nation oder doch ihre führenden
Klassen in ihrer Gesamtheit tragen, dem Geiste der Lehrerschaft und dem Zu¬
stande der Schulen allein zuzuschreiben, wie davon, das Große und Gute, das
die bisherige Entwicklung gebracht und gefördert hat, zu verkennen. Davor
schützt ihn sowohl der historische Sinn des wissenschaftlich gebildeten Mannes
wie das natürliche Gefühl für die Kontinuität der geistigen Entwicklung, das
dem Unterrichtsbeamten, auch wenn er kein Bureaukrat ist, eignet.
Hiermit sind wir nun schon mitten in den sachlichen Inhalt des Buches
hineingelange. Er umfaßt, wie schon gesagt, den ganzen Umkreis des höheren
Schulwesens: Verwaltung und Organisation, Schulerziehung und Unterricht.
Alle pädagogischen Fragen, welche in den letzten Jahrzehnten auf diesem weiten
Gebiete aufgetreten sind, werden in dem gleichen, freiheitlichen und zuversicht¬
lichen, und doch maßvollen und gerechten Sinne behandelt. Wir können dem
Autor nicht in die Einzelheiten folgen. Wer jene Fragen kennt, wer die Ent¬
wicklung unseres höheren Schulwesens in ihren Hauptzügen verfolgt hat, der
wird nach der obigen Charakteristik nirgends überrascht durch die Stellung, die
Matthias wie früher praktisch, so jetzt literarisch im ganzen und einzelnen
nimmt. Wohl aber wird er erfreut sehen, wie aus der Frische der Persön¬
lichkeit und dem Reichtum praktischer Erfahrung Leben und Eigenart in die
Diskussion kommen. Nur eine Gruppe von Gedanken soll hier als veranschau¬
lichendes Beispiel herausgegriffen werden, weil sie einerseits unserem Autor be¬
sonders eigen, anderseits für die Praxis von hervorragender Bedeutung ist.
Mit besonderer Betonung und an verschiedenen Stellen des Buches fordert
Matthias, daß der Schulverwaltung eine sachlich beratende und begutachtende
Kommission zur Seite treten solle. Eine ähnliche Forderung hat vor kurzem
ein anderer ehemaliger Ministerialrat, K. Brandt, in den Preußischen Jahr¬
büchern erhoben. Er verlangt eine Teilung der einzelnen Schulbehörden oder
vielmehr eine Erweiterung, nach welcher ein Teil derselben ausschließlich
die sachliche und inhaltliche Entwicklung des Unterrichtswesens leiten soll,
während die eigentlichen Verwaltungsorgane die finanziellen, persönlichen und
lokalen Verhältnisse zu überwachen und zu regeln haben. Matthias jedoch will
keine Behörde, sondern eine freie wissenschaftliche, oder vielmehr pädagogische
„Deputation", wie sie einst W. von Humboldt, leider für zu kurze Dauer,
ins Leben gerufen hat. Sie soll zusammengesetzt sein aus den „tüchtigsten
Pädagogen, die unter den Direktoren und Lehrern der höheren Schulen, unter
den Universitätslehrern, auch in der Geistlichkeit, sofern ihr Horizont nicht
beengt ist, sich finden". Auch hervorragende Kommunalbeamte und Parlamen¬
tarier gehören hinein, aber, fügt Matthias charakteristisch hinzu, „sie müssen
phrasenrein sein". Ihre Aufgabe bestände wesentlich darin, durch gutachtliche
Anregungen und Ratschläge den Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlichen
wie dem allgemeinen geistigen Leben mit der Entwicklung unseres Unterrichts¬
wesens lebendig zu erhalten. Dieser Vorschlag hat vor demjenigen Brandis
den Vorzug der leichteren Durchführbarkeit, auch bildet die freiere Organisation
und das Fehlen amtlicher Autorität eine bessere Gewähr dafür, daß die Ein¬
richtung den Zweck, „dem rein bureaukratischen Geist der Geschäftsmänner ent¬
gegenzuwirken," auch wirklich erfüllt.
Jedenfalls leuchtet ein, wie groß der Gewinn sein würde, der unseren
Schulen aus einer solchen Neuerung erwachsen könnte und wie sehr sie geeignet
wäre, Mängeln unseres heutigen Unterrichtswesens abzuhelfen. Solche Mängel
zeigt auch heute noch, nach mancherlei Besserungsversuchen, besonders die Vor¬
bildung und am meisten die pädagogische Vorbildung unserer Oberlehrer.
Matthias wiederholt, wenn auch in schonender Form die Klagen, die von so
vielen Seiten und leider mit allzu großem Recht erhoben werden, darüber, daß
die Universitäten oder genauer die philosophischen Fakultäten in übel angebrachter
Einseitigkeit ihre pädagogischen Aufgaben und damit zugleich die Rücksicht auf
das Bedürfnis unseres Schulwesens ablehnen. Auch er erhebt die Forderung
nach pädagogischen Universitätsprofessoren, „damit endlich einmal eigene Stätten
der freien Forschung vorhanden sind, an denen die Pädagogik nicht nur als
Anhängsel auftritt, sondern als selbständige Wissenschaft". Am schärfsten und
für den einzelnen am nachteiligsten tritt der Zwiespalt zwischen der Vorbildung
und den Anforderungen des Berufes bei den Staatsprüfungen hervor. Auch hier
schöpft Matthias aus persönlicher Erfahrung. Er macht beachtenswerte Vorschläge
zu einzelnen Besserungen: sie gipfeln darin, daß nur pädagogisch tüchtige Männer
auch unter den Hochschullehrern in diese Kommissionen ernannt werden sollen.
Hier nun wäre der Ort für jene pädagogische Kommisston, um einzugreifen
und zu bessern. Sie müßte die Prüfungsordnung einer ernsten Revision unter¬
ziehen und dem pädagogischen Gesichtspunkt zu seinem Rechte verhelfen.
Noch in einer anderen Hinsicht zeigt Matthias, was die „wissenschaftliche
Deputation", wie sie Humboldt nannte, leisten könnte und sollte.
Mit besonderem Nachdruck nämlich bekämpft er dasjenige, was er als
„Dogma von der Aufrechterhaltung der Lehrziele" bezeichnet; d. h. die bereits
traditionelle Forderung, daß bei allen Neuerungen und Entwicklungsphasen
unseres Unterrichtswesens die Lehrziele in den einzelnen Fächern die gleichen
bleiben oder jedenfalls nicht herabgesetzt werden dürften. Es ist ein Beispiel
von dem Goethescher „Vernunft wird Unsinn". Statt die Lehrforderungen und
Unterrichtsziele nach den Kräften der Jugend und der Zeit, die zur Verfügung
steht, zu bemessen und einzuteilen, tut man diesen Gewalt an, um jene zu
befriedigen, als ob das Mehr oder Weniger an grammatikalischen oder mathe¬
matischen Kenntnissen ein unveräußerliches Recht oder mindestens den Hauptwert
der Schulbildung darstellte. Die Bedürfnisse wandeln sich mit der Zeit, die
einzelnen Stoffe vermehren und vertiefen sich, aber unverrückbar „steht das
Unterrichtsziel als drohende Macht, als des äußerlichen Berechtigungsgesetzes
Gespenst im Hintergrunde und verscheucht zu leicht alles andere, was inneren
Wert und innere Bedeutung für wahre Bildung hat". Auch von anderer Seite
sind schon oft Klagen über diesen falschen Begriff, der die Bildung ausschließlich
nach der Masse des Wissensstoffes bemißt, erhoben. Aber es ist freilich nicht
leicht und für eine Verwaltungsbehörde fast unmöglich, die Lehrziele der Schule
dauernd im richtigen Verhältnis zur Entwicklung der Wissenschaft und den An-
forderungen des praktischen Lebens einerseits und doch auch wieder zu den
Kräften und Bedürfnissen der Jugend zu halten. Auch hier ist größere Elastizität
nötig, als die heutige Organisation sie schaffen kann; auch hier würde eine
freie, aber ständig arbeitende Kommission leichter einen wünschenswerten Aus¬
gleich schaffen können.
So zeigt sich auch in den Einzelheiten jener Geist der Freiheit, der in der
Althoffschen Ära die führenden Männer beseelt hat. Möge sie keine bloße
Episode in der Geschichte unseres Unterrichtswesens bleiben, möge jener Geist
unserer Unterrichtsverwaltung nicht wieder abhanden kommen! Mögen sich
Männer finden, die sich als wahre Nachfolger derer, die vom Schauplatz der
entscheidenden praktischen Arbeit abgetreten sind, fühlen dürfen! Das ist alles,,
was wir unserem Staate und seinem Schulwesen wünschen können.
Zum Thema „Kinematograph" brachten die Grenzboten folgende
Aufsätze: Vom „Geschmack" der Völker. Von Dr, Warstat. 1912. Heft S.
— Zwischen Kino und Theater. Von Dr. Warstat. 1912. Heft 23.
— Städtische Musterlichtbildbühnen. Bon Dr. Warstat. 1912. Heft 39.
— Kino-Dramaturgie. Von Dr. Goldstein. 1913. Heft Is. — Schund¬
film und Filmzensur. Von Dr. Hellwig. 1913. Heft 16.
s ist nachgerade höchste Zeit, daß die Auswüchse des Kinemato¬
graphen beschnitten werden. Man sollte sie nicht nur literarisch
bekämpfen, sondern auch auf dem Wege der Gesetzgebung ein¬
dämmen und beseitigen. Denn die Erfahrung hat gelehrt, daß
die so beliebte „Aufklärung des Volkes" ja doch nicht ausreicht.
Seit zwanzig Jahren und mehr arbeitet man an der künstlerischen Erziehung
der Jugend, der Arbeiter und des mittleren Bürgerstandes. Und das Ergebnis
ist. wenn man aufrichtig sein soll, gleich Null. Das heißt, es ist ein absoluter
Tiefstand des künstlerischen Urteils festzustellen. Auf dem Gebiete der Malerei
haben wir den Futurismus, auf dem des Theaters den Kino. Die Mehrzahl
der Menschen ist ästhetisch noch nicht einmal so gebildet, daß sie den Schwindel
des Futurismus als solchen durchschaut. Und sie ist mit ihrem Kunstverständnis
noch nicht einmal so weit gekommen, daß sie das Unkünstlerische an den so-
genannten Dramen im Lichtspieltheater erkennt. Aber freilich, wenn man in der
'
Gesellschaft sogar Künstler antreffen kann, die die große Anregung preisen,
die sie dem Kinodrama verdanken, ja wenn sich sogar Dichter nicht scheuen, ihre
Dramen — Wortdramen! — kinematographisch zustutzen, d. h. verhunzen zu
lassen, was kann man dann vom großen Publikum erwarten? Wenn so etwas
am grünen Holze geschieht, was hat man wohl von dem dürren zu hoffen?
Nein, von selbst werden die Dinge, das hat sich jetzt deutlich gezeigt, nicht
besser werden. Verständiges Zureden, Aufklärung und Überredung haben keinen
Erfolg. Da kann nur das Gesetz helfen. Wer nicht freiwillig und aus Über¬
zeugung in den richtigen Weg einlenkt, bei dein müssen Staat und Polizei das
Nötige tun. Und glücklicherweise gehen ja auch schon einige deutsche Bundesstaaten
in dieser Richtung vor. So haben wir z. B. in Württemberg kürzlich von
der Negierung einen ausgezeichneten Gesetzentwurf erhalten, der an Strenge
nichts zu wünschen übrig läßt und sich der Zustimmung aller Urteilsfähigen
erfreut. Mit Spannung sieht man auf die beiden Kammern, die den Entwurf
soeben beraten, und jedermann hofft, daß sie ihn seinem wesentlichen Inhalte
nach annehmen. Dann kann Württemberg auch für die anderen Bundesstaaten
vorbildlich werden.
Natürlich fehlt es auch nicht an solchen, die bei aller Anerkennung des
ganzen Entwurfes doch an einigen grundlegenden Artikeln desselben Anstoß
nehmen. Die Argumente, deren sie sich dabei bedienen, sind aber derart, daß
man ruhig sagen kann: auch die besten Kenner des Kinos, die es jetzt bei uns
gibt, haben noch immer nicht verstanden, worin denn eigentlich die Gefahren der
Kinodramatik bestehen, und was ihren fundamentalen Unterschied von der dra¬
matischen Kunst, d. h. der Kunst der wirklichen Bühne ausmacht. Das sind
eben Dinge, die man mit der Jurisprudenz allein nicht fassen kann. Zu
ihrer richtigen Beurteilung gehört vielmehr ein fester ästhetischer Standpunkt,
eine klare Anschauung vom Wesen der Kunst. Deshalb sei es dem Ästhetiker
gestattet, von seinem Standpunkte aus gewissen juristischen Vorurteilen entgegen¬
zutreten, die nur zu sehr geeignet sind, die Streitfrage zu verwirren und das
klare Urteil zu trüben. Wir find leider durch den Kampf gegen die lex Hcintze
und durch die liberale Agitation der Goethe-Bünde allmählich in eine so un¬
bedingte Toleranz allem gegenüber, was nur von weitem nach Kunst aussieht,
hineingeraten, daß es wohl an der Zeit ist, sich einmal zu besinnen, wem denn
eigentlich dieses humane Wohlwollen gilt. d. h. ob das, was man um keinen
Preis durch Gesetze und Polizeimaßregeln beeinträchtigen möchte, denn wirklich
den Namen Kunst verdient.
Da muß ich nun gleich betonen, daß der Kampf gegen den Kino, der
jetzt unter stetem Protest des organisierten Kinokapitals auf der ganzen Linie
ausgefochten wird, nur diejenigen Vorführungen der Lichtspieltheater trifft,
die unter dem Namen „Dramen" oder „Kunstfilms" bekannt sind. Man ver¬
steht darunter pantomimisch zugestutzte Handlungen dramatischen Charakters, die
sich zum größten Teil als Bearbeitungen richtiger Bühnenstücke darstellen. Diese
teils rohen und sensationellen, teils schwächlichen und sentimentalen „Kunstfilms"
sind es vor allem, gegen die sich die Opposition richtet, und auf die sich denn
auch die gesetzlichen Bestimmungen, von denen eben die Rede war, vorzugs¬
weise beziehen. Nur von ihnen soll deshalb ini folgenden gehandelt werden.
Damit ist aber gesagt, daß es sich für uns nicht um einen Kampf gegen
den Kino als solchen handelt, sondern nur um eine Opposition gegen bestimmte
Teile der Aufführungen, bestimmte Nummern des Repertoirs. Nichts wäre
verkehrter als dieser schönen Erfindung überhaupt Schwierigkeiten in den Weg
legen zu wollen. Daran denkt auch, soviel ich sehe, niemand. Kein Mensch
wird dem Kino verwehren, allerlei Tagesereignisse nach der Art eines gewissen¬
haften Reporters photographisch festzuhalten und im bewegten Bilde dem Pub¬
likum vorzuführen. Noch niemals ist etwas dagegen eingewendet worden, daß
schöne Landschaften und Neiseaufuahmen, z. B. Darstellungen der bewegten See
oder Blicke aus dem fahrenden Eisenbahnwagen im Lichtspieltheater zur An¬
schauung gebracht werden. Und wer hätte wohl je ein Bedenken dagegen
gehabt, daß interessante Bewegungsvorgänge wie Manöverszenen, technische
Manipulationen, landwirtschaftliche Arbeiten und dergleichen im bewegten Bilde
vorgeführt werden, ganz zu schweigen von der Benutzung des Kinemato¬
graphen für wissenschaftliche Zwecke, z. B. die Veranschaulichung gewisser sich
in Bewegungen äußernder Naturvorgänge oder dergleichen mit der Absicht,
über Fragen der Medizin und der Naturwissenschaft Licht zu verbreiten?
Ja selbst sür künstlerische Zwecke kann das Lichtspieltheater ohne Bedenken
nutzbar gemacht werden. Zunächst in Form der Burleske, die mit ihren spa߬
haften Übertreibungen und phantastischen Kombinationen so recht das spezifische
Feld einer Technik ist, für die es eigentlich keine Unmöglichkeiten gibt. So¬
dann als ein Surrogat des Tanzes und der Pantomime, das in dieser Form,
besonders in Verbindung mit wirklich guter Musik, Effekte hervorbringen kann,
die dem wirklichen Tanz und der wirklichen Pantomime nur wenig nachstehen.
Wogegen sich der Kampf allein richtet, das sind vielmehr jene fast immer
nur in notdürftiger Weise zugestutztem, des Wortes beraubten und ganz auf
die Bewegung eingeschränkten szenischen Arrangements, die mit wirklichen
Theateraufführungen eigentlich nur das mimische Element der Bewegung und
des Gesichtsausdrucks und die Tatsache gemein haben, daß Schauspieler bei
ihnen als Modelle benutzt worden sind. Aber gerade sie nehmen in der
Regel einen so großen Teil der Vorstellung in Anspruch — oft bis zu zwei
Stunden —, daß man ganz ruhig sagen kann: sie sind es, die ihr den eigentlichen
Charakter verleihen. Und mehr als das: sie bilden auch denjenigen Teil der
Vorführungen, der die größte Anziehungskraft ausübt, auf den deshalb nicht
nur die Besitzer, sondern auch die Besucher des Kinos den meisten Wert legen.
Man kann deshalb sehr oft das Urteil hören, daß mit den „Dramen" das
ganze Lichtspieltheater steht und fällt, daß, wenn man sie beseitigen oder ein¬
schränken wollte, der ganze Kino seine Lebensfähigkeit mit einem Schlage ver-
lieren würde. Daraus sieht man ganz deutlich, wie gering gegenwärtig die
Entwicklung der übrigen Nummern des Repertoirs ist, wie wenig sich Dichter,
Schauspieler und Musiker bisher bemüht haben, die im Wesen des Kine¬
matographen liegenden Möglichkeiten der Entwicklung auszunutzen, d. h. einen
eigentlichen Kinostil auszubilden.
Solange die Dinge so liegen, muß man sagen, daß der Kino seine Kinder¬
krankheiten noch nicht überwunden hat. Und das ist deshalb sehr schlimm, weil
aus der einseitigen und übertriebenen Betonung der Dramen dem wirklichen
Theater eine Konkurrenz erwächst, die in ihrer vollen Tragweite noch immer
nicht erkannt zu sein scheint. Wohl weiß man, daß in Deutschland viele
kleinere Theater infolge der Konkurrenz des Kinos eingegangen sind und geradezu
in Lichtspieltheater haben umgewandelt werden müssen. Aber man sagt sich zur
Beschwichtigung wohl: das waren Possen- und Operettenbühnen, an denen nicht
viel verloren war, und gegen die ein gutes Lichtspieltheater vielleicht sogar als
Gewinn gelten könnte. Und man unterschätzt dabei den Verlust an wirklich
künstlerischen Werten, der mit diesem Vordringen der Lichtspieltheater verbunden
ist. Denn sie bereiten dem echten Theater nicht nur insofern Konkurrenz,
als sie ihm durch ihre Billigkeit und das sensationelle ihrer Vorführungen
das Publikum abspenstig machen und damit die Lebensfähigkeit untergraben,
sondern sie schädigen auch die Bühne und die ganze dramatische Kunst
dadurch, daß sie das Publikum der Fähigkeit, dramatische Werte zu erkennen
und zu genießen, völlig berauben, und zwar in einer Weise, die, wenn das
so fortgeht, notwendig zum Verfall der Bühnenkunst führen muß. Daß man
diese Gefahr in weiteren Kreisen immer noch nicht erkannt hat, daß man in¬
folgedessen auch die Gesetze und Gesetzentwürfe, die sich auf die Einschränkung
des Lichtspieltheaters beziehen, immer wieder falsch beurteilt und ungerecht
kritisiert, beruht auf einer ganz verkehrten Auffassung von dem angeblich „künst¬
lerischen" Charakter der kinematographischen Vorstellungen. Man stellt diese
nämlich vielfach mit wirklich künstlerischen Theateraufführungen auf eine Stufe
und will sie genau wie diese behandelt, d. h. von jeder strengen Zensur befreit
wissen. Dafür nur ein Beispiel:
Der erwähnte württembergische Gesetzentwurf bestimmt im Artikel 2: „Die
Zulassung eines Bildstreifens ist zu versagen, wenn seine öffentliche Vorführung
vermöge der dargestellten Vorgänge oder der Art, wie sie dargestellt werden,
geeignet wäre, die Gesundheit oder Sittlichkeit der Zuschauer zu gefährden, oder
eine verrohende oder die Phantasie verderbende oder überreizende oder den
Sinn für Recht und öffentliche Ordnung verwirrende oder abstumpfende Ein¬
wirkung auf sie auszuüben." Eine durchaus zutreffende Bestimmung, die
insbesondere auf die sogenannten Schundfilms, d. h. Bildstreifen mit sexuell
anstößigen oder sonstwie sensationellen Inhalt, vollkommen paßt. Aber freilich
eine Bestimmung, durch die ein großer Teil der Dramen unmöglich gemacht
werden würde. Das darf aber natürlich nicht sein, denn darunter könnten ja
die armen Kinobesitzer leiden. Und deshalb hat der Schöpfer des Wortes
„Schundfilm", Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig (Berlin-Friedenau), in mehreren
Artikeln diesen Paragraphen beanstandet, weil er eine ästhetische Zensur ent¬
halte, zu der der Staat nicht berechtigt sei*).
Hellwig argumentiert folgendermaßen: die verderbliche Wirkung des Schund¬
films nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene '(die ja in solchen
Fällen der Mehrzahl nach große Kinder sind), steht außer Frage. Es
handelt sich nur darum, wieweit der Staat berechtigt ist, aus diesem beklagens¬
werten Zustand die Folgerung zu ziehen, daß mit Hilfe von Repressivmaßregeln
gegen die Schundfilms eingeschritten wird. In dieser Beziehung betont Hellwig
nun, daß ein polizeiliches Einschreiten aus ästhetischen Gründen weder mit
dem geltenden Recht vereinbar sei, noch daß es wünschenswert sei, die Polizei
Zum Zensor in Geschmacksfragen zu machen. In unserem heutigen Rechtsstaat
pflege man der Polizei nur diejenigen Befugnisse einzuräumen, die unbedingt
erforderlich sind, um das Publikum im öffentlichen Interesse vor denjenigen Gefahren
zu schützen, vor denen es sich nicht selbst schützen kann. Daß Kinder wie Erwachsene
sich gegen die ethischen und ästhetischen Gefahren des Kinos nicht schützen können, habe
Zwar die Erfahrung zur Genüge gelehrt. Dennoch liege bezüglich der ästhetischen
Fragen kein dringendes öffentliches Interesse vor, welches staatliche Schutzma߬
nahmen unbedingt erforderlich mache. Gewiß ist die Geschmacksverirrung der
Kinodramatik außerordentlich bedauerlich, aber daß dadurch die öffentliche Ord¬
nung und Sittlichkeit gefährdet werde, wird man nicht behaupten wollen. Wenn
Man den Zensor zum Richter über ästhetische Fragen beim Kino mache, müsse
man konsequenterweise auch die ästhetische Zensur beim Theater einführen. Ist
auch der ethische Schaden, welchen die Schundfilms anrichten, unendlich viel
größer als der Schaden, der von ethisch verwerflichen Theaterstücken droht, so
kann man doch nicht in Abrede stellen, daß die große Mehrzahl der gehaltloser
Operetten, der faden geistlosen Dramen auch nur ästhetischer Kitsch ist. Vom
ästhetischen Standpunkt aus könnte man also eine Reform des Theaters nicht
minder wünschen als eine Reform des Kinos, und doch wird niemand daran
denken, für die Theaterstücke eine ästhetische Zensur vorzuschlagen. In dieser
Beziehung ist aber sicherlich, was dem Theater recht ist, auch dem Kino billig.
Es ist sehr zu bedauern, daß ein Jurist, der sich selbst um die richtige
Beurteilung des Schundfilms so verdient gemacht hat wie Hellwig, aus formal
juristischen Gründen die einzig richtige Schlußfolgerung, die aus seiner Beurteilung
gezogen werden muß, nicht zu ziehen wagt. Das Argument, daß ein polizei-
liebes Einschreiten mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehe, hat, da es
sich ja um Vorschläge ac leM ferericla handelt, keine Bedeutung. Die Angst
vor der polizeilichen Bevormundung mag in Preußen bis zu einem gewissen Grade
berechtigt sein, in Württemberg ist sie es nach dem Urteil der Sachkenner jeden¬
falls nicht. Der Hauptfehler aber, den Hellwig macht, ist der, daß er die kinemato¬
graphischen Vorführungen — ich meine natürlich immer nur die „Dramen" —
als Kunstwerke behandelt, was sie nicht sind, was sie schon aus rein äußerlichen
Gründen nicht sein können. Und da dies der Punkt ist, den die meisten
Menschen gar nicht zu verstehen scheinen, sei es mir gestattet, darauf etwas
näher einzugehen.
Es ist bekannt, daß die Kunst sehr vieles darstellen darf, was in der
Wirklichkeit verboten ist, d. h. Anstoß erregen, ja sogar bestraft werden würde.
Maler und Dichter dürfen Handlungen und Vorgänge schildern, die an sich
unerlaubt sind, und ihre Werke werden an öffentlichen Orten ausgestellt, vor¬
gelesen und aufgeführt, wo der wirkliche Vorgang einfach verboten wäre. Nicht
nur, daß die bildende Kunst ganz ungeniert, und zwar mit vollem Recht, das
Nackte darstellt. Männlein und Weiblein in adamitischem Kostüm nebeneinander
stehen läßt, was in der Wirklichkeit durchaus verpönt ist. Auch die Poesie
schildert ohne Bedenken die allerschlimmsten Verbrechen, Mord und Totschlag,
Ehebruch, Verführung. Raub, Diebstahl und Brandstiftung, auf denen im Leben
zum Teil schwere Strafen stehen, deren Anblick uns deshalb durch Sitte und
Gesetz aufs strengste verwehrt wird. Ja gewisse Kunstgattungen, wie die
Tragödie und der soziale Roman, haben sogar im allgemeinen eine Vorliebe
für grausige, häßliche und verbrecherische Handlungen, gegen deren Anblick wir
uns im Leben mit allen Mitteln zu schützen suchen.
Der Grund, warum Kunst und Wirklichkeit hierin so ganz auseinandergehen,
ist bekannt. Die Kunst, die nach starken Gefühlswirkungen strebt, bietet uns
diese ausgesprochenen Handlungen nicht als Wirklichkeit, sondern in der Form
von Scheinhandlungen dar. Wir nehmen den Inhalt eines Kunstwerkes,
wenn ich mich so ausdrücken darf, immer nur hypothetisch, mit einem gewissen
Vorbehalt in uns auf. Um Gefühle erleben zu können, setzen wir den Fall,
daß es so wäre, wie der Künstler es darstellt. Beim Anblick eines auf der
Bühne dargestellten Mordes sagen wir uns im stillen: dieser Mord würde
sich, wenn er in Wirklichkeit passierte, ungefähr so abspielen. Bei dem Bilde
einer Hinrichtung sagen wir, sie würde, wenn wir sie miterleben dürften, etwa so
vorbereitet werden wie es der Maler hier darstellt. Durch dieses „hypothetische
Schauen", wie ich es einmal nennen will, durch diesen imaginären Charakter
alles in der Kunst von uns Gesehenen werden die inhaltlichen Gefühle, d. h.
die Gefühle, die denjenigen entsprechen, welche ver dargestellte Inhalt in der
Wirklichkeit bei uns auslösen würde, ganz bedeutend abgeschwächt. Und zwar
wird diese Abschwächung umso größer sein, je mehr wir bei der Anschauung
des Kunstwerks an den Künstler denken, der das Werk geschaffen hat, d. h. je
stärker die künstlerische Individualität ist, die sich in dem Kunstwerk ausspricht.
Das ist es eben, was wir ästhetische Anschauung nennen, eine Anschauung,
die sich aus zwei Dingen, nämlich dem Erleben der Jnhaltsgefühle und der
Bewunderung des Künstlers zusammensetzt.
Dies allein kann uns auch davor bewahren, die Gefühle, die wir beim
Anblick z. B. einer Theateraufführung erleben, in die Tat zu übersetzen. Wir
kommen dem Helden, den wir auf der Bühne von dem Dolche des Mörders
bedroht sehen, nicht zu Hilfe, was wir doch in der Wirklichkeit unbedingt tun
würden. Denn es ist uns bekannt, daß das, was wir da sehen, nur Schein
ist, daß der Dolch ein Theaterdolch ist. der nicht in die Brust eindringt. Wir
rufen nicht nach der Polizei, wenn wir sehen, daß die Unschuld bedroht ist,
denn wir wissen ja, daß es nicht zum Äußersten kommen kann, weil alles, was
da auf der Bühne vor sich geht, nur Schein, nicht Wirklichkeit ist. Gerade
darauf beruht ja der höhere Kunstgenuß, d. h. die befreiende Wirkung, die
von der Kunst ausgeht, daß wir zwar zu Gefühlen angeregt werden, diese
aber nur soweit miterleben, wie der Künstler es gewollt hat oder wir selbst
es im Bewußtsein des ästhetischen Scheins, der uns geboten wird, wollen.
Ganz anders ist die Wirkung im Kino. Zwar sitzen wir auch da in einem
Zuschauerraum und sehen etwas, was sich vor unseren Augen abspielt, was
uns vorgespielt wird. Aber diese Vorspielung ist so sehr auf die Erregung
wirklicher Gefühle berechnet, das Scheinhafte ist bei ihr so sehr zurückgedrängt,
daß die „Freiheit des Gemütes", wie Schiller sagen würde, dabei nicht gewahrt
werden kann. Man hat viel über die Gründe nachgedacht, die dem Kino zu
seiner ungeheueren Popularität verholfen haben. Die Billigkeit der Vorstellungen,
die Bequemlichkeit des Besuches, die geringen geistigen Anforderungen, die es
stellt, werden dabei immer in erster Linie genannt. Aber alles das ist nichts
gegen die Tatsache, daß die Zuschauer im Lichtspielhause die vorgeführten
Ereignisse viel intensiver erleben als im gewöhnlichen Theater. Man mache
sich nur klar, worauf das beruht.
Im Theater sind uns die Ereignisse, die sich auf der Bühne abspielen,
schon durch das erhöhte Podium der letzteren bis zu einem gewissen Grade
entrückt, über die Wirklichkeit emporgehoben. Die Kulissen, die das Bühnen¬
bild einrahmen, sondern es von der Umgebung ab, ähnlich wie das gemalte
Bild durch seinen Rahmen von der Umgebung abgesondert, als etwas für sich
Bestehendes, als ein Scheinbild charakterisiert wird. Im Theater ist der Zu¬
schauerraum meistens hell genug, daß man seine nächste Umgebung erkennen,
sich mit seinen Nachbarn zusammen als Zuschauer, als an der Handlung
Unbeteiligte fühlen kann. Dazu kommen dann die Worte, die von den Schau¬
spielern gesprochen werden, und die zum Teil schon durch ihre poetische Form,
dann aber auch durch die Art des Vortrags das Kunstwerk im wesentlichen aus¬
machen. Sollen sie verständlich sein und soll der Gefühlsgehalt des Schauspiels
auf den Beschauer übergehen, so muß eine ganz besondere Kunst der Sprache
angewendet werden, eine Kunst, von der freilich die meisten Menschen nichts
wissen, weil sie keine Kultur der Sprache haben. Dazu gehört schon die weit
über die sonst herrschende Gewohnheit gesteigerte Deutlichkeit der Aussprache,
dann aber die vom Dichter vorgenommene poetische Steigerung des Ausdrucks,
das Bildliche, Anschauliche, akustisch Wohltuende einer schönen poetischen Sprache.
Alle diese Dinge, die wir unter dem Begriff Stil zusammenfassen, haben nicht
den Zweck, die Natur zu idealisieren, die an sich vielleicht häßliche Wirklichkeit
zu verschönern, sondern einerseits den, die Handlung zu verdeutlichen, das Spiel
auch auf die Entfernung verständlich zu machen, anderseits den, einen Schutz-
wall für unser Gefühl zu schaffen, durch den wir uns der oft nur zu
grausigen Handlung gegenüber jenes Bewußtsein der Freiheit wahren können,
ohne welches keine ästhetische Wirkung denkbar ist.
Gerade diese Schutzvorrichtungen fehlen nun dem Kino. Da gibt
es keine Bühne, durch welche die Handlungen über das Niveau des Alltäglichen
emporgehoben würden. Da fehlt der Kulifsenrahmen, der uns die Ereignisse als
etwas für sich Bestehendes, von der Wirklichkeit Getrenntes erscheinen ließe.
Da fehlt die Sprache mit ihren Möglichkeiten der Idealisierung, mit ihrem
Wohlklang, an dem wir uns berauschen könnten. Da ist der Zuschauerraum so
verdunkelt, daß wir schon unseren nächsten Nachbar nicht erkennen können. Das
einzige was wir wahrnehmen, ist das helle Viereck an der Wand uns gegen¬
über, auf dem sich die Menschen zwar farblos und lautlos, aber doch so be¬
wegen, wie es etwa die Menschen auf jenen vor den Fenstern angebrachten
Spiegeln tun, in denen unsere Großmütter und Urgroßmutter das Leben auf
der Straße zu beobachten pflegten.
Mit einem Worte, das, was wir im Kino sehen, ist gar nicht Kunst,
sondern Wirklichkeit. Es ist zwar nach einer gespielten, d. h. von Schau¬
spielern vorgespielten Szene photographiert, aber es ist nicht durch künstlerische
Mittel über die Wirklichkeit emporgehoben. Vor allem ist aus diesem Spiel
gerade das Wichtigste, nämlich das Wort hinweggenommen. Und mit ihm ist
der Gehalt im tieferen Sinne, das, was den Inhalt des Stückes in erster Linie
ausmacht, beseitigt. Übrig geblieben ist nur der äußerliche Vorgang als solcher,
die Bewegung, die Mimik, die natürlich, um trotz dieses Ausfalls zu wirken,
gesteigert, d. h. ungebührlich übertrieben werden muß, wodurch alles einen
gewaltsamen, sensationellen, rohen und widerwärtigen Charakter annimmt.
Durch die raffinierte Art der Aufmachung, durch die Konzentration der Auf¬
merksamkeit auf die beleuchtete Bildfläche wird der Bewegungsvorgang als
solcher in seiner Wirkung maßlos gesteigert, und darauf beruht in erster Linie
das Faszinierende, das ungesund Erregende, das diese Vorführungen haben.
Und dazu nehme man nun den sensationellen Inhalt dieser Schundfilms,
diese raffinierte Anhäufung alles Rohen, Gemeinen und Perversen, was es
je in der Welt gegeben hat: Mordanschlüge. Brandstiftungen, Verbrecher¬
verfolgungen, Eisenbahnunglücke, Menschen in der Gewalt reißender Tiere
Martyrien, Stierkämpfe, explodierende oder einen Abhang herunterstürzende
Kraftwagen und was dergleichen schöne Dinge mehr sind, die auch ohne
Worte, rein durch das Geschehnis als solches erschreckend, ängstigend und
schaudererregend wirken. Und nachdem man sich das alles und die Art der
Vorführung recht lebhaft vergegenwärtigt hat, frage man sich, ob das über¬
haupt noch als Kunst bezeichnet werden kann! Ich glaube, wenn man durch
Zusammentragen lauter unkünstlerischer Elemente zeigen wollte, was nicht
Kunst ist, so könnte man nichts besseres tun, als einfach ein solches Lichtspiel¬
drama nennen!
Man stelle sich nur, um den Unterschied zwischen Kunst und Unkunst zu
verstehen, vor, wie etwa ein Dichter den Selbstmord schildern würde und wie er
im Kino dargestellt wird. Der Dichter motiviert den furchtbaren Entschluß des
Helden, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu machen, in psychologischer Weise.
Er zeigt, wie er ganz allmählich, durch die Macht der Ereignisse, durch seine
eigene innere Entwicklung zu dem letzten Schritte gedrängt wird. Dadurch
erhält die tragische Handlung etwas, ich will nicht sagen Versöhnendes, aber doch
wenigstens Verständliches. Man sieht, daß es nur ganz besonders schwere Er¬
eignisse, geradezu unentrinnbare Schicksale sind, die dazu führen konnten, und das
allein ist es eben, was den Anblick solcher Ereignisse auf der Bühne erträglich
macht. Der Dichter kann so etwas allmählich vorbereiten, psychologisch be¬
gründen, als notwendig erscheinen lassen, weil er das Wort als Kunstmittel
zur Verfügung hat, und mit dem Worte den Gedanken, den Gefühlsausdruck,
den Zweifel, die Abwägung des Für und Wider. Gerade das ist aber bei
einem Drama die Kunst.
Wo bleibt diese nun im Kino? Ihm ist das Wort versagt. Er greift
folglich aus der ganzen Reihe von Handlungen, die erst in ihrer Gesamtheit
die Handlung ausmachen, nur die äußerlichen Bewegungsvorgänge heraus. Für
ihn ist der Selbstmord identisch mit dem Zucker eines Dolches oder dem Los¬
drücken eines Revolvers. Wir sehen das mit an, so wie wir es im Leben mit
ansehen würden, d. h. von Angst und Schrecken erfüllt, ganz niedergeschmettert
von dem Unglück, das wir nicht verhindern können. Ich brauche nach dem
Gesagten nicht zu betonen, daß so etwas das reine Gegenteil von künstlerischer
Wirkung ist.
Daraus erklärt es sich nun auch, daß die Kritiker des Kinematographen
fast einstimmig der Überzeugung sind, daß viele dieser Dramen eine verrohende
zum Verbrechen anreizende Wirkung ausüben, daß insbesondere Kinder durch
den fortwährenden Anblick von Verbrechen, die noch dazu als etwas ganz Ge¬
wöhnliches und Alltägliches erscheinen, selbst auf den Weg des Verbrechens
gedrängt werden. Hellwig freilich möchte das bezweifeln oder jedenfalls die
Beweise, die dafür vorliegen, in ihrer Tragweite abschwächen: ebenfalls ein
sehr bedauerliches Bemühen und eine durchaus irreführende Kritik. Die Tat-
sachen, die hier vorliegen, reden wahrlich eine deutliche Sprache. Es ist auch
durchaus nicht einzusehen, warum der Einfluß auf die Kriminalität, der für die
Schundlektüre längst nachgewiesen ist und bei so vielen Verbrechern festgestellt
werden kann, beim Lichtspieltheater, das doch viel stärker als die Lektüre
auf das ganze Gefühlsleben einwirkt, nicht vorhanden sein soll. Das ist eben
der Punkt, wo sich der Unterschied von Kunst und Unkunst am deutlichsten zeigt.
Die wahre Kunst regt uns nicht unmittelbar zum Handeln an, weil sie nur
ästhetischer Schein ist. Sie wirkt nicht direkt ethisch auf uns ein. sondern
läßt uns nur bei der Anschauung verharren. Die Pseudokunst des Kine¬
matographen dagegen muß notwendig Handlungen auslösen, eben weil sie nicht
Kunst, sondern Wirklichkeit, raffiniert vorgeführte Wirklichkeit ist. Wenn es
schon Menschen gibt, die der Meinung sind, daß eine nackte Venus Tizians
leicht erregbare Menschen zu sexuellen Exzessen verleiten kann, wie groß muß da
erst die Wirkung all dieser unmoralischen und verbrecherischen Handlungen sein,
die uns im Lichtspieltheater vorgeführt werden? Eine Venus Tizians ist doch
wenigstens durch die Kunst der Darstellung in ein höheres Niveau empor¬
gehoben, wo sie jenseits von Gut und Böse steht. Ein Mordfilm oder ein
sexueller Filu dagegen ist in den meisten Fällen nicht einmal künstlerisch ein¬
gekleidet, muß also mit der brutalen Kraft der Wirklichkeit auf erregbare Menschen,
besonders Kinder und Ungebildete wirken.
Gerade deshalb ist es nun aber auch unzulässig, beim Lichtspieltheater die
ästhetischen und ethischen Wirkungen so scharf voneinander zu scheiden, wie es
die toleranten Kritiker durchaus möchten. Man kann nicht sagen: wir wollen
zwar die ethischen Auswüchse des Kinos beschneiden, aber die ästhetischen Mi߬
griffe gehen uns nichts an, da sie keinen Schaden stiften. Sondern die Sache
liegt vielmehr so: die ästhetische Minderwertigkeit der Kinodramen ist geradezu
die Hauptursache ihrer ethisch verderblichen Wirkung, denn ihr grausiger Inhalt
wird nicht durch die Kunst eines wahren Dichters in seiner Wirkung abgeschwächt
und vertilgt. Die ästhetischen Fehler eines solchen Stückes werden immer gleich
in ethische Gefahren umgesetzt, weil der Schutzwall fehlt, den die künstlerische
Formulierung bieten würde. Deshalb ist es ja auch so verkehrt, wenn man
die Verteidigung des Nackten in der bildenden Kunst, die gewiß ihre volle Be¬
rechtigung hat, auch auf die Photographie oder gar auf das Leben, auf Nackt¬
tänze u. tgi. ausdehnen möchte. Was für die Kunst gilt, gilt eben für die
Natur oder für die Pseudokunst nicht. Wir haben nicht das geringste Interesse
daran, minderwertige Kunst unter dem Vorwande zu schützen, daß die wahre
Kunst keine polizeiliche Maßregelung vertrage. Eben deshalb müssen wir uns
von dem falschen Vorurteil frei machen, daß das Lichtspieltheater gegen polizei¬
liche Bevormundung geschützt werden müsse, weil es Kunst sei. Im Gegenteil,
es braucht nicht dagegen geschützt zu werden, weil es keine Kunst, wenigstens
in den Vorführungen, um die es sich hier handelt, keine Kunst ist.
Dann wird man aber auch einsehen, wie verkehrt es ist, wenn gesagt wird:
da wir beim Theater keine ästhetische Zensur wollen, müssen wir sie kom-
sequenterweise auch beim Kino bekämpfen. Denn Theater und Kino stehen
künstlerisch durchaus nicht parallel, sie sind vielmehr so verschieden von ein¬
ander, daß sie überhaupt nicht in einem Atem genannt werden können. Sie
verhalten sich ungefähr so zueinander wie plastische Museen zu Panoptiken
oder Gemäldegalerien zu Panoramen. Gewiß, es gibt auch im Theater minder¬
wertige Erzeugnisse, und ich bin der letzte, der schlechte Operetten oder seichte
französische Ehebruchskomödien verteidigen möchte. Aber wenn man gesagt hat,
ein gutes Kinodrama sei immer noch besser als derartige Erzeugnisse, so muß ich
dem, soweit die Dramen in Betracht kommen, entschieden widersprechen. Selbst
die dümmste Posse, die ihrem Inhalt nach gar keinen bildenden Wert hat,
bedient sich doch wenigstens des Wortes und enthält somit ein gewisses künstle¬
risches Element. Und sie kann als Aufführung mehr oder weniger gut sein,
d. h. charakteristisch und flott gespielt werden. Dann söhnt sich schließlich auch
der strenge Kritiker mit ihrem faden Inhalt aus und ist zufrieden, einen
harmlos vergnügten Abend verlebt zu haben. Selbst die sexuell anstößigste
Operette kann doch musikalisch gut sein und man kann sie graziös spielen
und temperamentvoll singen. Das will ja positiv nicht viel besagen, aber es
ist doch wenigstens nichts geradezu Negatives, vielmehr etwas, was die de¬
moralisierende Wirkung des Inhalts abschwächt oder vielleicht gar völlig auf¬
hebt. Jene jungen halbwüchsigen Burschen dagegen, die allabendlich im Kino¬
theater die grausigen Verbrecherdramen an sich vorüberziehen lassen und mit stieren
Augen und geröteten Wangen, keuchend und schnaufend vor Wollust die Auf¬
regungen der sensationellen Handlungen dort an der Wand miterleben, das sind
unsere künftigen Verbrecher, die Sternickel und Genossen, an denen wir einmal
unsere Freude erleben können. Denn ihnen kostet es nur einen Schritt, das
besehene, ohne künstlerische Verklärung Gesehene, in die Wirklichkeit zu übersetzen.
Deshalb ist es auch verkehrt, wenn man sagt: der Kino ist doch immer
uoch besser als das Spezialitätentheater und der Tingeltangel, deshalb tut man
gut, ihn nicht zu beschränken, weil man damit die Menschen nur in den Tingel¬
tangel treiben würde. Ich gestehe ganz offen, daß ich den Kino in den Vor-
führungen, die hier in Frage stehen, für schlechter und gefährlicher halte, als
das Spezialitätentheater. Dieses ist in den meisten Nummern seines Repertoirs,
S- V. in den Kraft- und Geschicklichkeitsproduktionen durchaus harmlos. Und
Mag auch das Kuplet, mag die ganze Poesie des Kabarets manches Anstößige
enthalten, es ist doch wenigstens Poesie. Es sind Worte, Gedanken, Verse,
zuweilen sogar geistreiche und witzige Verse, die dem Publikum da geboten
werden, während der Zuschauer im Kino stumpfsinnig dasitzt und die Vor¬
führungen nur mit den Augen aufnimmt — ganz abgesehen von den häufigen
Fällen, wo er sich infolge einer ganz unmöglichen Kunstform vergeblich den
Kopf darüber zerbrechen muß, was denn eigentlich gemeint ist.
Ein besonderes Kapitel wäre die Frage des Kinderbesuchs. Doch würde
das hier zu weit führen. Genug, daß nach meiner Überzeugung die einzige
einwandfreie Lösung aller Schwierigkeiten das absolute Verbot des Kinderbesuches
für alle Vorstellungen wäre, die nicht besonders als Kindervorstellungen ge¬
kennzeichnet sind. Aber freilich, dazu wird man sich nicht entschließen. Denn
das wäre ja gegen die armen Kinobesitzer zu grausam. Sie würden vielleicht
nicht mehr ganz so rasch reich werden wie bisher. Und das Wohl unserer
Kinder darf uns natürlich nicht so am Herzen liegen wie das Gedeihen des
Kinokapitals, das sich ja sonst gar nicht mehr zu helfen wüßte und das doch
— soweit es nicht dem Ausland gehört — für den Staat so wertvoll ist,
weil es so hohe Steuern abwirft. Erlauben wir also unseren Kindern ruhig
weiter, sich die Augen zu verderben, abends über die Schlafenszeit hinaus in
dunkeln schlecht gelüfteten Lokalen zu fitzen und sich durch die gepfefferte Un-
kunst der Films den Sinn für wahre Kunst gründlich zu verderben. Dann
wird die kommende Generation wohl noch um einen Grad stumpfsinniger werden
als die heutige Jugend, die den Futurismus sür Kunst hält und den Kino
dem Theater vorzieht.
Wir begehen in diesem Jahre Boccaccios sechshundertsten Geburtstag.
Das genaue Datum ist unbekannt. Vielfach wird der 16. Juni als
Geburtstag angenommen.
s ist ein charakteristischer Zug des Mittelalters, daß es in seiner
gesamten Kunst in einem viel geringeren Grade wie wir jetzt auf
die Suche nach neuem ging. Das gilt für die bildende Kunst
so gut wie für die Dichtkunst. Wie lange hat die Malerei die
stets gleichen antiken und religiösen Motive verarbeitet! Wie eng
— in die Breite gemessen — ist der Stoffkreis noch unserer ganzen ersten Blüte¬
periode I Und wie überraschend wirkt deshalb etwa der Meyer Helmbrecht mit
seinem für die damalige Zeit ganz eigenartigen Stoff.
Das Volk des Mittelalters war nicht sensationslüstern, vielleicht neugierig,
was schon den engeren Nahmen beweist. Denn die Neugier ist ein Fehler, der
räumlich wie zeitlich seine Grenzen hat, die Sensationslust aber ein Laster, das
alle Gebiete an sich reißt und keins verschont. Wir haben dieses neu hinzu¬
bekommen, ohne jenen verloren zu haben.
Eine Zeit, die selbst die wichtigsten Ereignisse nur mit einer Langsamkeit
verbreiten konnte, die uns jede Neuigkeit entwerten würde, kannte nicht diese
Gier nach etwas „Niedagewesenem", das jetzt allein schon dem Gros unserer
Leser eine Zeitung unentbehrlich macht. Stoffliche Neuentdcckungen zu machen
ist der Ehrgeiz so vieler moderner Schriftsteller, und ein wenn auch noch so
enges Spezialgebiet für sich allein beackern zu können, meistens die Garantie
für eine finanzielle Versorgtheit. So schieben auch hier wieder die Instinkte
und Bedürfnisse des einen Teiles die Wünsche und Werke der anderen.
Wenn es nicht in zu übertriebenen Maße geschähe, man würde diese stoff¬
lichen Neuentdeckungen nur begrüßen können. Denn notwendig wie ein Wachstum
in die Tiefe oder Höhe, ist auch ein solches in die Breite. Gerade für den
Literarhistoriker hat es einen feinen Reiz zu sehen, wie die Grenzen des
dichterisch Erfaßten sich stets weiter ziehen. Neuland der poetischen Darstellung
gewonnen wird, wie bisher unbekannte Motive, Situationen, Charaktere. Stände
der künstlerischen Behandlung erschlossen werden*).
Mit der Renaissance setzt diese neue Vorwärtsbewegung, dieses Wachstum
in die Breite mit vorher nicht gekannter Kraft ein. Neben der stärkeren Mischung
der Stände, der betonteren Stellung des Individuums sind sicherlich auch lite¬
rarische Einflüsse da maßgebend gewesen. Das Mittelalter, wie gesagt, be¬
gnügte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit einer steten Umbildung
und Neuschaffung vorhandenen Stoffes. Und da besonders wieder die völkische
Literatur. Eine ganze Menge allbekannter Erzählungen, schwanke und Streiche
floß das ganze Mittelalter hindurch von Nation zu Nation. Ihr Alter zu be¬
stimmen ist fast unmöglich; dem Hörer jedenfalls waren sie immer jung. Man
geht aber kaum fehl, wenn man als die Heimat der meisten Indien bezeichnet,
wo die frohe lebendige Fabulierkunst des Volkes — nach einem Ausspruch
Friedrich Schlegels — drei berühmten Kindern das Leben schenkte: der ge¬
schwätzig plaudernden Novelle, dem wundersüchtigen Märchen und der stilleren
ernsteren Fabel.
Von Indien kamen diese Geschichten nach Ägypten und Arabien, wurden
ins Hebräische. Lateinische und Spanische übertragen und haben denn gleicher¬
maßen die Unterhaltungsliteratur Italiens, Frankreichs. Deutschlands und später
auch Englands gespeist. Die Leser oder meistens wohl Hörer jener Zeit inter¬
essierte gar nicht so sehr die Wahl neuer Stoffe oder Motive, sondern die in¬
dividuelle Ausnützung und Prägung der bekannten. Einer großen Anzahl gab
Boccaccio im „Dekamerone" die klassische Form.
Er ist dabei unzweifelhaft ein Schüler Frankreichs, das einen großen Teil
dieses alten Erzählungsgutes in Fnbliaux und Legenden bereits gestaltet hatte.
Der Zufall will es, daß Boccaccio von Geburt Franzose ist, Pariser. Sein
Vater, ein nicht zu begüterter, ebenso lebenskluger wie lebengenießender, ja
leichtfertiger Mensch, war im Städtchen Certaldo geboren. Bankbeamter in
Florenz, wurde er bereits in jungen Jahren nach Paris als Leiter einer Filiale
geschickt. I^Ä Aals scienLö — wie später die Franzosen das Lebenswerk seines
Sohnes zu nennen pflegten — nahm ihn dort lebhaft in Anspruch. Unter der
Vorspiegelung, ein nobili zu sein, begann er ein Verhältnis mit einer vor¬
nehmen, jungen Witwe, die er aber verließ, als sie ihm 1313 einen Knaben
schenkte, den später berühmten Giovanni. Wie lange der Kleine Pariser Luft
atmete, wissen wir nicht, jedenfalls kam er erst nach dem Tode seiner Mutter
zum Vater nach Florenz. Er wurde Kaufmann wie dieser, hielt es sechs Jahre
lang als Geldwechsler aus und sattelte dann mit zwanzig Jahren zum Studium
des Rechtes um; oder dessen, was er darunter verstand. Das üppige Neapel
nahm seine Sinne gefangen, in der Ostermesse 1334 verlor er sein Herz an
eine schöne junge Edelfrau, an Donna Maria, die er dann als Fiammetta
poetisch verherrlicht hat. Und als ob eine seiner Dekameronegeschichten ins
Leben gesprungen wäre: Donna Maria liebte ihn wieder. Donna Maria
d'Aquino, die eine Tochter König Roberts von Neapel war, ihn, den entlaufener
Kaufmannslehrling und kleinen Studenten des Rechts. Und nun begann eine
Zeit reichen künstlerischen Schaffens. In Strophen und Stanzen besingt er seine
Geliebte, in Hirtendichtungen, deren vielfach reizende bukolische Form auto¬
biographischen Inhalt hat, umschwärmt er sie und trägt ihr Bild in die Natur.
Damals entsteht der Filocolo, die entzückend poetische Geschichte von Flore und
Blanchefleur mit Szenen aus dem Minnehof der Fiammetta, damals in
Ottcwerimen Filostrato, die alte Geschichte von der Liebe des Troilus zu Briseis,
der Tochter des Kalchas.
Aus dem Kaufmann war ein Dichter geworden, der Jurist wandelte sich
zum gelehrten Philologen. Boccaccio studierte mit Eifer die alten Klassiker und
eignete sich die Kenntnis des Griechischen an. Wenn er in Florenz weilte, zog
es ihn doch immer wieder nach Neapel, bis Maria d'Aquino, die übrigens
längst ihren Liebhaber gewechselt hatte, 1346 an der Pest verstarb. 1348 kehrte
Boccaccio dann, nach dem Tode seines Vaters, der ihm ein größeres Vermögen
hinterlassen hatte, als er erwarten durfte, endgültig nach Florenz zurück. Fünf
Jahre lang arbeitete er nun (1348 bis 1353) an seinem „Dekamerone". All die
Lust und den Leichtsinn seiner Jugendjahre wob er hinein in dieses klassische Werk,
um dann ernster und ernster werdend sich immer mehr der reinen Wissenschaft
zu widmen. Letzte böse Liebeshandel verschulden (1355) den „Corbaccio", in
dem sich der einstige Liebling der Frauen bitter an einer einzigen rächt: ein
damals viel belachtes, sarkastisch-witziges, unfeines Buch. Und dann drängt sich
die Wissenschaft immer weiter in den Vordergrund. Homer interessierte ihn vor
allem, dessen erstes vollständig erhaltenes Manuskript er auf seine Kosten nach
Florenz kommen ließ, und später Dante. Er wurde der erste Kommentator der
göttlichen Komödie und der erste Dantebiograph. Sein Werk ist allerdings
reicher an rhetorischen Beiwerk als an tatsächlichen Angaben. 1373 berief ihn
der florentinische Magistrat auf den neugegründeten Lehrstuhl zur Erklärung der
commeäia alpina. Zwischendurch hatte er auch im Dienste der Stadt häufiger
Gesandtschaften übernommen und sein feiner Kopf, seine spitze sprühende Bered-
samkeit sollen seiner Heimat manchen Erfolg errungen haben. Mit Petrarca, dem
Dichter der Laura- Sonette, verband Boccaccio eine innige Freundschaft. Aus
dessen Testament, worin er Boccaccio fünfzig Goldgulden zu einem warmen Winter-
kleid vermacht, und auch aus anderen Umständen hat man vielfach den Schluß
gezogen, daß es Bocacccio am Schlüsse seines Lebens recht schlecht ergangen sei.
Neuere Forschungen bestätigen das nicht. Aber der immer zurückhaltender
gewordene, fast pietistische Sechziger begann zu kränkeln. Seine Commedia-
Vorlesungen mußte er nach der sechzigsten Lektion im siebzehnten Gesang der
Hölle abbrechen, dann zog er sich nach Certaldo. dem Geburtsort seines Vaters.
Zurück, wo er, zweiundsechzig Jahre alt. am 21. Dezember 1375 gestorben ist.
Der Verfasser des „Dekamerone" war recht fromm geworden zum Schlüsse
seines Lebens. Einem Florentiner Kloster vermacht er in seinem Testament
»alle heiligen Reliquien, die er mit großer Mühe in langer Zeit aus allen
Teilen der Welt gesammelt hatte", seinem Beichtvater seine große, wertvolle
Bibliothek, der Kirche San Jacopo e Filippo in Certaldo viele Kirchengeräte.
'
Dort setzte man ihn auch bei, und verständnisvoller Sinn gab ihm die
Grabschrift:
Hier ruhen Giovannis Gebeine und Asche.
Sein Geist ruht in Gott, bekränzt mit dem Ruhme
Seines Wirkens. Boccaccio war sein Vater,
Certaldo seine Heimat, seine Kunst die hohe Dichtung.
Boccaccios Einfluß auf seine Zeit war groß: er und Petrarca sind die
eigentlichen Väter der italienischen Renaissance. Und während die Laura-Sonette
trotz ihres unnachahmlichen Wohllauts, trotz ihrer entzückend feinen Form doch in
ihren ewigen Variationen des gleichen Themas den Leser vor langsamer Ermüdung
nicht bewahren, hat des jungen Boccaccio Hauptwerk seine lebendige Frische bis in
unsere Zeit bewahrt. Friedrich Schlegel hat den Unterschied in die klugen, wenn auch
etwas boshaften Worte gefaßt: „Boccaccio liebte es mehr, alle reizenden Frauen
M trösten, als eine zu vergöttern"").
Wie reizend ist allein der Rahmen, die Einkleidung für die hundert Ge¬
schichten des „Dekamerone" gewählt. Im Jahre 1348. als in Florenz die Pest
wütete — deren Schilderung bei Boccaccio häufig mit der Pestschilderung in
Athen durch Thukydides verglichen wurde —, treffen sich in der Kirche ti Santa
Maria Novelli sieben junge, den edelsten Geschlechtern entsprossene Freundinnen
zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren durch einen Zufall. Der führt
auch drei junge Edelmänner in die Kirche, gerade als die Damen auf Pampineas,
der ältesten, Vorschlag über die Flucht aus der Stadt des Todes auf ein
Landgut beraten. Die drei schließen sich an, um so lieber, als sie in drei der
jungen Mädchen verliebt sind, und alle zehn begeben sich frohgemut mit der
nötigen Dienerschaft nach einem in der Nähe von Florenz gelegenen Schlößchen.
Hier vertreiben sie sich in geschwisterlichen Zusammensein durch Erzählungen die
Zeit. An jedem Tag wird einer aus der Gesellschaft zur Königin oder zum
König gewählt, der dann ein Grundthema für die an diesem Tage zu erzählen¬
den Geschichten bestimmt. Die Themen sind folgende: am ersten Tage darf
jeder seine Lieblingsgeschichte erzählen, am zweiten von Leuten, die durch Unglück
zum Glück gelangen, am dritten, wie jemand durch Scharfsinn ein Ziel erreicht
oder Verlorenes zurückgewinnt, dem vierten Tag ist die unglückliche, dem fünften
die glückliche Liebe vorbehalten. Am sechsten Tage wird von witzigen Antworten
erzählt, am siebenten werden Streiche berichtet, die Frauen ihren Männern, am
achten, die sich Eheleute oder andere Personen gegenseitig spielen. Der neunte
Tag stellt die Wahl des Themas frei und am letzten wird von denen gesprochen,
„welche in der Liebe oder bei sonstigen Gelegenheiten ein edles und hochsinniges
Herz zeigten".
So ist durch die Wahl der verschiedenen Themen und durch die unter¬
schiedliche Charakterisierung der einzelnen Persönlichkeiten — wobei Dioneo, der
pikanteste Erzähler neben Fiammetta und Pampinea am meisten hervorragt —
die Abwechslung genügend betont, durch den einheitlichen Rahmen, die ver¬
bindenden Zwischengespräche aber mit ihren feinen Bemerkungen, ihrem klugen
Humor, das Ganze doch wieder zu einem Werk von harmonischer Geschlossenheit
zusammengehalten*).
Als Ganzes sollte der „Dekamerone" gelesen werden und mit Verständnis
für den Geist jener Zeit. Der Mann, der ihn schrieb, war eine frohe, sinnen¬
frohe Natur, die nur wieder und zum besten gab, was der Jugendaufenthalt
in Neapel sie gelehrt und was, uraltes Gut, von Mund zu Mund ging durch
alle Nationen. Sicherlich, eS stehen Anekdoten im „Dekamerone", deren derbe
Sinnlichkeit und deren drastische Ungeschminktheit gar nicht zu leugnen ist,
Anekdoten, die ruhig hätten fortbleiben können, ohne dem Buch zu schaden,
Anekdoten, deren Aufnahme Boccaccio später selbst bedauert hat. Bald bekam
es den Beinamen „Der Ertzkuppler" und auf kein Buch passen besser Mephistos
Worte:
Was hilft's, nur grade zu genießen?
Die Freud' ist lange nicht so groß,
Als wenn ihr erst herauf, herum
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht't,
Wie's lehret manche welsche Geschicht'.
Neben der Obszönität mancher Erzählungen ist auch die ewig gleich gerichtete
Satire gegen Mönche, Pfaffen und Nonnen ermüdend. Die saftigsten schwanke
und pikantesten Streiche schiebt er, wohl um durch den Gegensatz von Beruf und
Handeln den Witz um so leichter zu lockern, gerade ihnen in die Schuhe. Aber
auch die anderen Stände weiß er zu treffen und im Grunde steht er mit seiner
Pritsche über allen und über allem: er schlägt und lacht und weiß zu allem
ein passendes Wort und schüttelt die Schale seines Witzes über Gerechte und
Ungerechte. „Hat Dante in der .vivina Lommeäm' den Ernst, so hat Boccaccio
den Scherz des Mittelalters in einer .LommscUa tiumAna' künstlerisch verklärt."
Nichts charakterisiert deutlicher die drei großen italienischen Dichter als die
Frauen, denen ihr Singen und Dichten gegolten. Beatrice, der göttliche Geist,
Laura, die unnahbare Jungfrau, und Fiammetta, der sinnenfrohe, liebende
Mensch.
In der literarischen Entwicklung ist der „Dekamerone" mehr als die Krone
der mittelalterlichen Schwankliteratur, er steht an der Spitze der modernen Er¬
zählungskunst. Mag man tadeln, daß Cicero für Boccaccios Prosa zu sehr das
Vorbild gewesen sei, daß seine Perioden zu lang und seine Sätze zu weitläufig
seien —, stets ist seine Sprache klar und rein und legt sich wie weißes, schmieg¬
sames Gewand' um die bunte jagende Fülle seiner Bilder und Gedanken. Und
bei aller Frische verbleibt ihr doch ein leiser Hauch von gewählter Distanz, die
es gerade ermöglicht, solch „unmögliche" Geschichten zu erzählen. Auf Boccaccios
Prosa stützt sich die gesamte weitere italienische, und nicht nur italienische, Prosa.
Er hat, und das ist sein größtes Verdienst, nach Friedrich Schlegels Worten
„die Erzählungssprache der Konversation zu einer soliden Grundlage sür die
Prosa des Romans erhoben".
Der Brief löste in Paul von der Borke einen Wirrwarr von Gefühlen aus.
Zuerst war es ein Gefühl der Enttäuschung, daß Edles so kurz und leicht
über ihre Neckerei hinweggegangen war, die ihm vorher Anlaß zu einer gründ¬
lichen Selbstbetrachtung und Einkehr gegeben hatte.
„Bin ich am Ende gar eitel?" dachte er und verscheuchte den Ärger, in¬
dem er sich selbst verspottete.
Der Bericht über die Zuspitzung der politischen Gegensätze in der Heimat
gab ihm zu denken. Es war da offenbar eine Parallele zwischen der Forderung
des Herrn von Wenkendorff und der eben noch von Paul zurückgewiesenen
Prophezeiung seines Freundes Wasslijew. Der alte Freiherr, in dessen Art
und Wirken sich alle Vorzüge des Deutschtums offenbarten, erblickte also wie
der Russe Wasslijew in der Aufhebung der zwischen Ständen und Volk er¬
richteten Schranken das einzige Mittel, die Gefahr der Revolution zu bannen.
Und Edles stand natürlich auf feiten ihres Vaters, den sie nicht nur in
Fragen der Landwirtschaft als ihren Lehrer bewunderte. Zwischen den Zeilen
ihres Briefes las Paul denselben Vorwurf, den ihm der Freund oben vor
Angeliques Buvette entgegengedonnert hatte: „Über die lächerliche Beschäftigung
mit Deinen Tierchen vergißt Du die Not des Vaterlandes!"
„Bin ich berufen, sie zu lindern?" dachte Paul in einer Regung von
Trotz. „Ich bin Zoologe. Die Frage was wird aus dem Menschen? geht
mich nichts an. Ich arbeite an der Lösung der anderen und wichtigeren: ,wie
ist der Mensch geworden?'. Erst wenn darauf eine klare und logische Antwort
gefunden ist, werdet Ihr Politiker den rechten Weg finden, der die Menschheit
zu Glück und Frieden sührt!"
In solchem Selbstgespräch ging Paul von der Borke in seinem Zimmer
auf und ab. Durch die Fenster klang das Rauschen des Meeres, das an die
Grundmauern des steinernen Gebäudes brandete. Wie liebte er diese Musik,
deren Rhythmus ihn nun schon das dritte Jahr bei seiner Arbeit begleitete!
Sollte er sie etwa jetzt im Stich lassen?
Politik war nach seiner Meinung weiter nichts als die Auseinandersetzung
zwischen sich widerstreitenden materiellen Interessen. „Ich habe keine solchen
Interessen. Also habe ich nicht die geringste Verpflichtung, mich um politische
Streitfragen zu kümmern!"
Aber hatte er wirklich keine materiellen Interessen? Er sah die wohl¬
geordnete Bibliothek in den Regalen, die vielfältig geteilten Kästen mit seinen
Sammlungen und Präparaten, sah die guten Stiche und Radierungen an den
Wänden, für die er auf seinen Reisen viel Geld verausgabt hatte. Hätte er
sich wohl so einrichten können, wenn ihn der stattliche Zuschuß aus den Ein¬
künften des väterlichen Gutes nicht unabhängig von dem mageren Salair seines
Amtes gemacht hätte?
Wie mancher fruchtbare Sommerregeu, mancher Armschwung der chemischen
Hofleute von Borküll hatte sich in diesen und jenen Baustein seiner Bildung,
seines wissenschaftlichen Besitzes verwandelt!
Zwar schloß ihn das Recht der Erstgeburt vom Besitz der Scholle aus
und machte dereinst den Bruder zum Herrn von Borküll. Trotzdem traf der
Scholle Segen und Fluch auch ihn. Gleichgültig hatte er bis auf den heutigen
Tag die Gaben der Heimat angenommen, die da fern im Nebel des Nordens
verdämmerte. Wie, wenn sie jetzt plötzlich ausblieben, weil Borküll der Re¬
volution, d. h. einer neuen Verteilung des Besitzes zum Qpfer fiel?
Der Gutsherr ein vergnügungssüchtiger Globetrotter, der Majoratserbe
wahrscheinlich wieder durch alle möglichen Spiel- und Liebesaffären in der
Residenz festgehalten, die Mutter eine willensschwache Kranke, Mara, die
Schwester, eine Schwärmerin ohne feste Meinung, jeder neu auftauchenden Idee
kritiklos zugänglich, er selbst der Heimat und ihren Interessen längst ent¬
fremdet — wahrhaftig: schlecht war das Gut gehütet, dem sie alle ihre Be¬
wegungsfreiheit verdankten.
Aber konnte er es ändern? Hier waltete ein unerschütterliches Natur¬
gesetz: die Borkes zeigten die Entartung einer Familie, die seit vielen Gene¬
rationen jenes Trainings entbehrt hatte, zu dem andere der Kampf ums Dasein
zwingt. Jetzt mußte die Not der Zeit ein schwaches, zum mindesten ein gleich¬
gültiges Geschlecht vorfinden. Und nur dem Zufall einer glücklichen Ver¬
anlagung hatte es Paul von der Borke zu verdanken, daß er nicht auch der
allgemeinen Erschlaffung verfallen war. Sein wissenschaftlicher Ehrgeiz hatte
ihn zur Betätigung von Kräften gezwungen, die sonst sicher ebenfalls ungenutzt
verkümmert wären.
Nur für einen Augenblick hatten ihn Ediths Mitteilungen über Borküll
in Angst versetzen können. Im nächsten verspottete er sich deswegen schon
wieder. Es mußte dann eben ohne den Borküller Zuschuß gehen! Er brauchte
sich nur mutig in eine Reihe mit den vielen zu stellen, die sich der Wissenschaft
widmen, ohne einen Pfennig Vermögen zu besitzen. War er nicht oft genug
säumig gewesen, während jene arbeiteten? Hatte er sich nicht durch manche
Stimmungen die Lust nehmen lassen? Das waren die schädlichen Begleit¬
erscheinungen seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit.
Unabhängig ist nur der Bedürfnislose. Und es galt jetzt bedürfnislos zu
werden.
Wie es dann kommen mochte: er sah aller Zukunft gelassen entgegen.
Ediths wegen wollte er nach Monte Carlo fahren und den Vater auf¬
suchen. Sie sollte ihm nicht Gleichgültigkeit vorwerfen dürfen. Mochte der
Gutsherr zu den Mitteilungen Stellung nehmen, wie es ihm beliebte. Borkülls
Wohl war in erster Linie sein Interesse.
Er selber aber wollte sich nun erst recht in seiner Arbeit festbeißen. Ob
die Zukunft Unheil oder Segen über die Heimat brachte: keine Macht der Welt
sollte ihn in seiner Selbstsicherheit erschüttern können.
Hoch oben in Beau-Soleil lag die Villa, in der Baron von der Borke
nun schon den dritten Winter verbrachte.
Paul hatte die Treppe des Terrassengartens, die von der Straße hinauf¬
führte, bisher nur ein einziges Mal erstiegen. Damals begleitete seine Mutter
den Vater, da ihm die Ärzte in der Heimat nach einer schweren Lungenent¬
zündung den Aufenthalt im Süden verordnet hatten.
Es waren unerquickliche Erinnerungen, die jetzt in dem Sohn geweckt
wurden. Die Verschiedenheit im Charakter der beiden Eltern trat hier be¬
sonders schroff zutage, wo die lachende Natur des Südens alle Lebensgeister
in dem zum Genuß geborenen Baron erweckte.
Ganz im Gegensatz zu ihm fühlte sich Baronin Clementine von dem
mondainen Treiben der neuen Umgebung abgestoßen. Ihrem Mann an Jahren
voraus, besaß sie nicht mehr die Elastizität, sich von der gewohnten gesellschaft¬
lichen Reserve zu emanzipieren.
Ihre ewig nörgelnde Kritik vollendete das Werk der Entfremdung zwischen
den beiden Gatten. Es kam zu häßlichen Auftritten.
Eines Tages wurde Paul durch ein Telegramm zu den Eltern gerufen.
Er fand seine Mutter im Begriff abzureisen. Sie hatte die Entdeckung gemacht,
daß der Baron in intimere Beziehungen zu einer der Damen ihres Verkehrs
getreten war.
„Und glaubst Du, daß er mich um Entschuldigung gebeten hat? Er
nimmt das als sein gutes Recht in Anspruch!"
Die Selbstverständlichkeit, mit der Baron Alexander seinem Sohn von jener
Liaison erzählte, hatte Paul angewidert. Er vermied von da ab jede Be¬
gegnung mit dem Vater nach Möglichkeit und besuchte die Gegend von Monte
Carlo nur, wenn die Saison vorüber war, und die weiße Stadt vereinsamt in
ihrem Sommerschlafe lag.
Jetzt in den ersten goldenen Oktobertagen war sie daraus erwacht. Und
zu den frühesten Ankömmlingen hatte Baron Alexander von der Borke gehört.
In der Pension erfuhr Paul, daß der Vater bereits ausgegangen, aber
mit einiger Sicherheit um ein Uhr im Cass de Paris zu treffen sei. So hatte
er noch ein paar Stunden Zeit, die er in müßigem schleudern verbrachte.
An diesem Vormittag zeigte die Stadt, die ihm immer wie ein Sünden¬
babel erschienen war, ein beinahe jungfräulich anmutendes Gesicht. Auf den
Tennisplätzen, die man dem Bergabhang abgewonnen hatte, spielten im weißen
Dreß schlanke, geschmeidige Engländerinnen mit ihren Herren. In den Gärten
vor dem Kasino saßen auf schattigen Bänken alte Damen bei Lektüre und
Handarbeit. Aufgeputzte Kinder in Wadenstrümpfen und kurzen Spitzenkleidchen
wurden von ihren Bonnen spazieren geführt. Vom Strand her aber knallten
Schüsse: „I^e dir aux pi^ec)N8" war im vollen Gange. Die Hände, die am
Abend in der Leidenschaft des Spiels zitterten, sollen bei diesem barbarischen
Sport wieder zur ruhigen Sicherheit trainiert werden.
Paul von der Borke beugte sich weit über die Brüstung der unteren
Terrasse, um die Schützen zu erspähen. Aber er sah nur ein paar flatternde
Tauben getroffen auf den grünen Rasen fallen. Das war das echte Monte
Carlo!
Im Cas6 de Paris nahm er an einem kleinen Tisch in einer Ecke Platz,
von der aus er den ganzen Raum übersehen konnte. So entwickelte sich vor
ihm das lebensvolle Bild, zu dem sich in dem prächtigen Restaurant die ele¬
gante Welt aus allen Erdteilen zusammenfindet.
Vergeblich suchte sein Auge nach der markanten Erscheinung des Vaters.
Es kamen viele alte Herren, aber Alexander von der Borke war nicht unter
ihnen.
Da hörte er plötzlich in seiner nächsten Nähe die wohlbekannte, etwas
nasale Stimme. Den Rücken ihm zugewandt, saß der Baron am Nachbartisch
mitten in einer heiteren Gesellschaft.
Paul wurde von einer jähen Verlegenheit ergriffen. War das wirklich
sein Vater? Die etwas müde, aber immerhin vornehme Erscheinung des be¬
jahrten Landedelmannes, als die er den Vater von seinem letzten unvermuteten
Besuch im Laboratorium her noch in Erinnerung hatte, glich wenig dem über¬
eleganten, durch kosmetische Mittel allzu gewaltsam verjüngten Flaneur, den er
drüben gewahrte.
Um nicht eine unfreiwillige Lauscherrolle zu spielen, wäre Paul am liebsten
aufgebrochen. Aber bei der Enge des Raumes wäre er genötigt gewesen,
dicht an der Gesellschaft vorüberzugehen. So verschloß er seine Ohren so gut
er konnte und überließ sich wieder seinen mißmutigen Gedanken.
In sie hinein tönte wiederholt das laute Gespräch der Gäste am Neben¬
tisch. Widerwillig hörte er, daß ein hoher Gewinn des Barons vom Abend
vorher die Gesellschaft zu diesem fideler Lunch zusammengeführt hatte.
In Ausdrücken neidischer Bewunderung priesen die Damen die Freigebig¬
keit des alten Herrn, der die neben ihm sitzende kecke Blondine ein kostbares
Diamantenkollier verdankte.
Jetzt rauschte eine stattliche Schönheit heran und sah sich suchend in dem
bereits voll besetzten Restaurant um. Sie steuerte schließlich aus die Ecke los,
in der Paul saß. um mit vertraulichem Lächeln an seinem Tisch Platz zu
nehmen.
Diese neue Nachbarschaft vermehrte sein Unbehagen. Sein Gegengruß
. fiel befremdet und frostig aus, was aber die Dame nicht weiter berührte. Sie
bat auf deutsch um die Speisekarte und begann sofort ein Gespräch mit Paul.
„Sie sind heut schlechter Laune, Graf! Aber man kann nicht jeden Tag
gewinnen."
„Sie irren sich in meiner Person!" war Pauls kühle Erwiderung. Er
wandte sich schroff ab und verwünschte im stillen seine ganze Expedition.
Durch die deutschen Worte hinter sich aufmerksam gemacht, sah sich der
alte Baron vorsichtig um. Sein anfangs gleichgültiges Auge leuchtete in plötz¬
lichem Erkennen auf.
„Ah, ah!" sagte er aufspringend. „Du bist es, Paul! Wie nett, daß
man Dich endlich mal in Monte Carlo sieht, noch dazu in so angenehmer Ge¬
sellschaft." Er verbeugte sich vor der fremden Dame und schüttelte seinem
Sohn herzlich die Hand. Seine lebhafte Begrüßung ließ Paul gar nicht zu
Worte kommen, und ehe ihm noch eine Abwehr möglich war, sah er sich den
Gästen des Vaters vorgestellt.
Mit einen: Schwall liebenswürdiger Fragen zogen sie ihn und seine un¬
bekannte Tischnachbarin in ihren Kreis und machten ihn sofort zum Mittelpunkt
des Interesses.
„II est eomme 8on pere" rief die kleine Blondine, entzückt zu ihm auf¬
blickend und streichelte mit ihren beringten Fingern seine aristokratische Hand.
>,()uLl bei Komme!" sagte eine andere. ,Ma8 it a ach ^sux me-
IanLkoIique8!" eine Dritte.
„II a Wujour3 Je8 ^sux n'xö8 8ur les 1ivre8!" erklärte der Alte und klopfte
dem Sohn mit freundlichem Vorwurf auf die Schulter. Zu der deutschen Dame
gewandt, meinte er: „Sie werden seine Augen bald lustig machen, meine Gnädigste."
Da rückte die blonde Ninon ihren Stuhl an Pauls Seite und schmiegte
sich an seinen Arm. „Noi werden machen lustig diese blaue übsche Augen!"
Der Alte zupfte sie an ihrem Ohrläppchen.
„LKanZement 6e I'amour?" fragte er mit lustigem Augenzwinkern.
„OK, mon ami, je vsux 1'ainsi' comme uns 8<zeur!" gab sie schmollend
zur Antwort. Aber sie zog sich doch sofort auf ihren Platz zurück und trank
ihrem alten Freund mit kokettem Augenaufschlag zu.
Da gelang es Paul, den Vater auf chemisch zu verständigen.
„Mach bitte dieser peinlichen Situation ein Ende! Ich muß Dich allein
sprechen. Ich bringe schlimme Nachrichten von Hause!"
Wie aus den Wolken gefallen, lehnte sich Baron Alexander zurück und
sah mit entsetzter Verständnislosigkeit in seines Sohnes finsteres Auge.
Paul stand auf: „Ja bitte, sofort!" wiederholte er dringend.
Der Baron hüstelte verlegen: „die Herrschaften entschuldigen mich für
einen Augenblick." Dann folgte er Paul, der sich mit kühlem Gruß zum Gehen
gewandt hatte.
Vor dem Restaurant gab er seinem Vater Ediths Brief.
„Übrigens laß Dir sagen, ich habe mit jener Dame nicht das geringste
zu tun! Das Frauenzimmer hat sich mir einfach aufgedrängt. Das scheint
hier Mode zu sein — in Deinem Monte!"
Der Alte überhörte den Hohn in Pauls Worten und durchflog hastig die
Seiten des Briefes.
„Mein Gott — und darum den Auftritt?" Er hatte seine gelassene über¬
legene Haltung wiedergefunden.
„Sternburger Unkenrufe, weiter nichts! Mit dem albernen Pöbel werden
unsere Soldaten bald fertig sein. Und Kirsch — holf der Kuckuck — der hat
sich eben die Nase mal besonders kräftig begossen. Wenn er seinen Rausch
ausgeschlafen hat, ist er windelweich. Ich kenne doch meinen guten Kirsch!
Der hat das allergrößte Interesse, mit uns in Frieden zu leben. Wegen der
paar dummen Streiche werde ich meine Gesundheit nicht aufs Spiel setzen.
Auch Du kannst ruhig bei Deinem Mikroskop bleiben, mein Junge. Zu Eurer
Beruhigung werde ich Kirsch 'n bißchen den Kopf waschen. Aber mehr wäre
wirklich zu viel! Und nun sei gemütlich und komm!"
Er nahm den Arm seines Sohnes, um ihn wieder ins Restaurant zurück¬
zuführen. Aber Paul blieb stehen:
„Danke!" sagte er eisig. „Ich kam nur her, Dich zu warnen. Du bist
der Herr von Borküll, Du mußt wissen, was zu tun ist. Wenn Du unsere
Sorge für übertrieben hältst, so ist meine Mission erledigt!"
Es war zu merken, daß das Handpferd — die braune Zerda — acht
Tage im Stall gestanden hatte. Sie schäumte in der Kandare und zog so fest
an, daß sich die Lenkeriu mit aller Energie gegen das Fußbrett stellen mußte.
Tief in seinem Pelz vergraben saß Herr von Wenkendorff neben Edles
und sog an seiner kalten Zigarre. Der Wind, der von der See herkam,
frischte allmählich auf und blies ihnen kräftig in den Rücken.
„Das ist gut für die Zerda! Wir haben leichtes Fahren."
Edles hatte ihre helle Freude, wie die Gäule durch die Nacht hinstoben.
Selbst den Hügel, auf dem der Borküller Krug lag, nahmen sie im scharfen
Trab, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte das Sternburger Dogkart den
Wagen der Gräfin Hahn angerannt, der jenseits der Höhe mitten auf dem
Wege hielt. Aber Edles verstand ihr Gespann zu regieren: mit einem Ruck
riß sie es zur Seite und brachte den leichten Wagen zum Stehen.
„Was ist los!?"
Der Diener sprang von seinem Rücksitz und trat zu der Gruppe aufgeregter
Leute, mit denen der Rosenhofer Kutscher bereits verhandelte.
„Holt den dummen Wolly raus, daß wir ihn verprügeln können!" brüllte
eine Stimme. Und ein allgemeines Gejohle klang durch die Nacht. In dem
geschlossenen Wagen schien sich aber nichts zu rühren.
„Das ist der Sternburger Iuhann!" sagte jetzt einer, und der Lärm legte
sich. Dann hörte man des alten Wenkendorffs Stimme:
„Laßt eure dummen Späße, Männer! Das hat keinen Wert! Geht nach
Hause und schlaft euch aus!"
Nur ein verlegenes Gemurmel war jetzt noch zu hören, und die Leute
traten zögernd zur Seite. Der Rosenhofer Kutscher benutzte den Moment,
sprang auf den Bock und schlug auf seine Pferde ein, daß sie in die Hinter¬
beine knickten und dann scharf anzogen.
Das rechte Fenster der Kutsche wurde dabei vorsichtig heruntergelassen und
für eine Sekunde zeigte sich Wollys ängstliches Gesicht, um eben so rasch wieder
zu verschwinden.
Edles bedeutete den Diener gelassen, daß er Zentas Kandare fester schnallen
sollte und blickte kühl und furchtlos von ihrem hohen Sitz auf den Männer¬
haufen herab. Sie hörte deutlich die Hetzworte, die im Hintergrunde fielen:
„Ob Sternburg oder Rosenhof — Ausbeuter sind sie alle! Nieder mit
den Deutschen!"
„Halts Maul!" sagte ein anderer. „Der Alte ist ein guter Bär. Er
knausert nicht!"
Es flogen sogar ein paar Mützen von den Köpfen, als sich das Dogkart
in Bewegung setzte. Hinter ihnen her aber schallten Flüche, und ein Stein
fiel vor ihnen nieder, daß die Pferde scheu zur Seite sprangen.
Ein Lied wurde angestimmt, das riß mit seinem Rhythmus die Männer
fort, schwoll brausend an, wurde vom Wind aufgenommen und ins Land ge¬
tragen. Noch lange vernahmen die Sternburger die Weise, und Edles empfand
erschauernd die wilde Romantik, in der das schlimme Abenteuer ausklang.
Der Vater aber sagte: „Es ist wie die Pest, das Lied! Alle Länder steckt
es an, und man kann ihm den Eintritt nicht wehren. Wer es singt, dem
nimmt es jede Vernunft!"
Er versank in Schweigen, und auch Edles sprach nicht mehr, bis der
Wagen im Hof von Sternburg einfuhr.
„Gott sei Dank! Ich habe mich auf unseren alten Kasten selten so gefreut
wie heute. Gebe ihn für die ganze Borküller Pracht nicht her!"
Herr von Wenkendorff gähnte wohlig: „Ich gehe schlafen, ihr Mädchen!
Schwatzt nicht zu lange. Wenn Sandberg morgen kommt, schickt ihn mir
gleich!"
Die alten Dielen ächzten unter seinem schweren Tritt, als er sein im Erd¬
geschoß belegenes Schlafzimmer aufsuchte.
(Fortsetzung folgt)
Blech er und Zeitschriften. Die fünfundzw ein¬
zigste Wiederkehr des Thronbesteigungstages
Kaiser Wilhelms des Zweiten hat naturgemäß
eine gewaltige Buch-, Broschüren- und Zeit¬
schriftenliteratur erzeugt und auf den Markt
werfen lassen. Es ist heute noch nicht möglich,
ihren ganzen Umfang zu übersehen und den
Wert der einzelnen Werke richtig zu würdigen,
weil die meisten Veröffentlichungen erst in
den allerletzten Tagen in die Hände der
Kritiker gelangt sind. Was ich somit im
folgenden sage, soll lediglich der Anzeigepflicht
gegenüber den mir zugegangenen Werken ge¬
nügen.
Am längsten ist in unseren Händen ein
Buch des Grafen E. Reventlow: „Der
Kaiser und die Monarchisten" (Verlag von
Reimar Hobbing in Berlin, 1913). Es ist
die Auseinandersetzung eines tiefkonservativen
und deutschvölkischen Mannes mit sich selbst.
Reventlow hat in früheren Jahren der Per¬
sönlichkeit des Kaisers und seiner Art, die
Regierungsgeschäfte zu leiten, recht kritisch
gegenübergestanden („Kaiser Wilhelm und die
Byzantiner" bei I. F. Lehmann, München 1806)
und führt nun den Nachweis, wie sich Monarch,
Monarchie, nationale Anschauung und Welt¬
anschauung auf dem Boden der Monarchie
vereinigen lassen, mit anderen Worten: wie
er sich zum überzeugten Monarchisten durch¬
gerungen hat. Ich empfehle dies Buch, das
zweifellos in der Fachliteratur größere Be¬
achtung finden wird, allen denen, die, mögen
sie konservativ oder liberal sein, ein Bedürfnis
fühlen, sich über Bedeutung und Wesen der
Monarchie für das Deutsche Reich und die
Deutschen ein eigenes Urteil zu bilden. Sie
werden manchen Widerspruch gegen Revent-
lows Ausführungen erheben, sie werden aber
eine Fülle von Anregungen finden.
Die Persönlichkeit des Kaisers findet eine
zum Teil neue Beleuchtung und Würdi¬
gung in dem Prachtvoll ausgestatteten Jubi¬
läumswerk, das das Deutsche Verlagshaus
Borg 6- Co. der Kaiserin zugeeignet hat:
„Unser Kaiser, Fünfundzwanzig Jahre der
Regierung Kaiser Wilhelms 1888 bis
1913", mit 9 Kunsttafeln und 449 Ab¬
bildungen im Text. Am wertvollsten erscheinen
mirin der besonders hervorgehobenen Beziehung
die Aufsätze von Friedrich Freiherrn von Dinck-
lage „Des Prinzen Jugendzeit" und von
Theodor Schiemann „Kaiser und König
Wilhelm II". Sie zeigen uns Werden
und Sein der Persönlichkeit des Kaisers mit
solcher Feinheit und solchem Verständnis,
wie ich ihnen noch nirgends begegnet bin.
Höchst wertvoll sind in diesem Zusammen¬
hange die Streiflichter, die auf die Lehrer,
besonders auf Hinzpeter, aber auch auf die
Eltern und den Großvater des Jubilars ge¬
worfen werden. Schiemann, der sich durch
seine Schilderung der Persönlichkeiten des
Kaisers Alexander des Ersten von Rußland und
dessen Nachfolgers, Nikolaus des Ersten,
einen besonderen hohen Platz unter den
deutschen Geschichtsforschern geschaffen hat,
erscheint uns in seiner Darstellung der
Persönlichkeit Wilhelms des Zweiten wieder
als ein ungemein feiner Analytiker. Der
Aufsatz wird jeden um so mehr ansprechen,
als er, abgesehen von seinem sachlichen In¬
halt, mit großer Wärme und Liebe zur Person
des Kaisers geschrieben ist, die Schiemann
durch zahlreiche mit dem Kaiser zusammen
unternommene Reisen besonders vertraut
geworden ist. Ich meine, allein wegen der
beiden erwähnten Aufsätze sollte sich niemand
scheuen, das groß angelegte Werk zu kaufen
und zu lesen, um so mehr, als es um den Preis
von nur 6,so Mark erhältlich ist. Alle anderen
Aufsätze, die die Politische Seite des Wirkens des
kaiserlichen Jubilars beurteilen, sind von hervor¬
ragenden Fachmännern geschrieben und schon
deshalb nicht minder wertvoll: W. von Massow,
der den Lesern der Grenzboten schon lange be¬
kannt, schreibt über Auswärtige Politik, Wil¬
helm Lexis, der Nationalökonom, über Volks¬
wirtschaft und soziale Fragen, Georg Strutz
überFinanz- und Steuerreformen, Regierungs¬
rat Gerstmeyer über Kolonialpolitik. Doch
es würde zu weit führen, alle die Namen
hier aufzuführen; sie sind alle einander gleich
wert.
Ganz interessante Einblicke in das Wesen
des Kaisers gibt der bekannte Geograph,
Geheimer Regierungsrat Paul Giißfeldt,
der den Monarchen auf vierundzwanzig Nord¬
landsreisen begleitet hat. Was auf dem Raum
von wenigen Seiten gesagt werden kann, ist
naturgemäß nicht erschöpfend, und so sei bei
dieser Gelegenheit auf das umfangreiche Werk
Güßfeldts hingewiesen, dessen zweite Auflage
bei den Gebrüdern Paetel, Berlin, bereits 1892
erschien: „Kaiser Wilhelms II. Reisen nach
Norwegen in den Jahren 1889 bis 1892"
(Preis 28 Mark). Es ist ein Prachtwerk mit
vielen geographischen und naturwissenschaft¬
lichen Einzelheiten, aber auch mit vielen
Details persönlichen Charakters, und gerade
deshalb erscheint es angebracht, anläßlich des
Kaiserjubiläums daran zu erinnern. Weitere
Einzelheiten über die Kaiserreisen wird der
Leser in den Grenzboten finden. Bereits in
diesem Heft beginne ich mit Veröffentlichungen
aus dem Nachlaß des verstorbenen Staats¬
sekretärs Kiderlen-Waechter, die sich ausschlie߬
lich auf die Kaiserreisen und deren Drum und
Dran beziehen.
Neben den Werken, deren Aufgabe es ist,
uns die Person des Kaisers menschlich näher zu
bringen, machen sich,, und es will mir
scheinen über Gebühr, Auslassungen von
Pessimisten breit, die sich aus zum Teil un¬
erfindlichen Gründen nicht zu einer festlich
gehobenen Stimmung durchzuringen vermoch¬
ten. Eine im Hammerverlag zu Leipzig er¬
schienene Broschüre „Der Kaiser und das
Offizierkorps" kann in diesem Zusammen¬
hange trotz vielfacher Übertreibungen und
Schiefheiten, die darin enthalten sind, immer¬
hin noch als lesenswert bezeichnet werden.
Das gleiche gilt von dem Aufsatz des Stutt¬
garter Historikers Egclhaaf in Heft 9 der
Deutschen Rundschau, der sich mit der Politik
des Kaisers in den letzten Jahren beschäftigt,
ohne ihr gerecht werden zu können. Ganz
verfehlt, vor allen Dingen in der Form, sind
die Aufsätze von 0r. Richard Bahr in Heft 9
des Turners und von einem Anonymus in
Heft K der Neuen Rundschau. Bahr hat in
der Sache zwar recht: gewisse Äußerungen
des Kaisers, die sich in die Persönlichen An¬
gelegenheiten der Staatsbürger einmischen,
haben böses Blut gemacht, — aber stehen
ihnen nicht mindestens ebensoviel Äußerungen
gegenübet, mit denen er Millionen, ja der
ganzen Nation aus dem Herzen sprach? Ich
meine, an solchen Jubiläumstagen, wie wir
sie jetzt feiern, sollte man mit diesen mehr
persönlichen Ansichten, wenn sie auch mit denen
vieler laufender guter Keuscher Bürger über¬
einstimmen, zurückhaltend sein. Der Haupt¬
zweck und Wert der Feiern ist doch, daß wir
durch sie gezwungen werden und auch die
Möglichkeit erhalten, uns über den Streit der
Tagesmeinungen und die Last der Tages¬
arbeit zu erheben und einmal versuchen,
Rückschau und Umschau zu halten. Die
fünfundzwanzig Jahre Regierung
Wilhelms des Zweiten sind zugleich
fünfundzwanzig Jahre einer erfolg¬
reichen Arbeit des deutschen Volkes, die
zu Pessimismus keine Veranlassung
gibt. Wer als Publizist sich berufen fühlt, seiner
Nation Wege zu weisen, sollte die sich beim
Kaiserjubiläum bietende Gelegenheit, ihr
Selbstbewußtsein zu stärken, nicht vorüber-
gehen lassen. Kaiser und Nation jubilieren
gemeinsam I
Der Artikel in der Neuen Rundschau ist
der Ausfluß einer bestimmten Parteimeinung,
nämlich der demokratischen, antimonarchischen.
Sein Schreiber hat an dem Jubelfest keinen
Anteil.
Wer nach der Lektüre solcher Aufsätze
wieder zu größeren und erfreulicheren Aus¬
blicken gelangen will, blättere in den beiden
der Armee und der Marine gewidmeten
Bilderwcrken: „Deutschland in Waffen" (ein
Album in Querfolio mit zwanzig farbigen
Bildtafeln und Begleittexten aktiver Militärs.
Preis S Mark. Deutsche Verlagsanstalt
Stuttgart) und „Kaiser Wilhelm it. und die
Marine", herausgegeben von Prof. Willy
Stöwe (Folioformat 268 Seiten. 10 doppel¬
seitige Vollblätter, 120 Textillustrationen,
Preis 5 Mark. Verlag August schert, G. in.
b. H. Berlin). Die Freude an der ungeheuren
und erfolgreichen Arbeit, die uns hier von
der Nation mit dem Kaiser an der Spitze
geleistet entgegentritt, sollte allen Pessimismus
verjagen. Beide Werke sind wertvolle Ge¬
schenke für die reifere männliche Jugend.
Ähnlich erfreulich, wenn auch vollständig
auf dem politischen Gebiete liegend, wirken
Zwei stattliche Bände: Paul Meinhold,
„Wilhelm II., 25 Jahre Kaiser und König"
(Berlin, Ernst Hofmann u. Co., Preis 4 M,
Prachteinband 6 M.), und or. Felix Rach-
f-ist, Professor an der Universität Kiel
„Kaiser und Reich 1888 bis 1913"
iVossische Buchhandlung, Berlin 1913, Preis
4-SO M., gebunden 6.60 M.) Beide Bücher
erheben den Anspruch, Zusammenstellungen des
geschichtlichen Quellenmaterials zu sein; sie
ergänzen sich in dieser Beziehung. Mcinhold
gibt nämlich die Politik des Reiches an der
Hand der Reden des Kaisers wieder, vielfach
im vollen Wortlaut, wogegen Rachfahl in küh¬
nen Strichen Wesen und Werden der einzelnen
politischen Phasen und dadurch das Wesen der
ganzen Reichspolitik, sowie der Preußens
Zeichnet. Ich übe keine Kritik an den Büchern,
weil ich darin nur blättern konnte und möchte
daher nicht versichern, daß alles, was in
ihnen enthalten ist, absolut richtig wäre.
Beide Autoren haben aber einen guten Ruf
als Historiker. Auf Rachfahls Arbeit wird
die sachliche Kritik noch einzugehen haben.
Ich glaube aber schon jetzt, wer sich einen
klaren Überblick über die Politik der verflossenen
Jahre verschaffen will, wird mit großem
Nutzen zunächst das Werk von Felix Rachfahl
studieren, sich daS sachliche Material durch
Meinhold ergänzen lassen, das die Persön¬
lichkeit des Kaisers betreffende aber in der
zu Anfang genannten Schrift des Bongschen
Die Summe der Kultur des Deutschen
Reiches seit dem Kriege von 1371 zieht das
vom Kaiser-Wilhelm-Dank im Verlag Ka¬
meradschaft, Berlin 36, herausgegebene
Werk: „Deutschland als Weltmacht." Die
in den letzten Jahren so oft und nachdrücklich
geforderte „Erziehung zum Staatsbürger"
hat in diesem Buch eine Grundlage erhalten,
der andere Staaten schwerlich eine gleich ge¬
wichtige an die Seite stellen können. Auf
1060 Seiten Lexikonformat treten uns die
Errungenschaften einer vierzigjährigen ange¬
spannten Friedensarbeit vor Augen, uns mit
bewußtem Stolz erfüllend, daß wir Deutsche
sind, und uns zeigend, was noch zu erreichen
übrig ist, und wie wir um unsere Geltung
und Stellung in der Welt weiter zu kämpfen
haben. In neun Abteilungen, jede wieder
in eine Reihe Unterabteilungen zerfallend, ist
das große Gebiet der geleisteten nationalen,
sozialen und kulturellen Arbeit eingeteilt, be¬
arbeitet von sechzig bedeutenden Männern
verschiedenster Parteien und Berufe, die vor
Einseitigkeit bewahren und deren Namen als
Autoritäten auf ihrem Gebiete gediegenen
Überblick versprechen. Volk und Staat mit
Geschichte, Sprache, Finanzen und Rechts¬
pflege; die wirtschaftlichen Verhältnisse in
Handel und Industrie, Land- und Forstwirt¬
schaft, Bergbau, Städtebau und Börsenwesen;
Vereine und Versicherungen; deutsche Lite¬
ratur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Technik;
Bildungswesen und Konfessionen; Gesund¬
heitsfürsorge und Wehrkraft; innere, aus¬
wärtige Politik und Kolonialwesen: alles
findet seinen berufenen Beurteiler. Sachlich
und schlicht ist die Darstellung, nackt- und
eindrucksvoll läßt es die Tatsachen sprechen
und dürfte manchem Lobredner des Auslandes
die Augen öffnen. Es wird den Glauben an
Deutschlands Zukunft und weltgeschichtliche
Sendung vertiefen und zeigen, dasz unser
Vaterland der Opfer wert ist, die der einzelne
dem Gemeinwohl zu bringen hat. Das Werk
— mit 600 Abbildungen (Porträts, Land¬
schaften, technische Betriebe, Maschinen usw.)
— kostet in starkem Leinenband nur 4 Mark.
Der so billig angesetzte Preis beweist, wie
sehr der Verlag dankenswert bemüht ist, die
weitesten Bolkskreise als Käufer heranzu¬
ziehen. Im deutschen Haus wie in Lehrer-,
Volks- und Gymnastalbibliotheken darf
„Deutschlands Weltmacht" nicht fehlen.
Es waren nicht bloß Festtage, welche diese
Verbrüderung der Karpathendeutschen mit
denen Österreichs krönten, es lag ein heiliger
Ernst über dem Ganzen, denn alle fühlten,
daß hier ein historisches Ereignis in die Er¬
scheinung trat. Zum erstenmal fanden diese
seit Jahrhunderten vom Mutterlande los¬
gesprengten Schwaben des Banats, Galiziens
und der Bukowina, zum Mutterstamme zurück,
zum erstenmal wagten sie den großen Ruf vor
der breiten Öffentlichkeit: „Wir bleiben im¬
merdar Deutsche I" Und als ein weiteres be¬
deutsames Symptom kann eS gelten, daß bei
dieser Verbrüderung als Vertreter Deutsch¬
lands, namens des Bereines für das Deutsch¬
tum im Auslande, Professor Dr. Reisten aus
Stuttgart und der Obmann des Altdeutschen
Verbandes, Dr. Büttner, anwesend waren. Daß
überdies der Oberbürgermeister der Stadt Wien,
Dr. Weiskirchner, besonders auch den Anschluß
der Deutschen Ungarns an das völkische Stre¬
ben aller Deutschen in dieser ernsten Zeit
hervorhob, also offiziell auch der ungarischen
Regierung gegenüber anerkannte, daß Ungarns
Deutsche ein Recht auf ihre Volkszugehörigkeit
haben, ist von ganz außergewöhnlicher Wichtig¬
keit.
An bedeutsamen Beschlüssen wurden ge¬
faßt: die Gründung einer Parzellierungsbank,
eines BauernbundeS und die Herausgabe
einer Bauernzeitung. Denn in dem so kräf¬
tigen Bauernstande Ungarns ruht die Haupt¬
stärke des völkischen Fortbestehens, den
Bauernstand zu unterstützen muß man dem¬
gemäß vor allem bedacht sein. In dieser
Beziehung dürfen wir auch die wirtschaftliche
Unterstützung Deutschlands erhoffen, denn
diese vor allem benötigt das Schwaben-
tum Ungarns; dabei braucht Deutschland
nicht zu fürchten, daß von ihm Opfer ge¬
fordert werden, nur seine Führerschaft streben
wir an, wir brauchen deutsches Kapital nur
als Grundstock unserer wirtschaftlichen Macht,
für eine Betätigung auf kulturpolitischem
Gebiete, auf dem wir, abgesehen von den
Sachsen Siebenbürgens, bisher herzlich wenig
geleistet haben.
Und nun das Politische Ergebnis dieser
Tagung, die über alle Erwartung gut aus¬
gefallen ist. Es gipfelt in dem Ruf: „Hie
Germannenl Hie SlawenI" Diese Verbrüde-
Als der Rektor der Czernowitzer Uni¬
versität, Dr. Raimund Kaindl, vor drei Jahren
den Grundgedanken zu einer Einigung der
„Karpathendeutschen", das heißt der Deutschen
Ungarns, SlawonienS, Galiziens und der Bu¬
kowina, faßte, sah oder ahnte er, daß wir
wieder in eine Phase der Geschichte gelangt
sind, wo des deutschen Volkes Gegner nicht
nur wie immer unsere Glieder zu lähmen
trachten, sondern den Leib selbst einzuschnüren
beginnen. Seit Jahrhunderten kämpften wir
als Kulturpioniere und wurden von den Na¬
tionen, die wir kräftigem, denen wir die Städte
bauten, Handwerk und Landwirtschaft lehrten,
doch nur als Kulturdünger betrachtet, den die
Ackerscholle ihres Volkstumes immer mehr
unter sich begrub. Und bis vor kurzem er¬
schien es uns als etwas Selbstverständliches,
daß das große deutsche Volk diese Vorposten
aussenden, sie sich vom Leibe lösen konnte,
ohne sich zu schwächen, ohne Dank zu finden.
In den letzten drei Jahren aber ist viel ge¬
schehen, was auf die Notwendigkeit des völkischen
Erwachens all dieser Deutschen hinwies, was
ein nationales Rüster und Kräfteheranziehen
des deutschen Volkes erforderte. Es war nun
der Moment gekommen, wo die Karpathen¬
deutschen den Rahmen einer Lokalvereinigung
erweitern mußten, um die Deutschen Öster¬
reichs und Deutschlands auf ihre Existenz auf¬
merksam zu machen. Dies geschah durch die
Tagung der Karpathendeutschen in Wien im
soeben verflossenen Mai.
rung war kein Kampfruf Wider andere Na¬
tionen, auch gegen die Magyaren nicht, mit
denen ja die Deutschen Galiziens, der Buko¬
wina und Slawoniens nichts zu tun haben;
sie war ein Treuebündnis aller Deutschen
Wider jene Macht, die uns vom Norden und
Süden einzuengen sucht, die auch die Magyaren
vor allem zu fürchten haben. Ja, es war
ein politischer Beschluß der Deutschen Ungarns
über die Köpfe der ungarischen Regierung
hinweg — aber zum Nutzen des Landes
Ungarn. Die Zeitungsstimmen der ungari¬
schen Blätter, die diese Tagung besprachen,
ließen sehr deutlich erkennen, daß man diesem
Geschehnis verblüfft gegenübersteht, daß man
einstweilen nicht weiß, ob man darin ein
gefährliches, oder ein zu begrüßendes Symp¬
tom erblicken soll; vor allem sieht man auf ma¬
gyarischer Seite etwas Unerhörtes darin, daß
im Wiener Rathause von den Deutschen Un¬
garns als von Vorposten, die das Recht auf
freie Ausübung ihrer Kultur, ihrer Sprache
fordern, gesprochen wurde, daß dort die
„Wacht am Rhein" gesungen wurde — daß
dort ein Beschluß gefaßt wurde, der Ungarn
betrifft und für den doch nicht die Gut¬
heißung der ungarischen Negierung eingeholt
wurde.
Die ungarische Politik mag ihre persön¬
lichsten Schlüsse aus jener Tagung zu Wien
ziehen; sie wird sich doch eingestehen müssen,
daß es die gemeinsame Not Österreichs und
Ungarns ist, die jene Kundgebung auflöste
und daß, wie der Abgeordnete Rudolf Brandsch
sagte, die Deutschen Ungarns Vorposten sind,
eine Wacht, die auch für die Magyaren das
Bollwerk ist, hinter dem sie sich Wider den
Feind verschanzen können.
Der Ruf und die Mahnung nach
ausgeprägterein und bewußterem Deutschtum
auf mancherlei Gebieten sind bei uns Jahr¬
hunderte alt. Sie fallen schon zurück in die
Zeiten vor der Reformation und in Zeiten,
die noch keinen Politischen Niedergang Deutsch¬
lands darstellten. Es muß sich daher wohl
um einen Erbfehler unseres Volkes handeln,
der im Blute liegt und der nicht einfach nur
mit den unglücklichen Ereignissen der einstigen
staatlichen Zerrissenheit erklärt werden kann.
Dafür ist er eben zu alt und zu tief. Wir
treffen solchen Mangel am Festhalten und
Hochhalten der eigenen Art auch vielfach nicht
bei solchen Völkern, die überhaupt keine
irgendwie wesentliche Staats- und Volks¬
geschichte haben. Es sei hierbei z. B. hin¬
gewiesen auf die Slowenen und Slowaken,
die trotz aller geschichtlichen Unbedeutendheit
ihr eigenes Volkstum bewußt hervorkehren
und auszubreiten suchen. Der Deutsche ordnet
sich aber leider häufig auch dort unter,
wo er selbst der Bringer und Erhalter von
Kultur und Sittigung war und ist. Wohl
spielt hierbei auch manchmal eine edle Billig¬
keit und Gerechtigkeit eine Rolle, aber weit
öfters doch eine völkische Schwäche.
Ähnliche Erscheinungen erleben wir nun
auch in unseren überseeischen Schutzgebieten.
Wenn wir diese uns als ein Neudeutschland
denken und erhoffen, so fehlt doch noch so
vieles hieran. Die deutsche Sprache hat dort
durchaus nicht die ihr gebührende Stellung.
In übermäßiger Weise verzichtet man auf
ihre Herrscherstellung gegenüber den Einge¬
borenen. Man läßt hierbei auch oft dem
Englichen den Vorrang und bemüht sich nicht
ernstlich, wo dies etwa zunächst geboten war,
diesen Zustand allmählich zu ändern. Man
schafft auch ein besonderes Kauderwelsch, in¬
dem man die deutsche Sprache mit allen
möglichen Brocken und Redensarten aus dem
Englischen oder Holländischen oder der Sprache
der Eingeborenen, sogar im eigenen Verkehre
unter Deutschen, durchsetzt. Lebhafte Klagen
sind in dieser Hinsicht z. B. über unser Süd¬
westafrika erhoben worden, trotzdem wir ge¬
rade für dieses Land schon so viele deutsche
Opfer gebracht haben. Da kann man eben
leider nur von einem Mangel an Volks- und
Rassenstolz sprechen.
Hier sei nun besonders einer ganz be¬
stimmten betrüblichen Erscheinung in unseren
Schutzgebieten gedacht. Es ist dies das Zu¬
rücktreten deutscher Orts- und Landesnamen
in den Kolonien. Wohl sind solche vor¬
handen, aber in ganz ungenügendem Maße.
Die Bezeichnungen aus der Eingeborenen¬
sprache haben bei weitem das Übergewicht.
Das hätte eine Berechtigung, wenn es sich,
wie etwa in Indien, Ägypten usw., um alte
bedeutsame, unter diesen Namen bekannte
Stätten oder um einigermaßen hochstehende
Völker handelte. Wo dies aber alles fehlt,
wo alle Bedeutung und Kultur einzig und
allein erst durch uns Deutsche gebracht ist,
da ist es mehr denn Bescheidenheit, da ist es
Ungerechtigkeit gegen uns selbst, wenn wir
uns unterordnen und auf den deutschen
Stempel verzichten. Es ist aber zugleich auch
politische Unklugheit. Wir erschweren dadurch
unsere Stellung und das innere Zusammen¬
wachsen mit dem deutschen Mutterlande. Die
große Mehrzahl der Kenner betont, daß der
nun einmal tatsächlich vorhandene kulturelle
Tiefstand der Eingeborenen in unseren Schutz¬
gebieten für eine erfolgreiche Tätigkeit das
Hervorkehren des Herrschertums durch uns,
bei allem sonstigen menschlichen Wohlwollen,
erfordert. Dem wird aber nicht entsprechend
Rechnung getragen, wenn wir den Namen
der Eingeborenen zu amtlicher Bedeutung
verhelfen, wenn wir elende Weiler und Dörfer,
die wir teilweise bis zu blühenden Städten
oder zu Eisenbahnstationen erhoben haben,
unter dem Namen des einstigen Nichts be¬
stehen lassen. Soweit das Deutschtum schöpfe¬
risch aufgetreten ist, soll dies auch im äußeren
Namensklang zum Ausdrucke kommen I Wir
sollten auch ferner der Tatsache nicht ver¬
gessen, daß sich in der Kolonialgeschichte aller
Völker teilweise mehr oder weniger erfolg¬
reiche Bestrebungen der Kolonien, sich vom
Mutterlande zu trennen, gezeigt haben. Sie
werden dadurch erleichtert, wenn man darauf
verzichtet, die überseeischen Besitzungen in der
Sprache seiner Bewohner, in dem Klänge
und Anblick seiner Ortsbezeichnungen zu einem
sichtbaren Bestandteile des Mutterlandes zu
stempeln. Es liegt eine dauernde stille Mah¬
nung des Zusammenhaltens und der Zu¬
sammengehörigkeit in solchen äußeren Dingen.
Was in dieser Hinsicht bis jetzt gefehlt ist,
kann noch nachgeholt werden. Nicht bloß bei
Neugründungen; auch bestehende Namen be¬
deutenderer Orte und Landschaften können
allmählich durch deutsche Bezeichnungen ersetzt
werden, wobei gleichzeitig auch eine Gelegen¬
heit gegeben ist, deutsche Männer zu ehren
und im Gedächtnis festzuhalten, die für die
Schutzgebiete gestrebt, gestritten und auch ge¬
litten haben. Man kann für eine gewisse
Übergangszeit den seitherigen Namen noch
in Klammern neben dem neuen deutschen
Namen mitführen. Was in unseren Preußi¬
schen östlichen Provinzen möglich war und
ist — es sei z. B. auf die Umwandlung des
alten Namens Jnowrazlaw in Hohensalza
verwiesen — ist selbstverständlich und zwar
noch viel leichter in unseren Schutzgebieten
durchführbar. Vielleicht gibt der in Aussicht
gestellte Besuch unseres Kronprinzen in den
Kolonien den Anstoß zu einer solchen Tat,
die wirklich eine gut deutsche, gerechte und
nützliche sein würde. Hier gilt es, ein Stück
völkischer Eigenart in Gebieten, die ein Neu¬
deutschland sein sollen, zu schaffen und zu
wahren!
Nachdruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags gestattet,
verantwortlich- der Herausgeber George Tleinow in Berlin-Schöneberg. — Manuslriptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
A» den Herausgeber »er Grenztotr» in Berlin-Frieden»«, Hedwigftr. 1».
gernfprecher der Schriftleitung: Ami UHIand SKZO, de« Verlag»: Amt LüKow SSI»,
Verlag: Verlag der Trenzboten «. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: .Der ReichSb-te» S. in. b. H. in Berltn 8>V. 11, Dessauer Strasze SS/S?.
s ist nicht notwendig, Frauen und Kinder zur Erbschaftssteuer
heranzuziehen, um den Ertrag der Steuer bedeutend zu erhöhen.
Auch wenn man diese nächsten Angehörigen mit der Auflage
^ verschont, lassen sich beträchtliche Mehreinnahmen erzielen. Nach
geltendem Recht sind alle Verwandten, außer dem überlebenden
Ehegatten und den Kindern, und ebenso fremde Personen, denen Erbschaften
zufallen, steuerpflichtig. Die Steuer beginnt mit 4 Prozent und endet mit
25 Prozent. Jährlich kommen auf diese Weise rund 50 Millionen Mark auf,
für das Jahr 1911 ergaben sich 52 794 646 Mark, ein Betrag, der recht gering
erscheint, wenn man bedenkt, daß im ganzen 5700 Millionen Mark jährlich in
Deutschland vererbt werden. Ich habe schon früher, in den Preußischen Jahr¬
büchern von 1909 Seite 289 ff., vorgeschlagen, die in Geltung stehenden Sätze
zu verdoppeln, um dadurch den Ertrag auf das Doppelte zu bringen, von
50 Millionen auf 100 Millionen Mark. Die Steuer würde dann mit 8 Prozent
einsetzen und bis 50 Prozent steigen. Man kann aber die geltende Abstufung
überhaupt aufgeben. Es handelt sich außer den Eltern und Großeltern des
Erblassers um Seitenverwandte und um fremde Personen, die als Erben auf¬
treten. Teile man diese sämtlichen steuerpflichtigen Erben in zwei Gruppen,
deren eine die Verwandten in aufsteigender Linie, die Geschwister und deren
Kinder umfaßt, während die übrigen Seitenverwandten und die fremden Personen
die andere Gruppe bilden, so möchte ich empfehlen, daß die Erben der ersten
Gruppe den achten Teil der Erbschaft, also 12^ Prozent und im Höchstfalle,
bei mehr als einer Million, den vierten Teil der Erbschaft, also 25 Prozent
als Steuer an die Gesamtheit abgeben, daß dagegen die Mitglieder der anderen
Gruppe, nämlich die weiteren Seitenverwandten und die Fremden, den vierten
Teil der Erbschaft mit 25 Prozent und im Höchstfalle, bei mehr als einer
Million, die Hälfte der Erbschaft mit 50 Prozent als Steuer erlegen. Auf
dieser Grundlage läßt sich folgende Stufenleiter aufstellen:
Werden die Steuersätze soweit erhöht, so wird sich der Ertrag nahezu
verdreifachen, also um nahezu 100 Millionen erhöhen. Es fragt sich, ob eine
solche Erhöhung den Erben gegenüber zulässig erscheint. Die Frage ist meines
Erachtens zu bejahen. Eine gewisse Willkür ist bei der Aufstellung von Zahlen
nicht zu vermeiden. Auch die geltenden Anfangssätze von 4 Prozent sind
willkürlich, wie ohne weiteres erhellt. Der Gesetzgeber hat nicht etwa ange¬
nommen, man trete den Geschwistern und Neffen und Nichten zu nahe, wenn
man ihnen zumute, mehr als 4 Prozent von ihren Erbschaften an die Staats¬
kasse abzugeben, sondern nach der Begründung des Erbschaftssteuergesetzes vom
3. Juni 1906 Seite 20 war die Erwägung bestimmend, daß kein höherer Satz er¬
forderlich war, um den damals fehlenden Betrag im Reichshaushalt zu decken. Die
Zahl 4 ist also nicht als eine auf einer Naturnotwendigkeit beruhende, unabänderliche
Größe anzusehen, sondern sie erklärt sich einfach rechnerisch aus dem verhältnis¬
mäßig geringen Geldbedürfnis des Jahres 1906. Bei den hier vorgeschlagenen
Sätzen ist berücksichtigt, daß sie nicht etwa die nahen Angehörigen des Erb¬
lassers treffen. Vielmehr handelt es sich vorzugsweise um solche Erbfälle, die
dem natürlichen Gang der Dinge zuwiderlaufen, die nur eintreten, weil der
Erblasser unverheiratet und kinderlos verstorben ist. Italien hat durch Gesetz
vom 23. Juni 1902 für Geschwister und ihre Kinder Anfangssätze von 7 und
8^2 Prozent eingeführt, Frankreich durch Gesetz vom 8. April 1910 Anfangs¬
sätze von 10 und 12 Prozent. Darüber geht man nicht wesentlich hinaus,
wenn man nach obigem Vorschlag einen Satz von 12^ Prozent zugrunde
legt, der sich stufenweise bis zu 25 Prozent steigert, wenn der Wert der Erb¬
schaft mehr als eine Million beträgt. Kommen entferntere Seitenverwandte
oder fremde Personen in Betracht, so ist es nicht unbillig, ihnen 25 Prozent
aufsteigend bis zu 50 Prozent aufzuerlegen, falls es sich um mehr als eine
Million handelt. Auch dann lohnt es noch der Mühe, solche Erbschaft anzu¬
treten. Dem Erben selbst wird ja wohl jede Steuer, die er zahlen soll, über¬
flüssig vorkommen. Vom Standpunkt der Gerechtigkeit aber kann die natürliche
Selbstsucht des Erben nicht den Ausschlag geben. Man kann dabei kaum von
Härte sprechen. Jede Rücksicht, die man auf den einzelnen begünstigten Erben
nimmt, führt vielmehr zur Härte und Rücksichtslosigkeit gegen die Gesamtheit
und die Millionen von Bedürftigen, die überhaupt nichts erben I Zu ihrem
Besten insbesondere erscheint auch eine hohe Abgabe vom unverdienten Gewinn
wohl gerechtfertigt. Das Erben bleibt auch dann noch eine ganz einträgliche
und jedenfalls nicht aufreibende Tätigkeit. Es ist recht und billig, wenn die
große Masse, die sich in harter Arbeit für des Lebens Notdurft müht, wenigstens
bis zu einem gewissen Grade an den Erbschaften teilnimmt, die als müheloser
Gewinn, als Geschenk des Zufalls, wenigen in den Schoß fallen. Ohnehin
kann das Vermögen, das der einzelne hinterläßt, nicht lediglich als das Er¬
zeugnis seiner eigenen Tätigkeit betrachtet werden. Was wir erwerben, ver¬
danken wir mit der wirtschaftlichen Tätigkeit der ganzen Bevölkerung und dem
Schutze des Reiches. Auch auf dem Gebiete des Erbrechts muß deswegen der
hohe Gemeinschaftsgedanke in stärkerem Maße Beachtung finden, als es bisher
der Fall gewesen ist. Wie sich diese Aufgabe im einzelnen durchführen läßt,
welche Maßregeln notwendig sind, um das Steuerpflichtige Vermögen voll zu erfassen,
Hinterziehungen zu hindern — mögen sie beim beweglichen oder unbeweglichen
Vermöge» vorkommen — um das schleppende, unzweckmäßige Einziehungs¬
verfahren durch ein schleuniges, sachgemäßes zu ersetzen und so den Ertrag der
Erbschaftssteuer noch zu erhöhen, — das mag einer weiteren Betrachtung vor¬
behalten bleiben. Hier sollte zunächst ein Weg gezeigt werden, auf dem ohne
Besteuerung von Kindern und Witwen und ohne neue Heranziehung des all¬
mählich doch genügend belasteten Steuerzahlers bedeutende Mehreinnahmen er¬
zielt werden können.
! le Zahl der Soldaten, die bei einem Kriege gegeneinander geführt
werden sollen, hat die Millionengrenze längst überschritten, und
doch zeigt sich noch kein Nachlassen in der Vergrößerung der
Heere; im Gegenteil, alle Staaten sind eifrig bemüht, ihre Wehr-
^ kräfte weiter auszubauen und alle irgendwie verfügbaren Kräfte
heranzuziehen. Dies hat bei den Staaten, die noch über einen Überschuß an
Mannschaften verfügen, wie bei Deutschland, Österreich, Rußland, zu wieder¬
holter Erhöhung der jährlich einzustellenden Rekrutenzahl geführt, bei Frankreich
aber, dem Staate, der die vorhandenen Kräfte bereits voll ausgenutzt hat, zu
einer Verlängerung der Dienstzeit, sowie zur Heranziehung farbiger Truppen.
Zweck dieser stetigen Vergrößerung ist, die Überlegenheit der Zahl zu
erreichen, die, wie auch 1870, tüchtigen Führern den Erfolg gewährleistet. Das
Heer so stark wie möglich zu machen, ist demnach eine Pflicht der Heeresverwaltung,
die dem Selbsterhaltungstrieb des Volkes Rechnung trägt.
Bei der steten Vermehrung des Kriegsheeres muß die Frage entstehen,
ob man solche Massen im Zukunftskriege überhaupt noch einheitlich führen und
leiten kann, und ob nicht die Schwierigkeit der Führung schließlich zu einer
Begrenzung der Heere führen muß. Denn zweifellos wird die Führung schwie¬
riger, je stärker die Heere selbst und damit auch die Räume weiter werden, die sie bei
der Versammlung, beim Marsch und im Gefecht einnehmen. Napoleon ist zum
größten Teile schließlich daran gescheitert, daß er die durch die Entfernungen
bedingten Schwierigkeiten nicht richtig erkannte und daß ihm, als er sich ihrer
bewußt wurde, die Mittel fehlten, ihnen zu begegnen. Seine ganze Kriegführung
war auf kleinen Heeren aufgebaut, die er noch unmittelbar selbst zu leiten vermochte,
die leicht zu verpflegen und schnell zu bewegen waren. Mit ihnen hat er jene großen
Erfolge erzielt, durch die er zu einem der größten und bedeutendsten Heerführer aller
Zeiten geworden ist. Als aber seine Heere so groß geworden waren, daß seine
persönliche Einwirkung und unmittelbare Führung nicht mehr durchdrang, da
blieben die Erfolge aus und schließlich unterlag er seinen zahlreichen Gegnern.
Hat nun in einem Zukunftskriege die oberste deutsche Heeresleitung die
Mittel, um die Schwierigkeiten der Führung überwinden zu können?
Die allgemeine politische Lage und die Gestaltung des Kriegsschauplatzes in
Mitteleuropa führen schon von selbst zu einer gewissen Gliederung und örtlichen
Trennung. - So werden wir voraussichtlich gezwungen werden, unser Feldheer in
zwei Gruppen zu zerlegen, von denen die eine im Westen, die andere im Osten
Verwendung findet. Und sollte außerdem eine feindliche Landung an einer unserer
Küsten drohen oder zu erwarten sein, so würde sogar die Aufstellung einer dritten
Gruppe an der gefährdeten Küste erforderlich sein. Aber auch auf jedem der
Kriegsschauplatze kann infolge örtlicher Verhältnisse oder wegen verschiedener
Operationsrichtungen und Operationsziele eine Gliederung des ganzen Heeres
in verschiedene Gruppen erforderlich werden, wie es der Krieg 1870/71 zeigte.
Wie wird nun die einheitliche Führung dieser getrennten Gruppen, wie die
Führung der einzelnen Armeen gewährleistet?
Die moderne Technik gibt zunächst die Mittel an die Hand, die großen
Räume zu überbrücken, und dem Führerwillen bis in die entferntesten Teile
Ausdruck zu geben und ihn den unterstellten Truppen zu übermitteln. Diese
Mittel fehlten Napoleon. Ihm standen nur Adjutanten und Meldereiter zur
Verfügung. Diese genügten nicht, als mit der Zahl der Truppen die Ent¬
fernungen wuchsen, auf denen sie operierten. Man denke sich, wie ganz anders
Napoleon hätte handeln können, wenn er 1813 durch den Telegraph mit dem
Vizekönig Eugen Beauharnais verbunden gewesen wäre und er dessen Bewegungen
von Paris aus hätte beeinflussen können, wenn er während des Herbstfeldzugs
täglich hätte Befehle an Neu schicken können. Die modernen technischen Verbindungs¬
und Nachrichtenmittel können allerdings gelegentlich versagen. Doch mit solchen
Zufällen muß im Kriege immer gerechnet werden. Auch ein Adjutant, der mit
wichtigen Befehlen entsendet wird, kann stürzen und liegen bleiben. Man wird
sich also nicht mit einem solchen Verbindungsmitrel begnügen dürfen, sondern
wird möglichst mehrere gleichzeitig verwenden. Die Verbindungsmittel müssen
aber auch schnell betriebsfähig sein können. Wenn das Armeeoberkommando
nachmittags in seinem neuen Unterkunftsorte ankommt, muß es sofort mit den
einzelnen Generalkommandos und mit der vorgeschickten Kavallerie verbunden
sein, um die Meldungen über den Feind zu erhalten und rechtzeitig die für den
nächsten Tag notwendigen Befehle ausgeben zu können. Würde die telegraphische
Leitung erst im Laufe der Nacht fertig werden, so würde dies in den meisten
Fällen zu spät sein. Um dies zu erreichen, müssen die einzelnen Stellen reichlich
mit Personal und Material ausgerüstet sein, und ersteres muß zahlreich und
für seine Aufgabe besonders gut ausgebildet sein. Es muß in dieser Hinsicht
ein gewisser Überschuß herrschen. Eine übertriebene Sparsamkeit könnte die
schwerwiegendsten Nachteile mit sich bringen. So ist es sehr richtig, daß die
letzten Heeresvorlagen und auch die neue eine bedeutende Vermehrung der Ver¬
kehrstruppen gebracht haben. Auf diesem Gebiete kann nicht leicht zu viel
geschehen. Besonders wichtig ist die Ausnutzung der drahtlosen Telegraphie,
d. h. die Ausrüstung der Stäbe mit fahrbaren Stationen, weil mit ihrer Hilfe auch
diejenigen Stellen schnell in Verbindung miteinander treten können, zwischen denen
wegen der großen Entfernung oder wegen der Bedrohung durch die Gegner oder
durch die feindlich gesinnten Landeseinwohner das Legen von Draht entweder
gar nicht, oder nur nach einem längeren Zeitraum möglich ist.
Genügte früher eine schnelle Verbindung zwischen den einzelnen Kommando¬
stellen wenigstens im Zustande der Ruhe, so muß man jetzt wegen der Ver¬
größerung der Entfernungen eine derartige Verbindung auch während des
Marsches und auf dem Gefechtsfelde verlangen. Auch diese hat sich ermöglichen
lassen. Die eine der bei den Stäben befindlichen Funkenstationen bleibt auch
nach dem Abrücken der Truppen in Tätigkeit, empfängt und befördert Mel¬
dungen und Befehle, die dann durch Personenselbstfahrer und Motorräder
den Truppen und Stäben schnell nachgesandt werden. Sie wird erst dann
abgebaut, wenn die andere an die Spitze vorgezogene Station eingerichtet ist
und ihren Betrieb aufgenommen hat. Auf dem Gesechtsfelde aber findet der
Fernsprecher Verwendung, mit dem die Generalkommandos und Divisionsstäbe
ausgerüstet sind. Die Feldfernsprechabteilungen marschieren ganz vorn bei der
Vorhut. Sowie ein Gefecht begonnen hat und sich sein Verlauf einigermaßen
übersehen läßt, verbinden die Abteilungen die Stäbe miteinander. Bei geschickter
Anordnung und Mitbenutzung des Materials der Telegraphentruppen ist es auch
möglich, eine Verbindung der nebeneinander kämpfenden Korps und der Flügel-
Divisionen fremder Korps herzustellen. Im Zustande der Ruhe dient der Telegraph
zur Verbindung der einzelnen Unterkunftsorte oder Biwaksplätze, der Vorposten usw.
Die richtige und zweckmäßige Ausnutzung dieser verschiedenen technischen
Nachrichten- und Verbindungsmittel verlangt, daß die Anordnungen zu ihrer
Verwendung von einer Stelle und von einer fachtechnisch ausgebildeten und
erfahrenen Persönlichkeit ausgehen. Muß doch in jedem einzelnen Falle genau
erwogen werden, welches Verbindungsmittel vorzugsweise zur Anwendung kommen
soll, an welchen Orten die einzelnen Stationen zu errichten sind, wann der
Betrieb zu eröffnen und wie lange er aufrechtzuerhalten ist. Deshalb werden
neuerdings allen höheren Stäben besondere Verkehrsoffiziere beigegeben, die die
Befehle für die Verwendung der technischen Nachrichtenmittel vorzubereiten und
auszuarbeiten haben. Wenn man so die große Vermehrung der Verkehrstruppen
betrachtet, die in unserer Armee in den letzten Jahren erfolgt ist und die auch
noch fortgesetzt wird, die reichliche Beschaffung und Bereitstellung des besten und
neuesten Materials, das unsere Technik liefert, die zahlreichen Friedensübungen,
die abgehalten werden — so wird man die Überzeugung gewinnen dürfen, daß
in technischer Hinsicht alles geschieht, um die militärischen Nachrichten- und Ver¬
bindungsmittel auszugestalten. Es wird hierdurch möglich, die großen Räume schnell
zu überbrücken, welche die Millionenheere des Zukunftskrieges einnehmen werden.
Dies ist jedoch nur die eine Seite der Frage, die rein technische. Die
andere betrifft die Führung selbst. Napoleon behielt die Führung der einzelnen,
ihm direkt unterstellten Truppeneinheiten möglichst lange in seiner Hand, damit
sie genau nach seinen Absichten und Plänen handelten, und beschränkte dadurch
die Selbständigkeit seiner Generale. Er schloß dadurch in gewissen Grenzen
allerdings die Zufälligkeiten aus, die durch seiner Führerabsicht entgegen¬
stehenden Maßnahmen der Unterführer verursacht werden konnten. Aber er
erzog auf diese Weise keine eigentlichen Führer. Seine Generale waren nur
gewohnt, unmittelbar auf seine Befehle hin zu handeln. Wo sie selbständig auf¬
treten sollten, haben sie in der Regel versagt. Ein solches Verfahren ließ sich
nur bei räumlich beschränkten Verhältnissen durchführen. Als diese durch das
Anwachsen der Heere größer wurden, mußten die Unterführer notwendigerweise
eine größere Freiheit und Selbständigkeit erhalten, für die sie nicht ausgebildet
und erzogen waren. Diese mußte sogar in vielen Fällen noch größer sein
als jetzt, weil die Nachrichtenmittel fehlten, über die wir jetzt verfügen. Das
Versagen der französischen Generale beruhte auf einen Fehler der Ausbildung.
Es ist das große Verdienst von Moltke, dies richtig erkannt und die gewonnene
Kenntnis für Preußen-Deutschland nutzbar gemacht zu haben.
Sein Bestreben war in erster Linie auf die Heranbildung selbständig
denkender und handelnder Führer gerichtet, denen er in der Führung
große Freiheit ließ. Er gab keine detaillierten Befehle Tag für Tag, sondern
Direktiven für einen größeren Zeitraum, die nur die allgemeine Aufgabe
für den betreffenden Heeresteil enthielten, die Art und Weise der Ausführung
im übrigen dem Führer überließen. Schließt auch die große Freiheit und
Selbständigkeit der Armeeführer gewisse Gefahren in sich — wir denken an
Steinmetz —, so hielt sie Moltke aber schließlich für geringer als die Nachteile,
die aus Unselbständigkeit und aus Mangel an Initiative hervorgehen. Das
Mittel, um die Selbständigkeit der Unterführer in richtige Bahnen zu lenken,
liegt in ihrer richtigen Auswahl und Erziehung. Es ist notwendig, daß in
der ganzen Armee, namentlich aber unter den höheren Führern gleichartige
Ansichten herrschen über das Wesen des Krieges, über die Führung und über
die Mittel, eine gestellte Aufgabe zu erfüllen. Das ist die beste Gewähr, daß
die Unterführer stets nur im Sinne der höheren Führung handeln. Dies zu
erreichen, ist die Aufgabe des Generalstabes. So ist es wünschenswert — wie
es auch geschieht —, daß die höheren Führer alle durch den Generalstab ge¬
gangen sind und daß dem Chef des Generalstabes bei Besetzung der höheren
Führerstellen auch schon im Frieden eine entscheidende Stimme eingeräumt wird.
Es ist ferner notwendig, daß unsere ganze Ausbildung auf die Verhältnisse
des „Großen Krieges" zugeschnitten wird und daß beizeiten jeder an seiner
Stelle die Erfordernisse und Schwierigkeiten — wenigstens theoretisch — kennen
lernt, die der Zukunftskrieg bietet. Deshalb muß sich schon der junge Offizier
mit den Fragen der größeren Kriegführung befassen und sich in dieser Hinficht
auf spätere höhere Stellungen vorbereiten. Dann verliert das Wort „Strategie"
seinen beängstigenden Klang und strategische Erwägungen und Rücksichten er¬
halten dieselbe Berechtigung wie die taktischen. Ohne diese wird man das Wesen
der modernen Kriegführung nicht verstehen. Mit Recht sagt der General der
Infanterie Freiherr von Falkenhausen: „Die Notwendigkeit ernster und gründ¬
licher Gedankenrichtung auf den zu erwartenden Verlauf von bevorstehenden
Kriegshandlungen beschränkt sich nicht auf die verhältnismäßig geringe Zahl
der bei den obersten Heeresbehörden mitwirkenden Offiziere, auch nicht auf die
höheren Führer und den Generalstab, die zu umfassender Tätigkeit oder Mit¬
wirkung bei der Verwendung größerer Truppenkörper berufen sind. Die jetzige
Zeit verlangt von jedem Offizier, der an seinem Platze erfolgreich wirken will,
daß er einen klaren und geschulten Einblick gewinnt in den Betrieb des ver¬
wickelten Mechanismus, den die Massenheere der Jetztzeit darstellen. Wie in
jeder Wissenschaft und jeder Lebenshandlung ist ein Überblick über das Ganze
notwendig für Kenntnis und Leistung im einzelnen."
Neben diesem theoretischen Studium müssen aber auch die Friedensübungen
selbst sich den Verhältnissen des „Großen Krieges" anpassen, soweit dies im
Frieden überhaupt möglich ist. Nur bei solchen Übungen gewinnen die höheren
Führer die notwendige Übung und lernen die Reibungen des Ernstfalles kennen.
Deshalb werden die Kaisermanöver dem Ernstfalle entsprechend im großen
Rahmen angelegt und durchgeführt. Häufig werden besondere Armeestäbe auf¬
gestellt, Kolonnen und Trains werden in kriegsgemäßer Weise gebildet. Die
Zahl der jährlich übenden Kavalleriedivisionen ist vermehrt, ein Teil der Übungen
ist von den Truppenübungsplätzen weg in das Gelände verlegt worden. Größere
Aufklärungsübungen finden statt. Einzelne Armeekorps halten Manöver gegen
markierter Feind unter Leitung der Armeeinspekteure ab. Pionier- und Festungs¬
kriegsübungen finden statt. Man steht also überall das Bestreben, den Ver¬
hältnissen des „Großen Krieges" Rechnung zu tragen und die Ausbildung
kriegsgemäß zu gestalten. Verheißungsvolle Ansätze sind vorhanden. Es ist
aber notwendig, daß sie noch weiter ausgebildet werden und daß namentlich
die höheren Führer noch mehr wie bisher Gelegenheit haben, ihre Verbände in
großem Rahmen zu führen. Wenn das Geld bewilligt würde, daß auch die
anderen Korps jährlich solche Herbstübungen großen Stiles ausführen könnten,
so brächte das deutsche Volk ein nationales Opfer, das in der Zukunft Zinsen
bringen wird.
Von wesentlichem Einfluß auf die Führung wird ferner der Platz des
Führers sein, den dieser während der Operationen wählt. Die technischen Ver¬
bindungsmittel werden in großen Verhältnissen den Aufenthaltsort des Führers
bestimmen, der nicht dort liegt, wo eine weite Aussicht und Umblick ist, sondern
wohin sich gute und schnelle Verbindung herstellen läßt. Der Führer muß
daher den einmal gewählten Platz auch möglichst lange beibehalten und darf
ihn nur unter zwingenden Verhältnissen verlassen oder wechseln. Die Zukunfts¬
schlacht wird uns den höheren Führer hinter der Front zeigen, an einem
Punkte, von dem aus die Telegraphen und Telephone nach allen Richtungen hin
laufen. Es geht dadurch allerdings ein Teil der persönlichen Einwirkung auf die
Truppen verloren, es fehlt die unmittelbare Anschauung. Dies sind gewiß
Nachteile. Es ist aber zu bedenken, daß bei der häufig großen Aus¬
dehnung der Fronten der Armeeführer doch immer nur einen kleinen Teil
des Gefechtsraumes überblicken kann und daß es unmöglich ist, alles selbst
zu sehen und zu beobachten. Man muß sich eben damit abfinden, daß der
Führer im allgemeinen auf seine Karte und die einlaufenden Meldungen an¬
gewiesen ist. Es ist auch wichtiger, daß er hinter der Front in Ruhe und
von den Aufregungen des Gefechtes selbst geschützt, die Lage beurteilt und seine
Entschlüsse faßt. Diese Art der Führung wird noch vielfach bestritten und nicht
als zweckmäßig bezeichnet, sie dürfte aber doch diejenige sein, die beim Zukunfts-
kriege in die Erscheinung tritt. Sie hat außerdem noch den Vorteil, daß sie
die Kräfte schont. Der Führer muß frisch sein, wenn er die wichtigsten Ent¬
schlüsse fassen soll. Dieses Moment ist um so wichtiger, als es sich bei den
höheren Führern in der Regel um Persönlichkeiten handelt, die sich schon in
einem vorgeschritteneren Lebensalter befinden, bei denen also die notwendige
Ruhe und Schonung eine große Rolle spielen. Diese kann mit Hilfe des Auto¬
mobils jetzt in einer ganz anderen Weise gewährt werden, als es früher der
Fall war.
Auch durch eine Änderung der Befehlstechnik ist man bestrebt gewesen,
die Führung der Massenheere zu erleichtern. Früher fand in den Abend¬
stunden bei den höheren Kommandostellen regelmäßig ein Befehlsempfang
statt, zu dem die Generalstabsoffiziere oder Adjutanten erscheinen mußten.
Dieser durfte nicht zu spät abgehalten werden, damit die Befehle rechtzeitig auch
noch bei den untersten Truppen ankamen. Die Führung war deshalb häufig
nicht in der Lage, auf die letzten Meldungen zu warten. Oftmals mußten
Anordnungen getroffen werden, ehe eine Klärung der Lage eingetreten war.
Unter Umstünden konnte man sich nur dadurch helfen, daß man die Truppen
für den nächsten Morgen einfach zu einer frühen Morgenstunde auf einen
gemeinsamen Sammelplatz bestellte, und dann erst die Befehle ausgab. Jetzt,
wo die einzelnen Stäbe durch Fernsprecher und Telegraph mit einander ver¬
bunden sind, ist man von der Abhaltung der großen Befehlsempfänge ganz
abgekommen. Sowie sich die Lage einigermaßen übersehen läßt, wird den
Truppen kurz die Zeit des Antretens und die Art der Versammlung für den
nächsten Tag mitgeteilt. Dies genügt, damit die unteren Dienststellen die
notwendigsten Befehle geben können und die Truppe selbst zur Ruhe kommt.
Die längeren ausführlichen Befehle mit ihren vielen Einzelheiten werden erst
gegeben, wenn nach dem Eingang der letzten Meldungen sich die Lage klar
übersehen läßt und wenn auch die letzten Befehle der höheren Instanzen ein¬
getroffen sind.
Auch wenn plötzlich Änderungen der ursprünglichen Absichten eintreten
sollten und eine Abänderung der früher erlassenen Befehle sich als notwendig
herausstellen sollte, so ist dies jetzt viel leichter auszuführen. In dieser
Hinsicht ist die Führung also beweglicher geworden. Die Einführung be¬
sonderer Bureauwagen, die Mitführung des Unterpersonals auf Motoromni¬
bussen ermöglicht die Abwicklung des regelmäßigen Geschäftsbetriebes un¬
mittelbar nach dem Eintreffen im Unterkunftsorte. Ja auch für den Fall,
daß die Stäbe auf freiem Felde in Tätigkeit treten sollten, ist durch Ein¬
richtung der Wagen, Mitführung von Zelten usw. Vorsorge getroffen. Nicht
gering ist ferner der Vorteil einzuschätzen, den die Führung durch die
reichliche Ausstattung aller Stäbe und Truppen mit Kartenmaterial erhalten
hat. In napoleonischer Zeit machte sich der Mangel an guten und zuver¬
lässigen Karten in empfindlichster Weise fühlbar. Wenn man die Berichte
hoher Offiziere jener Zeit liest, so frägt man sich oft verwundert, wie es denn
möglich gewesen sei, ohne jede Karte Krieg zu führen. Es kommt ferner noch
hinzu, daß man jetzt über den Gegner, seine Armee, die vorhandenen Festungen,
die Beschaffenheit des Landes, seine Ressourcen, die Wegeverhältnisse viel besser
unterrichtet ist wie früher. Man wird bei einem Kriege schwerlich durch irgend¬
eine bedeutende Tatsache überrascht werden. Etwaige Schwierigkeiten sind be¬
kannt, so daß man beizeiten die entsprechenden Gegenmaßregeln treffen konnte.
Von der Verwendung der lenkbarem Luftschiffe und Flugfahrzeuge ver¬
spricht man sich viel für die Aufklärung. Ob mit Recht soll hier nicht unter¬
sucht werden. Sollten aber tatsächlich diese neuen Mittel die Aufklärung weit¬
reichender und zuverlässiger gestalten, als es bisher der Fall war, wo der
Führer lediglich auf die Meldungen seiner Kavallerie und gelegentliche Agenten-
und Spionennachrichten, auf die Mitteilungen der Einwohner und die Angaben
der Presse angewiesen war, so wird dies doch keinen wesentlichen Unterschied
in der großen Kriegführung herbeiführen. Ein einzelnes Armeekorps, ja auch
noch eine Armee, die selbständig ohne Anlehnung an andere Verbände operiert,
kann auf Grund der noch in später Abendstunde eingelaufenen Nachrichten ihre
Front verschieben, die Marschziele ändern, eine andere Gruppierung der Kräfte
herbeiführen. In größeren Verhältnissen ist dies nicht mehr in diesem Maße
möglich. Alle Bewegungen müssen dann aus einer größeren Tiefe und auf
weitere Entfernungen angesetzt sein. Der Plan, nach dem die Truppen ver¬
wendet werden sollen, muß seit längerer Zeit gefaßt sein und kann nicht von
den täglich einlaufenden Meldungen mehr abhängig sein, sonst kommt die
Ausführung zu spät. Wer sich von den Meldungen über den Feind ab¬
hängig macht, mit seinen Entschlüssen auf deren Eintreffen wartet, wird in
der Regel zu spät kommen. Er überläßt dem Gegner die Vorhand, macht
sich von ihm abhängig und gerät schon dadurch in Nachteil. Sind außer-
dem große Heeresmassen erst einmal auf Grund einer bestimmten Lage,
eines gegebenen Auftrages in Bewegung gesetzt, so wird man in der
Regel auch an dem einmal gefaßten Plane festhalten müssen, es sei denn, daß
sich im Laufe der Operationen herausstellt, daß er auf falschen Voraussetzungen
beruhte und gänzlich abgeändert werden muß. Als 1870/71 die Maas- und
III. Armee auf Paris marschierten und die Nachricht vom Marsche Mac Masons
auf Metz erhielt, mußte allerdings der ganze Vormarsch abgeändert werden.
Daran hätte sich im allgemeinen nichts geändert, wenn die Meldungen über
den französischen Vormarsch früher und sicherer durch Lustfahrzeuge gemeldet
worden wären, als es durch die Meldungen der Kavallerie und die Nachrichten
der Presse erfolgte. So ist nicht anzunehmen, daß eine verbesserte Aufklärung
für die höhere Führung von wesentlichem Einfluß sein wird.
Von jeher ist die Führung bestrebt gewesen, sich auch auf den Gang
eines schon entstandenen Kampfes einen gewissen Einfluß zu wahren. Sie
kann dies nur durch das Ausscheiden und spätere Einsetzen von Reserven. Es
fragt sich, ob dies auch in Zukunft möglich sein wird. Glaubt man an die
Möglichkeit, große Truppenmassen noch im letzten Moment verschieben und
diese rechtzeitig nach der gefährdeten Stelle bringen zu können, um einem
feindlichen Flankenstoß zu begegnen oder damit selbst den im Laufe des
Kampfes als schwach erkannten Teil des Gegners angreifen zu können, so
haben die Reserven auch in großen Verhältnissen noch ihre Berechtigung.
Diese Verbindungen sind aber in der rangierten Schlacht der Millionenheere
nach unseren Anschauungen nicht mehr vorhanden. Vergegenwärtigt man sich
die Ausdehnung der zukünftigen Schlachtfronten, wenn mehrere Armeen neben¬
einander kämpfen, so müßten die zurückgehaltenen Reserven, wenn sie von der
Mitte nach dem Flügel entsendet werden, oftmals zwei bis drei Tagemarsche
zurücklegen, ehe sie eingesetzt werden können. Dann würden sie aber in der
Regel zu spät kommen. Werden sie früher eingesetzt, so läuft man Gefahr,
sie in eine falsche Richtung zu entsenden. Hin- und Hermärsche würden dann
die unausbleibliche Folge sein. Vom Standpunkt der obersten Heeresleitung
erscheinen deshalb Reserven entbehrlich. Etwas anderes ist es bei den unteren
Verbänden, diese müssen sich taktische Reserven ausscheiden. Bei den kleineren
Raumverhältnissen wird es auch da immer möglich sein, sie rechtzeitig nach
den Punkten zu bringen, wo der Führer mit ihnen die Entscheidung bringen will.
Auf diesem Gebiete findet sich ein grundsätzlicher Unterschied in der
deutschen und französischen Auffassung über die Führung im Zukunftskriege.
Die Franzosen halten es für möglich, zurückgehaltene Kräfte auch in den
größten Verhältnissen noch rechtzeitig vorschieben und einsetzen zu können. Sie
huldigen auch jetzt noch dem alten napoleonischen Grundsatz, erst zu sehen und
Zu erkunden, den Gegner möglichst zur Entwicklung zu bringen und dann erst
ihre Kräfte auf Grund der dadurch gewonnenen Einsicht in die Verhältnisse
des Feindes einzusetzen. Darauf beruht auch ihr Aufmarsch und die Gliederung
ihres Heeres. Wir halten dies, wie schon gesagt, nicht für möglich und
bezweifeln, daß solche künstliche Manöver zu einem Erfolge führen können.
Wesentlich werden die Massenheere auf die Anordnung der Märsche ein¬
wirken. Früher galt es als Grundsatz, jeder Division eine besondere Marsch¬
straße zuzuweisen. Dies erwies sich aber bald als unmöglich. Und jetzt kann
man nicht einmal jedem Armeekorps eine solche überlassen. Man muß sich mit
dem Gedanken vertraut machen, daß namentlich im Anfange eines Krieges,
wenn der Vormarsch von enger Versammlung aus angetreten wird, zwei oder
gar drei Armeekorps hintereinander marschieren werden. Eine einfache Be¬
rechnung und Betrachtung der Karte ergibt diese Notwendigkeit. Rechnet man
fünfundzwanzig aktive Armeekorps und — ganz willkürlich — etwa dreizehn
Reservekorps, so würden etwa dreißig Korps für die Westgrenze verfügbar
bleiben, wenn man acht Korps für den Schutz der Ostgrenze ausreichend halten
würde. Es ist aber unmöglich, z. B. zwischen dein Nordfuß der Vogesen und
Luxemburg dreißig große durchgehende Straßenzüge zu finden, die aus Deutsch¬
land nach Frankreich führen, auf denen ein Korps mit seinen Trains und
Kolonnen marschieren könnte. Der Mangel an Straßen zwingt also dazu,
mehrere Korps hintereinander zu setzen, trotz der schweren Bedenken, die eine
derartige Maßnahme hat. Man berücksichtige, daß die fechtenden Truppen eines
Korps, ohne Sicherungsabstände und ohne Bagagen, Kolonnen und Trains
allein eine Marschlänge von 18 bis 20 Kilometer besitzen. Rechnet man diese
und die notwendigen Abstände hinzu, so kommt man auf 50 bis 60 Kilometer.
Dies bedeutet große Schwierigkeiten für die Entwicklung zum Gefecht und für
die Verpflegung. Es wird lange Zeit dauern, ehe die Hinteren Korps in der
Höhe der vorderen angelangt sind, um in ein Gefecht eingreifen zu können.
Selbst wenn man in der Nähe des Gegners und bei dem Herannahen der
Entscheidung die Hinteren Korps auch unter Benutzung minder guter Wege vor¬
ziehen wollte, beseitigt dies die Schwierigkeiten nicht, ganz abgesehen davon,
daß dies für die Hinteren Truppen ganz bedeutende Marschleistungen verlangt.
Hierin liegt eine der größten Schwierigkeiten für die Führung und Bewegung
der modernen Massenheere. Die Verpflegungsschwierigkeiten werden sich nur
dadurch beheben lassen, daß man Verpflegungsfahrzeuge zwischen die Truppen
einschickt, wodurch aber wieder eine sehr unerwünschte Verlängerung der Marsch¬
kolonne eintritt. Das Zurücksenden der geleerten und das Vorführen frischer
Kolonnen zu den vorderen Truppen mitten durch die Quartiere der Hinteren
Truppen erfordert sehr genaue und sorgsam überlegte Anordnungen. Auch die
Technik der Marschbefehle bezüglich Antretens der einzelnen Abteilung, der
Sammlung der Bagagen, des Einlegens der Rasten usw. ist sehr schwierig.
Es ist zu bedauern, daß eine derartige Lage bisher noch nicht einmal praktisch
in kriegsstarken Verbänden während mehrerer Tage unter Zuteilung von Trains
und Kolonnen gelegentlich der Kaisermanöver hat durchgeführt werden können.
Man würde dabei wertvolle Erfahrungen sammeln können.
Was die Verpflegung der Massenheere anbetrifft, so hat man den Grundsatz
des Lebens vom Lande, den Napoleon eingeführt hatte und der ihm die große
Beweglichkeit seines Heeres ermöglichte, wieder aufgeben müssen. Die modernen
Heere sind so groß und werden auf so engem Raume versammelt, daß das
Land nicht mehr genügende Verpflegungsmittel für sie besitzt. Zwar wird
immer noch danach gestrebt, in erster Linie die Hilfskräfte des Landes aus¬
zunutzen, doch werden diese nicht ausreichen. Man ist deshalb notgedrungen
wieder zur Magazinverpflegung zurückgekehrt, wenn sich diese auch in anderen
Formen vollzieht, als es früher der Fall war. Damit ist der Führung eine
schwere Fessel auferlegt und die Verpflegungsrücksichten spielen bei allen Ope¬
rationen eine wichtige Rolle. Es ist wohl der Fall denkbar, daß eine Vorwärts¬
bewegung eingestellt oder verlangsamt werden muß, wenn es nicht gelingt, der
Armee rechtzeitig Verpflegung nachzuführen. Man hat berechnet, daß bei einem
auf einer Straße marschierenden Korps, das lediglich aus den Vorräten der
Verpflegungsfahrzeuge leben muß, die von der Etappe vorzuschiebenden Ma¬
gazine, aus denen sich die geleerten Kolonnen des Armeekorps wieder füllen,
höchstens einen Tagemarsch hinter dem Armeekorps liegen dürfen, wenn
die regelmäßige Zufuhr sichergestellt sein soll. Ob dies immer möglich sein
wird, wird sich nicht mit Sicherheit sagen lassen. Auch dann noch müssen
den Kolonnen Doppel- und Nachtmärsche zugemutet werden. Aber auch auf
diesem Gebiete hat die Technik Mittel und Wege gewiesen, um die Verpflegung
zu erleichtern. Dabei sind besonders die Lastselbstfahrer zu erwähnen, die
nicht nur ein größeres Fassungsvermögen besitzen, sondern auch infolge
ihrer größeren Schnelligkeit und ihres größeren Leistungsvermögens besser
ausgenutzt werden können. Ein weiterer Vorteil ist, daß sie zur Bedienung
nur wenig Personal beanspruchen und keine Selbstverpflegung mit sich zu führen
brauchen. Namentlich wenn mehrere Korps auf einer Straße marschieren,
bilden diese die einzige Möglichkeit, um der vorhandenen Schwierigkeiten Herr
zu werden. Von sonstigen Einrichtungen, die die Verpflegung erleichtern, sei
noch der fahrbaren Feldküchen und Feldbacköfen, sowie der Konserven gedacht.
Ernste Bedenken muß die Verpflegung der weit vor der Front der Armee
befindlichen Kavalleriedivisionen erregen. Der Mann wird ja in der Regel
das vorfinden, was er zu seinem Lebensunterhalt braucht, seltener aber die
Pferde. Dabei entbehren die Kavalleriedivisionen eigener Haferkolonnen. Es ist
fraglich, ob es den nachfolgenden Armeekorps, auf die sie bezüglich der Ver¬
pflegung angewiesen sind, immer gelingen wird, ihnen rechtzeitig Kolonnen
nachzuschieben. Es ist deshalb auch schon verschiedentlich gefordert worden,
die Kavalleriedivisionen mit eigenen leicht beweglichen Haferkolonnen auszurüsten.
Die Berechtigung dieser Forderung läßt sich nicht von der Hand weisen. Für
die Etappe kommt neben den Lastselbstfahrern hauptsächlich der Bau und Be¬
trieb von Feldbahnen in Betracht, wenn keine Vollbahn zur Verfügung steht.
Die jetzt geplante Vermehrung unserer Eisenbahntruppen wird deren Bau und
Betrieb erleichtern.
Es genügt aber nicht, daß genügend Verpflegungsmittel überhaupt vor¬
handen sind und daß auch Fahrzeuge zu ihrer Beförderung bereitstehen, die
Schwierigkeit liegt in der rechtzeitigen Heranführung zu den Truppen. Und
dies ist die Aufgabe der Führung, die mit dem Anwachsen der Heere ständig
schwieriger wird. Im besonderen ist dies die Sache der Intendantur und des
Generalstabes, der sich bei den höheren Kommandostellen befindet. Diese Organe
werden für diesen Dienst im Frieden besonders ausgebildet, damit sie den sehr
komplizierten und schwierigen Organismus des Verpflegungsnachschubes auch
voll beherrschen. Es sind besondere Jntendanturreisen aufgeführt, wo nach Art
der Generalstabsreisen die Verpflegung größerer Truppenmassen auf Grund tak¬
tischer Lagen eingehend behandelt wird, im Winter werden von den beteiligten
Stellen umfangreiche theoretische Verpflegungsarbeiten auf taktischer Grundlage
ausgeführt, zu denen auch die Trainosfiziere hinzugezogen werden. Bei den
Kaisermanöoern werden Verpflegungskolonnen aufgestellt und die Verpflegung
kriegsgemäß durchgeführt. Es sind also alle Vorkehrungen getroffen, damit die
Verpflegung im Ernstfalle nicht versagt, und um die Führung möglichst unab¬
hängig von den Rücksichten auf die Verpflegung zu gestalten. Man kann wohl
darauf hoffen, daß auf diese Weise die Schwierigkeiten, die die Verpflegung der
Massenheere bietet, überwunden werden.
Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, ist die Führung der Millionen¬
heere des Zukunftskrieges gegen früher allerdings sehr viel schwieriger geworden,
aber die fortschreitende Technik hat der Führung auch Mittel und Wege an die
Hand gegeben, um diese Schwierigkeiten zu überwinden und Zeit und Raum zu
überbrücken, die sich mit dem Anwachsen der Heere so bedeutend vergrößert
haben. Die Ausbildung unserer höheren Führer und der ihnen beigegebenen
Stäbe ist auf den „Großen Krieg" gerichtet und zielt darauf hin, trotz aller
dieser Schwierigkeiten das einheitliche Zusammenwirken aller einzelnen Teile im
Sinne der höheren Führung zu gewährleisten. Rücksichten auf die Schwierig¬
keiten der Führung verlangen also noch nicht, daß das Anwachsen der Heere
beschränkt werde. Auch wenn diese in Zukunft noch größer und zahlreicher
werden sollten, ist es möglich, sie einheitlich zu leiten, zu sühren und zu verpflegen.
is im Jahre 1830 der belgische Staat gebildet wurde, kannten
manche seiner Angehörigen das Wort „Belgien" nicht. Flamen
und Wallonen fanden ihre Gemeinsamkeit zunächst nur in einer
Negation: in der Abneigung gegen die protestantische holländische
Regierung, der sie durch den Wiener Kongreß 1815 unterstellt
waren. Das Positive, das sie vereinigen sollte, mußte erst gefunden werden:
ein Vaterland Belgien, eine Nationalität der Belgier und ein Herrscherhaus
dazu. Und noch lange in die dreißiger, vierziger Jahre hinein gab es in
Flandern Leute, denen es nicht recht in den Schädel wollte, daß sie nun
Belgier hießen — da sie doch selber schon vor der Existenz Belgiens vorhanden
gewesen waren. Sie waren noch in den „österreichischen Niederlanden" zur
Welt gekommen und sprachen niederländisch; wie sollten sie Verständnis haben
für ein Wort, das die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus vergessener
keltischer Zeit wieder ins Leben gerufen hatte und das zur germanischen Rasse
und Kultur der flämischen Landsleute kaum noch in einer Beziehung stand.
Aber so künstlich der Begriff „Belgien" sein mag — gemeinsame Tradition
und gemeinsamer Glaube sind zwei Faktoren, die selbst bei grundverschiedenen
Rassen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ergeben. Wohl stehen die ger¬
manischen Flamen — und unter ihnen am meisten die Friesen von West¬
flandern — auch heute, nach so viel Vorkommnissen von Nivellierung und Rassenver¬
mischung, noch im schroffsten Gegensatz zu den keltoromanischen Wallonen; aber
mehr als zwei Jahrhunderte lang*) haben die beiden Nationen unter den Habs¬
burgischen Dynastien und unter der katholischen Kirche gemeinsam gelebt, haben
gemeinsam die Überfälle der Franzosen ertragen und machtlos zusehen müssen,
wie ihr Lgnd zum Entscheidungsschlachtfelde Europas wurde (die Namen
Oudenaarde, Malplaouet, Neerwinden, Quarre Bras, Ligny und Waterloo tragen
wohl genug Erinnerungen), haben gemeinsam die Schrecken der großen Revo-
ludion erduldet und die Unannehmlichkeiten der protestantisch - holländischen Re¬
gierung gekostet — Unannehmlichkeiten, die freilich die Flamen ohne die
Agitation des flämischen Klerus wohl ertragen hätten! So fand sich 1830
zusammen, was von Natur nicht zusammengehörte, sondern nur durch die Er¬
eignisse einiger Jahrhunderte und durch den Willen zweier Großmächte, Frank¬
reich und England, zusammengebracht war.
Das neunzehnte Jahrhundert kennt in Europa kaum einen zweiten Staat,
dem ein solcher Dualismus^) zugrunde liegt wie dem belgischen. Nußland,
Österreich-Ungarn und die europäische Türkei (die vor 1878) umfassen zwar
größere und zahlreichere Verschiedenheiten in nationaler Hinsicht; doch in keinem
dieser Reiche kann man von einem so ausgeprägt nationalen Dualismus sprechen,
es sei denn, man täte den Dingen Gewalt an und stellte den neun Nationen
Österreichs (Deutschen, Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Italienern,
Ladinern, Slowenen, Serbokroaten) die sechs Nationen Ungarns (Ungarn,
Deutsche, Ruthenen, Rumänen, Slowaken, Serbokroaten) gegenüber, also den
Deutschen Österreichs die Deutschen Ungarns, den Rumänen die Rumänen, den
Serbokroaten die Serbokroaten usw. Eine weitere Beweisführung, daß Belgien
mit Österreich-Ungarn oder einem anderen der vielsprachigen osteuropäischen
Reiche nicht verglichen werden kann, ist wohl überflüssig. In Westeuropa
finden wir nur ein Gegenstück zu Belgien: die Schweiz oder, genau genommen,
die vier Kantone Wallis, Freiburg, Bern und Graubünden. Die politischen
und geographischen Verhältnisse dieser kleinen Gebirgsrepubliken sind aber so
eigenartig, daß sich ein Vergleich mit dem Königreich der Belgier kaum durch¬
führen ließe.
Hier liegen die beiden Sprachgebiete — anders als in der Schweiz —
einander geschlossen gegenüber. Die Sprachgrenze läuft vom Eintritt ins
belgische Gebiet an oft-westlich, überschneidet die französische Staatsgrenze, die
von Südosten nach Nordwesten verläuft und endet mit einer kleinen Biegung
nach Norden unweit Dünkirchen am Kanal. Nördlich dieser Linie bewohnen
die Flamen ein fast ebenes Land, südlich die Wallonen eine mehr hügelige
Landschaft. Eigentliche Sprachinseln gibt es — mit Ausnahme der französisch
sprechenden Stadtteile Brüssels — nicht.
Größer noch als zwischen ihren Wohnsitzen sind die Unterschiede zwischen
den beiden Völkern selbst. Gemeinsame Charakterzüge existieren so gut wie
gar nicht, trotz aller Konstruktionen der Erfinder der „Line bel^e". Der Fläme
ist schwerfällig, unzugänglich für Menschen und neue Ideen; der Wallone lebhaft,
entgegenkommend, „rerum novarum cupiäus" wie seine gallischen Vorfahren
und Vettern.
Die Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit des Flamen äußert sich auf allen
Gebieten. Seine Menschenscheu steht in Wechselwirkung mit seiner Innerlichkeit,
mit seiner tiefen Mystik. Einmal dem spanisch-katholischen Einfluß jahrhunderte¬
lang unterworfen, kommt er nicht mehr davon los; nirgends feiert heute der
Geist mittelalterlicher Religiosität solche Triumphe wie in den Kirchen und
Klöstern Flanderns: ekstatische Verzückung, kirchlicher Prunk, fanatische Askese,
und als Reaktion darauf wieder die gröbsten Orgien der Lebensfreude — alle
diese seltsamen Kontraste des Mittelalters finden wir in ihm vereint, am deutlichsten
wohl in dem Friesen Westflanderns und dem Niederfranken von Ostflandern,
aber auch in dem Flamen ripuarischer Herkunft, der den Osten bewohnt.
Seine Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit äußert sich feindlich gegen alles
Fremde und Ungewohnte; er weigert sich in Landwirtschaft und Gartenbau neue
Methoden anzunehmen; er ist mißtrauisch nicht nur gegen den weit Herkommenden,
sondern oft auch gegen seinen Nächsten.
Bei so beständigen Abneigungen und Zuneigungen, bei solchem Hange zu
sinnfällig-überirdischer Mystik und solcher Verschlossenheit gegen seine Mitmenschen
bleibt er natürlich lebenslang im Bann der katholischen Kirche; hier kann sie
alles wagen und alles durchsetzen, und gegen die Macht ihrer Geistlichkeit hilft
keine weltliche Macht, weder staatliche Obrigkeit noch freie Presse; sie kann
sogar die Muttersprache, an der im übrigen der Landbewohner mit flämischer
Beharrlichkeit festhält, seiner konservativen Zähigkeit abringen, wenn es in ihre
Politik paßt. Maeterlinck und G. Rodenbach würden wohl kaum französisch
schreiben, wenn ihre Jesuitenschule es nicht gewollt hätte, wenn es nicht von
der Kirche ausgegangen wäre.
Demgegenüber gelten die Wallonen — soweit sie nicht flämischen oder
deutschen Einschlag haben — für Skeptiker und für irreligiös. Es ist nur
eine Behauptung, aber doch eine, für die viele Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen,
daß die Ideen der französischen Aufklärung darum so fest bei ihnen Wurzel
gefaßt haben, weil sie den Franzosen so nahe verwandt sind. Und es ist
bezeichnend, daß die liberale Partei, die in Flandern nur wenige Städte halten
konnte, von ihnen ausgegangen ist. Noch größer ist die Zahl der Sozialisten —
wobei man freilich den überwiegend industriellen Charakter der wallonischen
Provinzen berücksichtigen muß.
Man begegnet daher in Belgien vielfach der Meinung, die flämischen Pro¬
vinzen seien die Hauptstützen der gegenwärtigen Ordnung, ohne sie wäre das
Königtum längst abgeschafft, da die Majorität der Wallonen antimonarchisch
sei. Wenn man das Verhalten der Vlaamen und Waalen bei Aufständen und
Aufständen betrachtet, erscheinen in der Tat die wallonischen Distrikte als
weniger zuverlässige Stützen der Monarchie. Sie waren es, von denen die
belgische Revolution ausging, sie sind es, die weitaus das größte Kontingent
zu den Streikziffern stellen. Hier finden, durch die Nähe der Grenze und die
gleiche Sprache begünstigt, die republikanischen und revolutionären Ideen fran¬
zösischer Herkunft am leichtesten Eingang. Die Flamen sind hingegen, infolge
ihrer angeborenen Unzugänglichkeit, ihres konservativen Sinnes und ihrer ganz
anders gearteten Muttersprache den verführerischen französischen Schlagworten
und Ideen weit weniger ausgesetzt. Einem anderen politischen Einfluß vom
Ausland her sind sie nicht unterworfen; der deutsche erstreckt sich kaum über
Wissenschaft und Literatur hinaus und ist auf wenige Gebildete beschränkt; und
die eingewanderten, in den größeren Städten ansässigen Deutschen halten es —
man mag das vom deutschen Standpunkt bedauern, aber es ist Tatsache — mit
dem französischen Teile der Belgier. Und mit den Holländern ist es ähnlich.
Die leichten, gewandten Umgangsformen des Wallonen sichern ihm den Vorrang
vor dem schweren, verschlossenen, oft unhöflichen Flamländer.
Für diesen gibt es nur eine feste Brücke, die ihn mit seinen Mitmenschen
dauernd verbindet: die religiöse Kultusgemeinschaft. Wie es die katholische
Kirche verstanden hat, dies Band der Gemeinschaft immer mehr zu befestigen
und jede andere, freiere Art des Fühlens von Mensch zu Mensch dem einzelnen
zu erschweren — das würde ein besonderes Kapitel füllen. Hier mag die
Abhängigkeit vom Klerus noch einmal erwähnt werden als einer der Faktoren,
die auf das Resultat des Sprachenkampfes einwirken, und zwar zu ungunsten
des germanischen Elements.
Die Flamen sind gegen die Wallonen ohnehin im Nachteil, nicht der Zahl
nach, aber durch ihre Eigenschaften: denn es steht der weltgewandte Wallone
gegen den weltabgewandten Flamen; die Beweglichkeit gegen die Starrheit, die
Initiative gegen die Indolenz, das Aktive gegen das Passive, das wallonisch¬
französische Kulturbewußtsein gegen die flämische Ahnungslostgkeit, die wallonische
Einigkeit gegen die flämische Vielköpfigkeit und Eigenbrödelei; und vor allem
die leicht zu handhabende, geschliffene, bestechende französische Sprache, die in
der ganzen Welt verstanden wird, gegen die eckige, schwer verständliche Eigenart
des Flämischen.
Und — hinter den Wallonen steht das ganze Franzosentum mit seinen
vierzig Millionen! Gab doch im französischen Parlament noch kürzlich ein
Minister, als er wegen Beschickung der Genter Ausstellung zur Rede gestellt
wurde, die Antwort, Gent sei durch seine Universität ein Vorposten der fran¬
zösischen Kultur, und Frankreich erachte es daher für seine Pflicht, sich von
Staats wegen an dieser Ausstellung zu beteiligen. Dabei sprechen in Gent
höchstens 4 Prozent der Bevölkerung das Französische als Muttersprache; es ist
eine flämische Stadt, in der man seit achtzig Jahren dafür kämpft, daß die
Hochschule flämisch werde!
Aber hinter den Flamen stehen — nicht einmal die sechs Millionen Holländer,
die mit ihnen Sprache und Volkstum gemeinsam haben, nicht einmal die Ge¬
samtheit der Vlaamen selbst. Gibt es doch zahlreiche „Fransquillons" unter
ihnen, Flamen, die ihre Muttersprache verleugnen, weil sie die französische
„Kultursprache" für überlegen, für schöner, für „feiner" halten — eine echt
deutsche Michelei! — und darum ihre Kinder nicht mehr flämisch lehren. Gibt
es doch Schriftsteller vom Ruhm eines Maeterlinck und Politiker von der
Intelligenz eines Vandervelde, die mit ihrer Autorität für das Französische
gegen ihre Muttersprache eintreten — einzig wegen der „Kultur"! Ein der¬
artiger Verrat am eigenen Volk und Stamm deutet nicht nur. gefühlsmäßig
erfaßt, auf eine bedauernswerte Lücke im Reichtum der persönlichen Empfin¬
dungen, sondern auch, kritisch betrachtet, auf einen Mangel an ästhetischem
Scharfblick; denn nur in der heimatlichen Scholle und Sprache kann wahre Knien
und Poesie die Wurzeln finden, die sie stark und echt erhalten.
Vieles haben die Flamen von ihrer erdkräftigen, volkstümlichen Eigenart
abgeben müssen; die Weltgeschichte hat sie wie die Deutschen als „marmre c>k
matin>n8" verwendet. Es ist bekannt, daß zur Zeit der spanischen Unterdrückung
Tausende nicht nur nach den nördlichen Niederlanden und Friesland, sondern
auch nach entfernteren Gegenden des Deutschen Reiches und nach England aus¬
gewandert sind; man meint, daß an der Elbe das „alte Land" und bei Kopen¬
hagen die Insel Amager ihnen den Obst- und Gartenbau verdankt; bei Berlin
sind Dahlem und Lichterfelde flämische Namen; wir wissen, daß bis in die
neueste Zeit die nordamerikanische und südafrikanische Kolonisation dem Angel-
sachsentum viel flämisches Blut zuführt. Weniger bekannt ist. daß in Frankreich
noch heute mehr als hunderttausend Flamen die Gegend von Dünkirchen und
Hasselbrook bewohnen; von alters her sind sie dort ansässig, dürfen aber. Frank¬
reich Untertan, auf flandrischen Boden nichts für die eigentliche Sprache Flanderns
tun; weder in ihren Schulen noch in ihren Kirchen wird ihre Muttersprache
gebraucht, und so gehen sie allmählich im Franzosentum auf. An einem ein¬
samen Fjorde Islands fand ich einst einen schmucklosen Friedhof; da lagen
französische Jslandfischer begraben; französisch waren die Namen der Schiffe,
die Namen der Gestorbenen aber fast alle bretonisch und — flämisch. Jedes
Jahr wandern viele tausend Flamen als Landarbeiter nach Frankreich hinein;
wenn sie dort bleiben, führen sie der niedergehenden französischen Rasse frische
Kräfte zu; aber auch wenn sie, wie die meisten, in die Heimat zurückkehren,
sind sie oft demi eigenen Volkstum verloren; zum mindesten bringen sie die
Überzeugung heim, daß man mit dem Französischen in der Welt weiterkommt
und mehr Geld verdient als mit der Muttersprache; so bestärken sie ihre Lands¬
leute in der hohen Achtung, mit der alle zur französischen Sprache und Art
emporheben.
Aber obwohl das flämische Volk jährlich an die Wallonen und Franzosen
unzählige Überläufer verliert und seine Rasseneigentümlichkeiten durch Ver¬
mischung mit den französischen Elementen beeinträchtigt werden, nimmt es doch
an Kraft zu; es ist jugendfrischer und hat mehr gesundes Bauerntum in den
Knochen als die Wallonen; die Statistik ergibt bei eingehender Betrachtung, daß
auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse günstiger sind als bei jenen; die „prokes-
LwN8 aZrieoIeZ" sind z. B. in den flämischen Distrikten viel stärker vertreten
als in den wallonischen. Und selbst die vom ästhetischen und völkischen Stand¬
punkt bedauerliche Vermischung der Rassen bringt den Flamen einen Vorteil;
'
numerisch verlieren sie natürlich viel: die meisten Mischlinge gehen in das
wallonische Lager. Aber sie gewinnen doch auch: die wenigen Mischlinge,
die sich zu den Flamen schlagen, bringen Hefe in den zähen Teig dieser Nation;
so sind gerade unter den Führern der flämischen Bewegung und Literatur eine
auffallende Menge französischer Namen (Conscience, P. Fredericq, Latour, Pol
de Mont, Victor de la Montagne, Serrure, de Tiöre u. a.). Bei allen
Sprachenkämpfen macht man übrigens die gleiche Beobachtung: man kann aus
dem Familiennamen eines Politikers selten auf die Nation und Sprache schließen,
für die er kämpft. Besonders der Streit in Böhmen zeigt parallele Er¬
scheinungen.
Aus den statistischen Tabellen könnte man leicht den Schluß ziehen, daß
die Gegensätze sich allmählich ausglichen. Der belgische Staat legt besonderen
Wert auf die Kolumne, in der die flämisch und französisch sprechenden Belgier
summiert werden; dieser scheinbar vermittelnde Teil der Bevölkerung ist in der
Tat derjenige, der am stärksten angewachsen ist; seit 1866, wo nur 300000
Belgier beide Sprachen beherrschten, hat er sich verdreifacht, während die nur
flämisch sprechenden und die nur französisch sprechenden wenig zugenommen
haben. Wer die geistigen Kräfte kennt, die den Gegensatz bestimmen, wird
diesen Doppelsprachigen eine andere Bedeutung zumessen: es sind Flamen, die
französisch verstehen (und auch wohl meist „französisch gesinnt" sein dürften);
ein Wallone wird selten Wert auf die Erlernung des Niederländischen legen;
die Sprache ist ihm zu fremd, zu schwer und zu unwichtig; er weiß, daß er
mit seiner französischen Sprache überall in der Welt durchkomme. Die Sprache
des Parlaments und des Heeres ist französisch, obwohl die Flamen den größten
Teil des Heeres bilden und im Parlament schon manchmal die Mehrheit hatten.
Alles übrige weist noch unzweideutiger darauf hin, daß der Gegensatz
zwischen den zwei Nationen sich nicht so bald ausgleichen wird; denn jede von
beiden hat an Kraft und Selbstbewußtsein gewonnen.
Die Wallonen haben an Zahl stärker zugenommen als die Flamen —
nicht durch Geburtenüberschuß, sondern durch Überläufer. Wenn wir die meisten
„Doppelsprachigen" zu ihrer Partei rechnen, dürfte der Vorsprung, den die
Flamen vor ihnen hatten und der seit 1846 immer kleiner geworden ist, schon
eingeholt sein. Auch die vielen französischen Ordensleute, die aus Frankreich
infolge der Ära Combes zugewandert sind, werden nicht versöhnlich oder gar
flämenfreundlich wirken; das belgische Episkopat ist ausgesprochen flämenfeindlich
und wird diese willkommenen Helfer auf Kirchen und „freie", d. h. nichtstaatliche,
katholische Schulen schon so verteilt haben, daß sie der französischen Sprache
Vorschub leisten.
Auf der anderen Seite darf nicht unterschätzt werden, daß die Position
der Flamen sich moralisch gegen früher verstärkt hat. Eine Reihe von Gesetzen
ist zugunsten der flämischen Sprache durchgesetzt, die — den bescheidensten
Forderungen der Humanität entsprechen. Im Jahre 1878 wurde durch die
lex Coremans in den flämischen Distrikten das Flämische als Gerichtssprache
eingeführt — mit dem Vorbehalt natürlich, daß der Angeklagte den Gebrauch des
Flämischen abweisen kann. Einige Jahre vorher waren zwei Flamen unschuldig
zum Tode verurteilt und enthauptet; niemand bei Gericht hatte sie verstanden; alle
Richter, Verteidiger und Gendarmen konnten nur französisch! Ähnliche Gesetze
für die höheren Instanzen und für andere Behörden folgten in den Jahren
1878, 1890 und 1891, und 1899 wurde die Militärgerichtsbarkeit, wenn auch
ungenügend, reformiert. Zur Ehre der Wallonen sei gesagt, daß einige von
ihnen für diese Gesetze eintraten, während die Fransquillons, die französisch sein
wollenden „Gebildeten" flämischer Abstammung, dagegen waren. 1898 wurde
das Flämische als offizielle Staatssprache neben dem Französischen anerkannt.
Das sind, obwohl es sich zum großen Teil um selbstverständliche Rechte handelt,
die jede andere Kulturnation längst besitzt, doch große Errungenschaften im
Vergleich zu dem. was vorher war, und es ist erklärlich, daß darob das
nationale Bewußtsein allmählich erwachte. Die niederen und mittleren Stände,
besonders die Elemente, die in die Höhe streben, beginnen nun auch die übrigen
Rechte zu verlangen, die jeder Nation zukommen: sie wollen von allem
Wissenswerten in der Muttersprache unterrichtet werden und nicht auf dem Umweg
über das Französische, und zum Emporsteigen in höhere Gesellschaftsschichten
kommen können, ohne zum Besuch französischer Schulen gezwungen zu sein.
Selbst in den Kreisen der Gebildeten begegnet man schon der Ansicht, daß es
für einen Flamen lächerlich ist, sich als Fransquillon zu gebärden, und daß
man durchaus nicht zum Abschaum des Volkes gehört, wenn man die flämische
Sprache seiner Eltern spricht. Doch wird dies Vorurteil nicht eher fallen, als
bis die Unterrichtssprache in allen Schulen der flämischen Gebiete, auch in den
höheren, flämisch ist.
Bei solcher Erstarkung beider Nationen wird die eine ebenso wenig nach¬
geben wollen wie die andere. Eine Milderung des Gegensatzes wird erst dann
eintreten, wenn die beiden letzten Hauptförderungen der Flamen erfüllt sind:
seit 1843 verlangen sie, die mehr als die Hälfte aller Belgier ausmachen, daß
eine von den vier Hochschulen des Landes ihrer Sprache eingeräumt werde,
und zwar Gent — ein Platz, auf den sie ethnographisch wie historisch alles
Anrecht haben. Und jdie andere, nicht weniger berechtigte Forderung bezieht
sich auf die Zulassung der flämischen Sprache in der Armee, die zu drei
Fünfteln aus Flamen besteht.
Ehe sie das aber durchgesetzt haben, können die anderen Gegensätze im
belgischen Staate sich so verschärfen, daß die Existenz dieser konstitutionellen
Monarchie ernstlich gefährdet wird.
orgelt wollen wir also lossegeln", schreibt Kiderlen am 29.Juni1889.
„Vor dem 3. Juli werde ich dann nicht wieder schreiben können,
und zwar von Stavanger aus, von wo ein Brief auch vier bis
fünf Tage unterwegs ist. Ich bin sehr begierig, wie sich die
bunte Gesellschaft auf dem Schiff zusammengewöhnen wird . ."
Kiderlen hat dann nur wenige private Mitteilungen an seine Freunde undVerwandte
gelangen lassen; ein Brief vom 10. Juli enthält noch Angaben, die ein inter¬
essantes Streiflicht auf das Leben an Bord des Kaiserschiffs werfen: „. .. an der
Partie nach Stalheim konnte ich heute leider nicht teilnehmen, weil ich zu viel
zu tun hatte. Das Zivilkabinett macht mir auch eine Menge Geschäft; gleich
der erste Kurier brachte siebenundzwanzig Vortragssachen. Darunter ein zu
unterschreibendes Todesurteil. Obgleich der Justizminister dafür war.
habe ich doch genau die Akten gelesen und konnte dann dem Kaiser auch mit
gutem Gewissen ^zum Unterschreiben raten, was er tat!" Die Bedeutung des
Kuriers für das Bordleben erhellt auch aus folgendem Satz vom 16. Juli:
„. . . . weil wir jetzt bis 21. oder 22. keinen Kurier mehr haben, kommt für
mich jetzt eine Ruhewoche, wovon ich bisher wenig spürte; da in Drontheim
ein Kurier kam. dessen Sachen, wenn sie nicht acht Tage liegen bleiben sollten,
vor unserer Abfahrt am andern Morgen erledigt sein mußten, habe ich dir
die ganze Nacht geschmiert. Nun ist glücklicherweise Ruhe."
Den Verlauf der ersten Nordlandsreise des Kaisers schildert Kiderlen in
den im folgenden wiedergegebenen Bericht an die Kölnische Zeitung.
Am Morgen des 8. Juli, einem Montag, war das Wetter unsicher und
Se. Majestät befahl deshalb zunächst die Fahrt nach Eide, wo dann entschieden
werden sollte, ob sich Se. Majestät auf dem Landwege über Vossewangen
und Dalheim nach Gudvangen begeben würden, wo dann die „Hohenzollern"
Allerhöchstdieselben wieder erwarten sollte, oder ob Se. Majestät an Bord der
„Hohenzollern" bleiben und zu Wasser über Bergen nach Gudvangen fahren
würden. Einige mutige Bergsteiger (an der Spitze Dr. Güßfeldt, dann Kapitän
zur See von Senden, Major von Bülow, Kapitänleutnant Breusing, Leutnant
zur See von Krosigk und Maler Salzmann) hatten es sich am Tage vorher
übrigens nicht nehmen lassen, trotz des Regens einen Ausflug nach dem etwa
vier Stunden Weges von Bik entfernten Wasserfall von Vöringsfos zu machen.
Der Hauptgenuß dieser Partie bestand in dem wohltuender Gefühl, das die
Herren empfanden, als sie an Bord zurückkehrten, sich wieder trocknen konnten
und von den Zurückgebliebenen hörten, daß dieselben vom Kaiser mit einer
Bowle überrascht worden waren, zu welcher der hohe Herr bei einem kurzen
Spaziergange an Land die Erdbeeren persönlich von einem am Wege stehenden
Manne gekauft hatte. Um die heimatlichen Anklänge der Bowle zu erhöhen,
hatte Hofmarschall von Lnncker den Herren zum Mittagsessen Sauerkraut mit
Schweinsrippchen vorgesetzt. Während der Fahrt nach Eide ließ die feuchte
Luft die den Fjord einrahmenden Berge in jener tiefblauen Färbung erscheinen,
die einer der besonderen Reize der norwegischen Landschaft ist.
Es war ein eigentümlicher Kontrast, als das Schiff, das um 6 Uhr das
von wilden Felsen umgebene Vit verlassen hatte, nach dreistündiger Fahrt in
das durch seine reiche Vegetation einen ganz anderen Charakter annehmende
Becken von Eide einfuhr. Die Höhen steigen hier sanfter an und der mit
ziemlich reichlichem Walde bestandene Rücken der Berge gibt der ganzen Gegend
etwas mildes und freundliches. Es war so überraschend und neu, dieser
stille Waldwinkel nach all den bisherigen wilden Felspartien, daß Se. Majestät
den Maler Salzmann während der über die Art der Weiterreise stattfindenden
Beratung an Land gehen hieß, um teils mit dem photographischen Apparat,
teils mit dem Pinsel das liebliche Bild zu fixieren. Da ein feiner Regen zu
fallen begonnen hatte, entschied sich Se. Majestät für die Weiterreise an Bord.
Dem Kommandanten und Stäbe des Schiffes war nun eine schwierige
Aufgabe gestellt. Es galt mit der 84 Meter langen „Hohenzollern" in dem etwa
200 Meter breiten Fjord zu wenden. Mit bewundernswerter Genauigkeit und
Schnelligkeit führte die Bemannung die ruhig und sicher gegebenen Kommandos
aus. Der ausgesetzte Kutter hatte an den dicht vor dem Schiff sich erhebenden
Felsen bald da bald dort eine Trosse, d. h. eines jener armdicken Schiffstaue,
zu befestigen, um die Wendung des Schiffes zu ermöglichen. So schwierig
war infolge der im Fjord herrschenden Strömung und des engen Raumes die
Wendung, daß es fast eine Stunde angestrengter Arbeit von Offizieren und
Mannschaften bedürfte, um das ganze Manöver exakt in der gewollten Weise
auszuführen. Se. Majestät stand während der ganzen Evolution auf der
Kommandobrücke und folgte mit regsten Interesse den präzisen Bewegungen
seiner Seeleute. Als die Wendung vollendet war und das Schiff die Weiter¬
fahrt nach Bergen antreten konnte, sprachen Se. Majestät dem Kommandanten
von Arnim Allerhöchstihre Befriedigung über das gelungene Manöver aus.
Kurz vor dem Abgange von Eide wurde ein herzliches Begrüßungstelegramm
des Königs Oskar von Schweden, der zurzeit in Chistiania weilte, an Bord
gebracht. Der Kaiser erwiderte dasselbe umgehend in ebenso warmen und
herzlichen Worten, zugleich dem König für alle seine Anordnungen an die
norwegischen Behörden im Interesse des Kaisers bestens dankend.
Es ging nun wieder durch die (uns) bereits bekannten Fjorde Jndresamlen-
Utresamlen, His° und Sildefjord an der Varaldsinsel vorbei. Die Gegend,
die das erste Mal im hellen Sonnenschein dagelegen hatte, erschien jetzt in den
dunklen Tinten, welche die feuchte Luft den Bergen verleiht, und bot so wieder
dem Auge Neues und reiche Abwechslung.
Der Kaiser saß während der ganzen Fahrt oben in einem der beiden
kleinen Pavillons, deren je einer auf den beiden Radkasten angebracht ist. Sie
sind auf besonderen Befehl des Kaisers dort errichtet, dessen eigenste Erfindung
sie sind. Die Pavillons, welche nach hinten offen sind, haben nach vorn und
beiden Seiten Glaswände, gestatten also freien Umblick und schützen doch zu¬
gleich vor Wind und Wetter. Innen ist an der Vorderseite ein Klapptisch
angebracht, während die beiden Seiten mit je einem Klappstuhl versehen sind.
Diese Einrichtung gestattet dem Kaiser auch bei regnerischem Wetter sich an Deck
aufzuhalten; er liest oder schreibt Briefe in dem Pavillon und wirft dazwischen
einen Blick auf die herrliche Gegend. Auch Vorträge läßt sich Se. Majestät
häufig in diesem stillen Plätzchen halten, in dem sich gerade bequem zwei
Personen aufhalten können.
Auf der Fahrt nach Bergen war Se. Majestät besonders eifrig mit Schreiben
beschäftigt. Wurde doch am Abend in Bergen ein Kurier erwartet, der am
Morgen die Entscheidungen Sr. Majestät in Staatsangelegenheiten sowie zahl-
reiche Briefe nach der Heimat bringen sollte.
Nachdem Varaldsön (On heißt bekanntlich Insel) passiert war, bog
das Schiff in den nur 200 Meter breiten Locksund ein; die Vegetation ist hier
plötzlich wieder auffallend üppig; die ziemlich schroff in den Fjord abfallenden
Berge sind dicht bewaldet mit Laub- und Nadelholz, von Zeit zu Zeit findet man
kleine Häusergruppen auf den Lichtungen. Der Sund ist besonders fischreich
und man sieht verschiedene Blockhäuser, in denen dem Angelsport obliegende
Engländer den Sommer verbringen. Nachdem die „Hohenzollern" den schmalen
Ausgang des Sundes dicht unter den überhängenden Felswänden passiert hatte,
ging es in den Bjornefjord. Das eben noch so enge Fahrwasser erweitert sich
hier plötzlich zu einem ungeheuren See mit zahlreichen Inseln, häufig nur aus
einem kahlen runden Felsrücken bestehend. Immer mehr rücken die Schneeberge
in die Ferne und am Horizont sieht man zum letzten Male, alle anderen über¬
ragend, in scharfgezeichnetem, schneeweißem Bogen vom Himmel sich absehend,
das langgezogene Schneefeld der Folgefond.
Nachdem der Korsfjord und Sartorön passiert waren, bog südlich von
Aston die Hohenzollern in den Byfjord und nach Bergen ein.
Hier erwartete den hohen Reisenden ein belebtes Bild. Als die Hohen-
zollern in den Kriegshafen einfuhr, sah man vor sich die Stadt, die hart an
das hohe Gebirge gebaut ist und sich selbst über mehrere unmittelbar am
Wasser gelegene Felshügel hinzieht. Auf der nordöstlichen Seite, welche durch
die den Kriegs- und den Handelshafen trennende schmale Landzunge gebildet
wird, sieht man noch ansehnliche Reste der alten, malerisch auf steiler Felswand
gelegenen Befestigungen. Im Hafen selbst fiel zunächst das vor Bergen ankernde
englische Geschwader, bestehend aus vier großen Panzern und einem Aviso,
auf; außerdem lag noch ein halbes Dutzend eleganter englischer Privatyachten
im Hafen und zahlreiche Vergnügungsdampfer und Boote aller Art kreuzten
auf der Wasserfläche, dicht mit Menschen besetzt, die, ebenso wie die gedrängte
Volksmenge am Ufer, die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Kaisers
angelockt hatte.
Kaum war der Anker der „Hohenzollern" gefallen, als der englische Admiral
einen Offizier an Bord sandte, um zu fragen, ob er Se. Majestät begrüßen
dürfe. Se. Majestät ließ jedoch danken, um das stritte Inkognito zu wahren.
Unmittelbar nach der Mahlzeit, die ausnahmsweise schon um ^5 Uhr
begonnen hatte und kurz nach 5 Uhr beendigt war, beurlaubte Se. Majestät
^n größten Teil des Gefolges an Land, wo dasselbe von der Volksmenge,
die in einem der Herren den Kaiser zu sehen hoffte, mit respektvoller Neugierde
betrachtet und auf seinem Gange durch die Stadt begleitet wurde.
Wenn das Bergener Publikum erwartet hatte, den Kaiser an Land zu
sehen, so hatte es nicht mit dem Feldjäger gerechnet, der kurz nach der Ankunft
der Hohenzollern an Bord gekommen war. Er war später erwartet worden
und Se. Majestät hatte deshalb anfangs die Absicht gehabt, selbst ans Land
zu gehen. Diese Absicht wurde aber beim Erscheinen des Kuriers sofort auf¬
gegeben. Se. Majestät las zunächst die angekommenen Familienbriefe und die
wichtigsten der Staatsdepeschen, um die eiligen Verfügungen sofort zu treffen.
Bis nach 8 Uhr sah man den Kaiser bei der elektrischen Lampe seines Salons
arbeiten. Nachdem Se. Majestät noch verschiedene Telegramme teils diktiert,
teils inhaltlich angegeben, unternahm Allerhöchstderselbe noch eine halbstündige
Spazierfahrt auf der Dampfpinasse der Hohenzollern. begleitet von dem Chef
des Generalstabes Grafen Waldersee und den Flügeladjutanten Kapitän zur
See Freiherrn von Senden und Oberstleutnant von Lippe. Zunächst fuhr
Se. Majestät um die englischen Schiffe herum, welche in hohem Grade das
ausgeprägte seemännische Interesse Sr. Majestät hervorriefen. An dem Flaggschiff
ließ Se. Majestät längsseit fahren, um dem Admiral einen Besuch zu machen.
Nachdem jedoch Kapitän zur See von Senden die Nachricht gebracht hatte,
daß der Admiral nicht an Bord anwesend, setzte Se. Majestät, ohne das Boot
verlassen zu haben, wieder ab.
Dann fuhr Se. Majestät noch in den Handelshafen und kehrte gegen 9 Uhr
an Bord zurück, um sich abermals in die Arbeit zu vertiefen. Um 8 Uhr war
auf sämtlichen im Hafen liegenden Kriegsschiffen das Einholen der Flagge
militärisch salutiert worden. Ein eigenes Bild boten dabei die englischen
Kriegsschiffe, auf denen in diesem Moment nach alter Sitte die auf Deck stehenden
Posten in ihren roten Röcken ihre Gewehre abfeuerten.
Auf der „Hohenzollern" hatte unterdessen ein reges Leben begonnen: es
wurden Kohlen eingenommen. Das ganze Schiff war zum Schutz gegen den
Kohlenstaub mit Segeltüchern bedeckt, auf Deck wimmelte es von geschäftigen
Matrosen, und ringsherum lagen die großen schweren Kähne mit dem Kohlen¬
vorrat. Bis 4 Uhr morgens arbeiteten rüstig und unverdrossen die Mann¬
schaften; als aber beim Morgensonnenschein die „Hohenzollern" wieder in See
ging, da sah sie auch schon wieder so schmuck und blank aus, daß selbst das
strenge Auge des ersten Offiziers, Kapitänleutnants Breustng, auf dem ganzen
Schiffe nichts auszusetzen fand, als das Dutzend Landratten, die im Gefolge
des Kaisers reisen und sich noch immer nicht die nötige Rücksicht auf die schöne
gelbe Farbe der Radkästen und Rälings angewöhnen können.
Am nächstfolgenden Morgen, Dienstag, den 0. Juli, früh 8^ Uhr, lichtete
die „Hohenzollern" die Anker und fuhr auf Befehl des Kaisers zunächst um die
englischen Kriegsschiffe herum. Das Geschwader war zusammengesetzt aus den
Panzerschiffen „Northumberland", mit dem Viceadmiral Baird an Bord. „Anson"
mit dem Kontreadmiral D'Aren Jrvine an Bord, „Monarch" und „Iron Duke"
sowie dem „Aviso Curlew". Während drei der Panzerschiffe älterer Konstruktion,
aber doch von stattlichem Bau sind, ist die „Anson" eines der neuesten Schlacht¬
schiffe der englischen Marine mit sehr schwerer Armierung.
Soweit die Schiffe nicht gerade mit Kohleneinnehmen beschäftigt waren,
standen die Mannschaften an Bord derselben, insbesondere an Bord des Admiral¬
schiffes in Paradeausstellung und salutierten vor dem auf der Kommandobrücke
in deutscher Admiralsuniform stehenden Kaiser, obgleich die „Hohenzollern" die
Kaiserstandarte nicht gehißt hatte. Dagegen hatte das Kaiserschiff zu Ehren
des Geburtstages der Königin von Schweden und Norwegen Toppflaggen gesetzt
mit der norwegischen Flagge im Großtopp. Die Kapellen der vier großen
englischen Schiffe spielten abwechselnd das „Heil dir im Siegerkranz" und „Die
Wacht am Rhein". Vor dem Admiralsschiffe tippte die „Hohenzollern" die
Flagge.
Die Fahrt ging von Bergen ab zunächst wieder durch die Schären mit
felsigem, nicht sehr hohem Gestade in nördlicher Richtung bis nach Sognefest.
Hier fuhr die „Hohenzollern" nach Westen in den berühmten Sognefjord, den
schönsten aller norwegischen Fjords, ein. Bei der großartigen Szenerie, die
sich hier dem Auge bietet, wird der Beschauer in Gedanken zugleich zurück¬
versetzt in die Frithjofssage, auf deren Schauplatz er sich hier befindet.
Auch hier treten uns beim Eintritt in den Fjord noch die kahlen ab¬
geschliffenen, vom Meere bespülten Felsen entgegen. Bald öffnen sich rechts
und links kleine Seitenfjorde, aus deren Hintergrund gewaltige Gletscher her¬
vorragen. Die immer höher und wilder werdenden Berge des Uferrandes
geben in Verbindung mit dem fruchtbaren, schmalen Streifen, der vom Meere
zu ihnen heranreicht, ein prächtiges Bild. Die Häuser der einzelnen Gehöfte,
die hi->r liegen, sehen wie verlorene Wachtposten in dieser großen Natur aus;
ab und zu gewahrt man einen melancholischen Fischer in kleinem Kahne auf
dem Wasser, und an den steilen Bergwänden sieht man Herden von Ziegen
klettern, während unten am Bergrande Züge von freigehenden Pferden sich
bewegen.
Gegen 5 Uhr erblickt man zur Rechten, weit vorspringend auf einem
fruchtbaren Strandstreifen, von gewaltigen Gletschern überragt, Vangsnäs,
Frithjofs Frammäs, und gegenüber zur Linken des Schiffs Balestrand, wo
König Bete gewohnt hat und noch sein Grab gezeigt wird.
Von Vangsnäs geht die Fahrt immer mehr südlich in den Aurlandsfjord.
Das Fahrwasser verengt sich bedeutend und wird von beiden Seiten von ge¬
waltigen, 1000 bis 1200 Meter hohen Felswänden begrenzt.
Um sich einen Begriff von der Höhe dieser Felsen zu machen, muß man
w Betracht ziehen, daß der Beschauer auf dem Meeresspiegel sich befindet und
von da aus hinaufschaut, während in anderen Gebirgsländern. wo die absolute,
vom Meeresspiegel an gerechnete Höhe der Berge eine viel bedeutendere ist,
der Beschauer selbst schon in beträchtlicher Höhe über dem Meeresspiegel steht
und für ihn also nur diejenige Höhe sichtbar ist. welche die Differenz zwischen
der Höhe seines Standpunktes und derjenigen des Berggipfels bildet. Seltener
werden hier die menschlichen Wohnungen, die entweder auf schmalen, teils vom
Wasser angespülten, teils vom Berge abgerutschten Landstreifen erbaut oder in
eine Bergrinne hineingezwängt sind; hier und da steht ein freundliches Kirchlein
mit Hellem Anstrich, nur von ein paar Häusern umgeben, auf einem etwas
breiteren Landstreifen; zu diesen Kirchen kommen dann meilenweit die Bewohner
auf ihren Booten.
Immer enger wird der Fjord, bis er beim Eintritt in den Näröfjord sich
zum Flußtal verengt. Dicht vor sich steht man zu beiden Seiten die gewaltigen
Felsen, bald mit glatten Wänden senkrecht ins Wasser abfallend, bald mit
niederem Holz bewachsen und von einem schmalen Streifen Landes am Fuße
umzogen.
Da und dort leuchtet eine Schneefläche hervor, während von allen Seiten
Bäche von den Felsen Herabkommen. Da stürzt in einem tiefen Fall von hoher
Wand ein Gießbach in die Tiefe, wie von einer Wolke von dem zerstäubenden
Wasser umgeben, dort braust der Gletscherbach in gewaltig wilden Sprüngen
und Kaskaden über die Felsblöcke und Geröll, und in zahllosen silbernen
Fäden ziehen sich in allen Spalten und Rinnen die kleineren Wasserläufe herab.
Vom Himmel heben sich in dämonisch gezackten Formen die Ränder der Berge
ab, bald in gewölbte Kuppeln, bald in nabelartige Spitzen auslaufend. Das
Bild ist so großartig, so wunderbar, so erhaben, daß jeder Versuch der Be¬
schreibung daran zu Schanden wird und man nur sagen kann: „Komm selbst
und sieh."
Se. Majestät hatten nach der Abfahrt aus Bergen bis zum zweiten Früh¬
stück sich mit Lesen der eingegangenen Zeitungen beschäftigt. Nach dem Früh¬
stück setzten sich Se. Majestät in den Pavillon auf dem Nadkasten und arbeiteten,
ab und zu einen Blick auf die Gegend werfend. Sodann ließen sich Se.
Majestät noch längeren Vortrag von dem Vertreter des Zivilkabinets und des
Auswärtigen Amtes (beides von Kiderlen-Waechter) halten.
Erst beim Eingang in den Aurlandfjord trat Se. Majestät auf die Kom¬
mandobrücke, um sich ganz den Eindrücken der großartigen Natur hinzugeben.
Um ^/o8 Uhr ging die „Hohenzollern" bei Gudvangen zwischen den steilen
Felswänden vor Anker. Se. Majestät unternahm noch eine etwa dreiviertel-
stttndige Promenade in das sich weiter nach Stalheim zu hinziehende Felstal.
Einen merkwürdigen Kontrast bilden hier die hohen Felswände mit ihren
wilden Sturzbächen und das liebliche, fruchtbare, sorgfältig bebaute Tal mit
seinem plätschernden Bache. Einzelne Felsblöcke, die sich von den hohen Wänden
losgelöst, liegen mitten in den Wiesen und Feldern.
An einzelnen Stellen ist des Viehes wegen der Weg durch Holzgatter
versperrt; hier standen die Kinder der nächsten Gehöfte und öffneten die Gatter¬
tore. Der Kaiser, seinen Begleitern voranschreitend, schenkte den Kleinen sein
Bildnis auf einem Goldstück. Es war ein nettes Bild, als dann die Kinder
der Reihe nach an den Kaiser herantraten, um ihm nach norwegischer Sitte
zum Dank die Hand zu reichen. Freundlich nahm der Kaiser die Hand der
Kleinen und streichelte diese auch über ihre blonden Flachsköpfchen.
Nach Rückkehr von dem Spaziergange begab sich Se. Majestät zur Ruhe.
Mittwoch den 10. Juli blieb die kaiserliche Jacht vor Gudvangen im Närö-
fjord. Den Vormittag arbeitete der Kaiser in seinem Kabinet. Gegen Mittag
fuhr Allerhöchstderselbe auf kleinem Fischerboot, in Begleitung des angelkundigen
Schiffs-Stabsarztes Dr. Schneider, zum Fischen aus. Nach längerem vergeblichen
Warten wurde die Ausdauer Sr. Majestät durch den Fang von fünf größeren
Fischen belohnt, die Se. Majestät hinter einander in ziemlich kurzen Zwischen¬
räumen aus dem Wasser zog. Es war ein besonders stattlicher Fisch von bei¬
nahe Armeslänge darunter; der Koch, dem der ganze Fang übergeben wurde,
nahm diese Bereicherung seiner Küchenvorräte mit sichtlicher Freude entgegen.
Die vier kleineren Fische wurden den nächsten Morgen zum Frühstück verzehrt,
während das eine Prachtstück zur Abendtafel gereicht wurde.
Die beiden anderen Angler, Graf Waldersee und Graf Wedel, waren
weniger glücklich und konnten daher zur Bereicherung der Schiffstafel nichts
beitragen. Am Nachmittag begab sich Se. Majestät zu Gudvangen an Land,
woselbst eine lange Reihe zweirädriger Gefährte bereit stand, die den Kaiser und
sein Gefolge durch das berühmte Näröthal und über seine abschließende Fels¬
wand, den Stalheimskleven (Klippe), bis zur Paßhöhe fahren sollten. Se.
Majestät bediente sich wiederum des Karriols, das in Bergen beschafft worden
war und stets an Bord mitgenommen wurde; diese Vorsichtsmaßregel war
nötig, weil die kleinen norwegischen Gefährte zuweilen stark abgenutzt sind
und nicht immer absolute Garantie der Sicherheit bieten. Dem Karriol Sr.
Majestät, das an der Spitze der Wagenreihe fuhr, ging in angemessener Ent¬
fernung ein Karriol voraus, das gewissermaßen Eklaireursdienste zu leisten
hatte. Die häufigen Krümmungen des Weges lassen entgegenkommende Wagen
oft erst kurz vor einem drohenden Zusammenstoß sichtbar werden, und deshalb
wurde die Maßregel getroffen.
Der Weg durch das Närödal mit seinen vielen Krümmungen, Auf- und
Abfliegen erweckt namentlich bei der niederfährt Erinnerungen an eine Tivoli-
rutschbahn; die trefflichen norwegischen Ponies sind daran gewöhnt, im scharfen
Trabe hinunterzugehen und diese Gangart eine Zeitlang beizubehalten, wenn
die solgende Terrainwelle einen Aufstieg bedingt.
Die steilen Wände des Närödals sind die natürliche Fortsetzung der Ufer
des Näröfjords, offenbar hat einst das Wasser des Fjords über der Sohle des
heute trockenen Tales gestanden. Nur die Färbung des Felsens erfährt all¬
mählich eine Wandlung und wird lichter und lichter, je weiter man ins Tal
eindringt; trotz der Steilheit der Hänge fehlt die Vegetation nicht ganz; aber
von eigentlichen Waldbeständen kann durchaus nicht die Rede sein, nur von
Gebüschformationen, die den trümmerbedeckten Halden entsprießen. In keinem
Teile des Tales vermißt das Auge die Wasserfälle; denn in dieser Form suchen
die Schmelzwasser der Hochebenen (Fjelds) fast ausschließlich ihre Verbindung
mit der Talsohle.
Nach einer Fahrt von 9 Kilometer wurde der steile Hang erreicht, der das
Tal abschließt; nach einer Steigung von etwa 240 Metern erreicht der viel
gewundene Fahrweg die Paßhöhe (350 Meter), auf der sich Stalheims Hotel
erhebt, einer der bestgehaltenen Gasthöfe in Norwegen, mit allem notwendigen
Komfort versehen.
Schon aus der Ferne zeigte das Wehen der schwarz-weiß-roten Flagge
neben der norwegischen, daß Deutschlands Herrscher mit Freuden auch auf dem
Boden Norwegens begrüßt wird; auch eine große Zahl von Engländern und
Schotten, die des Weges kamen, ergingen sich in ungekünstelten Kundgebungen
der Verehrung, und ein graubärtiger Sohn Albions, der den Kaiser beim Vor¬
überfahren nicht erkannt hatte und sich belehren ließ, sah sich nach dem Kaiser
um und rief ihm mit kräftiger Stimme als Abschiedsgruß nach: I^oriA live
Vour Massiv!
Se. Majestät verweilten lange Zeit in der Veranda des Gasthofs, von wo
der Blick in die Tiefe des Tales taucht; wie von Mondschein Übergossen er¬
scheinen die weißlichen Felsen beider Schluchthänge. Se. Majestät ließen das
großartige Bild durch einen der Herren seines Gefolges photographisch fixieren
und zeichneten dann seinen Namen in den charakteristischen Schriftzügen ins
Fremdenbuch ein. Dann ging die Fahrt wieder talwärts und nach einer Ab¬
wesenheit von vier Stunden brachte die kaiserliche Galeere den hohen Reisenden
von Gudvangen wieder an Bord S. M. Jacht „Hohenzollern".
Als die Galeere, die Se. Majestät bestiegen hatten, langseits eines gleich¬
falls bei Gudvangen liegenden Vergnügungsdampfers mit etwa 150 Engländern
und Engländerinnen an Bord — denselben, denen Se. Majestät bei Stalheim
begegnet war — dahinfuhr, erscholl weithin ein dreimaliges „Hip, Hip, Hurra!"
Gleich nach Ankunft Sr. Majestät an Bord lichtete die „Hohenzollern" den Anker
und die Fahrt ging wieder zurück durch den wildprächtigen Näro- und Aurlands-
fjord. Zunächst begegnete die „Hohenzollern" der nach Telegrammen an die
nächstgelegene Telegraphenstation ausgesandten Dampfpinasse, welche deren auch
mehrere zurückbrachte.
Überhaupt ist der telegraphische Verkehr Sr. Majestät mit der Heimat so¬
wohl in Privat- wie in Staatsangelegenheiten ein äußerst lebhafter, begünstigt
durch die große Ausdehnung des norwegischen Telegraphennetzes und das liebens¬
würdige Entgegenkommen der norwegischen Regierung, welche eine ganz un¬
gewöhnliche Schnelligkeit in der Beförderung der Telegramme veranlaßt hat.
Der Kaiser saß während der Fahrt oben auf dem Radkasten, um nochmals
all die wilde Schönheit des düsteren Närö- und Aurlandsfjord zu bewundern.
Verschiedene, hoch mit abgehauenen Zweigen beladene Boote belebten das
Wasser; unter ihnen wurde auch eines jener primitiven Fahrzeuge sichtbar,
deren sich die Fischer in diesen Gegenden teilweise noch bedienen und deren
Segel aus einfachem Flechtwerk von belaubten Zweigen bestehen.
Nach etwa zweistündiger Fahrt kam die „Hohenzollern" in südöstlicher Richtung
in den Lärdalsfjord einbiegend vor dem Flecken Lärdalsören vor Anker, mitten
in einem ziemlich kreisrunden Becken, das von steilen nur spärlich mit niederem
Buschwerk bewachsenen Felsen umgeben ist. Der Ort lag ziemlich weit vom
Ankerplätze auf angeschwemmtem Lande dicht unter den Felsen der Berge.
In der Bucht erwartete der „Greif" die „Hohenzollern", um die aus Wil-
helmshaven abgeholte Post zu überbringen. Dieselbe brachte für Se. Majestät
reichliche Arbeit, mit welcher der Abend und der folgende Vormittag an Bord
verbracht wurde.
(Fortsetzung folgt)
Oben lagen die drei Zimmer der jungen Mädchen. Das erste war als
behagliches Wohnzimmer ausgestattet, mit hellen Möbeln aus Birkenholz und einem
kleinen Kamin, in dem an diesem Abend die Tannenscheite prasselten.
„Du bist so still. Edda?" Edles zog ihre Schwester an sich. „Hast Du
Ärger gehabt? Ist was vorgefallen?"
„Ach nichts I" war die ausweichende Antwort. „Ich bin müde von dem
langen Warten."
Edles kannte die zurückhaltende Art der Schwester und drang nicht weiter
in sie.
„Ich muß dem Balg noch einen Kuß geben I" Sie nahm die Lampe und
ging durch ihr gemeinsames Schlafzimmer in den letzten Raum, wo Evi ihr
Reich hatte.
Das schwarze Köpfchen tief in die zerwühlten Kissen gedrückt und die
blauseidene Daunendecke halb abgestreift, lag die jüngste Wenkendorff in un¬
ruhigem Schlaf.
„Schon zehnmal habe ich ihr die Decke hochgezogenl" sagte Edda, während
Edles sich über die Schwester beugte.
„Was hat sie denn für einen Kratzer auf der Backe? Ist sie wieder mal
vom Baum gefallen?"
„Sie hat es mir nicht verraten. Den ganzen Abend war sie trotzig und
sprach kein Wort."
Edles lachte: „Solch ein Strolch! Wann wird sie endlich mal vernünftig
werden!"
Während sie dann ihre schwere blonde Flechtenkrone löste, fing sie an,
von den Borküller Erlebnissen zu berichten:
„Über eins freue ich mich doch dabei. Rate mal, worüber?"
„Wie soll ich das raten?"
„spätestens in drei Tagen kommt jemand an."
„Paul?"
„Ach, der ist weit! Außerdem habe ich nicht an mich gedacht. Na —
wenn Du es jetzt nicht weißt?"
Ihre Augen flogen neckisch zu Edda hinüber.
Die aber stampfte heftig mit dem Fuße auf: „Ich mag ihn nicht sehen!
Ob er auf Borküll ist, oder sonstwo auf der Welt — mir ist es gleich, und
wenn er tot ist — ich weine ihm keine Träne nach!"
„Mädel, Mädel! Du weinst ja schon jetzt!" Edles nahm die Schwester
in den Arm und redete mit lieben Worten auf sie ein. Während die Tränen
ihr aus den Augen perlten, nestelte Edda an ihrer Bluse und holte einen
Brief hervor.
„Lies!"
Edles sah zuerst nach Datum und Unterschrift: „Aha! Aus Petersburg!
Von Margot Schledehausen."
Sie las den Brief mit halblauter Stimme und machte ihre Bemer¬
kung dazu:
„Unglücklich ist sie, enttäuscht — das konnte man sich denken. Eine Schlede¬
hausen und so ein Rüpel von Mann! Wie war sie in ihn verliebt! Na ja —
die alte Geschichte!
Nun will sie Dich warnen? Ich verstehe den Satz nicht recht. Was hat
ihre Ehe mit Dir zu tun? Ach so, der Zeitungsausschnitt!"
Dem Brief war ein Bericht aus einer russischen Zeitung beigefügt, den
sich Edles übersetzte:
„Gerade vom Adel verlangt man in dieser Zeit des Klassenhasses das
Vorbild sittlicher Lebensführung.. Aber gerade der Adel vernachlässigt häufig
seine Pflicht. Das beweist wieder ein Vorkommnis aus der letzten Zeit, von
dem in der Residenz allgemein die Rede ist. Ein Gardeoffizier von altem
baltischen Adel hatte ein Verhältnis mit der Frau eines Kaufmanns angeknüpft,
das von dem Betrogenen entdeckt wurde. Er überraschte das Paar in einem
separe; aber nicht genug, daß ihm der Offizier das Lebensglück zerstört hatte,
trat er auch noch die Ehre des Ärmsten mit Füßen, indem er seinen begreif¬
licherweise erregten Vorwürfen mit der Reitpeitsche begegnete und den Ehemann
zum allgemeinen Gelächter der Gäste die Treppe hinunterwarf. Dann beendigte
er das begonnene Tete-Z,-töte in aller Gemütsruhe bei vielen Flaschen Cham¬
pagner und geleitete die Dame in seinem offenen Wagen nach Hause."
Soweit der Bericht. Am Rande hatte die Absenderin bemerkt, daß sie
den Namen des Offiziers nicht nennen wolle. Seine Handlungsweise sei nicht
schlechter, als die manches anderen Mannes, der von seinen Standesgenossen
hoch geachtet wird. Aber eine glückliche Ehe sei bei solch einem Charakter aus¬
geschlossen.
„Hin!" ließ sich Edles vernehmen. „Der Brief stimmt allerdings meine
Freude herab I Ich zweifle keinen Augenblick, daß mit diesem Offizier von altem
baltischen Adel Wolff Joachim gemeint ist. Sem Hochmut ist grenzenlos. Aber
vielleicht hat jener betrogene Ehemann seine Frau schlecht behandelt und ver¬
diente die Züchtigung? Wir wollen nicht blind verdammen!"
„Das ist doch nicht das Schlimmste!" rief Edda, ihre Tränen trocknend.
„Könntest du einen Mann heiraten, der vorher schon eine andere geliebt hat?"
Sie stand zornig da, wie ein Engel des Schwertes, und ihre sonst so
sanften grauen Augen flammten die Schwester an.
Edles behielt ihre Ruhe: „Warum nicht, wenn er aufgehört hat, sie zu
lieben? Dann ist es doch so gut, wie wenn man einen Witwer heiratet!"
In neue Tränen ausbrechend, warf sich Edda auf ihr Bett.
„Ich kann es nicht! Ich kann es nie und nimmermehr! Und wenn er
uns jetzt besucht, will ich ihn nicht sehen — sonst bricht mir das Herz!"
„Kommt Zeit, kommt Rat!" dachte Edles in ihrer lebensbejahenden Art.
„Zu langen Besuchen wird es nicht kommen, denn Borküll wird ihn festhalten.
Wenn er dort seine Pflicht tut, kann er manches wieder gutmachen."
Als der Förster Sandberg seinem Herrn am anderen Morgen über die
laufenden Geschäfte Bericht erstattete, sagte er wie beiläufig:
„Die Eichenschonung an der Nosenhofer Grenze muß neu angepflanzt
werden."
„Die zweijährige? Aber Sandberg — wieso?"
„Sie ist ganz und gar zertrampelt. Die Rosenhofer Leute halten ihre
Meetings dort ab. Da geht es wild zu!"
„Hin! So nahe an Sternburg ist der Brand bereits! Und unsere Leute?"
„Gehen nicht hin, Herr Baron. Sonst wäre Sternburger Gebiet nicht
verwüstet. Es sind viel Neue auf Rosenhof eingestellt. Sie kennen die Mar¬
kierung nicht!"
„Eine fatale Nachbarschaft," rief Herr von Wenkendorf zornig aus. „Man
sollte den Grafen Wolln einpacken und gut verschnürt nach Reval schicken.
Seine Aufgeblasenheit bringt die ruhigsten Köpfe in Wut!"
„Um den Grafen handelte sich es auch bei dem Meeting. Er hat die
Gärtnersleute Knall und Fall vom Hof gejagt, und die Frau ist erst vor fünf
Tagen niedergekommen. Jetzt liegt sie bei der alten Tio und sichert. Das hat
böses Blut gemacht."
Wenkendorff sah aus seinem Lehnstuhl prüfend auf zu dem Förster, dessen
Stimme ihm heute einen fremden, drohenden Unterton zu haben schien. Hoch
aufgeschossen und breit stand der blonde Mensch da. Seine gebräunten Arbeits¬
hände krampften sich um die Stuhllehne, seine Augen blickten trotzig drein und
vermieden das Auge des Herrn.
Der dachte schweigend: „Es ist das chemische Blut, was in ihm revoltiert!"
„Vielleicht, daß wir den Mann bei den Pflanzungen brauchen können. Um
die Frau werden sich schon meine Mädchen kümmern," sagte er schließlich
und mußte unwillkürlich lächeln, als er bemerkte, wie seine Worte die steife,
geschlossene Haltung des Försters lösten und seinen Zügen den gutmütigen Aus¬
druck zurückgaben, der ihnen eigentümlich war.
„Also abgemacht, Sandberg. Wir wären wieder mal einig. Oder —
haben Sie noch was auf dem Herzen?"
Eine jähe Röte färbte das wetterbraune Gesicht des Mannes. Er räusperte
sich: „Ich wollte nur bitten, wegen Evi — wegen des gnädigen Fräuleins!"
„Was ist mit dem Mädel?"
„Sie sollte jetzt nicht mehr so allein in den Wald gehen! Ich meine bloß
wegen des vielen Volkes. Und dann das mit dem Eichhörnchen..."
„Eichhörnchen?"
„Die alte Tio hat es mitgebracht. Sie fand es tot im Forst!"
„Evis Eichhörnchen? Weiß sie noch nichts davon? Da wird es Tränen¬
bäche geben! Aber wie war denn das möglich?"
Sandberg zuckte die Achseln.
„Fragen wir doch die alte Tio!"
Wenkendorff ging entschlossen zur Tür.
Aus der Küche im Souterrain schallte den beiden eine laute, krächzende
Stimme entgegen. In der halbdunklen Ecke des Herdes, beschienen von dem
rötlichen Feuerschein, der aus dem Ofenloch fiel, hockte so was wie ein Tücher¬
bündel. Als die Gestalt des Gutsherrn in der Tür erschien, kroch es aus
seinem Winkel hervor und humpelte heran, sich als eine richtige Waldhexe ent¬
puppend. Ein rissiges Gesicht von der Farbe verwitterten Leders ließ sich sehen,
und aus einem zahnlosen Munde stürzte ein Schwall von Segenswünschen.
Dabei umfaßten die dürren Arme die Kniee des Eintretenden, der sich mit ein
paar gutmütig derben Worten der überschwenglichen Begrüßung erwehrte.
„Böse Zeiten, böse Menschen!" jammerte die Alte und langte aus den
Falten ihres UmHangs ein weißes Etwas hervor.
„Totgeschossen hat man es, das Glück von Sternburg! Wird sich rächen,
wird sich rächen! Schwarze Tage werden kommen! Brand und Mord wird
geschehen..."
Im Hintergrunde standen die Mägde und hörten mit angstvoll auf¬
gerissenen Augen zu, wie die Alte ihre wirren Reden jetzt auch dem Herrn in
die Ohren schrie.
Zu der frühen Stunde dieses nebligen Herbstmorgens war es noch dunkel
in dem weiten, niedrigen Raum — eine Stimmung, die der gruseligen Situation
ein eindrucksvolles Relief gab.
Herr von Wenkendoiff lachte dröhnend auf:
„Habt ihr der Tio noch nicht ihren Kaffee gegeben? Sie spricht aus
leerem MagenI Legt ihr ein ordentliches Stück Brot dazu und auch eine
Handvoll Strömlinge. Dann wird der alten Wurzel die Welt bald freund¬
licher erscheinen. Als ob das Glück vom Leben und Sterben solch eines
Viehes abhinge! Sich rühren, seine Pflicht tun, guten Mutes sein, das macht
das Glück!"
Jetzt kam Edda mit einem Paket herein und zeigte sich nicht wenig erstaunt,
ihrem Vater in der Küche zu begegnen:
„Ich habe für die Gärtnersfrau einiges zusammengesucht," sagte sie und
entfesselte damit bei der Alten einen neuen, jetzt aber ganz anders klingenden
Gefühlsausbruch.
„Wahre Engels sind die Sternburger Fräuleins, von Gott selbst in die
Welt geschickt, die Verlassenen zu trösten und uns Armen zu helfen!" Mit
ihrem schmutzigen Rock wischte sie sich dabei die Tränen aus dem Gesicht.
Herr von Wenkendorff wandte sich lachend ab. „Jetzt schickt mir das Mädel,
die Evi!" rief er seiner Tochter zu und stieg wieder die Treppe hinauf.'
Aber Evi war nirgends zu finden.
Man war gewohnt, daß sie später frühstückte als die Schwestern, denn
ste schlief gern lange, und da sie noch keine Pflichten hatte, ließ man sie ge¬
währen.
Heute war sie ohne Frühstück auf und davon gegangen. Sie hatte sich
schlafend gestellt, als die Schwestern früh wie immer zu ihrem Tagewerk auf¬
standen. Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, war sie aus dem Bett ge¬
sprungen und zum Spiegel geeilt.
Blutrot leuchtete die Schramme, die ihr das widerspenstige Eichkätzchen
gerissen hatte.
„Ich werde sagen, ich sei vom Baum gefallen. Wenn ich Peterchen nur
wiederkriege!"
Ihr Herz schlug wild, als sie sich den Vorgang vom Nachmittag vorher
in Erinnerung rief. Sie schämte sich ihres Jähzorns, und der Schmerz, über
den sie sich am Abend in den Schlaf geweint hatte, stieg von neuem in ihr auf.
Sie hatte Peterchen beibringen wollen, auf Kommando so hübsch Männchen
Zu machen, wie er es bei guter Laune von selbst tat. Aber er war eigensinnig
gewesen und seiner Lehrmeisterin schließlich wütend ins Gesicht gesprungen.
Daher die Schramme.
In maßloser Heftigkeit hatte Eoi ihren Montechristo geholt, das kleine
Tesching, mit dem sie ihre ersten Schießversuche machte. Oben in den schon
entlaubten Zweigen des alten Nußbaums hatte das unbotmäßige Tierchen gehockt
und frech und ungeniert, als wäre nichts geschehen, an einer Nuß geknabbert.
Das fachte Evis Wut von neuem an: sie zielte. AIs sie abgefeuert hatte und
sah, wie das Eichhörnchen von Zweig zu Zweig stürzte, wurde sie von einem
jähen Schrecken gepackt.
Was hatte sie getan! Mein Gott, das war nicht ihre Absicht gewesen.
Wirklich nicht! Sie hatte das Tier bestrafen, aber nicht morden wollen.
Von Gewissensqualen gepeinigt war sie fortgeräumt, blindlings in den Wald
hinein. Erst im Dämmern hatte sie sich nach Hause geschlichen, und als sie an
dem Nußbaum vorüberkam, eine ganze Weile nach dem Tierchen gesucht. Sie
fand es nicht und war mit der Hoffnung schlafen gegangen, daß ihr Schuß es
nicht getötet, sondern nur verwundet haben möchte.
Der Gedanke, daß es am anderen Morgen auf ihr Locken sicher aus seinem
Schlupfwinkel angesprungen kommen würde, hatte ihre Tränen schließlich wieder
gestillt und sie auch heute früher als sonst aus dem Bett getrieben.
Nun lief sie schon stundenlang im Wald herum und ließ ihren feinen
Pfiff erschallen. Aber kein Peterchen antwortete. In der Überlegung, daß
waidwunde Tiere des Waldes sich immer in ihren Bau zurückziehen, drang sie
bis an die Stelle ganz hinten im Forst vor, wo Sandberg im Sommer das
Eichhörnchen gefangen hatte.
Sie fand auch bald die alte Eiche mit dem Nest. Von dem verwitterten
Opferstein aus, an den sich Sagen aus der Heidenzeit knüpften, hatte sie den
Stamm erklettert. In alle Astlöcher sah sie, die sich zahlreich in der vielfach
vom Blitz getroffenen und geborstenen Rinde des Waldriesen fanden. Bis in
den obersten Wipfel schwang sie sich, selbst zum Eichhörnchen geworden, und als
sie dort in der Höhe über den Wellen des Waldes Ausschau hielt, wurde ihr
mit einem Male frei und leicht zumut.
Ganz fern schimmerten die alten Dächer Sternburgs, und über ihnen der
blaue Strich — war das Meer.
Zu ihrer Linken — fast greifbar nahe — lag der stolze Bau des Rosen-
hofer Schlosses. Deutlich erkannte sie auf der Turmspitze den seltsam stilisierten
goldenen Hahn aus dem Wappen der gräflichen Besitzer. Die Sonne hatte jetzt
die Herbstnebel zurückgedrängt und spiegelte sich aufblitzend in den Fensterscheiben
der mächtigen Front.
Eois Blick schweifte weiter! Dort die Höhe trug den Krug von Borküll,
und an das Gedicht vom Niesenspielzeug mußte sie denken, als sie die winzigen
Bauerngefährte vor dem niedrigen langgestreckten Gebäude erkannte. Von Borküll
selbst wuchs nur der hohe Schlot der Brennerei aus dem Tannengrün des
Waldes. Aber dahinter, was war das? Wie eine feine spitze Nadel ragte es
über die Linie des Horizontes. Eoi jubelte: das konnte nur Se. Olai sein,
der stolze Turm von Revals alter Kirche!
Und das Herz ging ihr auf im Anblick all der schimmernden Weite. Ver¬
gessen war Peterchen und die Reue über ihre Tat. Wie ein Vogel fühlte sie
sich, der frei und kühn im Äther schwimmt.
Reval! Jetzt lag es so nahe vor ihren Augen, und wie lange würde
es dauern, bis sie wieder mal in Studes Konditorei Schokolade trinken
durfte ...!
Das junge Mädchen nahm mit allen seinen Sinnen die Schönheit auf,
die sich um seinen luftigen Sitz ausbreitete. Mit wohligen Schwindelgefühl
ließ sie sich von den Zweigen wiegen und horchte auf das an- und abschwellende
Rauschen ringsum. Es war eine passende Begleitung zu den Träumen ihrer
jungen Seele.
Plötzlich schreckte sie zusammen: aus der Tiefe vernahm sie Stimmen und
Schritte, unter denen das Reisig knackte.
„Es wird Sandberg mit seinen Arbeitern sein!" Si? kicherte vor Ver¬
gnügen in dem Gedanken an die Schelmerei, mit der sie ihn überraschen wollte.
Sie beugte sich weit vor, um Eicheln vom Zweig zu pflücken und damit nach
ihm zu werfen. Da sah sie erstaunt, daß es Fremde waren, die sich in ganzen
Trupps aus dem Walde näherten. Vorsichtig duckte sie sich in den Schutz des
welken aber noch festsitzenden Eichenlaubs und lauschte gespannt auf die selt¬
samen Vorgänge zu ihren Füßen:
Die Stimmen mehrten sich, schwirrten erregt durcheinander, schwollen
drohend an, bis es mit einem Mal wieder still wurde.
Neben dem Brausen des Waldes unterschied sie deutlich einen rauhen Baß
und es gelang ihr. einige der windverwehten, abgerissenen Worte zu erfassen.
So was hatte sie noch nie gehört. Vom Weltgericht sprach der Mann da unten
von Fluch und Rache.
„Eine neue Zeit bricht an. in der die Gerechtigkeit herrscht, und wir sind
es, die Enkel der Sklaven von einst, die sich mit ihrem Blut die Pforten der
Freiheit öffnen. Noch füllt das Korn, geerntet von dem Land, was wir
bestellen, die Scheunen der Unterdrücker. Noch stehen ihre Schlösser! Aber schon
ist die Parole gegeben, auf die hin die Brandfackel in die Naubburgen geschleudert
wird. Zerstreut euch überall im Land und tragt sie von Haus zu Haus. Schwört,
Brüder. Treue der Sache der Freiheit und Tod dem Verräter!
In zornigem Beifall dröhnten die Stimmen und vereinigten sich jetzt zu
einem gewaltigen Lied:
Wieder krachte es in den Zweigen, als wenn ein Rudel Waldtiere im
Dickicht wechselt, und die mächtigen Klänge der seltsamen Weise mischten sich
mit dem Sausen des Windes, der jetzt vom Meer ins Land hineinfegte, an
jedem Zweige rüttelte und die schlanken Stämme bog.
Evi mußte sich in ihrer schwindelnden Höhe fest anklammern, um nicht
herabgeweht zu werden: „Die Freiheit kommt, der Sonne Licht" klang es nun
schon ferner. Ihr Herz klopfte unter dem Eindruck des überraschenden Erleb¬
nisses und gleichzeitig fühlte sie eine nie empfundene Ergriffenheit.
Ein Schauder nach dem anderen war ihr über den Rücken gejagt, und,
als sie sich jetzt wieder von Zweig zu Zweig schwang, um den Boden zu ge¬
winnen, glühte eine fieberhafte Nöte auf ihren Wangen. Sie brannte vor
Ungeduld, das Gehörte zu Hause zu berichten. Mit einem kühnen Sprung ließ
sie sich von dem untersten Ast zur Erde fallen. Als sie sich aufrichtete, stand,
wie hergezaubert, der Förster vor ihr.
Bleich vor Schrecken und Erstaunen brachte er kein Wort hervor und sah
das junge Mädchen an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Die gleiche Überraschung schloß zunächst Evi die Lippen, bis sie in ein
übermütiges Lachen ausbrach:
„Warst du auch dabei? Kennst du das Lied? Ich habe es nur halb
verstanden da oben. Sag doch, Sandberg, sprich doch! Ich hab nach Peterchen
suchen wollen — da sind die vielen Leute gekommen und ich traute mich nicht
herunter."
„Einsperren wird Sie der Vater!" preßte jetzt endlich Sandberg hervor.
„Um ein Haar wären Sie den Mordbrennern in die Hände gefallen! Haben
Sie denn nicht gehört, was sie wollen?"
Evi lachte unbekümmert und summte, den schwarzen Kopf mit dem vom
Wind zerzausten Haar keck hin- und herwiegend, Worte des eben gehörten Liedes:
Dann sprang sie herausfordernd zur Seite: „Fang mich doch, du dummer
Förster, sperr mich doch ein!"
Mit einem geschickten Griff hatte Sandberg das Mädchen gehascht.
Man war auf Sternburg wirklich um Evi in Angst geraten, und er hatte
sich aufgemacht, das Kind zu suchen. Nun wand es sich unter dem Druck
seiner festen Hand. Seine Augen sprühten Zorn, und mit herrischem Ton
schrie es ihn an:
„Was erdreisten Sie sich, Herr Sandberg?"
Sofort ließ es der Förster los und sagte in formeller Haltung: „Ich bin
beauftragt, Sie nach Hause zu führen."
„Vielleicht gefesselt?" höhnte Evi.
Sandberg schwieg und behielt seine konventionelle Miene.
„Also führen Sie mich! Arm krumm, wenn ich bitten darf!"
Sie wartete gar nicht ab, bis der Förster ihrer schon wieder in heitersten
Ton gegebenen Aufforderung Folge leistete, sondern hing sich einfach in den
Arm des jungen Waidmanns und zerrte ihn vorwärts:
„Sandberg, guter lieber Sandberg, nun sei nicht mehr garstig! Kannst
du denn deine Wildkatze gar nicht mehr leiden? Schieß sie doch tot, du
böser Jäger!"
„Aber gnädiges Fräulein. . .!"
„Schafskopf! Ich heiße Evi und bin dein guter Kamerad!"
Auf einmal fiel ihr das Eichhörnchen ein. Sie ließ Sandbergs Arm los
und blieb stehen, während ihr die Tränen in die Augen schössen.
„Du weißt es ja noch gar nicht. . ." sagte sie tonlos.
„Daß Peterchen tot ist? Tio hat ihn gebracht. Aber — wenn ich den
Hund kriege, der ihn erschossen hat, durchpeitschen will ich ihn!"
„Schlag mich — penses mich!" schluchzte Evi und barg ihren Kopf ander
Schulter des Försters. „Ich habe es nicht gewollt. Es war nur mein Zorn!
Weil es mich gekratzt hat!"
Eine ganze Weile standen die beiden jungen Leute so nebeneinander, und
nichts war zu hören in der Stille des Waldgrundes als Evis leises Weinen.
Der Arm des jungen Mannes legte sich tröstend um die von immer neuem
Schluchzen geschüttelte Gestalt:
„Weine doch nicht, kleine Evi — ich bring dir ein neues! Hab schon im
Ellernholz wieder eins gesehen. Das ist doch nicht so schlimm! Es war ja
nur ein Eichkätzchen."
Evi blickte zu ihrem Tröster auf, schon wieder den Schalk im Auge:
„Aber nun ist doch das Glück von Sternburg in Gefahr?" Der Förster ant¬
wortete vorwurfsvoll: „Ja, wenn es sich nicht vorsieht und tollkühn auf alle
Bäume klettert!"
Da schlangen sich zwei Arme um seinen Hals und herzhafte Küsse preßten
sich auf seinen Mund:
„Nun bin ich dir wieder ganz gut!" hauchte ihm das Mädchen ins Ohr.
„Aber du hast mir das Klettern ja erst beigebracht. Weißt du noch — oben
in den Nüssen?"
Puterrot und ganz verwirrt rückte sich Sandberg die Mütze wieder zurecht,
die ihm bei dem stürmischen Überfall in den Nacken gerutscht war.
„Wir müssen rennen!" sagte er verlegen. „Zu Hause wird man Angst
haben. ..."
„Also DauerlaufI"
Einträchtig liefen die beiden die Waldschneise entlang, die geradenwegs
auf den Sternburger Park zuführte.
Dabei kam Evi das Lied ins Ohr, das sie vorhin gehört hatte. Sie gab
der Melodie den Takt ihres Laufschritts und pfiff sie mit spitzen Lippen vor
sich hin.
Am Gatter des Parks hielt Sandberg sie zurück.
„Das Lied wird deinen Vater ärgern! Pfeife es lieber nicht."
(Fortsetzung folgt)
in ersten Buch seiner „Aeneis" läßt Vergil die Königin Dido bei
dem Festmahl zu Ehren der Trojaner den Trinkspruch auf die
Gäste ausbringen; an einer späteren Stelle nimmt Dido persönlich
an einer großen Jagd teil. Ist dies öffentliche Auftreten einer
Frau auch zum Teil aus Didvs Stellung als Herrscherin er¬
klärlich, so konnte doch nur ein Römer es wagen, eine vornehme Frau so auf¬
treten zu lassen. Derselbe Dichter weist der Gemahlin des Königs Lakmus, Amada,
als Führerin der fremdenfeindlichen Partei am Hofe eine besondere Rolle
zu, eine Rolle, die sie so ausfüllt und die für sie soviel bedeutet, daß sie
sich den Tod gibt, als sie die Niederlage ihrer Partei und sich als Ursache
alles Unglücks erkennen muß. Während also Vergil Frauen solche Stellung
zuweisen konnte, weil gerade zu seiner Zeit in Rom, wenigstens in den höheren
Kreisen, die Frau sich der größten gesellschaftlichen Freiheit und der größten
Selbständigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht erfreuen durfte, wäre das im Bereich
der griechischen Kultur unmöglich gewesen: wir sehen das recht deutlich bei
Homer, wo selbst Helena und Penelope nur unter männlichem Schutz in der
Öffentlichkeit auftreten und gewissermaßen nur Objekte des männlichen Willens
sind. Freilich war es einstmals auch auf griechischem Boden anders gewesen:
die kretisch-mykenische Kultur kennt hohe Stellung und Geltung der Frau, eine
Tatsache, die nicht nur unmittelbar aus den Bildwerken jener Zeit, sondern
auch durch die Vermittlung der Atalantesage — hierauf hat meines Wissens
zuerst G. Rodenwaldt in seinem grundlegenden Werke über die „mnkenische"
Wandmalerei hingewiesen — uns bekannt ist. Ein Nachhall der Anschauungen
dieser Zeit betreffs der Stellung des weiblichen Geschlechtes klingt aus der
Schilderung Homers von der Bedeutung der Phaiakenkönigin Arete hindurch,
die geehrt wird von ihrem Gatten, „wie auf Erden sonst keine Frau geehrt
wird", und auch selber in die Verhandlungen der Männer ratend eingreift.
Was so vor mehr denn drei Jahrtausenden auf griechischem Boden einmal
lebendig und gültig war, das ist auf italischen Boden noch ein Jahrtausend
später erhalten.
Jedenfalls war in Rom am Ende der Republik in den höheren
Schichten die Frau in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung dem Manne
durchaus gleichgestellt, wie sie auch politisch, namentlich im letzten vorchristlichen
Jahrhundert, vielfach eine bedeutende Rolle spielte: so zeigen uns Ciceros Briefe
z. B. Clodia, die „Lesbia" Catulls, auch die Mutter, Schwester und Gattin
des Brutus als politisch einflußreiche Damen.
Wenn sich also in der Gleichstellung der Frau mit dem Manne in wichtigen
Dingen, in „rechtlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, höherer Geistes¬
bildung und großer Bewegungsfreiheit", Ähnlichkeit mit modernen Anschauungen
und Zuständen ergibt, so war es anders mit der Ehe. Für diese vertritt der
Römer, wenigstens der Angehörige des alten Adels, den Standpunkt, daß Ehe
und Familie „lediglich die Werkzeuge politischer Herrschaft" und „Mittel zur
Mehrung und Stärkung der Macht jeder großen Familie" seien, und läßt den
Gedanken, daß eine Frau auf das Recht der eigenen Gattenwahl Anspruch
erheben könne, niemals aufkommen. Die Frau wird nicht als Weggenossin
angesehen, die der Mann sür Freud und Leid sich wählt, weil ihn zu ihr die
stärkste persönliche Neigung zieht, weil er gerade diese als die geeignetste be¬
trachtet, sein Lebenswerk zu teilen oder zu verstehen — eine Auffassung, wie sie
unsere Zeit als eine „der letzten und feinsten Blüten des modernen Individualis¬
mus", gezeitigt hat —, sondern es sind eben politische und wirtschaftliche Gründe,
die zur Ehe veranlassen. Darum dürfen wir uns nicht wundern, in einer in¬
schriftlich erhaltenen Leichenrede, die ein Witwer seiner verstorbenen Gattin
hält, ganz praktische, nüchterne Erörterungen über die Tätigkeit und Tüchtigkeit
der Verstorbenen in Geldangelegenheiten zu finden oder auf einem Grabstein
zu lesen:
„Zwei Söhne gebar sie: einen ließ auf Erden sie
Zurück, den andern barg sie in der Erde Schoß.
Sie war lion artiger Rede und von edlem Gang,
Versah ihr Haus und spann ..."
Es war dem Römer eben natürlich, daß man von der Gattin in erster
Linie gesunde Kinder, eine dem Range des Mannes entsprechende Gewandtheit
im Auftreten und Tüchtigkeit als Hausfrau erwartete und verlangte. Dabei
darf aber nicht verkannt werden, daß einerseits zarte und innige Gefühle
zwischen Mann und Frau nicht fehlten, wie uns wieder Ciceros Briefe lehren
und so mancher Grabstein zeigt, anderseits die „auf Vernunftgründen auf¬
gebaute" Ehe der römischen Antike insofern eine gewisse Berechtigung hatte,
als der Familienorganismus eine Rolle spielte, wie er sie bei uns noch in den
Familien der Fürsten und der — Bauern auch heute noch manchmal innehat.
War so die Ehe „eine von politischen Gründen diktierte Handlung", so
hielt man frühe Verlobungen und Heiraten für nützlich, leichte Ehescheidungen
für notwendig, ohne die Gefahren zu beachten, die die leichte Lösung der ehe¬
lichen Bande mit sich brachte: Frivolität, Verschwendungssucht und Untreue,
Laster, die man durch „die Einflüsse der Erziehung, des religiösen Empfindens,
der öffentlichen Meinung" zu bekämpfen versuchte, die aber wegen des größeren
Einflusses der Frau auf den Mann und ihres geringeren Verantwortlichkeits¬
gefühles zu unterdrücken nicht gelang.
Von diesen Gesichtspunkten aus die Geschichte der Frauen der Cäsaren zu
betrachten, unternimmt Guglielmo Ferrero, der bekannte Verfasser von „Größe
und Niedergang Roms", in seinem neuesten Werke*) und entrollt mit gewohnter
Meisterschaft Bilder wirklichen Lebens, echten Menschentunis und tiefster Tragik.
Hatte schon Cäsar seine Ehebündnisse aus politischen Gründen schließen
müssen — dabei „widmete er", nach einem Worte Mommsens, „seinen Frauen
eine ehrliche Zuneigung, die selbst auf die politischen Verhältnisse nicht ohne
Rückwirkung blieb" —, so führten den jungen Octavian, den „Abkömmling
eines frischgeadelten reichen Bourgeois", zu jener beschleunigten Eheschließung
mit Livia, in der „sich die Quintessenz des römischen Hochadels vereinigte",
ähnliche Ursachen, wie sie Napoleon den Ersten Marie Luise von Österreich
heiraten ließen. Die für moderne Anschauung unfaßbare Tatsache, daß der
eigene Gatte Livias, Tiberius Claudius Nero, sie Octavian vermählte, läßt
sich, wie Ferrero trefflich ausführt, ebenfalls nur aus politischer Berechnung
erklären; offenbar hoffte der Claudier, „durch diese Heirat den jüngsten der
drei Führer der neuen Regierung zur altaristokratischen Partei herüberzuziehen".
Ausgezeichnet schildert Ferrero dann Livias Wirken und Erfolge: was sie durch
diese Heirat übernahm, hat sie „mit ruhiger Beharrlichkeit, Mäßigung und
wunderbarem Taktgefühl" durchgeführt, und wirklich bedeutete Livia im ersten
Jahrzehnt des Prinzipals „für die Römer die Verkörperung des Ideals einer
vornehmen Matrone", bis dann bald nach der Vermählung der Kaisertochter
mit Agrippa ihr „Stern vor der blendenden Erscheinung" Julias zu erblassen
begann und durch das Auftreten und Benehmen der Stieftochter eine Rivalität
zwischen beiden Frauen sich herausbildete, die sich auch nach Julias zweiter
Witwenschaft und ihrer Wiederverheiratung mit Livias Sohn Tiberius fort¬
setzte und zu mehrfachen Intrigen gegen die Kaiserin und Tiberius führte. Wie
sich in der Hetze gegen Tiberius zugleich die Rache der vornehmen Welt „an
der kaiserlichen Familie für die Vorrechte, die die überragende Stellung ihres
Oberhauptes ihr verschaffte" offenbarte, wie sie sich ebenso in dem Verhalten
zur gestürzten und verbannten Julia kundtat, wie weiter die Schwierigkeiten,
die Tiberius während seiner Regierung zu überwinden hatte, sich zum großen
Teil aus diesen psychologischen Ursachen ergeben, das alles führt Ferrero uns
vor Augen und nimmt dabei Anlaß zu einer gründlichen Prüfung des Cha-
raklers und der Tätigkeit des zweiten Kaisers, dem er als Herrscher wie als
Mensch volle Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Der 37 nach Christi erfolgte Tod des Tiberius zeigte „den Römern
zum erstenmal, daß, wenn es schon schwer hielt, den richtigen Kaiser zu be¬
kommen, es noch schwieriger war, eine Kaiserin dazu zu finden", die wie Lima
allen Anforderungen an vornehme Abkunft, Tugend und Intelligenz entsprach,
und weil die Gemahlinnen der folgenden Kaiser diese meist nicht erfüllen konnten,
waren sie es. „die, ohne sich selbst darüber im klaren zu sein, das mächtige
julisch-claudische Haus ins Verderben stürzten".
Diesen Gedanken begründet Ferrero dann weiterhin aus den Tatsachen
der Geschichte in den nächsten Jahrzehnten: Caligula, der durch seine ägyptischen
Aspirationen einer Geschwisterehe seine Schwester Drusilla in einen frühen Tod
trieb, war nicht imstande, „die Stelle, die eine Lima innegehabt, mit einer
ihrer würdigen Nachfolgerin" zu besetzen.
Claudius, das „leichtgläubige, schreckhafte und impressionable alte Kind",
hatte als erste Gemahlin Valeria Messalina, die, nicht geneigt ihm „einen
Teil seiner Regierungssorgen abzunehmen", sich nur bemühte, die Mittel zu be¬
schaffen, „mit denen sie ihre riesigen Ausgaben zur Befriedigung ihrer Ge¬
nußsucht und ihres Luxusbedürfnisses decken konnte". Erst Messalinas Nach¬
folgerin Agrippina, die Tochter des Germanicus, führte durch Sparsamkeit und
Schärfe des Regiments eine „Periode der Ordnung und strengen Zucht" her¬
bei, „wie denn ihre ganze Politik auf die Wiederbelebung der Regierungsgrund-
sätze des aristokratischen Regimes ausging" und sie auch in ihrer Thronfolge¬
politik den Bahnen des Augustus folgte, indem sie nur den Vorteil der Familie
und des Staates, nicht den persönlichen im Auge hatte. Das beweist ihr Ver¬
halten ihrem eigenen Sohn Nero gegenüber, den sie, als er auf verkehrten Bahnen
wandelte, dem Interesse des Staates zum Opfer gebracht hätte, wenn es ihr
möglich gewesen wäre. Agrippina fiel schließlich dem Haß der Poppaea Sabina.
Neros späterer Gemahlin, anheim: Nero ließ sich verleiten, den Muttermord zu
befehlen und gutzuheißen. Sie „starb wie der Soldat auf seinem Posten, als
tapfere Vorkämpferin für das gesellschaftliche und politische Erbe des alten
Geschlechteradels und die altehrwürdigen Traditionen, ... für ihre Familie,
für ihren Stand und für Rom".
Betrachten wir das Geschick des julisch-claudischen Hauses, wie Ferrero
es gezeichnet hat, im ganzen, so erkennen wir: es ist in den Männern und
Frauen dieses Hauses mehr stolzer römischer Sinn als absolute Tyrannei,
mehr Staatsgefinnung als Eigennutz, weniger Schuld als Tragik und Unheil,
die schlimmer noch die Frauen heimsuchten als die Männer. Und so ge¬
winnen wir die Erkenntnis von neuem, daß „der Prozeß des Fortschritts eine
der tragischsten Erscheinungen in der Weltgeschichte darstellt".
Ferrero hat bereits in seinem oben genannten, großen Werke sich als un¬
abhängiger, besonnener Forscher mit einer glänzenden Darstellungskraft bewährt
— er tut das auch hier. Wenn manches seiner Ergebnisse im einzelnen an¬
fechtbar ist, wenn mancher Schluß, den er zieht, nicht zwingend erscheint, so
müssen wir immer wieder die psychologische Meisterschaft bewundern, mit der
Ferrero Menschen und Tatsachen zu durchforschen und zu deuten weiß, und gern
schauen wir ihm zu, wenn er die „ungeheure geschichtliche Tragödie" des
julisch-claudischen Hauses aus der „einseitigen und grellen Beleuchtung", „die
ihr durch Tacitus zuteil geworden ist", in ein milderes und gleichmäßigeres
Licht rückt. War schon früher die Glaubwürdigkeit des Tacitus, dem noch
Leopold von Ranke in seiner „Weltgeschichte" das höchste Lob spendet und
dessen Autorität Gustav FrerMg in seiner „Verlorenen Handschrift" so wirksam
zu verwenden versteht, wenigstens inbezug auf die Charaktere und Motive der
hervorragendsten Personen jener Zeit ins Wanken gekommen, so hat Ferrero sie
noch weiter erschüttert, ja teilweise ganz zunichte gemacht; dies gilt namentlich
für Tiberius und Lima, deren Rettung übrigens bereits Hugo Willrich in
seinem Buche „Lima" mit Erfolg unternommen hat.
Aber noch etwas anderes ist es, auf das von neuem mit Nachdruck
hingewiesen zu haben Ferreros großes Verdienst ist: ich meine das gewaltige
Problem, wie die uralte Antinomie zwischen dem natürlichen Freiheitsdrange
und der „unbedingt notwendigen strengen Zucht" zu lösen sei.
Noch ein Wort über das Äußere des Werkes: Ausstattung und Druck
sind gut; bei den Bildern fiel mir auf, daß neben Ociavia, Livia, Antonia,
Agrippina u. a. auch Abbildungen von Cicero und Pompejus beigegeben sind.
Einer raschen, klaren Übersicht über die Verwandtschaftsverhältnisse hätte eine
Ahnentafel gute Dienste geleistet.
Die Übersetzung ist trotz einiger Ausdrucksfehler und Unebenheiten im
ganzen gelungen.
Allen Gebildeten, die Interesse für die Antike und für moderne Behandlung
der Probleme, die jene enthält, hegen, ist auch dies Buch Ferreros warm zu
empfehlen.
Ranke hat einmal gesagt, der Historiker
müsse alt werden, ehe er seines Amtes be¬
friedigend walten könne. Dieser Ausspruch
nimmt seine Berechtigung aus der Tatsache,
daß der historische Stoff und seine Ver¬
knüpfungen ihre hauptsächliche Eigenart in
den Geschehnissen finden, die ihre Wurzeln in
die menschlichen Seelen senken und darum
rein rational nicht erfaßbar sind; daß mithin
der Historiker ein Seelenkundiger sein muß,
der — soweit dies einem Menschen zugelassen
ist — die Struktur des menschlichen Innern
zu erkennen und bei der geschichtlichen Ver¬
knüpfung zu berücksichtigen vermag. Nicht sowohl
Psychologische Gesetze als die Psychischen Er¬
scheinungsformen werden für ihn von Be¬
deutung sein. Diese psychologische Erfahrung
wird gewonnen durch Umgang und Verkehr
mit anderen, durch Selbstbeobachtung, aber
auch durch das Studium der Geschichte und
Psychologisch wahrer Dichtung. Ist derartiges
Tatsachenmaterial in reichem Maße in seine
empfängliche Seele eingeströmt, so wird der
Historiker immer klarer das Seelenleben der
ihm entgegentretenden Menschen der Ver¬
gangenheit durchschauen, sie und ihre Motive
richtig würdigen. Gerade Ranke war ein
Meister der überzeugenden, weil mit der
Erfahrung übereinstimmenden Seelenanalyse,
und das bereits in verhältnismäßig jugend¬
lichem Alter.
Jeder, der auf dieses Gebiet sein Stu¬
dium konzentriert, wird sich also in der Masse
der verschiedenartigsten seelisch bedingten Er¬
scheinungen orientieren müssen, Hierbei treten
die Erscheinungen in Gruppen zusammen, und
die im Einzelfall beobachteten Tntsachenkom¬
plexe gewinnen nicht selten typische Bedeutung;
ihr Psychischer Inhalt ist oft nur graduell von
dem anderer Fälle verschieden, und durch
Klarheit über die Typen gewinnt der Histo¬
riker Verständnis auch für die Erscheinungen
des geschichtlichen Lebens, die sich als Über¬
gänge zwischen den Typen oder als Mischungen
und Kombinationen verschiedener typischer Fälle
erweisen.
Ein gewisser Ersatz für diesen durch Lebens¬
erfahrung und lange Beobachtung an histo¬
rischen Objekten zu erlangenden Reichtum an
typischen Begriffen kann uns geboten werden,
wenn ein so Erfahrener die ihm begegneten
typischen Tatsachen darlegt. Dies ist die Ab¬
sicht des Buches von Ludwig Rieß: „Historik",
ein Organon geschichtlichen Denkens und For-
schens (Band I, Verlag von Göschen, Berlin und
Leipzig 1912). Ich lasse hier die in dem Buche
anfangs gegebenen Auseinandersetzungen über
Grundbegriffe und Grenzen der geschichtlichen
Betrachtung beiseite, zumal manches darin
anfechtbar ist, und weise nur auf das hin,
Was den Hauptinhalt und Wert des Buches
ausmacht: die Darstellung der Typen des in¬
dividuellen Lebens und der freien Vereini¬
gungen unter den Menschen; ihnen sollen im
zweiten Band die Typen der organisierten
Gemeinschaften und die „Summationen als
Produkte des historischen Prozesses" folgen,
nebst einem Überblick über die Aufgaben der
Geschichtsphilosophie. Von der Art, wie Rieß
seinen Stoff darstellt, haben die Leser durch
den Abdruck des Kapitels über die Tempera¬
mente (Grenzboten 1912, Ur. 49, S. 467
bis 460) eine Probe erhalten. In derselben
Weise sind nun Affekte, Gedächtnis, Phantasie,
Intellekt, religiöse und moralische Seelenvor¬
gänge, Charakter und Persönlichkeit behandelt;
von menschlichen Vereinigungen finden wir
die auf Sympathie, auf gesellschaftlichen For¬
men und aus idealen Bestrebungen begrün¬
deten behandelt, dazu die gemeinschaftsbildende
Kraft von Mode und Zeitgeist und die der
historischen Ideen. Überall sind aus den
besten Historikern, vor allem aus Rankes
klassischen Darstellungen, die Beispiele heran¬
gezogen. Zwar hat man ab und zu das
Gefühl, als sollte die historische Erscheimmgs-
welt in ein Schema gezwängt werden —,
aber wie sollten wir die Menschen verstehen
und darstellen, ohne feste Begriffe auf sie an¬
zuwenden, ohne die wimmelnde Masse des
Einzelgeschehens vom Typus her zu ordnen?
So wird man das Buch des vielbelesenen
Autors nicht ohne großen Nutzen aus der
Hand legen, wenn man auch von einer solchen
Formenlehre historischen Geschehens logischere
Gliederung, straffere Fassung erwarten müßte.
Oft läßt der Verfasser seine Gedankengänge
weitab vom Zweckpunkt des Buches schweifen,
scheidet nicht scharf Wichtiges und Unwichtiges,
und wir stehen mehr als einmal in Gefahr,
die Brücke zur Geschichte, die Anwendbarkeit
des Ausgeführten aus den Augen zu ver¬
lieren. Noch etwas Äußerliches muß zum
Schluß erwähnt werden: die Zahl der schlim¬
men Druckfehler, besonders in Namen und
Fremdwörtern, ist Legion, und das Register
ist unzuverlässig.
I>a yuestion alö la Population psr Paul
l^ero^-Keaulieu, iVlembrs 6s l'Institut, pro-
kiZsseur su LollöZe cle pranes. Ukraine!
k'SIix /.Jean. Paris 1913.
Eine schwerwiegende Bestätigung dessen,
was Julius Wolf (siehe den ersten diesjährigen
Bund der Grenzboten S, 45) als Hauptursache
des Geburtenrückganges gefunden hat: kluge
Berechnung im Interesse einer ideallosen ma¬
terialistischen Gesinnung und Abschüttelung aller
Fesseln, die der Selbstsucht von Autoritäten und
Traditionen und namentlich von der Religion
angelegt werden. Der französische Nativnal-
ökonom berechnet, daß nach hundert Jahren
die französische Nation verschwunden, Frank¬
reich von eingewanderten Belgiern, Deutschen,
Italienern und Spaniern bewohnt sein werde.
Was den Schwund noch einigermaßen auf¬
halte und verschleiere, das sei die Fruchtbar¬
keit einiger Landschaften: der Bretagne, der
Vendöe, eines Teiles von Lothringen, der
Departements Böarn, Nord und Pas de
Calais! das seien aber gerade die gläubig
gebliebenen Lnndesteile, Das einzige Mittel,
das französische Volk vor dem Untergange zu
retten, bestehe demnach in der Rückkehr zum
Glauben und zu einer idealen, opferwilligen
Gesinnung. Die Regierung müsse den Kampf
gegen die Religion einstellen; den Volksschul¬
lehrern dürfe nicht länger gestattet werden,
an der Zerstörung der Religion zu arbeiten,
der unsittlichen Literatur und Bühne müsse
gewehrt, die Fruchtnbtreibung, die Nnleunng
zu den Praktiken der Neomalthusianer müßten
bestraft werden. Zu den mitwirkenden Ur¬
sachen des Geburtenrückganges rechnet der
Verfasser u. a. den „Arrivisme": der Arrivist
wolle sich nicht mit Kindern belasten, die ihm
das Vorwärtsstreben erschweren, wolle auch
seiner Nachkommenschaft das Emporsteigen
erleichtern, was seiner Meinung nach dadurch
am sichersten geschehe, daß er nur einen Sohn
habe, auf den er all seine Sorge und seine
Mittel konzentrieren könne. (Ein doppelter
Irrtum, meint Leroy-Beaulieu, weil einzige
Söhne verzärtelt werden und meistens nichts
taugen, und weil nach der geschichtlichen Er¬
fahrung gerade nachgeborene Söhne es zu
sein Pflegen, die den Ruhm einer Familie
begründen.) Ferner wirkten ungünstig die
Kinderschutzgesetzgebung und die übertriebene
Ausdehnung des Schulzwangs, die dem Armen
Kinder zur Last machen, während diese früher
verdienen halfen; im Mittelstande aber die
Erschwerung der Versorgung durch über¬
mäßige Ansprüche an die Aspiranten; diese
würden gezwungen, Kenntnisse zu erwerben,
die sie für ihren Beruf gar nicht brauchten,
so das; langes kostspieliges Studium und Prü¬
fungen die erstrebte Lebensstellung versperrten,
mitunter gefährdeten und jedenfalls das
Heiratsalter hinausschöben. Endlich die hohe
Besteuerung der Hinterlassenschaften. Auch
schon die der Erbfolge in der Seitenlinie erk¬
undige; denn die Aussicht der Kinder, ledig
gebliebene Oniel und Tanten zu beerben,
ermutige dazu, ihre Aeugung zu wagen; die
Vermögen müßten ohne lästige Formalitäten
unverkürzt auf die Erben übergehen. Als
kleine Mittel neben dem großen, der Änderung
des Volksgeistes, werden u. a. empfohlen:
Kinderprämien, militärische Vergünstigungen,
Reservierung aller Stipendien und Freistellen
für Söhne normaler, d. h. mindestens drei
Kinder nachweisender Familien; auch in der
Beamtenlaufbahn sollen kinderreiche Väter und
ihre Söhne bevorzugt werden; Baugesell¬
schaften, die Wohnungen für kinderreiche Fa¬
milien herstellen, soll der Staat durch Steuer¬
erlaß begünstigen. — Das Buch verdient eine
eingehende Analyse, der sich vielleicht ein an¬
derer Mitarbeiter unterzieht, auch aus dem
Grunde, weil es eine sehr ausführliche, zum
Teil originelle Widerlegung des Malthusia¬
nismus enthält.
Nachdruck sämtlicher Aufsähe nur mit auSdrii-ttichcr Erlaubnis d-S Verlags gestattet,
verantwortlich: der Herausgeber George Tleinow in Berlin-Schöneberg. — ManuskriPtsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse:
«,l den Herausgeber der Grenzbotrn i» Berlin-Friedenau, Hedwigftr. 1».
Fernsprecher der Schristl-itung: Amt Abt-ut SS30. des Verlags: Amt Lü«vo KS10.
Verlag! Verlag der «renzboten <S. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: .Der Reichsbote' «. «. b. H. in Berlin SV. 11. Dessauer Straße 30/S7.
Xa^w^/. 70.- I.cKrmittel u.Spielxvarenallsr^re.
„ 7V0.'leppicne, cleutsclie uncl ecbts
Perser.
„ //70/ciebrauobs- uncl l.uxusvaren;
Artikel tur Haus uns lehret, u. a.: l.eclerwaren,
piattenkokker, Krönten, IVlarmorsKulpturen.
Terrakotten, Kunstgeverblielie «Zegenst-mele
uncl lVIetallwarcn, Kunst- uncl lakelporWll-in,
<^ÄÄ-rZH «F. <Z>.
AeszcSsT^, /6/7?>eil//5Wnykli> IillllW NtMliKliNer
nämlich 2V .ladre lang leisten wir (Zarantie tur unsere
xolckplattiorion 1'aseKeliubrcn. Ihr OeKäuse bleibt im
normalen (Zebraucb unverwllstlicb, weil es aus Ltabl
bestellt, auk cien eine I4lcarätigs Liolciaullage geval?t
uncl geschweisst ist. So entsiebt eine Kombination von
?äben Hart- uncl gesebnieiciigem IZclelmetall, alle jeclem
vernünktigen Ansturm trokne; iure rialtbarkeit ist ver-
uncl vornehm Icünstieriscii clekoriert; sie sinnt im Zug¬
seilen cien celle golclenen viillix ebenbürtig, vünnvn
3- veter l 4 lcarätixzsn (Zolcigeliäusen sinnt unsere
xolckplattiertsn, unbegrenzt wiclerstanclskäliigen Kombi-
I^ander Sie nom heute alle Probe aut alas IZxempell
X«ra/oF <V70/ Silber-, (Zolcl- uncl Lrillantenselimuolc,
Olasbütler uncl Lcbweiüer l'ascbenubren, (Zross-
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le Antike ist beherrscht von der Idee der Welteroberung. Kein
Staat erkennt den andern an, kein Herrscher begnügt sich mit
seinem Reiche. stetes Streben nach Vergrößerung des eigenen
Territoriums: das ist das Charakteristikum jeder Regierungs¬
form im Altertum, der absoluten Despotie wie der Republik, der
Oligarchie wie der Ochlokratie. Die Konsequenz ist die, daß man schließlich
nach der Weltherrschaft trachtet, ein Ideal, unter dessen Bann das ganze
Altertum steht, dem Alexander der Große seinen Ruhm, das Imperium Romanum
seine Ausbreitung verdankt.
Letzten Endes ist jenes Ideal aufgestellt worden, um den Krieg aus¬
zuschalten. Im Innern der gesellschaftlichen Verbände, der Staaten herrscht
der Friede; doch sind sie stetig umdroht von den Nachbarn. Das Bestreben
nun, den Krieg aller gegen alle für die Gemeinschaften der Menschen aus¬
zuschalten, hat zu dem Postulat einer Weltmonarchie geführt. Der Gedanke
ist der, daß nach der Durchführung dieses Planes nur eine Gesellschaft vor¬
handen ist, die sich dann nicht mehr selber bekriegen kann.
Es soll also nicht sowohl der Krieg aller gegen alle, wie er im Natur¬
zustände besteht, für die Gemeinschaften ausgemerzt, sondern der Krieg soll
bis zum äußersten Ende gebracht werden, wo er dann angeblich von selber
aufhören muß. Welteroberung will somit nicht Überwindung des Natur¬
zustandes — das erziele!i«die Menschen durch die von ihnen geschaffenen
Gesellschaftsformen —, sondern Anpassung an diesen; „die Weltmonarchie
bedeutet die Gewalt!" Welteroberung treiben heißt somit den Krieg in
Permanenz erklären. Die nach der Weltmacht trachtenden Staaten ver¬
mögen uns eine gute Illustration hierfür zu geben; selbst in Rom, das doch
am erfolgreichsten im Welteroberungsbestreben war. konnte der Tempel des
Kriegsgottes nur äußerst selten geschlossen werden: der Krieg riß eigentlich nie
ab. So ist die Welteroberung nicht der Schlußstein in der Vergesellschaftung
der Menschheit; sie bedeutet nicht die Bekrönung dieser Großtat des Menschen,
wenn schon auch sie des Friedens wegen in die Wege geleitet worden ist.
Das Mittelalter ist — entwicklungshistorisch beurteilt — über das Altertum
in dieser Grundfrage nicht hinausgekommen. Kaisertum und Papsttum, beide
streben ganz offen — als Erben der römischen Imperatoren — nach der
Weltherrschaft. Zumal das erstere hat große Erfolge, und gerade die hervor¬
ragendsten deutschen Kaiser erwiesen sich als die hauptsächlichsten Vorkämpfer
in diesem Ringen, das in den damaligen Jahrhunderten als das höchste allen
politischen Wirkens angesehen wurde.
Wie urteilt beispielsweise Dante, der schon am Ausgang dieser Epoche
steht, noch so anerkennend über die Bestrebungen der Kaiser. Ihm sind Kaiser¬
tum und Weltmonarchie identisch; und die letztere ist nach ihm einfach ein
Postulat der Vernunft, weil sie zuni besten Zustand der Welt notwendig ist.
Indem der Kaiser, legt er dar, nach derselben trachtet, zeigt er, daß er das
Wohl der Menschheit am meisten liebt; da also die Menschheit sich im besten
Zustand befindet, wenn sie von einem regiert wird, so ist zum Heile der Welt
das Kaisertum, d. h. die Weltmonarchie nötig.
Im Kampfe mit seinem Rivalen brach das Kaisertum zusammen, und
das Papsttum trat daraufhin mit dem Anspruch der Suprematie über die
Staaten auf den Plan. Doch war eben jener Zusammenbruch für die nach
der Weltmacht strebende katholische Kirche gleichfalls von verhängnisvollen
Folgen. Durch die Niederzwingung des Kaisers hatte sie sich des Armes be¬
raubt, der ihre Befehle durchzuführen vermochte. Ursprünglich als Vogt, dann,
trotz der Rivalität, noch in Nachwirkung dieses Verhältnisses hatte das Kaiser¬
tum die römische Kirche geschirmt, war jenes die Grundlage, die Vorbedingung
der Macht für diese gewesen. Dieser Grundlage hatte sich das Papsttum
selber beraubt; und wenn auch die Fürsten zunächst noch in? Papste den Be-
sieger des Kaisers verehrten, ihm die Nachfolge desselben nominell zuerkannten,
so war die päpstliche Suprematie eben doch nur nominell vorhanden. Es fehlte dem
Papste die reale Macht, seine Würde zur Geltung zu bringen, sowie er auf
Widerstand seitens der weltlichen Mächte stieß. Darum erfolgte ein rapides
Sinken dieser Autorität, ein geradezu plötzlicher Sturz von höchster Höhe herab
zur Machtlosigkeit.
Es kam daraufhin sehr bald zur Anerkennung von einander unabhängiger
gleichberechtigter Staaten — und damit beginnt? die Neuzeit. In dem Be¬
streben, sich von dem Papsttum völlig zu emanzipieren, lernten die Staaten,
daß sie in gleicher Abhängigkeit gestanden, daß sie darum die gleichen Interessen
hatten; sie waren, da der Papst bald zur Ohnmacht verurteilt war, gleich
konstituierte weltliche Gesellschaften, eben souveräne Staaten, nebeneinander,
von denen keiner einen Vorrang mehr besaß. Sie behaupten ihre Unabhängigkeit,
sie bilden den Begriff der Souveränität völlig durch. In Frankreich erhält
er seine genaue Bestimmtheit durch Jean Botin: nach ihm ist Souveränität
die höchste Gewalt, die keine andere Gewalt über sich kennt.
Mit der Durchbildung dieser voneinander unabhängigen Staaten hebt
eine neue Epoche der Universalgeschichte an. Sie wehrten sich in gleicher Weise
kräftig gegen die Ansprüche des Papsttums, auch gegen die aus der frühmittel¬
alterlichen Vormachtstellung hergeleiteten Velleitäten des deutschen Kaisers. So
ist schließlich ganz von selber, eben gezwungen durch die gleiche Lage, jeder
Staat genötigt, den anderen die gleichen Existenzbedingungen zuzuerkennen.
Die gemeinsame Not führte sie dahin, alle gleich gearteten Gesellschaften auch
als gleichberechtigte gelten zu lassen.
Damit haben wir die zweite Phase staatlichen Lebens. Nicht mehr auf
Welteroberung gehen die Staaten aus, sondern sie verfolgen nur die Tendenz,
sich möglichst so stark zu machen, daß sie sich gegenüber dem Angriff eines
anderen Staates behaupten können. Jeder ist bestrebt, nicht sich alle Staaten
zu unterwerfen, um in Sicherheit zu existieren, sondern nur sich soviel hinzn-
zuerobern, daß er dem Angriff eines „Erbfeindes" gewachsen ist.
Diese Entwicklung währte Jahrhunderte hindurch, als plötzlich ein Mann
auftrat, der den alten Gedanken der Weltherrschaft wieder aufgriff und mit
zäher Energie, mit genialen Wollen verfolgte — Napoleon der Erste.
Man will neuerdings in ihm nur den Getriebener sehen, im Gegensatz
zur Meinung Snbels, Treitschkes und ihrer Zeitgenossen. Das größte Welt¬
verhältnis, behauptet der Historiker Lenz, in dem Napoleon sich überhaupt
bewegt habe, sei der Kampf gegen England und der Zusammenhang desselben
mit den kontinentalen Angelegenheiten gewesen; als erster Konsul wäre Napoleon
Bonaparte an dem Frieden, den er seiner durch ein Jahrzehnt innerer Zer¬
rüttung und schwerster Kriegsgefahr ganz ermatteten Nation bei Marengo er¬
obert, persönlich interessiert gewesen und in den neuen Kampf durch die Eng¬
länder hineingezwungen worden; „England ist es, das das Steuer von Napoleons
Politik gerade hinaus in die neuen Stürme lenkte."
Gewiß ist richtig, daß England immer und immer wieder gegen den
großen Korsen ankämpfte, eigentlich ohne Unterbrechung. Aber es griff damit
den Fehdehandschuh nur auf; der ihn immer wieder hinwarf, das war unstreitig
Napoleon. England war überall beteiligt, wo der Krieg gegen den Usurpator
aufloderte; doch tat es solches nur aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus. Es
war dazu gezwungen durch die Eroberungspolitik des französischen Kaisers; er
war der angreifende Teil, bedrohte das seemächtige Albion in seinem Bestand,
suchte es mit allen Mitteln niederzuzwingen. So wollte er Ägypten erobern,
um damit den Schlüssel zu Indien in der Hand zu haben. Als die Überfahrt,
die Eroberung Englands von Boulogne aus, die ganz ernstlich geplant war,
gescheitert war, da ordnete er die Kontinentalsperre an, um dieser Handelsmacht
*
den Lebensnerv abzuschneiden. Nur deshalb richtete sich sein steter Angriff gegen
England, weil es die Macht war, die sich ihm bei seinem Vordringen auf das
gestellte Ziel ungebeugt entgegenstemmte, die er darum zu zerschmettern suchen mußte.
Napoleon der Erste gibt uns, wie Goethe — der ihn einst so sehr be¬
wunderte, ihn geradezu für unbesiegbar erklärte — nach jenes Sturz gelegent¬
lich äußerte, ein Beispiel, wie gefährlich es ist, sich ins Absolute zu erheben
und alles der Ausführung einer Idee zu opfern. Diese Idee ist nichts Ge¬
ringeres als die Eroberung der Welt: das geht aus Napoleons eigenen
Äußerungen mit voller Deutlichkeit hervor.
„Um bloß Frankreich zu regieren," sagte er 1815 zu Benjamin Konstant,
„mag eine Konstitution vielleicht besser sein. Ich strebe nach der Weltherrschaft."
Dazu stimmt, daß er nach seiner eigenen Meinung nicht ein Washington werden
konnte, — was man von ihm erwartet hatte, als er die oberste Leitung der
Angelegenheiten Frankreichs erhielt; „denn," erklärt er, „was mich betrifft,
konnte ich nur ein gekrönter Washington werden. Nur in einem Kongreß von
Königen, inmitten nachgebender oder bezwungener Könige konnte ich das sein.
Dann, und zwar dann allein, hätte ich Washingtons Mäßigung, Uneigen-
nützigkeit und Weisheit nachahmen können. Dies war ich vernünftigerweise
nur durch eine Universaldiktatur zu erreichen imstande." Und über die Vor¬
gänge, die zu seiner Niederlage bei Leipzig führten, bemerkt er ausdrücklich:
„In Dresden konnte ich nicht Frieden schließen. Die Verbündeten verfuhren
nicht aufrichtig. Hätte übrigens jeder der Generale bei Erneuerung der Feind¬
seligkeiten seine Schuldigkeit getan, so wäre ich noch heute der Herr der Welt."
Die Welt will er unterwerfen: das ist sein Leitgedanke. Dem sollten die
Erneuerung der karolingischen Kaiserwürde und die Krönung zum König von
Italien dienen; die geplante Niederzwingung Englands wie die Rußlands
sollten Etappen auf seinem Wege sein, ganz wie die Unterwerfung der deutschen
Staaten auch eine gewesen war. Unter demselben Gesichtspunkt betrachtet wird
auch die scheinbar so seltsame ägyptische Expedition sofort verständlich — ein
Plan, den übrigens schon Leibniz dem vierzehnten Ludwig zur Durchführung
anempfohlen hatte, um Indien zu unterwerfen, und den England heute in der
Hauptsache verwirklicht hat, um Indien zu sichern.
Hell lodert in Napoleon dem Ersten noch einmal der Weltstaatsgedanke,
der Plan der Welteroberung auf, in seiner ganzen romantischen Pracht. I^Iuöig
verbis hat er es selber ausgesprochen, da er am Riemen stand, bei seinem
Zuge gegen Rußland: „Wie dem auch sei, dieser weite Weg ist der Weg nach
Indien; Alexander hatte einen ebenso langen Marsch, um den Ganges zu er¬
reichen, als ich von Moskau nach Indien hätte. Stets bei der Belagerung von
Acre habe ich daran denken müssen. Wären nicht die englischen Seeräuber und
die französischen Emigranten, die der türkischen Artillerie Schießunterricht gaben,
wäre nicht mit ihnen im Bunde die Pest gewesen, ich hätte nie die Belagerung
von Acre aufgehoben — ich hätte Asien zur Hälfte erobert und mich alsdann
über Europa hergemacht, um mir die Throne von Frankreich und Italien zu
sichern. Jetzt habe ich das Umgekehrte zu tun: vom westlichen Ende Europas
muß ich anfangen, um in Asien einzufallen und England zu fassen. Ich habe
alle Karten und statistischen Einzelheiten, deren ich für einen Marsch von Eriwan
und Tiflis nach Indien bedarf — es hätte einen vielleicht weniger gewaltigen
Kriegszug gegeben, als der ist, den wir innerhalb der nächsten drei Monate
unternehmen. Angenommen, wir nehmen Moskau, Rußland ist zerschmettert,
der Zar versöhnt oder irgendeiner Palastrevolution zum Opfer gefallen, gefolgt
von einer neuen vielleicht abhängigen Dynastie — da würde es für eine große
französische Armee mit Hilfstruppen nicht unmöglich sein, von Tiflis aus den
Ganges zu erreichen. Einmal getroffen vom Schwerte Frankreichs würde das
luftige Gebäude der indischen Handelsmacht zusammenbrechen. Eine großartige
Expedition, im neunzehnten Jahrhundert wohl ausführbar."
Ebenso charakteristisch ist eine weitere Äußerung von ihm, die denselben
Gegenstand betrifft: „Hätte ich damals Se. Jean d'Acre genommen, die Bewegung
hätte alle Völker des Orients ergriffen. Ich hätte Konstantinopel erreicht, wäre
nach Indien gezogen — ich hätte der Welt ein anderes Äußere gegeben."
Diesem Titanen ist nur die Unterwerfung der Welt eine seiner würdige Aufgabe,
ein ihm werdes Ziel. Das hat man auch zu seiner Zeit bereits erkannt. Wir
wollen nur ein schlagendes Zeugnis anführen, das einem Briefe entstammt, den
ein preußischer Feldgeistlicher unter dem unmittelbaren Eindruck der Völker¬
schlacht bei Leipzig geschrieben hat. K, A. Köhler nämlich, der Prediger der
Brigade des Generalmajors von Dobschütz, schreibt an seine schlesischen Ver¬
wandten, und zwar wörtlich: „Die Universalmonarchie, welche fast errungen
war, in der es Napoleon weiter gebracht hatte als alle Welteroberer vor ihm,
für die er Millionen Menschenleben opferte, Millionen Menschen elend und un¬
glücklich machte, zerfällt in weniger Wochen, als er Jahre brauchte, sie zu
erbauen, zerfällt in nichts und verschwindet wie eine bunte Seifenblase! Ob
dies nicht eine Lehre für die Nachwelt sein und alle künftigen ehrgeizigen
Eroberer abhalten wird, nach dem zu streben, was doch keiner erreichen kann?"
Hier ist richtig erkannt und anerkannt, daß Napoleon sich allen Ernstes bestrebte,
die Weltmonarchie zu verwirklichen; und immer ist es Alexander der Große,
der ihm vorschwebt, dem er nacheifert. Ja, er will nicht nur das politische,
sondern auch das religiöse Haupt der Welt werden, den Cäsaropapismus der
Menschheit aufnötigen; denn er hat selbst von seinem Zuge nach Ägypten erzählt:
„Ich wollte eine Religion stiften. Ich sah mich auf einem Elefanten unter¬
wegs, den Turban auf dem Haupte, in der Hand einen neuen, von mir allein
verfaßten Koran."
Hier haben wir die Romantik der Welteroberung, der Weltherrschaft in
Neinkultur!
Mit voller Absicht, bewußt verfolgt er also den Gedanken der Welt¬
monarchie; und das alles — gerade das charakterisiert ihn als echten Welt-
eroberer — einzig und allein für das Wohl der Menschheit selber. Er war
nicht lediglich der blutige Tyrann, der Schlächter, der nur für seine „Zloire"
die Menschen in Krieg und Verderben gehetzt hat; er war mehr. „Ich habe
gewaltige und zahlreiche Pläne im Kopf" — das sind seine eigenen Worte,
daran soll man nicht drehen noch deuteln — „bei allem aber das Wohl der
Menschheit im Auge gehabt. Man fürchtete mich wie den Blitz; man behauptete, ich
führe eine eiserne Faust — nun denn, sowie sie geschlagen hätte, wäre Milde für
alle eingetreten. Wieviele Millionen menschlicher Wesen hätten mich für alle Zeiten
gesegnet — allein Unglück über Unglück kam über den Schluß meiner Laufbahn."
Und ihre Taten folgen ihnen nach I So bewundernswert seine Verwaltungs¬
reorganisation, die der Stein-Hardenbergschen als Grundlage diente, von den
Rheinbundstaaten einfach übernommen wurde, so trefflich die Kodifikationen des
materiellen Rechts und des Prozesses sind, die unter der Ägide und der tief¬
greifenden Mitwirkung des erst Einunddreißigjährigen vorgenommen wurden —
in der Hauptsache hat er doch nur die Erinnerung an seine Heerzüge hinter¬
lassen, an seine Siege, die jedoch durch die späteren Niederlagen und den
Zusammenbruch seiner Herrschaft ihre Bedeutung vollständig eingebüßt haben.
Die Idee, an die er alles gesetzt, hatte für einen Alexander von Mazedonien,
für die römischen Imperatoren und noch für das frühere Mittelalter ihre
volle Berechtigung; für diese frühen Zeiten menschlicher Kultur war sie das
Höchste, bedeutete ihre Inangriffnahme den Aufstieg der Menschheit, die staat¬
liche Fortbildung. Am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dagegen war
sie ein schwerer Fehler; die Durchführung eines solchen Planes, so gewaltig
er auch auf den ersten Blick scheinen mag, mußte sehr schnell scheitern, denn
die Entwicklung war schon seit Jahrhunderten darüber hinweggeschritten.
Nicht mehr auf Welteroberung gingen die Staaten aus, sondern sie verfolgten
nur die Tendenz, sich möglichst so stark zu machen, daß sie sich gegenüber dem
Angriff eines andern Staates behaupten konnten. Die Staaten konnten es
gar nicht mehr unternehmen, den Gegner oder die Gegner alle absolut zu ver¬
drängen, was der Kaiser oder der Papst noch erstrebt hatten; sie wollten
lediglich dahin gelangen, dem feindlich gesinnten Staate, der stets eine Schranke
sür sie bildete, das Gleichgewicht halten zu können: das Gleichgewichtssystem ist es,
wonach in der ganzen Periode nach der Durchbildung der souveränen Staaten
getrachtet wird.
Daß Napoleon das nicht erkannte, das hat ihm trotz höchsten Wollens
den Weg zu dauerndem Erfolg versperrt. So verpuffte die zähe Kraft des
gewaltigen Korsen nutzlos; einer von jenen Großen, die die Menschheit in eine
bessere Zukunft geleiten, ist er nicht geworden. Was der Graf S6gur mit Bezug
auf die Eroberung von Moskau ausführt, nämlich: „Diese Eroberung, für die
er alles daran gesetzt, sie ist ein Phantom, das er verfolgt hat, das er schon
zu fassen glaubte, und das in die Lüfte ging, in Rauch und Flammen" —
es gilt, mutatis mutanäis, von seinem Gesamtplan, der Weltherrschaft.
Er war der Romantiker der Welteroberung. Er war ein Spätling für
diesen Gedanken; daran mußte er zerschellen. Meteorgleich blitzt der grandiose
Plan noch einmal auf, in blutrotem Lichte über den gewaltigsten Schlachtfeldern
der Weltgeschichte, — um dann wirkungslos mit ihm, seinem letzten Träger
zu erlöschen. Als Jüngling hatte er geschrieben: „Die genialen Menschen sind
Meteore, dazu bestimmt, zu verbrennen, um ihr Jahrhundert zu erleuchten" —
das gilt sür ihn, während die wahrhaft Großen als leuchtende Sterne oder
gar als Sonnen am Himmel der Menschheitsgeschichte prangen.
Da sein Ziel ein falsches war, so sind die Ströme Blut umsonst geflossen.
Die Geschichte verzeichnet darum Napoleon den Ersten als den Schlachtenge¬
waltigen, dessen Spuren Elend, Jammer und Verzweiflung folgten.
Als Quellen zu dieser Arbeit dienten: s) Werte: Cnbrini, „l^s
resisteniia cZell' IZurops Oiovsne", (Zenova 1904; Frohne, Carl,
„Arbeit und Kultur", Hamburg 1906! Goldschmidt, Carl, „Die Deutschen
Gewerkvereine" (H.-D>), Berlin 1907; Mitschell, John, „OrMms ol
l^bor", Leipzig 1906; Münsterberg, Hugo, „Die Amerikaner", Berlin
1904; Webb, Beatrice und Sidney, „Die Geschichte des Britischen
Trade-Unionismus", 1896. b) Periodische Schriften: „Reichsarbeits-
blntt", Berlin, Jahrgänge 1902/1903 bis 1912; „Internationale Be¬
richte der Gewerkschaftsbewegung", Berlin, Carl Legler; „Korresvondenz-
blntt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", Berlin,
Jahrgänge 1908, 1909, 1910, 1911 und 1912; „Der Gewerkverein"
Berlin, Jhg. 1909, 1910, 1911 und 1912; „Deport on IVacls Unions«,
London 1906 bis 1907, 1903, 1909 und 1912, und verschiedene andere
mehr.
! le Zahl der organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen stieg in den
Kulturstaaten (Vereinigte Staaten von Nordamerika, England,
Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Rußland. Schweden,
Belgien, Spanien, Niederlande, Dänemark, Schweiz, Ungarn,
Norwegen, Finnland, Balkanstaaten, Japan, Neuseeland, Australien
und Südamerika) von 5846595 im Jahre 1900 auf 11286877 im Jahre
1906 und auf 15620241 im Jahre 1911. Die Mitgliederzunahme bei den
einzelnen Gruppen der modernen Arbeiterbewegung war wie folgt:
Bei der enormen Entwicklung, welche die moderne Arbeiterbewegung und
zwar vornehmlich im letzten Dezennium genommen hat, bei der Machtentfaltung
der ursprünglich vielfach kleinen und unbedeutenden Organisationen, ist ein kurzer
Einblick in den Werdegang der gewerkschaftlichen Selbsthilfe der Arbeiter wohl
von Interesse.
Zurzeit die stärkste Gruppe in der modernen Arbeiterbewegung ist die
Gruppe der rein-gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen, deren Vertreter in
Deutschland die „Deutschen Gewerkvereine" (Hirsch-Duncker) sind. Von Eng¬
land, demi klassischen Lande der Arbeiterbewegung, ausgehend, erstreckt sich
diese Bewegung in der Hauptsache über die Länder der englischen Zunge:
Großbritannien und Irland, Nordamerika und Australien. In England selbst
gehen die Anfänge einer Gewerkschaftsbewegung bis gegen das Ende des acht¬
zehnten Jahrhunderts, ja teilweise sogar bis in noch frühere Zeitperioden zurück.
So besteht z. B. die mit allerhand gesetzlichen Berufsprivilegien ausgestattete
„^malAÄmatsä Loclst^ c»f XVatermsn, I^iAktermon auel LarMmen" schon
seit länger als dreihundert Jahren. Ältere Organisationen bilden ferner die
Goldschmiede (1777 gegründet) und die vereinigten Bürstenmacher (1778 ge¬
gründet). In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind 105 Gewerk¬
vereine (4"red6ez I^mons) errichtet worden.
Da die englischen liacie Union8 bekanntlich nur gelernte Arbeiter in
ihren Reihen aufnehmen, ging man im Laufe der achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts dazu über, die unorganisiert gehaltenen Arbeitermassen (un.3litten>
men) zu großen Vereinigungen zusammenschließen (l>Je>v Umoiiism).
In dem im Jahre 1868 ins Leben gerufenen jährlich stattfindenden
„IVaäs Unions Lor^r^s" (1868 : 34 Delegierte für 118367 Arbeiter) besteht
eine gewisse Verbindung der verschiedenen Organisationen, die zur Einsetzung
eines ständigen Ausschusses zur Ausführung der Kongreßbeschlüsse und der
Wahrnehmung der Arbeiterintcressen im Parlamente führte. Im Jahre 1912
wurden auf dem Oracle I^nions LonAre88 197 Organisationen mit
1967109 Mitgliedern durch 502 Delegierte vertreten.
Im letzten Dezennium hat nun die Zentralisationsbewegung, das heißt der
Zusammenschluß der bestehenden Gewerkvereine, zu großen Jndustrievervänden
(k^vast'crtionon) bedeutsame Fortschritte gemacht. (In der gesamten englischen
Textilindustrie bestanden 1901 allein 243 Gewerkvereine mit 525 Ortsgruppen;
in den anderen Industriezweigen lag die Sache nicht anders; so bestanden im
Jahre 1909 im Orte Sheffield schon allein 150 Gewerkschaften der Eisen-
und Metallindustrie.) Im Jahre 1903 wurde eine Föderation der Bauarbeiter¬
unionen für Großbritannien errichtet, im Jahre 1905 trat die Föderation der
nordenglischen Textilarbeiterunionen ins Leben, im Jahre 1907 erfolgte die
Gründung einer großen Holzarbeiterföderation, ebenfalls im Jahre 1907 schlössen
drei Gewerkvereine der Handelsangestellten und -gehilfen eine Föderation, im
Jahre 1910 erfolgte die Gründung der Föderation der Arbeiter im englischen
Transportgewerbe.
Die statistischen Angaben des Jahresberichts zum englischen 1>Acis Unions
Lor^re88 zu Newport im Jahre 1912 zeigen ein außerordentlich großes
Wachstum der Mitgliederzahl fast aller Gewerkschaften. Die Zunahme der
Mitgliederzahl vom Jahre 1911 auf 1912 ist größer als in irgendeinem
früheren Jahre. So stieg z. B. die Zahl der Hafenarbeiter von 112227 auf
168990, der Gasarbeiter von 73 000 auf 143 434, der Eisenbahner von
89153 auf 136516 usw. Nach dem erwähnten Jahresberichte ist das Wachstum:
der englischen Arbeiterbewegung auf zwei Umstände zurückzuführen: auf die
großen Streikbewegungen des letzten Jahres und auf die Einführung des
Arbeiterverstchernugsgesetzes, das die Gewerkschaften als Träger der Versicherung
zuläßt.
In den letzten Jahren hat nun ein revolutionärer Zug in der englischen
Gewerkschaftsbewegung eingesetzt. So wurde auf dem Oracle I^nic>n8 Le»iAre88
zu Neuyork bestätigt, daß sich die seit Jahrzehnten in ihrer Wirtschaftspolitik
so gemäßigten Union8 demi Einfluß der revolutionären Elemente nicht
ganz entziehen können. Bei allen den großen Arbeitskämpfen der letzten Jahre
standen blutige Ausschreitung und Demolierung des privaten und öffentlichen
Eigentums an der Tagesordnung. Die Berichte der Arbeiterorganisationen selbst
bestätigen dies. So besagen z. B. die Angaben über England des achten internatio¬
nalen Berichts über die Gewerkschaftsbewegung 1910 vom 12. November 1911
zu London u. a.. daß bei allen diesen Kämpfen eine Reihe von Streitenden
getötet wurden; einige durch eigene Schuld, indem sie Bahntransportmittel, die
Explosivstoffe enthielten, in Brand steckten, andere im offenen Kampfe.
Die Anfänge einer Arbeiterbewegung findet man in Amerika, abgesehen
von den Zünften und Gesellenverbänden der vormärzlichen Periode, bereits im
achtzehnten Jahrhundert, wie ein Streik der Bäcker von New Aork vom Jahre
1742, der erste Streik in Amerika überhaupt, und die Schuhmacherstreiks in
Philadelphia in den Jahren 1796. 1798 und 1799 bekunden. Aber alle diese
Kämpfe kann man nur als impulsive den gegebenen Moment berücksichtigende
betrachten. Bestimmtere Formen hatten die 1848 bestehenden Arbeitervereini-
gungen, denen die Theorien von Robert Owen und Charles Fourier zugrunde
lagen. Aber einen Bestand hatten auch diese Organisationen nicht, sie waren
vielfach nur ganz lokale Vereinigungen vorübergehender Natur.
Die größte Zentrale der modernen Arbeiterbewegung Nordamerikas ist die
im Spätjahre 1831 zu Pittsburg gegründete ,,/VmsnLan Iteration ot' I^abor",
welche schon nach einjährigen Bestehen 95 Vereine mit 262000 Mitgliedern
vereinigte.
Von den Gewerkvereinen der Eisenbahner sind eine ganze Reihe der
„American I?ecjsration ol I^abor" noch nicht angeschlossen. Die bedeutendsten
davon waren im Jahre 1911 die „Oräer ol Kailvay Loncluctors" (Schaffner)
mit 43627 Mitgliedern, die „KrotKsrnooä ok Uocomotive IZn^ineers"
(Lokomotivführer) mit 63 812 Mitgliedern, die „Lrotnernooci ol UoLOmotivs
k^irenien auel LnZinemsn" (Heizer) mit 77338 Mitgliedern und die
„Krotnernooä of pailroaä Grammen" (Zugbegleiter) mit 119107 Mitgliedern.
Außerhalb der „^meiican t^ecisration os I^abor" steht der im Jahre
1865 gegründete amerikanische Maurerverband (KriLkIa^ers auel Nasons
International Union), ferner der in der Praxis zurzeit unbedeutende „Bund
der Ritter der Arbeit" (KniZnts ok I^bor). welcher im Jahre 1864 aus
einer Vereinigung der Schuhmacher (Se. Crisvinverein) hervorging, und eine
Reihe unabhängiger Arbeiterunionen, von denen die bedeutendste im Jahre 1911
die der Elektrizitätsarbeiter mit 22000 Mitgliedern war.
Der schwierige Standpunkt, den die amerikanische Arbeiterbewegung ein¬
nimmt, ist der, daß die dortige Arbeiterarmee aus allen Rassen der ver¬
schiedensten Intelligenz zusammengesetzt ist. Unter den ungelernten Arbeitern
befinden sich Chinesen, Mexikaner, Italiener, Böhmen, Litauer, Jrländer und
Neger; zu den ungeschulten Arbeitern, die in den Werkstätten beschäftigt werden,
gehören namentlich die französischen Kanadier, russische Juden und andere mehr;
unter den landwirtschaftlichen Arbeitern befinden sich Jrländer, Skandinavier und
Deutsche. Diese verschiedenartigen Elemente in der Arbeiterschaft Nordamerikas
haben die dortige Arbeiterschaft vielfach, wenn nun auch nicht direkt bestimmt,
so doch ohne alle Frage sehr stark beeinflußt.
Um ihre Mitglieder bzw. ihre Organisationen selbst vor einer Überhand¬
nähme der verschiedenen Elemente, die der Auswanderungsstrom aus allen Teilen
der Erde den: nordamerikanischen Festlande alljährlich zuführt, wirksam zu
schützen, ist man bei einer ganzen Reihe von gewerkschaftlichen Ortsvereinen im
Laufe der Jahre dazu übergegangen, die Eintrittsgelder teilweise ganz beträchtlich
zu erhöhen. Zuerst erfolgte die Anwendung dieser Taktik in der Stadt New
Uork, wo die Masse der Einwanderer landet und zuerst wohl auch Beschäftigung
sucht. So betrug z. B. das Eintrittsgeld bei dem New Uorker Distriktsrat der
„Uniwä Krotnerliooä ol Larventers mia ^loinsis" (Zimmerer und
Tischler) von
Bei einigen Organisationen ist diese Aufnahmegebühr noch bedeutend höher.
So erhebt die „National Association ol macnine Printers ana Lolour-
mixers" (Tapetendrucker und Farbenmischer der Stadt New Uorl) 1910 eine
Aufnahmegebühr von 100 Dollars. In seinem Bericht zur internationalen
Gewerkschaftsbewegung des Jahres 1911 bemerkte Samuel Gompers, der Vor¬
sitzende der American leäeralion ok Uabor, u. a., daß das Jahr 19)1 als
ein epochemachendes bezeichnet werden kann, indem ein größerer Teil der großen
Armee des gewöhnlichen Volkes politisch und wirtschaftlich mehr in den Vorder¬
grund trat, wie dies je zuvor der Fall war. Samuel Gompers bemerkte:
„Wir haben heute einen Grad der Entwicklung erreicht, von dem wir nicht
sagen können, daß die Arbeiterschaft sich aufrafft, sondern sie hat sich schon auf¬
gerafft; nicht nur, daß die Dämmerung weicht, nein, das Morgengrauen ist eine
vollendete Tatsache. Die organisierten Arbeiter der ganzen Welt müssen sich
nur ihrer eigenen Macht, ihrer eigenen Kraft und reichen Hilfsquellen bewußt
werden, und sie müssen von dem Werte dieser Vorzüge genau so durchdrungen
sein, wie man das unter jenen Gliedern der Gesellschaft findet, die den Besitz und
die sogenannten .erworbenen Interessen' vertreten."
Die ersten Anfänge der australischen Arbeiterbewegung, welche mit der
englischen sehr stark verknüpft ist, reichen bis zum Jahre 1878 zurück, wo bereits
in Sydney der erste internationale Gracie Unions LonZress abgehalten wurde.
Im Gegensatz zur englischen und amerikanischen hat sich die australische Arbeiter¬
bewegung von jeher sehr stark politisch beteiligt. So befaßte sich z. B. schon
der Kongreß vom Jahre 1884 zu Melbourne neben gewerkschaftlichen Fragen
mit politischen Angelegenheiten, wie der Wahlrechtsreform, dem Verbot der Ein¬
wanderung von Chinesen, dem Verbot von der Errichtung von Sträflings¬
kolonien auf den australischen Inseln und anderem mehr. Die australischen
Gewerkschaften, welche größtenteils lokalen Charakter tragen, sind am besten im
Staat Neu-Südwales entwickelt. Die stärksten Organisationen hinsichtlich der
Mitgliederzahlen sind hier die „^ustralian WorKers Union" (Viehzüchter) mit
28 521 Mitgliedern im Jahre 1910. die „Kailwav ana 1'rarnxvav Service
^880Liati0n" (Eisenbahn- und Trambahnbedienstete) mit 8224 Mitgliedern im
Jahre 1910, die „I^ortnern Lollierv Lmplovers keäeration" (Bergarbeiter)
mit 7571 Mitgliedern im Jahre 1910 und die „l^eäerareä Learnens Union"
(Seeleute) mit 5332 Mitgliedern im Jahre 1910.
Analog der Entwicklung der australischen Arbeiterbewegung ist diejenige
Neu-Seelands gegangen. Die Zahl der teilweise sehr kleinen Gewerkschaften
stieg von 258 im Jahre 1903 auf 308 im Jahre 1910. Wenn man England
als das klassische Land der Arbeiterbewegung bezeichnet, so kann man ohne alle
Frage wohl Neu-Seeland das „Dorado" der Arbeiterbewegung nennen. Hier
besteht die denkbar weitestgehende Arbeiterschutzgesetzgebung. Für Unfälle im
Betriebe ist der Unternehmer unter allen Umständen haftbar. Der Lohn
eines Arbeiters darf nicht geschändet werden. Für Frauen gibt es keine
Überstundenarbeit und Kinder unter vierzehn Jahren dürfen nicht beschäftigt
werden.
Die deutschen Gewerkvereine, nach ihren Gründern (Dr. Max Hirsch und
Franz Duncker) auch Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine genannt, sind im Jahre
1368 nach dem Muster der englischen Iracle Union8 ins Leben gerufen worden.
Nachdem bereits am 28. September 1863 in Berlin vor dem Rosentaler Tore
im „Universum" die Gründungskommisston einen Aufruf erlassen hatte, entstand
zu Berlin am 15. November 1868 der erste Ortsverein der deutschen Maschinen¬
bauer mit 1700 Mitgliedern. Zentralistert sind die Deutschen Gewerkvereine
in dem am 18. Mai 1869 errichteten „Verband Deutscher Gewerkvereine".
Zu der reingewerkschaftlichen Gruppe kann man dann ferner die Mitglieder
des „Arbeiterverbandes" in Schweden, der „Liberalen Vereine" in Belgien,
der „Unterstützungsvereinigungen" der Niederlande, der „Eisenbahnvereinigmigen"
der Schweiz und die „Konservativen Vereine" in Japan hinzuzählen. (Die
Anfänge einer Arbeiterbewegung in Japan gehen bis zum Jahre 1886 zurück.
Die bedeutendste Gewerkschaft ist die Buchdrucker-Union in Tokio, nach deren
Beispiel die meisten anderen Organisationen errichtet wurden.)
Die sozialistische Gruppe ist am stärksten verbreitet in Deutschland,
Österreich-Ungarn, den Balkanstaaten, den nordischen Königreichen und der
Schweiz.
In Deutschland selbst ist die Entwicklung der freien Gewerkschaften analog
der Entwicklung der deutschen Gewerkvereine gegangen. Im Jahre 1865 wurde
die Zigarrenarbeiterorganisation (die älteste gewerkschaftliche Zentralorganisation
in Deutschland) gegründet, 1866 folgte der Verband der Deutschen Buchdrucker,
1869 der Verband der Handschuhmacher usw. Alle diese Vereinigungen, an¬
fänglich auf Grund Lassalleischer Ideen und Marxistischer Anschauungen ins
Leben gerufen (eine Einigung der beiden Richtungen erfolgte bekanntlich im
Jahre 1875 zu Gotha), hatten in der Praxis keine nennenswerten Erfolge zu
verzeichnen, denn zur Zeit ihrer Auflösung durch das Sozialistengesetz im
Jahre 1878 zählten sie in 29 Verbänden und 1300 Zweigvereinen nur 58000
Mitglieder.
Einen Aufschwung nahm? die Bewegung erst, als man dazu überging,
Fachvereine zu errichten, welche sich immer weiter ausdehnten, miteinander in
Verbindung traten und sich schließlich zu großen, ganz Deuschland um¬
fassenden Zenträlverbänden zusammenschlossen. Auch die Anstellung besoldeter
Beamten als Verbands- und Verbandsfilialenleiter (bisher wurden diese Ämter
nur ehrenamtlich von Mitgliedern ausgeübt), hat auf die Ausdehnung
der freien Gewerkschaften besonders günstig eingewirkt. Es hatten besoldete
Beamte:
Die im Punkte der Mitgliederzahl stärkste Zentralorganisation ist der im
Jahre 1892 zu Frankfurt a. M. gegründete „Deutsche Metallarbeiterverband",
dessen Mitgliederzahl seit seiner Begründung von 23215 auf 85014 im Jahre
1899 und 515145 im Jahre 1911 stieg. Eine weitere größere Zentralorgani-
sation ist der im Jahre 1891 zu Gotha gegründete „Zentralverband der Maurer
Deutschlands", dessen Mitgliederzahl seit seiner Begründung von 13 515 auf
60175 im Jahre 1898 und 295688 im Jahre 1911 stieg; ferner der 1893
gegründete „Deutsche Holzarbeiterverband", dessen Mitgliederzahl seit seiner Be¬
gründung von 23774 auf 70630 im Jahre 1900 und auf 182750 stieg usw.
Seit November 1890 besteht in der „Generalkommission der Gewerkschaften
Deutschlands" eine Zentralisation der freien Gewerkschaften in Deutschland.
Infolge des Mitgliederrückganges des Krisenjahres 1908, der starken In¬
anspruchnahme der Unterstützungseinrichtungen und last not least des immer
festeren Zusammenschlusses der Arbeitgeber ist man in neuester Zeit dazu über¬
gegangen, die bestehenden Zentralorganisationen zu großen Jndustrieverbänden
zu vereinigen. Schon im Jahre 1903 hatte bereits der Verband der Handschuh¬
macher seine Verschmelzung mit dem Lederarbeiterverband vollzogen. Im Jahre
1909 wurde ferner die Verschmelzung des Verbandes der Portefeuiller mit den:
Sattlerverband verwirklicht. Im Jahre 1910 erfolgte ferner der Zusammen¬
schluß der Verbände der Maurer, der Bauhilfsarbeiter und der Stukkateure zu
einer großen Einheitsorganisation, dem „Verband der Bauarbeiter Deutsch¬
lands", sowie der Verbände der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter,
der Hafenarbeiter und der Seeleute, zu dem „Deutschen Transportarbeiter
verband".
Während man in den Anfängen der freien Gewerkschaften in Deutschland
mit der Einführung der Unterstützungseinrichtungen die den Organisationen
fernstehenden Berufsangehörigen heranziehen wollte, geht man heute bei der
Machtentfaltung der Organisationen dazu über, die bestehenden Unterstützungs¬
einrichtungen im Interesse der Kampfeseinrichtungen zu beschneiden. In einigen
Ländern hat man hier schon vom Anfang an vorgebeugt. So haben z. B. die
internationalen Arbeiterorganisationen Österreichs nur ganz minimale Einrichtungen
für reine Unterstützungszwecke ihrer Mitglieder, dagegen gut aufgebaute Ein¬
richtungen für reine Kampfeszwecke. Wir sprechen davon im nächsten Heft.
Am Donnerstag, den 11. Juli, gegen Mittag wurde die Fahrt wieder
angetreten. Sie ging zunächst nach Wiederaustritt aus dem Lärdalsfjord in den
berühmten Lysterfjord hinein bis Marifjären, wo das Jostedal mündet, eines
jener Täter, welche ihren Ursprung in dem Massiv des firnbedeckten Jostcdalsbrä
haben.
Nachdem Se. Majestät das herrliche Schauspiel der hier im Hintergrunde
hervorragenden gewaltigen Firnselder lange betrachtet, ging die Fahrt wieder
hinaus aus dem Lnsterfjord, da die kolossale Tiefe des Fjords einen Ankerplatz
nicht gewährte, und in zweimaliger scharfer Rechtsdrehung in den berühmten
Fjärnlandsfjord hinein, wo sich neue Überraschungen dem Blicke boten.
Man erblickt hier von: Wasserspiegel aus die weiten steilen Flächen zweier
größerer Gletscher, wie sie das gewaltige Firnfeld von Jostedalbrä sowohl in
das Gebiet des Sognefjord, zu dem der Fjärlandsfjord gehört, wie in das Gebiet
des Nordfjord aussendet.
Das Jostedalsbrä wird häufig als größter Gletscher der Welt bezeichnet.
Dies ist ungenau. Es handelt sich hier nämlich um ein firnbedecktes Gebirgs-
massiv, von dem sich in zahlreichen steilen Schluchten die Gletscher abwärts
ziehen; daher auch die starke Zerklüftung dieser Gletscher. Wenn man einen
Vergleich mit der Schweiz hier anstellen will, so gleichen die Jostedalgletscher
am meisten dem Rhonegletscher; nur sind sie viel steiler als dieser. Gegen
Abend wurde am Fjärlandsfjord das Dorf Mundal erreicht, vor dem die Nacht
und den nächsten Tag geankert wurde. Das ganze „Dorf" besteht übrigens
aus ganz wenigen zusammenliegenden Häusern, um die weit zerstreut einzelne
Gehöfte herliegen. Dies gilt von fast allen norwegischen Dörfern, unter denen
man sich nicht Dörfer in unserem Sinne, sondern Gruppen von Gehöften vor¬
zustellen hat. Bei der Mittagstafel brachte Se. Majestät das Wohl Allerhöchst-
ihrer Schwägerin, der Prinzessin Irene von Preußen, Gemahlin des Prinzen
Heinrich, aus, deren Geburtstag der 11. Juli ist. Zu Ehren des Tages waren
auch Toppslaggen gesetzt worden. Am nächsten Morgen, den 12. Juli, wurde
eine Partie nach demi „Suphelle", einem der Jostedalgletscher, unternommen.
Der Weg führt vom Ende des Fjärlandfjords ganz eben durch ein ziemlich
breites, wohlangebautes Tal, in dem einige Gehöfte mit freundlichen Häusern
liegen. Der Weg steigt kaum merklich an und führt in etwa fünfviertel Stunden
an die Moräne, welche der an der linken Talseite befindliche Suphelgletscher
quer über das Tal geschoben hat. Man denke sich zwischen zwei hohen Felsen¬
bergen eine riesige, steil, oft fast senkrecht abfallende Schnee- und Eiswand,
deren ausgezackter Firn 5000 Fuß hoch ist. Die Eis- und Schneemasse, weiß
leuchtend, ist in der Mitte zerteilt durch einen zuckerhutartig aufgerichteten Felsen.
schroff abfallend läuft die Wand auf der Talsohle in die schwarzgraue Moräne
aus. Aus einem gewaltigen Eistor in dieser letzteren stürzt der reißende
Gletscherbach hervor, fortwährend abfallende Eisblöcke mit sich führend. Auf
dem Gletscher selbst erblickt man verschiedene Gießbäche. Wegen des steilen
Abfalls des Gletschers sind hier die Lawinen besonders häufig. Von einem
größeren Niedersturz am Tage vorher sah man noch die frischen Schneemassen
auf dem Eise liegen, und kaum war Se. Majestät vor dem Gletscher an¬
gekommen, als mit donnerähnlichem Getöse eine Lawine niederging, der bald
zwei weitere folgten. Später gingen dann noch zwei Lawinen nieder. Diese
großartige Vereinigung von Schnee. Eis und Wasser macht einen überwältigenden
Eindruck.
Am meisten wird man noch an die Wengeralp und die Jungfrau er¬
innert. Doch hat man hier in Norwegen alles viel näher vor sich: man geht
fast eben bis dicht an die Moräne heran, die bis auf eine Höhe von 47 Meter
über dem Meeresspiegel in das Tal herabreicht, und man übersieht mit einem
Blick den 5000 Fuß hohen Gletscher.
Der Kaiser, der wie zu allen solchen Ausflügen seinen grauen Touristen¬
anzug trug, saß auf einem Steinblock gerade dem Gletscher gegenüber und be¬
wunderte lange Zeit stumm dieses herrliche Naturschauspiel.
Nach etwa einer Stunde nahmen dann Se. Majestät mit ihren Begleitern
das Frühstück, bestehend in harten Eiern, Schinken, kaltem Fleisch und Käse,
auf den moosbedeckten Steinen lagernd, angesichts des Gletschers ein.
Nach dem Frühstück wurde die Rückkehr angetreten; Se. Majestät benutzten
dazu, ebenso wie zum Hinwege, Ihr norwegisches Karriol, das bis dicht an den
Gletscher herangebracht werden konnte.
Um fünf Uhr verließ die „Hohenzollern" Mundal, um sich nach Motte zu
begeben. Das Wetter war prachtvoll und die immer Heller werdenden Nächte
geben der Reise immer mehr den Charakter einer Nordlandsreise.
Die Fahrt ging teilweise durch flache Scharen, die ganz eigentümliche
Steinformationen und Jnselbildungen aufweisen. Am frühen Morgen wurde
unter leichtem Stampfen des Dampfers das wegen seiner Dünung berüchtigte
Kap Nattland umschifft und um 11 Uhr vormittags, Samstag, den 13. Juli,
Motte erreicht. Inzwischen hatte sich am Ausgang des Sognefjord der „Greif"
mit der Post von Bergen eingestellt.
Hier ist die Gegend freundlich und lieblich, grün bewachsene, sanft auf¬
steigende Berge umgeben den Ort, aus dem zwei große hellangestrichene Gasthöfe
hervorragen. Wegen seines milden Klimas, seines überraschenden Baumwuchses
und seines üppigen Blumenflors wird Motte von Schwärmern das „nordische
Nizza" genannt.
Se. Majestät hatten den Kommandanten des „Greif" zum Frühstück ge¬
laden. Derselbe brachte Sr. Majestät den Dank des Admirals Baird, welcher
das vor Bergen ankernde englische Geschwader befehligt, sür die Grüße und
Aufträge, welche Se. Majestät an den Admiral durch den Kommandanten des
„Greif" gesandt hatte. Auch wußte letzterer, Korvettenkapitän Flichtenhöfer,
nicht genug von der Liebenswürdigkeit des Admirals sowie seiner Offiziers zu
berichten, welche bei einem großen Ballfest auf dem Flaggschiff begriffen, um¬
gehend ihre deutschen Kameraden vom „Greif" zu demselben luden. Selbst¬
verständlich wurde die Einladung mit herzlichem Dank befolgt und haben die
Herren bis weit in den nächsten Morgen hinein Gelegenheit gehabt, mit schönen
Bewohnerinnen der englischen Jachten sowie mit den Schönen Bergens sich dem
Tanze hinzugeben.
Da um 5 Uhr ein Kurier erwartet wurde, der sofort wieder nach Berlin
zurückkehren sollte, begab sich der Kaiser nicht an Land, verbrachte vielmehr den
Tag schreibend und arbeitend an Bord der „Hohenzollern", die wie gewöhnlich
von zahlreichen Booten mit grüßenden und winkenden Insassen beiderlei Ge¬
schlechts umschwärmt wurde.
Nachdem um 5 Uhr der Feldjägerleutnant Barth sich bei Sr. Majestät an
Bord gemeldet hatte und die abgehende und ankommende Post ausgetauscht
war, trat die „Hohenzollern", zunächst eine Zeitlang die offene See haltend und
Christiansund rechts liegen lassend, die Fahrt direkt nach Drontheim an, wo sie
am nächsten Morgen um 5 Uhr eintraf. „Trondhem", wie es norwegisch
heißt, macht zunächst einen etwas nüchternen Eindruck mit seinen zahlreichen,
auf dem flachen Ufer liegenden Lagerhäusern. Beicht wird das Bild durch eine
alte auf einem Hügel liegende Batterie mit einem großen viereckigen Wachtturm,
Feste Christianstein, und das aus einem einsamen Meeresfelsen liegende For
Munkholm, das jetzt als Zuchthaus dient. Es war Sonntag, den 14. Juli,
und Se. Majestät hielt in der gleichen Weise wie am vorhergehenden Sonntag
den Gottesdienst persönlich ab. Vorher hatte Se. Majestät die Musterung der
Mannschaft der „Hohenzollern" persönlich abgenommen. Bei diesem Anlaß sei
bemerkt, daß Se. Majestät sich überhaupt aufs eingehendste sür den Dienst an
Bord interessiert. So besichtigte er während der Reise sämtliche Räume und
nahm die vielfachen seit dem vorigen Jahre auf der „Hohenzollern" angebrachten
Verbesserungen in Augenschein, zu deren wesentlichsten die Einführung der ciel-
irischen Beleuchtung für sämtliche Schiffsräume gehört. Täglich läßt sich Se.
Majestät eine Probe des für die Mannschaft bereiteten Essens bringen und ver¬
sucht dasselbe. Einen Tag ließ Se. Majestät Spritzenprobe abhalten, einen
anderen Klarschiff schlagen.
Se. Majestät blieben auch in Drontheim den Tag über an Bord, mit
Erledigung der Ihm von den Vertretern der einzelnen Ressorts vorgetragenen
Sachen beschäftigt. Zur Mittagstafel war der kaiserliche Konsul Herr Jenssen
zugezogen und zur Abendtafel der Leutnant zur See von Holleben, sowie die
Herren vom „Greif". Bei Tisch erhob sich der General der Kavallerie Graf
Waldersee, um unter Aufzählung der vielen in den Monat Juli fallenden hohen
Geburtstage und für die Hohenzollern ruhmreichen geschichtlichen Ereignisse,
das Wohl Sr. königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert auszubringen. Der
Graf bezeichnete es als ein glückliches Omen, daß der erlauchte Vater des
Geburtstagskindes sich an diesem Tage gerade auf dem Elemente befinde, auf
dem der junge Prinz einst die Hohenzollernflagge hochzuhalten berufen ist. Aus
Anlaß des Festes war über die Topper geflaggt.
Um 7 Uhr abends begaben sich Se. Majestät an Land, um den Dom
von Drontheim zu besichtigen, da es ja um 7 Uhr natürlich noch absolut Heller
Tag ist. Der Dom ist ein uralter Bau, der größtenteils abgebrannt, jetzt nach
dem alten Muster neu aufgebaut wird. Die nahezu fertige eine Hälfte des
Schiffs macht einen großartigen Eindruck und manches schöne Stück der alten
Bildhauerkunst ist, aus den Trümmern gerettet, am Neubau wieder angebracht.
Nach der Dombesichtigung wurde noch eine kurze Fahrt durch die hinter
Drontheim liegende Gegend unternommen, ein im fernen Hintergrund von
höheren Bergen eingefaßtes, hügeliges Alluvialland, das ein herrliches Bild
üppiger Natur und sorgfältiger Bebauung bietet.
Der Kaiser begab sich dann noch nebst Gefolge auf eine Stunde zum
deutschen Konsul, der mit seiner Gattin, einer Mecklenburgerin, und seiner zahl¬
reichen Kinderschar ein hübsches Landhaus in echt norwegischen Stil mit hübscher
und origineller Einrichtung bewohnt.
Nachdem Se. Majestät eine Tasse Tee genommen, kehrte der Monarch
gegen 11 Uhr abends bei vollkommener Helligkeit an Bord seiner Jacht zurück.
Am 15. Juli traf früh abermals ein Kurier aus Berlin ein. Derselbe
brachte eine größere Sendung für Se. Majestät mit, und die Erledigung des¬
selben erforderte viel Arbeit, da der Kurier abends wieder nach Berlin zurück¬
kehren mußte und für die nächsten Tage die kaiserliche Jacht auf telegraphische
Verbindung mit der Heimat beschränkt war. Se. Majestät verließ deshalb das
Schiff bis zur Abreise um 1 Uhr 15 Minuten nicht mehr. Kurz vor der Ab-
reise erschien noch der Konsul, um sich zu verabschieden, und Se. Majestät
übergab demselben 1000 Kronen als Beitrag für den Ausbau des Drontheimer
Domes. Die Fahrt ging nun in schnellem Tempo nordwärts, da Se. Majestät
die Absicht hatte, das Nordkap mit möglichst wenig Zeitverlust zu erreichen.
Gegen Abend kam ein norwegischer Dampfer in Sicht, welcher, als er auf die
Höhe der „Hohenzollern" gekommen war, die Fahrt unterbrach und dessen
Passagiere Se. Majestät mit lautem Hurrah. an dem man die Deutschen er¬
kannte, vermischt mit einigen Hip Hip Hurrah! der Engländer begrüßten. In
der Nacht vom 15. zum 16. wurde die Felseninsel Torgen passiert, berühmt
durch den großen natürlichen Tunnel, der den Felsen in einer Höhe von
250 Meter horizontal durchschneidet.
Am 16. früh befand sich Se. Majestät schon zu früher Morgenstunde
auf Deck, um die immer herrlicher werdende Aussicht zu genießen. Zunächst
hatte man den Rückblick auf die in der Nacht passierte Felsinsel Suve Söstre
(Sieben Schwestern). Später erschienen dann weit ins Meer hinausgeschoben
die steilen Felsen Trä stapelte, eine schroffe und öde Klippe, die wild aus dem
Meer emporsteigt. Während Se. Majestät die Aussicht betrachtete, beschäftigte
sich Allerhöchstderselbe dazwischen mit Lektüre der am Tage vorher eingegangenen
amtlichen Schriftstücke und Zeitungen. Um 10 Uhr 30 Minuten (Berliner
Zeit) wurde der nördliche Polarkreis überschritten, und zwar nahezu auf dem
Berliner Meridian. Das Wetter war schön und die Temperatur noch immer 14,5
Grad Reaumur. Links ragte die schön geformte Felseninsel Höstmansö (Reiterinsel)
aus der glatten Meeresfläche hervor, dann erschien gegen 11 Uhr Rödö (Rot¬
insel), die ihren Namen ihrem rötlichen Gestein verdankt und ihrer eigentüm¬
lichen Form wegen den Namen des „Norwegischen Löwen" führt. In einer
Entfernung von 118 Seemeilen wurde sodann die Inselgruppe der Lofoten
sichtbar und die zahlreichen Schneespitzen derselben boten einen neuen und
durchaus überraschenden Anblick. Dank der schnellen Fahrt der kaiserlichen
Jacht trat niemals das Gefühl der Eintönigkeit ein, das sonst manchmal den
Nordlandsreisenden, der auf dem langsamen Passagierdampfer fährt und an
allen möglichen Punkten anhält, überkommt. Es wurde nun in raschem Tempo
Bodo, die Hauptstadt der Provinz Nordland, erreicht, die auf einer vorgeschobenen
Landzunge zwischen dem Westfjord und dem Saltenfjord mit ihren freundlichen
norwegischen Häusern sich erhebt. In mindestens hundert Kähnen umkreiste die
Bevölkerung die kaiserliche Jacht und über der Stadt wehten zahlreiche Flaggen.
Auch Dampfboote fuhren mitten durch die Ruderkähne, und besonders auffallend
war die Gewandtheit und Sicherheit, mit der die größeren Segelboote durch
die Keinen Ruderboote hindurchfegten, ohne irgendwie Schaden anzurichten.
Der deutsche Vizekonsul Jentoft erschien an Bord und hatte die Ehre, sich bei
Sr. Majestät persönlich zu melden. Nach einer Stunde Aufenthalt, während
welcher Telegramme entgegengenommen und aufgegeben wurden, wurde die
Reise fortgesetzt; die Lofoten, welche eine Zeitlang durch andere Inseln verdeckt
gewesen waren, rückten immer näher, während auf der andern Seite der Blick
durch eine Kette unzähliger Felszacken begrenzt wurde. Das bis dahin herrliche
Wetter fing an, allmählich sich zu trüben; während schon morgens in den Lofoten
dichter Nebel sichtbar war, der auf den Bergen lagernd von ferne wie Gletscher
aussah und später gleich flockigen Wolken an den Bergzacken hing, trübte sich
nun auch der Himmel über dem Schiff und ließ ein dauernd schlechtes Wetter
befürchten. Ab und zu jedoch kamen wieder helle Sonnenblicke durch, und so
wurde auch, wenn auch nur auf kurze Zeit, die berühmte Gruppe des höchsten
Berges in Nordland, des Sulitjelma, der auf der Grenze zwischen Norwegen
und Schweden liegt, unverschleiert sichtbar. Es war überhaupt ein seltenes
Glück, das den Kaiser auf seiner Fahrt begleitete, daß alles, was überhaupt
zu sehen war, auch wirklich sichtbar war und daß keinerlei geplanter Ausflug
des schlechten Wetters wegen unterlassen werden mußte. In der sehr raschen
Fahrt von 13 Knoten ging es nun durch den Westfjord, von dem aus ein
enger Sund nordwärts in das Atlantische Meer führt. Um 10 Uhr 25 Minuten
abends begegnete die Jacht dem großen Nordkapdampfer „Sirius", der reich
geflaggt hatte. Da die Temperatur auf 9 Grad Reaumur gesunken war, so wurde
zum Abend das erste Mal Polarpunsch gereicht. Der erwähnte, nach dem
Atlantischen Meere führende Sund wurde in der Nacht zwischen 12 und 1 Uhr
passiert.
Um 8 Uhr 30 Minuten morgens (am 17. Juli) fuhr die „Hohenzollern"
durch den Malangerfjord, an dessen Ufern die Berge nach unten zu wieder
reichere Bewaldung zeigen. Gegen 10 Uhr wurde Tromsö erreicht; dasselbe
liegt, wie schon sein Name andeutet, auf einer Insel, die aus einem niedrigen
Gebirgsrücken besteht, an dessen östlichem AbHange die Stadt sich aufbaut. Die
Vegetation ist hier sehr üppig; man sieht viele Bäume, zahlreiche kleine Ge¬
hölze, dazwischen Wiesen mit saftigem Grün und eine Menge zerstreuter und
recht hübsch gebauter Villen. Nach kaum einstündigem Aufenthalt ging
die Fahrt weiter; zum ersten Male stellte sich etwas Regen ein, dazwischen
heiterten noch immer einige Sonneneffekte das landschaftliche Bild auf und
das Wetter konnte daher für die dortige Gegend immer noch als verhältnis¬
mäßig recht gut bezeichnet werden. Um 1 Uhr wurde der Eingang zum
Lyngenfjord passiert, der einem späteren Besuch vorbehalten war, und die Fahrt
ging dann durch den Kaagsund. Wilde Berge mit zahlreichen Schneeflächen,
großen und kleinen Gletschern, unten von saftigem Wiesengrün bekränzt,
wechselten mit glatten Felswänden, und in tiefen Rinnen tritt hier der Schnee
oft auf wenige Meter an das Wasser heran. Ausblicke auf das offene Meer
wechseln mit der eigentlichen Schärengegend, in der das Auge rings auf den
größeren und kleineren Inseln ruht, die wie riesige ins Wasser geworfene, teils
mehr, teils weniger hervorragende Steine aussehen. Die Vegetation wurde
immer spärlicher, und ein einzelnes zweistöckiges weißes Haus, das sichtbar
wurde, fiel als etwas Außergewöhnliches ins Auge; die offene See war noch
immer spiegelglatt, und dafür, daß das Wetter noch immer verhältnismäßig
gut war, spricht am besten, daß es möglich war, zahlreiche photographische Auf¬
nahmen der Gegend zu machen. Gegen Abend tauchte die Insel, welche dem
Hafen von Hammerfest vorliegt, auf, und um 8 Uhr wurde vor Hammerfest
'
Anker geworfen. Auch hier waren wieder zahlreiche Einwohner insbesondere
auf der hinter der Stadt sich erhebenden Höhe sichtbar, welche mit Interesse
das Kaiserschiff betrachteten. Nach einstündigem Aufenthalt wurde die Fahrt
nach dem Endziel der Reise, dem Nordkap, angetreten. In fünf Stunden
waren die sechzig Seemeilen, welche Hammerfest vom Nordkap trennen, von
der kaiserlichen Jacht zurückgelegt.
Zwischen 2 und 3 Uhr morgens (18. Juli) erschien der Kaiser mit den
Herren des Gefolges an Bord, um den felsigen Abfall der Insel Magger Oe
zu betrachten. Die ganze nördliche Seite dieser Insel bildet eine Reihe von
fast senkrecht in das Meer abfallenden, nasenähnlich vorspringenden Felswänden
von etwa tausend Fuß Höhe. Einer dieser Felsen ist das Nordkap. Schon
seit einiger Zeit hatte bedenkliches Stampfen des Schiffes das Einsetzen einer
starken Dünung angekündigt und das Schiff fuhr ziemlich stark schwankend in
einer Entfernung von etwa zwei Seemeilen am Nordkap vorüber. Unterdessen
hatte aber der scharfe Ostwind die Wolken zerstreut. Das Wetter fing an sich
aufzuklären und der Kaiser konnte an Bord sich voll dem herrlichen Anblick des
wilden Felsgestades hingeben. Die Temperatur war inzwischen auf 5 Grad
Reaumur gefallen. Dicht über dem Nordkap wendete die „Hohenzollern", fuhr
eine kurze Strecke hinaus in das Polarmeer und richtete dann den Kurs heim¬
wärts. Nach etwa einer Stunde Fahrt ließ die Dünung nach, die See staute
ab und Se. Majestät begab sich nochmals zur Ruhe. Als der Kaiser um
10 Uhr wieder an Deck erschien, beleuchtete Heller Sonnenschein die ferne Kette
der Berge. Hammerfest lag bereits hinter dem Schiff und die Fahrt ging
längere Zeit wieder zurück durch die schon von der Hinreise bekannte Gegend.
Während bis dahin auf Anordnung Sr. Majestät während der Reise ver¬
schiedene Exerzitien an Bord der „Hohenzollern" stattgefunden hatten, ließ dies¬
mal Se. Majestät einige Manöver durch den „Greif" ausführen und letzteren
auch im Feuer exerzieren. Se. Majestät folgte mit gespannter Aufmerksamkeit
vom Heat der „Hohenzollern" aus den eleganten und schnellen Evolutionen des
schlanken Avisos.
Um 2 Uhr fuhr die Jacht in den Lyngenfjord. In schneller Folge
wechselten rechts und links alpine Bilder von überraschender Schönheit und
zahlreiche Gletscher strebten dem Meere zu. So ging die Fahrt bis Lungen
Eide, wo gewendet wurde, um gegen 7 Uhr bei Karlsö am Ausgang des den
Lyngenfjord benachbarten Ulfsfjord gerade auf dem 70. Breitengrade vor Anker
zu gehen. Unmittelbar nach Ankunft vor Karlsö begab sich Se. Majestät an
Land und unternahm einen Spaziergang nach der Anhöhe Hvidten, die nach
etwa einstündigem Marsch erreicht wurde. Der Weg führte zunächst über Moor¬
grund und nasse Wiesen, dann über rollendes Gestein bis auf das felsige
Plateau. Von hier aus hat man eine wunderbare Rundsicht auf hohe Schnee¬
berge, die Ausgänge der beiden Fjords und im Hintergrunde das offene Meer.
Das Panorama läßt sich da am besten noch mit demjenigen des Rigi vergleichen.
Zur Erinnerung an die Besteigung der Hvidten-Höhe wurde ein Steinmann
errichtet; einzelne besonders interessante Steine wurden gesammelt und mit-
genommen, um später als Andenken an die Reise im Muschelsaale des Neuen
Palais in Potsdam aufbewahrt zu werden. Auch ein größerer Strauß von
der reichen nordischen Flora, welche die Abhänge der Anhöhen bedeckte, wurde
mitgenommen, um, von der sachverständigen Hand des Dr. Güßfeldt gepreßt,
später Ihrer Majestät der Kaiserin übersandt zu werden. Um 10 Uhr abends
begab sich Se. Majestät an Bord des Aviso „Greif", um auf diesem gegen
das offene Meer hinauszufahren und von da aus das prachtvolle Schauspiel
der Mitternachtssonne zu genießen. Das Wetter war wundervoll klar und die
Sonne um Mitternacht, scheinbar noch hoch über dem Horizont stehend, sichtbar.
Auf dem Rückwege nach der „Hohenzollern" ließ Se. Majestät noch auf dem
„Greif" „Klar Schiff" schlagen und mit den Geschützen und Nevolverkanonen
feuern. Dabei fuhr der „Greif" an dem norwegischen Dampfer „Capella"
vorbei, dessen Passagiere sich gleichfalls an dem Anblicke der Mitternachtssonne
erfreut hatten. Als der „Greif" dann im Verlaufe des Manövers in einem
Bogen um die „Capella" herumfuhr, salutierte diese, senkte wiederholt grüßend
die Flagge und gab aus ihren kleinen Geschützen Freudenschüsse ab, während
die Passagiere in nicht endenwollende Hurrahrufe ausbrachen. Kurz nach
1 Uhr war Se. Majestät wieder an Bord der Hohenzollern.
Am nächsten Morgen (19. Juli) ging die Fahrt zurück nach Tromsö.
Während der Fahrt wurden vielfach Tümmler, die hoch aus dem Wasser
sprangen, sichtbar, und auf den schneebedeckten Abhängen der Berge zeigten sich
große Herden von Renntieren. Gegen 1 Uhr wurde Tromsö erreicht, welches
im hellen Sonnenschein da lag. Ein Teil des Gefolges besuchte das in der
Nähe befindliche Lappenlager, das aber lebhaft an den Zoologischen Garten
oder die Hasenheide erinnern soll. Se. Majestät war an Bord geblieben,
um Briefe für den am nächsten Tage erwarteten Kurier zu schreiben. Abends
umkreisten wieder zahlreiche Boote die „Hohenzollern", darunter auch eins mit
Lappen, und bis 3 Uhr morgens blieben die Neugierigen in ihren Booten vor
der Jacht gelagert.
An: nächsten Morgen, den 20. Juli, machte Se. Majestät nur in Be¬
gleitung des Generals der Kavallerie Grafen Waldersee unerkannt einen kurzen
Ausflug an Land, um von der hinter Tromsö sich erhebenden Anhöhe die
Rundsicht zu genießen. Gegen Mittag wurde die Fahrt nach den eigentlichen
Lofoten angetreten; der Kurs führte an der Insel Bjärkö vorbei, um die Nord¬
spitze von Amts herum durch den Raftsund, welcher die eigentlichen Lofoten
von den Vesteraalen trennt. Gegen 11 Uhr abends fuhr die Jacht in den
wild-romantischen engen Sund ein, welcher Rjärko und Hels trennt. Hels ist
bekannt durch die Tausende von Möwen, die dort in den zerklüfteten Felsen
nisten und die auch durch den Ton des Nebelhorns und blinder Schüsse nur
teilweise aufgeschreckt wurden. Um V2I2 Uhr nachts schoß Se. Majestät zwei
Möwen mit der Büchse. Die Mitternachtssonne, die in der vorhergehenden
Nacht durch die Anhöhe hinter Tromsö verdeckt war, bot diese Nacht ein pracht¬
volles Schauspiel; die Felsen und Schneefelder lagen blutrot beleuchtet und
boten einen dem Alpenglühen ähnlichen Anblick dar. Es wurde dann die Fahrt
um Amts durch die Lofoten fortgesetzt.
Am nächsten Morgen, Sonntag, den 21. Juli, hielt Se. Majestät wiederum
Gottesdienst ab, nach demselben brachte der „Greif" die Post, und die Zeit
bis zu der um 12 Uhr erfolgenden Ankunft in Diggermulen ebenso wie ein
Teil des Nachmittags war der Erledigung von Regierungsgeschäften gewidmet.
Am späteren Nachmittag unternahm Se. Majestät nebst Gefolge einen Ausflug
auf die bei Diggermulen aufsteigende Anhöhe, von welcher das Berliner Nord¬
landspanorama größtenteils aufgenommen worden ist. Der steile, etwa
450 Meter hohe, felsige Berg wurde in siebenviertelstündigem, zum Teil an¬
gestrengten Steigen erreicht. Zum Andenken der Anwesenheit des hohen Reisenden
wurde auch hier ein Steinmann errichtet, unter dem eine Flasche mit den Namen
der anwesenden Personen vergraben wurde. Als abends die „Hohenzollern"
Diggermulen, verließ, wurde von unter der Steinmann sichtbar. Beim Ab¬
stieg von dem Berge begegnete die Reisegesellschaft dem Düsseldorfer Maler
Schweizer, welcher seit längerer Zeit auf diesem verlassenen Flecken Erde weilte,
um sich künstlerischen Studien hinzugeben. Derselbe klagte seinem Kollegen
Salzmann sein Leid, daß er sich seit Wochen von nichts als schlechtem Brot
und Hafergrütze nährte; Se. Majestät, dem dies gemeldet wurde, befahl sofort,
den Künstler von den an Bord befindlichen Konserven für die Dauer seines
noch etwa auf vier Wochen projektierten Aufenthalts sowie mit 25 Flaschen
Wein zu versehen. Trotz der anstrengenden Partie arbeitete Se. Majestät noch
abends nach der etwa um 7 Uhr erfolgten Rückkehr an Erledigung des Kuriers,
der am nächsten Tage abgehen sollte. Um 10 Uhr gab Se. Majestät Befehl
zur Weiterfahrt.
Die Fahrt ging südwärts durch den Westfjord und am frühen Morgen
des 22. (Montag) wurde Bodo erreicht, wo ein Austausch der angekommenen
und abgehenden Telegramme stattfand. Hier mag ein Wort zum Lobe der
norwegischen Telegraphenbeamten Platz finden. Schweden und Norwegen sind
bekannt durch die Ausdehnung, welche der Telegraphen- und Telephondienst
dort gefunden hat. Obgleich nicht immer die Stunde genau vorauszubestimmen
war, zu der die „Hohenzollern" an den einzelnen Stationen anlegen würde,
fanden sich stets die oft noch nach anderen Stationen dirigierten Depeschen
rechtzeitig an Bord ein, und auch in den kleinsten Orten waren dank dem
liebenswürdigen Entgegenkommen der norwegischen Regierung im Interesse des
kaiserlichen Dienstes die Bureaus auch nachts bei Ankunft der kaiserlichen Jacht
geöffnet. Um ^11 Uhr morgens verließ die „Hohenzollern" Bodo wieder,
umschiffte gegen 2 Uhr das weithin sichtbare Kummer-Vorgebirge und fuhr gegen
4 Uhr durch den Skarsfjord in den Holandsfjord, wo zwei bedeutende Gletscher
vom hohen Firnrücken des Svatisen sich bis weit gegen die Meeresfläche hinab¬
ziehen. Am Ende des Fjords hielt die „Hohenzollern" und Se. Majestät be-
gab sich mit der Reisegesellschaft an Land, um in nicht ganz 15 Minuten
Weges, der durch ebene und mit reicher Vegetation bedeckte Wiesen führte, an
die Moräne des größeren der beiden Gletscher zu gelangen. In langen Zacken
und tiefen Spalten schickt hier der Gletscher seine äußersten Ausläufer vor sich
her und der Blick schweift hinauf über eines der größten Schnee- und Eismeere,
die überhaupt existieren. Nach etwa einstündiger Abwesenheit kehrte Se. Majestät
an Bord zurück. Die Fahrt ging nun zurück nach Bergen, an den schon von
der Hinfahrt bekannten Inseln Rödö und Hestmansö vorbei über den Polarkreis,
der nachts ^12 Uhr bei 14 Grad Reaumur passiert wurde.
Am nächsten Tage brachte der „Greif" nachmittags 3 Uhr abermals die
Post aus Drontheim, die diesmal wegen der langsamen Verbindung zwischen
Drontheim und Bodo besonders viel Neues und viel Arbeit brachte. Hier
las man an Bord zum erstenmal die anscheinend aus einem norwegischen
Lokalblatte auch in die deutschen Zeitungen übergegangene Nachricht von dem
„Auffahren" der „Hohenzollern" bei Eide. Der Artikel wurde zur allgemeinen
Heiterkeit bei Tische vorgelesen. Abends 8 Uhr wurde ein kurzer Halt behufs
Austausch von Telegrammen in Christiansund gemacht, das aus drei Inseln
aufgebaut ein Bild von eigentümlichem Reiz gewährt. Hier fielen wiederum
ebenso wie in Stavanger die vielen hübschen Mädchen auf, welche sich in den
zahlreichen Booten befanden, von denen die „Hohenzollern" umkreist wurde.
Auch ein kleiner, über und über voller Dampfer befand sich in der Nähe der
kaiserlichen Jacht.
Den Vormittag des 24. brachte Se. Majestät mit Arbeiten zu. Behufs
Entgegennahme der allein 3^/-, Stunden in Anspruch nehmenden Vorträge
wurde das zweite Frühstück auf eine spätere Stunde verlegt. Um 5 Uhr fuhr
die Jacht bei leichtem Regen in Bergen ein. Se. Majestät begab sich den
Abend nicht mehr an Land. Wegen der späteren Stunde des zweiten Früh¬
stücks wurde die sonst um 6 Uhr abgehaltene Abendtafel erst um 9 Uhr ein¬
genommen. Se. Majestät brachte Allerhöchstselbst das Wohl der Erbprinzessin
von Meiningen aus, deren Geburtstag auf diesen Tag fiel.
Am nächsten Tage, den 25., unternahm Se. Majestät am Nachmittag
einen längeren Ausflug an Land. Zunächst wurde zu Fuß eine kleine Anhöhe
bestiegen, dann fuhr Se. Majestät durch die Stadt nach einem herrlichen Aus¬
sichtspunkt und nahm bei dem deutschen Konsul Mohr, einem der größten Ge¬
treidehändler Norwegens, in dessen geschmackvoll eingerichteter und prachtvoll
gelegener Villa eine Tasse Tee. Nachdem Se. Majestät etwa eine Stunde da«
selbst verweilt, wurde die Rückkehr durch die Villenvorstadt um Bergen herum
zu Wagen angetreten. Da Se. Majestät nur mit zwei Herren des Gefolges
fuhr und kein weiterer Wagen folgte, so wurde Allerhöchstderselbe auf der Hin-
nnd Rückfahrt nur wenig erkannt, und zwar meist erst, nachdem Allerhöchst-
derselbe bereits vorbeigefahren war. Als die „Hohenzollern" am späten Abend
Bergen verließ, waren noch unzählige Kähne versammelt, welche das Abfahren
des Schiffes mit immer neuen Hurrahs begleiteten, während am Lande Feuer¬
werk abgebrannt wurde.
Am 26. und 27. ging die Fahrt direkt nach Wilhelmshaven. Die ziemlich
bewegte See tat jedoch der Heiterkeit an Bord keinen Eintrag, zumal da kein
Regen eintrat und somit das Wetter den beständigen Aufenthalt auf Deck
gestattete. Am Morgen des 27. kam gegen 10 Uhr das Salut feuernde Ge¬
schwader in Sicht, welches Se. Majestät nach London zu begleiten bestimmt
ist und auf der Reede von Wilhelmshaven lag. Das Geschwader lag in
doppelter Kiellinie und Se. Majestät fuhr zunächst in der Mitte zwischen den
beiden Schiffsreihen hindurch und hierauf an den beiden Außenseiten der Auf¬
stellung entlang. Gegen Mittag legte die „Hohenzollern" bei dem Arsenal
von Wilhelmshaven fest an. Se. Majestät vereinigte noch einmal diejenigen
Herren, die ihn auf der Nordlandsreise hatten begleiten dürfen, zum Frühstück
um sich, an dem auch Se. Königliche Hoheit der Prinz Heinrich nebst seinein
Adjutanten Herrn von Usedom sowie der Vize-Admiral Paschen, Stationskom¬
mandant von Wilhelmshaven. teilnahmen. Im Namen des Gefolges dankte
Graf Waldersee Sr. Majestät in warmen Worten für die Reise und beglück¬
wünschte Se. Majestät zu dem befriedigenden Verlauf derselben und zu den
günstigen Folgen, welche dieselbe auf die Allerhöchste Gesundheit ausgeübt.
Se. Majestät faßte sodann in einigen Sätzen die Eindrücke der Reise zusammen.
Hierauf wurde auf das Wohl des jüngsten Sprosses des kaiserlichen Hauses,
des Prinzen Oskar, dessen Geburtstag auf heute fiel, getrunken. Se. Majestät
entließ darauf huldvollst die Herren des Gefolges, welche am nächsten Morgen
durch die zur Begleitung Sr. Majestät nach England bestimmten Herren ersetzt
werden sollten. Jeder, der die Ehre und das Glück hatte, die Reise mitzu¬
machen, wird für sein Leben eine schöne Erinnerung bewahren.
(Fortsetzung der Reiseberichte folgt)
„Nummer siebzehn fieberfrei!" meldete der Krankenwärter dem Arzt c>u jour
im Hospital der allgemeinen Fürsorge.
„Sie können sich gratulieren, Kirsch!" sagte Doktor Bergstrom, als er den
Verband wechselte. „In drei Tagen ist der Riß vernarbt. Aber nun wird in
den nächsten vier Wochen nicht gesoffen, alter Sünder, verstanden? Sonst geht
es Ihnen dünn? Haben Sie noch Schwindel? Und können Sie wieder ver¬
nünftig denken? Wieviel ist siebenundzwanzig mal sechs?"
„Ist sich — ist sich, also sechs mal zwanzig macht hundertzwanzig und
sechs mal sieben macht — macht zweiund — zweiundvierzig, ist sich also hundert-
sechsundsechszig!"
„Na, so ganz stimmt es nicht. Mann! Aber allmählig wird es schon werden.
Bleiben Sie man hübsch ruhig im Bett und nehmen Sie Brom!"
Kirsch sank in die Kissen zurück und fuhr fort, wie vorher, in seine immer
noch wirren Gedanken Ordnung zu bringen.
Er hatte bereits festgestellt, wie er in diesen karbolgeschwängerten Kranken¬
saal gekommen war.
Der Hund, der Priddig, wollte ihm die schwarze Tatjana streitig machen.
Dabei hatte er doch die beiden Flaschen Likör für das Mädchen bezahlt!
Priddig riß es ihm aus dem Arm und lachte brüllend. Das Schlimmste war.
daß Tatjana mitlachte. Da war es ihm rot vor den Augen geworden, und
er hatte das Messer gezogen. . .
Das war nun auch weg — das Messer, hatte drei Rubel gekostet und
war am selben Tag erst bei Georg Meyer gekauft.
Ja, und dann--?
Kirsch strich sich vorsichtig über seinen Verband. Der Doktor hatte ihm
erzählt, was dann passiert war. Dieselbe Flasche, die er für sein gutes Geld
gekauft hatte, war auf seinen Kopf herabgesaust.
Der Schuft, der Priddig! Na, dem wird er es noch mal heimzahlen!
„Herrgott!" murmelte er jetzt. „Wo ist die Mappe?" Er richtete sich auf
und stierte mit aufgerissenem Munde in das Halbdunkel des Saales.
Die Mappe hatte er bei sich gehabt, als sie vom Klub aus losgebummelt
waren. Lauter wichtige Papiere hatte sie enthalten: die Quittungen über den
verkauften Roggen und über die Kartoffeln und den Brennereiabschluß, auch
die Aufstellung seiner Auslagen, die Bankabrechnung und das Wichtigste —
die Schildbergschen Hypothekenbriefe.
„Hol es der Deibel! Die Mappe ist verloren!"
Wie er auch in seinem Hirn forschte und grübelte — er konnte sich nicht
entsinnen, wo sie geblieben war.
Ob er den Wärter fragte? In dem kleinen Zimmer neben dem Kranken¬
saal bemerkte er Licht und hörte das leise Summen eines Samowars. Da
stieg er aus dem Bett und tastete sich schwankend an den anderen Kranken
vorbei.
„Tönnis!" flüsterte er. „Habt ihr meine Mappe? Sieh die Liste nach!
Was hab ich mitgehabt, als man mich brachte?"
„Verrückter Kerl!" knurrte der Wärter. „Denkt jetzt an seine Mappe!
Wir haben acht Uhr. Er soll schlafen!"
„Brumm nicht! Soll mir auf ein paar Rubel nicht ankommen: her die
Liste!"
In seinem blauen Krankenkittel stand Kirsch in dem überheizten kleinen
Raum, über das Aufnahmebuch gebeugt.
Sein roter Bart hing ihm struppig um das Kinn. Mit dem Verband
um den Kopf und dem verbissenen Zug in seinem breiten Gesicht glich er mehr
einem Räuber als einem herrschaftlichen Gutsverwalter.
„Hier bin ich!" Er drückte den Daumen auf seinen Namen:
„Sa Kurati Donnerwetter! Acht Tage liege ich schon hier in dem
Kasten. Ein Anzug — eine silberne Uhr — ein Portemonnaie mit dreiund¬
fünfzig Rubel zwanzig Kopeken — und mein Mantel, mein Hut, meine Mappe?"
„War nicht dabei!" sagte Tönnis gelassen.
„Ich muß gehen — auf die Polizei — muß weg! Auf der Stelle. Hol
mir die Sachen!" drängte Kirsch in Heller Aufregung.
Der Wärter schlürfte in aller Gemütsruhe seinen Tee aus der Untertasse.
„Geh doch! Hast ja einen feinen Pelz an! Kannst ihn brauchen. Ist
hübsch kalt draußen!" Er grinste und rührte sich nicht vom Fleck.
Aber der Macht des Rudels erlag bald auch die Feste dieser Pflichttreue.
„Dort ist die Kammer. Da im Kasten liegt der Schlüssel. Hast Nummer
siebzehn. Ich weiß von nichts — du bist fortgelaufen!"
Wenige Minuten später schlich eine komische Gestalt aus dem Torweg des
Hospitals und verschwand aus dem Lichtkreis der Petroleumlaterne im Dunkel
der Straße.
„Ja, was ist denn los?" fragte sich Kirsch, den allzu kurzen Mantel des
Wärters gegen die nächtige Kälte zusammenhaltend. „Reval hatte doch früher
Gaslicht auf den Straßen!"
Nicht eine Laterne brannte weit und breit, und selbst die Fenster der
Häuser lagen in tiefstem Dunkel. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.
„Bin ich etwa blind geworden?" Kirsch drehte sich um. Da sah er
hinter sich den gelben Stern des Hospitallichts leuchten; Gottlob, blind war
er nicht!
Aber was sollte diese Finsternis bedeuten? „An!" schrie er. Er war
gegen einen Laternenpfahl gerannt.
„Ja, was mach ich denn da? — Rechts muß ich mich halten, däucht mir,
wenn ich zum .Gelben Affen' will."
Er tappte sich weiter durch die Nacht, voller Angst und mit zitternden
Knien. Wenn er Schritte hörte, drückte er sich gegen die Wand und wagte
nicht, die Vorübergehenden anzusprechen.
Er mochte eine Viertelstunde gegangen sein, da hörte er eine Stimme, die
ihm das Blut erstarren ließ.
Hatte er recht gehört? Nannte die Stimme nicht eben Tatjana?
Ein bittersaurer Brandgeruch lag in der Lust, und in dem Schein einer
Blendlaterne erkannte er einen schwarzen Trümmerhaufen. Dort kam die Stimme
her, und der Polizist, der dort Wache hielt, war es, der da sprach. Mit wen:
nur? Kein anderer Mensch war in der Nähe zu sehen!
„Geh deiner Wege! Was willst du von mir, Mädchen? Jeden Abend
muß ich es dir sagen: ich habe deinen Kopf doch nicht! Dort unter dem Ofen
liegt er, der auf dich raufgefallen ist. . ."
Mit schwerem Tritt verließ der Polizist seinen Platz und fing an, auf
und ab zu gehen, wobei er sich von Zeit zu Zeit scheu nach den: verkohlten
Gebälk wandte.
Kirsch standen die Haare zu Berge. „Mit wem sprichst du?" Der
Polizist schrak zusammen.
Als er die Harmlosigkeit des Fragestellers erkannte, gab er ihm Antwort:
„Hast du sie nicht gesehen — die Tatjana dort aus der Weiberkneipe?
Sie kommt alle Abend und verlangt von mir ihren Kopf! Wo soll ich ihn
denn finden? Mag sie die Hunde fragen, die das Hurennest ausgeräuchert
haben. Vielleicht Wissens auch die noblen Herren, die so flink raus waren.
Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten die Weiber alle geschmort wie
Tatjana. Es war ein hübsches Luder, schwarz wie der Satan und Augen wie
'ne Hexe. Nu is se ohne Kopf begraben. Der Ofen ist drauf gefallen! Da
such ihn einer! Siehst du sie nicht?---! Sie findet keine Ruhe
ohne ihren Kopf ..."
Entsetzt wandte sich Kirsch um und eilte die Straße hinab.
„Der Kerl ist verrückt!" sagte er einmal über das andere. „Verrückt!
Vollkommen verrückt! Ist denn in den acht Tagen die ganze Welt auf den
Kopf gestellt? Was schert mich die Tatjana, wenn sie tot ist? Meine Mappe
soll sie mir wiedergeben! Oh jeh — das wird eine schlimme Sache. Sie ist
natürlich unverbrannt in der verdammten Baracke. Die alte Schildberg wird
Zetermordio schreien. Der ganze Handel gilt nicht, wenn die Hypothekenbriefe
nicht da sind. Ach was — dann behält sie sie einfach, die verdrehte Schraube.
Dem Baron wird es recht sein!"
In solchem Selbstgespräch machte der Borküller Verwalter seinem schlechten
Gewissen Lust. Die Papiere gehörten der Gräfin Schildberg, die vor Jahren
mit einem Teil ihres Vermögens die Borküller Brennerei beliehen hatte. Seit¬
dem ihre Frömmigkeit so fanatisch geworden war, bereute sie es immer mehr,
ihr Geld für ein ihrer Meinung nach sündhaftes Unternehmen gegeben zu
haben. Letzten Endes war es aber doch die Befürchtung, der Pfandwert der
Brennerei möchte in den bewegten Zeiten verlieren oder gar vollkommen illuso¬
risch werden, was sie jetzt zu dem Entschluß gebracht hatte, die Hypothekenbriefe
zu verkaufen. Man hörte ja alle Tage von eingeäscherten Fabriken.
Kirsch war mit dem Handel beauftragt worden und hatte auch bereits
durch einen Revaler Makler einen Käufer gefunden. Es sollte eine reichliche
Provision für ihn abfallen, auf die er sich schon gespitzt hatte. Nun stand der
ganze mühelose Gewinn durch den Verlust der Mappe auf dem Spiel.
Der Ärger darüber nahm ihm in der stockfinsterer Stadt vollends jede
Orientierung. Er stolperte von einer Straßenseite auf die andere, immer vor
sich hinschimpfend und murmelnd, bis es ihm selber unheimlich in den Ohren
klang.
Da brachte ihn der gleichmäßige feste Tritt einer Soldatenpatrouille zur
Besinnung. Sie marschierte vor ihm die Straße entlang:
„Die wird ja wohl irgendwo hingehen, wo es Licht gibt," dachte er und
folgte ihr vorsichtig.
Da erschallte plötzlich aus einer engen Seitengasse wildes Johlen. Ein
Kommando klang scharf und drohend durch die Nacht. Metallisch klirrte das
Spannen der Gewehre. Ein Hagel von Steinen sauste durch die Luft und
fiel krachend auf das Pflaster nieder. Kirsch hielt beide Arme über den Kopf,
um sich zu schützen. Dann machte er kehrt und rannte, was er konnte, eine
Querstraße hinauf. Schüsse fielen hinter ihm.
Das Massiv eines Turmes tauchte jetzt silhouettenhaft aus der Finsternis.
Er erkannte den „Kiek in de Kot", der auf halber Höhe des Domtores stand.
Jetzt hatte er endlich die Richtung.
Oben auf dem Dom, der uralten adligen Siedelung, besaß die Gräfin
Schildberg mehrere Häuser. Der Küster der Domkirche hatte im Nebenamt
ihre Verwaltung übernommen und genoß das volle Vertrauen seiner Herrin.
An ihn wollte Kirsch sich wenden. Er würde ihm Rat geben in seiner Be¬
drängnis.
Von der Höhe des Berges winkte der Schein vieler Lichter. Er kam aus
dem Schloß des Gouverneurs und wurde von den großen goldenen Kuppeln
der russischen Kathedrale zurückgeworfen. Ein Summen erfüllte die Luft, das
Kirsch sich nicht erklären konnte. Als er um die Ecke bog, den letzten Aufstieg
zu nehmen, sah er eine Menschenmauer vor sich, die Weg und Platz versperrte.
„Was ist los?" fragte er einen der Burschen in der äußersten Reihe.
Der guckte ihn groß an: „Bist du aus den Wolken gefallen, daß du es
nicht weißt?"
Man wandte sich nach ihm um und verhöhnte seine Ahnungslostgkeit.
Ärgerlich kehrte er sich ab, und da er sah, daß hier kein Durchkommen war,
eilte er den Berg wieder herunter, um durch die engen Gassen der Innenstadt
von der andern Seite aus sein Ziel zu erreichen. Er kam zu den steilen
Stufen des kurzen Dombergs, die er in atemloser Hast emporkletterte. Aber
an dem eisenbeschlagenen Tor, das den letzten Teil des Weges abschließt, prallte
er zurück. Sonst stand es immer weit offen — heute war es fest geschlossen.
Soviel er auch rüttelte — es gab nicht nach.
Wieder machte er kehrt. Ganz durchnäßt von Schweiß und ermattet von
den Strapazen der Nacht versuchte er die letzte Möglichkeit, den Dom zu er¬
reichen. Er lief die Raderstraße entlang, als gelte es sein Leben.
Über der ganzen Stadt lagen Schrecken und Angst gebreitet und erhöhten
die Qualen seines schlechten Gewissens. Er mußte endlich erfahren, was passiert
war, mußte mit einem Menschen sprechen: er fühlte, daß er sonst seinen
Verstand verlieren würde.
„Ich bin ja schon verrückt!" sagte er und griff nach seinem wunden Kopf,
der ihm schmerzte und im Fieber glühte.
„Was ist siebenundzwanzig mal sechs?" Doktor Bergstroms Frage fiel
ihm ein. Um sich selbst zu kontrollieren und seine Erregung zu dämpfen, be¬
gann er krampfhaft zu rechnen.
„Ztoi!" schrie eine rauhe Stimme mitten in seine Rechnung hinein.
„KW tam? Halt! wer ist da?"
„Hundertzweiundsechszig!" schrie Kirsch und knickte in die Knie vor Schrecken.
Der Ruf kam von dem Posten, der den Aufgang zum Dom bewachte.
Er nahm die Handlaterne aus seinem Schilderhaus und leuchtete dem Verwalter
ins Gesicht.
„Wo wollen Sie hin? Der Zugang ist gesperrt!" sagte er barsch. „Oben
kann niemand durch — da stehen Soldaten!"
„Ich will ja bloß zum Küster!" jammerte Kirsch. „Oben im Haus
Schildberg — ich wohne dort! Komme eben aus dem Krankenhaus — habe
mich in der Dunkelheit nicht zurechtgefunden! Sehen Sie doch nur — ich bin
ja noch ganz krank!"
Der Soldat ließ ihn passieren. Aber mehr als einmal mußte er sein
Lamento vorbringen, bis er an dem Tor des alten Hauses läuten konnte.
Endlich war er in Sicherheit.
Oben im zweiten Stockwerk hatte Küster Frey seine Wohnung. Der kleine
Mann mit dem freundlichen Pastoralen Gesicht war nicht wenig erschrocken, als
er Kirschs verwahrloste Gestalt erblickte. Aber in seiner duldsamer Art fragte
er nicht lange nach der Ursache seines verstörten Aussehens, sondern führte ihn
zunächst in das behaglich durchwärmte Wohnzimmer, in dem noch die Reste
des Abendbrots um den Samowar standen.
„Wieder gebummelt, alter Freund? Na — Sie haben uns ja schöne
Dinge eingebrockt! Stellt sich hin und hält Brandreden, daß die Ehlen alle
den Verstand verlierenI"
„Ich — ich?" stammelte Kirsch.
„In Eurem Klub fing es an! Und jetzt steht auch Ihr Name auf der Liste
der Führer. Das ist also der Dank für den schönen Posten auf Borküll, daß Ihr
jetzt die Deutschen verratet! Hätte ich niemals für möglich gehalten, Herr Kirsch!"
Vorwurfsvoll zitterte die Stimme des Alten. Der Verwalter aber sank
vernichtet auf einen Stuhl.
„Ich unter den Führern? Besoffen war ich — das stimmt! Da quatscht
einer manchen Unsinn!"
„So? Daß die Leute jetzt in der Gasanstalt streiken und den Direktor
in den Sack gesteckt haben, war das auch etwa nur so eine betrunkene Idee
von Euch? Und daß die Mordbrenner jetzt durch die Straßen ziehen? Kirsch,
Kirsch! Die Ausrede gilt nicht, wenn man Euch faßt. Die Kosaken sind auf
dem Weg, und längst sind die Stricke gedreht, an denen die Volksverhetzer
baumeln werden!"
Kirsch schluchzte laut auf unter den verdammenden Worten des Alten.
Auf seinem Gesicht malte sich Todesangst. Er barg den Kopf in den ver¬
schränkten Armen und heulte wie ein Kind, das Prügel bekommen soll.
Küster Frey verspürte Mitleid. Allerdings — so sah ein Revolutionär
nicht aus, wie dieser Jammerlappen. Da war wohl doch manches übertrieben.
„Kirsch!" sagte er gütig. „Dem Bußfertigen winkt Gottes Barmherzigkeit.
Die Ehlen werden Vernunft annehmen. Eben haben die Arbeiter eine Deputa¬
tion zum Gouverneur geschickt. Er ist ein gerechter Mann. Er wird sie be¬
ruhigen. Nun trösten Sie sich nur: ich gehe jetzt und bestelle einen heißen
Grog. Das Fieber schüttelt Sie ja . . ."
„Was mache ich blos?" war die bange Frage, die sich Kirsch stellte, als
er allein war. Er trat ans Fenster, von dem aus das Meer sichtbar war und
kühlte seine brennende Stirn an den Scheiben. Im Hafen flimmerten die
Lichter der verankerten Schiffe. Irgend eins davon war die Barke, die das
Borküller Korn geladen hatte. Richtig — morgen in aller Frühe ging sie
nach Finnland in See. Dem Schiffer hatte er oft Briefe und Grüße an seine
Schwester mitgegeben, die drüben auf Hogland, der einsamen Insel vor Kolla,
die Frau des Leuchtturmwärters geworden war. Dort würde kein Verräter
vermutet werden, und kein Kosak seine Nagaika schwingen: dort war Sicherheit!
Plötzlich schien es Kirsch der einzige Ausweg aus allen seinen Schwierig¬
keiten zu sein, nach Hogland zu der Schwester zu fliehen!
Scheu lauschte er um sich. Hinten aus der Küche drang die gedämpfte
Stimme des alten Frey, der mit seiner Schwester verhandelte. Auf Zehenspitzen
schlich der Verwalter zur Tür und verschwand wie ein Schatten im dunklen
Treppenhaus.
Unten auf der Straße nahm ihn jetzt der Strom der Menschen auf, die sich
von dem Platz aus in die Stadt zerstreuten.
„Der Kriegszustand wird erklärt!" hieß es unter der Menge. „Die
Kosaken sind da. Na — mögen sie! Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist.
Auf das bischen Leben kommt es nicht an."
Aber Verwalter Kirsch dachte anders. Sein Dasein schien ihm noch
durchaus lebenswert. Am Fuß des Torwegs angelangt, trennte er sich von
dein Schwarm und hastete, am Turm der dicken Margarete vorbei, dem Hafen zu.
Aus den vergitterten Fenstern der klafterdicken Mauern hörte er Rufe:
„Befreit man uns bald? Ist die Republik erklärt?"
Es bedürfte nicht der Aufmerksamkeit des Postens, um Kirsch am Ant¬
worten zu verhindern. Stumm schlich er vorüber.
Im Hafen schaukelten die Schiffe, Ankerketten rasselten, Taue knirschten.
Es roch nach geleerten: Segeltuch und nach Fischen.
„Was machst du hier, Roter?" fragte eine gutmütige Stimme. Gottlob,
es war der Barkenführer, den er suchte. Kirsch packte ihn am Arm wie seinen
Retter---
(Fortsetzung folgt)
«l cum jemand bis vor kurzem ein Lehrbuch der Psychologie zur
Hand nahm, um darin über die Natur des Denkens nachzulesen,
so hat er es gewiß bald enttäuscht beiseite gestellt. Denn so
^ unglaublich es den Laien anmuten mag, vom „Denken" wurde in
der Psychologie kaum gesprochen. Es war da die Rede vom
Empfinden, vom Fühlen, vom Vorstellen und vom Wollen, aber eine besondere
Funktion des Denkens wurde nicht anerkannt von den meisten Psychologen.
Es ging das vor allem auf Locke und Hume zurück, die bekanntlich alles
höhere Seelenleben auf die äußeren Empfindungen und ihre schwächeren,
inneren Nachbilder, die Vorstellungen, zurückführen wollten. Und hierin sind
die meisten neueren Psychologen auf dem Standpunkt jener stehen geblieben,
indem sie die Elemente des Denkens, die Begriffe, als komplexe Vorstellungen
auffaßten und das Denken selber als eine Form der Vorstellungsverknüpfung,
der Assoziation, ansahen. Wenn auch einzelne Psychologen die Mängel dieser
Theorie einsahen, so vermochte doch dasjenige, was sie an die Stelle des Vor¬
stellungsmechanismus setzten, noch weniger den Anforderungen der strengen
Kritik standzuhalten.
Hierin nun ist eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten, die um das
Jahr 1900 etwa zu gleicher Zeit in Frankreich, in Amerika und am stärksten
in Deutschland eingesetzt hat. Man begann experimentell, d. h. durch syste¬
matische Selbstbeobachtung die Bewußtseinsvorgänge zu untersuchen, die der
Laie als Denken zusammenfaßt. Dabei fand man denn, daß die Rolle des
reproduktiven, anschaulichen Vorstellens unendlich viel geringer ist, als die alte
Assoziationstheorie annahm, und daß es unmöglich ist, das Denken und seine
Elemente auf die Vorstellungen, die schwachen Nachbilder der Wahrnehmungen,
zurückzuführen. Man stellte vielmehr eine besondere Gattung von seelischen
Elementen auf, die man bald Gedanken, bald Einstellungen, bald Bewußt¬
heiten oder ähnlich nannte. Mit allen diesen Ausdrücken aber will man un¬
gefähr dasselbe bezeichnen, nämlich: abstrakte, nicht aus Vorstellungen und
äußere Wahrnehmungen zurückführbare, unanschauliche seelische Elemente. Deren
Vorhandensein ist heute unabweisbar, nur über ihre Natur gehen die Meinungen
noch auseinander.
Diese „Gedanken" oder „Einstellungen" sind besonders wichtig, um das
Verständnis von Worten und das Denken in Worten begreiflich zu machen.
Früher hatte man den unmöglichen Begriff der „Wortvorstellung" unter¬
geschoben. Dieser ist ein psychologisches Unding, denn wenn ich in Worten
denke, so habe ich weder die Vorstellung des Wortes, noch habe ich in der
Regel überhaupt eine Vorstellung, d. h. irgendwelches anschauliches seelisches
Erlebnis. Im Gegenteil, es ist durch Galtons Untersuchungen und viele
spätere festgestellt worden, daß ein großer Teil der Menschen, darunter die
allerbedeutendsten, ganz unanschaulich denken. Was allen diesen Leuten den
Inhalt ihres Denkens liefert, sind eben keine Vorstellungen, sondern eben jene
abstrakten Gedanken oder Einstellungen, die nur in der Sprechbewegung einen
festen Kern haben. Tauchen dennoch Vorstellungen auf, so haben sie rein
ästhetischen, illustrierenden Wert, wie sie auch beim Erlernen des Sprechens
wichtig sind, um eine gewisse Identität zwischen dem Wort und seinem objek¬
tiven Inhalt zu gewährleisten. Sie sind jedoch nur eine Krücke, die später
entbehrlich wird. — Wir können es also als sicheres Ergebnis der neuen
Psychologie, besonders der an Kulpe anknüpfenden Würzburger Schule, an-
, sehen, daß unser eigentliches Denken nicht in anschaulichen Vorstellungen,
sondern in unanschaulichen Einstellungen, die keineswegs eine äußere Wahr¬
nehmung abbilden, verläuft. Mit anderer Worten, das Denken ist nicht re¬
produktiv, sondern produktiv.
Hier nun kommt die Psychologie, oder wie man neuerdings mit geringer
Nuance gern sagt, die Phänomenologie, auf etwas ähnliches heraus, wie von
ganz anderen Seiten her eine große Anzahl, teils untereinander wieder recht
verschiedener Erkenntnistheoretiker. Während jene Psychologen aus der exakten
Analyse des Bewußtseinsbefundes feststellten, daß die Erkenntnis und das
Denken nicht ein Reproduzieren von Wahrnehmungen sein können, ergreift die
Erkenntnistheorie das Problem noch weiter, indem sie fragt: wie ist das Ver¬
hältnis zwischen Erkenntnis oder Denken und Außenwelt, d. h. dem hypo¬
thetischen Inhalt oder Urgrund der Wahrnehmungen? Und auch hier kommen
fast alle neueren Forscher, so verschieden ihr Ausgangspunkt ist, darin überein,
daß sie die Erklärung der Erkenntnis, die darin eine Reproduktion oder Ab¬
bildung der Außenwelt steht, von Grund aus ablehnen. Hierin stimmen die
angesehensten modernen Erkenntnistheoretiker überein; mögen sie wie Mach,
Avenarius, Ostwald das Denken als einen Anpassungsvorgang zum Zweck der
Herrschaft über die Außenwelt beschreiben, mögen sie mit Vaihinger das Denken
als eine Konstruktion von Fiktionen zu praktischen Zwecken ansehen, mögen sie,
wie der sogenannte, in Deutschland oft falsch interpretierte Pragmatismus die
praktische „Bewährung" als das Kriterium für den Erkenntniswert halten: in
dein einen stimmen alle überein: Erkenntnis ist niemals eine Reproduktion,
eine Abbildung einer Außenwelt. Und bei vielen anderen Denkern, bei der
Marburger Schule, bei Bergson, in Nietzsches Nachlaßschriften vor allem, finden
wir die gleiche Grundanschauung, daß das Denken nichts Reproduktives, sondern
etwas Produktives ist.
Das Ziel der Wissenschaft und der Erkenntnis überhaupt kann also nicht
in einer Nachbildung der Außenwelt gesucht werden. Das, worauf es ankommt,
ist vielmehr die Schaffung solcher allgemeinen Einsichten, die uns ermöglichen,
uns in der Welt zu orientieren und sie uns dienstbar zu machen. Eher als
einem getreuen Nachbild könnte man die Erkenntnis nach einer schematischen
Orientierungskarte vergleichen, obwohl der Unterschied zwischen dem objektiv
Gegebenen und seiner gedanklichen Symbolisierung noch viel größer ist. Der
Inhalt unseres Denkens wie unserer Erkenntnis ist also etwas von den äußeren
Dingen völlig Verschiedenes. Das Verhältnis der beiden zueinander ist wohl
das der größeren oder geringeren Anpassung, aber niemals das der Nach¬
bildung. Es ist nur der gleiche Kurswert, wenn eins für das andere eintreten
kann, wie eine Banknote für 100 Mark in Gold. — Ich möchte darum auch
Vaihingers Ausdruck „Fiktion" vermeiden, denn er besteht nur dann zu Recht,
wenn man eine Abbildung überhaupt für möglich hält. Besser würde man
für Fiktion Schöpfung sagen, denn es handelt sich um eine völlig eigene
Konstruktion, die die Außenwelt nicht nachbildet, sondern sich Untertan macht,
oder, da sie ja selbst ein Teil der gesamten Welt ist, diese umgestaltet. Indem
wir Erkenntnisse bilden, gestalten wir die Welt, formen sie, malen sie aber
niemals ab.
In diesem überaus wichtigen Punkte also treffen die moderne Psychologie
und die moderne Erkenntnistheorie zusammen, daß sie den reproduzierenden,
abbittendem Charakter der Erkenntnis völlig abstreiten. Welches aber ist nun,
positiv gewendet, das Wesen des Denkens, wenn es kein Abbilden ist? Mit
dieser Frage kämen wir aus das psychologische Problem zurück, von dem wir
ausgingen. Und zwar beantworte ich diese Frage: Denken ist nicht Vorstellen,
sondern Stellungnehmen.
Dieser Begriff des Stellungnehmens bedarf einer Erläuterung. Ich unter¬
scheide passive und aktive Stellungnahmen, zwischen denen es jedoch keinen
prinzipiellen Unterschied gibt, sondern die vielmehr ineinander übergehen. —
Und zwar nenne ich passive Stellungnahme alle Gefühle, zu denen ich außer
Lust und Unlust mit Wundt, Lipps u. a. auch Gefühle des Bekannt- und Fremd¬
seins, der Größe usw. rechne. Aktive Stellungnahmen sind alle Tätigkeits¬
dispositionen, Handlungen usw.
Ich erläutere das durch ein Beispiel: wenn ein Satz zu mir gesprochen
wird und ich ihn verstehe, so beruht dieses Verstehen nicht in einem reproduk¬
tiven Vorstellen, sondern ich verstehe den Satz, wenn er meine Stellungnahme
in irgendwelcher Weise herausfordert, sei es, daß er meine Gefühle erweckt, mich
zu Tätigkeiten veranlaßt usw. Vorstellungen sind meist dabei überflüssig. Diese
Stellungnahme kann auch indifferent sein, aber auch die Indifferenz ist in der
Psychologie wie in der Politik eine ganz positive Stellungnahme. Ein Satz, den
ich verstehe und der mich gleichgültig läßt, berührt mich ganz anders als ein
Satz in chinesischer Sprache, die ich nicht kenne. Auch meine Indifferenz ist
eine Stellungnahme. Gewiß können auch Vorstellungen anklingen, aber sie sind
sekundär. Das ist selbst für das poetische Verständnis durch die neuere Ästhetik
klargelegt worden und gilt sür jedes Verständnis überhaupt.
Denken, Verstehen, Erkennen heißt Stelluugnehmen. Stellungnahmen aber
sind ihrem Wesen nach auch die Begriffe. Nach der alten falschen Lehre waren
diese „durch ein Wort repräsentierte Allgemeinvorstellungen", und diese wurden
wieder als „Komplexe von Einzelvorstellungen" erklärt. Diese Anschauung
kaun nach der modernen Kritik als unmöglich gelten. Wenn ich den Begriff:
„schöne Frau" z. B. ausspreche, so habe ich nicht etwa, und sei es noch so
verschwommen, im Kopfe die Bilder aller der großen und kleinen, schwarzen
und blonden, graziösen und imposanten Gestalten, die ich darunter zusammen¬
fasse. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wesen bei jenem Begriff ist
eine ganz bestimmte typische Stellungnahme, eine spezifische Gefühlsbetonung
jenes Wortes, die Fähigkeit, mit diesem Begriff zu operieren. Diese Stellung¬
nahmen machen, wie das Wesen jedes Verstehens, auch das Wesen des
Begriffes aus.
Und ein weiterer Hauptunterschied gegen die alte Psychologie sei noch er¬
wähnt: diese erklärte das Denken kausal, die neue erklärt es teleologisch. Es
liegt das im Wesen des Stellungnehmens, das nach vorwärts orientiert. Mit
einem Worte, das Denken nach der neuen Psychologie wird nichts Passives sein,
sondern etwas Aktives, kein mechanisches Nachbilden, sondern ein organisches
Formen, Gestalten und Handeln. Daß es dabei nicht in wilde Spekulation
ausarten wird, ergibt sich durch die Beschreibung als Anpassung oder Orientierung
von selbst.
Ich habe hier nur ein paar Grundzüge einer Entwicklung andeuten können,
die noch in den Anfängen steht. Aber schon heute sind die Fernsichten, die
sie eröffnet, außerordentlich. Man lese Vaihingers reiches Buch von der Philo¬
sophie des Als-Ob, um zu erkennen, welche Rolle das produktive Denken auf
den verschiedensten Gebieten spielt und doch ist Vaihinger noch lange nicht er¬
schöpfend. Wir haben die Zuversicht, daß die Zukunft einer Erkenntnislehre
gehören wird, die Erkennen nicht als Abbilden, sondern als ein Schaffen ansieht
und die darum nicht abseits stehen wird vom übrigen Leben, sondern die mitten
hineinführen und damit nicht bloße abstrakte Theorie bleiben wird, sondern
eben dadurch, daß sie die Geistesarbeit zu klarem und vollem Bewußtsein ihrer
selbst bringt, lebensfördernd im höchsten Sinne sein wird*).
er Jahresschau des Deutschen Künstlerbundes ist diesmal in
Mannheim eine gastliche Stätte bereitet. Sämtliche Bildersäle
der seit wenigen Jahren erst bestehenden Kunsthalle sind ihr ein¬
geräumt, nur in dem großen Lichthof begrüßen den Eintretenden
die Meisterwerke neuer französischer und deutscher Kunst, die der
Sammlung durch den hingebenden Eifer ihres Leiters Dr. Wichert und die
opferwillige Mitwirkung der Stadtgemeinde und der Bürgerschaft in der letzten
Zeit gewonnen worden sind. Für die Aufnahme des Dargebotenen ist gerade
in Mannheim der Boden gut vorbereitet durch die entschlossenen und ziel¬
bewußter Bemühungen, die neuerdings die Bevölkerung der Stadt zum Ver-
ftändnis moderner Kunst hingeleitet und den Willen zu einer kräftigen Anteil¬
nahme am Kunstleben der Gegenwart in ihr wachgerufen haben. Solchem
Verlangen gibt denn auch die Ausstellung reiche Nahrung. Dank einer sorg¬
samen, weitblickend gerechten Wahl gewährt sie eine sehr aufschlußreiche Gesamt¬
anschauung von den schaffenden Kräften, die heute in der deutschen Kunst am
Werke sind, von beruhigter, geklärter Meisterschaft und von ungestümem und
ungebärdigen Suchen nach neuen Zielen.
An Jugend fehlt es nicht in der Ausstellung, an unbekümmerten Drauf¬
loswagen auch nicht. Und gerade das ganz Unausgegorene nimmt hier wie
immer besonders gern die machtvolle Gebärde gelassener Selbstsicherheit an.
So sind denn auch der Selbstbildnisse nicht wenige, und sie zeigen meist ein
noch recht in der Entwicklung begriffenes Antlitz.
Der Wille zum Neuen in den Bildern der Jüngsten ist nicht unbeträchtlich,
und er entbehrt nicht einer gewissen Einheitlichkeit der Richtung. Was auch
die einzelnen Gruppen an eindrucksvoller Schlagworten auf ihre Fahnen schreiben
mögen, sie alle trachten doch schließlich nach einer neuen Eindringlichkeit des
Sehens und Gestaltens. Das brauchte an sich ja auch nicht mehr zu bedeuten
als ein neues artistisches Feldgeschrei. Und wer nicht gerade dem Wellengang
der Jahresnoten oder Jahrzehntmoden der „Augenkultur" mit hochklopfendem
Herzen folgt, dem könnte es sehr gleichgültig sein, wie man just des letzten Herbstes
Äpfel gemalt hat. Daß man ihnen nun wieder derbe Umrißlinien gibt, ihnen
die Bestimmtheit ihrer Form beläßt, ja sie ins Wuchtige steigert und von ihrer Farbe
nur eine einheitlich starke Gesamtvorstellung zu wecken sucht — das ist eine Ab¬
straktion, so gut wie es einst die Auflösung aller gegenständlichen Begrenztheit
im Wogen der Atmosphäre und im Weben des Lichtes war. Selbst wenn
diese neue Errungenschaft wirklich etwas so ganz Unerhörtes wäre, könnte man
sie als eine neue Weise künstlerischer Abkürzung ohne Erregung hinnehmen.
Aber da und dort klingen die stammelnden Laute der neuen Sprache doch so,
als wollten sie Erlebnissen von neuartiger Einfachheit und Geschlossenheit ihren
notwendigen Ausdruck erringen. Erscheinungen der Alltagswirklichkeit treten vor
das Auge in neuer Eindrucksmacht, leibhaftig hingestellt und doch zu einer
höheren, allgemeineren Gültigkeit erhoben.
Freilich, die Wahl des Gegenstandes und seine Ausgestaltung zum Bilde
bestimmt oft so ausschließlich der Augenreiz, daß dem Nacherleben nur eine
kümmerlich einseitige oder gründlich grobe Nahrung bleibt. Ist es für den
Beschauer wirklich der Mühe wert, um eines Bewegungsmotivs oder eines
Farbeneffektes willen sich wieder und wieder die aufgeputzte und herausgeschminkte
Widerlichkeit von „Dancinggirls" und „Panamagirls" zuzumuten? Und soll
ihm der grelle koloristische Akkord eines goldgelben Vorhangs und eines Menschen¬
körpers ein halbtierisches Scheusal von liegendem Weib schmackhaft machen?
An allen besonderen kubistischen und globistischen oder rotistischen Starrheiten
kann man ruhig vorübergehen: die mögen sich austollen. Aber auch außerhalb
ihrer Bereiche vermag man des öfteren die Frage nicht abzuweisen: ist dem
Aufnehmenden ein Dienst erwiesen, wenn man ihm die Natur und die mensch¬
liche Erscheinung, die er in ihrer Wahrheit oder in ihrer Größe sehen lernen
möchte, nur im allgemeinsten, flüchtigsten, plump vergröbernden Nachfahren vor
Augen rückt?
Und doch regt sich zwischen solcher selbstherrlichen Artistenwillkür ein Ver¬
langen und ein Kräfterecken nach neuen Aufgaben. Einer Kunst von großen,
einfach ausdrucksvollen Formen gilt das tastende Suchen, und die Gebilde der
Natur wie die Erscheinung des lebenden Menschen sollen sich in Darstellungen
von klar beherrschter Ruhe oder gefühlsberedter Bewegtheit zusammenschließen.
Solche Zusammenfassung und Steigerung zu vollbringen, vermöchten freilich
nur Künstlerpersönlichkeiten, in denen sich Reichtum und Macht des inneren
Erlebens mit einer ebenbürtigen Gestaltungskraft vermählte. Was die Aus¬
stellung aus dem Schaffen der Jungen und Jüngsten ausgewählt hat, das weckt
einstweilen höchstens Erwartungen. Aber soviel wird doch deutlich: die Phan¬
tasie kommt in der Kunst allgemach wieder zu Ehren; mit besonderer Eindring¬
lichkeit sind da und dort religiöse Stoffe zur Geltung gebracht, und sogar eine
riesige Amazonenschlacht wagt sich zwischen Vorstadthäuser, Eisenbrücken, Atelier-
und Caföszenen. Und „das Geistige" ist ja mit soviel Entdeckerstolz als eine
ganz zukünftige Eroberung der Kunst ausgerufen worden, daß bald niemand
so rückständig mehr sein wird, sich nicht dazu zu bekennen. Ja sogar das
Gefühl ersteht schon in ungeahnten Morgenröten, einstweilen noch gern von
den Nebeln eines feierlich faden Allegorisierens umwallt. Was aus diesen
ungeklärten Versuchen einst erwachsen könnte, wird eine Kunst der ausdrucks¬
mächtigen Gebärde sein, die auf Grund einer kraftvoll selbständigen Bewältigung
der Natur Erlebnisse des inneren Schauens in Gestalten bannt.
Auch die Landschaftsmalerei sucht aus der Vereinfachung und Steigerung
ihrer elementarsten Ausdrucksmittel neue Wirkungen zu gewinnen. Nein be¬
friedigende Lösungen wollen ihr aber noch nicht gelingen. Was auf den besten
Bildern lebendig anmutet, ist die feste Straffheit ihrer Formen und die heil¬
kräftige Klarheit ihrer Farben: das gibt den Arbeiten von Th. von Brockhusen,
Waldemar Rösler und Kurt Tuch ihre lebhafte Frische. Aber doch wirkt bei
ihnen die schnellfertige Reduktion der einzelnen Bildelemente oft gewaltsam oder
flüchtig, und das unbekümmerte Durcheinanderführen harter und eckiger Formen
schafft eine verwirrende Unruhe statt zwingend klarer Ordnung. Anderwärts
wird die Malmaterie schließlich die Hauptsache. Der Gegenstand, der den
farbigen Augenblickseindruck gewährt, bleibt im Grunde gleichgültig, der Strich,
der Zug des Pinsels herrscht, und in sein krausborstiges Dahinwühlen wird
der Kampf von Wolken, Rauch und Licht übersetzt; Flußwellen, Rasen- und
Sandstreifen streicht er in dicken Farbströmen aus. Und wo der „Pinselhieb"
nicht genügt, um die Farbmassen oder die isolierte Farbintensität recht aufdringlich
herauszuheben, da wird schließlich ein zäher Farbbewurf auf das Bild gedrückt.
Um so wohltuender wirkt unter soviel Vortragstemperamenten und Stil¬
suchern ein Stück klar gesehener und schlicht wahrhaftig gestalteter Natur wie
Ulrich Hübners Lübeck, eine Häuserreihe am Wasser, von frischem, vollem Baum¬
grün umhegt, von grünen Turmhelmen überragt, niedertauchend in eine klar
und ruhig spiegelnde Tiefe. Oder Pietzschs leuchtender Blütenbaum auf blau¬
flutendem Himmelsgrund im golden durchblühten Gartenwinkel.
Die unbefangene Weitherzigkeit, die bei der Auslese der Kunstwerke ma߬
gebend war, hat neben den neuerem Landschafter genug aufgenommen, die ein¬
fache Wege durch altvertraute Bereiche gehen — Thoma etwa, Hans von
Volkmann, Stadler, Otto —, haben sie ruhig neben Natnrumformungen eingereiht,
die wie die Bilder von Erbshöh oder Feigerl die Laubmassen der Bäume eckig
zurechtstutzen und die einzelnen Kronenstücke zu wulstigen Massen ineincmderkeilen.
Dieser Gerechtigkeit dankt die Ausstellung überhaupt manchen freundlichen
Ausgleich. Es fehlt natürlich nicht an Stilleben von primitivster Wucht, auf
denen Flaschen und Töpfe mit verzogenem Umriß, als wären sie aus Gummi,
in einer Farbfläche schweben, aber daneben dürfen sich doch auch stillere Ge¬
schwister bescheidentlich behaupten, die mit einer friedlichen Freude dem orga¬
nischen Eigenleben der Dinge nachgehen, ihren Oberflächenschimmer und das
Schillern farbiger Widerscheine zart und behutsam einfangen. Und auch im
Bildnis braucht ja schließlich nicht einzig und überall die Selbstherrlichkeit der
Pinselführung Form und Ausdruck der Persönlichkeitswiedergabe zu bestimmen,
seine farbige Erscheinung kann doch auch einmal mehr festhalten wollen als
nur einen Augenblickszufall ganz äußerlicher Art oder einen Augenreiz des
Malers. So ist denn da und dort einem Porträt Raum gegönnt, das dem
Physischen mit schlichter Deutlichkeit gerecht wird und in das Seelische liebevoll
eingeht, wie das ausgezeichnete, warm lebendige und malerisch feine Herren¬
bildnis von Schmurr. Bietet sich dann gar als Gegenstand der Darstellung
eine von der Natur so vollrund entfaltete Leiblichkeit wie sie der Domkapitular
Schnütgen sein eigen nennen darf, so mag einem Künstler wie dem Grafen
Kalckreuth freilich ein Werk voll kräftiger Lebensfrische gelingen.
Kalckreuth hat sich mit seinen übrigen Werken den Leitern und Richtern
des Künstlerbundes zugesellt, die in der höchsten, reinlichsten Zelle von ihrem
Schaffen Rechenschaft geben. Hier hat im „Tromphaus" ein Malertraum von
bannender Schönheit durch ihn seine Gestaltung empfangen. Aus dem grün¬
überschatteten Häuserwinkel am stillen, blanken Wasserlauf wird ein wunderbar
zartes Gewebe von klarem Spiegeln und schwimmendem, schwebendem Wider¬
schein, schmiegsamen Licht und lebendig spielenden Dämmerungen. Liebermann
hat zwei tonfeine Standbilder beigesteuert, deren freie Helligkeit neben dem
gedämpften Innerliche der älteren „Kinderschule" doppelt eindringlich wirkt.
Clarenbach gibt Winterlandschaften von fein durchgebildeter Harmonie Heller
Silbertone, wohlabgewogen in den Formmafsen und klar im Durchblick. Viel¬
gestaltig und wandlnngsfähig erscheint Max Slevogt. Eine kleine Landschaft
läßt im Gewühl zerrissener Wolken warmes Abendgold über ferneblauen Bergen
aufglühen. Oder es breitet sich lichthelles Weideland in dem warmen Flimmern
des Sommertages hin. Die Klarheit sicherer Reife waltet in dem Reiterbildms
von 1902: die Mannesgestalt sitzt schlank und leicht im Sattel, in ungezwungener
Einheit mit dem Tier, und mit dem Grau und Braun wirkt das Laub des
herbstlichen Waldes einen gedämpften Vollklang von sachlicher Zurückhaltung und
meisterlicher Vornehmheit. Lovis Corinth läßt eine verschleierte Maske halb¬
entblößt ihre Üppigkeit zur Schau bieten — Nubenssche Sinnenlust und die
malerische Delikatesse Goyas sind hier zu einem kräftig reichen Akkord zusammen¬
gezwungen. Und dieselbe Hand hat daneben einen Apostel Paulus geschaffen,
streng, knapp und bestimmt in der Linienführung, klar und klangvoll in der
farbigen Erscheinung. Vor einer Teppichwand eine hohe, hagere Gestalt, in
herbsrisches Blau gekleidet. Die Linke preßt mit ausgespreizten Fingern die
Bibel an die Brust, die knochige Rechte gestikuliert heftig dem Beschauer ent¬
gegen; auf einem sehnigen Hals reckt sich ein Kopf mit zerzausten Haaren empor,
der weitgeöffnete Mund weist seine Zahnlücken, unter der hohen, gefurchten
Stirn sind die Augen weit ausgerissen — man mag von Paulus sich ein anderes
Bild machen, aber die Gestalt eines leidenschaftlichen Eiferers hat Corinth
jedenfalls mit überzeugender Eindringlichkeit hinzustellen vermocht. Sehr über¬
raschend führt sich Albert Weisgerber, der bisher nur durch satirische Zeichnungen
in der Münchener Jugend allgemein bekannt geworden ist, als religiöser Maler
ein. Er gestaltet einen nackten Jeremias, der sich in leidenschaftlicher Ver¬
zweiflung langsm zur Erde wirft, und er bietet eine neue Darstellung der
Marter des Sebastian. Zwischen den grauen Stämmen eines Waldes ist der
Heilige in die Knie gesunken, die Brust von Pfeilen durchbohrt; er hängt an
den Stricken, die ihm über dem Haupt die Fäuste zusammenknebeln. Helles
Licht flutet herab über den jugendlichen Körper, webt sich, um den Scheitel und
schimmert durch die hängenden Haarsträhnen hinein auf die gramvolle Sum,
über das in schweigendem Dulden sich niederneigende Antlitz. Und dies Auf¬
binden einsamer Qual ist umfangen von dem warmen Leben des Lichtes zwischen
den schlanken, hohen Bäumen und dem junghellen Laubgrün. Erschütternder
Ernst und tiefe Innerlichkeit geben der Sprache dieser stummen Tragödie ihre
unvergeßliche Eindrucksmacht.
Neben den Meistern der Tribun« hat man Wilhelm Trübner einen beson¬
deren Raum zugebilligt. Er zeigt darin Porträts, Reiter und Pferde, Land¬
schaften und Akte. Sie alle beweisen aufs neue die Breite und Vollkraft seines
Strichs, die Wucht, mit der er das Gesamtgefüge der körperlichen Erscheinung
sicherstellt und die farbigen Oberflächenwerte herausarbeitet. Die Stärke dieser
Kunst liegt ganz und gar im Malerischen. Das wird namentlich an den neueren
Bildnissen deutlich, die sich um eine reichere und feinere Belebung des Ausdrucks
nur wenig bekümmern. Es erweist sich auch in der Unbefangenheit, mit der
Trübner etwa einem beliebigen Freilichtakt eine Schüssel mit dem Haupte
Johannes des Täufers in die Hände gibt. Die Landschaften holen ihren Vor¬
wurf aus dem Odenwald und vom Starnberger See und meistern ihn mit
rauhem, derb und breit zusammenfassendem Strich und in saftiger Farbigkeit,
Schließlich hat der Künstlerbund, um Ferdinand Hodler im Jahre seines
sechzigsten Geburtstags noch besonders zu ehren, in einem großen Saal nur
Werke seiner Hand vereinigt. Es sind zumeist kleinere Bilder, viele darunter
stammen aus frühen Schaffensjahren des Künstlers: Porträts und Köpfe, har¬
monisch in ihren verhaltenen Tönen, sparsam und gelassen in der Formbehandlung,
liebevoll in der Lichtführung. Daneben Landschaftliches: eine Seehunde mit ein
paar Bäumen, über denen sich in der Ferne ein breiter Bergrücken hindehnt; eine
Kuh, samtgrau und weiß auf graugrüner Bergwiese, ruhig grasend, sicher und
ohne alle Absichtlichkeit in schlichter Größe gegeben — eines wie das andere
von köstlicher Weichheit und Feinheit des Kolorits. Das große, hellwarme
Jnnenstück der Madrider Uhrmacherwerkstatt gehört auch noch zu diesen Früh¬
werken voll sorgsam abgestimmten Lichtlebens. Neben ihnen strahlen Land¬
schaften aus neuer und neuester Zeit in freier, frischer Leuchtkraft: junges Grün
am Wassersaum und reichblühende Grasgärten unter schlanken Frühlings-
bänmen; Seespiegel, findend in lichtem Blau, von Zacken und Zinken überragt,
die sich aus wallenden Morgenschleiern in lautere Klarheit heben. Oder Alp?r-
ealer, von ganz hoch oben dem Blick sich öffnend; die Nebel sinken in die Falten
der tiefblauen Berge und darüber sprüht durch die weite Himmelshöhe das
Gold der ersten Frühe. Die wenigen Figurenbilder sind leider doch nicht imstande,
von Hoblers persönlichster Leistung eine hinreichende Vorstellung zu geben, seine
köiperbeseelende Rhythmik in ihrer monumentalen Einfachheit und gesammelten
Ausdruckskraft offenbar zu machen. Sein Werk könnte sonst klarer und eindringlicher
als irgendein Versuch der Jüngeren zur Anschauung bringen, nicht nur, wo heute
die Malerei ihre Ziele sucht, sondern auch wo durchschlagende persönliche Kraft
und reife künstlerische Meisterschaft bereits vollgültige Lösungen gefunden haben.
Daß solche Lösungen sich schließlich gar nicht so himmelweit von allem
seither Gewohnten und Gekannten entfernen werden, das wird wohl mehr und
mehr zutage treten, wenn sich nur erst aus der wilden Selbstverzückung und
tastenden Ungelenkheit der Jugend klare, sichere Werte herausläutern. Einst¬
weilen steht doch noch über allem anderen die Kunst der Älteren in ihrer
meisterlichen Reife ehrfurchterzwingend da und weiß sich gar leicht Liebe zu
gewinnen. Ihr wächst wie von selber ein zuversichtliches Vertrauen entgegen,
daß nur ihr Werk als dauernde Mehrung in den Schatz deutscher Kunst ein¬
gehen wird. Aber mögen sich die Jungen derweilen ausstürmen: irgendwann
wird es auch sie doch wieder nach sicheren Grundlagen auf der alten Erde
verlangen. Was sie mit den Meistern von heute schließlich eint, werden sie
dann auf eigenen Wegen sich erkämpft haben, und das wird ihres Suchens
dauernder Gewinn bleiben.
Eine Politische Korre¬
spondenz verbreitet in diesen Tagen die
Nachricht, die Schweinebestände hätten in
den letzten Monaten ganz erheblich zuge¬
nommen. Diese Nachricht widerspricht folgen¬
den Berechnungen vollständig, die den Nach¬
weis liefern, daß wir im Herbst dieses bis
Frückjahr nächsten Jahres einer schweren
Schweinenot entgegengehen. Am 10. Januar
1873 waren im Deutschen Reiche vorhanden:
am 2. Dezember 1907:
Die Bevölkerung Deutschlands wuchs von
rund 41 600 000 Einwohnern im Jahre 1873
auf rund 62 000 000 im Jahre 1907.
Geschlachtet werden im Durchschnitt jähr¬
lich etwa 2/5 der Rinder, V. der Schafe, Vi der
Schweine.
Das Lebendgewicht der Schlachttiere be¬
trägt im Mittel ungefähr:
das Schlachtgewicht:
1873 ergaben danach:
Diese überschläglichen Zahlen zeigen, wie
sehr und wie immer mehr die Fleischversorgung
Deutschlands auf der Schweinehaltung beruht;
und sie lassen erkennen, daß, da in normalen
Jahren bekanntlich nur etwa 6 Prozent des
Fleischbedarfs aus dem Auslande eingeführt
werden, die deutsche Landwirtschaft mittels der
Schweinehaltung dem großen Mehrbedarf an
Fleisch geschmeidig gefolgt ist — nicht nur
entsprechend dem Anwachsen der Bevölkerungs¬
zahl, sondern auch entsprechend dem Mehran¬
spruch auf den Kopf der Einwohner infolge
besserer Lebenshaltung (1873 pro Kopf
7SVi° Pfund, 1907 pro Kopf 92«/lo Pfund).
Wenn in normalen Zeiten ausreichend —
um diesen Zustand zu sichern, ist das beste
Mittel die kräftige Förderung der inneren
Kolonisation —, aber in der Regel doch nicht
Überfluß an Fleisch vorhanden ist, so ist es
natürlich, daß im Gefolge von Fehlernten
Knappheit an Fleisch und anziehende Preise
eintreten, solange wir eine gesunde Land¬
wirtschaft und deren Schutz vor Seuchenein-
schleppung für das Vaterland für nützlich
halten.
Nach der letzten an Heu, Stroh und Hack¬
frucht schlechten Ernte im Jahre 1911 hat
aber die Fleischknappheit und Teuerung we¬
sentlich länger angehalten, als die Futter¬
knappheit; ja wir haben heute noch Preise,
die im Verhältnis zu den im letzten Jahre ge-
ernteten Futtervorräton hoch erscheinen müssen.
Woran liegt das?
Schlechte Futterernten und besonders
schlechte Hackfruchternten sind nicht von glei¬
chem Einfluß auf die Rindviehhaltung, wie
auf die Schaf- und die Schweinehaltung.
Verhältnismäßig am wenigsten werden davon
die Schafbestände berührt. Die werden meist
auf großen Gütern gehalten; und nur aus¬
nahmsweise kann die Futtersnot vereinzelt so
groß sein, daß es nicht möglich ist, die Herde
der nötigenfalls sehr genügsamen Tiere
durchzuhalten.
Wesentlich stärker wirkt mangelhafte Futter-
ernte auf die Haltung des Rindviehs. Immer¬
hin sind dessen Produzenten noch zu sehr hohen:
Prozentsatz die größeren Wirtschaften, die selten
so stark Vieh halten, daß das Stroh dabei
knapp wird, und die ihre Rinderbestände,
wenn nicht mästen, so doch mit Raub- und
Kraftfutter erhalten können. Und auch der
kleinere Landwirt vermindert die Zahl seiner
Rinder erst, wenn er unbedingt muß. Den¬
noch tritt natürlich vorübergehend verstärkte
Zufuhr zu den Schlachtviehmärkten ein —
vorzeitiges Abstoßen eigentlich zum Mästen
bestimmter Tiere — und darauf Knappheit —
Uberhalten bis zur neuen Futterernte.
Daß nach der Futtermißernte 1911 auch
das Rindfleisch andauernd derer blieb, ist auf
das Zusamentreffen der schlechten Ernte mit
den üblen Folgen der Maul- und Klauen¬
seuche und in der Hauptsache auf die Knapp¬
heit an Schweinefleisch zurückzuführen.
Viel eingreifender als auf Schaf- und
Rinderhaltung wirkt eine schlechte Futterernte
auf die Schweinehaltung. Die liegt zumeist
in den Händen der kleineren und kleinsten
landwirtschaftlichen Betriebe, in denen der
Kleinbauern, der Büdner, der Kätner, der
Dcputanten, der Jnstleute und sonstiger aus
dem Lande lebender Arbeiter. Und diese
kleinsten Betriebe besonders sind zumeist ganz
auf die Schweinehaltung und den Gewinn
daraus zugeschnitten. Etwas Brotkorn, etwas
Rauhfutter für die Ziege. Das Sommertorn,
die Kartoffeln besonders — sei es, daß sie
als Lohn, sei es, daß sie auf dem kleinen
Besitz oder Pachtacker geerntet — sind in der
Hauptsache für die Schweine bestimmt. Kar¬
toffeln sind für diese mit die Hauptnahrung.
Schlägt die Ernte darin fehl, so müssen die
genannten kleinsten Landwirte die Schweine¬
haltung aufgeben, die etwas größeren sie
stark einschränken; und auch die mittleren
Wirte finden dann oft größeren Nutzen im
Verkauf teuerer Eßkartoffeln als in der
Schweinemästung.
Dann kommen, wie im Winter 1911/12,
unreife Schweine in Massen an den Markt
und im Sommer darauf fängt die Knappheit
an. Damit müssen wir uns abfinden: Mi߬
ernte bringt Teuerung.
Wie aber die Schweinehaltung überhaupt,
so liegt auch die der Muttertiere zu sehr er¬
heblichem Teile in den Händen der kleinen
Betriebe. Gerade mit Ferkelzucht und Ver¬
kauf befassen sich — besonders im Osten —
gerne landwirtschaftliche Arbeiter, deren Ein¬
kommen oft nur insofern noch in Naturalien
besteht, als ihnen ein Stück Land zum Be¬
pflanzen mit Kartoffeln und zu deren Ab¬
erntung überwiesen wird. Von diesen Leuten
und von kleinen selbständigen Wirten im Osten,
für die der Grund zur Ferkelzucht zumeist in
der Schwierigkeit liegt, die Milch anders an¬
gemessen zu verwerten, bezieht der Zwischen¬
handel in großen Mengen Ferkel und Läufer¬
schweine, die in großen Wirtschaften dann ge¬
mästet werden.
Geräten nun die Kartoffeln schlecht— so
schlecht wie 1911 — so ist für solch einen
Arbeiter die Möglichkeit, Schweine zu füttern,
meist ganz genommen, für etwas größere
Betriebe stark eingeschränkt. Erntet der Ar¬
beiter statt 160 Zentner Kartoffeln beispiels¬
weise nur 90, so muß eine Zuchtsau fort;
auch die zweite am liebsten. Denn die 30
Zentner, die für die Familie, die Ziege, die
Hühner, zuweilen das Schlachtschwein, nicht
gebraucht werden, lassen sich besser durch Ver¬
kauf von Eßkartosseln, als durch Verfütterung
verwerten. 30 Zentner 5 2,60 Mark sind
76 Mark. Soviel ist an der Zuchtsau längst
nicht zu verdienen; denn die Ferkel kosten ja
kein Geld bei der Futterknappheit, nur Arbeit;
sind überhaupt kaum loszuwerden. Also
erstens teure Kartoffeln füttern, womöglich zu¬
laufen, und dann die Ferkel halb verschenken:
das wäre sehr unvorteilhaft. — Aus solchen
Erwägungen schafft auch der kleine selbstän¬
dige Landwirt aus seinem Schweinebestande
oft zuerst die Zuchtsau fort, deren Fütterung
für längere Zeit keinen Nutzen, sondern Kosten
bringt.
Von größeren Viehverwertungsgenossen¬
schaften kann man erfahren, wieviel gut
brauchbare junge Muttersauen im Herbst 1911
abgeschafft worden sind. Die Zahlen der
großen Schlachtviehmärkte geben kein richtiges
Bild; die schweren Sauen kommen nur zum
Teil dorthin. Die behalten gern die Fleischer
in der Abgabegegend. „Man schätzt mich in
der Steuer nach der Zahl der Tiere, die ich
schlachte," meinte einer, „da komme ich besser
weg, wenn die Schweinchen 4 anstatt 2 Zentner
wiegen".
War durchschnittlich etwa der Oktober 1911
der Termin, zu dein die Sauen von seiten
kleinerer Landwirte wegen Futtermangels
zum Teil abgeschafft wurden — manche
früher, manche später —, so wurden von ihren
Besitzern vielleicht im Mai 1912, als die
Hoffnung auf bessere Zeit erwachte, Ferkel
gekauft. Aber gewiß nur ein Teil der Leute
tat es in der Absicht, die Ferkelzucht wieder
aufzunehmen; sie ist mühsam und hat zuletzt
Verlust gebracht. Jedenfalls gab es bei
denen, die damit wieder anfingen — Winter¬
ferkel kränkeln — zumeist Frühjahr 1913 erst
wieder Ferkel; wenig, weil von Erstlings-
snuen. Wie knapp sie waren und noch sind,
zeigen die Preise; unter 20 Mark wurde aus
der ersten Hand das sechs Wochen alte Tier
bis vor kurzem nicht verkauft; muntere, gesunde
Achtwochenferkel bringen wohl heute noch gut
30 Mark. Viele Landwirte stellen bei solchen
Preisen Schweine zur Mast nicht ein.
Danach ist anzunehmen, daß die Schlacht¬
schweine noch teuer sein werden, wenn die
jetzigen Ferkel als solche heran sind, No¬
vember, Dezember 1913.
Also im Winter 1913/14 hohe Fleisch¬
preise als Nachwirkung der Futtermißernte
1911.
Die Viehzählung in Preußen am 1. De¬
zember 1911 ergab rund 17 250 000
Schweine, die vom 2. Dezember 1912 deren
15 450 000; also 1 800 000 weniger als im
Vorjahr, d.h. 1ip/z Prozent. Die sind im
wesentlichen daran schuld, daß die Preise so
hohe wurden.
Rechnet man durchschnittlich im Jahr von
jedem Muttertier zwölf Ferkel und nimmt
man das Durchschnittsalter der Schweine auf
zwölf Monate an, so ergibt sich, daß das
Fehlen von 160 000 Sauen das Weniger von
1800 000 Schweinen verursacht hat. Wahr¬
scheinlich, daß die Zahl nicht genau stimmt;
es mögen auch 140 000 oder 160 000 feh¬
lende Sauen daran schuld sein. Andere
Gründe aber liegen meines Erachtens nicht
vor; denn die Abschaffung der unreifen
Schweine infolge Futtermangels von 1911
her hatte für Dezember 1912 keinen Ein¬
fluß mehr.
Mir scheint nun diese Zahl von 160 000
Sauen — auf jede Provinz kommen 12 500,
auf jeden Kreis vielleicht 300 — nicht groß
im Vergleich zu der Wirkung, die ihr Fehlen
gehabt hat: Anhalten der Fleischteuerung und
Knappheit weit über die Zeit der Futter¬
knappheit hinaus. Allenfalls zwei bis drei
Monate pausieren hätten die braven Tiere
sollen in ihrer Zweckbeschäftigung, Ferkel zur
Welt zu bringen; anstatt dessen wurden sie
tot gemacht. Denen, die sie abgeschafft haben,
war das nicht zu verdenken; so um 4 Mil¬
lionen Mark hätte das Überhalten der
160 000 Tiere Arbeiter und kleinste Landwirte
zunächst Wohl gekostet,weil sie die Nahrung hätten
kaufen müssen und von „nebenher mit durch¬
füttern" in so kleinen Betrieben keine Rede
sein kann. Es müßten sich aber Wohl Ma߬
nahmen durchführen lassen, durch die erreicht
Wird, daß much neuem Futtermißwuchs Mutter¬
schweine zur rechtzeitigen Produktion von
Ferkeln, um die leeren Ställe wieder zu
füllen, nicht fehlen.
Das zunächst Notwendige beim Bevor¬
stehen einer schlechten Futterernte wäre meines
EiachtenS rechtzeitige Feststellung und Kon¬
trolls der Mutterschweinbestände; Anmel¬
dung jeder Abschaffung von Muttertieren in
dieser Zeit.
Sodann dringende Mahnung an alle
Landwirte, die Mutterschweine nicht abzu¬
schaffen, und an die größeren die Forderung
sogar, im Winter nach der Mißernte Jung¬
schweine belegen zu lassen; die Kosten, die das
Überhalten von Mutterschweinen verursacht,
werden durch die guten Preise, die nach Auf¬
hören der Futterknappheit gezahlt werden,
reichlich aufgewogen. Man würde der städti¬
schen Bevölkerung die Forderung nach Öffnung
der Grenzen bei Fleischteuerung nicht ver¬
denken können, wenn die Landwirtschaft nicht
alles ente, was nötig und zweckmäßig und
ohne große Opfer möglich erscheint, um an¬
dauernder Fleischknappheit vorzubeugen. Ich
glaube, es wäre nach der Ernte 1911 zu so
starker Verminderung der Schweinebestände
nicht gekommen, wenn die Landwirtschaft sich
klar gemacht hätte, was das rücksichtlich der
Folgen sorglose Abschaffen der Mutterschweine
auf sich hat.
Wird aber die Mißernte wieder einmal
sehr groß, so daß die Landwirtschaft allein
die Forderung, die Zahl der Mutterschweine
nicht zu verringern, nicht erfüllen kann, dann
verursacht es nicht unerschwingliche Kosten,
wenn der Staat im Dezember—Januar so¬
viel Sauen und zu belegende Jungschweine
kauft, als seit der Fehlernte Mutterschweine
abgeschafft worden sind; sagen wir wieder
160 000.
Ställe dafür kosten 15 Millionen Mark.
Die Schweine sind im Winter noch sehr billig.
Die Kosten für sie und für das Futter (höch¬
stens 6 Monate) werden durch den Verkauf
ini Frühjahr und im Sonnner reichlich
herausgeschlagen. Bleiben verloren die Zinsen
der 15 Millionen und die jährlichen Unter¬
haltungskosten für die Ställe. Die würden
die Steuerzahler Wohl tragen, die das Fehlen
von 1 800 000 Schweinen jeden Monat mit
mindestens 30 Millionen Mark bezahlen und
daneben sich in der Fleischnahrung Beschrän¬
kungen auferlegen müssen.
Zur Vollständigkeit unserer Rüstung ge- ,
hört die Sicherung ausreichender Fleischver¬
sorgung für den Fall eines Feldzuges.
Die Re¬
gierungsvorlage über daS Erbrecht des Staates
ist in der Budgetkommission deS Reichstages
mit einigen Abänderungen, von denen noch
die Rede sein wird, angenommen. — Auch
das preußische Herrenhaus hat sich mit der
Frage beschäftigt. Geheimrat Adolf Wagner,
bekanntlich einer der Mitunterzeichner des in
den Grenzboten veröffentlichten Aufrufes für
das Erbrecht des Reiches, führte zugunsten
der Vorlage folgendes aus:
Auch die Gestaltung des Erbrechts muß
der modernen Entwicklung deS Lebens folgen.
Ist es zu rechtfertigen, daß wir neben unserer
eigenen Persönlichkeit immer nur die Familie
als berücksichtigenswert hinstellen? Nein,
weder der einzelne, noch die blutsverwandte
Familie kommt allein in Betracht. Die
weiteren Kreise des Volkes kommen ebenfalls
in Betracht und diese sind im Staat vereint.
Gerade vom geschichtlichen Standpunkt aus
muß die Veränderung unserer gesamten
Lebensverhältnisse auch in der Gestaltung
des Erbrechts zum Ausdruck gelangen. Der
verwandtschaftliche Zusammenhang ist heute
nicht mehr derselbe, wie in vergangener Zeit.
Die Verpflichtungen, die dem weiteren Ver¬
band der Familie oblagen, sind verschwunden.
Sie sind längst aus den größeren Verband,
den des Staates, übergegangen. Aus diesen
Gründen hat sich die Ansicht gebildet und
weite Verbreitung gefunden, es müsse ein
staatliches Erbrecht an die Stelle der Erb¬
ansprüche der entfernten Verwandten treten,
die kein moralisches Recht mehr auf die Erb¬
schaft haben. Mit gutem Grunde werden
sie als testamentslose Erben ausgeschaltet
und durch den Staatsverband ersetzt, dem
Wir für unsere wirtschaftliche und sittliche
Entwicklung so viel verdanken. „Das ist
durchaus keine radikale Forderung, sondern
eine naturgemäße Weiterentwicklung des
Eine nationale Porträtgalerie. Ein
Plan, der fast so alt ist wie das Deutsche
Reich, ist jetzt endlich zur Ausführung gelangt.
Bereits 1872 und im folgenden Jahre forderte
Kaiser Wilhelm der Erste zu wiederholten
Malen den Kultusminister auf, Vorbereitungen
zu treffen zur Einrichtung einer Bildnis¬
galerie, „um der Nation ihre großen Männer
und deren Wirksamkeit gegenwärtig zu er¬
halten. Seine Majestät beklagte, daß z. B.
von Stein, Hardenberg, Humboldt sich nir¬
gends Porträts fänden." Ein Gutachten über
eine solche Sammlung arbeitete im Auftrage
des Ministers Leopold von Ranke aus. Eigene
Räume in der gerade damals im Bau be¬
findlichen Nationalgalerie sollten zur Aufnahme
und wirkungsvollen Gruppierung der Bild¬
nisse geschaffen werden. Da jedoch die ein¬
zigen hierfür geeigneten Säle schon für die
Corneliusschen Kartons vorausbestimmt waren
und andere Räumlichkeiten nicht zur Ver¬
fügung standen, geriet die ganze Angelegen¬
heit ins Stocken, und zwar so gründlich, daß
man nicht einmal daran dachte, das Wich¬
tigste — die Bilder selbst — anzukaufen.
Damit begann man erst, als im Jahre 1873
der Kronprinz Friedrich Wilhelm als Pro¬
tektor der königlichen Kunstsammlungen die
dringende Mahnung aussprach, endlich den
wirklichen und sichtbaren Anfang zur Rea¬
lisierung eines Planes zu machen, der ihm
sehr am Herzen liege, und den er vor einer
Verschleppung und Versäumnis zu bewahren
wünsche, die in späteren Jahren vielleicht nicht
wieder gutzumachen wäre. Man kaufte und
bestellte nun zwar eine Reihe von Porträts
hervorragender Männer der Diplomatie, des
Militärs, der Künste, der Wissenschaften, der
Technik; aber da man die Kunstwerke nicht
zusammenhängend gruppieren konnte, ver¬
fehlten sie den Zweck, dem sie dienen jollten.
Sie vergrößerten lediglich den Bestand der
Rationalgalerie. Immerhin war doch ein
Grundstock vorhanden, auf dem man hätte
weiterbauen können. Aber schon nach diesem
ersten Schritte blieb man wieder im Sande
stecken. Dreißig Jahre lang geschah — außer
gelegentlichen Erwerbungen von Porträts —
in der Sache nichts, bis 1907 der General¬
direktor Bode dem Abgcordnetenhnuse ein
Programm über die Entwicklung der könig¬
lichen Museen und die Entlastung einzelner
Abteilungen vorlegte. Darin war auch aus
den alten, fast vergessenen Plan zurückgegriffen.
Direktor Justi machte 1910 dem Kultusminister
den Vorschlag, die Porträts bedentender Per¬
sönlichkeiten aus der Nationalgalerie auszu¬
scheiden und in der Schinkelschen Banakademie
zu einer Bildnissammlung zu vereinigen.
Der Antrag fand die Zustimmung der ma߬
gebenden Instanzen. Somit war die Platz¬
frage befriedigend gelöst. Vom Landtage,
wo man die Vorlage verständnisvoll begrüßte,
wurden die zur Einrichtung der neuen Galerie
geforderten Mittel bewilligt, so daß die
„Bildnissammlung der königlichen Nntional-
galerie" zum Regierungsjubiläum des Kaisers
eröffnet werden konnte.
Freilich — das sei gleich vorneweg be¬
tont —, was uns jetzt geboten wird, das
„darf durchaus nur als Anfang betrachtet
werden, als Versprechen". In diesem Sinne
will es Justi auch ausdrücklich aufgefaßt
wissen. „Nach dem Interesse jedoch, das
Seine Majestät der Kaiser und König, die
königliche Staatsregierung und der Landtag
der Monarchie für den Plan der Bildnis¬
sammlung bewiesen haben, steht zu hoffen,
daß im Laufe der nächsten Jahre weitere
Räume sowie Mittel zum gleichartigen Aus¬
bau der Sammlung bereitgestellt werden "
Diesem Wunsche kann man sich nur nach¬
drücklich anschließen. Auch durch Private
Stiftungen wird die Galerie gewiß manche
Bereicherung erfahren z darf doch jede
Familie stolz darauf sein, wenn das Bild
eines ihrer Angehörigen in diese Galerie aus¬
genommen wird.
Schon in ihrer jetzigen Verfassung macht
die Sammlung beim ersten flüchtigen Rund¬
gang einen durchaus erfreulichen und ver¬
heißungsvoller Eindruck, der sich bei eindrin¬
genderem Betrachten noch steigert. Mit feinem
Empfinden und entschiedenem Erfolg hat Justi
das vorhandene, sehr ungleichartige Material
in den wenigen, beschränkten Räumen verteilt.
Die Aufgabe, für die einzelnen Gruppen den
geeigneten dekorativen Rahmen zu schaffen,
hat der Archuekt der königlichen Museen, Bcm-
inspeklor Wille, reizvoll und diskret gelöst.
Der „Führer" ist ein kleines Kunstwerk für
sich, sowohl dein Inhalte als auch der druck¬
technischen Ausstattung nach. (Verlag von
Bruno Cassirer in Berlin, Druck von Otto
von Hollen.) Prof. Hans Mackowski, der die
Galerie zu leiten berufen ist, hat sich nicht
mit der trockenen Aufzählung der Kunstwerke
begnügt; er hat vielmehr jede der im Bilde
dargestellten Persönlichkeiten, ihre Wirksamkeit
und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte,
das deutsche Geistes- oder Wirtschaftsleben
kurz charakterisiert, häufig durch glücklich ge¬
wählte Zitate. So ist das Museum unter
den günstigsten Auspizien als eine neue Quelle
der Belehrung und Erhebung dein Volke zu¬
gänglich gemacht worden.
Den Besucher grüßt am Eingange die
überlebensgroße Figur des Alten Fritz, ein
vergoldeter Gipsabguß nach dem im Stände-
hnus zu Stettin befindlichen Mnrmororiginal
von Schadow. Das erste Kabinett beherbergt
Bildnisse von Mitgliedern des Königshauses:
Abgüsse der Schadowschen Büsten Friedrich
Wilhelms des Dritten und der Königin Luise,
die Marmorbüsten des ersten Kaisers (von
Joseph von Kopf) und seiner Gemahlin (von
Bernhard Römer), ferner das von Max Koner
1890 gemalte Ölbild des regierenden Kaisers,
das in der Erfassung des geistigen Wesens
Wilhelms des Zweiten als das ähnlichste
gilt. Es folgen im nächsten Raum neun be¬
rühmte Gelehrte: Helmholtz, Mommsen,
Zeller, Neumann, Curtius, Lepsius, Droysen,
Weber, Ranke. Daran schließen sich Generäle
aus den Feldzügen von 1866 und 1870. Im
vierten Zimmer sind Zeichnungen und Büsten
von Gelehrten, Dichtern, Staatsmännern,
Technikern im bunten Wechsel zur Schau ge¬
bracht, darunter Werner von Siemers, ein
Meisterwerk Adolf Hildebrands, vier Aquarelle
Menzels und die glänzende Kohlezeichnung
Stauffer - Beruf, Conrad Ferdinand Meyer
darstellend. Künstler aus der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts find im Raum V
gruppiert. Darunter befindet sich als einzige
Ausländerin die herrliche Sängerin Jenny
Lind; ihre Bedeutung für das künstlerische
Leben in Berlin, der Sturm der Begeisterung
und Verehrung, den sie in ganz Deutschland
entsandte, rechtfertigt sicherlich ihre Aufnahme
in die Galerie. Die zwei nächsten Säle re¬
präsentieren die Zeit der Romantik und das
Zeitalter Goethes. Tiefe Gruppierungen sind
bedingt durch die rein äußerliche Scheidung
in Zeichnungen und Ölgemälde. Trotz des
ziemlich starken Bestandes von fünfundfünfzig
Bildnissen empfindet man in diesen Gruppen
das Fehlen vieler bedeutender Deutscher be¬
sonders stark. Gluck, Wagner, Liszt und Hans
von Bülow sind in der Galerie vertreten,
aber Beethoven, Haydn, Bach, Mozart suchen
wir noch vergebens. Mit Vergnügen ge¬
wahren wir die köstliche Goethebüste Klauers,
auch Lessing, Tieck, Fontane, Hebbel, Heine
und andere, selbst der alte Hans Sachs fehlen
nicht; aber die großen Weimaraner Wieland,
Herder, Schiller und so nianche andere am
deutschen Dichterhimmel strahlende Sterne
erster und zweiter Größe vermissen wir noch.
Und wie vor vierzig Jahren, so ist es auch
heute noch zu beklagen, daß Porträts von
Stein, Hardenberg, Humboldt nicht zu finden
sind.
Ein letzter Saal enthält Bildnisse aus
dem langen Zeitraum von der Reformation
bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts;
die hier ausgestellten Porträts sind Leihgaben
aus der Gemäldegalerie und dem Kupfer¬
stichkabinett.
Der Breslauer „Skandal". Die Ange¬
legenheit des abgebrochenen Hauptmannschen
FestsPieleS schlägt immer weitere Kreise; sie
ist zu einer Politischen Frage geworden.
Das Hineinziehen der Parteipolitik ist von
linksliberaler Seite geschehen. Die Proteste
kommen u. a. von Kriegcrvereinen und Katho¬
liken; beide widersetzen sich natürlich nicht aus
künstlerischen Gründen, sondern die einen aus
nationalen, die anderen aus religiösen. Beider
Gründe sind gutt Mit Parteipolitik hatte
daS Hauptmnnn-Festspiel im Grunde gar
nichts zu tun; die kam erst hinein, als von
linkslibernler Seite entdeckt wurde, daß hier
wieder einmal eine Gelegenheit sei, „die
Geistesfreiheit" zu reklamieren.
Man ließ das teils durch eine frühere
Sozialistin besorgen, die besonders als
solche ja hervorragend geeignet ist zur Beur¬
teilung nationaler und religiöser Beschwerden,
und dann durch einen Dichter, Herrn Hardt,
der allen denen, die anderer Meinung sind
als er, kurzerhand bestritt, daß sie „auch nur
ein Blatt unserer Geschichte verstanden hätten".
Nun wollen wir unsererseits an dein Verstand
dieser Herrschaften nicht zweifeln, aber Ge¬
schichte wird nicht mit dem Verstand allein
erfaßt, sondern auch mit dem Herzen. Ge¬
wiß genügt eS für ein gutes Theaterstück noch
nicht, eine gute Gesinnung zu haben; um¬
gekehrt aber ist ein nationales Festspiel ohne
die Möglichkeit, in wirklich breiten Kreisen
einen Widerhall des nationalen Gefühls zu
wecken, ein Unding- Und wenn man gegen
das Hanptmannsche Festspiel einwenden kann
und einwenden muß, daß es sich gründlich
im Tone bergreift, daß es Taktlosigkeiten
enthält, die von vornherein gewisse Kreise
des Volkes abstoßen mußten, so ist es ge¬
richtet. Ein Festspiel ist keine Vorlesung;
es soll erbauen, emporreißen I Es ist auch
nicht für einen kleinen Kreis literarisch und
nur literarisch Interessierter bestimmt, sondern
für große Massen. Diese Grundforderungen
sind in Hauptmanns Werk unberücksichtigt
geblieben. - Schweigen wir von den großen
allgemein künstlerischen Schwachen des Werkes
und seinen kleinen künstlerischen Vorzügen,
Prüfen wir die Gesinnung des Festspieles
und seine allgemeinste Form.
Schlagen wir das Buch auf, das im
Verlage S. Fischer, Berlin, erschienen ist, so
finden wir ein mehrere Seiten langes Vor¬
spiel auf demi Theater nach sehr berühmten
Mustern, ein Zwiegespräch zwischen dem Di¬
rektor — eines Puppenspieles I — und seinem
Helfer. Will die Masse, wollen wir bei solcher
Gelegenheit so sehr an das Theater erinnert
werden? Wir finden eS geschmacklos, wenn
die Haupthelden des Jahres 1813 hier im
Theaterjargon und ironisch als Akteure be¬
zeichnet werden, die damals ihre Rolle ge¬
spielt haben. Gerade damals haben die
Leute weniger als sonst im Leben Komödie
gespieltI Dazu war der Ernst des Jahres 1813
zu groß. Wohl interessierte eS im ersten
Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhundert einige
Literaten, die alte Marionettenbühne zu er¬
neuern, aber war dies hier eine Gelegenheit
dazu? Hauptmann hat sich also von vorn¬
herein so schlimm, wie nur möglich, im
Maßstabe vergriffen. DaS Werk ist in seiner
Gesamtform, in seinem Puppenspielcharakter,
dem der Ablauf wirklich entspricht, der Masse
des Volkes überhaupt nicht verständlich.
Und wenn am Schluß nach großen weihe¬
vollen Reden Athene - Deutschlands der
Direktor zu Blücher sagt:
so schmeckt das vielleicht kaltherzigen Literaten,
aber sonst niemandem. Und mit wieviel
Literatur, mit wieviel fremden Literaturen
ist das Buch vollgestopft. Man braucht kein
Gegner jedes Fremdwortes zu sein, aber eine
Häufung von solchen, wie in diesem natio¬
nalen Festspiel, wird einem kaum vorgekommen
sein. Was sollen die Leute damit?
Und der Inhalt: Gewiß ist es töricht,
wenn Anstoß genommen worden ist an den
Worten Napoleons über Schill und seine
Offiziere; Napoleon mußte doch dargestellt
werden und konnte sich dann nicht anders
äußern (redete Napoleon sonst nur in diesem
Festspiel überall napoleonisch l) Es ist auch
töricht, wenn von anderer Seite beanstandet
wurde, daß erwähnt wird, wie der Papst
nach Paris gekommen sei, um Napoleon zu
krönen, weil dieser es nicht der Mühe für
wert hielt, deshalb nach Rom zu gehen.
Aber es ist nicht töricht, wenn man sich von
Versen abgestoßen fühlt wie von den folgen¬
den des Direktors, der eine Art Herrgott
darstellen soll, über Napoleon:
Wer empfindet das nicht frivol in der Er¬
innerung an das Jahr 1813, in dem auch
die religiöse Erhebung keine kleine Rolle
spielte? Daß der Herrgott gerade damals
„lächelnd hinter seiner Wand saß und die
Fäden in seiner Hand hielt", wird nicht als
eine angemessene Vorstellung erscheinen. Das
Lachen konnte damals, so meinen wir Menschen,
selbst einem Gott vergehen. Wenn eS dann
mit Bezug auf die folgende gesamte Aktion
der Puppen heißt:
Was hat das hier zu tun? Und warum
muß der große König hier in dem Moment,
wo es gegen Frankreich geht, in einer ganz
übertrieben fmnzöselnden Weise deutsch radc-
brechen, als wäre er kein geborener Deutscher
gewesen und könnte nicht das H in dem Worte
„Haben" aussprechenI Daß Friedrich Wilhelm
der Dritte sodann nicht der Held der Be¬
wegung war, wissen wir, aber der Aufruf
„An mein Volk" ist doch erschienen und hat
gewirkt — kein Wort davon hören wir hier,
wo selbst Ludwig der Sechzehnte, der schon
zwanzig Jahre vorher hingerichtet war, eine
ganze Reihe wohlwollender Verse für sein
mutiges Sterben bekommt, das mit dem Mär¬
tyrertod Jesu verglichen wird.
so werden die meisten von uns wieder für
diese Sorte Humor keinen Sinn haben. Und
eben nach dem Kriege 1813 durfte die Athene-
Deutschland den Krieg nicht den „nackten Mord
und eine Missetat" nennen. Und weiter: ge¬
rade in Breslau, in der so stark katholischen
Provinz Schlesien, die doch 1313 eine hervor¬
ragende Rolle spielte, durste in einem Fest¬
spiel, das für das ganze Volk gellen sollte,
nicht Friedrich der Große fast nur dazu auf¬
treten, um den Katholiken Grobheiten zu sagen.
Er wird aufgefordert, den deutschen Aar zu
befreien, und antwortet mit dem ganz ab¬
liegenden Gedanken:
Der Geist, der in dem allen waltet, ist uns
fatal bekannt. Wenn am Schluß nach dem
Frieden ein großer Zug erscheint von allerlei
Kulturträgern, so kommen zuletzt „auch einige
Herrscher, die sich um die echte Kultur ihrer
Völker verdient gemacht haben". Und der
Dichter dieses Werkes und seine jetzigen un¬
entwegter Freunde wollen über Parteigeist
klagen? Wir anderen sehen in dem Festspiel
ein Erzeugnis jenes unpolitischen Jdevlogen-
tums, das so naiv ist zu glauben, daß auf
politischem Gebiete eine Weltanschauung, wie
etwa die des Berliner Tageblatts, die frei¬
heitliche und moderne Weltanschauung über¬
haupt bedeute. Daß Blätter dieser Art jetzt
einen Skandal aus der Angelegenheit machen
wollen, das ist ein Kulturskandal für uns
Deutsche.
Nachdruck fiimMchcr Nufsiitj- nur mit »uSbriiSlichcr Erlaubnis drL Verlags grstattct.
verantwortlich: der Hciauc-geber George Tleinow in Berlin-Schöneberg. — Manuslriptsenduugen und Brief«
werden erbeten unter der Adresse:
«n den Herausgeber der Grenzbote» in Berlin-Friedena«, Hedwigstr. 1».
Sernjpr-es-r der Schrtstleitung: Amt Uhland S6M, de» Verlag» - Amt Lützow 6610.
Verlag: Verlag der «renzboten «. in. b. H. in B«rum SV. 11.
Druck: .Der ReichKbote- «. in.». H. in Berlin LV. 11, Dessau« Stab- SL/S7.